Das Boarding-Haus

Das Boarding-Haus

I

Mrs. Tibbs war ohne alle Frage die netteste, beweglichste, wirtschaftlichste kleine Frau, die jemals den Londoner Rauch einatmete, und ihr Haus in der großen Coramstraße ein wahres Schmuckkästchen. Die Tritte vor dem letzteren, die Haustür, der Türgriff, der Klopfer, das Schild mit Mrs. Tibbs‘ Namen wurden so oft und anhaltend gewaschen, gescheuert und geputzt, daß man sich wundern mußte, daß das Holz und die Steine nicht ganz weggewaschen waren und daß das Messing durch die beständige Reibung noch niemals Feuer gefangen hatte. Die ganze innere Einrichtung war die artigste und sauberste, die man sich nur denken mochte; man konnte sich in den Tischplatten spiegeln, und hell glänzte alles und jedes bis herunter zu den Haken auf der Treppe, die zur Befestigung der Fußteppiche dienten.

Mrs. Tibbs war klein und Mr. Tibbs nichts weniger als ein großer Mann. Er hatte außerdem sehr kurze Beine; indes war dafür sein Gesicht, gleichsam zur Entschädigung, besonders lang. Er war im Verhältnis zu seiner Frau, was die Null in der Zahl neunzig ist – hatte einige Bedeutung mit ihr – war nichts ohne sie. Mrs. Tibbs sprach fortwährend, Mr. Tibbs redete nur selten; sooft es aber möglich war, ein Wort einfließen zu lassen, tat er es, meistens gerade dann, wenn er hätte ganz stillschweigen sollen. Mrs. Tibbs konnte schlechterdings keine langen Geschichten leiden, und Mr. Tibbs hatte eine solche, deren Schluß jedoch selbst seine vertrautesten Freunde niemals gehört hatten. Sie fing stets an mit den Worten: »Ich entsinne mich, als ich im Jahre eintausendachthundertundsechs unter den Freiwilligen diente« – allein, da er langsam und leise und seine Ehehälfte sehr rasch und laut sprach, so gelang es ihm selten, über den Anfang hinauszukommen. Er war daher der traurigste Erzähler von der Welt, der ewige Jude der Anekdotenjägerei, unermüdlich, stets von vorn beginnend und gemieden von jedermann.

Mr. Tibbs genoß eine kleine Pension von jährlich 43 Pfund, und Mrs. Tibbs hatte 700 Pfund ererbt. Da das Ehepaar hiervon natürlich nicht leben konnte, so war Mrs. Tibbs darauf verfallen, ein Boarding-Haus einzurichten. Sie hatte die große Coramstraße, nicht weit vom Britischen Museum und Somers Town, erwählt, zwei Mägde und einen Laufjungen in Dienst genommen, und durch die Blätter dem Publikum verkündigt, »daß sechs Personen in einem geselligen, musikalischen Privathause und im Kreise einer erlesenen Familie, wohnhaft zehn Minuten von überall, allen zu wünschenden Komfort finden würden«. Der Erfolg war gewesen, daß drei Herren eingezogen waren und sich eine Dame mit zwei Töchtern geneigt zur Vermehrung – nicht ihrer eigenen – sondern der Familie Tibbs gezeigt hatte.

»Welch eine reizende Frau Mrs. Maplesone ist!« bemerkte Mrs. Tibbs, als sie mit ihrem Gatten nach dem Frühstück am Kamin saß und die drei Herren ausgegangen waren. »Welch eine herrliche Frau!« wiederholte sie, mehr im Selbstgespräch, als zu Mr. Tibbs redend, denn sie kümmerte sich nicht von fern um die Meinung ihres Mannes. »Die beiden Töchter sind gleichfalls höchst liebenswürdige Mädchen. Wir müssen heute Fisch haben; sie speisen zum ersten Male bei uns.«

Mr. Tibbs öffnete den Mund zum Reden, erinnerte sich jedoch, daß er nichts zu sagen hatte.

»Die jungen Damen«, fuhr Mrs. Tibbs fort, »haben sich freundlich und freiwillig erboten, ihr eigenes Piano mitzubringen.«

Tibbs dachte an seine Geschichte aus der Zeit, als er unter den Freiwilligen diente, wagte jedoch nicht, damit zum Vorschein zu kommen. Er hatte dagegen einen glänzenden Gedanken. »Es ist sehr wahrscheinlich«, sagte er –

»Sei so gut, deinen Kopf nicht an die Tapete zu lehnen«, unterbrach ihn Mrs. Tibbs, »und bleib mit den Füßen von dem stählernen Kamingitter, was noch ärger ist.«

Tibbs richtete den Kopf empor, zog die Füße zurück und fuhr fort: »Es ist sehr wahrscheinlich, daß eine der jungen Damen ihr Netz nach dem jungen Mr. Simpson auswerfen wird, und so könnte ein eheliche Verbindung –«

»Ich muß bitten, daß du von dergleichen stillschweigst«, fiel ihm Mrs. Tibbs in das Wort. »Eine eheliche Verbindung – mich wundert’s doch! Daß ich meine Kostgänger verlöre! Daraus wird nichts.«

Tibbs dachte, daß es trotzdem keineswegs unwahrscheinlich wäre, schwieg jedoch, da er niemals mit seiner Frau disputierte, und bemerkte, daß es Zeit sei, »ins Geschäft zu gehen«. Er ging an allen Wochentagen um zehn Uhr morgens aus und kehrte um fünf Uhr nachmittags mit einem äußerst schmutzigen Gesicht und sehr muffig riechend zurück. Niemand wußte, wohin er ging; allein Mrs. Tibbs pflegte mit sehr wichtiger Miene zu sagen, daß er in der City beschäftigt sei.

Die liebenswürdigen Misses Maplesone und die reizende Mrs. Maplesone langten am Nachmittag in einer Mietskutsche mit einer erstaunlichen Menge von Koffern, Kästen und Schachteln an und veranlaßten das grausamste Getümmel und das verwirrteste Hin- und Herlaufen, bis sie sich in ihrem Zimmer beim Ankleiden zum Dinner befanden.

»Sind die Mädchen hübsch?« fragte Mr. Simpson den zweiten der neuen Hausbewohner, Mr. Hicks, während sie sich im Besuchszimmer vor dem Dinner damit unterhielten, in sehr nachlässigen Haltungen auf dem Sofa zu ruhen und ihre Tanzschuhe zu betrachten.

»Kann’s nicht sagen«, antwortete Mr. Hicks, der ein dünner, hochgewachsener junger Mann mit einem Milchsuppengesicht und Brille war und ein schwarzes Band statt eines Halstuchs um den Hals trug – ein äußerst interessanter Jüngling, poetisch, der Arzneikunde beflissen und »höchst talentvoll«. Er liebte es ausnehmend, die Unterhaltung mit Zitaten aus Byrons Don Juan zu spicken, die er bei den Haaren herbeizog, ohne sich durch Rücksichten auf die Angemessenheit oder Nichtangemessenheit ihrer Anwendung Fesseln anlegen zu lassen. Mr. Simpson gehörte zu den jungen Männern, die in der Gesellschaft das sind, was die Statisten auf der Bühne. Sein Kopf war so leer wie die große Glocke der St. Paulskirche, und seine Fähigkeiten waren so mannigfaltig wie deren Töne. Er kleidete sich stets nach dem Muster der Karikaturen im Modejournal und schrieb Charakter mit einem th.

»Ich sah eine rasende Menge Kisten und Kästen auf dem Hausflur, als ich nach Hause kam«, sagte er.

»Ohne Zweifel Materialien für die Toilette«, bemerkte der eifrige Don-Juan-Leser.

»Viel Weißzeug, Spitzen, Strümpfe ohne Zahl,
Pantoffeln, Bürsten, Kämme, allzumal
Artikel, um die schönen Damen schön
Und sauber zu erhalten, und –«

»Sind die Verse von Milton?« unterbrach ihn Mr. Simpson.

»Nein – von Byron«, erwiderte Hicks mit einem Blicke voll grenzenloser Verachtung. Er war seines Autors vollkommen gewiß, da er nie einen andern gelesen hatte. »Pst!« sagte er, »da kommen die Mädel «, und beide fingen sogleich an, sehr laut zu sprechen, um unbefangen zu erscheinen.

Gleich darauf führte Mrs. Tibbs Mrs. Maplesone und deren Töchter herein. Sie sah sehr erhitzt aus und glich einer Wachspuppe an einem heißen Sommertag, denn sie hatte die Küchenoperationen beaufsichtigt. Sie stellte die Damen und Herren einander vor. Die Herren verbeugten sich mit ausgesuchter Höflichkeit und sahen dabei aus, als ob sie den Wunsch hegten, daß ihre Arme Beine sein möchten, so wenig wußten sie, was sie damit anfangen sollten. Die Damen lächelten, knicksten, nahmen Platz und bückten sich nach Taschentüchern, die sie hatten fallen lassen. Die Herren lehnten sich gegen die Fenster; Mrs. Tibbs und die Köchin, die erschien, um nach der Fischbrühe zu fragen, verständigten sich kunstvoll durch pantomimische Andeutungen, die beiden jungen Damen sahen einander an, und Mrs. Maplesone schien etwas sehr Anziehendes in den Verzierungen des Kamingitters entdeckt zu haben.

»Liebes Kind, Julie«, sagte sie endlich zu ihrer jüngsten Tochter gerade laut genug, um von allen gehört zu werden, »sitz nicht krumm!«

Sie sagte es, um die allgemeine Aufmerksamkeit auf Miss Julies allerdings untadelige Figur zu richten. Natürlich richteten sich aller Blicke darauf, und es trat abermals Stillschweigen ein.

»Wir hatten heute einen entsetzlich unhöflichen Mietkutscher«, sagte endlich Mrs. Maplesone zu Mrs. Tibbs gewendet.

»Die Mietkutscher sind in der Regel unhöflich«, fiel Mr. Hicks im einschmeichelndsten Tone ein.

»Die Fuhrleute sind es gleichfalls«, bemerkte Mr. Simpson – veranlaßte aber nur ein Nasenrümpfen bei den Damen und ein Husten bei Mr. Hicks, denn niemand mochte durch Wort oder Zeichen andeuten, auch nur die mindeste Kenntnis von den Sitten der Fuhrleute zu besitzen.

»Was willst du denn hier? So sprich doch!« rief Mrs. Tibbs dem Hausmädchen zu, das die Tür geöffnet hatte und ihr zuwinkte und hustete.

»Bitt‘ um Vergebung, Ma’am, der Herr wünscht ein reines Hemd«, antwortete das Hausmädchen, sich vergessend.

Es war zu lächerlich; die beiden jungen Herren drehten sich um und vermochten ihr Lachen bei weitem nicht vollkommen zu unterdrücken, die Damen hielten die Tücher vor den Mund, und die kleine Mrs. Tibbs schoß aus der Tür hinaus, um ihrem Gatten sein reines Weißzeug und dem Hausmädchen einen keifenden Verweis zu geben.

Bald darauf erschien Mr. Calton, der dritte der neuen Hausbewohner, und bewies sogleich, daß er sich trefflich darauf verstand, ein Gespräch zu unterhalten. Er war ein ausgedienter Dandy – ein altgewordener Knabe. Er pflegte von sich selber zu sagen, wenn sein Gesicht auch nicht regelmäßig schön sei, so habe er doch auffallende Züge; und dies war in der Tat der Fall, denn man konnte ihn nicht ansehen, ohne auf das lebhafteste an einen pausbäckigen Türklopfer, halb Löwe, halb Affe, erinnert zu werden. Auch hätte man diesen Vergleich auf seinen ganzen Charakter und seine Unterhaltung ausdehnen können. Er war stillgestanden, während alles um ihn her weitergegangen war. Er fing nie ein Gespräch an, brachte nie einen neuen Gedanken auf die Bahn; war aber eine Unterhaltung über Gemeinplätze im Gange, so nahm er daran mit bewundernswürdiger Zungenfertigkeit teil. Er litt bisweilen unter einem Wehmutsanfall, und dann war er vergleichsweise still; sonst aber war des Mühlengeklappers seines Mundwerks kein Ende. Er war nie verheiratet gewesen, stand indes noch immer auf der Lauer nach einer Frau mit Geld. Er genoß eine Leibrente von etwa 300 Pfund jährlich, war übermäßig eitel und grenzenlos selbstsüchtig. Er stand in dem Rufe, ein wahres Muster galanter Höflichkeit zu sein.

Mr. Calton hatte den Beschluß gefaßt, sich Mrs. Maplesone ausnehmend angenehm zu machen, ja, der Wunsch, so liebenswürdig als möglich zu erscheinen, herrschte allgemein in der ganzen Gesellschaft; denn Mrs. Tibbs glaubte, sich einer bewundernswürdigen kleinen Kriegslist bedient zu haben, indem sie den Herren gesagt hatte, sie habe einigen Grund, zu glauben, daß die Damen vermögend, und den Damen zu verstehen gegeben, daß die sämtlichen Herren heiratsfähig und keine schlechten Partien wären. Sie glaubte, ein wenig Liebeln würde ihr Haus gefüllt halten, ohne zu eigentlichen Resultaten zu führen. Mrs. Maplesone war eine unternehmende Witwe von ungefähr fünfzig Jahren: schlau, intrigant und gut aussehend. Sie war liebenswürdig besorgt um ihre Töchter und machte, um dies zu dokumentieren, nicht selten die Bemerkung, daß sie es nicht ablehnen würde, sich wieder zu verheiraten, wenn es ihren lieben Mädchen zum Vorteil gereichen sollte – denn einen andern Beweggrund könne sie nicht haben. Die »lieben Mädchen« selbst waren gegen die Vorteile einer »guten Partie« gleichfalls nichts weniger als unempfindlich. Die eine war fünfundzwanzig, die andere drei Jahre jünger. Sie hatten in vier Sommern Badereisen gemacht, hatten kokettiert im Versammlungssaale, Bücher gelesen auf Balkonen, verkauft im Frauenvereins-Basar, getanzt auf Bällen, empfindsame Unterhaltungen geführt – kurzum, alles getan, was kluge Töchter nur tun können: allein es war alles vergeblich gewesen.

»Wie vortrefflich Mr. Simpson sich kleidet!« flüsterte Mathilde Maplesone ihrer Schwester Julie zu.

Mr. Simpson trug einen schwarzen Leibrock mit Samtkragen und Aufschlägen – sehr ähnlich dem, in dem man häufig den großen Unbekannten erblickt, der sich herabläßt, in der Pantomime auf Richardsons Theater den Elegant zu spielen.

»Welch ein Knebelbart!« sagte Miss Julie.

»Entzückend!« erwiderte die Schwester; »und welch ein Haar!«

Es glich aber vollkommen dem kunstvoll geordneten, wie man es auf den Köpfen der rotwangigen jungen Herren in den Fenstern der Haarkünstler erblickt; und es war wirklich künstliches, und der unter dem Kinn fortlaufende Knebelbart Mr. Simpsons sah aus wie ein Band, die Haartour auf dem Kopfe festzuhalten.

Der Laufbursche erschien, zum ersten Male in einem gewendeten schwarzen Rock seines Herrn, und kündigte das Dinner an. Die Herren führten die Damen mit gebührender Feierlichkeit in das Speisezimmer, wo Mr. Tibbs vorgestellt wurde, der sich vor den neuen Hausbewohnerinnen gleich einer der artigen Figuren einer holländischen Uhr oder Drehorgel mit einer starken Feder in der Mitte des Leibes wiederholt verbeugte und sodann rasch am unteren Ende der Tafel Platz nahm, äußerst erfreut, hinter einer Suppenterrine versteckt zu sein.

»Biete doch Mrs. Maplesone Suppe an, lieber Mann«, sagte die geschäftige Mrs. Tibbs.

Sie nannte ihren Mann vor der Gesellschaft stets »lieber Mann«. Tibbs tat eilig, wie ihm geheißen war, denn ihn verlangte nach dem Fisch, machte eine kleine Insel auf dem Tafeltuche und setzte sein Weinglas darauf, um sie vor seiner Frau zu verbergen. Der Fisch wurde angeboten; Miss Julie bat um ein ganz kleines Stückchen, und ihre Mutter bemerkte gegen Mr. Calton, daß Julie erstaunlich wenig äße. Auch die übrigen baten nur um ganz wenig; indes würde es ihnen freilich auch nicht geholfen haben, wenn sie um viel gebeten hätten.

»Lieber Mann«, sagte Mrs. Tibbs, nachdem alle versorgt waren, »was beliebt dir?«

Sie begleitete die Frage mit einem Blicke, der deutlich genug sagte, daß er nicht Fisch sagen dürfe, da nur noch sehr wenig davon übrig war. Allein, Tibbs meinte, der Zornblick hätte seinen Grund in der Insel auf dem Tafeltuch, und erwiderte daher ohne Arg: »Ich bitte um – um ein wenig Fisch –«

»Sagtest du Fisch, lieber Mann«, fragte Mrs. Tibbs mit verstärktem Stirnrunzeln.

»Ja, meine Liebe«, antwortete der Ruchlose, während sich der nagendste Hunger in seinen Mienen ausdrückte. Mrs. Tibbs traten fast Tränen in die Augen, als sie ihrem »Schlingel von Mann«, wie sie ihn innerlich nannte, das letzte Stück Lachs von der Schüssel reichte. »James«, sagte sie gleich darauf, »bring deinem Herrn diese Schüssel und leg sein Messer auf das Büfett.« Und dies war wohlüberlegte Rache, denn Tibbs konnte keinen Fisch ohne Messer essen. Er sah sich daher genötigt, mit der Gabel und einer Brotrinde kleine Stückchen Lachs auf dem Teller umherzujagen und, so gut es gehen wollte, aufzufischen, was ihm auch bisweilen gelang, indem von seinen Bemühungen eine unter siebzehn glücklich enden mochte.

»James, wechsle die Teller«, rief Mrs. Tibbs nach seinem vierten oder fünften glücklichen Versuch, und Mr. Tibbs‘ Teller verschwand wie ein Blitz.

»Ein Stückchen Brot, James«, sagte der unglückliche Herr vom Hause, so hungrig wie zuvor; allein, Mrs. Tibbs befahl James, das Fleisch aufzusetzen, und James wurde fortwährend so sehr beschäftigt, daß das Brot für seinen Herrn vorerst vergessen wurde. Hicks nahm die Gelegenheit zu einem höchst angemessenen Zitate wahr:

»An Ochsen ist es arm, an Rindern auch dies Land,
Doch reich an Ziegen-, Schöps- und Lammfleisch ich es fand,
Und bringt ein Festtag ihnen lächelnd seine Grüße,
Dann drehen sie das Fleisch an dem Barbarenspieße.«

»Welch ein unfeines Benehmen, so zu sprechen«, dachte die kleine Mrs. Tibbs.

Die jungen Damen benutzten indes die Gelegenheit, sich belesen und poetisch zu zeigen, und nannten oder rezitierten die empfindsamsten Verse Byrons als ihre Lieblingsstellen. Mr. Septimus Hicks bemerkte, daß seinem Geschmack nach nie Schöneres gedichtet worden sei als der Anfang des siebten Gesanges des Don Juan, wo die Belagerung von Ismael geschildert werde.

»Da Sie von einer Belagerung reden«, fiel Tibbs ein, den Mund voll Brot, das er endlich erhalten hatte, »so lassen Sie sich sagen: Als ich 1806 unter den Freiwilligen diente – unser Kommandeur war Sir Charles Rampart –, sagte Sir Charles Rampart eines Tages, als wir auf dem Platz exerzierten, wo jetzt das Londoner Universitätsgebäude steht, zu mir und rief mich aus dem Gliede heraus: ›Tibbs‹, sagte er, ›Tibbs –‹«

»James, sag deinem Herrn«, unterbrach ihn Mrs. Tibbs in einem bedenklich scharfen Tone, »wenn er die Hühner durchaus nicht tranchieren will, so möge er sie mir schicken.« Der in Verwirrung gebrachte Freiwillige tranchierte und mußte seine Geschichte unbeendigt lassen. Die Unterhaltung wurde um so lebhafter, je bekannter die Gesellschaft miteinander wurde. Man fühlte sich allgemein bequemer und behaglicher, was auch bei Tibbs der Fall war, denn er schlief unmittelbar nach dem Essen ein. Mr. Hicks und die Damen sprachen über Ästhetik, Theater und Literatur; Mr. Calton wiederholte, was bereits gesagt worden war, zwei- und dreimal mit anderen Worten. Mrs. Tibbs stimmte allem bei, was Mrs. Maplesone sagte; Mr. Simpson saß da mit einem Lächeln auf dem Antlitz, und weil er nach je vier bis fünf Minuten ein »Ja« oder ein »Sehr wahr« einfließen ließ, so glaubte jedermann, er verstände vollkommen, was gesprochen wurde. Die Herren vereinigten sich nach dem Dessert sehr bald wieder mit den Damen. Mrs. Maplesone und Mr. Calton spielten Cribbage, und »die jungen Leute« unterhielten sich mit Musik und Konversation. Die Misses Maplesone sangen die rührendsten Duette und begleiteten sich selbst auf Gitarren an himmelblauen Bändern. Mr. Simpson hatte eine rosa Weste angelegt und sagte, daß er hingerissen sei, und Mr. Hicks befand sich im siebten Himmel der Poesie, oder im siebten Gesange des Don Juan, was für ihn ein und dasselbe war. Mrs. Tibbs war ganz bezaubert von ihren neuen Hausbewohnern, und Mr. Tibbs brachte den Abend nach seiner gewohnten Weise zu – das heißt, er schlief ein, erwachte, schlief abermals ein und wachte zur Abendessenszeit wieder auf.

Wir wollen uns der Erzählerfreiheit nicht bedienen und »Jahre dahinschwinden lassen«, sondern bitten die Leser nur gefälligst anzunehmen, daß seit dem beschriebenen Diner sechs Monate verflossen sind und daß Mrs. Tibbs‘ männliche und weibliche Mieter während dieser Zeit miteinander gesungen, getanzt und die Theater und Sehenswürdigkeiten besucht haben, wie es bei Boarders der Fall zu sein pflegt. Nach Verlauf besagter sechs Monate erhielt Mr. Septimus Hicks eines Morgens früh in seinem Schlafzimmer ein Billett von Mr. Calton, in dem ihn dieser ersuchte, zu ihm in sein Zimmer zu kommen. Der teilnehmende Arzneikunde-Beflissene eilte sogleich hinunter, in der Meinung, daß Mr. Calton Patient sei. Mr. Calton saß in einem Lehnsessel, einem Türklopfer ähnlicher als je. Mr. Hicks hustete und Mr. Calton schnupfte. Endlich begann Hicks:

»Ich erhielt ein Billett von Ihnen«, sagte er mit bedenklicher Miene und bebender Stimme, wie ein erkälteter Pulcinell.

»Allerdings«, erwiderte Calton.

»Hm!«

»Ja, ja!«

Da beide Herren nach diesem Zwiegespräch fühlten, daß etwas noch Wichtigeres zur Sprache kommen würde, so taten sie, was viele in ihrer Lage getan haben würden – sie sahen einander mit entschlossensten Mienen an. Die Unterredung war indes begonnen, und der Türklopfer nahm sich vor, sie mit einem tüchtigen Doppelschlage fortzusetzen. Er sprach immer sehr hochtrabend.

»Hicks«, sagte er, »ich habe Sie wegen gewisser Heiratsarrangements zu mir entbieten lassen, die in diesem Hause in der Schwebe sind.«

»Heiratsarrangements!« rief Hicks mit einem Gesicht aus, wogegen Hamlets Gesicht, wenn er seines Vaters Geist erblickt, ruhig und gefaßt ist.

»Wie ich Ihnen sage. Ich ließ Sie zu mir herunterholen, um Ihnen zu beweisen, wie sehr und wie fest ich Ihnen vertraue.«

»Wollen Sie mich verraten?« fragte Hicks sehr ängstlich, und vergaß in seinem Schrecken gänzlich, zu zitieren.

»Ich Sie verraten? Wollen Sie mich verraten?«

»Keineswegs! Nicht eine lebende Seele soll es bis zu meinem Sterbetage erfahren, daß Sie die Hand im Spiele gehabt haben«, erwiderte der höchlich erregte Hicks mit glühendrotem Gesicht und sich sträubendem Haar, als wenn er auf dem Konduktor einer arbeitenden Elektrisiermaschine stände.

»Die Welt muß es früher oder später erfahren – ich sollte meinen, im Verlauf eines Jahres«, sagte Calton im Tone großer Selbstgefälligkeit. »Wir haben dann vielleicht Familie, wissen Sie.«

»Wir! – Sie werden hoffentlich nichts damit zu schaffen haben.«

»Zum Geier! das hoff‘ ich allerdings.«

Hicks war mehr als betreten. Er wußte kaum, wo ihm der Kopf stand, geschweige denn, was er erwidern sollte. Calton schwelgte zu sehr in seinen seligen Vorgefühlen, um es zu beachten. Er warf sich in seinen Stuhl zurück und rief in empfindsam-winselndem Tone und die rechte Hand auf die linke Seite der Weste legend aus: »O Mathilde!«

»Welche Mathilde?« fragte Hicks zusammenschreckend.

»Mathilde Maplesone!« seufzte Calton.

»Ich heirate sie morgen früh«, schrie Hicks wütend.

»Sie lügen – ich heirate sie.«

»Sie heiraten sie!«

»Ich heirate sie!«

»Sie heiraten Mathilde Maplesone?«

»Mathilde Maplesone.«

»Sie heiraten Miss Maplesone?«

»Miss Maplesone? Nein, Mrs. Maplesone.«

»Gütiger Himmel!« sagte Hicks auf seinen Stuhl sinkend. »Sie heiraten die Mutter und ich die Tochter!«

»Unerhört!« bemerkte Calton, »und auch einigermaßen ungelegen; denn Sie müssen wissen, daß meine Mathilde ihre Absicht vor ihren Töchtern geheimzuhalten wünscht, bis die Trauung vorüber ist, und daher keinen ihrer Angehörigen und Freunde bitten mag, Brautvater zu sein. Mir ist es gleichfalls nicht recht, die Sache meinen Angehörigen jetzt schon mitzuteilen, und ich bat Sie, zu mir herunterzukommen, in der Absicht, Sie zu ersuchen, die Rolle des Brautvaters zu übernehmen.«

»Ich versichere Sie, daß ich es mit dem größten Vergnügen getan haben würde«, versetzte Hicks im Tone des Bedauerns; »allein Sie sehen, ich werde den Bräutigam spielen. Eine Rolle ist häufig Folge einer andern, allein, man kann nicht in zweien zugleich auftreten. Aber wir haben ja Simpson – er wird ohne Zweifel Ihrem Wunsche entgegenkommen.«

»Ich möchte ihn nicht gern darum bitten«, sagte Calton; »er ist solch ein Esel.«

Mr. Septimus Hicks blickte zur Decke empor und auf den Fußboden hinunter. Endlich hatte er einen Gedanken. »Nehmen Sie Tibbs zum Brautvater«, sagte er und zitierte sodann die auf Tibbs und das Brautpaar vortrefflich passenden Verse: –

»O Gott, welch grimmer Blick begegnet dort den ihren?
Des Vaters Blicke sind’s, die nach dem Paare stieren.«

»Ich bin darauf auch schon verfallen«, entgegnete Calton; »allein Mathilde will durchaus nicht – ich weiß nicht, aus welchem Grunde –, daß Mrs. Tibbs etwas erfahren soll, bis alles vorüber ist. Es wird am Ende nichts als ihr natürliches Zartgefühl sein.«

»Er ist der gefälligste kleine Mann von der Welt, wenn Sie ihn nur richtig nehmen«, fuhr Hicks fort. »Sagen Sie ihm, er möge gegen seine Frau schweigen, sie würde nicht böse darüber sein, und er tut, was Sie wollen. Meine Verheiratung ist heimlich wegen der Mutter und meines Vaters; Sie müssen ihm daher Stillschweigen auferlegen.«

In diesem Augenblicke wurde an der Haustür geklopft, so bescheiden, wie es nur der Hausherr tun konnte. Calton sah aus dem Fenster und bat ihn, zu ihm hinaufzukommen. Tibbs willigte sogleich ein. Er war hocherfreut, beachtet zu werden. Er erschien, wurde ersucht Platz zu nehmen, und sah so verblüfft aus, als wenn er plötzlich vor die Mitglieder der Inquisition gerufen worden wäre.

»Mr. Tibbs«, begann Calton im wichtig-geheimnisvollsten Tone, »mich nötigt ein sehr unangenehmer Umstand, Sie um Rat zu fragen und Sie zu bitten, über das, was ich Ihnen mitteilen werde, reinen Mund gegen Ihre Frau zu halten.«

Tibbs versprach es und dachte: »Was zum Teufel mag er verübt haben? Er hat sicher eine der besten Wasserkaraffen zerbrochen.«

»Mr. Tibbs«, fuhr Calton fort, »ich befinde mich in einer einigermaßen unangenehmen Lage.«

Tibbs sah Septimus Hicks an, als ob er glaube, die Unannehmlichkeit bestände darin, daß Mr. Calton mit Mr. Hicks in demselben Hause wohne, wußte indes nicht, was er sagen sollte, und schwieg daher.

»Lassen Sie mich Sie bitten«, sprach der Türklopfer weiter, »keinen Schrei der Überraschung auszustoßen, der von den Domestiken gehört werden könnte, wenn ich Ihnen sage – ich ersuche Sie dringend, beherrschen Sie ja Ihre Gefühle –, daß zwei Bewohner dieses Hauses morgen früh Hochzeit zu machen gedenken.«

Er schob seinen Sessel einige Schritte weit zurück, um die Wirkung seiner unerhörten Mitteilung desto besser beobachten zu können. Wenn Tibbs hinausgestürzt, hinuntergetaumelt und unten in Ohnmacht gefallen – ja, wenn er aus dem Fenster gesprungen wäre, sein Benehmen würde Mr. Calton nicht unerklärlicher gewesen sein. Er steckte nämlich die Hände in die Taschen seiner Unaussprechlichen und rief mit einem innerlichen Lachen aus: »Dachte mir’s wohl!«

»Sie sind nicht überrascht, Mr. Tibbs?« fragte Calton.

»Ganz und gar nicht, Sir«, erwiderte Tibbs, »’s ist ja so sehr natürlich. Wenn ein paar junge Leute zusammenkommen, wissen Sie –«

»Sehr wahr, sehr wahr«, fiel Calton mit einer Miene unsäglicher Selbstgefälligkeit ein.

»Sie halten die Partie also durchaus nicht für unpassend?« fragte Septimus Hicks, der Tibbs‘ Mienen in stummem Erstaunen beobachtet hatte.

»Nein, Sir«, antwortete Tibbs wirklich lächelnd; »ich sah in seinem Alter ebenso aus.«

»Wie vortrefflich ich mich konserviert haben muß!« dachte der entzückte alte Dandy; denn er wußte, daß er wenigstens zehn Jahre älter als Tibbs war. »Lassen Sie uns sogleich zur Sache kommen«, sagte er. »Wollen Sie die Güte haben, die Rolle des Brautvaters zu übernehmen?«

»Gern«, erwiderte Tibbs, fortwährend ohne die mindeste Spur von Überraschung.

»Gewiß?«,

»Von Herzen gern«, wiederholte Tibbs, der so ruhig aussah wie ein Krug Bier, das ausgeschäumt hat.

Calton ergriff die Hand des unter Schürzenregiment stehenden kleinen Mannes und schwur ihm ewige Freundschaft. Hicks tat dasselbe.

»Bekennen Sie nun aber«, sagte Calton, als Tibbs sich anschickte, hinunterzugehen, »waren Sie nicht ein wenig überrascht?«

»Ei freilich, als ich zuerst davon hörte, und es war so sonderbar, mich zu bitten. Was wird aber sein Vater dazu sagen? Das möcht‘ ich nur wissen.«

Hicks und Calton sahen einander an.

»Das Beste dabei ist«, sagte Calton endlich kichernd, »daß ich keinen Vater habe.«

»Sie freilich nicht, aber er«, sagte Tibbs.

»Wer?« fragte Hicks zornig.

»Nun er.«

»Wer denn? Kennen Sie mein Geheimnis? Meinen Sie mich?«

»Gott bewahre! Sie wissen ja wohl, wen ich meine.«

»Um des Himmels willen, wen meinen Sie?« fragte Calton, der gleich Mr. Hicks fast von Sinnen war vor Verwirrung.

»Nun, Mr. Simpson – wen denn sonst?« entgegnete Tibbs.

»Jetzt ist mir alles klar«, rief Hicks aus. »Simpson heiratet morgen früh Julie Maplesone. »Ei natürlich!« bemerkte Tibbs.

Es würde Hogarths Pinsel erfordern, um Hicks‘ und Caltons Mienen würdig zu schildern, unsere Feder ist zu schwach dazu; und ebenso unmöglich ist es uns, gehörig zu erklären – so leicht es auch unseren Leserinnen sein mag, es sich vorzustellen – welcher Künste sich die drei Damen bedient haben mochten, ihre Liebhaber zu fesseln. Doch gleichviel, sie hatten Erfolg gehabt. Der Mutter waren die Absichten ihrer Töchter keineswegs verborgen geblieben, und die Töchter kannten die Absicht ihrer verehrten Frau Mama ebenso genau. Sie meinten indes, daß die Sache ein romantischeres Aussehen bekommen würde, wenn sie sich unwissend stellten, und die Verheiratungen mußten sämtlich an demselben Tage stattfinden, da sonst die etwaige Entdeckung der einen der andern hätte störend in den Weg treten können. Daher kam es, daß Calton und Hicks mystifiziert wurden und Tibbs bereits in Beschlag genommen war.

Am folgenden Morgen wurden Mr. Septimus Hicks mit Miss Mathilde Maplesone getraut, und Mr. Simpson, mit Miss Julie. Tibbs agierte als Brautvater, zum ersten Male in dieser Rolle auftretend. Den Türklopfer, der nicht ganz so eifrig wie die beiden jungen Herren war, hatte die Doppelentdeckung beträchtlich abgekühlt, und da es ihm Mühe bereitet hatte, einen Brautvater zu finden, so fiel ihm ein, er könnte die ganze Schwierigkeit am besten dadurch beseitigen, daß er die Braut aufgäbe. Die Dame stellte indes eine Klage wegen gebrochenen Eheversprechens, und der unglückliche Calton mußte 1000 Pfund Entschädigungsgelder bezahlen. Mr. Septimus Hicks, nachdem er seinen medizinischen Kursus durchlaufen, ging schließlich davon, und seine schwer beleidigte Gattin wohnt gegenwärtig mit ihrer Mutter in Boulogne. Mr. Simpson hatte das Unglück, seine Frau sechs Wochen nach seiner Verbindung mit ihr schon zu verlieren (sie ließ sich nämlich von einem Offizier entführen, während ihr Gatte im Schuldgefängnis saß, weil er außerstande war, ihre kleinen Putzrechnungen zu berichtigen); sein Vater, der bald darauf starb, enterbte ihn, und er schätzte sich glücklich, ein bleibendes Engagement bei einem fashionablen Haarkünstler zu erlangen, indem er der Wissenschaft des Haarordnens längst große Aufmerksamkeit zugewendet hatte. Er hatte in seiner neuen Stellung notwendigerweise häufig Gelegenheit, sich mit den Manieren und der Denkweise des exklusiven Teils des englischen Adels bekannt zu machen, ein glücklicher Umstand, dem wir jene glänzenden Erzeugnisse seines fruchtbaren Genies, seine fashionablen Romane verdanken, die nicht verfehlen können, alle denkenden Leser zu unterhalten und zu belehren, solange ein reiner, durch keinerlei Übertreibung, Unnatur, Schwulst und faselnde Salbaderei befleckter Geschmack herrschend sein wird.

Es bleibt nur noch übrig hinzuzufügen, daß die arme Mrs. Tibbs infolge so gehäufter häuslicher Mißgeschicke ihre sämtlichen Mieter verlor, mit Ausnahme des einzigen, den sie mit dem lebhaftesten Vergnügen eingebüßt haben würde – ihres Ehegatten. Der zum Unglück geborene kleine Mann kehrte am Tage der Doppeltrauungen im Zustande ziemlicher Trunkenheit nach Hause zurück und wagte es unglaublicherweise mit dem Mute, den Wein, Aufregung und Verzweiflung ihm eingaben, dem Zorne seiner Gattin Trotz zu bieten. Er hat seit dieser unseligen Stunde seine Mahlzeiten in der Küche eingenommen und schläft in einem an diese anstoßenden Gemache. Es ist sehr wahrscheinlich, daß es ihm in seiner Zurückgezogenheit gelingen wird, seine Geschichte zu beendigen.

Mrs. Tibbs hat abermals ihr Haus durch die Blätter angeboten. Der Erfolg wird in einem andern Kapitel berichtet werden.

II

»Die Sachen haben keine gar zu schlechte Wendung genommen«, sprach Mrs. Tibbs eines Morgens, einen Fußteppich ausbessernd, bei sich selbst, »und das Haus wird wohl bald wieder gefüllt sein.«

Das Haus war so still wie möglich. Man hörte es oben deutlich, wie Tibbs die Stiefel der Herren in der Hinterküche reinigte und dabei trübselig vor sich hinsummte. Um so lauter ertönten die Doppelschläge des Briefträgers. Mrs. Tibbs wurde ein schlecht gesiegeltes Schreiben mit einer Aufschrift eingehändigt, die so weit in eine Ecke gerückt war, daß sie aussah, als ob sie sich ihrer selbst schämte. Der Inhalt war kein Muster einer klaren Schreibart, indes ersah Mrs. Tibbs daraus, daß sie um 12 Uhr eine Besucherin zu erwarten habe. Die Glocke der Sankt Pankratiuskirche hatte zwölf geschlagen, und als eine andere auf Sankt Sonstirgendwo ein Viertel schlug, klopfte eine einzelne Dame in einem pflaumenfarbigen Mantel, mit einem den Hut versteckenden Strauße von künstlichen Blumen auf dem Kopfe und einem grünen Sonnenschirm mit Spinnwebfransen in der Hand. Die Dame wurde in das Besuchszimmer hereingeführt. Sie war sehr dick und sehr rot im Gesicht; Mrs. Tibbs knickste, und die Unterhaltung nahm ihren Anfang. Die Stimme der unbekannten Dame glich der eines Mannes, der seit vierzehn Tagen unaufhörlich auf einer Papagenopfeife geblasen hat.

»Ich komme infolge einer Anzeige in den Blättern«, begann sie.

»Ah!« sagte Mrs. Tibbs, langsam die Hände reibend und der Dame gerade in das Gesicht schauend – wie sie bei solchen Veranlassungen immer tat.

»Auf das Geld kommt es mir ganz und gar nicht an«, fuhr Flora im Mantel fort, »und ich wünsche nur, still und zurückgezogen zu leben.«

Mrs. Tibbs konnte einem so sehr natürlichen Wunsche ihren Beifall nicht versagen.

»Ich lasse mich fortwährend ärztlich behandeln, bin seit einiger Zeit schauderhaft geplagt gewesen und habe seit Mr. Bloss‘, meines Mannes, Tode sehr wenig Ruhe gehabt.«

Mrs. Tibbs blickte die Witwe des seligen Mr. Bloss an und dachte, der hätte sicher bei seinen Lebzeiten wenig Ruhe gehabt. Sie durfte dies natürlich nicht äußern und nahm daher eine Miene zärtlicher Teilnahme an.

»Ich werde Ihnen große Unruhe verursachen, werde jedoch gern dafür bezahlen. Ich unterziehe mich einer Behandlung, die Aufmerksamkeit notwendig macht. Ich esse jeden Morgen um halb acht Uhr im Bette meine erste Hammelkarbonade und um zehn Uhr vormittags die zweite.«

Mrs. Tibbs verfehlte nicht, der Patientin ihr Beileid auszudrücken, und die fleischliebende Mrs. Bloss fuhr fort, mit bewundernswürdiger Präzision die Vorbedingungen herzuzählen. Mrs. Tibbs ließ sich zu allem bereit finden, und die Sache war bald abgemacht. Mrs. Bloss fügte indes noch einige Klauseln hinzu.

»Sie können mir doch mein Schlafzimmer im zweiten Stockwerk nach vorn hinaus geben?« – »Zu Befehl, Ma’am.«

»Sie werden auch Raum für meine kleine Dienerin Agnes finden?«

»Zu dienen, Ma’am.«

»Sie räumen mir einen Keller zur Aufbewahrung meines Flaschenporters ein?«

»Mit dem größten Vergnügen, Ma’am! Er soll bis Sonnabend für Sie eingerichtet sein.«

»Und ich denke, mich am Sonntagmorgen zum Frühstück bei Ihnen einzufinden.« »Vortrefflich«, sagte Mrs. Tibbs in ihrem süßesten Ton, denn die Nennung genügender Gewährsleute war erbeten worden und erfolgt, und es litt keinen Zweifel, daß Mrs. Bloss viel Geld hatte. »Es trifft sich ganz glücklich«, fuhr Mrs. Tibbs mit einem Lächeln fort, das so bezaubernd wie möglich sein sollte, »daß gerade auch ein Herr in meinem Hause wohnt, dessen Gesundheitszustand sehr delikat ist – ein Mr. Gobier. Das anstoßende Zimmer ist das seine.«

»Ach, mein Gott!« rief die Witwe aus.

»Er steht fast gar nicht auf«, flüsterte Mrs. Tibbs, »allein, wenn er aufgestanden ist, können wir ihn fast nicht bewegen, wieder zu Bett zu gehen.«

»Woran leidet er denn?« fragte Mrs. Bloss, gleichfalls flüsternd.

»Er hat keinen Magen.«

»Keinen Magen!« wiederholte die Witwe kopfschüttelnd und als ob sie außer sich vor Verwunderung sei, daß sich ein Herr ohne Magen in die Kost gebe.

»Wenn ich sage, daß er keinen Magen hat«, erläuterte die geschwätzige kleine Mrs. Tibbs, »so meine ich damit, daß seine Verdauung so geschwächt ist, daß ihm sein Magen nichts nützt, ja, ihn noch eher belästigt.«

»Unerhört!« rief Mrs. Bloss aus. »Er befindet sich in der Tat noch schlechter als ich.«

»Ohne allen Zweifel«, sagte Mrs. Tibbs, denn der Witwe Aussehen bewies klärlich, daß sie über Mr. Gobiers Leiden nicht zu klagen hatte.

»Sie haben meine Neugierde in hohem Grade erregt«, versetzte Mrs. Bloss aufstehend. »Mich verlangt sehr, ihn zu sehen.«

»Er pflegt wöchentlich einmal herunterzukommen. Sie werden ihn wahrscheinlich am Sonntag kennenlernen.«

Mit diesem trostreichen Versprechen mußte sich Mrs. Bloss begnügen. Sie entfernte sich unter Wehklagen über ihr Leiden und unter ebenso vielen Beileidsbezeigungen von Mrs. Tibbs. Es ist fast überflüssig zu sagen, daß sie höchst gewöhnlich, unwissend und egoistisch war. Ihr Seliger hatte als Korkschneider ein hübsches Vermögen gesammelt. Er hatte keine Verwandten außer einem unbemittelten Neffen und keine Freundin außer seiner Köchin gehabt. Der erstere war eines Morgens so frech gewesen, ihn um ein Darlehen von fünfzehn Pfund zu bitten, und er hatte zur Strafe für ihn am folgenden Tage die letztere geehelicht und zugleich zu seiner Universalerbin eingesetzt. Er hatte sich nach dem Frühstück unwohl gefühlt und war nach dem Mittagessen gestorben. In der Kirche seines Kirchspiels ist ein Täfelchen zu schauen, auf dem seine Tugenden zu lesen sind und sein Sterben beklagt wird. Er hatte nie eine Rechnung unbezahlt gelassen und nie einen Heller weggegeben!

Seine Witwe und Erbin war eine wunderliche Mischung von Schlauheit und Einfalt, Liberalität und Gewöhnlichkeit. Bei der Art ihrer Bildung und Gewohnheiten erschien ihr kein Leben so angenehm als das in einem Boarding-Hause, und da sie nichts zu tun noch zu wünschen hatte, so bildete sie sich natürlich ein, daß sie krank sei, und alle ihre Einbildungen wurden durch ihren Arzt, Doktor Wosky, und ihr Mädchen Agnes, ohne Zweifel aus lobenswerten Gründen, nach Kräften unterstützt.

Seit der am Ende des ersten Kapitels erzählten Katastrophe war Mrs. Tibbs in betreff junger Damen als Mieter äußerst kopfscheu geworden. Ihre gegenwärtigen Hausbewohner waren lauter Herren der Schöpfung, denen sie bei Tisch die erwartete Ankunft der Witwe Bloss verkündigte. Die Herren hörten die Mitteilung mit stoischer Gleichgültigkeit an, und Mrs. Tibbs widmete alle ihre Kräfte den Vorbereitungen zur Aufnahme der Patientin. Ihre Koffer und Schachteln langten an, und endlich erschien sie selbst nebst ihrer Agnes, die in ihrem kirschfarbigen Merinokleid, Zwickelstrümpfen und Schuhen mit kreuzweis gebundenen Bändern einer verkleideten Kolombine glich.

Die Einführung des Herzogs von Wellington als Kanzler der Universität Oxford war, was Lärm und Getümmel betrifft, nichts gegen die Einsetzung von Mrs. Bloss in ihre Appartements. Es fehlte freilich an einem Doktor der Rechte, der eine lateinische Rede gehalten hätte, wogegen aber mehrere alte Weiber anwesend waren, die ebensoviel und ebenso unverständlich redeten. Der Wirrwarr des Umzugs hatte die Karbonadenesserin so ermüdet, daß sie ihr Zimmer vor dem folgenden Morgen nicht verlassen wollte; man mußte ihr daher eine Hammelkarbonade, eine Quecksilberpille von zwei Gran, eine Flasche Doppelbier und andere Arzneien hinaufbringen.

»Was meinen Sie wohl, Ma’am«, sagte Agnes, als Mrs. Bloss seit etwa drei Stunden eingezogen war; »was meinen Sie wohl, die Frau vom Hause ist verheiratet!« »Unmöglich!« rief Mrs. Bloss aus.

»Sie können es glauben, Ma’am – und ihr Mann wohnt in der Küche!«

»In der Küche!«

»Was ich Ihnen sage, Ma’am! Und das Hausmädchen sagt, er käme niemals hinauf, ausgenommen sonntags, und Mrs. Tibbs ließe ihn die Stiefel der Herren und bisweilen auch die Fenster putzen, und eines Morgens früh, als er die Fenster des Besuchszimmers gewaschen, sei ein Herr vorübergegangen, der sonst hier gewohnt, und Mr. Tibbs habe ihm zugerufen:›Ah, Mr. Calton, wie befinden Sie sich?‹«

Die Kolombine lachte, und Mrs. Bloss rief aus: »Hat man jemals so etwas gehört!«

»Ja, ja, Ma’am«, fuhr Agnes fort, »und die Dienstboten geben ihm bisweilen Branntwein mit Wasser, und dann kommt er ins Weinen und sagt, daß ihm seine Frau und die Mieter in den Tod verhaßt seien und daß er sie kitzeln wollte.«

»Die Mieter kitzeln!« rief Mrs. Bloss voll Schrecken aus.

»Nein, Ma’am, die Mieter nicht, die Dienstboten.«

»O, wenn es weiter nichts ist!«

»Er wollte mich eben küssen, als ich die Treppe hinaufging«, fuhr die Kolombine entrüstet fort; »ich habe ihm aber Bescheid gesagt, dem unverschämten kleinen Wicht.«

Was Agnes behauptete, war allerdings begründet. Die fast notwendigen Folgen der Erniedrigung, die der unglückliche, geknechtete Freiwillige erfuhr, waren eingetreten. Die Dienstmädchen waren natürlich genug seine Vertrauten und Trösterinnen und er selbst eine Art von Don Juan verkleinerten Maßstabs im Souterrain geworden.

Das Frühstück wurde am Sonntagmorgen um zehn Uhr, eine Stunde später als an den Wochentagen, eingenommen. Tibbs war der erste im gemeinschaftlichen Zimmer und vertrieb sich die Zeit damit, einen Milchtopf mit einem Teelöffel zu leeren. Endlich trat ein Mann von ernsten Mienen und etwa fünfzig Jahren, mit sehr dünnem Haar und dem »Examiner« in der Hand, herein.

»Guten Morgen, Mr. Evenson«, begrüßte ihn Tibbs sehr demütig.

»Gut geschlafen, Mr. Tibbs?« entgegnete Evenson, setzte sich und fing an, sein Zeitungsblatt zu lesen, ohne sich weiter um Tibbs zu kümmern.

»Wissen Sie nicht, ob Mr. Wisbottle in der Stadt ist?« fragte Tibbs, nur um etwas zu sagen.

»Ich glaube; zum wenigsten pfiff er in seinem Zimmer neben dem meinigen heute morgen um fünf Uhr munter eine Melodie nach der andern.«

»Er liebt das Pfeifen ausnehmend.« »Allerdings – ich aber ganz und gar nicht.«

Mr. Evenson besaß mehrere Häuser in den Vorstädten und bezog davon ein gutes Einkommen. Er war äußerst mürrisch und mißvergnügt, ein eingefleischter Radikaler, und besuchte öffentliche Versammlungen aller Art nur, um jeden Vorschlag ohne Ausnahme zu tadeln. Mr. Wisbottle war dagegen ein überzeugter Konservativer. Er war Schreiber beim Forstdepartement und betrachtete seine Stellung als eine aristokratische, wußte das Adelsregister auswendig und konnte aus dem Kopf angeben, wo jeder vornehme Mann wohnte. Er hatte zwei Reihen schöner Zähne und einen vortrefflichen Schneider. Mr. Evenson sah auf alle diese Vorzüge mit tiefer Verachtung herab, und die Folge war, daß die beiden Herren zur Erbauung aller ihrer Hausgenossen fortwährend miteinander disputierten. Mr. Wisbottle pfiff nicht nur gern, sondern hatte auch eine große Meinung von sich selbst als Sänger.

Zwei andere Mieter waren Mr. Tomkins und Mr. O’Bleary. Tomkins war Kommis in einer Weinhandlung und Gemäldekenner und hatte ein ausgezeichnetes Auge für das Malerische. O’Bleary war ein erst vor kurzem herübergekommener Irländer, noch gänzlich wild, und in England erschienen, um Apotheker, Sekretär, Schauspieler, Reporter oder sonst etwas zu werden, wozu sich Gelegenheit darbieten möchte – er war durchaus nicht eigen oder wählerisch. Er stand mit zwei unbedeutenden irischen Parlamentsmitgliedern auf freundschaftlichem Fuße und verschaffte jedermann im Hause Briefe mit Frankovermerk. Gleich allen Irländern, wenn sie nach England herüberkommen, war er davon überzeugt, daß er vermöge seiner Verdienste ein ausgezeichnetes Glück machen müsse. Er trug schottische Unaussprechliche und sah auf der Straße allen Damen unter die Hüte. Sein Aussehen und seine Manieren erinnerten stark an einen Schauspieler.

»Da kommt Mr. Wisbottle«, sagte Tibbs.

Mr. Wisbottle erschien in der Tat, »Di piacer« pfeifend, trat an das Fenster und fuhr fort zu pfeifen.

»Eine vortreffliche Melodie«, bemerkte Evenson höhnisch, ohne die Blicke von seinem Zeitungsblatt emporzuheben.

»Freue mich, daß sie Ihnen gefällt«, erwiderte Wisbottle sehr vergnügt.

»Glauben Sie nicht, daß sie sich noch besser ausnehmen würde, wenn Sie noch ein wenig lauter pfiffen?« fuhr Evenson knurrend fort.

»Nein, in der Tat nicht«, entgegnete der arglose Wisbottle.

»Ich muß mir eine Bemerkung erlauben, Wisbottle«, sagte Evenson, in dessen Innerem der Zorn seit mehreren Stunden gärte; »das nächste Mal, wenn Sie die Lust in sich spüren, um fünf Uhr morgens zu pfeifen, so haben Sie doch die Güte, den Kopf dabei aus dem Fenster zu halten. Wenn Sie’s nicht tun, so lern‘ ich Triangel spielen – beim –!«

Mrs. Tibbs‘ Eintreten unterbrach den Fluß seiner Rede. Sie entschuldigte ihr verspätetes Erscheinen und begann, den Tee zu bereiten. Tibbs setzte sich ganz unten an den Tisch und fing an, Wasserkresse zu essen, gleich einem zweiten Nebukadnezar. O’Bleary und Tomkins traten ein. Mr. Alfred Tomkins ging nach dem Fenster und rief Wisbottle gleich darauf zu: »O bitte, kommen Sie einmal recht schnell hierher.« Wisbottle eilte zu ihm, und alle blickten auf.

»Sehen Sie«, sagte der Kenner, Wisbottle in die rechte Stellung bringend, »ein wenig mehr nach dieser Seite; so! sehen Sie, wie glänzend das Sonnenlicht auf die linke Seite des zerbrochenen Schornsteins von Nummer 48 fällt?«

»Wahrhaftig!« rief Wisbottle bewundernd aus.

»Ich habe nie einen Gegenstand so schön gegen den klaren Himmel stehen gesehen!« rief Alfred und alle, mit Ausnahme John Evensons, stimmten ein, denn Mr. Tomkins war dafür berühmt und verdiente den Ruhm, Schönheiten zu entdecken, die sonst niemand zu entdecken vermochte.

»Ich habe zu Dublin im College-Green häufig einen Schornstein beobachtet, der eine noch weit bessere Wirkung hervorbrachte«, sagte der patriotische O’Bleary, der es nie zugab, daß Irland in irgendeinem Punkte übertroffen wurde; allein Tomkins bezeigte den offenbarsten Unglauben und erklärte, daß sich kein Schornstein in den drei Königreichen so schön ausnehmen könne wie der auf Nr. 48. Jetzt öffnete Agnes plötzlich die Tür, und Mrs. Bloss trat ein. Sie trug ein geranienfarbiges Musselinkleid, eine goldene Uhr von dem Umfang einer kleinen Teeschale an einer Kette von der Dicke eines tüchtigen Strickes und ein glänzendes Assortiment von Ringen, mit Steinen so groß wie halbe Kronen. Mrs. Tibbs stellte die Witwe und die Herren einander vor und erkundigte sich leise nach Mrs. Bloss‘ Befinden, die alle Fragen mit der vollkommensten Verachtung pedantischer, grammatikalischer Vorschriften beantwortete. Als ein allgemeines Stillschweigen eingetreten war, fragte Mrs. Tibbs, um eine Unterhaltung in Gang zu bringen, den Irländer, ob ihm die Toiletten der Damen gefallen hätten, die zum letzten Empfang bei Hofe gefahren seien. Der »Schauspieler« war eifrig mit seinem Frühstück beschäftigt und erwiderte lakonisch: »Ja.«

»Sie sahen solche Toiletten sicher noch nie?« fiel Wisbottle ein.

»Nein – ausgenommen bei den Levers des Lord Leutnants von Irland«, sagte O’Bleary.

»Hm! an unserem Hofe wird doch in der Tat ein erstaunlicher Glanz entwickelt«, bemerkte der überzeugte Konservative.

»Dachten Sie niemals daran«, knurrte der Radikale, »daß wir und Sie mit für diesen Glanz teuer bezahlen?«

»Ich habe allerdings häufig daran gedacht«, entgegnete Wisbottle, in der Meinung, die treffendste und abfertigendste Antwort zu geben; »ich habe allerdings häufig daran gedacht und bezahle ihn gern mit.«

»Ich aber keineswegs«, fuhr Evenson fort, »denn weshalb sollt‘ ich’s? Es gibt zwei große Prinzipien –«

Mrs. Tibbs unterbrach ihn jedoch durch die Frage, ob er noch eine Schale Tee wünsche, und er nahm verdrießlich sein Zeitungsblatt wieder zur Hand. Alfred Tomkins kündigte der Gesellschaft an, daß er eine Dampfbootpartie nach Richmond zu machen gedächte, und bemerkte: »Ich freue mich im voraus der köstlichen Licht- und Schatteneffekte auf der Themse. Der Kontrast zwischen dem blauen Himmel und dem gelben Wasser ist häufig ausnehmend schön.« Mr. Wisbottle pfiff: »Auf glänzenden Silberwellen«, und O’Bleary sagte: »Wir haben ganz vortreffliche Dampfschiffe in Irland.« Mrs. Bloss war erfreut, daß ein Gespräch begonnen worden war, an dem sie teilnehmen konnte, und fiel vergnügt ein: »Da haben Sie vollkommen recht, Sir! Mein seliger Mann mußte von Zeit zu Zeit in Geschäften nach Irland; ich pflegte ihn zu begleiten, und wirklich, es war unübertrefflich, wie die Damen und Herren mit Betten bedient wurden.«

Tibbs öffnete den Mund zu einer Frage, wurde aber durch einen Blick seiner Gattin davon zurückgehalten. Wisbottle lachte und sagte, Tomkins habe einen Witz gemacht, und Tomkins lachte gleichfalls und sagte, es sei nicht der Fall.

Die Unterhaltung geriet ins Stocken, und die Frühstückenden spielten mit ihren Teelöffeln. Die Herren sahen aus dem Fenster, gingen im Zimmer umher und schlichen, wenn sie sich der Tür näherten, einer nach dem andern hinaus. Tibbs wurde hinausgewiesen, und Mrs. Tibbs und die Witwe blieben allein zurück.

»Ach, es ist ganz eigentümlich«, sagte die letztere, »ich fühle mich entsetzlich schwach« (was in der Tat auffallend war, da sie vier Pfund Brot und Fleisch zu sich genommen hatte). »Beiläufig, ich habe ja Mr. Gobler nicht gesehen.«

»Er ist ein äußerst mysteriöser Mann«, versetzte Mrs. Tibbs, »läßt sich das Essen hinaufbringen und kommt bisweilen wochenlang nicht aus seinem Zimmer.« – »Ich habe nichts von ihm gesehen noch gehört.«

»Sie werden ihn sicher heute noch hören; er stöhnt an den Sonntagabenden in der Regel gewaltig.«

»Ich habe noch nie in meinem Leben eine solche Anteilnahme für jemand empfunden«, sagte Mrs. Bloss, und gleich darauf wurde Doktor Wosky hereingeführt. Der Doktor war ein kleiner, schwarzgekleideter Mann mit einem roten Gesicht und trug eine steife, weiße Halsbinde. Er hatte eine sehr gute Praxis und viel Geld, das er dadurch erworben hatte, daß er den schlimmsten Einbildungen und Gelüsten seiner Patienten stets nachgab. Er erkundigte sich nach Mrs. Bloss‘ Befinden, die Witwe klagte, und er verordnete ihr Vermeidung von Aufregungen, nahrhafte Speisen und reichliches und starkes Getränk, steckte sein Honorar ein und entfernte sich, um andere Patientinnen gleich gut zu beraten und gleich gewissenhaft verdiente Guineen einzustecken.

Der geheimnisvolle Mr. Gobler war ein müßiggängerischer, träger, selbstsüchtiger Hypochonder, der fortwährend klagte, ohne jemals krank zu sein. Da sein Charakter dem der Witwe in vielen Beziehungen sehr nahe verwandt war, so entstand zwischen den beiden nach kurzer Zeit eine äußerst innige Freundschaft. Er war groß, schmächtig und blaß, und sein Gesicht hatte stets den Ausdruck eingebildeter Schmerzgefühle. Er sah beständig aus wie ein Mann, dessen Füße gegen seinen Willen in einem mit zu heißem Wasser angefüllten Gefäß stehen.

Ein paar Monate, nachdem Mrs. Bloss bei Mrs. Tibbs eingezogen war, bemerkte man, daß John Evenson mit jedem Tage beißender, übellauniger und boshafter wurde und noch wichtiger tat als früher, woraus klar zu ersehen war, daß er eine Entdeckung gemacht zu haben glaubte, zu deren Offenbarung er nur eine schickliche Gelegenheit erwartete, die sich endlich fand.

Eines Abends waren die Hausbewohner im Besuchszimmer versammelt. Mr. Gobler und Mrs. Bloss spielten Cribbage. Mr. Wisbottle beschrieb Halbkreise auf dem Klavierstuhl, blätterte in einem Notenbuch und pfiff höchst melodisch. Alfred Tomkins saß auf den Ellbogen gestützt am runden Tisch und skizzierte mit Bleistift einen Kopf, der beträchtlich länger als sein eigener war; O’Bleary las den Horaz und bemühte sich auszusehen, als ob er ihn verstände, und John Evenson hatte sich dicht zu Mrs. Tibbs an deren Nähtisch gesetzt und sprach leise und eifrig mit ihr.

»Ich versichere Sie, Mrs. Tibbs«, sagte er, »daß mich nur meine Teilnahme an Ihrem Wohlergehen bewegen konnte, Ihnen diese Mitteilung zu machen. Ich wiederhole es Ihnen, ich fürchte, daß Wisbottle die Neigung des jungen Frauenzimmers, der Agnes, zu gewinnen sucht, und in der Vorratskammer Zusammenkünfte mit ihr hat. Ich hörte gestern abend in meinem Zimmer deutlich Stimmen, öffnete leise die Tür, schlich an den Treppenabsatz und erblickte Mr. Tibbs, der, wie es schien, gleichfalls gestört war. – Mein Gott, Mrs. Tibbs, Sie verfärben sich ja!«

»O nein, nein – es ist nur so heiß im Zimmer«, erwiderte Mrs. Tibbs verlegen. »Wenn ich glauben müßte, was Sie von Mr. Wisbottle vermuten, so sollte er mir augenblicklich das Haus verlassen. Und wenn ihn gar mein Mann bei seinen Absichten unterstützte –«

»Ich hoffe«, fiel Evenson im beruhigendsten Tone ein, weil er es stets liebte, Unheil zu stiften, »daß Mr. Tibbs nichts mit der Sache zu schaffen hat. Er ist mir immer sehr harmlos erschienen.«

»Das ist er allerdings fast immer gewesen«, sagte die kleine Mrs. Tibbs schluchzend.

»Pst, pst! – Ich bitte – Mrs. Tibbs – bedenken Sie doch – man wird uns beobachten«, fuhr Evenson fort, der das Mißlingen seines ganzen Plans zu befürchten anfing. »Wir wollen uns schon Gewißheit verschaffen, und ich werde Ihnen mit dem größten Vergnügen meinen Beistand leihen. Wenn Sie glauben, daß alle zu Bett gegangen sind, und Sie wollen dann ohne Licht vor meiner Schlafzimmertür am Treppenfenster mit mir zusammentreffen, so denk‘ ich, wir werden dahinterkommen, wer es eigentlich ist, und Sie können dann Ihre Maßregeln danach ergreifen.«

Mrs. Tibbs war leicht überredet, denn ihre Neugier und Eifersucht waren erregt. Sie griff wieder zu ihrem Nähzeug, und Evenson ging, als wenn gar nichts vorgefallen wäre, mit den Händen auf dem Rücken im Zimmer auf und ab. Die Cribbagepartie war beendigt und die Unterhaltung begann wieder. Der Tee wurde eingenommen, und die Mieter entfernten sich endlich, um zu Bett zu gehen. Evenson zog die Stiefel aus, entschlossen, aufzubleiben, bis sich Gobler, der stets noch eine Stunde allein im Besuchszimmer blieb, Arznei einnahm und stöhnte, zur Ruhe begeben haben würde.

Es war fast zwei Uhr. »Er muß jetzt eingeschlafen sein«, dachte Evenson, nachdem er mit musterhafter Geduld noch eine Stunde gewartet, als Gobler das Besuchszimmer verlassen hatte. Er horchte – es war alles vollkommen still im Hause; er löschte sein Licht aus und öffnete seine Schlafzimmertür. Es war so finster auf der Treppe, daß man durchaus keinen Gegenstand unterscheiden konnte.

»S – s – s!« wisperte der Unheilstifter, ein Geräusch machend, wie wenn ein Feuerrad anfängt, loszugehen.

»Pst!« wisperte sonst jemand.

»Sind Sie das, Mrs. Tibbs?«

»Ja, Sir!«

»Wo sind Sie?«

»Hier«, und am Treppenfenster zeigte sich Mrs. Tibbs‘ unbestimmte Gestalt, gleich dem Geiste der Königin Anna in der Zeltszene in Shakespeares Richard dem Dritten.

»Kommen Sie, Mrs. Tibbs«, flüsterte der entzückte Evenson; »geben Sie mir Ihre Hand – so! Wer sie auch sein mögen, sie sind im Augenblick in der Vorratskammer, denn ich habe aus meinem Fenster gesehen, und konnte bemerken, daß sie zufällig die Leuchter umwarfen und sich in diesem Augenblicke in Finsternis befinden. Haben Sie die Schuhe ausgezogen?«

»Ja«, erwiderte Mrs. Tibbs, so heftig zitternd, daß sie kaum der Sprache mächtig war.

»Schön; ich habe meine Stiefel auch abgelegt, und wir können nach dem Treppengeländer schleichen und horchen.«

Es geschah.

»Ich will darauf schwören, daß Wisbottle dabei ist«, flüsterte der Radikale nach einigen Augenblicken.

»Pst! lassen Sie uns hören, was sie sagen«, erwiderte Mrs. Tibbs, deren Neugier jetzt die Oberhand über jede andere Leidenschaft oder Rücksicht gewonnen hatte.

»Ja, wenn ich Ihnen glauben könnte«, ließ sich eine kokettierende weibliche Stimme vernehmen, »so wollt‘ ich meine Missis bald genug dazu bringen.«

»Was sagt sie?« fragte Evenson, der minder scharf hörte.

»Sie will mich umbringen«, erwiderte Mrs. Tibbs. »Oh, die Verruchte! Sie sinnen auf Mord.«

»Ich weiß, daß Sie Geld nötig haben«, fuhr Agnes fort, der die Stimme angehörte, »und wenn Sie mir die fünfhundert Pfund zusichern wollen, so steh‘ ich dafür, daß sie in ganz kurzer Zeit Feuer fangen soll.«

»Was war das?« fragte Evenson, der eben genug hören konnte, um zu wünschen, mehr zu hören.

»Ich glaube, sie will das Haus in Brand stecken. Gott sei Dank, daß ich es versichert habe!« antwortete die bestürzte Mrs. Tibbs.

»Sobald ich mich deiner Missis versichert habe, bestes Kind«, sagte eine Männerstimme mit starker irischer Betonung, »so verlaß dich darauf, daß du das Geld bekommst.«

»So wahr ich lebe, es ist O’Bleary!« rief Mrs. Tibbs aus.

»Der Ruchlose!« fiel Evenson mit edler Entrüstung ein.

»Vor allen Dingen«, fuhr der Ire fort, »muß Gobler bis zu Tode –« Das übrige verlor sich.

»Das versteht sich«, bemerkte Agnes mit vollkommenster Kaltblütigkeit.

»Was hat er gesagt?« fragte Evenson abermals.

»Daß Mr. Gobler auch sterben soll«, entgegnete Mrs. Tibbs, fast versteinert ob des doppelten Mordanschlags.

»Und was Mrs. Tibbs anlangt«, fuhr O’Bleary fort, und Mrs. Tibbs schauderte.

»Pst!« rief Agnes im Tone der größten Bestürzung, als Mrs. Tibbs eben daran war, in Ohnmacht zu fallen. »Pst, still!«

»Pst, ganz still!« rief Evenson in demselben Augenblick Mrs. Tibbs zu. »Es kommt jemand die Treppe herauf«, sagte Agnes zu O’Bleary.

»Es kommt jemand die Treppe herunter«, flüsterte Evenson Mrs. Tibbs zu.

»Gehen Sie in das Besuchszimmer, Sir«, sagte Agnes. »Sie können drinnen sein, eh‘ die Person die Küchentreppe herauf ist, die da kommt.«

»In das Besuchszimmer, Mrs. Tibbs!« flüsterte Evenson, und beide eilten hinein, während sie deutlich hörten, daß zwei Personen herunterschlichen und eine hinauf.

»Mir ist alles wie ein Traum«, sagte Mrs. Tibbs. »Ich möchte um keinen Preis in dieser Situation gefunden werden.«

»Ich ebensowenig«, erwiderte Evenson, der schlechterdings keinen Scherz auf seine Kosten vertragen konnte. »Pst! sie sind vor der Tür.«

»Welch ein kostbarer Spaß!« flüsterte draußen eine Stimme. Sie gehörte Wisbottle an.

»Himmlisch«, flüsterte Alfred Tomkins. »Wer hätte sich so etwas gedacht!«

»Sagte ich’s Ihnen nicht? Er hat ihr seit zwei Monaten die ungewöhnlichste Aufmerksamkeit erwiesen. Ich beobachtete sie, während ich am Piano saß. Er flüsterte ihr zu und sie weinte, und ich will darauf schwören, er sagte ihr etwas von Zusammentreffen, wenn wir alle zu Bett gegangen wären.«

»Sie sprechen von uns!« rief die geängstigte Mrs. Tibbs aus.

»Freilich, freilich«, sagte Evenson im trostlosen Bewußtsein, daß es kein Mittel gab, der Entdeckung zu entgehen.

»Was ist zu tun? Wir dürfen uns hier durchaus nicht beieinander finden lassen«, flüsterte Mrs. Tibbs verzweifelnd.

»Ich will in den Schornstein hinaufsteigen.«

»Das können Sie nicht – er ist zu eng.« – »Pst!« rief Evenson.

»Pst, pst!« wurde unten wiederholt.

»Was für ein verwünschtes Pst-Pst-Rufen«, sagte Tomkins, der gar nicht mehr wußte, was er denken sollte.

»Da sind sie!« rief Wisbottle, als ein Rauschen in der Vorratskammer gehört wurde.

»Horch!« flüsterten beide.

»Horch!« flüsterten Mrs. Tibbs und Evenson.

»Lassen Sie mich zufrieden, Sir!« ertönte eine weibliche Stimme in der Vorratskammer.

»O Hagnes!« erwiderte eine andere Stimme, die offenbar Mr. Tibbs angehörte. »O Hagnes – immlisches Mädchen!«

»Lassen Sie mich gehen, Sir!«

»Hag–«

»So schämen Sie sich doch und denken Sie an Ihre Frau, Mr. Tibbs!«

»Meine Frau!« rief der tapfere Freiwillige, der sich offenbar Mut angetrunken hatte. »Sie ist mir bis in den Tod verhaßt, und ich kümmere mich nicht so viel um sie. Oh, Hagnes! als ich unter den Freiwilligen diente im Jahre –«

»Ich schreie, wenn Sie mich nicht zufrieden lassen.«

»Was ist das?« rief Tibbs bestürzt.

»Was denn?« fragte Agnes.

»Ei das!«

»Es wird eine schöne Geschichte werden, und das kommt nun davon, Sir«, schluchzte die erschreckte Agnes, als heftig an Mrs. Tibbs‘ Schlafzimmertür geklopft wurde.

»Mrs. Tibbs! Mrs. Tibbs!« rief Mrs. Bloss. »O bitte, stehen Sie augenblicklich auf!«

»O Himmel!« rief die unglückliche Gattin des lockeren Tibbs aus. »Sie klopft an meine Tür. Wir werden unfehlbar entdeckt werden. Was wird man von mir denken?«

»Mrs. Tibbs! Mrs. Tibbs!« fuhr die Witwe fort zu rufen.

»Was gibt es?« schrie Gobler, aus seinem Zimmer herausstürzend.

»Oh, Mr. Gobler!« rief die fast ohnmächtige Mrs. Bloss. »Ich glaube, es ist Feuer im Hause oder es sind Diebe darin. Ich habe die schrecklichsten Töne gehört.«

Gobler schoß in sein Zimmer und kehrte mit einem Lichte zurück.

»In aller Welt!« rief er aus. »Was ist denn das? Wisbottle – Tomkins – O’Bleary – Agnes! Zum Geier – alle auf und angekleidet!«

Die Witwe war herbeigelaufen und hatte sich an Goblers Arm gehängt.

»Wir müssen Mrs. Tibbs wecken!« rief Gobler und eilte in das Besuchszimmer. »Wie – was! Mrs. Tibbs und Mr. Evenson!«

»Mrs. Tibbs und Mr. Evenson!« wiederholten alle.

Wir müssen es dem Leser überlassen, sich den nun erfolgenden Auftritt selbst auszumalen. Mrs. Tibbs sank in Ohnmacht, und Wisbottle und Tomkins gelang es nur mit großer Kraftanstrengung zu verhindern, daß sie von ihrem Stuhl herunterfiel. Evenson gab Erklärungen, denen offenbar kein Glaube geschenkt wurde, Agnes wies Mrs. Tibbs‘ Anschuldigungen zurück, indem sie darzutun suchte, daß sie nur mit O’Bleary darüber unterhandelt habe, wie ihre Herrin zu beeinflussen sei, ihm ihre Neigung zuzuwenden. Gobler vernichtete O’Blearys süße Hoffnungen durch die Erklärung, daß er Mrs. Bloss bereits seinen Antrag gemacht habe und erhört sei. Agnes wurde verabschiedet, und O’Bleary nahm freiwilligen Abschied aus Mrs. Tibbs‘ Hause, ohne seine Rechnung berichtigt zu haben. Doch genug!

Gegenwärtig hat Mrs. Bloss Mr. Gobler geehelicht. Das glückliche Paar lebt in stiller Zurückgezogenheit von dem großen lärmenden Boardinghause, der Welt, freut sich seiner gegenseitigen Klagen und seines gemeinschaftlichen Tisches und wird von den Ärzten und allen Metzgern auf drei Meilen in der Runde gesegnet und gebenedeit. Mrs. und Mr. Tibbs haben sich nach einem freundschaftlichen Übereinkommen getrennt. Er teilt mit ihr seine Pension und lebt sehr zufrieden in Wolworth, wo man ihn in einer Taverne seine Geschichte hat bis zu Ende erzählen hören. Die unglückliche Mrs. Tibbs hat ihr Haus verkauft und sich in die tiefste Stille zurückgezogen, entschlossen, nie wieder ein Boardinghaus einzurichten.

Mr. Minns und sein Vetter

Mr. Augustus Minns war ein Hagestolz von ungefähr vierzig Jahren, wie er selbst sagte – von ungefähr achtundvierzig, wie seine Freunde sagten. Er war stets ausnehmend sauber, akkurat, ordentlich, vielleicht etwas pedantisch-eigen, und lebte so zurückgezogen wie immer möglich. Er trug in der Regel einen braunen Rock ohne Falten, helle Beinkleider ohne Flecke, ein hübsches Halstuch mit einer ausgezeichnet artigen Schleife, und führte einen braunseidenen Regenschirm mit einem Elfenbeingriff bei sich. Er war Büroschreiber in Somerset-House, oder »bekleidete«, wie er selbst zu sagen pflegte, »ein Amt bei der Regierung«. Er bezog ein gutes Gehalt, hatte zehntausend Pfund an Vermögen und eine Beletage in Tavistock-Street, Covent-Garden, inne, wo er seit zwanzig Jahren gewohnt, fortwährend mit dem Hauswirte gezankt, ihm regelmäßig am ersten Quartalstage die Miete aufgekündigt und am zweiten die Aufkündigung widerrufen hatte. Zwei Gruppen der Geschöpfe flößten ihm den tiefsten und grenzenlosesten Schauder ein: nämlich Hunde und Kinder. Er war nicht lieblos, würde aber jederzeit mit der lebhaftesten Freude einen Hund hinrichten oder ein Kind erdolchen gesehen haben. Ihre Art war mit seiner Ordnungsliebe im Widerstreit, und die Ordnungsliebe war bei ihm so mächtig wie die Liebe zum Leben. Mr. Augustus Minns hatte keine Anverwandten weder in noch außerhalb Londons, mit Ausnahme seines Vetters Mr. Oktavius Budden, bei dessen Sohn, den er nie gesehen (denn er konnte den Vater nicht leiden), er sich hatte bewegen lassen, durch Stellvertretung Gevatter zu stehen. Mr. Budden hatte sich durch sein Geschäft, den Kornhandel, ein mittelmäßiges Vermögen erworben und (da er von einer großen Vorliebe für das Landleben erfüllt war) ein Häuschen nicht weit von Stamford-Hill gekauft, wohin er sich mit der Frau seines Herzens und seinem einzigen Sohn, Master Alexander Augustus Budden, zurückgezogen hatte. Als Mr. und Mrs. Budden eines Abends diesen ihren Sohn bewunderten, seine mannigfachen Vorzüge erörterten, seine Erziehung besprachen und die Frage erwogen, ob die alten Sprachen in den Kreis seiner Studien gezogen werden sollten, führte Mrs. Budden ihrem Gatten so dringend zu Gemüte, wie angemessen es wäre, ihres Sohns wegen Mr. Minns‘ Freundschaft zu pflegen, daß Mr. Budden zuletzt versprach, es solle seine Schuld nicht sein, wenn er mit seinem Vetter künftig nicht auf einem vertrauteren Fuße stände.

»Ich will das Eis dadurch brechen, daß ich ihn zum Mittagessen auf nächsten Sonntag zu uns einlade«, sagte Mr. Budden, seinen Grog umrührend und seiner Gattin einen Seitenblick zuwerfend, um zu sehen, welche Wirkung die Ankündigung des großen Entschlusses bei ihr hervorbringe.

»Dann schreib ihm auf der Stelle, Mann«, erwiderte Mrs. Budden. »Wer weiß, wenn wir ihn erst einmal hier haben, ob er nicht unsern Alexander liebgewinnt und ihm sein Geld vermacht? Liebster Alick, setz deine Füße nicht auf die Stuhlleisten!«

»Du hast recht, vollkommen recht, liebe Frau«, sagte Mr. Budden nachdenklich.

Als Mr. Minns am folgenden Morgen beim Frühstück saß und abwechselnd einen Bissen von der gerösteten Brotschnitte abbiß und einen Blick in die Morgenzeitung warf, die er stets vom Titel bis zum Namen des Druckers durchlas, hörte er an der Haustür laut klopfen, und bald darauf trat sein Bedienter herein und überreichte ihm eine sehr kleine Karte mit sehr großer Schrift: »Oktavius Budden, Emiliensitz (Mrs. Budden hieß Emilie), Poplar-Walk, Stamford-Hill.«

»Budden!« rief Minns aus. »Was zum Geier mag diesen gewöhnlichen Menschen herführen? Sag, ich schliefe noch – sei ausgegangen und käme nie wieder nach Hause oder was du sonst willst, daß er nur unten bleibt.«

»Der Herr kommt aber schon herauf, Sir«, wendete der Bediente ein und hatte offenbar vollkommen recht, denn auf der Treppe ließ sich ein schreckliches Stiefelknirschen vernehmen, das von einem trappelnden Geräusch begleitet war, dessen Ursache sich Mr. Minns schlechterdings nicht zu erklären vermochte.

»Hm! – führe den Herrn herein«, sagte der unglückliche Hagestolz.

Der Bediente ging, Oktavius kam, und noch vor ihm erschien ein großer, weißer Hund in einem die Hälfte seines Leibes einhüllenden Wollkleid, mit roten Augen, langen Ohren und ohne erkennbaren Schwanz. Die Ursache des Trappelns auf der Treppe war nur zu klar. Mr. Augustus Minns hätte vor Entsetzen zu Boden sinken mögen.

»Guten Morgen, Liebster! Wie befinden Sie sich?« sagte Budden beim Eintreten. »Wie befinden Sie sich?«

Er sprach immer so laut wie er konnte und wiederholte dieselben Worte ein halbes Dutzend mal.

»Wie befinden Sie sich, mein Lieber?«

»Wie befinden Sie sich selbst, Mr. Budden? Setzen Sie sich«, stotterte der noch immer fassungslose Minns.

»Danke schön – danke schön – sehr wohl – wie steht es mit Ihnen?«

»Dank Ihnen – ich befinde mich außerordentlich wohl«, sagte Minns mit einem diabolischen Blick nach dem Hund, der seine Vorderpfoten auf den Tisch gelegt hatte und soeben eine mit Butter bestrichene Brotschnitte vom Teller nahm, um sie auf dem Teppich, die Butterseite nach unten, zu verzehren.

»Ei, du Schelm!« sagte Budden zu seinem Hunde. »Sie sehen, Minns, er macht’s wie ich selber – tut immer, als ob er zu Hause wäre. Wahrhaftig, ich bin grausam heiß und hungrig geworden, denn ich habe den ganzen Weg von Stamford-Hill hierher zu Fuß zurückgelegt.«

»Haben Sie gefrühstückt?« fragte Minns.

»Hm, nein! Ich bin eben gekommen, um bei Ihnen zu frühstücken; also klingeln Sie nur, mein Bester, und lassen Sie noch eine Teeschale und ein paar Stück kalten Schinken bringen. Ich tue immer, als ob ich zu Hause wäre, sehen Sie«, fuhr Budden, seine Schuhe mit einem Tellertuche abstaubend, fort. »Ha – ha – ha – ha – ha! Auf Ehre, ich bin hungrig.«

Minns klingelte und gab sich Mühe, zu lächeln.

»Ich bin bestimmt in meinem ganzen Leben nicht so heiß gewesen«, sprach Oktavius weiter, sich die Stirn abwischend. »Nun aber, wie geht es Ihnen, Minns? Bei meiner Seele, Sie halten sich vorzüglich!«

»Meinen Sie?« sagte Minns und bemühte sich, abermals zu lächeln.

»Auf meine Ehre!«

»Wie befinden sich Mrs. Budden und – wie heißt er doch?«

»Alick – Sie meinen Alick – unsern Sohn. Beide wohl. Alick sehr wohl. Aber in einer Wohnung, wie wir sie in Poplar-Walk haben, könnte er auch nicht krank sein, selbst wenn er wollte. Als ich sie zuerst sah mit dem Garten, der allgemeinen Eleganz, dem messingenen Klopfer, dem grünen Zaun, und was weiter dahin gehört, dachte ich wirklich, sie ginge ein klein wenig über meinen Stand hinaus.«

»Sollte Ihnen der Schinken nicht besser schmecken«, unterbrach Minns, »wenn Sie ein Stück von der anderen Seite abschnitten?« Er sah mit unmöglich zu beschreibenden Gefühlen, daß sein Gast den Schinken allen Regeln zuwider anschnitt oder vielmehr verstümmelte.

»Nein, danke schön«, sagte Budden mit wahrhaft barbarischer Gleichgültigkeit gegen seine Übertretung, »ich schneide ihn lieber so – er ißt sich nicht so faserig. Aber hören Sie, Minns, wann wollen Sie uns besuchen? Ich weiß, es wird Ihnen ganz ausnehmend bei uns gefallen. Ich sprach mit Emilie vor ein paar Abenden von Ihnen, und Emilie sagte – bitte mir noch ein Stück Zucker aus – danke – sagte, ich möchte Sie doch einmal freundschaftlich zu uns bitten – herunter da, Schlingel! – der Bösewicht von Hund verdirbt Ihnen Ihre Vorhänge, Minns – ha-ha-ha!«

Minns sprang empor, als wenn er von einem elektrischen Schlage getroffen wäre. »Hinaus – willst du wohl? – hinaus!« rief der arme Augustus, hielt sich jedoch nichtsdestoweniger in ehrerbietiger Entfernung von dem Hunde, da er noch vor einer halben Stunde in der Zeitung einen Bericht über einen Tollwutanfall gelesen hatte. Nach vieler Mühe, großem Rufen und Geschrei und wiederholtem Unter-die-Tische-Stoßen mit Stock und Regenschirm wurde der Hund endlich genötigt, das Feld zu räumen, worauf er sofort das fürchterlichste Geheul erhob und zugleich so beharrlich die Tür von draußen zerkratzte, daß kaum noch eine Spur von Farbe zurückblieb.

»Der Hund ist großartig für das Land«, bemerkte Budden kaltblütig, während Minns fast von Sinnen war. »An Zwang ist er freilich eben nicht gewöhnt. Doch sagen Sie, Minns, wann wollen Sie kommen? Ich nehme platterdings keine Entschuldigung an. Warten Sie mal – wir haben heute Donnerstag – wollen Sie am Sonntag kommen? Wir essen um fünf Uhr. Nicht wahr, Sie sagen nicht nein?«

Unaufhörlich bestürmt und endlich zur Verzweiflung getrieben, nahm Mr. Augustus Minns die Einladung an und versprach, am nächstfolgenden Sonntage ein Viertel vor fünf Uhr in Poplar-Walk zu erscheinen.

»Verlieren Sie die Adresse nicht«, sagte Budden, »die Kutsche geht vom ›Blumentopf‹ in der Bishopgatestraße jede halbe Stunde ab. Wenn Sie vor dem ›Schwan‹ anhält, werden Sie gerade gegenüber ein weißes Haus bemerken.«

»Ihr Haus – verstehe«, fiel Minns ein, der dem Besuche und zugleich der Geschichte ein Ende zu machen wünschte.

»Nein, nein«, entgegnete Budden, »es ist Grogus, des großen Eisenhändlers Haus. Ich wollte sagen, Sie gehen an dem weißen Hause vorüber, bis Sie keinen Schritt mehr weiter können, sehen dann eine Mauer vor sich, auf der geschrieben steht: ›Man nehme sich vor dem Hunde in acht!‹ – (Minns schauderte) – gehen an ihr etwa eine Viertelmeile entlang, und dann wird Ihnen jedermann meine Wohnung zeigen.«

»Sehr wohl – danke – adieu!«

»Seien Sie pünktlich!«

»Unfehlbar – guten Morgen!«

»Sie haben doch meine Karte?«

»Ja, ja; ich danke Ihnen.«

Mr. Oktavius Budden ging, und sein Vetter sah dem nächstfolgenden Sonntag mit den Gefühlen entgegen, mit denen ein armer Poet den wöchentlichen Besuch seiner schottischen Hauswirtin erwartet. – Der Sonntag kam; der Himmel war hell und klar; die Straßen wimmelten von geputzten Leuten, und alles und jedermann sah heiter aus, Mr. Augustus Minns allein ausgenommen.

Es war ein schöner, aber auch sehr heißer Tag, und nachdem Minns die Fleetstraße, Cheapside und Threadneedlestraße auf der Schattenseite mühsam durchwandert hatte, war er erklecklich warm und staubig geworden, und obendrein wurde es spät. Indes hielt eben, als er anlangte, zum außerordentlich großen Glück eine Kutsche vor dem »Blumentopf«, und Mr. Augustus Minns stieg sogleich ein, da ihm der Cad die feierliche Versicherung gab, daß sie in drei Minuten abfahren würde, denn dies sei die längste Zeit, die sie kraft betreffender Parlamentsakte warten dürfe. Es verging eine Viertelstunde, und noch immer war kein Zeichen bevorstehender Abfahrt zu erblicken. Minns sah zum sechsten Male auf seine Uhr.

»Kutscher, werden Sie abfahren oder nicht?« rief er aus dem Kutschenfenster hinaus.

»Sogleich, Sir«, rief der Kutscher zurück, der die Hände in die Taschen gesenkt hatte und einem Manne, der Eile hat, so wenig wie möglich ähnlich sah.

»Bill, nimm die Decken herunter!«

Nach abermaligen fünf Minuten stieg der Kutscher auf den Bock, schaute die Straße hinauf und herunter und rief noch fünf Minuten alle Fußgänger an.

»Kutscher, wenn Sie nicht im Augenblick abfahren, so werde ich wieder aussteigen«, sagte Mr. Minns, der nunmehr in Verzweiflung geriet, weil er die Unmöglichkeit erkannte, zur bestimmten Zeit nach Poplar-Walk zu gelangen.

»In der Minute, Sir«, lautete die Antwort, und die Maschine setzte sich wirklich in Bewegung, rumpelte einige hundert Schritte über das Pflaster hin und – hielt abermals still. Minns drückte sich in eine Ecke und überließ sich den schwärzesten Gedanken – als er ein Kind, eine Mutter, eine Schachtel und einen Sonnenschirm zu Reisegefährten erhielt. Das liebe Kind war von der zutunlichen und zärtlichen Art, hielt Minns irrtümlich für seinen Vater, schrie und wollte ihn umarmen.

»Sei still«, sagte die Mutter, ihren kleinen Liebling zurückhaltend, der mit seinen fetten Beinchen vor Ungeduld umherstrampelte und die wunderbarsten Verschlingungen machte. »Sei still, das ist dein Papa nicht.«

»Dem Himmel sei Dank«, dachte Minns, und der erste Freudestrahl an diesem Tage durchblitzte gleich einem Meteor das Dunkel seines Elends.

Bei dem Knäblein vermischte sich anmutig Freude am Scherz mit Zärtlichkeit. Als es sich überzeugt hatte, daß Minns sein Vater nicht war, machte es den Versuch, die Aufmerksamkeit des Herrn dadurch auf sich zu lenken, daß es dessen saubere Beinkleider mit seinen schmutzigen Schuhen rieb; ihn mit Mamas Sonnenschirm vor die Brust stieß und andere kleine, der Kindheit eigentümliche Liebkosungen vornahm, womit es sich die Langeweile der Fahrt (lediglich zu seiner eignen großen Belustigung) vertrieb.

Als der unglückliche Minns vor dem »Schwan« anlangte, ersah er zu seinem großen Schrecken, daß es ein Viertel nach fünf Uhr vorüber war. Er eilte an dem weißen Hause und der Mauer mit der ominösen Inschrift so rasch vorüber, wie es bei Herren von einem gewissen Alter, wenn sie zu spät zum Mittagessen kommen, nicht ungewöhnlich ist. Nach wenigen Minuten erblickte er ein gelbes Backsteinhaus mit grüner Tür, Messingklopfer, grünen Jalousien und grünem Zaun und einem »Garten« davor, das will sagen, einem offenen Platz mit einem runden und zwei schiefdreieckigen Beeten, auf denen ein Tannenbäumchen, ein paar Dutzend Zwiebelgewächse und eine unbegrenzte Anzahl von Ringelblumen standen. Mr. und Mrs. Buddens Geschmack offenbarte sich ferner durch zwei an der Haustür einander gegenüber auf Steinhaufen und Muscheln sitzende Cupidos. Auf Minns‘ Klopfen erschien ein kleiner und dicker Knabe in brauner Livree, baumwollenen Strümpfen und kurzen Stiefeln, hängte des Besuchers Hut an einen der den Flur, höflich »Halle« genannt, zierenden Messinghaken auf und führte Minns in das Besuchszimmer, das von einer sehr weiten Aussicht auf die Hinterhäuser der Nachbarn beherrscht wurde. Nachdem die Vorstellungsfeierlichkeit vorüber war, nahm Minns mit nicht geringer Unbehaglichkeit Platz, denn einmal war er der zuletzt Gekommene, und sodann fühlte er, daß er etwa von einem Dutzend Leute, die in einem kleinen Zimmer beisammensaßen und nicht wußten, wie sie die Zeit vor dem Mittagessen – die langweiligste von allen Zeiten – hinbringen sollten, wie ein Wundertier betrachtet wurde.

»Nun, Brogson«, redete Budden einen ältlichen Herrn in einem schwarzen Rock, kurzen Beinkleidern und langen Gamaschen an, der sich den Anschein gegeben hatte, die Bilder in einem Taschenbuch zu besehen, in der Tat aber beschäftigt gewesen war, über die Blätter hinüber Minns zu mustern; »nun, Brogson, was denken die Minister zu tun? Werden sie abtreten oder was sonst?«

»Hm –wirklich – Sie wissen, ich bin der letzte, an den man sich wenden muß, um Neuigkeiten zu erfahren; Ihr Herr Vetter wird die Frage seiner Stellung nach am ehesten beantworten können.«

Minns versicherte, daß er, obwohl er ein Amt bei der Regierung bekleide, keine offiziellen Mitteilungen in betreff der Absichten der Minister Ihrer Majestät erhalten habe. Seine Entgegnung wurde offenbar ungläubig aufgenommen, es entstand eine lange Pause, und die Gesellschaft suchte diese durch Husten und Räuspern auszufüllen, bis Mrs. Buddens Eintreten veranlaßte, daß man sich allgemein erhob. Bald darauf wurde gemeldet, daß angerichtet sei, man begab sich hinunter, und Minns führte Mrs. Budden bis vor die Tür des Besuchszimmers, jedoch nicht weiter, da die Treppe so schmal war, daß seine fernere Galanterie dadurch unmöglich gemacht wurde. Beim Essen ging es wie gewöhnlich zu. Von Zeit zu Zeit vernahm man unter dem Geklapper der Messer und Gabeln und dem Unterhaltungsgesumme die Stimme Mr. Buddens, wenn er jemand aufforderte, Wein mit ihm zu trinken, und dem Gast versicherte, erfreut zu sein, ihn bei sich zu sehen; auch war ein fortwährendes Parlamentieren zwischen Mrs. Budden und den Aufwärtern bemerkbar, wobei das Antlitz der Dame alle Wetterglasveränderungen und Stadien von »Sturm« bis zum »schönen Wetter« und »sehr trocken« durchlief.

Als der Nachtisch und der Wein auftragen worden waren, holte der Bediente, einem bedeutsamen Blick Mrs. Buddens gehorsam, Master Alexander in einem himmelblauen Habit mit silbernen Knöpfen und mit fast ebenso weißem Haar herunter. Nachdem Master Alexander einige Lobsprüche von der Mama und einige Ermahnungen zu artiger Aufführung vom Papa erhalten hatte, wurde er seinem Taufpaten vorgestellt.

»Nun, Kleiner, du bist ein hübscher Knabe, nicht wahr?« sagte Minns so vergnügt wie eine Meise auf einer Leimrute.

»Ja.«

»Wie alt bist du denn?«

»Nächsten Mittwoch acht Jahr. Wie alt bist du denn?«

»Alexander«, fiel die Mutter ein, »wie kannst du so dreist sein, Mr. Minns nach seinem Alter zu fragen?«

»Er fragte mich aber, wie alt ich sei«, sagte der frühreife liebe Knabe, dem Minns nie einen Schilling zu vermachen von dem Augenblick an innerlich fest beschloß.

Es entstand ein ziemlich allgemeines Gekichere, und als es wieder aufgehört hatte, rief ein kleiner, stets lächelnder Mann mit rotem Knebelbart, der unten am Tische saß und während des ganzen Diners bemüht gewesen war, einige Anekdoten von Sheridan an den Mann zu bringen, sehr im Gönnertone dem Knäblein zu: »Alick, was für ein Redeteil ist sein»?«

»Ein Zeitwort.«

»So war es recht mein Junge«, sagte Mrs. Budden mit dem ganzen Stolze einer Mutter. »Du weißt doch aber auch, was ein Zeitwort ist?«

»Ein Zeitwort ist ein Wort, das etwas sein, tun oder leiden bedeutet, wie: ich bin – ich regiere – ich werde regiert. Gib mir einen Apfel, Mama!«

»Ich will dir einen Apfel geben«, rief ihm der Rotbart zu, der als Hausfreund zum Familienkreis gehörte oder, mit andern Worten, von Mrs. Budden stets eingeladen wurde, gleichviel ob es Mr. Budden genehm war oder nicht; »ich will dir einen Apfel geben, wenn du mir die Bedeutung von ›sein‹ sagst.«

»Nein«, entgegnete das Knäblein sehr ungebärdig, »ich will einen Apfel haben von Mama, und du kannst deinen Apfel behalten; und Papa hat gesagt, du wärst –«

»Meine Herren«, rief Mr. Budden mit Stentorstimme und sichtbarer Unruhe, »darf ich Sie bitten, die Gläser zu füllen? Ich habe eine Gesundheit vorzuschlagen.«

Die Herren riefen: »Hört, hört« und ließen die Flaschen herumgehen, worauf Mr. Budden fortfuhr:

»Meine Herren, es befindet sich ein Mann in unserer Mitte –«

»Hört, hört!« rief der kleine Rotbart dazwischen.

»Bitte seien Sie still, Jones«, sagte Budden und fuhr fort wie folgt: »Es befindet sich ein Mann in unserer Mitte, dessen Anwesenheit ohne Zweifel zu unserer höchsten Freude gereichen und – und – und dessen interessante Unterhaltung uns allen das lebhafteste Vergnügen verschafft haben muß.« (»Dem Himmel sei Dank, er kann mich nicht meinen!« dachte Minns, der, seit er das Haus betreten, keine zehn Worte gesprochen hatte.) »Meine Herren, ich selbst darf keine Ansprüche machen und sollte mich vielleicht entschuldigen, daß ich mich durch meine Freundschaft und Zuneigung für den Verehrten, den ich im Sinne habe, bewegen ließ, mich zu erheben und seine Gesundheit – die Gesundheit eines Mannes vorzuschlagen, der, wie ich weiß – ich wollte sagen, dessen Tugenden ihn allen denen teuer machen müssen, die ihn kennen – und dem niemand gram sein kann, der ihn nicht kennt.« »Hört, hört!« rief die Gesellschaft ermutigend und beistimmend.

»Meine Herren«, sprach Budden weiter, »mein Vetter ist ein Mann, der – der mein Anverwandter ist –« (Hört, hört! Minns stöhnte hörbar), »den ich mich glücklich schätze, hier zu sehen, und der uns, wenn er nicht hier wäre, sicher des großen Vergnügens beraubt haben würde, das wir alle an seiner Gegenwart empfinden. (Lautes und vielfaches Hört!) Meine Herren, ich fühle, daß ich Ihre Aufmerksamkeit schon gar zu lange in Anspruch genommen habe, und erlaube mir, mit den Gefühlen – den lebhaftesten Gefühlen des – des – des –«

»Vergnügens«, half der Hausfreund ein.

»Des Vergnügens, Ihnen Mr. Minns Gesundheit vorzuschlagen.«

»Stehend, meine Herren«, rief der unermüdliche kleine Rotbart, »und mit allen Honneurs. Haben Sie die Güte, sich nach mir zu richten.«

Er schrie vor und die Gesellschaft schrie nach, und aller Blicke waren auf Minns gerichtet, der seine Verwirrung dadurch zu verbergen suchte, daß er auf die augenscheinliche Gefahr, zu ersticken, Portwein hinuntergoß. Nach einer Pause, die so lang war, wie der Anstand sie zuließ, erhob er sich; allein, wie es in den Zeitungsberichten heißt, »wir bedauern, gänzlich außerstande zu sein, den Inhalt der Rede des ehrenwerten Herrn wiederzugeben«. Die Worte: »anwesende Gesellschaft – Ehre – vorkommende Veranlassung« und »ausnehmendes Vergnügen«, die man verstand und die er von Zeit zu Zeit mit einem Gesicht wiederholte, das ebensoviel Verlegenheit als tiefempfundenen Jammer ausdrückte, gaben den Herrschaften die Überzeugung, daß er vortrefflich rede, und sie zollten ihm daher, als er sich wieder setzte, stürmischen Beifall, worauf Jones, der schon lange seine Gelegenheit erwartete, emporschoß.

»Budden«, sagte er, »erlauben Sie mir, auch eine Gesundheit vorzuschlagen?«

»Versteht sich«, erwiderte Budden und rief Minns mit leiser Stimme über den Tisch hinüber zu: »Ein verflucht gescheites Männchen – seine Rede wird Ihnen ausnehmend gefallen. Er spricht über alle Gegenstände gleich gut.« Minns verbeugte sich, und Mr. Jones hub an:

»Es ist bei mehreren Gelegenheiten, in verschiedenen Fällen, unter mannigfachen Umständen und in Gesellschaften aller Art mir zugefallen, denen eine Gesundheit vorzuschlagen, in deren Mitte ich mich eben zu befinden die Ehre hatte. Ich bekenne es gern – denn warum sollte ich es verhehlen? –, daß ich bisweilen fühlte, wie überwältigend meine Aufgabe und wie wenig ich ihr gewachsen war. Ist dies nun aber bei anderen Gelegenheiten der Fall gewesen, in welchem Maße muß es unter den außerordentlichen Umständen der Fall sein, in denen ich mich hier sehe! (Hört, hört!) Meine Gefühle ganz zu schildern würde unmöglich sein, aber ich kann Ihnen keine bessere Vorstellung davon geben als dadurch, daß ich mich auf einen Umstand beziehe, der mir sonderbar genug eben jetzt in den Sinn kommt. Einst, als der wahrhaft große Sheridan –«

Man kann nicht sagen, welche neue Spitzbüberei dem so sehr mißhandelten Sheridan in der Form eines Scherzes aufgebürdet werden sollte; denn in dem verhängnisvollen Augenblick stürzte einer der Aufwärter atemlos herein, um anzukündigen, daß es stark regne und daß der Neun-Uhr-Kutscher unten stände, um sich zu erkundigen, ob jemand mit zur Stadt zu fahren wünsche, für den er noch einen Innenplatz habe.

Minns sprang auf und ließ sich durch die zahllosesten Vorstellungen, Bitten und Verwunderungsbezeigungen von seinem Entschlusse nicht abbringen, den vakanten Platz anzunehmen. Indes war der braunseidene Regenschirm nirgends zu finden, und der Kutscher wollte nicht warten, sondern ließ Mr. Minns sagen, er möge nur nach dem »Schwan« kommen, von wo er ihn mitnehmen wollte. Minns entsann sich erst nach zehn Minuten, daß er den Regenschirm in der anderen Kutsche hatte stehenlassen, und gehörte außerdem keineswegs zu den Geschwindesten; es war demnach gar kein Wunder, daß er im »Schwan« erst anlangte, als die Kutsche – die letzte – bereits abgefahren war.

Es mochte drei Uhr nach Mitternacht sein, als er durchnäßt und durchkältet, verdrießlich und erschöpft an seiner Haustür klopfte. Er machte am andern Morgen sein Testament, und sein Anwalt hat uns im strengsten Vertrauen, worin auch wir den Lesern die Mitteilung machen, gesagt, daß darin weder der Name von Mr. Oktavius noch der von Mrs. Emilie oder der von Master Alexander Budden vorkäme.

Empfindsamkeit

Die beiden Misses Crumpton in Minerva-House, Hammersmith, waren zwei ungewöhnlich große, außerordentlich schmächtige und besonders magere Damen – von sehr gerader Haltung und sehr gelbem Teint. Miss Amalia Crumpton bekannte sich zu achtunddreißig, und Miss Maria Crumpton räumte ein, daß sie vierzig Jahre alt sei – ein Geständnis, das durch den Augenschein vollkommen überflüssig wurde, nach dem sie ohne alle Frage fünfzig zählte. Sie kleideten sich auf das Interessanteste – wie Zwillinge – und sahen so vergnügt und erfreulich aus wie ein Paar in Samen geschossene Ringelblumen. Sie waren sehr förmlich, hatten die denkbar strengsten Vorstellungen von Schicklichkeit, sie trugen falsches Haar und dufteten stets sehr stark nach Lavendel.

Minerva-House, das unter der Leitung der beiden Schwestern stand, war eine sogenannte »Vollendungspension für junge Damen«, in der einige zwanzig Mädchen von dreizehn bis neunzehn einige Brocken von allem und Kenntnis von nichts erhielten: Unterricht im Französischen und Italienischen, Tanzstunden zweimal wöchentlich und andere Notwendigkeiten des Lebens. Das Haus war weiß, stand etwas entfernt von der Straße, und der Garten zwischen ihr und jenem hatte ein dichtes Gitter. Die Schlafzimmerfenster standen fortwährend teilweise offen, um den Vorübergehenden einen flüchtigen Blick auf die Menge der kleinen Bettgestelle mit sehr weißen Dimityüberzügen zu gestatten; und im Erdgeschoß befand sich ein Zimmer, behangen mit stark kolorierten Karten, die nie angesehen, und gefüllt mit Büchern, die von niemand gelesen wurden: ein Zimmer, sagen wir, ausschließlich bestimmt, um darin die Eltern zu empfangen, die sich zu den Misses Crumpton verfügten.

»Liebe Amalia«, sagte Miss Maria Crumpton, als sie eines Morgens mit gewickeltem Haar – denn sie wickelte es bisweilen, um die jungen Damen zu überzeugen, daß es natürliches sei – in das Unterrichtszimmer trat: »Liebe Amalia, ich habe soeben eine höchst erfreuliche Zuschrift erhalten. Du kannst sie dreist laut lesen.«

Miss Amalia las sogleich mit großem Triumphe wie folgt:

»Indem ich mich Ihnen empfehle, erlaube ich mir zu sagen, daß ich sehr dankbar dafür sein würde, wenn Sie mich morgen um ein Uhr mit Ihrem Besuche beehren wollten, da ich recht sehr wünsche, mein Vorhaben mit Ihnen zu besprechen, meine Tochter Ihrer Leitung zu übergeben.

Cornelius Brook Dingwall, Esq., Adelphi. Parlamentsmitglied.«

»Also morgen.«

»Die Tochter eines Parlamentsmitglieds!« rief Miss Amalia im Tone der Ekstase aus.

»Die Tochter eines Parlamentsmitglieds!« wiederholte Miss Maria mit einem verzückten Lächeln, das natürlich bei den sämtlichen jungen Damen ein Gekicher des Vergnügens hervorrief.

»Es ist überaus erfreulich!« sagte Miss Amalia, worauf die jungen Damen abermals Bewunderung murmelten. Höflinge sind nur Schulkinder mit fünfzig multipliziert.

Das Ereignis war so wichtig, daß die Misses Crumpton sogleich die Stunden für den Tag frei gaben und sich in ihr Zimmer zurückzogen, um es noch weiter zu besprechen. Die jüngeren Mädchen erörterten das mutmaßliche Aussehen und Benehmen der Parlamentsmitgliedstochter, und die jungen Damen im achtzehnten und neunzehnten Jahr erklärten sich begierig zu wissen, ob sie verlobt, ob sie hübsch sei, viel Turnüre trüge und was der ähnlichen Wichtigkeiten mehr waren. Die beiden Misses Crumpton begaben sich am folgenden Tage zur bestimmten Zeit nach dem Adelphihotel, hatten sich natürlich auf das beste herausgeputzt und sahen so liebenswürdig wie möglich aus – was, beiläufig bemerkt, nicht eben viel bei ihnen sagen wollte. Sie übergaben einem feuerrot aussehenden Bedienten in glänzender Livree ihre Karten und wurden hineingeführt zu dem bedeutenden Manne.

Cornelius Brook Dingwall, Esq., Parlamentsmitglied, war sehr vornehm, sehr feierlich und sehr wichtig. Er hatte von Natur einen etwas krampfhaften Gesichtsausdruck, der dadurch nicht weniger auffallend wurde, daß er eine unendlich steife Halsbinde trug. Er war ausnehmend stolz auf das seinem Namen angehängte »P.M.« und ließ nie eine Gelegenheit unbenutzt vorübergehen, alle, mit denen er zu tun hatte, an seine Würde zu erinnern. Er hatte eine große Vorstellung von seinen Fähigkeiten, was sehr angenehm für ihn sein mußte, da sonst niemand etwas davon hielt; und in der Diplomatie, im kleinen Rahmen seiner Familienangelegenheiten, meinte er, ohnegleichen zu sein. Er war Friedensrichter in der Provinz, erfüllte seine friedensrichterlichen Obliegenheiten mit aller gebührender Unparteilichkeit und Gerechtigkeit und brachte häufig Wilddiebe ins Gefängnis und sich selbst in Verlegenheit. Miss Brook Dingwall gehörte der umfangreichen Klasse von jungen Damen an, die man gleich Adverbien daran erkennen kann, daß sie Alltagsfragen beantworten und sonst nichts tun.

Das Parlamentsmitglied saß in einer kleinen »Bibliothek«, an einem mit Papier bedeckten Tisch, tat gar nichts und bemühte sich, beschäftigt auszusehen. Parlamentsakten und Briefe, gerichtet an »Cornelius Brook Dingwall, Esq., P.M.«, lagen in kunstvoller Unordnung umher. Im Zimmer spielte eine jener Landplagen, ein verzogenes, nach der neuesten Mode herausgeputztes Kind in einem blauen Kittel mit einem eine Viertelelle breiten Gürtel, der mit einer ungeheuren Schnalle befestigt war, so daß das Knäblein wie ein durch ein Verkleinerungsglas beschauter Melodramaräuber aussah.

Nach einigen liebenswürdigen Scherzen von Seiten des holden Kleinen, der sich ein Vergnügen daraus machte, mit Miss Maria Crumptons Stuhl so schnell davonzulaufen, als er für sie hingestellt war, gelangten die Damen zum Sitzen, und Cornelius Brook Dingwall, Esq., eröffnete die Unterredung. Er hatte Miss Crumpton, wie er sagte, gebeten, zu ihm zu kommen, weil ihm sein Freund, Sir Alfred Muggs, ihre Pensionsanstalt so sehr gerühmt habe. Miss Crumpton murmelte ihm (Muggs) ihren Dank, und Cornelius fuhr fort: »Eine meiner Hauptgründe, Miss Crumpton, meine Tochter anderen Händen zu übergeben, ist der, daß sie sich in der letzten Zeit gewisse sentimentale Ideen in den Kopf gesetzt hat, von denen es höchst wünschenswert ist, daß sie aus ihrem jungen Gemüte wieder entfernt werden.«

Hier fiel die erwähnte kleine Unschuld mit schrecklichem Gepolter von einem Lehnsessel herunter.

»Unartiger Junge«, sagte seine Mama, die am meisten darüber verwundert schien, daß er sich die Freiheit genommen hatte, zu fallen: »Ich will nur klingeln, daß James kommt und ihn hinausbringt.«

»Laß ihn doch, liebes Kind«, sagte der Diplomat, sobald er sich bei diesem, dem Fall und der Drohung nachfolgenden fürchterlichen Geheule Gehör verschaffen konnte. »Es kommt alles von seiner großen, vielversprechenden Lebhaftigkeit her«, setzte er zu Miss Crumpton gewendet hinzu.

»Ohne Frage, Sir«, versetzte die ältliche Maria, ohne eben sehr deutlich zu begreifen, warum soviel Versprechendes darin liege, daß der Knabe von einem Sessel heruntergefallen war.

Es wurde endlich wieder still, und das Parlamentsmitglied fuhr fort: »Ich wüßte nichts, wodurch dieser Zweck so gewiß erreicht werden könnte, Miss Crumpton, als beständiger Umgang mit Mädchen ihres Alters, und da ich weiß, daß sie in Ihrer Anstalt mit jungen Mädchen zusammentreffen wird, die ihr kindliches Gemüt sicher nicht verderben werden, so gedenke ich, sie Ihnen anzuvertrauen.«

Die jüngere Miss Crumpton drückte den Dank der Anstalt aus. Maria war vollkommen sprachlos durch körperlichen Schmerz – der kleine Vielversprechende hatte sich von seinem Schrecken erholt und stand auf ihrem höchst empfindlichen Fuß, um über den Rand des Tisches hinüberblicken zu können.

»Natürlich wird meine Lavinia zu den am meisten begünstigten Kostgängerinnen gehören«, sprach der beneidenswerte Vater weiter; »und besonders in Beziehung auf einen Punkt wünsche ich, daß meine Weisungen streng befolgt werden. Die Sache ist die, daß ihr jetziger Gemütszustand von einem lächerlichen Liebeshandel herrührt, den sie mit jemand, der unter ihr steht, gehabt hat. Da ich weiß, daß sie, Ihrer Obhut übergeben, keine Gelegenheit haben kann, den jungen Menschen zu sehen, so habe ich nichts dagegen, oder es ist mir vielmehr lieb, wenn Sie sie in den Kreis Ihrer Bekannten einführen.«

Der vielversprechende kleine Lebhafte unterbrach die wichtige Rede des Vaters abermals, indem er eine Fensterscheibe zerbrach und fast in den Hof hinuntergestürzt wäre. Es wurde geklingelt, James erschien, es erfolgten beträchtliche Verwirrung und in der Luft stampfende Beine so groß, wie Reifenstöcke, der Bediente ging hinaus, und der Knabe war verschwunden.

»Mein Mann wünscht, daß Lavinia alles lernt«, nahm Mrs. Brook Dingwall, die nur selten sprach, das Wort.

»Versteht sich«, riefen beide Misses Crumpton zugleich.

»Und so wie ich hoffe, daß der Plan, den ich entworfen habe, meine Tochter von ihren abgeschmackten Ideen zurückbringen wird«, fuhr der Gesetzgeber fort, »hege ich auch das Vertrauen, daß Sie die Güte haben werden, allen meinen etwaigen Wünschen in allen Beziehungen entgegenzukommen.«

Natürlich wurde alles versprochen, und nach einer noch sehr verlängerten, von seiten der Dingwalls mit der gebührendsten diplomatischen Gravität und von der der Crumptons mit tiefem Respekt geführten Unterhaltung wurde endlich die Abrede getroffen, daß Miss Lavinia am zweitfolgenden Tag, an dem der Halbjahrsball der Anstalt bevorstand, nach Hammersmith versetzt werden solle. Es war anzunehmen, daß die kleine Festlichkeit dem lieben Mädchen eine angenehme Zerstreuung gewähren würde. Und hier zeigte sich, beiläufig gesagt, abermals ein Stückchen der väterlichen Diplomatie.

Miss Lavinia wurde gerufen und vorgestellt, und beide Misses Crumpton erklärten sie für ein »unendlich liebenswürdiges Mädchen«, eine Meinung, die sie merkwürdigerweise von jeder netten Kostschülerin hegten. Sodann erfolgten angemessener Knickse, Redensarten und Herablassung, und – die Misses Crumpton gingen. –

In Minerva-House wurden die großartigsten Vorbereitungen zum Ball getroffen. Das geräumigste Zimmer im Hause wurde mit blauen Kalikorosen, buntgewürfelten Tulpen und anderen ebenso natürlich aussehenden künstlichen Blumen von den Händen der jungen Damen verziert. Der Teppich wurde weg- und die Flügeltüren aus den Angeln genommen, die Möbel wurden hinaus- und Diwans hereingebracht. Die Putzhändler von Hammersmith gerieten in Erstaunen über die plötzliche Nachfrage nach Band und langen Glacéhandschuhen. Geranien wurden dutzendweise zu Buketts gekauft und eine Harfe und zwei Violinen bestellt; ein Flügel war bereits angelangt. Die jungen Damen, die ausgewählt waren, bei einer so passenden Gelegenheit zu glänzen und der Anstalt Ehre zu bereiten, übten sich unaufhörlich, recht sehr zu ihrem eigenen Vergnügen und noch mehr zum Ärger des alten, lahmen Herrn gegenüber; und zwischen den Misses Crumpton und dem Konditor von Hammersmith wurde ein beständiger Verkehr unterhalten.

Der Abend kam, und mit ihm begann ein Korsettschnüren und Sandalenbinden und Haarputzen, dergleichen nur in einer Pensionsanstalt mit dem gehörigen Grade von Getümmel stattfinden kann. Die kleineren Mädchen waren jedermann im Wege und wurden deshalb umhergestoßen, und die älteren putzten, schnürten, schmeichelten und beneideten einander so eifrig und aufrichtig, als wenn sie schon wirklich in die Gesellschaft eingeführt gewesen wären.

»Wie sehe ich aus, Liebe?« fragte Miss Emilie Smithers, die erste Schönheit des Hauses, Miss Karoline Wilson, ihre Busenfreundin, weil Miss Karoline Wilson das häßlichste Mädchen in- und außerhalb von Hammersmith war.

»O, bezaubernd! Wie sehe ich aus?«

»Entzückend! Du sahst noch nie so hübsch aus«, erwiderte die erste Schönheit, ihr Kleid glättend und die unglückliche Busenfreundin keines Blicks würdigend.

»Ich hoffe, der junge Hilton wird früh kommen«, sagte eine andere junge Dame zu Miss Soundso in einem Fieber von Erwartung.

»Es würde ihm sehr schmeicheln, wenn er dich so sprechen hören könnte«, versetzte Miss Soundso, die à l’été gekleidet war.

»Es ist ein so hübscher Mensch«, bemerkte die erste.

»So bezaubernd!« fiel eine zweite ein.

»Hat ein so distinguiertes Air«, sagte eine dritte.

»Was meint ihr wohl!« rief eine vierte, in das Zimmer hereinstürzend, »Miss Crumpton sagt, ihr Vetter käme.«

»Wie? Theodosius Butler?« fragten alle, von Entzücken ergriffen.

»Ist er schön?« fragte eine Novizin.

»Nein, nicht gerade eigentlich schön«, war die allgemeine Antwort; »aber, oh, so sehr gescheit!«

Mr. Theodosius Butler war eins der unsterblichen Genies, die man in fast jedem gesellschaftlichen Kreise findet. Sie haben gewöhnlich sehr tiefe, eintönige Stimmen. Sie überreden sich immer selbst, wundervolle Personen und sehr unglücklich zu sein, wenn sie auch nicht eigentlich wissen, warum. Sie sind sehr eingebildet und pflegen gerade einen halben Gedanken zu besitzen, erfreuen sich aber in den Augen enthusiastischer junger Damen und einfältiger junger Herren einer bedeutenden Überlegenheit. Mr. Theodosius Butler hatte ein Pamphlet geschrieben, das sehr wichtige Betrachtungen über die Nützlichkeit von Gott weiß was enthielt; und da jeder Satz wenigstens fünfzig viersilbige Worte hatte, so hielten es seine Bewunderer für ausgemacht, daß viel Sinn darin enthalten sei.

»Das ist er vielleicht«, riefen mehrere junge Damen, als das erste Läuten des Abends der Glocke Zerstörung drohte.

Es erfolgte eine feierliche Pause, und – einige Schachteln und einige junge Damen langten an; Miss Brook Dingwall in vollem Ballkostüm, mit einer ungeheuren goldenen Halskette, das Kleid mit einer einzigen Rose geschürzt, einen Elfenbeinfächer in der Hand und einen höchst interessanten Ausdruck der Verzweiflung auf dem Antlitz. Die Misses Crumpton erkundigten sich mit dem sorglichsten Eifer nach dem Befinden der lieben Ihrigen, stellten Miss Brook Dingwall ihren künftigen Pensionsgenossinnen in gebührender Form vor und sprachen mit den jungen Damen im allersüßesten Tone, um Miss Brook Dingwall sogleich eine angemessene Vorstellung davon zu geben, wie freundlich sie mit ihren Zöglingen umgingen.

Abermals ertönte die Glocke: Mr. Dadson, der Schreiblehrer, und Frau, Mrs. Dadson in grüner Seide, grünen Schuhen und Haubenbändern, und der Schreiblehrer in weißer Weste, schwarzen Kniehosen und ebensolchen Strümpfen, die zwei Beine zeigten, groß genug für zwei Schreibmeister. Die jungen Damen flüsterten miteinander, und Mr. Dadson und Frau schmeichelten den Misses Crumpton, die sich in Kanariengelb und mit langen Leibbinden wie Puppen präsentierten.

Das Läuten wurde häufiger, und zu viele Ballgäste langten an, als daß sie alle einzeln aufgeführt werden könnten: Papas und Mamas, Tanten und Onkel; Vormünder und Vormünderinnen der jungen Damen; der Singlehrer Signor Lobskini mit einer schwarzen Perücke; die Pianofortespielerin und die Violinen; der Harfenist im Zustande der Trunkenheit und einige zwanzig junge Herren, die an der Tür standen, miteinander flüsterten und bisweilen kicherten. Allgemeines Unterhaltungsgesumm begann, und Kaffee wurde gereicht und reichlich genossen von wohlbeleibten Müttern, die wie die dicken Leute aussahen, die in den Pantomimen zu dem einzigen Zwecke auftreten, um über den Haufen gerannt zu werden.

Sodann erschien der beliebte Mr. Hilton, und nachdem er der Aufforderung der Misses Crumpton folgend das Vortänzeramt übernommen hatte, nahmen die Quadrillen ihren Anfang. Die jungen Herren an der Tür rückten allmählich in die Mitte des Zimmers vor und gewannen endlich die erforderliche Dreistigkeit, sich Tänzerinnen vorstellen zu lassen. Der Schreiblehrer schlug keinen Tanz aus und sprang mit der schrecklichsten Beweglichkeit umher, und seine Frau spielte Whist im hinteren Zimmer, einem kleinen Gemach mit fünf Büchersimsen, das mit der Benennung Studierzimmer beehrt wurde. Sie an einen Whisttisch zu bringen, war eine halbjährlich wiederkehrende Kriegslist der Misses Crumpton, da sie notwendig irgendwo versteckt werden mußte, weil sie »eine Vogelscheuche« war.

Die interessante Lavinia Brook Dingwall war von allen anwesenden Mädchen die einzig teilnahmslose. Vergeblich wurde sie gebeten, zu tanzen, vergeblich war es, daß ihr, als der Tochter eines Parlamentsmitglieds, allgemein gehuldigt wurde. Sie blieb gleich unbeweglich bei dem glänzenden Tenor des unnachahmlichen Lobskini wie bei Miss Lätitia Parsons glänzendem Pianafortespiel, das dem vom Moscheles fast gleich erklärt wurde. Nicht einmal die Ankündigung, daß Mr. Theodosius Butler angelangt sei, konnte sie bewegen, den Winkel des Seitenzimmers zu verlassen, im dem sie saß.

»Lieber Theodosius«, sagte Miss Maria Crumpton, nachdem der erleuchtete Pamphletist fast durch die ganze Gesellschaft Spießruten gelaufen war, »jetzt muß ich Sie unserem neuen Zögling vorstellen.«

Theodosius sah aus, als ob er an irdische Dinge nicht von fern dächte.

»Sie ist die Tochter eines Parlamentsmitglieds.«

Theodosius stutzte;

»Ihr Name –?« fragte er.

»Lavinia Brook Dingwall.«

»O ihr himmlischen Mächte!« rief Theodosius poetisch in leisem Tone aus.

Miss Crumpton begann die Vorstellung in gehöriger Form. Miss Brook Dingwall hob matt und schmachtend den Kopf empor.

»Edward!« rief sie mit einem halben Aufschrei aus, als sie die wohlbekannten Nankingbeine erblickte.

Da sich Miss Maria Crumpton glücklicherweise keines übergroßen Maßes von Scharfsinn rühmen konnte, und da es eins der diplomatischen Arrangements war, daß Miss Lavinias unzusammenhängende Ausrufe nicht beachtet werden sollten, so merkte sie von der Erregtheit des Pärchens nicht das mindeste und ließ die beiden allein, sobald sie gehört hatte, daß Miss Brookes Theodosius‘ Bitte um den nächsten Tanz Gehör gab.

»O Edward!« rief die romantischste aller romantischen jungen Damen aus, als sich dieses Licht der Wissenschaft an ihre Seite setzte; »o Edward, sind Sie es wirklich?«

Mr. Theodosius versicherte dem süßen Wesen in den leidenschaftlichsten Ausdrücken, das er sich nicht bewußt sei, sonst jemand zu sein als er selber.

»Dann – warum – warum dieses Inkognito? O Edward M’Neville Walter, was habe ich um Ihretwillen erduldet!«

»Lavinia, hören Sie mich«, erwiderte der Held in seinem sentimentalsten Ton. »Verdammen Sie mich nicht ungehört. Wenn etwas, das der Seele eines Elenden, wie ich bin, entfloß, eine Stelle in Ihrer Erinnerung einnehmen kann – wenn etwas so Niedres Ihre Beachtung verdient – so entsinnen Sie sich vielleicht, daß ich ein Pamphlet drucken – auf meine Kosten – drucken ließ, betitelt: ›Betrachtungen über die Rätlichkeit der Aufhebung der Wachssteuer.‹«

»Ja – ja –«, schluchzte Lavinia.

»Es war ein Gegenstand«, fuhr der Liebhaber fort, »dem Ihr Vater Herz und Seele widmete.«

»Freilich – freilich!« rief die gefühlvolle Lavinia aus.

»Ich wußte es«, sprach Theodosius mit tragischem Ton weiter. »Ich wußte es, – übersandte ihm ein Exemplar – und er wünschte, mich kennenzulernen. Konnte ich mit meinem wahren Namen hervortreten? Nimmer! Ich nahm den Namen an, den Sie so oft in süßen Schmeicheltönen ausgesprochen haben, widmete mich als M’Neville Walter der großen Sache, gewann als M’Neville Walter Ihr Herz. Unter diesem Namen ward ich von Ihres Vaters Dienerschaft aus dem Hause gestoßen, und unter keinem war es mir seitdem möglich, Sie zu sehen. Wir finden uns jetzt wieder, und ich bekenne mit Stolz, daß ich – Theodosius Butler bin.«

Die junge Dame schien durch diese bündige und inhaltsreiche Erklärung vollkommen zufriedengestellt zu sein und beseligte durch einen Blick glühender Zärtlichkeit den unsterblichen Wachsfürsprecher.

»Darf ich hoffen«, sagte er, »eine Erneuerung des Versprechens zu vernehmen, das eine Unterbrechung durch Ihres Vaters leidenschaftliches Benehmen erlitt?«

»Lassen Sie uns zum Tanze antreten«, erwiderte Lavinia kokettierend – denn Mädchen von neunzehn Jahren können allerdings schon kokett sein.

»Nein«, rief Theodosius Butler. »Ich gehe von den Qualen der Ungewißheit gepeinigt keinen Schritt von dieser Stelle. Darf – darf ich hoffen?«

»Ja.«

»Das Versprechen ist erneuert?«

»Es ist’s.«

»Ich habe Ihre Erlaubnis?«

»Sie haben sie.«

»In vollkommenster Ausdehnung?«

»Sie wissen es«, erwiderte Lavinia.

Lavinia tat, als ob sie errötete, und die Gesichtsverzerrungen des geistreichen Theodosius drückten seine Verzückung aus.

Mr. Theodosius und Miss Lavinia tanzten, plauderten und seufzten den ganzen Abend miteinander. Die Misses Crumpton waren entzückt darüber. Der Schreibmeister fuhr fort, mit Ein-Pferdekraft umherzuspringen, und seine Frau verließ in einer unerklärlichen Laune den Whisttisch und ließ es sich durchaus nicht nehmen, ihren grünen Kopfputz an der Stelle des Ballzimmers zu zeigen, wo er am sichtbarsten war. Das Abendessen bestand aus kleinen, dreieckigen Sandwiches auf Präsentierschüsseln, mit einer Torte hier und da zur Abwechslung; und die Gäste tranken warmes, durch Zitronensaft maskiertes und mit Muskatnuß betüpfeltes Wasser unter dem Namen Glühwein. Doch wir haben wichtigere Dinge zu berichten.

Vierzehn Tage nach dem Ball saß Cornelius Brook Dingwall, Esq., P.M., in seinem oben beschriebenen Zimmer. Er war allein, und auf seiner Stirn lagerten die Furchen tiefen Nachdenkens und feierlicher Würde. Er entwarf eine »Schrift zu besserer Heilighaltung des Ostermontags«.

Der Bediente klopfte an die Tür. Der Gesetzgeber fuhr aus seinem Nachsinnen empor, und Miss Crumpton wurde gemeldet und nach einiger Zeit vorgelassen. Sie nahm mit einem gehörigen Maße von Affektation Platz, der Bediente ging, und Miss Crumpton und das P.M. waren allein. Wie sehnlich sie eine dritte Person herbeiwünschte! Sogar das spaßhafte junge Herrlein würde ihr Herzenserleichterung verschafft haben.

Miss Crumpton hub an. Sie hoffte, daß sich Mrs. Brook Dingwall und der allerliebste kleine Knabe wohl befänden.

Es verhielt sich so. Sie weilten übrigens in Brighton.

»Ich bin Ihnen sehr verbunden, Miss Crumpton«, sagte Cornelius in seinem würdevoll-herablassendsten Tone; »sehr verbunden für Ihren Besuch. Ich würde nach Hammersmith gekommen sein, um Lavinia zu sehen, allein, Ihr Bericht war so befriedigend, und meine Obliegenheiten im Hause beschäftigten mich so sehr, daß ich beschloß, es noch eine Woche aufzuschieben. Wie ist es bisher mit ihr gegangen?«

»O, sehr gut, Sir«, erwiderte Maria, die sich fürchtete, dem Vater die Mitteilung zu machen, daß seine Tochter davongegangen sei.

»Schön. Ich wußte es wohl, daß mein wohlberechnetes Verfahren seinen Zweck nicht verfehlen konnte.«

Miss Maria Crumpton hatte hier eine Gelegenheit, sogleich anzuknüpfen und Mr. Dingwall zu sagen, daß Miss Lavinia durch die unzweifelhaft an sich richtige Rechnung einen unberechneten Strich gemacht hätte; allein, die unglückliche Miss Crumpton fühlte sich zu schwach dazu.

»Sie haben die Linie des von mir vorgeschriebenen Benehmens ohne Zweifel vollkommen eingehalten, Miss Crumpton?«

»Vollkommen, Sir!«

»Sie schrieben mir, daß meine Tochter allmählich wieder heiterer würde.«

»Sie wurde allerdings viel aufgeweckter.«

»Ich war im voraus davon überzeugt.«

»Ich fürchte nun aber, Sir«, sagte Miss Crumpton mit sichtlicher Bewegung, »ich fürchte, daß Ihr Plan nicht so wohl gelungen ist, wie zu wünschen wäre.«

»Wie!« rief der Prophet aus; »Miss Crumpton, ich erschrecke. Was ist vorgefallen?«

»Miss Brook Dingwall, Sir –«

»Nun, Ma’am –«

»Hat sich entfernt, Sir«, sagte Maria, eine starke Neigung zu einer Ohnmacht an den Tag legend.

»Hat sich entfernt!«

»Entführen lassen, Sir!«

»Entführen lassen – von wem – wann – wohin – wie?« schrie der bestürzte Diplomat fast.

Das natürliche Gesichtsgelb der unglücklichen Maria verwandelte sich in alle Farben des Regenbogens, indem sie ein kleines Paket auf Cornelius‘ Tisch legte.

Er öffnete es hastig. Ein Schreiben von seiner Tochter, und ein zweites von Theodosius. Er durchlief den Inhalt – »bevor Sie diese Zeilen erhalten, weit entfernt – Berufung auf Ihre Gefühle – unwiderstehliche Macht der Liebe – Wachs – Sklaverei«, usw. usw. Er schlug sich mit der Hand vor die Stirn und ging zur großen Beunruhigung der förmlichen Maria mit schrecklich langen Schritten auf und ab.

»Hören Sie«, sagte Mr. Brook Dingwall, plötzlich am Tische stillstehend und den Takt darauf schlagend, »von dieser Stunde an werde ich keinem Menschen, der Pamphlete schreibt, unter keinerlei Umständen wieder gestatten, ein Gemach dieses Hauses zu betreten, die Küche ausgenommen – ich gebe meiner Tochter und ihrem Mann hundertundfünfzig Pfund jährlich, und sie kommen mir nie wieder vor die Augen – und, alle Teufel! Ma’am, ich bringe einen Gesetzentwurf ein für Abschaffung der Vollendungsschulen!«

Es ist seit dieser zornigen Erklärung einige Zeit verflossen. Mr. und Mrs. Butler genießen ihre Seligkeit in einem ländlichen Häuschen in Balls-Pond, das reizend in der Nähe eines Backsteinfeldes gelegen ist. Sie haben keine Familie. Mr. Theodosius zeigt sehr wichtige Mienen und schreibt unaufhörlich; allein, infolge einer ruchlosen Verschwörung der Buchhändler wird keins der Erzeugnisse seiner Feder gedruckt. In seiner jungen Frau steigt der Gedanke auf, daß eingebildetes Elend wirklichen Leiden vorzuziehen und daß eine in Hast geschlossene und nach Muße bereute Verheiratung eine bitterere Schmerzensquelle sei, als sie es sich jemals geträumt hätte.

Nach ruhiger Überlegung sah sich Cornelius Brook Dingwall genötigt, einzuräumen, daß er das unglückliche Ergebnis seiner bewundernswürdigen Anordnungen nicht den Misses Crumpton, sondern seiner eigenen Diplomatie zuschreiben müsse. Er tröstete sich jedoch gleich anderen kleinen Diplomaten damit, daß, genau betrachtet, seine Pläne, wenn sie nicht gelungen waren, doch hätten gelingen sollen. Minerva-House befindet sich im Status quo, und die Misses Crumpton befinden sich fortwährend im friedlichen und ungestörten Genusse sämtlicher, ihrer Vollendungsschule entsprießender Vorteile.

Horatio Sparkins

»Wirklich, lieber Mann, er bewies Theresa am letzten Gesellschaftsabend große Aufmerksamkeiten«, sagte Mrs. Malderton zu ihrem Gatten, der, nach seinen Tagesmühen in der City, ein seidenes Tuch über den Kopf gedeckt, die Füße auf das Kamingitter gestellt hatte und seinen Portwein trank; »sehr große Aufmerksamkeiten; und ich wiederhole es, wir sollten ihm auf jede Weise entgegenkommen. Er muß durchaus zum Mittagessen eingeladen werden.«

»Wer muß eingeladen werden?« fragte Mr. Malderton.

»Du weißt ja, wen ich meine, liebster Malderton – der junge Mann mit dem schwarzen Backenbart und der weißen Halsbinde, der soeben in unserem Gesellschaftszirkel aufgetaucht ist und von dem alle Mädchen sprechen – der junge – wie heißt er doch? – Marianne, wie heißt er?«

Marianne war Mrs. Maldertons jüngste Tochter. Sie war beschäftigt, eine Börse zu sticken, und bemühte sich, empfindsam auszusehen. »Mr. Horatio Sparkins, Mama«, erwiderte Miss Marianne mit einem Juliaseufzer.

»Richtig – Horatio Sparkins«, sagte Mrs. Malderton; »ohne Frage der feinste und wohlerzogenste junge Mann, den ich jemals gesehen habe. Er sah am letzten Gesellschaftsabend in seinem wie angegossen sitzenden Rocke aus wie – wie –«

»Wie Prinz Leopold, Mama – so nobel, so gefühlvoll!« fiel Miss Marianne im Tone enthusiastischer Bewunderung ein.

»Du solltest bedenken, liebster Mann«, fuhr Mrs. Malderton fort, »daß Theresa achtundzwanzig Jahre alt und daß es wirklich von großer Wichtigkeit ist, daß etwas geschieht.«

Miss Theresa Malderton war eine kleine, runde Person mit hochroten Wangen, von freundlichem Wesen und noch ohne Gatten, Bewerber oder Anbeter; ein Unglück, dessen Ursache jedoch, um ihr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, keineswegs in einem Mangel an Beharrlichkeit von ihrer Seite lag. Sie hatte vergeblich zehn Jahre lang kokettiert, vergeblich hatten Mr. und Mrs. Malderton eine ausgedehnte Bekanntschaft mit jungen heiratsfähigen Männern aus Camberwell, Wandsworth und Brixton sogar sorgfältig unterhalten; die Londoner noch nicht einmal gerechnet, die sonntags vorsprachen. Miss Malderton war so bekannt wie der Löwe auf dem Giebel von Northumberland-House und hatte ungefähr ebensoviel Wahrscheinlichkeit, »wegzugehen«, wie der Tierkönig, obschon er fortwährend, gleich Miss Malderton, »auf dem Sprunge« war.

»Ich bin vollkommen überzeugt, daß er dir gefallen würde«, fuhr Mrs. Malderton fort; »er ist so weltmännisch.«

»So geistreich«, sagte Miss Marianne.

»Und spricht so vortrefflich, so fließend«, fügte Miss Theresa hinzu.

»Er hegt große Hochachtung für dich, lieber Mann«, sagte Mrs. Malderton zu ihrem Gatten in vertraulichem Tone.

Mr. Malderton hustete und sah in das Feuer.

»Ich bin überzeugt, daß er sehr viel von Papa hält«, sagte Miss Marianne.

»Ohne allen Zweifel«, bekräftigte Miss Theresa.

»In der Tat, er hat es mir selbst im Vertrauen gesagt«, bemerkte Mrs. Malderton.

»Schon gut, schon gut«, entgegnete Mr. Malderton einigermaßen geschmeichelt; »wenn ich ihn morgen im Gesellschaftszirkel sehe, lade ich ihn vielleicht zu uns ein. Ich denke, er wird wissen, daß wir auf Oak Lodge in Camberwell wohnen, meine Liebe?«

»Natürlich – und auch, daß du einen Wagen und ein Pferd hältst.«

»Nun, wir wollen sehen«, sagte Mr. Malderton, sich zu einem Schläfchen zurechtsetzend; »ich werde daran denken.«

Mr. Malderton war ein Mann, dessen Gesichtskreis auf Lloyds, die Börse, das Ostindienhaus und die Bank beschränkt war. Einige glückliche Spekulationen hatten ihn aus einem dürftigen Mann in einen wohlhabenden verwandelt. Wie es in solchen Fällen häufig zu geschehen pflegt, hatte sich mit der Zunahme der Mittel seine Meinung von seiner Person und seiner Familie sehr ungebührlich gesteigert; er suchte es den Vornehmeren und Reicheren in jeder Torheit nachzutun, strebte vornehm zu sein und legte einen entschiedenen und geziemenden Abscheu vor allem, was möglicherweise als gewöhnlich betrachtet werden konnte, an den Tag. Mr. Malderton war gastlich aus Prunksucht, engstirnig aus Unwissenheit und voll von Vorurteilen aus Dünkel und Eitelkeit. Sein vortrefflicher Tisch verschaffte ihm zahlreiche Gäste. Er sah gern gescheite Personen bei sich oder solche, die er dafür hielt, weil davon gesprochen wurde, konnte aber durchaus die »gewitzten« Leute, wie er sie nannte, nicht leiden. Er hegte diese Abneigung wahrscheinlich aus Höflichkeit gegen seine beiden Söhne, die ihrem werten Papa in dieser Beziehung keine Unruhe verursachten. Die Familie war von dem Ehrgeiz besessen, sich Bekanntschaften und Verbindungen in einem höheren gesellschaftlichen Kreise zu verschaffen als dem, in dem sie sich selbst bewegte; und eine der notwendigen Folgen dieses Hanges und ihrer damit verbundenen gänzlichen Unkenntnis der Welt außerhalb ihrer eigenen beschränkten Sphäre war die, daß jeder, der sich nur mit einigem Schein einer Bekanntschaft mit Leuten von Rang und hoher Geburt rühmen konnte, gastlicher Aufnahme in Mr. Maldertons Hause stets gewiß war.

Mr. Horatio Sparkins‘ Erscheinen in dem Gesellschaftszirkel hatte unter deren regelmäßigen Teilnehmern nicht wenig Aufsehen und Neugierde erregt. Was mochte er sein? Er war augenscheinlich zurückhaltend und, wie es schien, melancholisch. War er ein Geistlicher? Er tanzte zu gut. Ein Sachwalter? Man sah und hörte nichts von ihm in den Gerichtshöfen. Er bediente sich sehr gewählter Ausdrücke und sprach ziemlich viel. War er vielleicht ein Ausländer von Distinktion, der in der Absicht nach England gekommen war, das Land und seine Sitten und Gebräuche zu schildern, und Citybälle und öffentliche Diners besuchte, um sich mit dem Leben und Treiben der großen Welt und englischer verfeinerter Sitte und Bildung bekannt zu machen? Aber man bemerkte bei ihm durchaus keine fremde Betonung. War er Wundarzt, Künstler, schrieb er Moderomane oder für die belletristischen Zeitblätter? Nein. Dem allen stand irgendeine gewichtige Einwendung entgegen. Jedermann sagte: »Er muß aber doch etwas sein.« Auch Mr. Malderton schloß sich dieser Meinung an, »denn«, sprach er bei sich selbst, »er fühlt unsere Überlegenheit und erweist uns so große Aufmerksamkeit.«

Der Abend nach der erwähnten Familienunterredung war ein »Gesellschaftsabend«. Das Vorfahren des Wagens ward auf präzis neun Uhr bestellt. Die Misses Malderton legten himmelblaue, mit künstlichen Blumen besetzte Atlaskleider an, und Mrs. Malderton – eine kleine, runde Frau – war ebenso angezogen und sah aus wie ihre älteste Tochter mit zwei multipliziert. Mr. Frederick Malderton, der älteste Sohn, war in seinem eleganten Ballanzug das wahrhafte Ideal eines fixen, geschniegelten Kellners, und Mr. Thomas Malderton, der jüngste Sohn, glich in seiner weißen Halsbinde, seinem blauen Rock mit glänzenden Knöpfen und seinem roten Uhrband auf das Haar dem Bildnis jenes interessanten, obgleich ein wenig unbesonnenen jungen Herrn George Barnwell. Sämtliche Familienglieder hatten sich darauf vorbereitet, Mr. Horatio Sparkins‘ Bekanntschaft zu pflegen. Miss Theresa war natürlich so liebenswürdig und interessant, wie Damen von achtundzwanzig auf der Mannsschau zu sein pflegen, und Mrs. Malderton schien lauter Lächeln und Freundlichkeit zu sein. Miss Marianne wollte sich ein paar Verse in ihr Stammbuch erbitten, Mr. Malderton den großen Unbekannten durch eine Einladung zum Mittagessen protegieren, und Tom hatte sich’s ausgesonnen, ihn in betreff seiner Schnupftabak- und Zigarrenkenntnis auszuholen. Sogar Mr. Frederick Malderton – er, das Familienorakel in allem, was Geschmack, Kleidung und elegante Arrangements betraf – er, der seine eigene Wohnung im Westend und freien Zutritt im Covent-Garden-Theater hatte, stets nach der Mode des Monats gekleidet war, dieselben Partien machte, die von der vornehmen Welt gemacht wurden, und sich eines vertrauten Freundes rühmte, der einst mit einem Gentleman bekannt war, der vormals in Albany wohnte – selbst er hatte beschlossen, daß Mr. Horatio Sparkins ein verflucht guter Patron sei und daß er ihm die Ehre erweisen wolle, ihn zu einer Partie Billard aufzufordern.

Der erste, die sehnsüchtigen Blicke der hoffenden Familie bei ihrem Eintritte in den Ballsaal treffende Gegenstand, war der interessante Horatio. Er lehnte mit aus der Stirn gestrichenem Haar und die Augen empor an die Decke geheftet an einem Pfeiler.

»Da ist er«, flüsterte Mrs. Malderton sehr erregt ihrem Gatten zu.

»Wie ähnlich Lord Byron«, murmelte Theresa.

»Oder Montgomery«, flüsterte Miss Marianne.

»Oder den Porträts des Kapitän Roß!« fiel Tom ein.

»Tom – sei kein Esel«, sagte sein Vater, der Tom bei jeder Gelegenheit zum Schweigen verwies, wahrscheinlich um zu verhindern, daß er »gewitzt« würde, was sehr unwahrscheinlich war.

Der elegante Sparkins posierte mit bedeutendem Effekt, bis die Familie Malderton in seine Nähe kam, fuhr sodann mit höchst natürlich nachgemachter freudiger Überraschung empor, redete Mrs. Malderton mit der größten Herzlichkeit an, begrüßte die jungen Damen auf die bezauberndste Weise, verbeugte sich auf das ehrerbietigste vor Mr. Malderton und erwiderte die Begrüßung der beiden jungen Herren mit halb erfreuter und halb herablassender Gönnermiene, was ihre Überzeugung zu vollkommener Gewißheit erhob, daß er ein bedeutender und zugleich ein verbindlich-liebenswürdiger Mann sei.

»Miss Malderton«, sagte Horatio nach den gewöhnlichen Begrüßungen und verbeugte sich dabei sehr tief, »vergönnen Sie mir, die Hoffnung hegen zu dürfen, daß Sie mir gestatten werden, das Vergnügen zu haben –«

»Ich glaube nicht, daß ich schon engagiert bin«, sagte Miss Theresa, schreckliche Gleichgültigkeit mimend – »aber wirklich – so viele –«

Horatio sah so allerliebst unglücklich aus wie ein auf einem Stückchen Apfelsinenschale ausgleitender Hamlet.

»Es wird mir das größte Vergnügen gewähren«, säuselte die interessante Theresa endlich, und Horatios Antlitz begann wieder zu glänzen wie ein alter Hut in einem Regenschauer.

»Es ist wahr, ein sehr feiner junger Mann«, bemerkte Mr. Malderton sehr befriedigt, als Horatio seine Partnerin zum Tanz entführte.

»Sein Takt ist ganz ausgezeichnet«, fiel Mr. Frederick ein.

»Wahrhaftig, er ist ein Hauptkerl«, sagte Tom, der es sich nie versagen konnte, mit einzureden; »er spricht ganz wie ein Auktionator.«

»Tom!« sagte sein Vater feierlich, »ich meinte dir schon gesagt zu haben, daß du kein Gimpel sein sollst.«

Tom sah so vergnügt aus wie ein Hahn an einem regnerischen Morgen.

»Wie entzückend!« sagte der interessante Horatio zu seiner Tänzerin, als er mit ihr nach Beendigung der Quadrille im Saale auf und ab ging – »wie entzückend, wie erquickend ist es, sich von den Gewitterstürmen, den Wirren und Unruhen des Lebens, und wär‘ es auch nur für kurze flüchtige Augenblicke, zurückzuziehen; und diese Momente, so kurz sie sein und so schnell sie dahinschwinden mögen, in der süßen, seligen Nähe einer Dame hinzubringen, deren Zürnen der Tod, deren Falschheit Verderben, deren Treue Seligkeit sein und deren Kälte in Wahnsinn stürzen würde – deren Zuneigung als der glänzendste und schönste Lohn erscheint, mit dem der Himmel einen Mann beglücken könnte.«

»Wie gefühlvoll, wie poetisch!« dachte Miss Theresa und lehnte sich stärker auf ihres Führers Arm.

»Doch genug – genug«, fuhr der elegante Sparkins mit theatralischer Betonung fort. »Was hab‘ ich gesagt? Was hab‘ ich – hab‘ ich – mit Gefühlen dieser Art zu schaffen? Miss Malderton – darf ich hoffen, daß Sie es mir erlauben, Ihnen das sehr geringe Anerbieten –«

»Wirklich, Mr. Sparkins«, unterbrach ihn Theresa innerlich jubelnd und süß und verwirrt errötend, »ich muß Sie an meinen Vater verweisen. Ohne seine Einwilligung darf ich es schlechterdings nicht wagen, zu – zu –«

»Er wird sicher nichts dagegen haben –«

»Ach, Sie – Sie kennen ihn nicht«, fiel Miss Theresa ein, sehr wohl wissend, daß nichts zu fürchten war; allein, sie wünschte, eine Romanszene herbeizuführen.

»Er kann in der Tat nichts dagegen haben, daß ich Ihnen ein Glas Glühwein anbiete«, fuhr der anbetungswürdige Sparkins ein wenig überrascht fort.

»Ist das alles?« sprach die getäuschte Theresa bei sich selbst. »Wieviel Lärm um nichts!« –

»Es wird mir das größte Vergnügen gewähren, Sir, Sie am nächsten Sonntag um fünf Uhr in Oak Lodge zum Mittagessen bei mir zu sehen, sofern Sie nichts Besseres vorhaben«, sagte Mr. Malderton, als er und seine Söhne nach Beendigung des Balls, mit Mr. Horatio Sparkins plauderten.

Horatio verbeugte sich verbindlich und nahm die schmeichelhafte Einladung an.

»Ich muß gestehen«, fuhr der manövrierende Vater, seinem neuen Bekannten die Dose bietend, fort, »daß ich diese Gesellschaft nicht so sehr liebe wie den Komfort – ich hätte bald gesagt, den Luxus von Oak Lodge; sie haben keine großen Reize für ältere Leute.«

»Und am Ende, Sir, was sind Leute, was sind Menschen?« sagte der metaphysische Sparkins – »wie gesagt, was ist der Mensch?«

»Sehr wahr«, bemerkte Mr. Malderton, »sehr wahr.«

»Wir wissen, daß wir leben und atmen«, fahr Horatio fort; »daß wir Bedürfnisse und Wünsche, Neigungen und –«

»Ohne allen Zweifel«, unterbrach Mr. Frederick Malderton mit äußerst weiser Miene.

»Ich wollte sagen, wir wissen, daß wir existieren«, wiederholte Horatio mit erhobener Stimme; »doch hier sind wir ans Ende unseres Wissens, auf dem Gipfel unserer Forschungen, am Ziele unserer Bestrebungen angelangt. Was wüßten wir weiter?«

»Nichts«, entgegnete Mr. Frederick, und in der Tat konnte niemand mit größerem Rechte eine solche Antwort geben als er. Tom wollte gleichfalls etwas sagen, bemerkte jedoch zum Glück für den Ruf seiner Weisheit des Vaters zornige Seitenblicke and schlich sich davon wie ein auf einer kleinen Dieberei ertappter junger Hund.

»Auf mein Wort«, sagte Malderton der Vater, als die Familie im Wagen nach Hause fuhr, »der Sparkins ist ein wundervoller junger Mann. Was für erstaunliche Kenntnisse! Welch eine stupende Gelehrsamkeit! Und welch eine glänzende Redegabe!«

»Ich glaube fest, daß eine bedeutende Person unter seiner Maske steckt«, bemerkte Miss Marianne. »Wie bezaubernd romantisch!«

»Er spricht sehr laut und sehr artig«, fiel Tom schüchtern ein; »allein, ich verstehe eigentlich nicht, was er sagt.«

»Ich fange fast an zu verzweifeln, daß du jemals irgend etwas verstehen wirst, Tom«, sagte sein Vater, der natürlich durch Mr. Horatio Sparkins‘ Unterhaltung sehr erleuchtet war.

»Es ist ganz offenbar, Tom«, sagte Miss Theresa, »daß du dich heute abend entsetzlich lächerlich gemacht hast.«

Die ganze Familie bestätigte Theresas Ausspruch, und der unglückliche Tom drückte sich möglichst tief in seine Wagenecke. Mr. und Mrs. Malderton besprachen noch lange ihrer Tochter Aussichten und die demnächst zu treffenden Einrichtungen. Miss Theresa begab sich zu Bett, erwägend, ob es sich, falls sie einen Titel erheiratete, für sie schicken würde, die Besuche ihrer jetzigen Freundinnen anzunehmen, und träumte die ganze Nacht von verkleideten Grafen, prachtvollen Gesellschaften, Straußfedern, Brautkränzen und Horatio Sparkins.

Am Sonntagmorgen ward vielfach darüber hin und her gesprochen, auf welche Weise der sehnsüchtig erwartete Horatio mutmaßlich erscheinen würde. Hielt er ein Gig – sollte er vielleicht zu Pferd kommen – oder einem Stellwagen seine Gönnerschaft zuwenden? Diese und andere Fragen von gleicher Wichtigkeit beschäftigten Mrs. Malderton und ihre Töchter den ganzen Vormittag.

»Ich muß doch in der Tat sagen«, bemerkte Mr. Malderton zu seiner Gattin, »es ist höchst verdrießlich, daß dein Bruder sich gerade heute bei uns zu Gast gebeten hat. Er hat gar zu gewöhnliche Manieren. Ich habe, da Mr. Sparkins kommt, absichtlich niemand außer Flamwell eingeladen. Und nun dein Bruder – ein Gewürzkrämer – es ist unerträglich. Ich würde lieber tausend Pfund verlieren, als ihn in Gegenwart unseres neuen Bekannten seines Ladens erwähnen hören. Es würde mich nicht stören, daß er hier ist, wenn er nur so gescheit wäre, es nicht merken zu lassen, welch ein Schandfleck er für die Familie ist; aber er ist so verwünscht verliebt in sein schauderhaftes Geschäft, daß er jedermann offenbaren wird, wer und was er ist.«

Mr. Jakob Barton, der Bruder und Schwager, von dem Mr. Malderton sprach, war ein wohlhabender Gewürzkrämer, und so gewöhnlich denkend, so ganz entblößt von feinem Gefühl, daß er nie und nirgend Bedenken trug, zu bekennen, daß er sich nicht »zu vornehm für sein Geschäft« hielt. »Ich mache mir mein Geld damit«, pflegte er zu sagen, »und meinetwegen mag’s die ganze Welt wissen.«

»Ah, mein wertester Flamwell, wie geht’s?« rief Mr. Malderton einem eintretenden kleinen Mann mit grüner Brille entgegen. »Sie erhielten mein Billett?«

»Allerdings, und stellte mich mit Ihrer Erlaubnis ein.«

»Kennen Sie nicht einen Mr. Sparkins wenigstens dem Namen nach? Sie kennen ja alle Welt?«

Mr. Flamwell gehörte zu den Leuten mit unglaublich ausgebreiteter Bekanntschaft, die jedermann zu kennen vorgeben, und natürlich niemand kennen. In Maldertons Haus, wo mit begierigen Blicken alles verschlungen wurde, was vornehme Personen betraf, war er ebenso beliebt wie geehrt, und da er sehr gut wußte, mit was für Leuten er es zu tun hatte, ließ er seiner Leidenschaft, mit jedermann bekannt sein zu wollen, alle Zügel schießen. Er hatte eine besondere Manier, seine größten Lügen beiläufig und mit der Miene der Selbstverleugnung einzuflechten oder hinzuwerfen, als ob er fürchtete, für anmaßend gehalten zu werden.

»Hm, nein, ich kenne ihn unter dem Namen nicht«, erwiderte er mit leiser Stimme und unermeßlich wichtiger Miene. »Indes zweifle ich nicht im mindesten, daß ich ihn kenne. Ist er groß?«

»Von Mittelgröße«, sagte Miss Theresa.

»Er hat schwarzes Haar?« fuhr Flamwell, eine dreiste Behauptung wagend, fort.

»Ja, ja«, erwiderte Theresa eifrig.

»Ein wenig von einer Stumpfnase?«

»Nein, o nein«, sagte Theresa verblüfft; »er hat eine römische Nase.«

»Ganz recht, eine römische Nase – das wollte ich eben sagen. Er ist ein feiner junger Mann?«

»Freilich.«

»Hat äußerst einnehmende Manieren?«

»Ja freilich«, sagte die ganze Familie aus einem Munde. »Sie kennen ihn unfehlbar.«

»Ich dachte mir’s wohl, daß Sie ihn kennen würden, wenn er ein irgendwie bedeutender junger Mann ist«, rief Mr. Malderton triumphierend aus. »Was meinen Sie, wer er ist?«

»Ihrer Schilderung nach«, sagte Flamwell sinnend und ließ die Stimme fast bis zum Geflüster sinken, »hat er eine starke Ähnlichkeit mit dem hochachtbaren Augustus Fitz-Edward Fitz-John Fitz-Osborne. Er ist ein äußerst begabter junger Mann und ein wenig exzentrisch. Es ist sehr wahrscheinlich, daß er zu irgendeinem Zweck für den Augenblick einen anderen Namen angenommen hat.«

Wie hoch Theresa das Herz schwoll! Sollte er wirklich der hochachtbare Augustus Fitz-Edward Fitz-John Fitz-Osborne sein? Welch ein Name auf eleganten Verlobungskarten! »Der hochachtbare Augustus Fitz-Edward Fitz-John Fitz-Osborne!« Der Gedanke war Entzücken und Seligkeit.

»’s ist in fünf Minuten fünf Uhr«, sagte Mr. Malderton, auf seine Uhr sehend; »ich will hoffen, daß er uns nicht vergebens auf sich warten läßt.«

»Da ist er!« rief Miss Theresa aus, denn es ertönten mächtige Doppelschläge an der Haustür. Alle bemühten sich – wie es häufig zu geschehen pflegt, wenn ein Besucher begierig erwartet wird – auszusehen, als wenn sie an niemands Eintreten gedacht hätten.

Die Tür wurde geöffnet. »Mr. Barton!« rief der Bediente.

»Der verwünschte Krämer«, murmelte Mr. Malderton. »Ah, mein werter Herr, wie befinden Sie sich? Nichts Neues?«

»Nein, nichts Besonderes«, antwortete Barton mit seiner gewöhnlichen biederen Zutraulichkeit; »nichts Besonderes, daß ich wüßte. Was macht ihr, Mädels und Burschen? – Freue mich, Sie hier zu sehen, Mr. Flamwell.«

»Da kommt Mr. Sparkins, und auf was für ’nem prächtigen Rappen!« sagte Tom, der durch das Fenster geschaut hatte.

In der Tat sprengte Horatio auf einem Rappen daher, den er gleich dem ersten Kunstreiter kurbettieren ließ. Er stieg ab und übergab sein Roß dem Stallbedienten, trat ein und wurde Flamwell und Barton sowie diese ihm vorgestellt. Flamwell musterte ihn durch seine Brille mit geheimnisvoll-wichtiger Miene, und Horatio warf Theresa, die sich anstrengte, ausnehmend schmachtend auszusehen, unaussprechliche Dinge verkündende Blicke zu.

»Ist’s der hochachtbare Augustus – wie nannten Sie ihn doch?« flüsterte Mrs. Malderton Flamwell zu, der sie nach dem Speisezimmer führte.

»Hm – nein – zum wenigsten nicht so ganz eigentlich«, erwiderte das große Orakel, »nicht so ganz eigentlich.«

»Aber wer ist er denn?«

»Pst!« sagte Flamwell mit bedeutsamem Kopfnicken, um anzudeuten, daß er es sehr gut wisse, allein durch wichtige Gründe bewogen würde, das wichtige Geheimnis nicht verlauten zu lassen. Der Unbekannte war vielleicht ein Mitglied des Ministeriums, das sich inkognito mit der Volksstimmung bekannt machen wollte.

»Mr. Sparkins«, sagte die glückliche Mrs. Malderton, »darf ich bitten, daß Sie die Damen trennen? John, setzen Sie einen Stuhl für den Herrn zwischen Miss Theresa und Miss Marianne.«

John versah gewöhnlich die Dienste des Stallknechts und Gärtners, war aber an diesem Tage, da es galt, Mr. Sparkins eine große Vorstellung von den Maldertons beizubringen, in Schuhe und ein weißes Halstuch gesteckt und sonst nach Kräften aufgestutzt worden, um wie ein zweiter Bedienter auszusehen. Das Diner war ausgesucht, Horatio erwies Theresa alle möglichen Aufmerksamkeiten, und alle waren äußerst vergnügt mit Ausnahme Mr. Maldertons, der seinen Schwager zu gut kannte, um nicht in fortwährender Angst zu schweben.

»Haben Sie Ihren Freund, Sir Thomas Noland, kürzlich gesehen, Flamwell?« fragte er, Horiatio von der Seite anblickend, um zu sehen, was für Effekt die Erwähnung eines so bedeutenden Mannes bei ihm machte.

»Hm, nein – ganz kürzlich nicht; vorgestern sah ich aber Lord Gubbleton.«

»Ich hoffe, Seine Lordschaft befindet sich wohl«, fuhr Malderton im Ton der lebhaftesten Teilnahme fort, und kaum wird es nötig sein, zu sagen, daß er bis zu diesem Augenblick hinsichtlich seiner Kenntnis vom Dasein des edeln Lords im Stande der vollkommensten Unschuld gelebt hatte.

»O ja; der Lord befand sich sehr wohl – in der Tat sehr wohl. Er ist ein sehr lieber Mann. Ich begegnete ihm in der City und plauderte lange mit ihm. Wir sind sehr vertraut miteinander. Ich konnte mich indes nicht so lange bei ihm aufhalten, wie ich’s gewünscht hätte, weil ich gerade auf dem Wege zu einem Bankier war, einem sehr reichen Mann und Parlamentsmitglied, mit dem ich gleichfalls, wie ich wohl sagen kann, auf dem vertrautesten Fuß stehe.«

»Ah, ich weiß, wen Sie meinen«, sagte Malderton, der genausoviel wußte wie Flamwell selbst.

»Er macht sehr ausgedehnte Geschäfte.«

Hiermit war ein sehr gefährlicher Gegenstand berührt.

»Da von Geschäften die Rede ist«, nahm Barton, der mitten am Tische saß, das Wort, »fällt mir ein, Malderton, daß vor einigen Tagen ein Herr, den Sie sehr genau gekannt haben, ehe Sie Ihre erste glückliche Spekulation machten, in meinen Laden kam, und –«

»Barton, darf ich Sie um die Kartoffeln bitten«, unterbrach ihn der unglückliche Gastgeber, in der Hoffnung, die Geschichte im Keime zu ersticken.

»Mit Vergnügen«, entgegnete der Gewürzkrämer, ohne seines Schwagers Absicht nur von fern zu ahnen – »und fragte sehr freundschaftlich –«

Malderton unterbrach ihn zum zweiten Male durch ein ähnliches Anliegen. Er fürchtete den Schluß der Erzählung und vor allen Dingen die Wiederholung des Wörtchens »Laden«.

»Und fragte also, wie gesagt, sehr freundschaftlich«, fuhr der unerschütterliche Barton fort, »wie geht es mit Ihrem Geschäft? Ich antwortete scherzend: Sie kennen meine Weise – ich halte mich nicht zu vornehm für mein Geschäft und hoffe, es wird auch mich nicht vornehm im Stich lassen. Ha, ha, ha!«

»Mr. Sparkins«, sagte Malderton, der vergeblich seinen Verdruß zu verbergen suchte, »ein Glas Wein?«

»Mit dem größten Vergnügen, Sir.«

»Freue mich, Sie bei uns zu sehen.«

»Danke ergebenst.«

»Wir sprachen vor ein paar Tagen«, fuhr der Wirt zu Horatio fort, um sowohl seinem neuen Bekannten Gelegenheit zu verschaffen, seine Unterhaltungsgabe zu zeigen, als auch in der Hoffnung, den Krämer zu hindern, mit seinen Geschichten zum Vorschein zu kommen – »wir sprachen vor ein paar Tagen über die menschliche Natur. Ihre Ansichten erschienen mir ebenso neu wie wahr.«

»Mir auch«, fiel Mr. Frederick ein, und Horatio antwortete durch eine graziöse Kopfneigung.

»Was ist denn Ihre Meinung über die Frauen, Mr. Sparkins?« nahm Mr. Malderton das Wort.

Die jungen Damen lächelten und sahen verschämt vor sich nieder.

»Der Mann«, erwiderte Horatio, »der Mann, sei es, daß er die holden, seligen, blumigen Fluren eines zweiten Eden, oder die öde, unfruchtbare, und wenn ich so sagen darf, alltäglich-gemeine Steppe bewohnt, an die wir uns in Zeiten wie die unsrigen gewöhnen müssen: ich sage, der Mann – und zwar unter allen Umständen und an jedem Orte – mühselig sein Dasein fristend zwischen den Eisfeldern der kalten Zone oder keuchend unter den senkrechten Strahlen der glühenden Äquatorsonne – der Mann würde, ohne die Frauen – allein sein.«

»Es freut mich ausnehmend, Mr. Sparkins«, bemerkte Mrs. Malderton, »zu sehen, daß Sie so ehrenhafte Meinungen hegen.«

»Mich gleichfalls«, fügte Miss Theresa hinzu.

Horatio warf ihr einen dankbar-seligen Blick zu, und die junge Dame wurde so rot wie eine vollkommen aufgeblühte Päonie.

»Meine Meinung ist«, hub Barton an –

»Ich weiß, was Sie sagen wollen«, unterbrach ihn Malderton, entschlossen, seinen Schwager nicht wieder zu Wort kommen zu lassen, »und bin Ihrer Meinung keineswegs.«

»Wieso?« fragte Barton verwundert.

»Tut mir leid, anderer Meinung sein zu müssen«, erwiderte Malderton so bestimmt, als wenn er wirklich einer ausgesprochenen Behauptung Bartons entgegentrete; »kann aber in der Tat eine Ansicht nicht billigen, die mir als durchaus verkehrt erscheint.«

»Ich wollte aber nur sagen –«

»Sie werden mich nie überzeugen«, unterbrach ihn Malderton im Tone der hartnäckigsten Bestimmtheit; »nie!«

»Und ich«, fiel Mr. Frederick ein, dem Vater zum Angriffe nachfolgend, »ich kann Mr. Sparkins‘ Meinung durchaus nicht teilen.«

»Wie!« rief Horatio aus, der in demselben Maße metaphysischer und redseliger wurde, als er gewahrte, daß ihm die Damen mit bewunderndem Entzücken zuhörten; »wie! ist die Wirkung die Folge der Ursache? Ist die Ursache die Vorläuferin der Folge?«

»Das eben ist die Frage«, fiel Flamwell beistimmend ein.

»Allerdings«, sagte Mr. Malderton.

»Ist nun die Wirkung der Ursache Folge und geht die Ursache der Wirkung vorher, so möchten Sie entschieden unrecht haben«, fuhr Horatio fort.

»Offenbar unrecht«, bekräftigte Flamwell.

»Ich darf zum wenigsten hoffen, meine Behauptung logisch begründet zu haben?« sagte Sparkins in fragendem Ton.

»Ohne allen Zweifel«, stimmte Flamwell abermals bei. »Sie haben sie ganz außer Frage gestellt.«

»Mag sein«, sagte Mr. Frederick; »es wollte mir nur nicht sogleich einleuchten.«

Und mir leuchtet es auch jetzt noch nicht ein, dachte der Gewürzkrämer.

»Wie wundervoll gescheit er ist!« flüsterte Mrs. Malderton ihren Töchtern zu, als sie sich mit ihnen zurückzog.

»Oh, er ist ein ganz prächtiger Mensch!« sagten die beiden jungen Damen. »Er muß reiche Lebenserfahrungen gemacht haben.«

Als die Herren sich selbst überlassen waren, trat eine Pause ein, während der alle sehr nachdenklich aussahen, als wenn sie durch Horatios Gedankentiefe ganz überwältigt wären. Flamwell, der auszuforschen beschlossen hatte, wer und was Mr. Sparkins eigentlich war, brach zuerst das Stillschweigen.

»Bitte um Vergebung, Sir«, hub er an, »haben Sie nicht die Rechte studiert? Es war einst auch meine Absicht, und ich bin noch jetzt mit mehreren der höchsten Zierden der englischen Anwaltschaft genau bekannt.«

»Nein!« erwiderte Horatio ein wenig zögernd, »so eigentlich nicht.«

»Allein, ich müßte doch sehr irren, wenn Sie nicht vielen Umgang mit Rechtsgelehrten gehabt hätten?«

»Allerdings; fortwährend seit meinen ersten Jünglingsjahren.

Flamwell meinte, jetzt vollkommen genau zu wissen, was er wissen wollte. Sparkins war ein junger angehender Sachwalter.

»Ich möchte nicht Sachwalter sein«, sagte Tom, der jetzt zum ersten Male den Mund öffnete und umherschaute, um jemand zu finden, der seine Bemerkung beachtete, was indes von niemand geschah.

»Ich möchte keine Perücke tragen«, wagte Tom hinzuzusetzen.

»Tom, ich bitte dich, mach dich nicht lächerlich«, nahm sein Vater das Wort. »Höre zu, unterrichte dich durch das, was du hörst, und mach nicht fortwährend so abgeschmackte Bemerkungen.«

»Ja, ja, Vater«, versetzte der unglückliche Tom, der, seit er seine Mutter um ein Viertel nach fünf – und es war jetzt acht Uhr – um ein Stück Rindfleisch gebeten, kein Wort gesprochen hatte.

»Laß gut sein, Tom«, sagte sein gutmütiger Onkel, »ich denke wie du; möchte auch keine Perücke tragen, binde lieber ’ne Schürze vor.«

Mr. Malderton hustete stark genug, allein Barton fuhr fort:

»Denn wenn sich jemand zu vornehm für sein Geschäft dünkt –«

Der Husten kehrte mit zehnfacher Heftigkeit zurück und hörte nicht eher wieder auf, als bis der Unheilstifter, der Schuld daran war, vollkommen vergessen hatte, was er sagen wollte.

»Mr. Sparkins«, begann Flamwell, seinen Entdeckungsversuch wieder aufnehmend, »kennen Sie vielleicht Mr. Delafontaine von Bedford-Square?«

»Er hat mir und ich habe ihm eine Karte geschickt, und ich hatte seitdem Gelegenheit, ihm einen nicht unbeträchtlichen Dienst zu leisten«, erwiderte Horatio, sich ein wenig verfärbend – ohne Zweifel, weil er sich hatte verleiten lassen, so etwas auszuschwatzen.

»Sie sind sehr glücklich zu schätzen, wenn Sie Gelegenheit gehabt haben, sich diesen angesehenen Mann zu verpflichten«, bemerkte Flamwell mit einer Miene tiefer Ehrerbietung.

»Ich weiß in der Tat nicht, wer er ist«, flüsterte Flamwell dem Gastgeber vertraulich zu, als sie Horatio in das Damenzimmer folgten; »indes ist es ganz ausgemacht, daß er dem Stande der Rechtsgelehrten angehört, ein Mann von Bedeutung ist, vornehme Verbindungen hat.«

»Ohne Zweifel, ohne allen Zweifel«, versetzte Mr. Malderton.

Der Abend verging äußerst angenehm. Barton schlief ein, Malderton sah sich dadurch von seinen Ängsten befreit und war deshalb so gesprächig und liebenswürdig wie möglich. Miss Theresa spielte ein Modestück, wie Mr. Sparkins erklärte, »vollkommen meisterhaft«, und beide sangen mit Frederick Terzetts ohne Zahl, nachdem sie die erfreuliche Entdeckung gemacht, daß ihre Stimmen auf das schönste harmonierten. Freilich sangen alle drei die erste Stimme und Horatio hatte nicht nur das kleine Unglück, kein musikalisches Gehör zu haben, sondern kannte auch nicht eine einzige Note; allein die Zeit verging dessenungeachtet unendlich angenehm, und es war zwölf Uhr geworden, als Mr. Sparkins sein Trauerpferd vorführen ließ. Er hatte jedoch zuvor heilig versprechen müssen, seinen Besuch am folgenden Sonntag zu wiederholen.

»Vielleicht nimmt aber Mr. Sparkins morgen abend an unserer Partie teil?« sagte die Frau vom Hause. »Malderton denkt, die Mädchen ins Theater zu führen.«

Mr. Sparkins verbeugte sich und versprach, während der Vorstellung in Loge Nr. 48 zu erscheinen.

»Wir wollen Ihnen den Vormittag nicht rauben«, sagte Theresa in bezauberndem Tone; »denn Mutter gedenkt, die Putzlädenrunde mit uns zu machen, und ich weiß, daß die Herren nur zu oft einen wahren Abscheu davor hegen.«

Mr. Sparkins verbeugte sich abermals und versicherte, daß er entzückt gewesen wäre, wenn er daran hätte teilnehmen können, doch während des Vormittags von wichtigen Geschäften in Anspruch genommen würde. Flamwell warf Malderton bedeutsame Blicke zu. »’s ist die Zeit der Gerichtssitzungen«, flüsterte er.

Am folgenden Vormittag um zwölf Uhr stand der Wagen vor Mr. Maldertons Haustür bereit, die Mutter und die Töchter aufzunehmen. Sie beabsichtigten, bei einer Freundin zu Mittag zu essen und sich zum Theater anzukleiden, zuvor aber zahllose Läden zu besuchen und mannigfache Einkäufe zu machen. Die jungen Damen vertrieben sich die Langeweile der Fahrt damit, daß sie Mr. Horatio Sparkins priesen und auf ihre Frau Mama schalten, daß diese sie immer weiter und weiter fahren ließ, um ein paar Schillinge zu sparen. Endlich hielt das Fuhrwerk vor einem sehr kläglich aussehenden Laden, in dessen Fenster ein buntes Gemisch von Handelsartikeln ausgestellt war – Saffianschuhe, Schals, Sonnenschirme und Hunderte andere.

»Oh, Himmel, Mama, wohin bringen Sie uns!« sagte Miss Theresa; »was würde Mr. Sparkins sagen, wenn er uns hier sähe!«

»Oh, um alles in der Welt!« rief Miss Marianne schaudernd aus.

»Bitte, nehmen Sie Platz, meine Damen. Was befehlen Sie?« fragte der dienstbeflissene Ladenbesitzer, der, in seinem mächtigen weißen Halstuch mit steifer Schleife, dem schlechten »Porträt eines Gentleman« in der Kunstausstellung glich.

»Ich wünsche, seidene Stoffe zu sehen«, erwiderte Mrs. Malderton.

»Augenblicklich, Ma’am – Mr. Smith! Wo ist Mr. Smith?«

»Hier, Sir«, ertönte eine Stimme aus dem Kontor hinter dem Laden.

»Geschwind, Mr. Smith«, rief ihm sein Prinzipal zu. »Sie sind doch niemals am Platz, wenn man Ihrer bedarf.«

Mr. Smith gehorchte der Aufforderung, sprang mit großer Behendigkeit über einen Warenballen, der ihm im Wege lag, und stand wie ein Deus ex machina hinter dem Ladentisch dicht vor den kauflustigen Damen. Mrs. Malderton stieß einen ohnmächtigen Schrei aus; Miss Theresa, die sich zur Seite gewendet hatte, um mit ihrer Schwester zu flüstern, blickte auf und erschaute – Horatio Sparkins!

»Wir wollen einen Schleier über die jetzt folgende Szene ziehen«, wie die Romanschreiber sagen. Der geheimnisvolle philosophische, romantische, metaphysische Sparkins – er, der der interessanten Theresa als das verkörperte Ideal der jungen Herzöge und poetischen Grafen erschienen war, von dem sie geträumt und gelesen, das zu schauen sie aber kaum gehofft hatte – war plötzlich verwandelt in Mr. Samuel Smith, den Ladendiener bei einem Kramhändler sehr untergeordneter Klasse! Das würdevolle Verschwinden des Helden von Oak Lodge bei dieser unerwarteten Enthüllung war nur der Flucht eines diebischen Hundes zu vergleichen, dem ein ansehnlicher Stein nachgeworfen wird. Die süßen Hoffnungen der Familie Malderton sollten in nichts zerfließen wie das Zitroneneis bei einem Sommerdiner; Almacks stand ihnen fortwährend so fern wie der Nordpol. Und Miss Theresas Aussichten, einen Mann zu bekommen, waren ungefähr so wahrscheinlich wie die Entdeckung einer nordwestlichen Durchfahrt durch Kapitän Roß.

Jahre sind seit jenem schrecklichen Morgen verflossen. Die Gänseblümchen haben dreimal auf dem Anger von Camberwell geblüht – die Sperlinge haben dreimal ihr Frühlingsgezirp im Hain von Camberwell wiederholt – aber noch immer sind die Misses Malderton unvermählt. Miss Theresas Fall ist verzweifelter denn je, allein Flamwell steht im Zenit seines Ansehens, und die Familie hegt immer noch dieselbe Vorliebe für aristokratische Bekanntschaften und eine verstärkte Abneigung gegen alles Gewöhnliche.

Mrs. Joseph Porter

Umfassend und großartig waren die Vorkehrungen in der von Mr. Gattleton, dem sehr wohlhabenden Börsenmakler, bewohnten Villa Rose Clapham Rise, und groß war die gespannte Erwartung der interessanten Familie Mr. Gattletons, als der Tag herannahte, der für die »seit vielen Monaten vorbereiteten« Darstellungen auf dem Liebhabertheater bestimmt war. Die ganze Familie war von der Schauspielmanie besessen. Das sonst immer so saubere und ordentliche Haus war nach Mr. Gattletons markantem Ausdruck »wie aus den Fenstern hinausgeworfen«: Das große Speisezimmer bot, von allen Möbeln und allem Schmuck entblößt, den Anblick einer Rumpelkammer dar, denn es war gefüllt mit allen Kulissenarten, Lampen, Brücken, Wolken, Donner und Blitz, Girlanden und Blumen, Dolchen und Haudegen, und in einem Wort – mit alledem, was man unter dem Ausdruck Theaterutensilien begreift. Die Schlafzimmer waren voll von Prospekten und die Küche voll von Dekorationsarbeitern. Einen Abend um den andern fanden Proben im Besuchszimmer statt, und alle Sofas im Hause waren mehr oder minder durch die Beharrlichkeit und Energie beschädigt, womit Mr. Sempronius Gattleton und Miss Lucina die Erstickungsszene in Othello probierten – denn diese Tragödie sollte als erstes Stück aufgeführt werden.

»Wenn wir noch ein klein wenig mehr eingeübt sind, denk‘ ich, soll es ganz vortrefflich gehen«, sagte Mr. Sempronius zu den übrigen »Mitwirkenden« nach dem Schlusse der hundertundfünfzigsten Probe. Mr. Sempronius war in Erwägung der geringfügigen Unbequemlichkeit, daß er sämtliche Kosten trug, auf die artigste Weise einstimmig zum Direktor erwählt worden.

»Evans«, fuhr er fort, einen langen, schmächtigen, blassen jungen Herrn mit ausgezogenem Knebelbart anredend; »Evans, auf mein Wort, Sie spielen den Roderigo herrlich.«

»Herrlich!« wiederholten die drei Misses Gattleton.

Sämtliche Freundinnen Mr. Evans‘ erklärten ihn für »einen gar zu lieben Menschen«. Er sah so interessant aus und hatte einen so liebenswürdigen Knebelbart, ganz zu schweigen von seinem Talent, Verse in ein Stammbuch zu schreiben und die Flöte zu spielen! Der interessante Roderigo verbeugte sich mit einem unendlich süßen Lächeln.

»Ich glaube jedoch«, fügte der Direktor hinzu, »daß Sie noch nicht ganz perfekt sind in – in dem Hinfallen – in Ihrer Fechtszene – Sie verstehen?«

»Das Fallen ist sehr schwer«, sagte Mr. Evans nachdenklich. »Ich habe es in der letzten Zeit in unserem Kontor sehr oft probiert, allein, man tut sich dabei gar zu weh. Ich muß rücklings fallen, und es geht dabei nicht ohne verdrießliche Beulen ab.«

»Nehmen Sie sich ja in acht, daß Sie keine Kulisse umstürzen«, bemerkte Mr. Gattleton senior, der zum Souffleur ernannt worden war und an der Sache ein ebenso großes Interesse nahm wie die Jüngsten in der Gesellschaft. »Die Bühne ist sehr beschränkt, wie Sie wissen.«

»Seien Sie ohne Sorgen«, erwiderte Mr. Evans sehr selbstzufrieden. »Ich werde mit dem Kopf ›ab‹fallen von der Bühne, und dann kann ich keinen Schaden tun.«

»Wir machen ohne Frage bedeutenden Effekt mit dem Masaniello«, sagte der Direktor händereibend. »Harleigh singt ihn zum Bewundern.«

Die ganze Gesellschaft pflichtete bei. Mr. Harleigh lächelte, sah dabei sehr einfältig aus – was nichts Seltenes bei ihm war – summte: »O schaut, wie herrlich strahlt der Morgen«, und wurde so rot wie die Fischernachtmütze, die er aufprobierte.

»Laß doch einmal sehen«, sagte der Direktor, an den Fingern zählend. »Wir werden drei tanzende Bäuerinnen haben, außer Fenella, und vier Fischer. Dann unser Bedienter Tom, dem wir ein Paar von meinen Drellbeinkleidern und eins von Bobs gewürfelten Hemden und eine Nachtmütze geben können, so daß er auch ein Fischer ist – macht fünf. In den Chören können wir natürlich alle zwischen den Kulissen mitsingen und in der Marktszene in Mänteln umhergehen und darunter tragen, was wir wollen. Wenn der Aufstand beginnt, muß Tom mit einer Spitzhacke von der einen Seite auf die Bühne herein und an der anderen so schnell er kann wieder fortstürzen. Die Wirkung muß elektrisierend sein: es wird ganz aussehen, als ob er eine Menge wäre. Und in der Vesuvausbruchsszene müssen wir das rote Feuer brennen lassen, das Teebrett zur Erde werfen und Schreien und Lärmen aller Art treiben – und wir machen ohne Frage Furore.«

»Ohne Frage!« riefen alle aus einem Munde nach – und Mr. Sempronius Gattleton eilte fort, um sich das korkgeschwärzte Gesicht abzuwaschen und die Aufstellung einer nicht genug zu bewundernden Dekoration von Dilettantenmalerei zu beaufsichtigen.

Mrs. Gattleton war eine ehrliche, gutmütige, vulgäre alte Seele, die ihren Mann und ihre Kinder auf das zärtlichste liebte und nur drei Antipathien hatte. Erstlich waren ihr von Natur jedermanns unverheiratete Töchter, mit Ausnahme ihrer eigenen, zuwider; zweitens hegte sie eine entsetzliche Furcht vor dem Lächerlichen aller Art; und drittens – was eine notwendige Folge davon war – flößte ihr »Mrs. Joseph Porter von gegenüber« fast Schauder ein. Den guten Leuten von Clapham und Umgegend war insgemein vor Lästerung und Sarkasmen äußerst bange, und sie machten daher Mrs. Joseph Porter den Hof, schmeichelten ihr, liebedienerten ihr und luden sie ein, so ziemlich aus demselben Grunde, aus dem sich ein blutarmer Schriftsteller mit der allergrößten Höflichkeit gegen den Geldbriefträger benimmt.

»Lassen Sie es nur gut sein, Mama«, sagte Miss Emma Porter zu ihrer verehrten Mutter und bemühte sich dabei, gleichgültig auszusehen. »Wenn ich zur Teilnahme eingeladen worden wäre, so wissen Sie, daß weder Papa noch Sie selbst Ihre Erlaubnis zu einer solchen Schaustellung meiner Person gegeben haben würden.«

»Ich habe nichts anderes von deinem Schicklichkeitsgefühl erwartet«, erwiderte Mrs. Porter. »Ich freue mich zu hören, Emma, daß du die Sache so richtig benennst.«

Miss Porter hatte ihre Person, beiläufig gesagt, erst vor einer Woche vier Tage lang hinter einem Ladentisch auf Fancy Fair jedermann zur Schau gestellt, der geneigt gewesen war, einen Schilling für das Vorrecht zu bezahlen, einige Dutzend Mädchen mit Unbekannten kokettieren und Ladenjungfern spielen zu sehen.

»Seht!« rief Mrs. Porter, durch das Fenster blickend; »da werden zwei Rindskeulen und ein Schinken offenbar zu Sandwiches hineingetragen, und Thomas, der Konditor, sagt, es wären außer Blancmanger und Gelees zwölf Dutzend Torten bestellt. Und sich nun obenein die Misses Gattleton in Theaterkostümen zu denken!«

»Oh, es ist gar zu lächerlich«, sagte Miss Porter mit einem krampfhaften Kichern. »Ich will ihnen doch aber die Sache ein wenig verleiden«, sagte Mrs. Porter und griff zum Hute und Schal, um ihre menschenfreundliche Absicht auf der Stelle auszuführen.

»Meine liebe Mrs. Gattleton«, sagte sie, nachdem sie eine Zeitlang bei der Nachbarin gesessen und ihr kraft unermüdlichen Ausfragens alles abgelockt hatte, was Mrs. Gattleton selbst von den beabsichtigten theatralischen Vorstellungen wußte; »die Leute mögen sagen, was ihnen beliebt, meine Beste: und wir wissen ja, daß sie freilich viel und mancherlei reden, denn manche sind nun einmal so boshaft. Ah, meine liebe Miss Lucina, wie befinden Sie sich? – Ich wollte eben Ihrer Frau Mutter mitteilen, daß ich sagen gehört habe –«

»Was haben Sie sagen gehört?« fragte die Desdemona.

»Mrs. Porter spricht von den theatralischen Vorstellungen«, fiel Mrs. Gattleton ein. »Sie wollte mir leider eben mitteilen –«

»Ich bitte, reden Sie doch nicht davon«, unterbrach Mrs. Porter. »Es ist ja höchst abgeschmackt – geradeso abgeschmackt, als wenn der junge – wie heißt er doch? – sagt, er wundere sich, wie Miss Karoline mit einem solchen Fuße und Knöchel die Eitelkeit haben könne, die Fenella zu geben.«

»So unverschämt wie möglich, wer es auch gesagt hat«, erklärte Mrs. Gattleton, vor Unwillen errötend.

»Sie haben vollkommen recht, meine Liebe«, pflichtete die entzückte Mrs. Porter bei; »denn ich sagte gleich, wenn auch Miss Karoline die Fenella gebe, so folge ja noch gar nicht daraus, daß sie einen zierlichen Fuß zu haben glaube. Und was für Laffen diese jungen Leute sind! Er hatte die Unverschämtheit, zu sagen, –«

Es ist unmöglich, zu sagen, inwieweit Mrs. Porter ihren angenehmen Zweck erreicht haben dürfte, wenn nicht Mr. Thomas Balderstone, Mrs. Gattletons Bruder (im Familienkreise vertraulich »Onkel Tom« genannt) eingetreten wäre, das Gespräch auf einen anderen Gegenstand und Mrs. Porter auf einen trefflichen Operationsplan für den Vorstellungsabend gebracht hätte.

Onkel Tom war sehr reich, liebte seine Neffen und Nichten ausnehmend und war daher ein äußerst wichtiger Mann in der Familie. Er hatte das beste Herz von der Welt, war stets guter Laune und sprach fortwährend. Er setzte seinen Ruhm darin, bei allen Gelegenheiten Stulpenstiefel zu tragen und nie das damals moderne schwarzseidene Halstuch anzulegen. Es war sein Stolz, die wichtigsten Shakespearestücke von Anfang bis zu Ende im Gedächtnis zu haben. Die Folge dieses Papageientalents war, daß er »den Schwan von Avon« nicht nur selbst beständig zitierte, sondern daß er ihn auch nie unrichtig zitieren hören konnte, ohne den unglücklichen Delinquenten zu korrigieren. Auch war er ein Spaßvogel, ließ nie eine Gelegenheit vorübergehen, etwas Witziges oder was er dafür hielt zu sagen, und lachte ohne Ausnahme über alles, was ihm spaßig oder lächerlich vorkam, bis ihm die Tränen in die Augen traten.

»Nun, Mädchen,« sagte Onkel Tom nach dem einleitenden Küssen und Fragen nach dem Befinden, »wie steht’s mit der Hauptsache? Könnt ihr eure Rollen – wie? Lucina, liebes Kind, Akt 2, Szene l, linke Seite, Stichwort: ›Im Schoß der Zukunft harrt.‹ Wie heißt es weiter – nun? ›Verhüte Gott –‹«

»Ja, ja«, sagte Miss Lucina, »ich entsinne mich schon –

›Verhüte Gott,
Daß unsre Lieb‘ und Glück nicht sollten wachsen
Wie unsrer Tage Zahl.‹«

»Mach hier und da eine Pause«, sagte der alte Herr, der seiner Meinung nach ein großer Kritiker war. »›Daß unsre Lieb‘ und Glück nicht sollten wachsen‹ – Nachdruck auf das letzte Wort ›wachsen‹ – laut ›wie‹, – eins, zwei, drei, vier; dann wieder laut ›unsrer Tage Zahl‹; Tage betont. So ist’s recht, liebes Kind; verlaß dich auf deinen Onkel, was Betonung anbelangt. – Ah, Sem, wie geht’s, alter Junge?«

»Sehr wohl, danke schön, Onkel«, erwiderte Mr. Sempronius, der eben eingetreten war und so ziemlich wie eine Ringeltaube aussah, da er infolge seines beständigen Schwärzens einen Kreis um jedes Auge hatte. »Wir sehen Sie Donnerstag natürlich?«

»Versteht sich, versteht sich, alter Junge!«

»Wie schade es doch ist, daß Ihr Neffe nicht daran dachte, Sie zum Souffleur zu machen, Mr. Balderstone«, flüsterte Mrs. Joseph Porter. »Sie würden ganz unschätzbar gewesen sein.«

»Ich schmeichle mir allerdings, daß ich den Posten erträglich ausfüllen würde«, entgegnete Onkel Tom.

»Sie müssen mir erlauben, mich am Schauspielabend neben Sie zu setzen. Sie würden jederzeit imstande sein, mich zu belehren, wenn Ihre lieben Nichten oder Neffen in irgendeiner Beziehung fehlen sollten. Die Vorstellungen werden ganz unendlich anziehend für mich sein.«

»Und ich werde mich unendlich glücklich schätzen, Ihnen nach meinem besten Vermögen zu dienen.«

»Sie dürfen es aber nicht vergessen.« – »Sicherlich nicht.«

»Ich weiß nicht«, sagte Mrs. Gattleton zu ihren memorierenden Töchtern, als sie am Abend mit ihnen vor dem Kamin saß, »aber ich möchte gar zu gern, daß Mrs. Joseph Porter Donnerstag nicht käme. Ich bin überzeugt, daß sie Böses im Schilde führt.«

»Sie kann uns indes nicht lächerlich machen«, bemerkte Mr. Sempronius Gattleton, sich in die Brust werfend.

Der lange erwartete Donnerstag kam zur gehörigen Zeit und brachte, wie Mr. Gattleton senior philosophisch bemerkte, »keine der Rede werten Unfälle mit«. Freilich war es noch zweifelhaft, ob Cassio imstande sein würde, das Kostüm anzulegen, das man ihm aus der Maskeradengarderobe hatte kommen lassen. Ebenso ungewiß war es, ob die Sängerin von der Influenza hinlänglich wiederhergestellt sein würde, um auftreten zu können. Mr. Harleigh, der Masaniello, war heiser und fühlte sich ziemlich unpäßlich, weil er so große Quantitäten Zitronensaft und Kandiszucker genossen, um seiner Stimme zu Hilfe zu kommen; und zwei Flöten und ein Violoncell hatten sich mit starken Erkältungen entschuldigen lassen. Doch was wollte das sagen? Sämtliche Zuschauer kamen. Die Gesellschaft konnte ihre Rollen; die Anzüge waren mit Goldborten und Flittern auf das reichlichste besetzt; die weißen Federn nahmen sich prachtvoll aus; Mr. Evans hatte das Fallen so lange eingeübt, daß er perfekt darin und vom Kopf bis zu den Füßen mit Beulen bedeckt war, und Jago war vollkommen überzeugt, daß er in der Erdolchungsszene den bedeutendsten Effekt machen würde. Ein tauber Herr, der die Flöte ohne Lehrer gelernt, hatte sich freundlich erboten, sein Instrument mitzubringen und war eine schätzbare Vervollständigung des Orchesters; Miss Jenkins Fertigkeit auf dem Piano war zu bekannt, um nur einen Augenblick in Zweifel gezogen werden zu können; Mr. Cape hatte das Violinspiel oft mit ihr geübt; und Mr. Brown, der mit seinem Violincell zu kommen gütigst zugesagt hatte, wenn er nur ein paar Stunden vorher Nachricht erhielte, machte seine Sachen ohne Frage vortrefflich.

Es schlug sieben Uhr, und die Zuschauer versammelten sich; das Theater füllte sich rasch mit allem, was in Clapham und Umgegend Rang und Namen hatte. Man sah die Smiths, die Gubbins, die Nixons, die Dixons, die Hicksons usf.; ferner zwei Ratsherrn, einen Sheriff in spe, Sir Thomas Glumper (der unter der vorigen Regierung zum Ritter ernannt worden war, weil er wegen jemands Errettung von Gott weiß was eine Adresse überbracht hatte); und als die letzten, aber nicht unbedeutendsten, Mrs. Joseph Porter und Onkel Tom, die in der Mitte der dritten Sitzreihe von der Bühne saßen, Mrs. Joseph Porter Onkel Tom mit Geschichtchen aller Art und Onkel Tom jedermann durch unmäßiges Gelächter unterhaltend.

Punkt acht Uhr ertönte die Souffleurglocke, und augenblicklich begann das Orchester die Ouvertüre zu den »Geschöpfen des Prometheus«. Die Pianofortespielerin hämmerte mit der lobenswürdigsten Beharrlichkeit darauflos, und das von Zeit zu Zeit einfallende Violoncell machte sich wirklich sehr schön, wenn man etwas Rücksicht nahm. Der Unglückliche freilich, der es übernommen, die Flötenbegleitung »vom Blatte« zu spielen, erkannte aus verdrießlicher Erfahrung die vollkommene Wahrheit des alten Sprichworts: »aus den Augen, aus dem Sinn«, denn da er sehr kurzsichtig war und vom Notenbuch nur gar zu entfernt saß, so blieb seine Mitwirkung darauf beschränkt, daß er dann und wann ein paar Takte zur unrechten Zeit spielte und die anderen darausbrachte. Man läßt jedoch Mr. Brown nur Gerechtigkeit widerfahren, wenn man sagt, daß er es zum Bewundern tat. Die Ouvertüre war in der Tat einem Wettrennen der Instrumente nicht sehr unähnlich. Erst eilte das Piano und dann das Violoncell einige Takte voraus, und beide ließen die arme Flöte weit hinter sich zurück; wogegen der taube Herr durch seine Beharrlichkeit endlich doch den Sieg davontrug, indem er lustig immer drauflos blies, ohne zu ahnen, daß er allein musizierte, bis ihn das Applaudieren der Zuschauer belehrte, daß die Ouvertüre zu Ende sei. Und als sie zu Ende war, vernahm man auf der Bühne ein verwirrtes Hin- und Herlaufen, und hörte flüstern: »Das ist eine schöne Geschichte! – Was ist zu tun?« usf. Die Zuschauer applaudierten abermals, um die Schauspieler zu ermutigen, und nunmehr forderte Mr. Sempronius den Souffleur mit sehr hörbarer Stimme auf, zum Anfang zu klingeln.

Die Glocke ertönte, sämtliche Zuschauer setzten sich, der Vorhang zitterte, hob sich gerade so hoch, daß man mehrere Paar gelbe Stiefel umhertrippeln sehen konnte, und blieb dann hängen.

Abermals ertönte die Glocke, am Vorhang wurde heftig gerissen, allein er hob sich nicht höher; die Zuschauer kicherten, Mrs. Joseph Porter sah Onkel Tom und Onkel Tom sah jedermann an, rieb sich die Hände und lachte ausgelassen. Nachdem mit der kleinen Glocke so lange geläutet worden war, wie ein Semmelbursche Zeit gebraucht hätte, eine ziemlich lange Straße hinunterzuläuten, und nach sehr vielem Flüstern, Hämmern und lauten Rufen nach Nägeln und Stricken ging der Vorhang endlich in die Höhe, und auf der Bühne zeigte sich den Blicken ganz allein der Othello, Mr. Sempronius Gattleton. Das Publikum klatschte und rief Beifall zu dreien Malen, während Mr. Sempronius die rechte Hand auf die linke Brust legte und sich auf die untadeligste Weise verbeugte. Endlich trat er vor und sagte:

»Meine Damen und Herren, ich versichere Sie, daß es mit dem aufrichtigsten Bedauern geschieht, daß ich bedaure, genötigt zu sein, Ihnen ankündigen zu müssen, daß Jago, der Mr. Wilson spielen sollte – ich bitte um Vergebung, meine Damen und Herren; aber ich bin natürlich ein wenig erregt (Applaus) – ich wollte sagen, daß Mr. Wilson, der den Jago spielen sollte, im – auf – das heißt nämlich – oder mit anderen Worten, ich erhielt soeben ein Billett von ihm, worin er mir schreibt, daß Jago heute den ganzen Abend dringend im Postbüro beschäftigt sei. Unter diesen Umständen bin ich vollkommen überzeugt – wird ein – ein – Liebhabertheater – indem ein anderer Herr die Rolle zu lesen hat – und muß ich also um eine kurze Geduld bitten – und die Humanität und Güte eines britischen Publikums –«

Beifallklatschen erstickte zum Überfluß seine Stimme; er trat ab, und der Vorhang fiel. Der Vorfall versetzte die Zuschauer natürlich in die heiterste Laune; sie betrachteten das Ganze als einen Spaß, warteten mit der größten Geduld eine Stunde und ließen sich dabei die herumgereichten Erfrischungen munden. Später vernahm man von Mr. Sempronius, daß die Verzögerung nicht so lange gedauert hätte, wenn nicht Jago von der Post unerwartet gerade dann angelangt wäre, als der stellvertretende Jago soeben mit dem Ankleiden fertig geworden. Der letztere hatte sich daher wieder aus- und der erstere sich sodann ankleiden müssen, worüber eine um so beträchtlichere Zeit verging, weil ihm das Kostüm zu eng gewesen war.

Endlich nahm die Tragödie allen Ernstes ihren Anfang und hatte auch einen erträglichen Fortgang bis zur dritten Szene des ersten Akts, in der Othello den Senat anredet und Jago, dessen Füße für sämtliche Bühnenstiefel zu groß oder von der Hitze und Aufregung zu geschwollen waren, seine Rolle in gewöhnlichen kurzen Stiefeln spielen mußte, die ziemlich sonderbar von seinen reichbesetzten Pantalons abstachen. Als Othello seine Anrede an den Senat begonnen hatte (dessen Würde durch einen Handlanger, der den Herzog vorstellte, zwei auf Empfehlung des Gärtners engagierte gute Freunde besagten Handlangers und einen Knaben vertreten wurde), fand sich für Mrs. Joseph Porter die ersehnte Gelegenheit.

Mr. Sempronius fuhr fort:

»Ehrwürd’ger, mächt’ger und erlauchter Rat,
Sehr edle, wohlerprobte gute Herrn –
Daß ich dem alten Mann die Tochter nahm,
Ist völlig wahr; ich bin von rauhem Wort –«

»War das recht?« flüsterte Mrs. Porter Onkel Tom zu.

»Nein.«

»So sagen Sie es ihm doch.«

»Ja, ja, – Sem! das war nicht recht, alter Junge.«

»Was war nicht recht, Onkel?« fragte Othello, die Würde seiner Rolle gänzlich vergessend.

»Du hast etwas ausgelassen. ›Wahr, sie ist mir vermählt –‹«

»Ah, ah!« sagte Mr. Sempronius und bemühte sich ebensosehr und so unwirksam, seine Verwirrung zu verbergen, wie die Zuschauer sich Mühe gaben, ihr Kichern durch heftiges Husten zu unterdrücken – –

»wahr, sie ist mir vermählt; –
Der Tatbestand und Umfang meiner Schuld
Reicht dahin; weiter nicht.«

»Warum soufflierst du nicht, Vater?«

»Weil ich meine Brille verlegt habe«, erwiderte Mr. Gattleton, der von der Hitze und dem Getümmel halb tot war.

»Weiter!« rief Onkel Tom. »Jetzt kommt: ›ich bin von rauhem Wort‹.«

»Ja, ich weiß es«, rief der unglückliche Direktor zurück und redete weiter.

Es würde nutzlos und ermüdend sein, noch die vielen Fälle aufzuzählen, in denen Onkel Tom, der jetzt vollkommen in seinem Element war und durch die boshafte Mrs. Porter fortwährend angestachelt wurde, die Irrtümer der Schauspieler verbesserte. Es mag hinreichen, zu sagen, daß ihn, nachdem er sein Steckenpferd einmal bestiegen hatte, nichts bewegen konnte, wieder herunterzusteigen, und daß er, gleichsam als ein zweiter Souffleur, das ganze Stück vor sich hinmurmelte. Die Zuschauer ergötzten sich ausnehmend, Mrs. Porter war entzückt, und sämtliche Schauspieler gerieten außer Fassung: Onkel Tom hatte sich in seinem Leben nicht besser unterhalten, und seine Neffen und Nichten, obwohl die erklärten Erben seiner Schätze, hatten nie so herzlich gewünscht, daß er zu seinen Vätern versammelt sein möchte, wie an jenem denkwürdigen Abend.

Verschiedene andere, geringere Ursachen kamen noch hinzu, um den Eifer der Liebhaber zu dämpfen. Keiner von ihnen konnte in den knapp anliegenden Gewändern gehen oder die Arme in den Kostümen rühren: die Hosen waren zu kurz, die Stiefel zu weit und die Schwerter von allen Größen und Arten. Mr. Evans, der zu groß für die Bühne war, trug einen schwarzen Samthut mit ungeheuren, weißen Federn, die von den Zuschauern nicht gesehen werden konnten, und den er nur mit großer Schwierigkeit auf dem Kopfe zu befestigen, und wenn er ihn festgesetzt hatte, nicht wieder herunterzubringen vermochte. Trotz allem seinem Einüben fiel er mit dem Kopfe und den Schultern so meisterhaft durch eine Seitenwand, wie ein Harlekin in einer Weihnachtspantomime durch einen Reif gesprungen sein würde. Die Pianofortespielerin wurde am Anfang der Nachstücke infolge der Hitze im Saale ohnmächtig, und die Flöte und das Violoncell mußten Masaniello allein beim Gesang begleiten. Das Orchester beklagte sich, daß es von Mr. Harleigh darausgebracht würde, und Mr. Harleigh erklärte, daß ihn das Orchester gänzlich am Singen hindere. Die gemieteten Fischer revoltierten im eigentlichen Sinne und wollten schlechterdings nicht spielen, wenn ihnen nicht eine größere Quantität Branntwein bewilligt würde; und als ihrem Begehren Genüge geleistet war, traten sie in der Vesuvausbruchsszene so natürlich betrunken wie möglich auf. Das rote Feuer am Schlusse des zweiten Aktes hatte nicht nur die Zuschauer fast erstickt, sondern obendrein beinahe das Haus in Brand gesteckt, und die Schlußszene wurde in dichtem Rauche gespielt.

Kurzum, das Ganze mißglückte vollkommen, wie Mrs. Joseph Porter jedermann triumphierend sagte. Die Zuschauer kehrten um vier Uhr morgens heim, erschöpft vom Lachen, an heftigen Kopfschmerzen leidend, und schrecklich nach Schwefel und Schießpulver riechend. Die Herren Gattleton, senior und junior, begaben sich mit der unbestimmten Idee zur Ruhe, in den ersten Tagen der nächstfolgenden Woche nach dem Schwanenflusse auszuwandern.

Villa Rose sieht wieder aus wie sonst: die Möbel des Speisezimmers stehen wieder an ihrem Ort; die Tische sind so hell poliert wie früher, und sämtliche Vorderfenster haben zum Schutz gegen Mrs. Joseph Porters forschende Blicke Jalousien erhalten. Das Theater wird in der Familie Gattleton nicht mehr erwähnt, ausgenommen von seiten Onkel Toms, der sich nicht enthalten kann, bisweilen sein Erstaunen und Bedauern auszudrücken, daß seine Neffen und Nichten allen Geschmack an den Schönheiten Shakespeares und dem Zitieren aus den Werken des unsterblichen Dichters verloren zu haben scheinen.

Master Kitterbells Taufe

Mr. Nikodemus Dumps oder, wie seine Bekannten ihn zu nennen pflegten, »der lange Dumps«, war ein Hagestolz, sechs Fuß hoch und fünfzig Jahre alt – mürrisch, totengräberisch, wunderlich und boshaft. Er war nur vergnügt, wenn er unglücklich war und fühlte sich stets unglücklich, wenn er die meiste Ursache zur Fröhlichkeit hatte. Sein einziges wahrhaftes Vergnügen bestand darin, jedermann um sich her verdrießlich oder sorgenvoll zu sehen, und erst wenn dies der Fall war, konnte man von ihm sagen, daß er seines Lebens froh wurde. Er war mit einem Amt bei der Bank mit jährlichen fünfhundert Pfund geplagt und mietete eine Wohnung in Pentonville, weil er aus seinen Fenstern die Aussicht auf den ganz nahen Kirchhof hatte. Er kannte jeden Grabstein auf das genaueste, und jedes Leichenbegängnis schien seine lebhafteste Teilnahme zu erregen. Seine Freunde nannten ihn sauertöpfisch; er bestand darauf, er sei nervenschwach. Sie hießen ihn einen Glückspilz: allein er beteuerte, der unglücklichste Mensch von der Welt zu sein. Kalt, wie er war, und unglücklich, wie er sich selbst nannte, war er doch nicht ganz unempfänglich für wärmere Gefühle und Neigungen, Er verehrte das Andenken des berühmten Whist-Schriftstellers Hoyle, da er selbst ein ausgezeichneter und unermüdlicher Whistspieler war; er kicherte vor innerlichem Behagen, wenn er einen verdrießlichen und ungeduldigen Mitspieler hatte. Den König Herodes verehrte er wegen des bethlehemischen Kindermords wie einen Heiligen; denn wenn er irgendein Geschöpf mehr als ein anderes haßte, so war es ein Kind. Übrigens mißfiel ihm freilich alles, und zwar in ziemlich gleichem Maße; vielleicht aber galten Kabrioletts, alten Frauen, Türen, die nicht schließen wollten, Musikdilettanten und Cads (Omnibuskondukteure) seine größten Antipathien. Er schickte dem Verein der Gesellschaft für Unterdrückung des Lasters beträchtliche Beiträge, um das Vergnügen zu haben, harmlose Belustigungen hindern zu helfen, und steuerte sehr reichlich zur Unterstützung zweier reisender Methodistenprediger in der holdseligen Hoffnung bei, daß recht viele durch die Umstände Begünstigte und Glückliche in dieser Welt durch die unterstützten Prediger bekehrt und durch Furcht vor der andern Welt unglücklich werden würden.

Mr. Dumps hatte einen Neffen, der seit einem Jahr verheiratet war und bei seinem Oheim einigermaßen in Gunst stand, weil er einen trefflichen Gegenstand zur Übung des Unheils stiftenden, Verdruß bereitenden Talents seines Onkels abgab. Mr. Charles Kitterbell war ein kleiner, gedrückter Mann mit einem breiten, gutgelaunten Gesicht. Er sah aus wie ein zusammengeschrumpfter Riese mit teilweise wiederhergestelltem Kopf und Antlitz und schielte dermaßen, daß es für jemand, der mit ihm sprach, rein unmöglich war dahinterzukommen, nach welcher Richtung er hinsähe. Seine Blicke schienen an die Wand geheftet, und man geriet vor ihnen außer Fassung; man bemühte sich vergebens, sie zu fesseln oder festzuhalten, und hätte sich vor ihnen verstecken mögen. Es war nur ein Glück, daß sie nicht ansteckten. Außerdem war Mr. Charles Kitterbell der leichtgläubigste und prosaischste Mann, der jemals eine Frau und ein Haus in der Großen Russelstraße, Bedfordsquare, nahm. Onkel Dumps ließ übrigens »Bedfordsquare« immer aus, und sagte dafür schauderhafterweise »Tottenham-Court-Road«.

»Wahrhaftig, Onkel, Sie müssen mir’s versprechen, Gevatter zu stehen«, sagte Mr. Kitterbell, als er sich eines Morgens bei seinem verehrten Verwandten befand.

»Kann’s, kann’s in der Tat nicht«, entgegnete Dumps.

»Aber warum denn nicht? Mary wird Sie für sehr unfreundlich halten. Es ist ja nur eine geringe Mühe.«

»Was die Mühe betrifft«, erwiderte der unglücklichste Mann von der Welt, »so denke ich gar nicht daran; allein meine Nerven sind in einem Zustand, daß ich die Taufhandlung nicht aushalten kann. Du weißt, daß ich nicht gern ausgehe. – Charles, um des Himmels willen, schaukle dich nicht so auf dem Stuhl, ich könnte wahnsinnig dabei werden.«

Mr. Kitterbell hatte sich seit einer Viertelstunde, ohne alle Rücksicht auf seines Onkels Nerven, auf dem Geschäftsstuhl in der Schwebe gehalten, so daß der Stuhl auf einem Bein balancierte.

»Bitte um Verzeihung«, sagte er bestürzt; »aber kommen Sie doch, Onkel! Wenn es ein Knabe ist, so müssen wir zwei Paten haben.«

» Wenn es ein Knabe ist!« sagte Dumps; »warum sagst du mir nicht, ob es ein Knabe oder ein Mädchen ist?«

»Ich würde es Ihnen sehr gern sagen, wenn ich nur könnte; allein das Kind ist ja noch ungeboren.«

»Noch ungeboren!« wiederholte Dumps, und ein Hoffnungsstrahl erhellte sein düsteres Antlitz. »Nun, es kann ein Mädchen werden, und dann bedarfst du meiner Patenschaft nicht; oder es wird ein Knabe, und dann kann er vor der Taufe sterben.«

»Das will ich nicht hoffen«, sagte der harrende junge Ehemann mit sehr langem Gesicht.

»Ich auch nicht«, stimmte ihm Dumps bei, der offenbar anfing, vergnügt zu werden. »Ich auch nicht; allein, in den ersten drei Tagen eines Kindeslebens kommen sehr häufig betrübende Fälle vor; der Kinnbackenkrampf ist sehr gewöhnlich, und gefährliche Darmkatarrhe bleiben fast nie aus.«

»O Himmel, Onkel!« keuchte der kleine Kitterbell.

»Ja, ja; am vorigen Dienstag kam meine Hauswirtin mit einem allerliebsten Knaben nieder; Donnerstag abend hat ihn die Wärterin auf dem Schoße – er ist so gesund und munter wie möglich – plötzlich wird er schwarz im Gesicht – man ruft den Arzt – wendet alle möglichen Mittel an, allein –«

»Entsetzlich!« unterbrach der geängstigte Kitterbell.

»Natürlich starb das Kind, doch es kann sein, daß dein Kind am Leben bleibt; und sollt‘ es ein Knabe sein und bis zur Taufe am Leben bleiben, so werd‘ ich dann freilich wohl Gevatter stehen müssen.«

Dumps hatte böse Vorahnungen und war deshalb offenbar in guter Laune.

»Ich danke Ihnen, Onkel«, sagte sein äußerst unruhig gewordener Neffe und drückte ihm die Hand so herzlich, als wenn ihm der Sonderling einen wesentlichen Dienst geleistet hätte. »Es wird jedoch am besten sein, wenn ich meiner Frau Ihre Andeutungen mitteile.«

»Wenn sie nervenschwach ist, so sag ihr wenigstens von meiner Hauswirtin Schicksal nichts«, erwiderte Dumps, der natürlich die ganze Geschichte ersonnen hatte; »obwohl es vielleicht deine Pflicht als Ehemann wäre, sie jedenfalls auf das Schlimmste vorzubereiten.«

Als Dumps ein paar Tage später beim Frühstück die Zeitung las, fiel ihm plötzlich die Geburtsanzeige eines jungen Kitterbells in das Auge.

»’s ist wirklich ein Knabe geworden!« rief er aus und warf das Zeitungsblatt auf den Tisch, faßte sich jedoch bald wieder, da seine Blicke gleich nachher auf eine lange Liste gestorbener Kinder fielen.

Es vergingen sechs Wochen, und da er keine Einladung von seinem Neffen erhielt, fing er an, sich mit dem Gedanken zu schmeicheln, daß das Kind gestorben wäre. Ein Billett zerstörte jedoch seine angenehmen Hoffnungen.

Onkel!

Sie werden hocherfreut sein, von mir zu hören, daß meine geliebte Mary das Wöchnerinnenzimmer verlassen hat und daß Ihr Großneffe und künftiger Pate vortrefflich gedeiht. Er war anfangs sehr klein, ist aber viel größer geworden, und die Wärterin sagt, daß er mit jedem Tage zunähme. Er schreit ziemlich viel und hat eine sehr sonderbare Farbe, was Mary und mich unruhig genug machte; doch die Wärterin sagt, daß es natürlich sei, und da wir von Dingen dieser Art noch nicht viel wissen und verstehen, so beruhigen wir uns vollkommen bei dem, was die Wärterin sagt. Wir glauben, daß er ein sehr kluges Kind werden wird, und die Wärterin glaubt es ganz gewiß, da er nie einschlafen will. Sie können sich leicht denken, daß wir sehr glücklich sind; wir haben nur etwa über ein wenig Ermüdung zu klagen, da er uns keine Nacht schlafen läßt; doch die Wärterin sagt, wir müßten uns daran gewöhnen, es wäre in den ersten sechs bis acht Monaten immer so. Er ist geimpft worden, allein, der Operateur hat sich etwas ungeschickt gezeigt und mit der Lymphe einige kleine Glasstückchen in den Arm gebracht, woher es vielleicht kommt, daß der Knabe ein wenig widerspenstig ist; zum wenigsten meint dies die Wärterin. Wir denken, ihn Freitag um zwölf Uhr in der St. Georgskirche in der Hartstraße Frederick Charles William taufen zu lassen. Ich bitte, kommen Sie nicht später als ein Viertel vor zwölf Uhr. Wir werden einige Freunde zum Abendessen bei uns haben, an dem Sie natürlich teilnehmen müssen. Ich füge mit Leidwesen hinzu, daß das liebe Kind heute ein wenig unruhig ist, ich fürchte, weil es Fieber hat. Glauben Sie, lieber Onkel, daß ich stets bin

Ihr ergebener Charles Kitterbell

N. S. Wir haben soeben die Unruhe des kleinen Frederick entdeckt. Sie liegt in keinem Fieber, wie ich befürchtete, sondern die Wärterin hat ihm gestern abend zufällig eine Nadel in das Bein gestochen. Wir haben sie herausgenommen, und er ist stiller geworden, obgleich er noch immerfort weint.«

Es ist fast unnötig zu sagen, daß das mitgeteilte interessante Schreiben dem hypochondrischen Dumps wenig zur Freude gereichte. Zurücktreten konnte er nicht wieder; er machte indessen die beste Miene – d. h. eine ungewöhnlich jammervolle – zum bösen Spiele und ließ für den kleinen Kitterbell einen artigen silbernen Becher mit den Buchstaben F.C.W.K. nebst obligaten Verzierungen anfertigen.

Am Montag war schönes, am Dienstag köstliches Wetter, der Mittwoch war beiden genannten Tagen gleich, und der Donnerstag übertraf sie alle; vier schöne Tage hintereinander in London! Die Mietskutscher wurden aufrührerisch, und die dem Fußgänger so dienstwillig aufwartenden Gassenkehrer fingen an, das Dasein einer Vorsehung zu bezweifeln. Der »Morning Herald« zeigte in seinen Spalten an, man habe eine alte Frau in Camden Town sagen hören, daß sich die ältesten Leute keines so beständigen schönen Wetters zu erinnern wüßten, und die Schreiber in Islington mit großen Familien und kleinen Gehältern verabschiedeten ihre schwarzen Gamaschen, verschmähten ihre einst grün gewesenen baumwollenen Regenschirme und stolzierten in weißen Strümpfen und rein gebürstetem Schuhwerk zur Stadt. Dumps sah dem allen mit der Miene tiefster Verachtung zu – sein Triumph stand nahe bevor – er wußte, daß es regnen würde, sobald er ausginge, und wenn das Wetter vier Wochen statt vier Tage schön gewesen wäre; er fühlte sich jammervoll glücklich in der Überzeugung, daß der Freitag ein sehr regnerischer Tag werden würde – und er hatte recht.

»Ich wußt’s vorher«, sagte Dumps, als er sich am Freitagmorgen um halb zwölf Uhr Mansion-House gegenüber umschaute; »ich wußt’s vorher, denn ich bin in im Spiel, und das ist genug.«

In der Tat war das Wetter hinlänglich schlecht, um auch hoffnungslustigere Leute, als Dumps war, zu entmutigen. Es hatte seit acht Uhr ohne Aufhören geregnet, und alle Fußgänger sahen naß und kotbespritzt aus. Alle Arten vergessener oder längst beiseite gestellter Regenschirme waren wieder hervorgesucht, die Gardinen der Kabrioletts sorgfältig verschlossen worden, und die letztern glichen den geheimnisvollsten Bildern in Mrs. Radcliffes Schlössern. Die Omnibuspferde rauchten wie Dampfmaschinen; niemand dachte daran, zeitweiligen Schutz unter Torwegen oder Bogen zu suchen, da das Wetter von jedermann als hoffnungslos erkannt wurde. Alles eilte und drängte triefend und in Schweiß gebadet hastig aneinander vorbei. Dumps stand still; er konnte nicht daran denken, zu gehen, da er sich zur Taufe angekleidet hatte. Nahm er ein Kabriolett, so war er überzeugt, daß er umgeworfen werden würde, und eine Mietskutsche erschien ihm bei seiner Sparsamkeit zu teuer. An der Ecke gegenüber hielt ein Omnibus – der Fall war verzweifelt – Dumps hatte nie gehört, daß ein Omnibus umgeworfen oder daß die Pferde mit einem solchen durchgegangen wären; und warf der Cad ihn um, so konnte er ihn dafür vor Gericht belangen.

»Hallo, Sir!« rief ihm der junge Gentleman zu, der die Würde des Cad bei den »Dorfburschen« – wie das erwähnte Gebäude hieß – bekleidete.

Dumps eilte hinüber.

»Hier, Sir!« rief ihm der Rosselenker des »Hark away« zu, und fuhr gerade vor die Wagentür des Nebenbuhlers; »hier, Sir – der ist voll.«

Dumps stand unschlüssig still, worauf die Dorfburschendirigenten den »Hark away« mit einem Strome von Schimpfwörtern überschütteten. Der Streit wurde jedoch vom »Admiral Napier« auf eine für alle Parteien befriedigende Weise beigelegt, indem der Admiral den langen Dumps um den Leib faßte und ihn mitten in sein Fuhrwerk hineinschleuderte, das eben herangekommen war und dem nur noch der Sechzehnte inwendig fehlte.

»Alles in Ordnung«, sagte der Admiral, und fort rasselte das Gebäude wie eine Feuerspritze im vollen Galopp mit seinem weggekaperten Passagier, der die Stellung eines halbaufgeklappten Stiefelknechts zu behaupten suchte und bei jedem Stoße bald zur einen, bald zur anderen Seite fiel, wie »ein Jack-im-Grün« am Maitag, der der Dame mit dem Kochlöffel hin und her taumelnd nachhüpft.13

»Um des Himmels willen, wo soll ich sitzen?« fragte der Unglückliche einen alten Herrn, dem er soeben zum vierten Male auf den Leib gefallen war.

»Wo Sie belieben, nur nicht auf mir«, erwiderte der alte Herr verdrießlich.

Es gelang Dumps endlich, sich einen Sitzplatz zu erringen zwischen einem Fenster, das sich nicht verschließen lassen wollte, und einem Mann, der den ganzen Morgen ohne Regenschirm umhergewandert war und aussah, als wenn er in einer Wassertonne gelegen hätte – nur noch nasser.

»Schlagen Sie doch die Tür nicht so«, sagte Dumps zu dem Kondukteur, als dieser vier Passagiere hinausgelassen hatte; »meine Nerven halten es unmöglich aus.«

»Sagte da ein Herr was?« entgegnete der Cad, steckte den Kopf in den Wagen und bemühte sich, auszusehen, als ob er nicht verstanden hätte.

»Ich sagte, Sie möchten die Tür nicht so heftig zuschlagen«, wiederholte Dumps mit einem Gesicht, das dem des Treffbuben in Krämpfen glich.

»’s ist ganz besonders mit dieser Tür, Sir; sie schließt nicht ohne Zuschlagen«, erwiderte der Cad, öffnete die Tür, so weit er konnte, und schlug sie zum Beweise seiner Angabe mit dem lautesten Krachen zu.

»Bitte um Vergebung, Sir«, redete ein kleiner, kurzatmiger alter Mann, der ihm gegenüber saß, Dumps an; »bitte um Vergebung; aber haben Sie nicht auch bemerkt, daß von fünf Omnibuspassagieren an einem Regentage immer vier mit großen, baumwollenen Regenschirmen einsteigen, die weder Griffe noch Spitzen haben?«

»Nein, Sir, ich habe die Bemerkung noch nicht gemacht«, entgegnete Dumps; er hörte es zwölf schlagen und schrie, da der Omnibus eben an Drury-Lane vorüberrasselte, wo er hinausgelassen zu werden bestimmt hatte: »Hallo, hallo! – wo ist der Cad?«

Der Cad hörte nicht. Einige mutwillige Passagiere kicherten. Der Omnibus rollte an der St. Giles-Kirche vorüber. Dumps wurde ganz heiser und matt von vergeblichem Rufen.

»Halt!« rief endlich der Cad. »Ich will mich fressen lassen, wenn ich den Herrn nicht vergessen hab’«, der bei Drury-Lane abgesetzt werden wollte. – Machen’s ein bissel hurtig, Sir, wenn’s beliebt!«

Er öffnete die Wagentür und half Dumps so kaltblütig hinaus, als wenn »alles in Ordnung« wäre. Dumps‘ Entrüstung gewann dieses Mal die Oberhand über seinen bittern Gleichmut. »Drury-Lane!« keuchte er mit der Stimme eines Knaben, der zum ersten Male in ein kaltes Bad geht.

»Drury-Lane, Sir? – ja, Sir – an der dritten Ecke rechter Hand, Sir!«

Dumps‘ Zorn beherrschte ihn ganz; er faßte seinen Regenschirm mit festem Griff und ging mit großen Schritten und mit dem hartnäckigen Entschluß davon, seine Fahrt nicht zu bezahlen. Es traf sich so merkwürdig, daß der Cad gerade der entgegengesetzten Meinung war, und der Himmel mag wissen, wozu diese Meinungsverschiedenheit geführt haben würde, wenn sie nicht durch den Kutscher zu einem sehr schicklichen und befriedigenden Ende gebracht worden wäre.

»Hallo!« rief dieses respektable Individuum, auf dem Bocke stehend und sich mit der einen Hand auf das Omnibusdach stützend; »hallo, Tom, sag dem Herrn, wenn er sich betrogen fühlte, wollten wir ihn umsonst nach Edgeware-Road mitnehmen und ihn bei Drury-Lane absetzen, wenn wir zurückkämen. Da kann er nichts gegen haben.«

Es war in der Tat nichts dawider einzuwenden; Dumps zahlte die bestrittenen sechs Pence, stand nach einer Viertelstunde vor seines Neffen Haustür in der Großen Russelstraße und wurde sofort eingelassen. – Im Hause deutete alles darauf hin, daß Vorbereitungen getroffen wurden, abends »einige Freunde« zu empfangen. Das sehr heiß und geschäftig aussehende Hausmädchen führte Dumps in ein vorderes, sehr stattlich möbliertes Besuchszimmer, in dem auf allen Tischen kleine Körbe, Porzellanfiguren, Rosa- und Goldalbums, regenbogenfarbige kleine Bücher und dergleichen Sächelchen zur Schau standen und lagen.

»Ah, Onkel«, rief Kitterbell Dumps entgegen; »wie befinden Sie sich? Liebe Mary – mein Onkel. Ich denke, Sie haben Mary schon gesehen, Sir?«

»Habe schon das Vergnügen gehabt«, erwiderte der lange Dumps, doch so, daß es der Ton seiner Stimme und seine Mienen sehr zweifelhaft machten, ob er jemals in seinem Leben dergleichen empfunden habe

»Gewiß«, sagte Mrs. Kitterbell mit einem schmachtenden Lächeln und ein wenig hustend; »gewiß – hm – jeder Freund meines Charles – hm – und noch weit mehr jeder Anverwandte ist –«

»Ich kenne deine Gesinnung, meine Liebe«, unterbrach sie der kleine Kitterbell, indem er seine Gattin auf das zärtlichste anblickte und dabei aussah, als wenn er nach den Häusern gegenüber schaute; »möge dich der Himmel dafür segnen.«

Er begleitete diese letzteren Worte mit einem so süßen Lächeln und einem so zärtlichen Händedruck, daß Onkel Dumps‘ Galle erregt wurde.

»Jane, sag der Wärterin, daß sie den Kleinen herunterbringen möchte«, befahl Mrs. Kitterbell dem Hausmädchen.

Mrs. Kitterbell war eine große, dünne junge Frau mit sehr hellem Haar und einem auffallend weißen Gesicht – eine der jungen Frauen die, obwohl man schwerlich zu sagen wüßte, warum, stets den Gedanken an kalten Kalbsbraten hervorrufen. Das Hausmädchen ging, und die Wärterin kam, und zwar mit einem sehr, sehr kleinen Bündel auf den Armen, das in einen blauen Mantel mit weißem Pelzbesatz eingehüllt und in dem das Kindlein verborgen war.

»Nun, Onkel«, sagte Kitterbell, indem er mit einer triumphierenden Miene das Gesicht des Kindes enthüllte, »was meinen Sie, wem sieht er ähnlich?«

Mrs. Kitterbell wiederholte kichernd die Frage, nahm ihres Gatten Arm und sah Dumps mit so viel Freundlichkeit, als sie anzunehmen imstande war, in das Gesicht. »Gütiger Himmel, wie klein er ist!« rief der liebenswürdige Oheim aus, mit sehr gut nachgemachter Überraschung zurückschreckend; »in der Tat, ganz merkwürdig klein.«

»Meinen Sie wirklich?« fragte der arme kleine Kitterbell, ein wenig verblüfft. »Er ist jetzt ein Ungeheuer gegen das, was er anfangs war – nicht wahr, Wärterin?«

»’s ist ein Herz«, sagte die Wärterin ausweichend und das Kind an die Brust drückend. Sie hätte freilich nichts dawider gehabt, eine Unwahrheit zu sagen, allein, sie mochte sich nicht um Dumps‘ halbe Krone bringen.

»Aber wem sieht er ähnlich?« fragte der kleine Kitterbell zum zweiten Male.

Dumps sah auf das kleine rosa Bündel hinunter und sann eben nach, wie er die jungen Eheleute am besten ärgern könnte.

»Meinen Sie nicht, daß er mir ähnlich sieht?« fragte sein Neffe mit einer schalkhaften Miene.

» Dir ganz bestimmt nicht«, erwiderte Dumps mit nicht zu mißdeutender nachdrücklicher Betonung. »Nein, dir sieht er nicht im mindesten ähnlich – keine Spur von Ähnlichkeit.«

»Mary?« fragte Kitterbell kleinlaut.

»Auch nicht, Charles; nicht von fern. Ich bin in solchen Dingen natürlich kein kompetenter Richter, allein ich glaube wirklich, er ist einer der kleinen, interessanten Steinfiguren ähnlich, wie man sie bisweilen eine Trompete blasend auf Grabmonumenten sieht.«

Die Wärterin beugte sich über das Kind nieder und unterdrückte nur mit großer Mühe ein lautes Gelächter. Die Eltern sahen fast ebenso jammervoll wie der liebenswürdige Oheim aus.

»Sie werden schon noch besser sagen können, wem er ähnlich sieht«, bemerkte der niedergeschlagene kleine Vater. »Sie sollen ihn heute abend ohne Mantel sehen.«

»Ich danke dir«, sagte Dumps mit Empfindungen, die von allem, was Dankbarkeit heißt, sehr weit entfernt waren.

»Es ist aber Zeit, daß wir aufbrechen, Liebe«, sagte Kitterbell zu seiner Frau. »Onkel, wir treffen den andern Paten und die Patin in der Kirche – Mr. und Mrs. Wilson – ganz allerliebste Leute. Meine liebe Mary, du hast dich doch warm angekleidet?«

Mrs. Kitterbell bejahte.

»Willst du nicht lieber noch einen Schal umbinden?« sagte der besorgte Gatte.

»Es ist nicht nötig, mein süßes Herz«, erwiderte die bezaubernde Mutter, Dumps‘ dargebotenen Arm nehmend.

Sie stiegen in die Mietskutsche, und Dumps unterhielt Mrs. Kitterbell während der Fahrt zur Kirche damit, daß er ihr mit großer Anschaulichkeit weitläufig die Gefahren der Zahnfieber, Masern, Blattern, Brechdurchfälle, Krämpfe und anderer Kinderkrankheiten schilderte. Die etwa fünf Minuten währende Taufe ging vorüber, ohne daß sich etwas Besonderes dabei ereignet hätte. Der Geistliche war zu einem Mittagessen in einer entfernten Vorstadt eingeladen und hatte vorher noch in weniger als einer Stunde zwei Wöchnerinnen einzusegnen, drei Kinder zu taufen und einen Leichensermon zu halten. Die Gevattern sprachen daher in des Täuflings Namen, »zu entsagen dem Teufel und allen seinen Werken«, und der kleine Kitterbell war getauft im Umsehen und ohne Gefährdung, nur fehlte wenig, daß Dumps das unter den Händen des Geistlichen in das Taufbecken hätte fallen lassen. Mit schwerem Herzen und der qualvollen Aussicht auf eine Abendgesellschaft langte Dumps um zwei Uhr in seiner Wohnung an.

Der Abend kam – und auch Dumps‘ Tanzschuhe, schwarze, seidene Strümpfe und weißes Halstuch. Der unglückliche Pate kleidete sich in eines Freundes Kontor an und begab sich von dort zu Fuß – denn hatte zu regnen aufgehört, und das Wetter war erträglich geworden – in einer Stimmung fünfzig Grad unter Null nach der Großen Straße. Er ging langsam seines Weges, sah so bärbeißig aus wie das Gallionsbild eines Kriegsschiffes und entdeckte bei jedem Schritte neue Ursachen des Verdrusses. Er wendete sich eben um eine Ecke, als ein anscheinend betrunkener Mensch gegen ihn anrannte und ihn niedergeworfen haben würde, wenn er nicht hilfreich von einem elegant kleideten jungen Herrn gehalten worden wäre. Der Stoß hatte jedoch seine Nerven so sehr erschüttert und seinen Anzug in eine so schmähliche Unordnung gebracht, daß er kaum aufrecht stehen konnte. Der Herr gab ihm den Arm und geleitete ihn äußerst gefällig bis zum Fernival-Gasthaus. Dumps empfand zum ersten Male in seinem Leben Dankbarkeit und Neigung zur Höflichkeit und schied von dem jungen Mann unter vielen eifrigen Versicherungen, sich ihm höchlich verpflichtet zu fühlen.

»Es gibt doch wenigstens einige Wohlgesinnte in der Welt«, dachte der misanthropische Dumps im Weitergehen.

Als er sich Kitterbells Haus näherte, klopfte dort oben ein Kutscher an, aus dessen Wagen eine alte Dame und ein alter Herr und drei Kopien der alten Dame in rosa Kleidern und Schuhen ausstiegen. »’s ist eine große Gesellschaft«, seufzte der unglückliche Gevatter und wischte sich große Schweißtropfen von der Stirn. Es währte einige Zeit, ehe er sich überwinden konnte, zu klopfen; und als er eingelassen wurde, den geputzten Mietaufwärter und den Hausflur so glänzend erleuchtet sah und das Gesumm vieler Stimmen und die Töne einer Harfe und zweier Violinen sein Ohr trafen, drängte sich ihm sogleich die wehmütige Überzeugung auf, daß seine Vermutungen nur zu wohl begründet wären.

Der kleine Kitterbell schoß unendlich geschäftig aus dem kleinen Hinterstübchen mit einem Korkzieher in der Hand heraus und begrüßte ihn.

»Guter Gott!« rief Dumps aus, als er sich in das Hinterstübchen begab, um seine Schuhe anzuziehen, die er in der Rocktasche mitgebracht hatte, und eine Menge Flaschen und Gläser erblickte; »wie viele Gäste hast du denn oben?«

»O, nicht mehr als fünfunddreißig; und wir werden ein ordentliches warmes Essen haben. Mary hielt es für besser wegen des Redenhaltens und all dem. Aber um des Himmels willen, Onkel, was haben Sie denn? Was haben Sie verloren? Ihre Brieftasche?«

Dumps stand da mit einem Schuh, durchsuchte seine Taschen und schnitt dabei die schrecklichsten Gesichter.

»Nein«, sagte er in Tönen redend, wie Desdemona mit dem Kissen auf dem Munde.

»Ihr Markenkästchen – Ihre Schnupftabaksdose – Ihren Hausschlüssel?« ließ Kitterbell schnell wie Blitze eine weitere Frage auf die andern folgen.

»Nein, nein!« ächzte Dumps, fortwährend seine Taschen durchsuchend.

»Vielleicht – vielleicht den Becher, von dem Sie heute morgen sprachen?«

»Ja, den Becher!« entgegnete Dumps, auf einen Stuhl sinkend.

»Wie konnten Sie aber auch so etwas verlieren?« sagte Kitterbell. »Sind Sie gewiß, daß Sie ihn eingesteckt haben?«

»O weh! jetzt wird mir alles klar!« rief Dumps plötzlich aus. »Ich unglückseliger Mensch – ich bin zur Qual geboren; jetzt ist mir alles klar: es war der elegante, gefällige junge Herr!«

»Mr. Dumps!« schrie mit Stentorstimme der in einen Aufwärter verwandelte Obsthändler, indem er dem ziemlich wieder gefaßten Paten eine halbe Stunde später die Tür des Gesellschaftszimmers öffnete. Aller Augen wendeten sich nach der Tür, und Dumps, der sich so behaglich und an seiner Stelle fühlte wie ein Lachs auf einem Kiesweg, trat ein.

»Freue mich, Sie wiederzusehen«, sagte Mrs. Kitterbell, ohne im mindesten zu ahnen, wie verwirrt und elend der Unglückliche war; »erlauben Sie mir, Sie den Meinigen vorzustellen. Meine Mutter, Mr. Dumps – mein Vater – meine Schwestern.« Dumps ergriff die Hand der Mutter mit so viel Wärme, als wenn die alte Dame seine eigene Mutter gewesen wäre, verbeugte sich vor den jungen Frauenzimmern und gegen einen Herrn hinter ihm, ohne von dem Vater Notiz zu nehmen, der eine Verbeugung nach der andern machte.

»Onkel«, sagte der kleine Kitterbell, nachdem Dumps ein paar Dutzend erlesenen Freunden vorgestellt worden war, »Sie müssen mir vergönnen, daß ich Sie meinem Freunde Danton dort hinten vorstelle. Ein ganz ausgezeichneter Mensch! Ich weiß gewiß, daß er Ihnen gefallen wird – hier, wenn’s beliebt.«

Dumps folgte so langsam wie ein zahmer Bär.

Mr. Danton war ein junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren mit einem beträchtlichen Vorrat von Unverschämtheit und einem sehr kleinen Maß von Verstand und Kenntnissen. Er war besonders bei den jungen Damen von sechzehn bis sechsundzwanzig ausnehmend beliebt, verstand, die Töne des Waldhorns bewundernswürdig nachzuahmen, sang ganz unnachahmlich komische Lieder und konnte seinen Verehrerinnen impertinente Albernheiten und Plattheiten auf die einnehmendste Weise von der Welt sagen. Er hatte, Gott weiß wie, den Ruf erlangt, ein äußerst witziger Kopf zu sein, und natürlich lachten alle, die ihn kannten, sobald er nur den Mund öffnete.

Dumps wurde ihm und er Dumps vorgestellt. Mr. Danton verbeugte sich und drehte ein Damentaschentuch, das er in der Hand hatte, auf eine höchst komische Weise. Jedermann lächelte.

»Sehr warm«, sagte Dumps, der es notwendig erachtete, etwas zu sagen.

»Es war gestern noch wärmer«, bemerkte der witzige Danton, und alle Umstehenden lachten laut.

»Es gewährt mir großes Vergnügen, Ihnen zu Ihrem ersten Auftreten in der Vater- – Gevatterrolle wollte ich sagen – Glück zu wünschen«, fuhr Danton fort.

Die jungen Damen waren in Ekstase, und die Herren wollten sich vor Lachen ausschütten.

Ein allgemeines Bewunderungsgesumm unterbrach das Gespräch. Die Wärterin mit dem Kinde trat herein. Die jungen Damen umringten sie augenblicklich; denn die Mädchen sind in Gesellschaft stets unendlich verliebt in Kinderchen.

»Oh, welch ein liebes Kind!« rief die eine.

»Du süßes Herzchen!« eine zweite.

»Welch ein himmlisches kleines Wesen!« eine dritte im Tone der allerhöchsten Bewunderung und Zärtlichkeit.

»Was für allerliebste kleine Arme« jubelte eine vierte und hielt einen Arm des Kindes empor, der etwa von der Größe und Gestalt eines gerupften Hühnerbeins war.

»Geben Sie ihn mir einmal her, Wärterin«, sagte eine fünfte.

»Kann er schon die Augen öffnen, Wärterin?« fragte eine sechste, die vollkommenste Unschuld spielend.

Mit einem Wort, die unverheirateten Damen erklärten das Kind einstimmig für einen Engel, und die verheirateten gestanden einhellig, daß es das hübscheste sei, das sie je gesehen hätten – ihre eigenen ausgenommen.

Der Tanz wurde wieder begonnen und über Mr. Danton geurteilt, daß er sich selbst übertreffe. Mehrere junge Damen entzückten die Gesellschaft und gewannen sich selbst Bewunderer durch sentimentale Lieder, die sie mit großem Ausdruck sangen. Die jungen Herren »machten sich höchst angenehm«, wie Mrs. Kitterbell sagte; die Mädchen ließen ihre Gelegenheiten nicht unbenutzt vorübergehen, und alles verhieß einen köstlichen und köstlich endenden Abend. Dumps hatte sich jedoch einen Plan – einen kleinen Spaß nach seiner Art ausgedacht und war fast vergnügt. Er spielte einen Rubber und verlor ihn bis auf den letzten Point, was er, wie Mr. Danton sagte, mit Willen getan, indem es sein letzter, sein Ziel-Point, beim Spiel gewesen. Die ganze Gesellschaft lachte. Dumps antwortete durch einen weit besseren Scherz, allein niemand lächelte auch nur, mit Ausnahme des Wirts, der es für seine Pflicht zu halten schien, über alles zu lachen, bis er schwarz im Gesicht war. Nur in einer einzigen Beziehung ging nicht alles, wie es sollte – die Spielleute spielten nicht mit so viel Feuer, wie man es hätte wünschen mögen; indes konnten sie allerdings eine genügende Entschuldigung anführen. Sie hatten nämlich schon den ganzen Tag auf einem Dampfschiff gespielt, das eine muntere Gesellschaft nach Gravesend hin- und zurückgefahren hatte.

Das Souper war ausgesucht. Mrs. Kitterbell hatte vier Zuckertempel auf den Tisch stellen lassen, die sich vortrefflich ausgenommen hätten, wenn sie nicht zusammengeschmolzen wären, ehe sich die Gesellschaft zu Tisch setzte. Ebenso lief das Wasser eines Beckens mit einer allerliebsten Mühle auf das Tischtuch über, statt daß die letztere umlief. Es fehlte nicht an allen möglichen Leckerbissen, nur ein paarmal an reinen Tellern. Mr. Kitterbell rief sich heiser danach, sie kamen dennoch nicht, und die Herren, denen sie fehlten, erklärten, es tue gar nichts, sie wollten ein jeder den Teller einer Dame nehmen. Mrs. Kitterbell belobte sie wegen ihrer Galanterie; der Obsthändler rannte umher, bis ihm seine acht Schillinge sehr sauer verdient vorkamen; die jungen Damen aßen nicht viel, aus Furcht, daß es unromantisch aussehen könnte, und die verheirateten Damen aßen soviel wie möglich, aus Furcht, nicht genug zu bekommen; es wurde viel Wein getrunken, und alle sprachen und lachten nicht wenig.

»Pst, pst!« sagte der kleine Kitterbell aufstehend und mit sehr wichtiger Miene. »Meine Liebe«, rief er seiner Gattin am anderen Ende des Tisches zu, »übernimm es, für Mrs. Marwell und deine Frau Mutter und die übrigen verheirateten Damen zu sorgen; ich bin überzeugt, die Herren werden die jungen Damen bewegen, ihre Gläser zu füllen.«

»Meine Damen und Herren«, begann der lange Dumps mit einer echten Grabstimme und Bußpredigtbetonung, indem er sich wie der Geist im Don Juan erhob, »wollen Sie die Güte haben, Ihre Gläser zu füllen? Ich wünsche sehr, eine Gesundheit auszubringen.«

Es folgte ein tiefes Stillschweigen, die Gläser wurden gefüllt, und man sah nur noch ernsthafte Gesichter.

»Meine Damen und Herren«, fuhr Dumps langsam fort, »ich –«

Hier ahmte Mr. Danton ein paar Takte Waldhornmusik nach, und zwar so durchdringend und natürlich, daß der nervenschwache Dumps wie elektrisiert war und die übrige Gesellschaft ausgelassen lachte.

»Zur Ordnung, zur Ordnung!« rief der kleine Kitterbell, indem er seine Lachlust zu bemeistern suchte.

»Zur Ordnung!« riefen die Herren.

»Danton, seien Sie ruhig«, herrschte ein engerer Bekannter den Frevler an, ohne sein Lachen ganz unterdrücken zu können.

Dumps faßte sich sehr bald wieder, zumal er nur wenig außer Fassung gekommen, denn er war ein ziemlich guter Redner, und hub noch einmal an. »Meine Damen und Herren, ich habe es mir erlaubt, aufzustehen, um Ihnen eine Gesundheit vorzuschlagen, da dergleichen meines Wissens Gebrauch bei Taufschmäusen ist und ich einer der Paten Master Frederick Charles William Kitterbells bin.« (Seine Stimme bebte bei diesen Worten, denn er erinnerte sich des Bechers.) »Ich brauche kaum zu sagen, daß mein Vorschlag dahin geht, auf das Wohlsein und Gedeihen des jungen Herrleins zu trinken, zu dessen Ehren wir hier versammelt sind. (Beifall.) Meine Damen und Herren, wir können unmöglich annehmen, daß seine Eltern, deren aufrichtige Freundinnen und Freunde wir alle sind, ihre Lebensbahn zurücklegen werden, ohne ihre Leidenskraft auf schwere Proben gestellt zu sehen, ohne manch großes Leid, viel herben Kummer, ohne Verluste zu erleiden!«

Hier hielt der arglistige, schalkhafte Dumps inne, zog langsam und bedächtig ein großes, weißes Tuch aus der Tasche, und mehrere Damen folgten seinem Beispiele.

»Daß sie lange damit verschont bleiben mögen, ist mein inbrünstiges Flehen, mein heißester Wunsch.« (Die Großmutter begann hier vernehmlich zu schluchzen.) »Ich hoffe und vertraue, meine Damen und Herren, daß das liebe Kind, dessen Tauffeier uns zusammengeführt hat, seinen liebenden Eltern nicht durch einen frühen Tod entrissen, daß seine jetzt scheinbar gute Gesundheit nicht durch ein langsames Siechtum zerstört werden möge.« (Dumps blickte sardonisch umher, denn er sah, daß er beträchtlichen Eindruck bei den verheirateten Damen hervorgebracht hatte.) »Ich weiß, daß Sie meinen Wunsch teilen, daß es leben möge zur Freude und zum Trost seines Vaters und seiner Mutter.« (Hier rief Mr. Kitterbell: »hört, hört!« und schluchzte gerührt.) »Doch sollte der Knabe nicht so werden, wie wir es von ihm wünschen – sollte er dereinst vergessen, was er seinen zärtlichen Eltern schuldig ist und verdankt – sollten sie so unglücklich sein, an ihm zu erfahren, wie traurig wahr es ist, daß ›ein undankbarer Sohn schlimmer ist als der Zahn einer giftigen Schlange‹–«

Hier stürzte Mrs. Kitterbell mit dem Tuche vor den Augen und von mehreren Damen begleitet hinaus und sank im Vorzimmer in heftigen Krämpfen zu Boden; ihr Gatte war fast in demselben Zustande, und Dumps hatte sich großen Beifall erworben, denn wie es auch sei, man läßt sich gern rühren.

Kaum braucht indes hinzugefügt zu werden, daß Onkel Dumps‘ Rede den Freuden des Abends ein Ende machte. Weinessig, Hirschhorn und kaltes Wasser waren urplötzlich so sehr an der Tagesordnung, wie es kurz zuvor Glühwein und Backwerk gewesen waren. Man brachte Mrs. Kitterbell in ihr Schlafgemach, die Spielleute wurden verabschiedet, aller Scherz wie alles Lachen und Schäkern hörten auf, und die Gesellschaft entfernte sich in aller Stille. Dumps entfernte sich zuerst und ging leichten Schrittes und mit einem (für ihn) fröhlichen – Herzen nach Hause. Seine Hauswirtin will ihn auf eine eigentümliche Weise lachen gehört haben, sobald er seine Tür hinter sich verschlossen hatte; eine Behauptung, die jedoch zu unwahrscheinlich ist, als daß man ihr Glauben schenken könnte.

Kitterbells Familie hat sich seit der Zeit sehr vermehrt; er erfreut sich jetzt zweier Knaben und eines Mädchens und sieht sich, da er seine Kinderzahl binnen kurzem abermals vergrößert zu sehen erwartet, nach einem passenden Taufpaten um. Er ist jedoch entschlossen, ihm zwei Bedingungen zu stellen. Der Taufpate soll sich erstlich feierlich verpflichten, durchaus keine Rede beim Nachtisch zu halten, und zweitens auf keinerlei Weise mit »dem unglücklichsten Manne von der Welt« in Verbindung stehen zu dürfen.

Ende

Unser Kirchspiel


Unser Kirchspiel

Der Kirchspieldiener – Die Feuerspritze – Der Schulmeister

Wieviel sagen die kurzen Worte: »Das Kirchspiel!« und an wieviel Kummer und Elend, entschwundenes Glück und vereitelte Hoffnungen, nur zu oft ungemilderte Leiden, nur zu oft erfolgreiche Büberei erinnern sie! Ein armer Mann bringt es, bei geringem Verdienst und einer großen Familie, gerade so weit, aus der Hand in den Mund und aus einem Tage in den andern zu leben; nur mit Mühe gelingt es ihm, den Bedürfnissen des Augenblicks zuvorzukommen – an die Zukunft kann er nicht denken.

Er bleibt mit seinen Steuern ein, zwei, drei Vierteljahre im Rückstand; er wird vor das Kirchspiel geladen. Seine Habseligkeiten werden verkauft, seine Kinder weinen vor Hunger und Kälte, selbst das Bett wird ihm genommen, in dem sein krankes Weib liegt. Was kann er anfangen? Wohin soll er sich um Hilfe wenden? An die Wohltätigkeit der Privaten? An menschenfreundliche Individuen? Beileibe nicht – wofür wäre sein Kirchspiel?

Da sind der Kirchspielvorstand, das Kirchspielkrankenhaus, der Kirchspielarzt, die Kirchspielbeamten, der Kirchspielbote. Treffliche Einrichtungen und edle, gutherzige Leute! Die Frau stirbt – sie wird auf Kosten des Kirchspiels begraben. Die Kinder sind ohne Versorger – das Kirchspiel übernimmt die Fürsorge für sie. Der Vater vernachlässigt zuerst sein Geschäft und kann späterhin keine Arbeit mehr bekommen – das Kirchspiel unterstützt ihn; und ist er endlich durch Elend und Trunkenheit gänzlich zugrunde gegangen, so nimmt ihn das Kirchspielirrenhaus als einen harmlosen, unglücklichen Blödsinnigen auf.

Der Kirchspieldiener oder Bote ist eins der wichtigsten, vielleicht überhaupt das allerwichtigste Mitglied der Gemeindeverwaltung. Er steht sich freilich weder so gut wie der Kirchenvorsteher noch ist er so gelehrt wie der Kirchspielschreiber; besitzt auch nicht so viel Macht und eigenen Willen als jene beiden: allein, seine Gewalt ist demungeachtet sehr bedeutend, und der Würde seines Amtes geschieht niemals Abbruch durch Mangel an Bemühungen von seiner Seite, sie aufrechtzuerhalten. Der Bote unseres Kirchspiels ist ein unvergleichlicher Mensch. Es ist ein wahrer Genuß, ihn reden zu hören, wenn er an Sitzungsabenden im Vorsaal des Sitzungshauses den tauben alten Frauen die gegenwärtig bestehenden Armengesetze erklärt; von ihm zu hören, was er zu dem Kirchenältesten, und was der Kirchenälteste zu ihm sagte, und was »wir« (der Kirchspielbote und die anderen Herren) zuletzt beschlossen. Ein zerlumptes, verhungertes Weib wird in das Sitzungszimmer gerufen und stellt ihre gänzliche Armut und große Hilfsbedürftigkeit vor. Sie ist eine Witwe mit sechs kleinen Kindern.

»Wo wohnt Ihr?« fragt einer der Armenpfleger.

»Ich habe mich in einem Hinterstübchen in der kleinen König-Wilhelms-Gasse Nr. 3 bei Mrs. Brown eingemietet, die dort seit fünfzehn Jahren wohnt und mich sehr genau kennt als eine stets fleißige Frau. Und als mein seliger Mann noch lebte, meine Herren, der im Hospital starb –«

»Schon gut, schon gut«, unterbricht sie der Armenpfleger, der sich ihre Hausnummer aufgeschrieben hat, »ich werde morgen früh Simmons, den Kirchspieldiener, schicken. Er soll nachsehen, ob Eure Angaben begründet sind, und wenn es der Fall ist, so werden wir Euch wohl in das Armenhaus aufnehmen müssen. Simmons, gehen Sie morgen so früh wie möglich zu dieser Frau.«

Simmons verbeugt sich und führt die Frau hinaus. Ihre Ehrfurcht vor dem Armen-Kollegium (dessen Mitglieder mit den Hüten auf dem Kopf hinter großen Büchern dasitzen) verschwindet gänzlich in ihrer Unterwürfigkeit vor ihrem Führer im Amtsrock; und ihre Erzählung von dem, was sich im Sitzungszimmer zugetragen hat, erhöht womöglich noch den tiefen Respekt, den die versammelte Menge der Armen dem gestrengen Herrn Kirchspielboten erweist.

Wer richtet einen Auftrag im Namen des Kirchspiels wie Simmons aus? Er weiß sämtliche Titel des Bürgermeisters aus dem Kopf und trägt die Sache vor, ohne auch nur ein einziges Mal anzustoßen; ja, es geht ein Gerücht, daß er dabei einst einen Scherz gemacht habe, der fast einem der Späße Mr. Hoblers gleichgekommen sei, wie der erste Bediente des Bürgermeisters, der zufällig gegenwärtig gewesen, nachher einem Freund im Vertrauen gesagt hat.

Oder man sehe ihn sonntags in seinem Staatskleid mit seinem dreieckigen Hut auf dem Kopf, einem Stab mit mächtigem Knauf zur Schau in der Linken und einem dünnen Rohr zum Gebrauch in der Rechten. Mit welcher Würde weist er die Kinder an ihre Plätze, und mit welch heiliger Scheu schielen ihn die kleinen Buben von der Seite an, wenn er die Schar, sobald alle sitzen, mit einem den Kirchspieldienern eigentümlichen Starr- und Autoritätsblick überschaut. Befinden sich die Kirchenvorsteher und Armenpfleger in ihren mit Gardinen versehenen Kirchstühlen, so nimmt er auf einem ganz oben im Kirchgang ausdrücklich für ihn bestimmten Mahagonisitz Platz und teilt seine Aufmerksamkeit zwischen dem Gebetbuch und den Knaben. Plötzlich – und gerade beim Anfang der Abendmahlsliturgie, wenn die ganze Gemeinde das tiefste Stillschweigen bewahrt, das nur durch die Stimme des Geistlichen unterbrochen wird –, plötzlich hört man mit erstaunlicher Vernehmlichkeit, da, wo die Kinder sitzen, einen Penny auf das steinerne Pflaster im Kirchgang fallen. Beachtet jetzt wohl Simmons‘ Schlauheit und Geistesgegenwart!

Seine unwillkürliche Miene des Schauders weicht augenblicklich dem Ausdruck vollkommenster Gleichgültigkeit, als ob er ganz allein das Geräusch nicht gehört hätte. Die Kriegslist gelingt. Der Ärmste, der das Geldstück hat fallen lassen, fühlt mit dem rechten und linken Fuß und bückt sich ein paarmal danach; der Kirchspieldiener hat sich inzwischen leise in seine Nähe geschlichen und begrüßt seinen Kopf, wenn er wieder emportaucht, mehrmals sehr unsanft mit seinem oben erwähnten Rohr, zum großen Vergnügen einiger junger Leute im nächsten Kirchstuhl, die noch lange ihre Heiterkeit durch Husten zu unterdrücken suchen.

Dies sind einige Züge der Würde und Wichtigkeit eines Kirchspieldieners – einer Würde, die wir ihn nie aufgeben sahen, den einzigen Fall ausgenommen, wenn eine Feuerspritze nötig wurde, dann ist freilich alles rührig, geschäftig, beflissen. Ein paar kleine Knaben laufen, so schnell sie’s vermögen, zum Kirchspieldiener und melden ihm, daß sie einen Rauchfang hätten brennen sehen. In größter Eile wird die Feuerspritze herausgebracht; zwanzig Buben sind versammelt; sie spannen sich vor; fort rasselt die Spritze über das Pflaster, und der Kirchspieldiener rennt atemlos nebenher, bis man vor einem stark nach Ruß riechenden Hause anlangt.

Der Kirchspieldiener klopft eine halbe Stunde mit Macht, allein die Hausbewohner nehmen keine Notiz davon, die Spritze wird nach dem Werkhaus zurückgebracht, und der Kirchspieldiener fordert am andern Tag von dem Unglücklichen, dem er zu Hilfe geeilt war, die ihm gesetzlich zukommende Belohnung. Wir haben nur ein einziges Mal eine Kirchspielfeuerspritze bei einer wirklichen Feuersbrunst gesehen. Sie rasselte mit der Schnelligkeit von drei und einer halben Meile in der Stunde heran. Wasser in genügender Menge war schon früher angekommen. Die Pumpen wurden in Bewegung gesetzt – das Volk schrie – der Kirchspieldiener schwitzte entsetzlich; allein, als man das Feuer zu löschen gedachte, wurde zum großen Unglück die Entdeckung gemacht, daß sich niemand auf das Füllen verstand und daß achtzehn Knaben und ein Mann zwanzig Minuten gepumpt und sich fast tot gepumpt hatten, ohne auch nur die mindeste Wirkung zu erzielen.

Die wichtigsten Personen nach dem Kirchspieldiener sind der Werkhausmeister und der Kirchspiellehrer. Der Küster, wie jedermann weiß, ist ein kleines, gedrücktes Männchen in Schwarz, mit einer dicken, sehr langen Uhrkette, an der zwei große Petschafte und ein Uhrschlüssel baumeln. Er ist stets geschäftig, doch niemals mehr, als wenn er, mit den zusammengeknüllten Handschuhen in der einen Hand und einem großen roten Buch unter dem anderen Arm, in eine Kirchspielversammlung eilt. Von den Kirchenvorstehern und Aufsehern reden wir nicht weiter; denn wir alle wissen von ihnen, daß sie achtbare Gewerbsleute sind, Hüte mit flachen Rändern tragen, und bisweilen, den wichtigen Umstand, daß sie eine Emporkirche vergrößert oder ausgeschmückt oder eine Orgel neu gebaut haben, durch goldene Buchstaben auf blauem Grund an solchen Stellen in der Kirche verewigen, wo die Inschriften am meisten in das Auge fallen.

Der Werkhausmeister in unserm Kirchspiel – wie in den meisten andern – gehört nicht zu der Klasse von Menschen, die bessere Tage gesehen haben und sich in ihrer späteren niedrigeren Stellung gedemütigt und unzufrieden fühlen. Wir wissen nicht, was er früher gewesen ist, sollten aber meinen, ein Advokatenschreiber geringerer Sorte oder ein Unterlehrer. Doch gleichviel, es ist klar, daß sich seine Lage verbessert hat. Freilich ist sein Einkommen gering, wie sein schwarz gewesener Rock mit abgetragenem Samtkragen bezeugt; allein, er hat doch freie Wohnung, Heizung und Licht und eine fast unbeschränkte Autorität in seinem winzigen Königreich.

Er ist ein großer, hagerer, knochiger Mann, trägt immer einen Überrock, Schuhe und schwarze wollene Strümpfe und blickt die vor seinem Fenster Vorübergehenden an, als ob er wünschte, daß sie Kirchspielarme sein möchten, nur um sie ein Pröbchen seiner Gewalt fühlen zu lassen. Er ist das wahre Muster eines kleinen Tyrannen; mürrisch, brutal und übellaunig, bramarbasierend gegen die unter ihm Stehenden, kriechend gegen seine Vorgesetzten und eifersüchtig auf den Einfluß und die Autorität des Kirchspieldieners.

Unser Schulmeister ist der wahre Gegensatz dieses liebenswürdigen Beamten. Er gehört zu den Menschen, die vom Mißgeschick wahrhaft verfolgt zu werden scheinen; nie ist ihm etwas geglückt. Ein reicher alter Anverwandter von ihm, der ihn erzog, versprach und vermachte ihm in seinem Testament 10 000 Pfund und widerrief die Verfügung in einem Zusatz. Auf seine persönlichen Hilfsmittel beschränkt, verschaffte er sich eine Stelle in einem Büro. Die jüngeren Schreiber, die er hinter sich hatte, starben wie die Fliegen, als wenn die Pest unter ihnen gewütet hätte, die älteren vor ihm, auf deren Tod er so sehnsüchtig hoffte, lebten fort, als wenn sie unsterblich wären. Er ließ sich in eine Spekulation ein und kam um sein Geld. Er spekulierte zum zweitenmal, machte einen bedeutenden Gewinn und – gelangte nie zu seinem Geld.

Er besaß bedeutende Anlagen, war gefällig, großmütig und freigebig. Seine Freunde benutzten die ersteren und trieben Mißbrauch mit seiner Dienstfertigkeit und Freigebigkeit. Ein Verlust folgte dem andern, ein Unglück dem andern, jeder Tag brachte ihn dem Abgrund hoffnungsloser Verarmung näher, und gerade seine wärmsten Freunde wurden am kältesten und gleichgültigsten. Er hatte Kinder, die er liebte, und eine Gattin, die er anbetete. Jene wendeten ihm den Rücken, diese starb gebrochenen Herzens. Er ließ sich von dem Strom fortstrudeln – dies war von jeher seine Schwäche gewesen, und er besaß nie Kraft und Mut genug, sich bei so vielen Schicksalsschlägen aufrecht zu halten –, er hatte nie für sich selber gesorgt, und die einzige, die in seinem Elend für ihn gesorgt hatte, war ihm entrissen.

Er kam um die Unterstützung des Kirchspiels ein. Zufällig war ein gutherziger Mann, der ihn in besseren Zeiten gekannt hatte, in dem Jahr Kirchenvorsteher und verschaffte ihm durch seinen Einfluß die Lehrerstelle, die er gegenwärtig innehat. Er ist ein alter Mann geworden. Von seinen vielen Maulfreunden aus besseren Tagen sind einige gestorben, einige, wie er selbst, vom Unglück, andere vom Glück heimgesucht – vergessen haben ihn alle. Zeit und Leid haben sein Gedächtnis wohltätig geschwächt, und Gewohnheit hat ihm seine Lage erträglich gemacht. Weil er so sanftmütig ist, niemals klagt und stets so eifrig seines Amtes waltet, hat man ihm das letztere lange über die gewöhnliche Zeit hinaus gelassen, und er wird es ohne Zweifel behalten, bis das Alter ihn vollkommen unfähig macht, es weiterhin zu versehen, oder der Tod ihn davon erlöst. Wenn der grauhaarige alte Mann zwischen den Schulstunden an der Sonnenseite seines kleinen Hofraums mit wankenden Schritten auf und nieder geht, dann würde es seinen vormaligen Freunden, selbst den vertrautesten, schwer werden, in dem armen Kirchspielschulmeister den einst so munteren Gefährten bei ihren Lustbarkeiten wiederzuerkennen.

Der Strom


Der Strom

»Lieben Sie das Wasser?« ist eine Frage, die man in den heißen Sommertagen sehr häufig von amphibisch aussehenden jungen Leuten hört. »Sehr«, pflegt die Antwort zu sein. »Und Sie?« – »Kann mich kaum davon trennen«, lautet die von verschiedenen, des Sprechers tiefgefühlte Bewunderung für das Element ausdrückenden Beiwörtern begleitete Antwort.

Allein, mit allem Respekt vor der Meinung der Gesellschaft im allgemeinen und der Segelklubs im besonderen, möchten wir doch bescheidentlich daran erinnern, daß einige der schmerzlichsten Erinnerungen aller, die sich bisweilen auf der Themse ergötzt haben, ohne Frage mit den Vergnügungen dieser Art verknüpft sind. Wer hat je von einer gut ausgefallenen Wasserpartie gehört – jemals eine bis zum Ende glückliche Wassergesellschaft gesehen? Wir haben an Wasserfahrten ohne Zahl teilgenommen, versichern aber feierlich, daß wir uns keiner einzigen zu entsinnen vermögen, die nicht von mehr Leiden begleitet gewesen wäre, als irgend jemand binnen acht oder neun Stunden für möglich halten würde. Etwas ging immer verkehrt. Entweder verlor sich der Kork für die Salatsoßenflasche, oder das am sehnsüchtigsten erwartete Mitglied der Gesellschaft blieb aus, oder der unangenehmste Mensch in der Gesellschaft erschien wider Erwarten, oder es fielen ein paar Kinder ins Wasser, oder der Herr, der das Steuern übernahm, gefährdete auf der ganzen Exkursion das Leben jedermanns, oder die Herren, die sich zum Rudern erboten hatten, waren »außer Übung« und vollbrachten höchst beunruhigende Schwankungen, indem sie entweder die Ruder in das Wasser senkten und nicht imstande waren, sie wieder herauszubringen, oder indem sie aus Leibeskräften anzogen, ohne sie überhaupt hineinzubringen, und in beiden Fällen mit schrecklicher Heftigkeit hintenüberstürzten und den Nichtrudernden die Sohlen ihrer Schuhe auf eine sehr demütigende Weise zeigten.

Wir räumen ein, daß die Themseufer bei Richmond, Twickenham und anderen entfernten, oft gesuchten, aber selten erreichten Hafenorten sehr schön sind; allein vom Red-House bis zurück nach der Blackfriarsbrücke ändert sich die Szene gar bedauerlich. Das Korrektionshaus ist ohne Zweifel ein sehr schönes Gebäude, und die muntere, an schönen Sommerabenden dort badende Jugend mag sich von fern sehr gut ausnehmen: aber wenn ihr auf der Heimkehr genötigt seid, euch am Ufer zu halten, und wenn die jungen Damen erröten und beharrlich nach der anderen Seite schauen, während die verheirateten, halbunterdrückt husten und unverwandten Blicks in das Wasser sehen, so fühlt ihr euch sicher ziemlich verlegen – besonders wenn ihr etwa während der vorhergehenden paar Stunden eine leise Annäherung an das Sentimentale versucht habt.

Obwohl betrübende Erfahrung bei uns zu dem soeben angegebenen Erlebnis geführt hat, wollen wir keineswegs leugnen, daß die Themse- Schiffahrts-Dilettanten dem Zuschauer viel Spaß machen können. Was wäre ergötzlicher als Searles Yard an einem schönen Sonntagmorgen? Es gilt einer Fahrt nach Richmond, und einige Dutzend Boote werden zur Aufnahme der Gesellschaften, die sie bestellt haben, hergerichtet. Zwei oder drei Burschen in weiten, groben Beinkleidern und Guernseyhemden treffen die erforderlichen Vorkehrungen, kurze Stationen machend, indem sie jetzt mit einem Paar Ruder und einem Kissen im Yard herunterkommen, dann ein paar Worte mit dem »Jack« plaudern, der gleich seiner ganzen Zunft vollkommen unfähig zu sein scheint, etwas anderes zu tun, als umherzulungern, dann wieder fortgehen und mit einem Ruder und einem Fußstocke zurückkehren, dann sich abermals durch ein kleines Geplauder erquicken und sich endlich, die Hände in die geräumigen Taschen gesenkt, hinstellen und sagen, daß sie doch wissen möchten, »wo die Herrschaften wohl bleiben dürften, die die sechs bestellt haben«. Einer von diesen, der Bootsmeister, der die Beinkleider sorgfältig aufgekrempelt hat, wahrscheinlich, um dem Wasser freien Zugang zu verschaffen – denn das Wasser ist ein Element, in dem er weit mehr zu Hause ist als auf dem Lande –, der Bootsmeister, sagen wir, ist ein wahrhaftiges Original und teilt mit dem verstorbenen Austernesser den berühmten Namen »Dando«. Schaut ihn, wie er sich zu einer kurzen Erholung von seinen Mühen auf den Rand eines Boots setzt und seine breite, haarige Brust mit einer kaum halb so rauhen Pelzkappe fächelt. Seht seinen prachtvollen, wenn auch rötlichen Knebelbart, und bemerkt den angeborenen Humor, womit er die Jungen und Lehrlinge schilt oder den Herrschaften eine Kleinigkeit für ein Glas Branntwein ablistet, wovon er, unserer Überzeugung nach, in einem Tage mehr hinuntergießt als sechs gewöhnliche Männer, ohne daß es ihn auch nur im mindesten anficht.

Doch die Gesellschaft langt an, und Dando, befreit von seiner Ungewißheit, springt auf, um Hand anzulegen. Die Herrschaften erscheinen im vollständigen Wasserkostüm, in kurzen blauen Jacken, gestreiften Hemden, und mit Mützen von allen Größen und Gestalten.

Dies ist der ergötzlichste Zeitpunkt, eine Wasserpartiegesellschaft von Londoner Spießbürgern zu beobachten. Offenbar haben sich alle bis zu diesem Augenblicke in einem beträchtlichen Maße ihrer Schifffahrtskunde gerühmt; der Anblick des Wassers kühlt ihren Mut rasch ab, und die Selbstverleugnung, womit einer wie alle schlechterdings den anderen die Ruder überlassen wollen, ist wirklich zum Entzücken. Dem einen ist dieses, dem andern jenes Ruder nicht recht; der eine kann nicht an dieser, ein zweiter nicht an jener Seite und ein dritter überhaupt nicht rudern. Indes gelangt man endlich zum Sitzen, und der Bootsmeister gibt das Signal zum Abstoßen, und sieht dabei so ruhig und behaglich aus, als ob er in die Bay von Biscaya steuerte. Die Rudermannschaft leistet dem Befehl Gehorsam, das Boot ist im Nu vollkommen herumgedreht und nimmt unter dem schrecklichsten Platschen und Schwanken die Richtung nach der Westminsterbrücke. »Anders rum, Sir«, schreit Dando, »Sie da hinten, Sir, anders rum!« worauf jeder der Herr da hinten zu sein glaubt, alle verkehrt anziehen und das Boot mit dem Hinterteile zuerst auf dem Flecke wieder anlangt, von dem es abstieß. »Sie, Sir, da hinten, anders rum; können Sie nicht rumrudern, Sie da vorn?« ruft Dando ganz außer sich. »So zieh doch herum, Tom!« ruft ein Mitglied der Gesellschaft. »Tom ist ja nicht vorn«, ruft ein anderes; »das ist er allerdings«, ein drittes: und der unglückliche junge Mensch zieht und zieht auf die offenbarste Gefahr hin, ein Blutgefäß zu zersprengen, bis endlich das Vorderteil des Boots gehörig nach der Vauxhallbrücke gerichtet ist. »So ist’s recht – jetzt angezogen alle miteinander!« schreit Dando abermals, und fügt leise zu dem neben ihm Sitzenden hinzu: »Will verdammt sein, wenn ich mein Lebtag solch ’n Boot voll Dummköpfe gesehen habe!« und das Boot gleitet im Zickzack vorwärts, weil alle sechs Ruder zu verschiedenen Zeiten eingesetzt werden, und das Yard ist abermals verlassen bis zur Ankunft einer anderen Gesellschaft.

Ein gut ausgeführter Ruderwettkampf auf der Themse ist ein äußerst lebensvolles und anziehendes Schauspiel. Der Strom ist mit Booten jeder Art bedeckt – Plätze auf den Kohlenschiffen in den verschiedenen Schiffswerften sind an unzählige Zuschauer vermietet – an Bier und Tabak ist allerorten Überfluß – Männer, Weiber und Kinder horchen in atemloser Erwartung auf das Zeichen zur Abfahrt – Kutter von sechs bis acht Rudern gleiten auf und ab, bereit, ihre Günstlinge beim Wettrudern zu begleiten – Musikchöre tragen zur Belebung, wenn auch nicht zur Harmonie der Szene bei – auf den Flußtreppen sind Haufen von Fährmännern versammelt und stellen Vergleichungen zwischen den Vorzügen der verschiedenen Preisbewerber an – und die Preisjolle wird mit einem Paar kurzen Rudern als ein Gegenstand allgemeinen Interesses umhergerudert. Es schlägt zwei Uhr, und jedermann blickt sehnsüchtig nach der Brücke hin, durch deren Bogen die Wettruderer kommen werden – halb drei, und die allgemeine, so lange angespannt gewesene Aufmerksamkeit fängt an nachzulassen, als plötzlich ein Kanonenschuß und ein fernes Hurra vom Stromufer her vernommen wird. Alle Köpfe werden vorgebeugt – der Lärm kommt näher und näher – die Boote, die an der Brücke warteten, eilen rasch stromaufwärts – ein wohlbemanntes Ruderboot schießt durch den Bogen, und die darin Sitzenden rufen ermunternd den noch nicht Sichtbaren zu. »Da kommen sie!« ist das allgemeine Geschrei – und es zeigt sich das erste Boot, dessen Ruderer sich bis auf die Haut entkleidet haben und alle Kräfte aufbieten, den genommenen Vorsprung zu behaupten – vier andere folgen dicht hinter ihm – das Rufen und Schreien ist erschütternd und die Spannung auf dem höchsten Punkte. »Vorwärts, Rosa« – »Wacker gerudert, Rot« – »Sullivan für immer« – »Bravo, George« – »Jetzt, Tom, jetzt – warum zieht dein Nebenmann nicht an?« – »Zwei Quart gegen eins auf Gelb«, usw. usw. Jedes kleine Gasthaus brennt sein Geschütz ab und steckt seine Flagge auf, und die Gewinner steigen unter einem Platschen und Schreien, einem Getümmel und einer Verwirrung an das Land, wovon man sich nicht leicht eine Vorstellung machen kann, wenn man dem Schauspiele nicht beigewohnt hat, und wovon auch jede Beschreibung nur eine schwache Vorstellung geben würde.

Einer der unterhaltendsten Plätze von allen, die wir kennen, ist die Dampfbootwerft der Londoner Brücke oder der Katharinen-Dock-Gesellschaft an einem Sonnabendmorgen im Sommer, wo die Gravesend- und Margate-Dampfboote bis zum Übermaß gefüllt zu sein pflegen; und da wir soeben einen Blick auf den Strom oberhalb der Brücke geworfen haben, so hoffen wir, daß unsere Leser sich nicht weigern werden, uns an Bord eines Gravesend-Paket-Boots zu begleiten. Jeden Augenblick treffen Kutschen vor dem Eingange der Werften ein, und unsäglich lächerlich ist es, wie verwirrt und betäubt die darin Angekommenen sich und ihr Gepäck in die Hände der Träger hingeben, die sich, als wenn es sich von selbst verstände, sofort sämtlicher Packereien bemächtigen und damit fortlaufen, der Himmel mag wissen, wohin. Neben der Werft liegt ein Margateboot, und neben diesem das zuerst abfahrende Gravesendboot, und die Verwirrung wird dadurch nicht vermindert, daß man vom einen auf das andere auf einer durch eine Planke und ein Geländer gebildeten zeitweiligen Brücke gelangen kann.

»Gravesend?« fragt ein starker Herr mit Frau, Kindern und Dienerschaft, nachdem er die Gefahr glücklich überwunden, ein paar der Seinigen im Gedränge zu verlieren. »Gravesend?« – »Belieben Sie, ’nüber zu gehen, Sir – das andere Boot, Sir!« Die Familie begibt sich in das Margateboot, schätzt sich glücklich, bequeme Sitze zu finden, und der Vater entfernt sich, um nach dem Gepäck zu sehen, das er eine schwache Erinnerung hat, jemand gegeben zu haben, der es irgendwohin getragen hat. Es ist nirgends zu finden; er ruft laut nach dem Kapitän und trägt ihm seinen Fall in Gegenwart eines anderen Familienvaters vor – eines kleinen, schmächtigen Mannes, der ihm (dem starken Vater) vollkommen darin beipflichtet, daß es hohe Zeit sei, daß etwas geschehe mit diesen Dampfschiffgesellschaften, und zwar von andern Seiten, wenn es von Seiten der Korporationsbill unterbleibe; denn das Publikum dürfe nicht auf eine solche Weise um sein Eigentum gebracht werden, und wenn er sein Gepäck nicht ohne Verzug zurückerhalte, so werde er es in den Blättern bekanntmachen, denn die Nation dürfe nicht das Opfer dieser großen Monopole sein. Der Kapitän erwidert darauf, daß die Gesellschaft, solange sie die St.-Katharinen-Dockgesellschaft gewesen sei, Leben und Eigentum beschützt habe, daß er sich freilich, wenn es die Londoner-Brücken-Werftgesellschaft gewesen wäre, nicht gewundert haben würde, angesichts der Moralität der Gesellschaft, die allerdings auf schwachen Füßen stehe; so aber hege er die Überzeugung, daß eine Irrung obwalten müsse, und würde sich nicht bedenken, einen heiligen Eid vor einem Friedensrichter darauf abzulegen, daß der Herr sein Gepäck finden werde, bevor er nach Margate gelange. Jetzt klärt sich »die Irrung« auf, der starke Vater eilt hastig mit den Seinigen zurück auf das Gravesendboot, und findet richtig sein Gepäck, aber keinen bequemen Sitz mehr. Gleich darauf wird die Glocke des Gravesendboots furios geläutet, einige Dutzend Menschen stürzen in größter Hast hinaus und einige andere Dutzend ebenso hastig hinein. Das Geläut hört auf, das Boot fährt ab: Leute, die an Bord von ihren Freunden Abschied genommen haben, fahren wider Willen mit ab – und Passagiere, die am Ufer von ihren Freunden Abschied nehmen, finden, daß sie sich die Mühe und Rührung sehr wohl hätten sparen können, da sie sich genötigt sehen, zu bleiben, wo sie sind. Die Passagiere, die für die Season abonniert haben, gehen zum Frühstück hinunter; andere haben Morgenblätter gekauft und setzen sich zum Lesen zurecht; und wieder andere, die noch keine Stromfahrt mitgemacht haben, denken, die Schiffe und das Wasser nähmen sich aus der Ferne doch ein gutes Teil besser aus.

Wenn wir bis Blackwell gekommen sind und schneller zu fahren anfangen, scheinen die Passagiere in demselben Maße aufgeweckter zu werden. Alte Frauen, die große Handkörbe mitgebracht haben, begeben sich ernstlich ans Demolieren gewaltiger Fleischbutterschnitten und lassen ein Weinglas herumgehen, das häufig aus einer platten, einem Magenwärmer gleichenden Flasche mit großer Heiterkeit wieder gefüllt wird. Sie reichen es auch dem Gentleman, der die Harfe spielt – teils, um ihre Zufriedenheit mit seinen bisherigen Leistungen zu erkennen zu geben und andernteils, damit er Alicks Lieblingstanz spiele. Er tut es, und Alick, ein schwerfälliges, plumpes Kind in roten, wollenen Socken, macht zur unaussprechlichen Bewunderung des ganzen Familienkreises eine Anzahl merkwürdiger Sprünge auf dem Verdeck. Mädchen, die den ersten Band eines neuen Romans im Strickbeutel mitgebracht haben, werden ausnehmend elegisch und verbreiten sich gegen Mr. Brown oder den jungen Mr. O’Brian über die Bläue des Himmels oder den Spiegelglanz des Wassers; und Mr. Brown oder Mr. O’Brian bemerkt dann mit leiser Stimme, er sei seit einiger Zeit gegen die Schönheiten der Natur vollkommen unempfindlich gewesen, denn alle seine Gedanken und Wünsche hätten sich in einem einzigen Gegenstand konzentriert; worauf die junge Dame emporblickt und, weil es ihr mißlingt, unbefangen auszusehen, wieder niederblickt, und das nächste Blatt mit großer Langsamkeit umwendet, in der Absicht, Gelegenheit zu einem verlängerten Händedruck zu geben.

Ferngläser, Butterschnitten und Branntwein mit Wasser ohne Zucker sind Dinge, die anfangen, stark begehrt zu werden, und schüchterne Leute, die durch die Luke hinunter nach der Dampfmaschine geschaut haben, finden zu ihrer großen Herzenserleichterung einen Gegenstand, über den sie miteinander reden können. »Etwas sehr Wundervolles, der Dampf, Sir.« – »Ah, sehr wahr, Sir.« – »Gewaltige Kraft, Sir.« – »Unermeßlich, unermeßlich!« – »Durch den Dampf wird erstaunlich viel ausgerichtet, Sir!« – »Ah, das kann man wohl sagen, Sir!« – Das alles wird mit äußerst wichtigen Mienen gesprochen und ist in der Regel neben anderen ähnlichen ungewöhnlichen Bemerkungen, der Anfang einer Unterhaltung, die bis zur Beendigung der Reise fortgesetzt wird; letztere ist nicht lang, weder auf dem Wasser noch, wie wir hoffen, auf dem Papier. Ist sie uns langweilig vorgekommen, so kehrt unsere gute Laune im Augenblick des Landens zurück; und sollte unsere Beschreibung von ihr unglücklicherweise unsere gütigen Freunde gelangweilt haben, so trösten wir uns damit, daß sie sie vergessen werden – sobald sie den Strom verlassen.

Sechstes Kapitel


Sechstes Kapitel

In dem der im vorigen Kapitel erwähnte Unfall einigen Herren Gelegenheit gibt, sich Geschichten zu erzählen.

»O ha!« rief der Schaffner, der in einem Augenblick wieder auf den Beinen war und zu den Vorderpferden des Zuges eilte. »Ist kein Herr da, der hier Hand anlegen kann? Ruhig, ihr verwünschten Bestien. O ha!«

»Was gibt’s?« fragte Nicolaus, schlaftrunken aufsehend.

»Was es gibt? Es gibt genug für eine Nacht«, versetzte der Schaffner. »Der Henker hole die einäugige Mähre; sie ist toll geworden und bildet sich was drauf ein, daß sie die Kutsche umgeworfen hat. Da, können Sie nicht Hand mit anlegen? Hol’s der Teufel, ich tät’s, wenn auch alle meine Knochen zerbrochen wären.«

»Ich bin bereit«, rief Nicolaus, sich auf die Beine helfend. »Meine Sinne waren nur nicht ganz beieinander, das ist alles.«

»Ziehen Sie fest an«, rief der Schaffner, »ich will inzwischen die Stränge abschneiden. Recht so, Musje. Jetzt können Sie sie fahren lassen. Blitz und Hagel, sie werden schnell genug heimlaufen.«

In der Tat waren die Tiere auch kaum erlöst, als sie gar umsichtig wieder nach dem Stall zurücktrabten, den sie erst vor ein paar Minuten verlassen hatten.

»Können Sie Horn blasen?« fragte der Schaffner, eine der Kutschenlaternen losmachend.

Nicolaus bejahte.

»Nun, so blasen Sie einmal in das, das dort auf dem Boden liegt, hinein«, fuhr der Mann fort; »es ist so gut, daß man die Toten damit wecken könnte. Ich will inzwischen dem Gekreisch in der Kutsche da drinnen Einhalt tun. Kommen Sie heraus, kommen Sie heraus, Frauenzimmer! Machen Sie keinen solchen Lärm.«

Unter diesen Worten war es dem Manne gelungen, den nach oben gekehrten Kutschenschlag aufzureißen, und Nicolaus weckte mit einer der außerordentlichsten Leistungen, die je von menschlichen Ohren auf einem Posthorn gehört wurden, das Echo auf eine weite Ferne hin. Die Töne taten auch ihre Wirkung, denn sie brachten nicht nur die Passagiere, die sich allmählich von den betäubenden Wirkungen ihres Falles erholten, auf die Beine, sondern riefen auch Beistand herbei, denn man sah bereits Lichter in der Ferne, die immer näher kamen.

In der Tat galoppierte auch, noch ehe sich die Passagiere gehörig gesammelt hatten, ein Reiter heran, und bei einer sorgfältigen Untersuchung stellte sich heraus, daß die Dame im Innern ihre Lampe und der Herr seinen Kopf zerstoßen hatte; zwei Reisende von dem vorderen Außensitz waren mit blauen Augen, einer aus der Droschke mit blutiger Nase, der Postillion mit einer Beule an der Schläfe, Herr Squeers mit einer Beule an seinem Gesäß und die übrigen Reisenden – Dank sei es der Weichheit der Schneeschicht, auf die sie geworfen wurden – ohne alle Beschädigung davongekommen. Sobald man sich hierüber Gewißheit verschafft hatte, wollte die Dame in Ohnmacht fallen; aber man bedeutete ihr, daß man sie, wenn sie das täte, einem Herrn auf die Schultern laden und sie so nach dem nächsten Wirtshause bringen würde, weshalb sie sich weislich eines Bessern besann und mit dem Rest der Gesellschaft auf ihren eigenen Beinen nach demselben zurückgehen wollte.

Als sie daselbst anlangten, fanden sie, daß es ein ziemlich einsamer Ort war, der hinsichtlich des Raumes, den er bot, keine sonderlichen Bequemlichkeiten gewährte, da sich dieser nur auf das einzige, reichlich mit Sand bestreute und mit etlichen Stühlen versehene Wirtschaftszimmer beschränkte. Als man jedoch ein großes Reisigbündel und eine tüchtige Portion Kohlen auf dem Herde aufgehäuft hatte, gewann das Ganze bald ein besseres Aussehen, und ehe man noch alle vertilgbaren Spuren des kürzlichen Unfalles wegwaschen konnte, war das Zimmer warm und hell – kein übler Tausch für die Nacht und Kälte im Freien.

»Nun, Herr Nickleby«, sagte Squeers, der für sich die wärmste Ecke ausgesucht hatte; »es war sehr gut, daß Sie die Pferde hielten. Ich hätte es auch so gemacht, wenn ich zeitig genug dazugekommen wäre; es freut mich aber recht, daß Sie es taten. Sie haben sehr wohl daran getan – sehr wohl.«

»So wohl«, sagte der Herr mit dem heiteren Gesicht, dem der Gönnerton, den Squeers Nickleby gegenüber anschlug, nicht sonderlich zu gefallen schien, »daß Ihnen wahrscheinlich kein Gehirn geblieben wäre, mit dem Sie hätten Unterricht erteilen können, wenn sie nicht gerade in diesem Augenblick festgehalten worden wären.«

Diese Bemerkung veranlaßte eine reichlich mit Komplimenten und Danksagungen gewürzte Erörterung über die Gewandtheit, die Nicolaus bei dieser Gelegenheit an den Tag gelegt hatte.

»Ich bin natürlich sehr froh, so davongekommen zu sein«, bemerkte Squeers; »denn jedermann freut sich, eine Gefahr glücklich überstanden zu haben. Aber wenn einer meiner Pflegebefohlenen Schaden genommen hätte – wenn ich verhindert worden wäre, einen dieser kleinen Knaben seinen Eltern wieder ganz gesund zurückzugeben, wie ich ihn erhielt –, was hätten da meine Gefühle sein müssen? Es würde mir weit lieber gewesen sein, wenn mir ein Rad über den Kopf gegangen wäre.«

»Sind es lauter Brüder, Sir?« fragte die Dame, die den ›Davy‹ oder die Sicherheitslampe bei sich geführt hatte.

»In einem gewissen Sinne sind sie es, Madame«, antwortete Squeers, in seinen Überrocktaschen nach Karten suchend. »Sie stehen alle unter der gleichen, liebevollen und väterlichen Leitung. Madame Squeers und ich, wir beide sind jedem derselben Mutter und Vater. Herr Nickleby, geben Sie der Dame und den Herren diese Karten. Vielleicht kennen sie einige Eltern, die sich freuen würden, mein Institut zu benutzen.«

Mit diesen Worten legte Herr Squeers, der keine Gelegenheit versäumte, seine Anzeige unentgeltlich unter die Leute zu bringen, die Hände auf seine Knie und blickte mit so viel Wohlwollen, als er zur Schau zu stellen vermochte, auf seine Zöglinge, während Nicolaus schamrot dem Auftrag entsprach und die Karten umherbot.

»Ich hoffe, Sie haben bei dem Umwerfen keinen Schaden genommen, Madame«, sagte der Herr mit dem heiteren Gesicht zu der gezierten Dame, als sei es sein sehnlichster Wunsch, den Gegenstand des Gesprächs zu wechseln.

»Körperlich nicht«, versetzte die Dame.

»Wie, ich will nicht hoffen, daß Sie im Geiste –«

»Der Vorfall ist für meine Gefühle zu schmerzlich, Sir«, entgegnete die Dame in großer Aufregung, »und ich bitte Sie als einen Mann von Erziehung, seiner nicht mehr zu erwähnen.«

»Du mein Himmel!« sagte der Herr mit dem heiteren Gesicht, eine noch heiterere Miene annehmend, »ich wollte bloß fragen –«

»Ich hoffe, daß man keine Fragen an mich stellt«, sagte die Dame, »oder ich werde mich genötigt sehen, den Schutz der übrigen Herren aufzurufen. Herr Wirt, ich bitte, lassen Sie einen Knaben vor der Tür achtgeben. Wenn eine grüne Kutsche von Grantham herkommt, so soll er sie sofort anhalten.«

Die Leute im Hause waren augenscheinlich durch diese Bitte überrascht, und als die Dame dem Knaben anempfahl, als Erkennungszeichen der erwarteten grünen Kutsche auf den mit Goldborten versehenen Hut des Kutschers auf dem Bock und auf den Lakaien hinten, der wahrscheinlich seidene Strümpfe tragen würde, zu achten, verdoppelte sich die Aufmerksamkeit der Wirtin. Selbst der Passagier aus der Droschke ließ sich hiervon anstecken, wurde wunderbar höflich und fragte sogleich, ob es in dieser Gegend nicht sehr gute Gesellschaft gäbe, was die Dame auf eine Weise bejahte, die deutlich merken ließ, daß sie sich eigentlich auf der obersten Spitze derselben bewege.

»Da der Schaffner nach Grantham geritten ist, um eine andere Kutsche zu holen«, sagte der Herr mit dem heiteren Gesicht, als sie eine Weile schweigend um das Feuer gesessen hatten, »und er vor ein paar Stunden nicht wieder zurückkommen kann, so mache ich den Vorschlag, eine Bowle Punsch miteinander zu leeren. Was sagen Sie dazu, Sir?«

Diese Frage war an den Mann gerichtet, der sich im Innern der Kutsche den Schädel zerstoßen hatte. Er war von sehr achtbarem Äußeren, in Trauer gekleidet und nicht über das mittlere Alter hinaus, obgleich sein Haar – vielleicht von Gram und Sorge – frühzeitig gebleicht war. Er ging auf den Vorschlag bereitwillig ein und schien an der freimütigen guten Laune dessen, der ihn gemacht hatte, Gefallen zu finden.

Dieser übernahm, als der Punsch fertig war, das Amt des Mundschenken und leitete, nachdem er alle mit dem dampfenden Naß versehen hatte, die Unterhaltung auf die Altertümer von York, mit denen sowohl er als der grauhaarige Herr sehr vertraut zu sein schienen. Als dieser Gegenstand erschöpft war, wandte er sich lächelnd an den Herrn mit dem grauen Haar und fragte ihn, ob er singen könne.

»Nein, das kann ich wirklich nicht«, erwiderte dieser, gleichfalls lächelnd.

»Schade«, sagte der Eigentümer des heiteren Gesichtes. »Ist niemand hier, der ein Liedchen singen könnte, um uns die Zeit zu kürzen?«

Die Passagiere beteuerten samt und sonders, daß sie nicht singen könnten; die einen wünschten, daß sie es könnten, die andern konnten sich des Textes nicht erinnern, wenn sie nicht das Buch hatten usw.

»Vielleicht wäre es der Dame angenehm«, sagte der Vorsitzer mit einer tiefen Verbeugung und einem heitern Blinzeln seines Auges. »Irgendeine kleine italienische Arie aus der Oper, die letzthin in der Stadt gegeben wurde, würde gewiß von allen mit dem größten Beifall aufgenommen werden.«

Da sich die Dame nicht herabließ, etwas zu erwidern, sondern nur verächtlich den Kopf in die Höhe warf und etwas von Verwunderung, daß die grüne Kutsche so lange ausbliebe, murmelte, drängten einige Stimmen den Vorsitzenden selber, einen Versuch zum allgemeinen Besten zu machen.

»Gerne, wenn ich könnte«, sagte der Herr mit dem heiteren Gesicht; »denn ich halte es für passend, daß in diesem, wie in allen anderen Fällen, wo Fremde unerwartet zusammentreffen, alle sich bemühen sollten, sich der kleinen Gesellschaft so angenehm wie möglich zu machen.«

»Ich wünschte, daß dieser Grundsatz überall und allgemeiner gehandhabt würde«, erwiderte der Mann mit dem grauen Haar.

»Ich höre das nicht ungerne«, erwiderte der andere. »Vielleicht würde es Ihnen, da Sie nicht singen können, recht sein, uns eine Geschichte zu erzählen?«

»Nein, ich würde Sie darum bitten.«

»Nach Ihnen – mit Vergnügen.«

»Wirklich?« versetzte der grauhaarige Herr lächelnd. »Nun, so sei es. Ich fürchte nur, der Gang meiner Gedanken ist nicht geeignet, die Zeit, die wir hier zubringen müssen, auf eine heitere Weise zu töten; da Sie aber so wünschen, so mögen Sie selbst urteilen. Wir haben eben von dem Münster in York gesprochen. Meine Geschichte steht in einiger Beziehung zu demselben; ich nenne sie daher:

»Die fünf Schwestern von York.«

Nach einem Beifallsgemurmel seitens der übrigen Passagiere, währenddessen die empfindliche Dame heimlich ein Glas Punsch austrank, nahm der Herr mit dem grauen Haar wieder das Wort:

Vor einer langen Reihe von Jahren – denn das fünfzehnte Jahrhundert war damals kaum zwei Jahre alt, und König Heinrich IV. saß auf dem Thron von England – wohnten in der alten Stadt York fünf jungfräuliche Schwestern, die den Gegenstand meiner Erzählung bilden.

Diese fünf Schwestern waren von außerordentlicher Schönheit. Die älteste stand in ihrem dreiundzwanzigsten Jahre, die zweite war ein Jahr jünger, die dritte ein Jahr jünger als die zweite und die vierte ein Jahr jünger als die dritte. Alle waren hohe, stattliche Gestalten mit dunklen, leuchtenden Augen und kohlschwarzen Haaren. In jeder ihrer Bewegungen lag Anmut und Würde, und der Ruf ihrer hohen Schönheit war im ganzen Lande verbreitet.

Aber, wenn die vier älteren Schwestern liebenswürdig waren, wie bezaubernd war nicht erst die jüngste, ein holdes Wesen von fünfzehn Jahren! Das sanfteste Rot einer Frucht, die zarteste Färbung der Blume sind nicht lieblicher als die Mischung der Rosen und Lilien in ihrem edlen Antlitz oder als das tiefe Blau ihres Auges. Die Rebe in ihrer zierlichsten Üppigkeit ist nicht anmutiger als die reichen braunen Locken, die um ihre Stirne wehten.

Wenn wir alle so leichte Herzen hätten, wie sie in der Brust der Jugend und Schönheit schlagen, welch ein Himmel würde die Erde sein! Wenn unsere Herzen ihre jugendliche Frische bewahren könnten, während unsere Körper hinwelken, was könnten uns dann Sorge und Leiden anhaben? Aber das schwache Abbild des Paradieses, das unserer Kindheit eingeprägt ist, reibt sich auf in den rauhen Kämpfen mit der Welt und schwindet bald dahin – nur zu oft, um nichts zurückzulassen als eine traurige Öde.

Das Herz dieses schönen Mädchens hüpfte vor Heiterkeit und Freude. Eine aufopfernde Anhänglichkeit an ihre Schwestern und eine glühende Liebe für alles Schöne in der Natur waren ihre reinen Gefühle. Ihre frohe Stimme und ihr heiteres Lachen bildeten die süßeste Musik an ihrem heimischen Herde, dessen eigentliches Licht und Leben sie selbst war. Die schönsten Blumen des Gartens waren von ihr gezogen; die Vögel in den Käfigen sangen, wenn sie ihre Stimme hörten, und trauerten, wenn sie dieses Wohllauts entbehren mußten. O Alice, holde Alice, welches lebende Wesen hätte in deinem süßen Zauberkreise weilen und dich nicht lieben müssen.

Man würde jetzt vergeblich nach der Stätte forschen, wo die Schwestern wohnten, denn selbst ihre Namen sind verklungen, und der im Schutt wühlende Altertumsforscher spricht von ihnen nur als von einer Fabel. Sie wohnten jedoch in einem alten, hölzernen Hause – alt schon in jenen Tagen – mit überhängenden Giebeln und eichenen, durch rohes Schnitzwerk verzierten Balkonen, das in einem anmutigen Garten stand. Dieser wurde von einer einfachen, steinernen Mauer umschlossen, von wo aus ein tüchtiger Bogenschütze einen Pfeil nach der Abtei der heiligen Maria hätte hinüberschießen können. Die alte Abtei befand sich damals in ihrer Blüte, und die fünf Schwestern, die auf dem Grund und Boden des Klosters wohnten, hatten an die schwarzen Benediktinermönche, die in demselben hausten, jährliche Abgaben zu entrichten.

Eines Tages, an einem köstlichen Sommermorgen, tauchte einer jener schwarzen Mönche aus der Klosterpforte auf und lenkte seine Schritte nach dem Hause der schönen Schwestern. Der Himmel oben war blau, und die Erde unten war grün. Der Strom blitzte im Schein der Sonne wie ein Pfad von Diamanten; die Vögel sangen unter den schattigen Bäumen ihre Lieder; die Lerche schwebte hoch über den wogenden Kornfeldern, und das tiefe Summen der Insekten füllte die Luft. Alles atmete Lust und Heiterkeit, aber der heilige Mann ging düster, mit gesenkten Augen seines Weges. Die Schönheit der Erde ist nur ein Hauch und der Mensch nur ein Schatten; welche Mitgefühle hätten sie wecken können in der Brust eines Mannes, der den Eitelkeiten der Welt entsagt hatte?

Mit zur Erde gesenktem Blick, den er nur erhob, wenn es durch ein auf seinem Wege liegendes Hindernis nötig ward, ging der Mönch langsam vorwärts, bis er ein kleines Pförtchen in der Gartenmauer der Schwestern erreichte, durch das er hineintrat und es wieder hinter sich abschloß. Er war jedoch noch nicht weit gegangen, als er den Ton sanfter Stimmen und fröhlichen Gelächters vernahm. Er erhob nun seine Augen höher, als es seine demütige Gewohnheit war, und sah in geringer Entfernung die fünf Schwestern, wie gewöhnlich mit Stickereien beschäftigt, Alice in der Mitte, im Grase sitzen.

»Gott sei mit euch, schöne Töchter«, sagte der Mönch. Sie waren aber auch in der Tat so schön, daß selbst ein Mönch sie als auserlesene Meisterstücke aus der Hand seines Schöpfers hätte lieben können.

Die Schwestern begrüßten den heiligen Mann mit geziemender Ehrfurcht, und die älteste winkte ihm, auf einer Moosbank neben ihnen Platz zu nehmen; aber der gute Mönch schüttelte den Kopf und ließ sich auf einen sehr harten Stein nieder, woran ohne Zweifel die Engel im Himmel eine sehr große Freude hatten.

»Ihr wart fröhlich, meine Töchter«, sagte der Mönch.

»Ihr wißt, wie leichten Herzens die gute Alice ist«, versetzte die älteste Schwester, indem sie mit den Fingern durch die Locken des lächelnden Mädchens fuhr.

»Muß es nicht Freude und Wonne in unsere Herzen gießen, wenn wir die ganze Natur in ihrem Festgewand und in den heitersten Strahlen der Sonne sehen, Vater?« fügte Alice, unter dem strengen Blick des Asketen errötend, bei.

Der Mönch antwortete nur durch ein ernstes Neigen des Kopfes, und die Schwestern fuhren schweigend in ihrer Arbeit fort.

»Ihr vergeudet also noch immer« – sagte endlich der Mönch, indem er sich an die älteste Schwester wandte – »ihr vergeudet also noch immer die kostbaren Stunden auf dieses eitle Treiben. Ach! ach! daß die wenigen Schaumblasen auf der Fläche der Ewigkeit – alles, was uns der Himmel von jenem dunkeln, tiefen Strome schauen lassen will – so leichtfertig umhergestreut werden müssen.«

»Vater«, entgegnete das Mädchen, indem sie wie die übrigen in ihrem Geschäft innehielt; »wir haben diesen Morgen die Messe gehört, das tägliche Almosen an der Tür verteilt, die Kranken besucht und unser Morgentagewerk vollendet. Ich hoffe, unsere gegenwärtige Beschäftigung ist nicht von der Art, daß sie Tadel verdiente?«

»Seht hier« – sagte der Mönch, den Stickrahmen aus ihrer Hand nehmend – »ein buntes Farbengewirr, ohne irgendeinen anderen Zweck, als daß es eines Tages zu einer eitlen Zierde diene und den Hochmut eines schwachen und unbeständigen Geschlechtes unterstütze. Wie viele Tage sind auf dieses bedeutungslose Geschäft verwendet worden, und doch ist es noch nicht halb vollendet. Der Schatten eines jeden entschwundenen Tages fällt auf unsere Gräber, und die Würmer frohlocken, wenn sie ihn niedersinken sehen; denn sie wissen, daß wir ihm bald folgen werden. Töchter! Töchter! wißt ihr die flüchtigen Stunden nicht besser zu benutzen?«

Die vier älteren Schwestern senkten, beschämt durch den Vorwurf des heiligen Mannes, die Blicke, aber Alice erhob die ihrigen und richtete sie sanft auf den Mönch.

»Unsere liebe Mutter – möge Gott ihrer Seele gnädig sein –« begann die Jungfrau.

»Amen«, entgegnete der Mönch mit tiefer Stimme.

»Unsere liebe Mutter« – stotterte die schöne Alice – »war noch am Leben, als wir diese langwierigen Arbeiten begannen, und befahl uns, sie in unseren Mußestunden mit aller Sorgfalt und Heiterkeit fortzusetzen, wenn sie das Zeitliche gesegnet haben würde. Sie sagte, wenn wir diese Stunden in harmloser Fröhlichkeit und bei jungfräulichen Beschäftigungen verlebten, so würden sie die glücklichsten und friedvollsten in unserem Leben sein; und wenn wir später in die Welt hinausträten und mit ihren Sorgen und Prüfungen bekannt würden – wenn wir, durch ihre Versuchungen angelockt und durch ihren Flitter geblendet, je der Liebe und Pflicht vergäßen, die die Kinder einer Mutter mit heiligen Banden umschlingen sollten – dann würde ein Blick auf die alte Arbeit unserer gemeinschaftlich verlebten Mädchenjahre gute Gedanken an die Vergangenheit in uns wecken und unsere Herzen aufs neue der Innigkeit und Liebe erschließen.«

»Alice spricht wahr, Vater«, sagte die älteste Schwester mit einigem Stolze. Sie nahm mit diesen Worten ihre Arbeit wieder auf, und die übrigen folgten ihrem Beispiel.

Jede der Schwestern hatte ein Modell von großem Umfang vor sich; das Muster war verwickelt und schwierig, Zeichnung und Farben aber bei allen die gleichen. Die Schwestern beugten sich anmutig über ihre Arbeit nieder, und der Mönch, der das Kinn auf seine Hände stützte, blickte schweigend von der einen auf die andere.

»Wie viel besser wäre es«, sagte er endlich, »allen solchen Gedanken und Möglichkeiten vorzubeugen und in dem friedlichen Schirme der Kirche das Leben dem Himmel zu weihen! Kindheit, Jugend, das Alter des Mannes und das des Greises schwinden so schnell dahin, wie sie aufeinander folgen. Bedenkt, wie der Staubmensch dem Grabe zueilt, wendet eure Augen ohne Unterlaß auf dieses Ziel eurer Rennbahn und meidet die Wolke, die über den irdischen Lüsten der Welt aufsteigt und die Sinne der Weltmenschen betrügt. Nehmt den Schleier, meine Töchter, nehmt den Schleier!«

»Nimmermehr, Schwestern!« rief Alice. »Vertauscht nicht das Licht und die Luft des Himmels, die Frische der Erde und alle diese Herrlichkeiten, die auf ihr atmen, gegen eine kalte Klosterzelle. Die Segnungen der Natur sind die eigentlichen Lebensgüter, und wir dürfen uns ihrer recht wohl erfreuen, ohne befürchten zu müssen, eine Sünde zu begehen. Der Tod ist zwar unser bitteres Erbteil, aber ach – laßt uns sterben im Kreise des Lebens. Wenn unsere Pulse stocken, mögen warme Herzen in unserer Nähe schlagen, und unser letzter Blick hafte auf den Grenzen, die Gott seinem schönen Himmel gesteckt hat – nicht aber auf steinernen Mauern und eisernen Gittern. Liebe Schwestern, hört auf meine Worte: laßt uns in der Umzäunung dieses schönen Gartens leben und sterben; laßt uns das Düstere und die Trauer des Klosters meiden!«

Tränen entquollen den Augen der Jungfrau, als sie ihren leidenschaftlichen Aufruf schloß und ihr Gesicht an dem Busen einer Schwester verbarg.

»Beruhige dich, Alice«, sagte die Älteste, indem sie die schöne Stirne des Mädchens küßte. »Der Schleier soll nie dein junges Antlitz beschatten. Was sagt ihr, Schwestern? Sprecht für euch selbst, und nicht für Alice oder für mich.«

Die Schwestern riefen wie mit einem Mund, daß ihre Lose zusammengeworfen seien und daß es auch außerhalb der Klostermauern Wohnungen des Friedens und der Tugend gebe.

»Vater!« sagte die Älteste, indem sie mit Würde aufstand, »Ihr habt unsern unabänderlichen Entschluß vernommen. Die gleiche fromme Sorgfalt, die die Abtei zur heiligen Maria bereicherte und uns Waisen ihrer wohlwollenden Obhut anheimgab, befahl, daß unsern Neigungen kein Zwang auferlegt werden, sondern daß wir frei und ganz nach unserer eigenen Wahl leben sollen. Wir bitten Euch, laßt uns nichts mehr von alledem hören. Doch Schwestern, es ist bald Mittag; wir wollen bis zum Abend Schutz im Hause suchen.«

Die Dame erhob sich mit einer Verbeugung gegen den Mönch und ging, Hand in Hand mit Alice, dem Hause zu; die übrigen Schwestern folgten.

Der heilige Mann, der früher schon oft dieselbe Angelegenheit zur Sprache gebracht, aber nie eine so unumwundene Abfertigung erhalten hatte, ging mit zur Erde gesenkten Blicken in kurzer Entfernung hinter ihnen her und bewegte seine Lippen wie im Gebet. Als die Schwestern die Tür erreicht hatten, beschleunigte er seinen Schritt und rief ihnen zu, daß sie halten möchten.

»Verweilt noch«, sagte der Mönch, die rechte Hand in die Höhe hebend, indem er abwechselnd einen zürnenden Blick auf Alice und die älteste Schwester warf; »verweilt noch und hört von mir, was diese Rückerinnerungen sind, die ihr höher schätzt als die Ewigkeit, und die ihr, wenn sie durch die Gnade des Himmels schlummern, kraft solchen eitlen Tandes wieder erwecken möchtet. Die Erinnerung an Erdendinge ist in späteren Jahren immer mit bitterer Täuschung, Schmerz und Tod belastet und spricht nur von traurigem Wechsel und verzehrendem Gram. Es wird eines Tages eine Zeit kommen, wo ein Blick auf dieses nichtige Spielwerk in den Herzen einiger von euch tiefe Wunden aufreißen und eure innerste Seele treffen wird. Wenn diese Stunde kommt – und denkt an mich, sie wird kommen –, so wendet euch von der Welt, die ihr so brünstig umschließt, nach dem Zufluchtsort, den ihr verachtet. Die Zelle ist nicht so kalt wie das Herz des Sterblichen, wenn sein Feuer durch Prüfungen und Unglück gelöscht ist; sucht sie daher auf und weint um die Träume eurer Jugend. Doch diese Dinge sind der Wille des Himmels und nicht der meine«, sagte der Mönch mit leiserer Stimme, als er die erbebenden Mädchen der Reihe nach anblickte. »Der Segen der heiligen Jungfrau komme über euch, meine Töchter.«

Mit diesen Worten verschwand er durch das Pförtchen, und die Schwestern, die in das Haus eilten, ließen sich an diesem Tage nicht mehr blicken.

Aber die Natur lachte trotz des Stirnrunzelns der Priester. Die Sonne schien hell und klar am nächsten Tage, wie auch am zweiten und dritten. Die fünf Schwestern lustwandelten nach wie vor im Morgenrot und in der sanften Ruhe des Abends, oder vertrieben sich die Zeit mit Arbeit und heiterer Unterhaltung in ihrem friedlichen Garten.

Die Zeit entschwand einem Märchen gleich, das erzählt ist, – schneller sogar, als manche Geschichten sich erzählen lassen, unter die, wie ich fürchte, auch die gegenwärtige gehört. Das Haus der fünf Schwestern stand noch immer an derselben Stelle, und dieselben Bäume warfen ihren lieblichen Schatten auf den Rasen des Gartens. Auch die Schwestern waren da, liebenswürdig wie ehedem, aber in ihrer Wohnung hatte sich gar vieles verändert. Man vernahm bisweilen Waffenlärm, und der Mond beleuchtete stählerne Helme. Ein andermal sprengten abgehetzte Rosse vor das Tor, und eine weibliche Gestalt glitt rasch hervor, als harrte sie neugierig der Kunde, die der ermüdete Bote brachte. Einmal übernachtete ein stattlicher Zug von Rittern und Damen in den Mauern der Abtei, und am nächsten Morgen ritten sie mit zweien der schönen Schwestern wieder fort. Dann begannen die Reiter sich seltner zu zeigen, und wenn sie kamen, schienen sie nur böse Nachrichten zu bringen. Endlich blieben sie ganz aus, und Bauern mit wunden Füßen schlichen sich nach Sonnenuntergang an die Tür, um heimlich ihre Botschaft zu bestellen. Einmal wurde in stiller Mitternacht eilig ein Diener nach der Abtei geschickt, und als der Morgen kam, hörte man Jammerlaute und Wehegeschrei in der Wohnung der Schwestern. Dann umfing die Stille des Grabes das Haus, und weder Ritter noch Dame, weder Roß noch Rüstung wurden je wieder in der Nähe desselben gesehen.

Ein unheimliches Düster umflorte den Himmel, und die Sonne war zürnend untergegangen, die dunklen Wolken mit den letzten Spuren ihres Grolles färbend, als derselbe schwarze Mönch, einen Steinwurf weit von der Abtei entfernt, mit übereinandergeschlagenen Armen einherging. Die Bäume und Gesträuche ließen ihre Zweige sinken, und der Wind, der endlich die unnatürliche Stille, die den ganzen Tag über geherrscht hatte, zu unterbrechen begann, seufzte hin und wieder schwer auf, als wolle er mit Wehmut die Verheerungen des kommenden Sturmes voraussagen. Die Fledermaus flatterte in gespenstigen Kreisen durch die schwüle Luft, und der Boden wimmelte von kriechendem Gewürm, das der Instinkt an die Oberfläche brachte, um sich an dem kommenden Regen zu erquicken.

Die Augen des Mönches waren nicht mehr zur Erde gesenkt; er warf sie frei umher und ließ sie von einer Stelle zur andern schweifen, als ob das Düster und die Verödung der Szene einen raschen Anklang in seiner eigenen Brust fände. Er blieb wieder vor der Gartenmauer des Hauses der Schwestern stehen und trat abermals durch das Pförtchen.

Aber jetzt begegnete sein Ohr keinem frohen Gelächter, und sein Auge traf nicht auf die schönen Gestalten der fünf Schwestern; alles war stumm und öde. Die Zweige der Bäume waren niedergebogen und zerbrochen, und das Gras wucherte hoch und wild auf dem Boden. Ach, so viele, viele Tage hatte es kein leichter Fuß niedergetreten!

Mit der Unempfindlichkeit oder Gleichgültigkeit eines Mannes, der an den Wechsel gewöhnt ist, glitt der Mönch in das Haus und trat in ein niederes, düsteres Gemach. Hier saßen vier Schwestern. Ihre schwarzen Gewänder ließen ihre bleichen Gesichter noch blasser erscheinen. Zeit und Kummer hatten tiefe Spuren der Verheerung auf denselben zurückgelassen. Es waren noch immer stattliche Gestalten, aber die Wärme und der Stolz jugendlicher Schönheit war dahin.

Und Alice – wo war sie? Im Himmel!

Der Mönch – selbst der Mönch – konnte sich hier einigen Schmerzes nicht erwehren; denn die Schwestern hatten sich lange nicht zusammengefunden, und in ihren bleichen Gesichtern zeigten sich Furchen, wie sie die Zeit allein nicht eingraben konnte. Er setzte sich schweigend nieder und winkte ihnen, ihr Gespräch fortzusetzen.

»Hier sind sie, Schwestern«, sagte die Älteste mit bebender Stimme. »Ich habe es seitdem nicht vermocht, sie wieder anzusehen, und ich schäme mich jetzt meiner Schwäche. Liegt denn etwa in der Erinnerung an die Schwester, was wir scheuen müßten? Sollte es uns jetzt nicht eher eine wehmütige Lust gewähren, die Tage der Vergangenheit uns ins Gedächtnis zurufen?«

Sie warf bei diesen Worten einen Blick auf den Mönch, öffnete ein Gemach und brachte fünf Stickrahmen zum Vorschein, daran die Arbeit längst vollendet war. Ihr Schritt war fest, aber ihre Hand zitterte, als sie den letzten vorzeigte. Die andern Schwestern machten bei dem Anblick desselben ihren Gefühlen durch Tränen Luft, und die Älteste vereinigte die ihrigen damit und sprach schluchzend: »Gottes Frieden sei mit ihr!«

Der Mönch stand auf und trat ihnen näher.

»Es war wohl der letzte Gegenstand, den sie in den Tagen ihrer Gesundheit berührte«, sagte er mit leiser Stimme.

»Er war’s«, sprach die Älteste, bitterlich weinend.

Der Mönch wandte sich an die zweite Schwester.

»Der tapfere Jüngling, der dir ins Auge blickte und an jedem deiner Atemzüge hing, als er dich zuerst mit diesem Tand beschäftigt sah, liegt unter dem Rasen begraben, den sein Blut rötete. Rostige Bruchstücke einer sonst so herrlich glänzenden Rüstung liegen zerfressen auf dem Boden und sind von seinen eigenen Überresten so wenig zu unterscheiden wie in Moder verfallene Gebeine.«

Die Dame seufzte und rang die Hände.

»Die Schlauheit der Höfe«, fuhr er gegen die beiden andern Schwestern fort – »führte euch aus eurer friedlichen Heimat zu Schauplätzen des Prunkes und der Lust. Dieselbe Arglist und der nie rastende Ehrgeiz stolzer, übermütiger Männer hat euch als verwitwete Jungfrauen entehrt und gedemütigt zurückgeschickt. Spreche ich wahr?«

Das Schluchzen der beiden Schwestern war die einzige Antwort.

»Warum wollt ihr« – fuhr der Mönch mit vielsagendem Blicke fort – »eure Zeit mit einem Tand vergeuden, der nur die bleichen Geister entschwundener Hoffnungen heraufbeschwört? Begrabt sie, bringt sie durch Reue und Buße zur Ruhe und laßt sie die Mauern eines Klosters umschließen.«

Die Schwestern baten um drei Tage Bedenkzeit, und es war ihnen in jener Nacht, als ob der Schleier in der Tat das passendste Leichentuch für ihre hingestorbenen Freuden wäre. Aber der Morgen kam, und obgleich die Zweige der Bäume herniederhingen oder auf dem Boden umherlagen, so war es doch noch derselbe Garten. Das Gras war dicht und hoch, aber sie fanden doch noch die Stelle, auf der sie so oft beieinander gesessen hatten, als sie Wechsel und Kummer nur dem Namen nach kannten. Alle die Pfade und Ecken waren noch vorhanden, denen Alices heiterer Sinn Leben verliehen hatte, und in dem Schiff der Klosterkirche lag ein flacher Stein, unter dem sie im Frieden schlummerte.

Und konnten sie, wenn sie sich erinnerten, wie Alices Herz bei dem Gedanken an Klostermauern erbebte – konnten sie in Gewändern auf ihr Grab blicken, die sogar die Asche in demselben noch verletzt haben würden? Konnten sie in dem Niedersinken bei klösterlichen,Gebeten, selbst wenn der ganze Himmel sich ihnen aushorchend zugeneigt hätte, den tiefen Schatten der Trauer über das Antlitz eines Engels bringen? – Nein!

Sie sandten nach den berühmtesten Künstlern und ließen, als sie die Genehmigung der Kirche zu ihrem frommen Werk erlangt hatten, mit kostbarem buntem Glase eine Kopie ihrer Stickereien in fünf großen Feldern ausführen. Diese wurden einem großen Fenster, das bisher ohne allen Schmuck gewesen war, eingepaßt, und wenn die Sonne prachtvoll leuchtete, wie es die Schwestern ehedem so gerne gesehen hatten, so strahlten die liebgewonnenen Bilder in ihren ursprünglichen Farben und warfen ihren schimmernden Lichtstrom warm auf den Namen Alice.

Die Schwestern gingen jeden Tag viele Stunden langsam in dem Schiff der Kirche auf und ab oder knieten an der Seite des breiten, flachen Steines nieder. Im Verlaufe der Jahre sah man nur noch drei, dann zwei und endlich nur noch eine einzige Frauengestalt. diese aber von Alter gebeugt, an dem gewohnten Art. Endlich blieb auch sie aus, und der Stein trug einfach fünf Taufnamen.

Man hat den Stein weggenommen und durch einen andern ersetzt, und manche Generation wurde seitdem geboren und wieder zu Grabe getragen. Die Zeit hat die Farben gebleicht, aber derselbe Lichtstrom fällt noch auf das vergessene Grab, das durch kein Denkmal mehr angezeigt ist; und bis auf den heutigen Tag zeigt man dem Volk in der Kathedrale zu York ein altes Fenster, das den Namen: » Die fünf Schwestern« trägt.

 

»Das ist eine trübselige Geschichte«, sagte der Herr mit dem heiteren Gesicht, indem er sein Glas leerte.

»Es ist eine Geschichte nach dem Leben, wie denn überhaupt unser Erdenwallen eine Kette derartiger Leiden ist«, entgegnete der andere höflich, aber mit einem ernsten und traurigen Tone der Stimme.

»Jedes gute Gemälde hat seine Schattenflächen, aber auch seine Lichtseiten, wenn wir sie nur suchen wollen«, sagte der Herr mit dem heiteren Gesicht. »Die jüngste Schwester in Ihrer Erzählung war immer frohen Sinnes.«

»Und starb früh«, entgegnete der andere weich.

»Sie würde wohl früher gestorben sein, wenn sie weniger glücklich gewesen wäre«, erwiderte der erste Sprecher mit Gefühl. »Glauben Sie, die Schwestern, die sie so sehr liebten, hätten sich weniger gegrämt, wenn ihr Leben reich an Schmerz und Trübsal gewesen wäre? Wenn irgend etwas den ersten Schmerz eines schweren Verlustes sänftigen kann, so ist es meiner Ansicht nach der Gedanke, daß diejenigen, um die wir trauern, in ihrem unschuldigen Glück, dessen sie sich hienieden erfreuten, und in der Liebe, mit der sie ihre Umgebung umfingen, für ein reineres und glücklicheres Dasein sich vorbereiteten. Verlassen Sie sich darauf, die Sonne scheint nicht auf diese Erde, um finstern Gesichtern zu begegnen.«

»Ich glaube. Sie haben recht«, sagte der Herr, der die Geschichte erzählt hatte.

»Glauben?« versetzte der andere. »Kann das wohl einem Zweifel unterliegen? Rufen Sie sich was immer für einen schmerzlichen Gegenstand ins Gedächtnis und sehen Sie, ob sich nicht auch viel Wonne daran knüpft. Dagegen kann die Erinnerung entschwundener Freuden schmerzlich werden –«

»Gewiß«, fiel der andere ein.

»Es ist eine bekannte Tatsache. Der Rückblick auf ein Glück, das unwiederbringlich dahin ist, erzeugt Schmerz, aber einen Schmerz milderer Art. Unsere Erinnerungen sind unglücklicherweise mit vielem gemischt, was wir beklagen, und mit manchen Handlungen, die wir bitter bereuen. Aber ich bin der festen Überzeugung, daß auch in dem getrübtesten Leben so viele kleine Sonnenstrahlen sind, auf die man zurückblicken kann, daß ich nicht glaube, irgendein Sterblicher, der sich nicht selbst alle Lichtblicke der Hoffnung abgeschnitten hat, würde mit Vorbedacht einen Trunk aus Lethes Strom tun, wenn er es auch könnte.«

»Ihre Ansicht ist vielleicht richtig«, sagte der grauhaarige Herr nach einem kurzen Nachdenken, »und ich bin nicht abgeneigt, Ihrer Meinung beizupflichten.«

»Je nun«, erwiderte der andere, »dann überwiegt das Gute, dem wir in unserm Erdenleben begegnen, das Schlimme, mögen auch die sogenannten Philosophen sagen, was sie wollen. Wenn unsere Gefühle auch manche Prüfungen erdulden müssen, so bleiben sie doch unser Trost und unsere Lust, wie denn auch die Erinnerung, selbst wenn sie noch so düster ist, die schönste und reinste Verbindung zwischen dieser und einer bessern Welt bildet. – Doch, fahren wir fort; ich will Ihnen ein Geschichtchen anderer Art erzählen.«

Nach einem kurzen Schweigen füllte der Herr mit dem heiteren Gesicht die Gläser der Anwesenden aufs neue mit Punsch, warf einen schlauen Blick nach der gezierten Dame, die sich mit der Besorgnis, es möchte irgend etwas Unschickliches erzählt werden, abzuängstigen schien, und nannte den Titel seiner Geschichte:

»Der Freiherr von Weinzapf«.

Der Freiherr von Weinzapf auf Zapfenburg war ein so liebenswürdiger junger Edelmann, wie man nur einen sehen kann. Ich habe nicht nötig zu sagen, daß er in einer Burg wohnte, weil sich das von selber versteht. Auch brauche ich nicht zu bemerken, daß er in einer alten Burg lebte; denn welcher deutsche Baron hat je in einer neuen gewohnt? Es standen viele sonderbare Umstände mit diesem ehrwürdigen Gebäude in Verbindung, und unter diesen war auch der nicht am wenigsten befremdende und geheimnisvolle, daß es, wenn der Wind blies, in den Schornsteinen orgelte oder durch die Bäume des naheliegenden Forstes heulte, und daß die Strahlen des Mondes durch gewisse kleine Öffnungen in der Mauer ihren Weg fanden und in der Tat einige Teile der weiten Hallen und Galerien hell erleuchteten, während andere in tiefem Schatten blieben. Ich glaube, daß einer von des Freiherrn Vorfahren, als es ihm an Geld gebrach, einen Herrn, der in einer Nacht hier ansprach, um nach dem Weg zu fragen, erdolchte, und man vermutete, daß diese wunderbaren Ereignisse eine Folge dieser Untat wären. Freilich kann ich mir die Möglichkeit davon kaum denken, denn der Ahnherr des Freiherrn war ein sehr achtbarer Mann, und seine übereilte Handlung ging ihm nachher sehr zu Herzen, weshalb er sich auch mit Gewalt einer Partie von Steinen und Bauholz bemächtigte, die einem schwächeren Baron gehörte, zur Sühne seines Vergehens eine Kapelle daraus baute und sich auf diese Weise eine Gesamtquittung für alle Forderungen, die der Himmel an ihn machen konnte, erwarb.

Da gerade von einem Vorfahren des Freiherrn die Rede ist, so darf ich nicht vergessen zu erwähnen, welche hohe Ansprüche auf Achtung der Erbe seinem Stammbaum verdankte. Es tut mir zwar leid, daß ich die Zahl seiner Ahnen nicht anzugeben vermag; jedenfalls aber weiß ich, daß er mehr hatte als irgendein anderer Mann seiner Zeit, und ich wünschte nur, daß er in unsern Tagen gelebt hätte, um sich einer noch größeren Anzahl rühmen zu können. Es ist überhaupt ein großes Unglück für die großen Männer vergangener Jahrhunderte, daß sie so früh geboren werden mußten, weil sich von einem Mann, der vor drei- oder vierhundert Jahren in die Welt trat, vernünftigerweise nicht erwarten läßt, daß er so viele Vorfahren aufzuweisen habe als einer, der in unsern Tagen lebt. Der letzte Mensch, wer er auch immer sein mag – und wäre er nur ein Schuhflicker oder sonst irgendein armseliger Tropf – wird einen längeren Stammbaum haben als ein Mann vom ältesten Adel in unsern Tagen; und das ist doch gewiß etwas, was von Rechts wegen nicht sein sollte.

Gut also: der Freiherr von Weinzapf auf Zapfenburg war ein hübscher, dunkelgebräunter Herr mit schwarzen Haaren und einem großen Schnurrbart, der in hellgrünen Kleidern, mit Juchtenstiefeln an den Füßen und einem Horn über seiner Schulter, ähnlich dem der englischen Postkutschenschaffner, auf die Jagd zu reiten pflegte. Wenn er in dieses Horn stieß, brachen sogleich vierundzwanzig andere Edelleute von untergeordnetem Range in etwas gröberer, grüner Tracht und etwas dicker besohlten Juchtenstiefeln auf und galoppierten in einem Trupp mit Spießen in den Händen, die lackierten Gitterstäben glichen, dahin, um Eber zu hetzen oder vielleicht einen Bären aufzutreiben, in welch letzterem Fall ihm der Freiherr zuerst den Genickfang gab und dann mit dem Fett desselben seinen Schnurrbart wichste.

Das war ein lustiges Leben für den Freiherrn von Weinzapf und ein noch lustigeres für seine Vasallen, die jede Nacht Rheinwein tranken, bis sie unter den Tisch fielen, wo sie dann noch auf dem Boden fortzechten und nach Pfeifen riefen. Nie gab es so muntere, lärmende, Scherz liebende Gesellen als Weinzapfs lustige Bande.

Aber die Freuden der Tafel oder die Freuden unter der Tafel fordern eine kleine Abwechslung, besonders wenn dieselben fünfundzwanzig Leute Tag für Tag unter demselben Tische liegen, über dieselben Gegenstände sprechen und dieselben Geschichten erzählen. Der Freiherr wurde es endlich satt und sah sich nach etwas Anregenderem um. Er fing daher mit seinen Kameraden Händel an und machte sich das schöne Vergnügen, zwei oder drei davon jedesmal nach dem Mittagessen mit den Füßen zu treten. So angenehm aber auch dieser Wechsel im Anfang war, so wurde er doch dem Freiherrn nach ungefähr einer Woche zu einförmig. Seine gute Laune wich, und so sah er sich denn in der Verzweiflung nach neuen Belustigungen um.

Eines Abends nach einer Jagd, in der er sogar Nimrod ausgestochen und abermals einen schönen Bären erlegt hatte, den er im Triumph nach Hause brachte, saß der Baron von Weinzapf übelgelaunt oben an seinem Tisch und betrachtete die rauchige Decke der Halle mit mißvergnügten Blicken. Er schüttete ungeheure Humpen Weines durch seine Kehle, aber je mehr er trank, desto finsterer wurde seine Stirn. Die Herren, die mit der gefährlichen Auszeichnung beehrt wurden, ihm zur Rechten und Linken zu sitzen, taten es ihm zum Wunder im Trinken gleich und warfen sich gleichfalls finstere Blicke zu.

»Ich will’s!« rief der Freiherr plötzlich, indem er mit der rechten Hand auf den Tisch schlug und mit der linken seinen Schnurrbart drehte. »Füllt die Humpen zu Ehren der Freifrau von Weinzapf!«

Die vierundzwanzig Grünröcke erblaßten, mit Ausnahme ihrer Nasen, die unverändert blieben.

»Ich brachte die Gesundheit der Freifrau von Weinzapf aus!« wiederholte der Freiherr, indem er die Blicke an dem Tische hingleiten ließ.

»Die Freifrau von Weinzapf!« brüllten die Grünen, und vierundzwanzig gewaltige Humpen von so herrlichem alten Gewächs flossen durch ihre vierundzwanzig Kehlen hinunter, so daß sie mit ihren achtundvierzig Lippen schnalzten und von neuem nach dem Fasse blinzten.

»Die schöne Tochter des Freiherrn von Schwillenhausen!« erklärte von Weinzapf herablassend. »Wir wollen sie von ihrem Vater zur Ehe begehren, ehe noch die Sonne morgen in ihr Bett steigt. Wenn er unsere Bewerbung zurückweist, so werden wir ihm die Nase abschneiden.«

Die Gesellschaft ließ ein wildes Hurra vernehmen, und jeder griff mit schrecklicher Bedeutsamkeit zuerst nach dem Hefte seines Schwertes und dann nach der Spitze seiner Nase.

Es ist doch etwas Schönes um den kindlichen Gehorsam! Hätte die Tochter des Freiherrn von Schwillenhausen von einem bereits verschenkten Herzen gesprochen oder sich ihrem Vater zu Füßen geworfen und diese mit Tränen gebadet, oder wäre sie nur in Ohnmacht gefallen und dem alten Herrn mit schrecklichen Gefühlsausbrüchen zu Leibe gegangen, so hätte man hundert gegen eins wetten können, daß Burg Schwillenhausen zum Fenster hinausgeworfen worden wäre, oder besser, daß der Freiherr aus dem Fenster geflogen und in der Burg alles darunter und darüber gegangen wäre. Das Freifräulein verhielt sich jedoch, als am nächsten Morgen ein Bote das Gesuch des Freiherrn von Weinzapf vorbrachte, ganz ruhig und zog sich bescheiden nach ihrem Kämmerlein zurück, von wo sie der Ankunft ihres Freiers und seines Gefolges entgegensah. Sie hatte sich kaum überzeugt, daß der Reiter mit dem großen Schnurrbart der Freier wäre, als sie sogleich zu ihrem Vater eilte und ihm ihre Bereitwilligkeit ausdrückte, sich für seinen Frieden zum Opfer zu bringen. Der ehrwürdige Baron umarmte sein Kind und vergoß eine Freudenträne.

Auf der Burg war an diesem Tage ein großes Bankett. Weinzapfs vierundzwanzig Grüne tauschten das Gelübde ewiger Freundschaft mit zwölf Grünen des von Schwillenhausen aus und versprachen dem alten Freiherrn, daß sie von seinem Weine trinken wollten, »bis alles blau wäre« – was wahrscheinlich soviel sagen sollte, bis ihre Gesichter dieselbe Farbe erhalten hätten wie ihre Nasen. Als die Zeit des Aufbruchs kam, klopften sich alle gegenseitig auf die Schulter, und der Freiherr von Weinzapf ritt mit seinem Gefolge frohen Muts nach Hause.

Sechs sterbenslange Wochen hatten die Bären und Eber Feiertage. Die Häuser von Weinzapf und Schwillenhausen waren vereinigt, die Spieße rosteten, und das Horn des Freiherrn wurde heiser, weil es nicht mehr geblasen wurde.

Das waren glückliche Tage für die vierundzwanzig; aber ach, diese glorreiche Zeit hatte bereits Stiefeln angezogen und war im Begriff, sich auf und davon zu machen.

»Mein Bester«, sagte die Freifrau.

»Meine Liebe«, sagte der Freiherr.

»Diese rohen, lärmenden Menschen –«

»Welche?« fragte der Freiherr auffahrend.

Die Freifrau deutete aus dem Fenster, an dem sie mit ihrem Gemahl stand, nach dem Hof hinunter, wo die nichtsahnenden Grünen im Steigbügel noch einen guten Schluck zu sich nahmen, um sich für die Eberhetze zu stärken.

»Mein Jagdgefolge?« fragte der Baron.

»Entlasse sie, mein Bester«, flüsterte die Freifrau.

»Sie entlassen?« rief der Freiherr erstaunt.

»Mir zu Gefallen, mein Lieber«, versetzte die Baronesse.

»Dem Teufel zu Gefallen!« antwortete der Baron.

Die Freifrau stieß hierauf einen lauten Schrei aus und sank ohnmächtig zu den Füßen des Freiherrn nieder.

Was konnte der Freiherr tun? Er rief nach der Kammerfrau, eilte in den Hof hinunter, trat zwei der Grünen, die am meisten daran gewöhnt waren, mit den Füßen, verwünschte die übrigen der Reihe nach und hieß alle zum – – doch es ist gleichgültig, wohin er sie gehen hieß.

Ich halte es nicht für meinen Beruf, anzudeuten, welcher Mittel und Wege sich manche Frauen bedienen, die Männer ihrem Regiment in einer Weise zu unterwerfen, wie sie es tun, obgleich ich meine eigene Meinung über diesen Gegenstand haben mag und vollkommen der Ansicht bin, daß kein Parlamentsmitglied verheiratet sein sollte, da unter vier Verheirateten immer drei nach dem Gewissen ihrer Weiber (wenn sie anders eines haben) und nicht nach ihrem eigenen votieren, weil sie so votieren müssen. Ich brauche hier nichts weiter zu sagen, als daß die Freifrau von Weinzapf so oder so eine große Gewalt über den Freiherrn auf Zapfenburg gewann, und daß der Baron allmählich mehr und mehr bei irgendeiner strittigen Frage den kürzeren zog oder schlau aus dem Sattel irgendeines alten Steckenpferdes geworfen wurde. Nach und nach war er ein wohlgenährter und rüstiger Achtundvierziger und hatte weder Gelage noch Jagden – kurz nichts mehr, was ihm sonst Freude machte, oder was er zu haben gewöhnt war. Er war zwar immer noch unbändig wie ein Löwe und starr wie Erz. Demungeachtet aber hatte ihn entschieden seine Frau auf seinem eigenen Schlosse gemeistert und zu Paaren getrieben.

Das war jedoch nicht der ganze Umfang von dem Mißgeschick des Freiherrn. Ungefähr ein Jahr nach seiner Vermählung kam ein lustiger junger Freiherr in die Welt, dem zu Ehren ein großes Feuerwerk abgebrannt und eine Unmasse von Wein getrunken wurde. Aber im nächsten Jahr kam ein kleines Freifräulein, das Jahr darauf wieder ein junger Freiherr, und so abwechselnd jedes Jahr ein Freiherr oder ein Freifräulein, in einem Jahr sogar beides zumal, bis der Baron Vater einer kleinen Familie von zwölf Kindern war. Bei jedem dieser jährlichen Ereignisse war die verehrliche Freifrau von Schwillenhausen in tausend Nöten wegen des Wohls ihres Kindes, der Freifrau von Weinzapf, und obwohl man nicht finden konnte, daß die gute Dame etwas Wesentliches zu der Genesung ihres Kindes beitrug, so machte sie sich’s doch zu einer Ehrensache, auf der Burg Zapfenburg so bekümmert wie möglich zu tun und ihre Zeit zwischen moralischen Bemerkungen über des Barons Haushalt und Klagen über das harte Schicksal ihrer unglücklichen Tochter zu teilen. Wenn dann der Freiherr von Weinzapf sich dadurch ein wenig gekränkt fühlte und sich ein Herz zu der Gegenbemerkung faßte, daß seine Gattin wenigstens nicht übler daran sei als die Frauen anderer Barone, so rief die Baronesse von Schwillenhausen alle Welt zum Zeugen auf, daß niemand als sie ein Mitgefühl für die Leiden ihrer lieben Tochter hätte, worauf natürlich alle ihre Verwandten und Freunde bemerkten, daß sie jedenfalls weit mehr Tränen vergösse als ihr Schwiegersohn, und daß es keinen hartherzigeren Unmenschen gäbe als den Freiherrn von Weinzapf.

Der arme Freiherr ertrug dies alles, solange er konnte, und als er es nicht länger vermochte, verlor er Appetit und Heiterkeit und setzte sich düster und niedergeschlagen in eine Ecke. Aber es stand ihm noch Schlimmeres bevor, und als dieses kam, vermehrte sich seine Schwermut. Die Zeiten änderten sich, und er geriet in Schulden. In Weinzapfs Kassen ging es auf die Neige, obgleich die Familie Schwillenhausen sie für unerschöpflich gehalten hatte, und als die Freifrau im Begriff war, den Stammbaum des Hauses mit einem dreizehnten Sproß zu vermehren, machte der Freiherr die betrübende Entdeckung, daß er keine Mittel besäße, die Kassen wieder zu füllen.

»Ich sehe nicht, was ich weiter tun kann«, sagte der Freiherr. »Es wird wohl das beste sein, wenn ich mich umbringe.«

Das war ein großartiger Gedanke. Der Freiherr nahm ein altes Jagdmesser aus einem Wandschrank, wetzte es an seiner Stiefelsohle und fuhr damit nach seiner Kehle.

»Hm!« sagte der Baron innehaltend; »vielleicht ist es nicht scharf genug.«

Der Freiherr wetzte es abermals und machte einen zweiten Versuch, aber er wurde wieder durch ein lautes Schreien der jungen Freiherren und Freifräulein gestört, deren Stube sich eine Treppe höher in einem Turme befand, dessen Fenster von außen mit Eisenstäben verwahrt waren, damit die hoffnungsvolle Jugend nicht in den Graben hinunterpurzle.

»Wäre ich ein Junggeselle«, sagte der Freiherr seufzend, »so hätte ich’s wohl fünfzigmal tun können, ohne eine Störung erleiden zu müssen. – Heda! bringt mir eine Flasche Wein und die größte Pfeife in das kleine Zimmer hinter der Halle.«

Einer der Dienstboten führte den Befehl des Freiherrn gar dienstfertig im Verlauf einer halben Stunde oder drüber aus, und der Freiherr ging, als er davon Nachricht erhielt, nach dem gewölbten Zimmer, dessen schwarzgetäfelte und polierte Wände von dem Feuer des im Kamin lodernden Holzstoßes widerstrahlten, Flasche und Pfeife waren bereit, und der Ort sah im ganzen recht behaglich aus.

»Laß die Lampe da«, sagte der Freiherr.

»Steht sonst noch etwas zu Befehl, gnädiger Herr?« fragte der Diener.

»Nichts, als daß du das Zimmer räumst«, erwiderte der Freiherr.

Der Diener gehorchte, und der Baron verschloß die Tür.

»Ich will noch meine letzte Pfeife rauchen«, sagte der Freiherr, »und dann der Welt Lebewohl sagen.«

Mit diesen Worten legte der Herr von Weinzapf das Messer auf den Tisch, bis er es brauchen würde, goß ein ziemliches Quantum Wein hinunter, warf sich in seinem Stuhl zurück, streckte seine Füße vor dem Feuer aus und blies tüchtige Rauchwolken von sich.

Er machte sich allerlei Gedanken über seine gegenwärtige Trübsal, über die entschwundenen Tage seines Junggesellenlebens und über die vierundzwanzig Grünröcke, die sich seitdem nach allen vier Himmelsgegenden zerstreut hatten, ohne wieder etwas von sich hören zu lassen, zwei ausgenommen, denen unglücklicherweise der Kopf abgeschlagen worden war, und vier, die durch ihr Trinken sich selbst unter den Boden gebracht hatten. Sein Geist war mit Bären und Ebern beschäftigt, und er hatte eben sein Glas angesetzt, um es bis auf den Boden zu leeren, als er auf einmal mit grenzenlosem Erstaunen bemerkte, daß er nicht allein sei.

Er war auch wirklich nicht allein; denn an der entgegengesetzten Seite des Feuers saß mit verschlungenen Armen eine runzlige, greuliche Gestalt mit tief eingesunkenen, blutunterlaufenen Augen und einem ungemein langen, leichenhaften Gesicht, das durch verfilztes und struppiges schwarzes Haar beschattet wurde. Sie trug ein einfaches Kleid von einer dunklen, ins Blaue spielenden Farbe, das, wie der Freiherr bei aufmerksamer Betrachtung bemerkte, vorn von oben bis unten mit Sarggriffen verziert und zusammengeheftet war. Auch ihre Beine waren, statt in die Schienen einer Rüstung, in Sargschilder eingeschlossen, und über der linken Schulter trug sie einen kurzen, dunklen Mantel, der aus dem Überrest eines Sargtuches gemacht zu sein schien. Sie achtete des Freiherrn nicht, sondern blickte unablässig ins Feuer.

»Heda!« sagte der Freiherr, mit dem Fuß stampfend, um sich bemerklich zu machen.

»Nun, was gibt’s?« versetzte der Fremde, indem er wohl seine Augen, nicht aber sein Gesicht oder seine Person dem Freiherrn zuwandte.

»Was es gibt?« fuhr der Freiherr fort, dem die hohle Stimme und die glanzlosen Augen keine Furcht einzujagen vermochten. »Diese Frage steht eigentlich mir zu; wie bist du hierher gekommen?«

»Durch die Tür«, entgegnete die Gestalt.

»Wer bist du?« fragte der Freiherr.

»Ein Mensch«, antwortete die Gestalt.

»Das glaube ich nicht«, erwiderte der Freiherr.

»So laß es bleiben«, sagte die Gestalt.

»Das will ich«, versetzte der Freiherr.

Die Gestalt blickte den kühnen Baron von Weinzapf eine Weile an und sagte dann vertraulich:

»Ich sehe wohl, daß du dich nicht täuschen läßt. Ich bin kein Mensch.«

»Was bist du denn?« fragte der Freiherr.

»Ein Engel«, antwortete die Gestalt.

»Du siehst nicht gerade wie ein solcher aus«, meinte der Freiherr verächtlich.

»Ich bin der Engel der Verzweiflung und des Selbstmordes«, sagte die Erscheinung. »Nun kennst du mich.«

Mit diesen Worten wandte sich das Gespenst gegen den Freiherrn, als wollte es erst jetzt recht mit ihm sprechen. Es war übrigens höchst bemerkenswert, daß es seinen Mantel beiseite warf und einen Pfahl sehen ließ, der ihm mitten durch den Leib geschlagen war1: diesen zog es mit einem Ruck heraus und legte ihn so kaltblütig auf den Tisch, als ob er ein Spazierstock gewesen wäre.

»Nun«, sagte das Gespenst, nach dem Jagdmesser schielend, »bist du für mich bereit?«

»Noch nicht ganz«, antwortete der Freiherr. »Ich muß zuvor diese Pfeife ausrauchen.«

»So mache schnell«, sagte die Gestalt.

»Du scheinst es sehr eilig zu haben«, entgegnete der Freiherr.

»Das ist allerdings der Fall«, versetzte die Gestalt. »In Frankreich und England bin ich zurzeit überaus beschäftigt, so daß meine Zeit sehr in Anspruch genommen ist.«

»Trinkst du?« fragte der Freiherr, die Flasche mit dem Pfeifenkopf berührend.

»In neun Fallen unter zehn, und dann tüchtig«, erwiderte das Gespenst trocken.

»Niemals mit Maß?« fragte der Baron.

»Niemals«, antwortete die Gestalt mit einem Schauder; »das würde Heiterkeit erzeugen.«

Der Freiherr betrachtete seinen neuen Freund abermals und meinte, daß er ein gar seltsamer Kauz wäre. Endlich fragte er ihn, ob er in so kleinen Angelegenheiten, wie er (der Baron) gerade eine im Schild führe, auch einen tätigen Anteil nehme.

»Nein«, antwortete das Gespenst ausweichend; »aber ich bin immer zugegen.«

»Um zu sehen, daß alles in Ordnung zugeht, denke ich?« fragte der Freiherr.

»Ja«, versetzte der Geist, indem er mit seinem Pfahl spielte und den Eisenbeschlag desselben untersuchte. »Aber mache jetzt so schnell, wie du kannst, denn ich wittere, daß ein junges Herrlein, das mit zuviel Geld und Muße geplagt ist, gegenwärtig meiner bedarf.«

»Wie? er will sich umbringen, weil er zuviel Geld hat?« rief der Baron, nicht wenig gekitzelt; »ha! ha! das ist ein seltsamer Gedanke!« – Es war wieder das erste Lachen, das man seit manchem langen Tag an dem Baron bemerken konnte.

»Ich muß dir bedeuten«, erklärte ihm der Geist mit einer sehr gekränkten Miene, »daß du mir dies in Zukunft unterläßt.«

»Warum?« fragte der Freiherr.

»Weil es mir bis ins Mark schneidet«, antwortete die Gestalt. »Seufze, so viel du willst; das tut mir wohl.«

Der Freiherr seufzte unwillkürlich bei der Erwähnung dieses Wortes; das Gespenst wurde wieder heiter und händigte ihm mit der gewinnendsten Höflichkeit das Jagdmesser ein.

»In der Tat, es ist kein übler Gedanke, sich den Hals abzuschneiden, weil man zu viel Geld hat«, sagte der Baron, indem er die Schneide seines Messers prüfte.

»Bah!« meinte die Erscheinung, »nicht schlimmer, als wenn sich jemand umbringt, weil er wenig oder keines hat.«

Sprach der Geist aus Unachtsamkeit so, oder hielt er den Entschluß des Freiherrn für so fest begründet, daß er sich nichts mehr um solche hingeworfene Worte kümmerte? – ich habe es nicht ausfindig machen können. Nur so viel weiß ich, daß der Freiherr seine Hand plötzlich anhielt, die Augen weit öffnete und ganz so aussah, als sei ihm zum erstenmal ein neues Licht aufgegangen.

»Ei, in der Tat«, sagte von Weinzapf; »nichts ist so schlimm, daß es sich nicht wieder gutmachen ließe.«

»Leere Kassen ausgenommen«, sagte das Gespenst.

»Je nun, sie lassen sich wieder füllen«, meinte der Freiherr.

»Keifende Weiber«, schnarrte ihn der Geist an.

»Oh, auch diese lassen sich zähmen«, entgegnete der Freiherr.

»Dreizehn Kinder«, brüllte der Geist.

»Können gewiß nicht alle mißraten«, erwiderte der Freiherr.

Der Geist wurde augenscheinlich ganz wütend über den Freiherrn, daß er auf einmal seine Ansichten so ganz und gar geändert hatte, aber er versuchte es, seinen Grimm wegzulachen, und sagte, »er würde sich dem Baron sehr verpflichtet fühlen, wenn er mit seinen Scherzreden aufhören wollte.«

»Es ist mir nie weniger eingefallen zu scherzen als gegenwärtig«, versetzte der Freiherr.

»Nun, es freut mich, das zu hören«, sagte das Gespenst mit einer äußerst grämlichen Miene, »denn der Scherz ist im eigentlichsten Sinne mein Tod. Wohlan denn, so gib sie rasch auf, diese traurige Welt.«

»Ich weiß nicht«, sagte der Freiherr, mit dem Messer spielend; »sie ist allerdings sehr traurig, aber ich glaube nicht, daß die deine viel besser ist; denn dein Aussehen wenigstens ist nicht besonders tröstlich, und da meine ich – welche Sicherheit habe ich denn dafür, daß ich besser daran sein werde, wenn ich aus dieser Welt gehe?« rief er aufspringend; »ich habe die Sache nie in diesem Lichte betrachtet.«

»Beeile dich!« rief das Gespenst, mit den Zähnen knirschend.

»Weiche von hinnen«, sagte der Freiherr. »Ich will nicht länger über meinem Unglück brüten, sondern eine gute Miene dazu machen und es wieder mit der frischen Luft und den Bären versuchen. Hilft das nicht, so will ich ein vernünftiges Wörtlein mit der gnädigen Frau sprechen und die Schwillenhausen totschlagen.«

Mit diesen Worten sank der Freiherr in seinen Stuhl zurück und lachte so laut, daß das Zimmer dröhnte.

Das Gespenst wich um einige Schritte zurück, indem es zugleich den Freiherrn mit einem Blick des größten Entsetzens betrachtete. Dann griff es wieder nach dem Pfahl, stieß ihn sich mit aller Macht durch den Leib, heulte fürchterlich und verschwand.

Von Weinzapf sah den Geist nie wieder. Da er einmal entschlossen war zu handeln, so brachte er die Freifrau und die von Schwillenhausen bald zur Vernunft und starb viele Jahre nachher, wenigstens als ein glücklicher, wenn auch nicht als ein reicher Mann, obschon ich in letzterer Hinsicht keine bestimmte Auskunft zu geben vermag. Er hinterließ eine zahlreiche Familie, die unter seiner persönlichen Aufsicht zur Bären- und Eberjagd herangebildet worden war.

Die Nutzanwendung meiner Geschichte besteht darin, daß alle Männer, die aus ähnlichen Ursachen melancholisch geworden sind – was wohl bei gar vielen der Fall sein mag –, beide Seiten der Frage betrachten und an die bessere ein Vergrößerungsglas halten sollten. Fühlen sie sich dann noch versucht, sich ohne Abschied aus der Welt zu machen, so mögen sie vorher noch eine große Pfeife rauchen, eine Flasche Wein austrinken und aus dem lobenswerten Beispiel des Freiherrn v. Weinzapf Nutzen ziehen.

»Der neue Wagen ist bereit! Wenn´s gefällig ist, meine Herren und Damen –« rief ein neuer Postillion in das Zimmer.

Diese Kunde bewirkte, daß die Punschgläser in großer Eile geleert wurden, und verhinderte eine Besprechung der letzten Geschichte. Man bemerkte jedoch, daß Herr Squeers, ehe man aufbrach, den grauhaarigen Herrn angelegentlich beiseite zog, um ihm eine Frage vorzulegen. Sie bezog sich auf die fünf Schwestern von York und war in der Tat nichts weiter als eine Erkundigung, ob der Herr ihm nicht sagen könne, wieviel Pensionsgeld die Klöster von Yorkshire sich in jener Zeit von ihren Kostgängern hätten zahlen lassen.

Die Reise wurde wieder fortgesetzt. Nicolaus schlief gegen Morgen ein, und als er wieder erwachte, fand er zu seinem großen Leidwesen, daß während seines Schlummers beide, der Baron von Weinzapf und der grauhaarige Herr, ausgestiegen und davongegangen waren. Der Tag schleppte sich langweilig genug hin, und ungefähr abends gegen sechs Uhr wurden Herr Squeers, der Hilfslehrer, die Knaben und das gesamte Gepäck vor dem neuen Gasthof zum Georg in Greta Bridge abgesetzt.

Siebentes Kapitel.


Siebentes Kapitel.

Herr und Madame Squeers in ihrem häuslichen Kreise.

Als Herr Squeers wohlbehalten die Kutsche verlassen hatte, ließ er Nicolaus und die Knaben mit dem Gepäck auf der Straße stehen, damit sie sich an dem Wechseln der Pferde unterhalten könnten, und eilte in das Wirtshaus, um an dem Schenktisch die Beine zu strecken. Nach einigen Minuten kam er mit sehr gestreckten Beinen zurück, wenn anders die Farbe seiner Nase und ein kurzes Schlucksen als ein geeignetes Merkmal dafür betrachtet werden konnten. Zu gleicher Zeit wurde ein schmutziger Einspänner und ein Karren, an den zwei Arbeiter gespannt waren, aus dem Hofe gezogen.

»Setzt die Knaben und die Koffer in den Karren«, sagte Squeers, die Hände reibend, »während wir, dieser junge Mann und ich, den Einspänner benutzen wollen. Steigen Sie ein, Nickleby.«

Nicolaus gehorchte, und nachdem Herr Squeers die Mähre nicht ohne einige Mühe veranlaßt hatte, gleichfalls zu gehorchen, fuhren sie ab und ließen den mit Kinderelend beladenen Karren in Muße folgen.

»Friert es Sie, Nickleby?« fragte Squeers, nachdem sie schweigend eine Strecke gefahren waren.

»Ziemlich, Sir, ich kann´s nicht leugnen.«

»Nun, ich finde es sehr begreiflich«, meinte Squeers; »es ist eine lange Reise bei solchem Wetter.«

»Ist es noch weit nach Dotheboys Hall, Sir?« fragte Nicolaus.

»Noch etwa drei Meilen«, versetzte Squeers. »Aber Sie können hier unten das Hall weglassen.«

Nicolaus hustete, als wollte er damit andeuten, daß es ihm angenehm wäre, den Grund hiervon zu erfahren.

»Es gibt nämlich kein Hall hier«, bemerkte Squeers trocken.

»Ah, so!« entgegnete Nicolaus, nicht wenig durch diese Mitteilung befremdet.

»In London nennen wir es Hall«, fuhr Herr Squeers fort, »weil es vornehmer klingt; aber hier herum ist dieser Name unbekannt. Es kann einer sein Haus eine Insel heißen, wenn es ihm beliebt, denn soviel ich weiß, ist dies durch keine Parlamentsakte verboten.«

»Ich glaube nicht, Sir«, erwiderte Nicolaus.

Squeers warf bei dem Schluß dieses kleinen Zwiegesprächs einen schlauen Blick auf seinen Begleiter, und da er fand, daß sich dieser in Gedanken vertiefte und keineswegs geneigt war, weiter auf sein Gespräch einzugehen, so begnügte er sich, auf den Gaul loszuschlagen, bis sie an dem Ziel ihrer Reise anlangten.

»So, Herr Nickleby, steigen Sie hier aus«, sagte Squeers. »Heda! heraus! Das Pferd ausgespannt! Wird’s bald?«

Während der Schulmeister diese und ähnliche ungeduldige Rufe erschallen ließ, hatte Nicolaus Zeit, Beobachtungen anzustellen. Herrn Squeers Anstalt war ein langes, kalt aussehendes, einstöckiges Haus, hinter dem sich einige Nebengebäude, eine Scheune und ein Stall befanden. Nach einigen Minuten hörte man den Riegel des Hoftors zurückschieben, und unmittelbar darauf trat ein langer, ausgemergelter Junge mit einer Laterne in der Hand heraus.

»Bist du’s, Smike?« rief Squeers.

»Ja, Sir«, erwiderte der Junge.

»Warum, zum Teufel, hast du uns so lange warten lassen?«

»Ich bitte um Verzeihung, Sir; ich bin bei dem Feuer eingeschlafen«, antwortete Smike demütig.

»Feuer? Was für ein Feuer? Wo ist Feuer?« fragte der Schulmeister scharf.

»Nur in der Küche, Sir«, entgegnete der Junge; »die Madame sagte, ich könne hineingehen und mich wärmen, da ich aufbleiben müsse.«

»Ich glaube, die Madame ist toll geworden«, erwiderte Squeers; »ich wette, du wärst in der Kälte um ein gut Teil wacher geblieben.«

Herr Squeers war mittlerweile ausgestiegen und befahl nun dem Jungen, nach dem Pferd zu sehen und dafür Sorge zu tragen, daß es an diesem Abend keinen Hafer mehr bekomme. Dann hieß er Nicolaus an der Vordertür warten, da er um das Haus herumgehen und die Tür von innen öffnen wolle.

Ein Heer schlimmer Ahnungen, die unserem Nicolaus bereits auf der ganzen Reise zugesetzt hatten, drängte sich jetzt, als er allein war, mit doppelter Gewalt seiner Seele auf. Die große Entfernung von der Heimat und die Unmöglichkeit, sie anders als zu Fuß zu erreichen, wenn er genötigt sein sollte, dahin zurückzukehren, malte sich ihm in den beunruhigendsten Farben; und als er sich das trübselige Haus mit den dunklen Fenstern und die wilde, rund umher mit Schnee bedeckte Gegend betrachtete, fühlte er ein Herzweh, wie er es früher nie empfunden hatte.

»Nun«, rief Squeers, den Kopf aus der vorderen Tür steckend, »wo sind Sie, Nickleby?«

»Hier, Sir«, versetzte Nicolaus.

»So kommen Sie herein«, sagte Squeers. »Der Wind saust hier durch die Tür, daß er einen umwerfen könnte.«

Nicolaus gehorchte seufzend. Herr Squeers legte, um die Tür gegen den Wind zu sichern, einen Balken vor und führte dann seinen Hilfslehrer in ein kleines, sparsam mit Stühlen versehenes Zimmer. An der Wand hing eine vergilbte Landkarte, und von zwei Tischen trug der eine einige Vorbereitungen zum Nachtessen, während auf dem andern »der wohlberatene Hofmeister«, Murrays Grammatik, ein halbes Dutzend Pensions-Offerten und ein alter, an Wackford Squeers Wohlgeboren adressierter Brief in malerischer Verwirrung umherlagen.

Sie waren kaum ein paar Minuten in diesem Gemach, als eine Weibsperson hereinstürzte, Herrn Squeers bei der Kehle faßte und ihm zwei schallende Küsse versetzte, die sich so rasch, wie das Pochen eines Briefträgers folgten. Die Dame, eine hagere, grobknochige Gestalt, war fast um einen halben Kopf größer als Herr Squeers und trug einen barchentnen Bettkittel, Papierwickeln in den Haaren und eine schmutzige Nachthaube, gegen die ein gelbes, baumwollenes Schnupftuch, das sie unter dem Kinn zusammengeknüpft hatte, gar liebenswürdig abstach.

»Was macht mein Squeerschen?« sagte die Dame in scherzendem Ton und mit rauher, heiserer Stimme.

»Ich bin wohl, ganz wohl, meine Liebe«, versetzte Squeers. »Wie steht’s mit den Kühen?«

»Alles in Ordnung, Stück für Stück«, antwortete die Dame.

»Und die Schweine?« fuhr Squeers fort.

»Sind so munter, wie sie bei deinem Abgang waren.«

»Gott sei Dank«, sagte Squeers, seinen Überrock ausziehend. »Die Jungen sind wahrscheinlich auch, wie sie sein sollen?«

»O ja, wohl genug«, versetzte Frau Squeers verdrießlich. »Der kleine Pitcher hat das Fieber.«

»Hol der Henker den Jungen«, rief Squeers; »der ist doch auch immer krank.«

»Ich glaube, die ganze Welt hat keinen solch nichtsnutzigen Burschen mehr aufzuweisen«, erwiderte Frau Squeers; »und wenn etwas an ihn kommt, so ist es noch obendrein immer ansteckend. Aber glaube mir, es ist nichts als eitle Widerspenstigkeit, und kein Mensch soll mich von dem Gegenteil überzeugen. Verlaß dich drauf, Schläge würden ihn kurieren, wie ich dir schon vor sechs Monaten gesagt habe.«

»Ja, ich erinnere mich, meine Liebe«, erwiderte Squeers. »Wir wollen aber sehen, was sich machen läßt.«

Während dieses kleinen Zärtlichkeitsaustausches stand Nicolaus verlegen in der Mitte des Zimmers, ohne mit sich eins werden zu können, ob man wohl von ihm erwarte, daß er sich nach der Hausflur zurückziehe, oder daß er an Ort und Stelle bleibe. Aber nun erlöste ihn Herr Squeers aus dieser peinlichen Ungewißheit.

»Dies ist der neue junge Mann, mein Schatz«, sagte der Herr.

»Ah!« erwiderte Madame Squeers, indem sie Nicolaus mit dem Kopf zunickte und ihn kalt vom Wirbel bis zur Zehe musterte.

»Er wird mit uns zu Nacht speisen«, sagte Squeers, »und morgen sein Geschäft bei den Jungen beginnen. Du kannst ihm doch eine Streu zurechtmachen, nicht wahr?«

»Will sehen, wie’s geht«, entgegnete die Dame. »Sie machen sich wohl nichts daraus, wie Sie schlafen, Sir?«

»O nein«, erwiderte Nicolaus, »ich bin in dieser Hinsicht nicht verwöhnt.«

»Das ist ein Glück«, sagte Frau Squeers.

Der Witz dieser Dame bestand hauptsächlich in ihren beißenden Antworten. Herr Squeers lachte herzlich bei dem letzten Scherz seiner werten Hälfte und schien von Nicolaus dasselbe zu erwarten.

Es folgte nun zwischen dem Schulmeister und der Schulmeisterin eine weitere Verhandlung über den Erfolg von Herrn Squeers Abstecher, der sich hauptsächlich um geleistete Zahlungen und böse Schuldner drehte, bis endlich ein junges Dienstmädchen eine Yorkshirer Pastete nebst einem Stück kalten Rindfleisches hereintrug und beides auf den Tisch setzte. Als das geschehen war, erschien der Knabe Smike mit einem Krug Bier.

Herr Squeers leerte die Taschen seines Überrocks von den Briefen an verschiedene Knaben und von andern kleinen Dokumenten, die er in diesen mit herbefördert hatte. Der Knabe blickte mit einem scheuen und ängstlichen Ausdruck auf die Papiere, als hege er die schwache Hoffnung, daß auch etwas für ihn darunter sei. Der Blick war ein sehr schmerzlicher und drang Nicolaus tief ins Herz; denn er erzählte eine lange und traurige Geschichte.

Nicolaus wurde dadurch veranlaßt, den Jungen aufmerksamer zu betrachten, und fand sich nicht wenig überrascht, als er die seltsame Mischung von Kleidern, die dessen Anzug bildeten, gewahrte. Obgleich er nicht weniger als achtzehn oder neunzehn Jahre zählen konnte und für dieses Alter ziemlich groß war, war doch seine Kleidung ungefähr eine solche, wie man sie kleinen Knaben zu geben pflegt, zwar an Armen und Beinen abgeschmackt kurz, demungeachtet aber weit genug für das ausgehungerte Gerippe. Um die untere Partie seiner Beine mit dieser seltsamen Garderobe in Einklang zu bringen, trug er ein Paar ungeheure Stiefel, die ursprünglich mit Stulpen versehen gewesen und für einen stämmigen Bauern gemacht worden sein mochten, jetzt aber sogar für einen Bettler zu sehr geflickt und zerrissen waren. Gott weiß, wie lange er sich schon bei Squeers befand; aber er trug noch immer dasselbe Weißzeug, das er mit sich hergebracht hatte; denn um seinen Hals hing eine zerrissene Kinderkrause, die zur Hälfte von einem groben Mannshalstuch bedeckt war. Er hinkte, und während er sich anstellte, als sei er emsig mit der Zurüstung des Tisches beschäftigt, warf er einen so scharfen und doch so entmutigenden und hoffnungslosen Blick auf die Briefe, daß Nicolaus es kaum mit ansehen konnte.

»Was schnupperst du da herum, Smike?« rief Madame Squeers. »Willst du die Sachen liegenlassen, he?«

»Ah, bist du da?« fragte Squeers aufsehend.

»Ja, Sir«, versetzte der Junge, die Hände zusammendrückend, als ob er mit Gewalt die zuckenden Finger abhalten müsse, nach den Papieren zu greifen; »ist da –«

»Nun?« entgegnete Squeers.

»Haben Sie – ist jemand – hat man nichts gehört – über mich?«

»Zum Henker, nein«, erwiderte Squeers verdrießlich.

Der Junge blickte weg und bewegte sich, die Hand vor das Gesicht haltend, gegen die Tür.

»Nicht ein Wort«, nahm Squeers wieder auf, »und ich werde wohl auch nie etwas zu hören bekommen. Ist es nicht eine feine Geschichte, daß du schon so viele Jahre hier bist, und daß nach den ersten sechsen kein Heller mehr für dich bezahlt wurde? Ja, man hat nicht einmal nach dir gefragt, so daß man etwa hätte ausfindig machen können, wohin du gehörst. Eine feine Geschichte das – einen so großen Schlingel wie du auffüttern zu müssen, ohne die Hoffnung zu haben, je einen Pfennig dafür zu bekommen. Wie?«

Der Junge drückte die Hand an seine Stirn, als versuche er, sich irgendeine Erinnerung zurückzurufen, blickte dann ausdruckslos auf den Frager, verzog allmählich sein Gesicht zu einem Lächeln und hinkte hinaus.

»Ich muß dir etwas sagen, Squeers«, bemerkte die Frau Schulmeisterin, als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte; »ich glaube, der junge Bursche wird noch blödsinnig.«

»Ich hoffe nicht«, versetzte Herr Squeers, »denn er ist außer dem Hause ein anstelliger Bursche, der sein Essen und Trinken wohl verdient. Wäre es aber auch der Fall, so hätte er, denke ich, immerhin noch genug Verstand für uns. Doch komm, wir wollen zu Nacht essen. Ich bin hungrig und müde und will deshalb machen, daß ich zu Bett komme.«

Auf diese Erinnerung wurde noch extra ein Beefsteak für Herrn Squeers herbeigebracht, der nicht versäumte, demselben volle Gerechtigkeit angedeihen zu lassen. Nicolaus zog seinen Stuhl an den Tisch, aber der Appetit war ihm gänzlich vergangen.

»Wie findest du das Beefsteak, Squeers?« fragte die Schulmeisterin.

»Zart wie Lammfleisch«, erwiderte Squeers. »Willst du’s versuchen?«

»Ich könnte keinen Bissen mehr hinunterbringen«, entgegnete die Frau. »Was soll der junge Mann haben, mein Lieber?«

»Was ihm von dem Vorhandenen beliebt«, erwiderte Squeers in einer höchst ungewöhnlichen Anwandlung von Großmut.

»Nun, was wünschen Sie, Herr Knittelbrei?« fragte Frau Squeers.

»Ich möchte mir ein kleines Stückchen von der Pastete ausbitten – nur ein ganz kleines; denn ich bin nicht hungrig«, antwortete Nicolaus.

»Ist es aber nicht schade, die Pastete anzuschneiden, wenn Sie nicht hungrig sind?« meinte Frau Squeers. »Wollen Sie nicht ein Stückchen von dem Rindfleisch versuchen?«

»Wie Ihnen beliebt«, versetzte Nicolaus zerstreut; »es ist mir ganz gleichgültig.«

Frau Squeers machte auf diese Antwort eine sehr gnädige Miene, nickte Squeers zu, als ob sie ihre Zufriedenheit darüber ausdrücken wolle, daß sich der junge Mann so gut in seine Stellung zu finden wisse, und legte Nicolaus mit eigenen schönen Händen eine Fleischschnitte vor.

»Bier, Squeerchen?« fragte die Dame, indem sie ihrem Mann durch Blinzen und Stirnrunzeln zu verstehen gab, daß die Frage nicht so gemeint sei, ob er Bier trinken wolle, sondern ob Nicolaus welches haben solle.

»Allerdings«, versetzte Squeers unter ähnlichen Gebärden. »Ein Glas voll.«

Nicolaus erhielt also ein Glas voll, und da er eben mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt war, so trank er es in glücklicher Nichtbeachtung dessen, was an seiner Seite verhandelt wurde, aus.

»Das Beefsteak ist ungemein saftig«, sagte Squeers, indem er Messer und Gabel, mit denen er eine Zeitlang schweigend gespielt hatte, niederlegte.

»Es ist Mastochsenfleisch«, entgegnete die Dame. »Ich kaufte ein schönes, großes Stück in der Absicht –«

»In was für einer Absicht?« rief Squeers hastig. »Doch nicht für die – –«

»Nein, nein, nicht für sie«, erwiderte Frau Squeers, »sondern für dich, wenn du wieder nach Hause kämest. Du mein Himmel, wie kann dir nur einfallen, daß mir ein solcher Mißgriff begegnen könnte?«

»Auf Ehre, meine Liebe, ich konnte mir nicht denken, was du sagen wolltest«, entschuldigte sich Squeers, der ganz blaß geworden war.

»Brauchst dir keine unnötigen Sorgen zu machen«, bemerkte die Frau, herzlich lachend. «Auch nur zu denken, ich könnte eine solche Gans sein! Ei, Ei!«

Dieser Teil der Unterhaltung war etwas unverständlich, wenn man keine Kunde von dem in der Gegend im Umlaufe befindlichen Gerüchte hatte, Herr Squeers hasse alle Grausamkeit gegen Tiere so sehr, daß er für die Küche seiner Zöglinge Fleisch von Rindvieh aufkaufe, das eines natürlichen Todes gestorben sei; und vielleicht fürchtete er, bei dem vorerwähnten Anlasse, ohne es zu wissen, ein auserlesenes Stückchen, das für die jungen Herrchen bestimmt war, verzehrt zu haben.

Als das Nachtessen vorüber war, wurde es von einem kleinen Dienstmädchen mit hungrigen Augen wieder abgetragen, und Madame Squeers entfernte sich, um die Überbleibsel einzuschließen. Desgleichen trug sie Sorge, die Anzüge der fünf eben angekommenen Knaben aufzubewahren, die sich jetzt auf dem Wege zu ihrem Nachtlager, nämlich auf einer steilen Wendeltreppe, befanden, die man nicht mit Unrecht die Todesleiter nennen konnte, da es selten ohne eine Erkältung auf derselben ablief. Man hatte sie vorher mit einem leichten Süppchen beköstigt und packte sie nun, Seite an Seite, in eine kleine Bettstelle, wo sie sich gegenseitig wärmen und von einem besseren Mahle nebst einem geheizten Stübchen träumen konnten, wenn, wie nicht unwahrscheinlich, ihre Einbildungskraft diese Richtung einschlug.

Herr Squeers labte sich selbst mit einem tüchtigen Glase Grog, wobei er dem beliebten Grundsatze »ebensoviel Branntwein wie heißes Zuckerwasser« folgte, und sein liebenswürdiges Ehegemahl mischte für Nicolaus ein kleines Glas voll desselben Getränkes, nur in weit wässerigerer Zusammensetzung. Als dies geschehen war, rückten Herr und Frau Squeers dicht an das Feuer, setzten ihre Füße auf das Kamingitter und flüsterten vertraulich zusammen, während Nicolaus »den wohlberatenen Hofmeister« aufnahm und die ansprechenden Artikel desselben, nebst den darin enthaltenen Bildern, mit ebensoviel Bewußtsein dessen, was er tat, durchblätterte, als wäre er in magnetischem Schlaf gewesen.

Endlich gähnte Herr Squeers entsetzlich und meinte, es wäre hohe Zeit zu Bett zu gehen, worauf Frau Squeers und das Dienstmädchen eine kleine Strohmatratze und ein paar Decken in das Zimmer schleppten und sie zu einem Lager für Nicolaus zurüsteten.

»Wir wollen Ihnen morgen Ihr regelmäßiges Schlafgemach anweisen, Nickleby«, sagte Squeers. »Wer schläft in Brooks‘ Bett, meine Liebe?«

»In Brooks‘ Bett? versetzte Frau Squeers nachsinnend. »Jennings, der kleine Bolder, Graymarsh und – wie heißt doch der vierte –«

»Ach, so«, entgegnete Squeers; »richtig, Brooks‘ Bett ist voll.«

»Voll?« dachte Nicolaus. »Ich sollte es wohl selbst auch glauben.«

»Es muß aber irgendwo noch Platz geben«, fuhr Squeers fort, »ich kann mich nur im Augenblick nicht recht darauf besinnen. Doch lassen wir das bis morgen. Gute Nacht, Nickleby! Vergessen Sie nicht – morgen früh um sieben Uhr!«

»Ich werde bereit sein, Sir«, erwiderte Nicolaus. »Gute Nacht.«

»Ich will selbst kommen und Ihnen den Brunnen zeigen«, sagte Squeers. »Sie werden immer ein Stückchen Seife auf dem Küchenfenster finden; das gehört Ihnen.«

Nicolaus machte große Augen, ohne jedoch etwas zu entgegnen; und Squeers schickte sich aufs neue zum Fortgehen an, kehrte jedoch abermals zurück.

»Ich weiß in der Tat nicht«, sagte er, »wessen Handtuch ich Ihnen anweisen soll. Doch Sie können sich ja morgen früh mit etwas anderem behelfen, meine Frau wird dann im Laufe des Tages dafür Sorge tragen. Vergiß mir’s nicht, meine Liebe.«

»Ich will darauf Bedacht nehmen«, entgegnete Frau Squeers; »und Sie, junger Mann, sehen Sie darauf, daß Sie zuerst an den Brunnentrog kommen. Es ist nicht mehr als billig, daß der Lehrer sich desselben zuerst bediene; wenn Sie aber nicht eilen, so werden die Jungen Ihnen zuvorkommen.«

Ehe sich das edle Paar entfernte, gab Herr Squeers seiner Frau noch einen Wink, die Branntweinflasche fortzuschaffen, damit nicht Nicolaus in der Nacht Gebrauch davon mache, was denn auch von der Dame mit großer Eile besorgt wurde.

Als Nicolaus allein war, ging er ein halb dutzendmal in großer Aufregung durch das Zimmer. Allmählich wurde er jedoch ruhiger, setzte sich auf einen Stuhl und faßte den Entschluß, alles Ungemach, was da kommen möchte, eine Zeitlang geduldig über sich ergehen zu lassen, um seinem Onkel keinen Vorwand zu geben, die Hand von seiner hilflosen Mutter und Schwester abzuziehen. Eine edle Absicht verfehlt selten, gute Früchte in der Seele, in der sie entspringt, zu treiben. Sein Kleinmut legte sich, und – so lebhaft sind die Traume der Jugend – er hoffte sogar, daß sich die Angelegenheiten in Dotheboys Hall noch besser machen dürften, als es das Aussehen hatte.

Er wollte sich eben, wieder etwas erheitert, auf sein Lager werfen, als ein versiegelter Brief aus seiner Rocktasche fiel. Er hatte in der Eile, womit er London verließ, diesen ganz vergessen und sich seiner nicht mehr erinnert; setzt fiel ihm auf einmal wieder Newman Noggs und sein geheimnisvolles Benehmen ein.

»Himmel, was für eine wunderliche Hand!« sagte Nicolaus.

Der Brief war an ihn selbst adressiert, auf ein ungemein schmutziges Papier geschrieben und die Buchstaben so undeutlich gekritzelt, daß man sie kaum lesen konnte. Nach vieler Mühe gelang es ihm endlich, das Folgende herauszubringen:

»Mein lieber junger Herr!

Ich kenne die Welt. Ihr Vater kannte sie nicht, sonst würde er mir keine Wohltaten erwiesen haben, da er auf keinen Wiederersatz rechnen durfte. Auch Sie kennen sie nicht, sonst hätten Sie sich zu keiner solchen Reise verpflichtet.

Wenn Sie je eines Obdachs in London bedürfen sollten, (zürnen Sie nicht wegen dieses Ausdrucks, denn ich hielt es ehedem gleichfalls für unmöglich), so können Sie meine Wohnung bei dem Wirt zur Krone, Golden Square in der Silberstraße, erfahren. Es ist das Eckhaus der Silber- und Jacobsstraße und hat nach beiden Straßen hinaus eine Tür. Sie können abends kommen. Einst schämte sich niemand – doch das ist jetzt gleichgültig – es ist alles vorüber.

Entschuldigen Sie die schlechte Schrift. Ich würde sogar nicht einmal wissen, wie man einen ganzen Rock trägt. Ich habe alles Frühere vergessen und damit wohl auch meine Orthographie.

Newman Noggs.

P.S.

Wenn Sie nach Barnet Castle kommen, so treffen Sie im Königskopf gutes Bier. Sagen Sie, daß Sie mich kennen, und man wird Ihnen keine Rechnung machen. Sie können dort von Herrn Noggs sprechen, denn ich war damals ein Mann von Stande – ja, in der Tat.«

Es ist vielleicht nicht der Erwähnung wert; aber als Nicolaus Nickleby das Schreiben zusammenlegte und in seiner Brieftasche verwahrte, trübte eine Feuchtigkeit seine Augen, die man hätte für Tränen halten können.

Achtes Kapitel.


Achtes Kapitel.

Von dem inneren Haushalt in Dotheboys Hall.

Eine Fahrt von zweihundert und etlichen Meilen bei schlechtem Wetter kann auch das härteste Bett weich machen. Vielleicht ist sie auch imstande, die Träume zu versüßen; denn Träume, die Nicolaus‘ rauhes Lager umgaukelten und ihr luftiges Nichts in sein Ohr flüsterten, waren von der angenehmsten und glücklichsten Art. Er war eben im Begriff, das Glück auf Windesflügeln einzuholen, als der schwache Schimmer eines ersterbenden Lichtes auf seine Augen fiel und eine Stimme, die er ohne Schwierigkeit für die des Herrn Squeers erkennen konnte, ihn erinnerte, daß es Zeit sei aufzustehen.

»Sieben Uhr vorbei«, sagte Herr Squeers.

»Ist es schon Morgen?« fragte Nicolaus, im Bette aufsitzend.

Ah, freilich ist es«, antwortete Squeers, »und dazu ein recht eisiger. Nun, Nickleby, beeilen Sie sich.«

Nicolaus bedurfte keiner weitern Ermahnung, sondern beeilte sich und kleidete sich bei dem Kerzenlicht, das Herr Squeers in der Hand hatte, an.

»Das ist ein schöner Auftritt«, sagte der Schulmann; »der Brunnen ist eingefroren.«

»So«, entgegnete Nicolaus, den diese Nachricht nicht besonders interessierte.

»Ja«, erwiderte Squeers. »Sie können sich diesen Morgen nicht waschen.«

»Mich nicht waschen?« rief Nicolaus.

»Nein, es ist nicht daran zu denken«, erwiderte Squeers spitzig. »Sie müssen sich begnügen, sich eine trockene Politur zu geben, bis wir das Eis im Brunnen einstoßen und einen Eimer voll für die Jungen herausholen können. Was starren Sie mich so an? Geschwind! Geschwind!«

Nicolaus erwiderte nichts, sondern schlüpfte hastig in seine Kleider, während Squeers die Läden öffnete und das Licht ausblies. Bald darauf ließ sich die Stimme der liebenswürdigen Frau Schulmeisterin vernehmen, die Einlaß begehrte.

»Komm herein, mein Schatz«, sagte Squeers.

Frau Squeers kam herein, noch in denselben Bettkittel gekleidet, in dem sie sich schon in der vorigen Nacht so vorteilhaft ausgenommen hatte, nur daß sie als weitere Zierde einen altertümlichen Biberhut mit vieler Anmut und Leichtigkeit über der früher erwähnten Nachthaube trug.

»Hol’s» der Henker«, begann die Dame, den Wandschrank öffnend; »ich kann den Schullöffel nirgends finden.«

»Laß dich das nicht anfechten, meine Liebe«, bemerkte Squeers begütigend: »wir haben ihn ja vorderhand nicht nötig.«

»Nicht nötig? Wie kannst du nur so reden«, versetzte Frau Squeers beißend. »Ist heute nicht der Schwefelmorgen?«

«Ja, ja, du hast recht, ich habe das ganz vergessen«, entgegnete Herr Squeers. »Wir reinigen den Knaben hin und wieder das Blut, Nickleby.«

»Pah! Albernheiten!« sagte die Dame. »Glauben Sie ja nicht, junger Mann, daß wir uns für Schwefelblumen und Sirup in Unkosten versetzen, bloß um ihr Blut zu reinigen. Wenn Sie glaubten, wir trieben das Geschäft in dieser Weise, so wären Sie sehr im Irrtum. Ich will daher gleich offen Farbe bekennen.«

»Mein Schatz«, wandte Squeers mit einem Stirnrunzeln ein. »Hm!«

»Pah, Dummheiten!« erwiderte Frau Squeers. »Wenn der Herr hier Lehrer sein will, so muß er von vornherein wissen, daß es da keiner Alfanzereien bei den Knaben bedarf. Sie erhalten den Schwefel und Sirup – einmal, weil sie, wenn man anders mit ihnen dokterte, immer etwas zu klagen hätten, so daß man gar nicht fertig mit ihnen würde, und dann, weil es ihnen den Appetit verdirbt und auch wohlfeiler zu stehen kommt, als ein Frühstück und ein Mittagessen. So tut es zu gleicher Zeit ihnen und uns gut, und was will man weiter?«

Nach dieser Erklärung steckte Frau Squeers den Kopf in den Schrank und stellte genauere Nachforschung nach dem Löffel an, wobei ihr Herr Squeers half. Während des Suchens flüsterten sie miteinander; aber der Schrank dämpfte den Ton der Stimme, so daß Nicolaus nichts weiter unterscheiden konnte, als daß Herr Squeers meinte, seine Frau hätte etwas Unverständiges gesagt, eine Ansicht, die indessen Frau Squeers für dummes Geschwätz erklärte.

Als sich alles Suchen und Herumstöbern als fruchtlos erwies, wurde Smike herbeigerufen, der nun von Frau Squeers so lange mit Püffen und von Herrn Squeers mit Ohrfeigen bearbeitet wurde, bis sich im Laufe dieser Doppelbehandlung sein Geist so weit aufhellte, daß er die Vermutung auszusprechen imstande war, Madame Squeers habe ihn vielleicht in der Tasche, was sich denn auch als richtig herausstellte. Da jedoch Frau Squeers vorher beteuert hatte, sie wisse ganz bestimmt, daß er nicht dort wäre, so erhielt Smike eine weitere Ohrfeige, weil er sich unterfangen hatte, seiner Gebieterin zu widersprechen, und zugleich die Verheißung einer gesunden Tracht Schläge, wenn er sich in Zukunft nicht respektvoller benehme; so daß ihm also sein Scharfsinn keinen besonderen Gewinn brachte.

»Ein unbezahlbares Weib, Nickleby«, sagte Squeers, als seine Gattin hinauseilte und den armen Haussklaven vor sich hin stieß.

»Es scheint so«, bemerkte Nicolaus.

»Ich kenne nicht ihresgleichen«, fuhr Squeers fort. »Sie ist immer dieselbe, Nickleby – immer das gleiche, geschäftige, rührige, tätige, sparsame Geschöpf, wie Sie es zur Stunde sehen.«

Nicolaus seufzte unwillkürlich bei dem Gedanken an die liebenswürdigen Aussichten, die sich ihm in diesem Hause auftaten; aber Squeers war zufällig zu sehr von seinen eigenen Gedanken erfüllt, um es zu bemerken.

»Wenn ich in London oben bin«, fuhr Squeers fort, »so brauche ich gewöhnlich die Redensart, daß sie den Knaben eine Mutter sei. Aber sie ist ihnen zehnmal mehr als eine Mutter. Sie tut Dinge für die Jungen, Nickleby, daß ich wohl behaupten kann, die Hälfte der Mütter vermöchten es nicht, etwas der Art für ihre eigenen Söhne zu tun.«

»Ich glaube das selber auch, Sir«, entgegnete Nicolaus.

Das Wahre an der Sache war übrigens, daß beide, Herr und Frau Squeers, die Knaben als ihre eigentlichen und natürlichen Feinde betrachteten, oder mit andern Worten, sie waren der Ansicht, es sei ihr Beruf und Gewerbe, von jedem Knaben soviel wie nur immer möglich herauszupressen. Über diesen Punkt waren beide einig und richteten demgemäß ihr Benehmen ein. Es gab nur den einen Unterschied zwischen ihnen, daß Frau Squeers den Krieg gegen den Feind offen und furchtlos führte, während Squeers auch zu Hause seine Schuftigkeit mit einem Anstrich seiner gewohnten Verstellung verhüllte, als meine er wirklich, eines Tages sich selbst täuschen und überreden zu können, daß er eigentlich doch eine seelensgute Haut wäre.

»Aber kommen Sie«, sagte Squeers, einen ähnlichen Gedankengang in dem Geiste seines Gehilfen unterbrechend: »wir wollen nach dem Schulzimmer gehen. Helfen Sie mir meinen Schulrock anziehen.«

Nicolaus half seinem Dienstherrn ein altes barchentnes Jagdwams anzuziehen, das dieser von einem Kleiderständer in der Hausflur herunternahm. Squeers bewaffnete sich mit seinem spanischen Rohr und führte den Unterlehrer über einen Hof zu einer Tür des Hinterhauses.

»So!« sagte der Schulmeister, als sie miteinander eintraten: »das ist unsere Arbeitsstätte.«

Man traf hier auf ein so buntes Schauspiel und auf so viele Dinge, die die Aufmerksamkeit auf sich zogen, daß Nicolaus im Anfang nur aufschauen konnte, ohne eigentlich etwas zu unterscheiden. Nach und nach löste sich jedoch der Ort in ein kahles und schmutziges Zimmer mit ein paar Fenstern auf, an denen übrigens das Glas kaum den zehnten Teil ausmachen mochte, da der Rest mit Papier aus alten Schreibbüchern geflickt war. Außerdem fand man noch ein paar lange, alte, gebrechliche Tische, die mit Messern zerschnitten, mit Tinte beschmiert und auf jede nur mögliche Weise beschädigt waren, einige Bänke, ein besonderes Pult für Herrn Squeers und ein anderes für seinen Gehilfen. Die Decke war, wie die einer Scheune, durch Querbalken und Sparren unterstützt und die Wände so besudelt und geschwärzt, daß es unmöglich war zu ermitteln, ob ihr ursprünglicher Anstrich, wenn ein solcher vorhanden war, von dem Tüncher oder dem Maler herrührte.

Und erst die Zöglinge – die jungen Edelleute! Die letzten schwachen Hoffnungsstrahlen, der entfernteste Lichtblick einer Möglichkeit, daß seine Bemühungen in dieser Schauerhöhle je etwas Gutes erzielen könnten, schwanden aus Micolaus‘ Seele, als er mit Schrecken der Wirklichkeit ansichtig wurde. Bleiche, hagere Gesichter, abgezehrte Gerippe, Kinder mit den Zügen von Greisen, Mißgestalten mit eisernen Schienen an den Gliedern, Knaben von verkümmertem Wuchs, und andere, deren lange, dürre Beine die gebeugten Körper kaum zu tragen vermochten –, alles dieses drängte sich vor seinem Blick. Da waren Triefaugen, Hasenscharten, Klumpfüße, kurz jede Häßlichkeit und Entstellung, die auf eine unnatürliche Abneigung der Eltern gegen ihre Sprößlinge oder auf ein Leben hindeutete, das von frühester Kindheit an nur Grausamkeit und Vernachlässigung gekannt hatte. Man sah einige kleine Gesichter, die schön gewesen sein würden, wären sie nicht durch den finstern Blick eines durch Leiden verstockten Inneren verdüstert gewesen; eine Kindheit, der der Glanz des Auges erloschen, deren Schönheit entschwunden und wo nur die Hilflosigkeit zurückgeblieben war; boshafte Gesichter, die bleiernen Auges, wie Übeltäter in einem Gefängnis, vor sich hinbrüteten; und arme Geschöpfe, die, die Sünden ihre schwachen Eltern büßend, selbst nach den gedungenen Wärterinnen weinten – dem einzigen, was sie gekannt hatten, und wo sie doch nicht ganz verlassen in ihrer Einsamkeit waren. Welche heranschießende Höllensaat wurde hier erzogen, wo Mitgefühl und Liebe schon in der Geburt erstickt wurden, wo man jedes frische und jugendliche Gefühl durch Schläge und Hunger erdrückte und wo jede der Rachsucht entquellende Leidenschaft sich leise ihre Eitergänge bis in das Innerste des übervollen Herzens fraß!

Und doch hatte dieser Anblick, so schmerzlich er auch war, seine komischen Züge, die bei einem minderbeteiligten Zuschauer, als Nicolaus es war, wohl ein Lächeln hervorrufen konnten. Frau Squeers stand hinter einem der Lehrerpulte und hatte eine ungeheure Schüssel mit Schwefel und Sirup vor sich. Von dieser köstlichen Mischung gab sie einem jeden Knaben eine starke Dosis, wobei sie sich eines gemeinschaftlichen, ursprünglich wohl für einen Riesen angefertigten hölzernen Löffels bediente, der den Mund eines jeden der jungen Herrchen beträchtlich erweiterte, da sie unter schweren Strafandrohungen den ganzen Löffel voll auf einmal hinunterschlucken mußten. In einer Ecke der Stube hatten sich, der Kameradschaft halber, die in der Nacht angekommenen kleinen Knaben zusammengedrückt, drei von ihnen in ungemein weiten Lederhosen und zwei in alten langen Hosen, die sogar noch bedeutend enger anlagen, als man gewöhnlich Unterbeinkleider zu tragen pflegt. In einer kleinen Entfernung von ihnen saß Herrn Squeers‘ jugendlicher Sohn und Erbe, ein sprechendes Ebenbild seines Vaters. Er wehrte sich aus Leibeskräften mit Händen und Füßen gegen Smike, der ihm ein Paar neue Stiefel von verdächtiger Ähnlichkeit mit denen, die der kleinste der neuen Ankömmlinge auf der Herreise getragen hatte, anziehen wollte; und auch der kleine Knabe schien sein Eigentum zu erkennen, denn er betrachtete dasselbe mit einem Blick der kläglichsten Verwunderung. Außerdem stand eine lange Reihe von Knaben harrend da, freilich mit Gesichtern, die nicht das angenehmste Vorgefühl hinsichtlich des Gesiruptwerdens aussprachen; und ein anderes Häuflein, das eben diese Tortur überstanden hatte, deutete durch allerhand Mundverzerrungen an, daß dieses Löffeltraktament eben nicht zu den angenehmsten gehöre. Die Knaben waren insgesamt so buntscheckig, übel zusammenpassend und ungewöhnlich gekleidet, daß man sich des Lachens nicht hätte erwehren können, wäre nicht der ekelerregende Anblick von Schmutz, Unordnung und Kränklichkeit damit verbunden gewesen.

»Nun«, sagte Squeers, indem er mit seinem Rohr so heftig auf den Tisch schlug, daß die Hälfte der Knaben beinahe aus ihren Stiefeln gesprungen wäre; »ist das Doktern endlich vorbei?«

»Im Augenblick«, versetzte Frau Squeers, die dem letzten Knaben, den sie in ihrer Eile beinahe erstickt hätte, mit dem hölzernen Löffel auf den Scheitel klopfte, um ihn wieder zu sich zu bringen. »Smike, nimm die Schüssel fort – geschwind!«

Smike hinkte mit der Schüssel hinaus, und Frau Squeers folgte ihm, nachdem sie zuvor ihre schmutzigen Finger in dem Lockenkopfe eines Knaben abgewischt hatte, hastig nach einer Art Waschhaus, wo ein kleines Feuer unter einem großen Kessel brannte und eine Anzahl kleiner hölzerner Näpfe auf einem Tische standen.

In diese Näpfe goß Frau Squeers, unter dem Beistände ihres ausgehungerten Dienstmädchens, ein braunes Gemisch, das wie Lohbrühe aussah und Suppe genannt wurde. In jeden Napf kam ein winziges Scheibchen Schwarzbrot, und als die Knaben ihre Suppe mit dem Brote ausgelöffelt und hintendrein auch diesen Löffel verzehrt hatten, womit das Früstück beendigt war, sprach Herr Squeers mit feierlicher Stimme: »Herr, laß uns aufrichtig dankbar sein für alles Gute, was wir von dir empfangen«, und begab sich dann zu seiner eigenen Morgenerquickung.

Nicolaus erweiterte seinen Magen mit einem Napf Suppe, wohl aus demselben Grunde, der einige Milde veranlaßt, Erde zu verschlucken – damit nämlich hernach ihr Eingeweide sie nicht quäle, wenn sie nichts zu essen hätten. Als er hierauf noch eine Brotschnitte mit Butter verzehrt hatte, die ihm vermöge seiner Eigenschaft als Lehrer zuteil wurde, so setzte er sich nieder und harrte, bis der Unterricht begänne.

Es konnte ihm nicht entgehen, daß statt des Lebensmutes nur stumme Trauer unter den Knaben herrschte. Dort war keine Spur von dem Tumult und Lärmen eines Schulzimmers, nichts von seinen geräuschvollen Spielen und seiner herzlichen Fröhlichkeit. Die Kinder kauerten sich zitternd zusammen und schienen nicht den Mut zu haben, sich zu bewegen. Der einzige Zögling, der einige Neigung zu Scherz und Bewegung kundgab, war der junge Herr Squeers. Da aber seine Hauptbelustigung darin bestand, daß er mit seinen Stiefeln den andern Knaben auf die Zehen trat, so konnte man an seiner Munterkeit gerade keinen besonderen Gefallen finden.

Nach einer halben Stunde trat Herr Squeers wieder ein. Die Knaben gingen an ihre Plätze und griffen nach ihren Büchern, von denen durchschnittlich etwa eins auf acht Schüler kam. Herr Squeers nahm einige Minuten eine sehr gelehrte Miene an, als könne er alles in den Büchern auswendig und wisse jedes Wort aus dem Kopfe herzusagen, wenn er sich nur die Mühe nehmen wollte, und rief dann die erste Klasse auf.

Dem Geheiße gehorsam, stellten sich ein halb Dutzend Vogelscheuchen mit Löchern an den Knien und Ellenbogen vor dem Pulte des Schulmeisters auf, und eine davon legte ein zerrissenes und schmutziges Buch unter sein gelehrtes Auge.

»Dies ist die erste Klasse; sie erhält Unterricht im Englischlesen und in der Philosophie, Nickleby«, sagte Squeers, indem er Nicolaus näher zu treten winkte. »Wir wollen auch eine lateinische Klasse gründen und sie Ihnen übertragen. Wohlan denn, wo ist der Primus?«

»Er putzt in der hintern Stube die Fenster«, sagte der damalige Zugführer der philosophischen Klasse.

»Ah, richtig«, erwiderte Squeer«. »Wir halten uns an die praktische Lehrmethode, Nickleby – das einzige richtige Erziehungssystem. P-u-tz, Putz, e-n, en, Putzen, Zeitwort, reinmachen, reinigen. F-e-n, Fen, s-t-e-r, ster, Fenster, eine mit einer durchsichtigen Substanz verwahrte Öffnung, durch die Licht in die Häuser fällt. Wenn ein Knabe etwas der Art aus dem Buche gelernt hat, so geht er hin und tut es. Wir folgen hier ganz demselben Grundsatz, den man beim Gebrauch der Globen geltend macht. Wo ist der Zweite?«

»Er jätet im Garten Unkraut aus«, entgegnete eine zarte Stimme.

»Ja ja«, fuhr Squeers fort, ohne sich aus der Fassung bringen zu lassen;, »so ist’s. B-o, Bo, t-a, ta, Bota, n-i-k, nik, Botanik, Hauptwort, Kenntnis der Pflanzen. Wenn er gelernt hat, daß Botanik Kenntnis der Pflanzen bedeutet, so geht er hin und lernt sie kennen. Dies ist unser System, Nickleby. Was halten Sie davon?«

»Jedenfalls ist es ein sehr nutzenbringendes«, antwortete Nicolaus bedeutsam.

»Das will ich meinen«, entgegnete Squeers, dem die ironische Betonung seines Hilfslehrers nicht aufgefallen war. »Nun, du Dritter, was ist ein Pferd?«

»Ein Tier, Sir«, versetzte der Knabe.

»Richtig«, sagte Squeers: »nicht wahr, Nickleby?«

»Ich glaube, daß hier kein Zweifel obwalten kann, Sir«, erwiderte Nicolaus.

»Natürlich nicht«, sagte Squeers. »Ein Pferd ist ein Quadruped, und Quadruped ist das lateinische Wort für Tier, wie jeder, der die Grammatik durchgemacht hat, weiß; denn wo läge sonst der Nutzen der Grammatik?«

»In der Tat, wo läge er?« sprach Nicolaus zerstreut.

»Da du deine Sache so gut gemacht hast«, nahm Squeers wieder auf, »so geh und sieh nach meinem Pferd; striegle es ordentlich, sonst will ich dich striegeln. Die übrigen der Klasse gehen hinaus und schöpfen Wasser, bis man sie aufhören heißt; denn die Kessel müssen für die morgige Wäsche gefüllt werden.«

Mit diesen Worten entließ er die erste Klasse zu ihren Übungen in der praktischen Philosophie und sah Nicolaus mit einem halb verschmitzten, halb zweifelhaften Blick an, als wolle er sich überzeugen, welchen Eindruck dieses Verfahren auf seinen Hilfslehrer gemacht hatte.

»So wird die Sache bei uns betrieben, Nickleby«, sagte er nach einer langen Pause.

Nicolaus zuckte auf eine kaum bemerkliche Weise die Achseln und sagte, daß ihn dies der Augenschein lehre.

»Es ist übrigens eine sehr gute Methode«, fuhr Squeers fort. »Doch lassen Sie jetzt diese vierzehn kleinen Knaben lesen; denn Sie müssen anfangen, sich nützlich zu machen. Faulenzerei geht hier nicht an.«

Herr Squeers sagte dies mit einem Ton, als sei ihm plötzlich eingefallen, daß er seinem Hilfslehrer nicht zuviel sagen dürfe, oder daß dieser ihm nicht genug zum Lobe der Anstalt gesagt hätte. Die Kinder mußten sich nun in einen Halbkreis um den neuen Lehrer stellen, und bald horchte dieser auf ihr träges, schleppendes und stockendes Hersagen jener wichtigen Geschichten, die in den älteren Fibelbüchern zu finden sind.

Unter dieser angenehmen Beschäftigung schlich der Morgen schwerfällig hin. Um ein Uhr kamen die Knaben, nachdem man ihnen vorher den Appetit durch Haferbrei und Kartoffeln benommen hatte, zu einem Stückchen tüchtig eingepökelten Ochsenfleisches in die Küche, und Nicolaus erhielt gnädigst die Erlaubnis, seinen Anteil nach seinem einsamen Pult zu tragen, um es dort ungestört verzehren zu können. Dann kauerten sich die Knaben abermals eine Stunde fröstelnd in dem kalten Schulzimmer zusammen, worauf der Unterricht wieder seinen Anfang nahm.

Herr Squeers pflegte nach jedem seiner halbjährlichen Besuche in der Hauptstadt die Knaben zusammenzurufen und ihnen eine Art Mitteilung zu machen über Verwandte, die er gesehen, Neuigkeiten, die er gehört, Briefe, die er mitgebracht, Rechnungen, die man bezahlt, oder Auslagen, die man schuldig geblieben war usw. Diese festliche Musterung fand jedesmal an dem Nachmittag des ersten Tages nach seiner Zurückkunft statt; vielleicht, um durch die Spannung des Morgens die Selbstüberwindung der Knaben zu kräftigen, vielleicht auch, weil Herr Squeers durch gewisse warme Getränke, die er gewöhnlich nach dem Mittagessen zu sich zu nehmen pflegte, größeren Ernst und größere Unbeugsamkeit gewann. – Doch, sei dem, wie ihm wolle – die Knaben wurden von den Fenstern, dem Garten, dem Stall und dem Hof zurückgerufen, und das Schulzimmer barg die volle Versammlung, als Herr Squeers, mit einem kleinen Paketchen Briefschaften in der Hand und von Frau Squeers begleitet, die ein paar Haselnußstöcke trug, in das Zimmer trat und Stillschweigen gebot.

»Wenn einer, ohne daß er gefragt wird, das Maul auftut«, sagte Herr Squeers in mildem Tone, »so kriegt er Hiebe, bis ihm die Haut vom Leibe fällt.«

Diese Ankündigung hatte den beabsichtigten Erfolg; denn im Augenblick trat eine totengleiche Stille ein, und Herr Squeers fuhr fort:

»Jungen, ich bin in London gewesen und so gesund und wohl wie je wieder zu meiner Familie und zu euch zurückgekehrt.«

Die Jungen begrüßten diese erfreuliche Nachricht, dem halbjährlichen Brauche zufolge, mit drei schwachen Freuderufen. Aber was für Freuderufe? – kaum wie ein starker Seufzer aus der Brust eines Menschen, dem der Todesschweiß auf der Stirn steht.

»Ich habe die Eltern von einigen unter euch gesehen«, fuhr Squeers, seine Papiere durchblätternd, fort; »und sie sind so erfreut über die Fortschritte ihrer Söhne, daß an ein Zurücknehmen derselben gar nicht zu denken ist, was natürlich allen Parteien in gleicher Weise zustatten kommt.«

Bei diesen Worten fuhren zwei oder drei Hände zu zwei oder drei Augen, aber der größere Teil der jungen Leutchen wußte nicht viel von seinen Eltern zu sagen und war daher bei der Sache in keiner Weise beteiligt.

»Ich hatte mit Widerwärtigkeiten zu kämpfen«, sagte Squeers, indem er eine zürnende Miene annahm; »Bolders Vater blieb zwei Pfund, zehn Schillinge schuldig. Wo ist Bolder?«

»Hier, Sir«, erwiderten zwanzig diensteifrige Stimmen. Knaben sind in solchen Fällen gerade wie die Männer.

»Komm her, Bolder«, rief Squeers.

Ein kränklich aussehender Knabe mit von Warzen bedeckten Händen trat leichenblaß und klopfenden Herzens an das Pult des Lehrers und erhob seine Augen flehend zu Squeers‘ Gesicht.

»Bolder«, begann Squeers in einem langsamen Ton; denn er überlegte im Sprechen, wie er ihm am besten beikommen könne.

»Bolder, wenn dein Vater glaubt, daß – doch was soll das, Bürschlein?«

Mit diesen Worten faßte Squeers die Hand des Knaben bei dem Ärmelaufschlag und betrachtete sie mit einem erbaulichen Ausdruck von Entsetzen und Ekel.

»Wie nennst du dies, Musje?« fragte der Schulmeister, indem er dem Knaben gleich vornweg einen Streich mit der Haselnußgerte gab, um die Antwort zu beschleunigen.

»Ach, ich kann ja nicht dafür, Sir«, erwiderte der Knabe weinend. »Sie kommen von selbst; ich glaube, es ist die schmutzige Arbeit, Sir – wenigstens weiß ich nicht, woher es kommt, Sir; aber meine Schuld ist es gewiß nicht.«

»Bolder«, sagte Squeers, indem er seine Hemdärmel zurückschlug und die Fläche der rechten Hand anfeuchtete, um den Stock besser fassen zu können; »du bist ein unverbesserlicher junger Schlingel, und da die letzte Tracht Prügel nicht angeschlagen hat, so wollen wir sehen, ob eine andere nicht bessere Wirkung tut.«

Squeers fiel sofort, ohne des kläglichen Geschreis um Schonung zu achten, über den Knaben her und bearbeitete denselben so lange mit seinem Rohr, bis er kaum mehr den Arm zu rühren vermochte.

»So!« sagte Squeers, als er fertig war; »reibe dir den Rücken, so viel du willst. Das wenigstens wirst du nicht sofort herunterreiben. – Wie, du willst nicht zu heulen aufhören? Führe ihn hinaus, Smike.«

Der Haussklave wußte aus Erfahrung zu gut, daß durch Zögerung nichts gewonnen werde, und schaffte daher das arme Opfer durch eine Seitentür, während Herr Squeers sich wieder auf seinen Stuhl pflanzte und Frau Squeers einen andern an seiner Seite einnahm.

»Nun laßt uns weiter sehen«, sagte Squeer«. »Ein Brief für Cobbey. Steh auf, Cobbey!«

Ein anderer Knabe erhob sich und betrachtete mit ängstlichen Blicken den Brief, während Squeers den Inhalt in einem kurzen Auszug vortrug.

»Ah!« sagte Squeers, »Cobbeys Großmutter ist tot und sein Onkel Johann hat sich dem Trinken ergeben. Das sind alle Neuigkeiten, die seine Schwester sendet, achtzehn Penc ausgenommen, die gerade hinreichen werden, die zerbrochene Fensterscheibe zu bezahlen. Liebe Frau, willst du das Geld zu dir nehmen?«

Die würdige Dame steckte die achtzehn Pence mit der gleichgültigsten Geschäftsmiene ein, und Squeers ging so kaltblütig wie möglich zu dem nächsten Knaben über.

»Die Reihe kommt jetzt an Graymarsh«, sagte Squeers. »Steh auf, Graymarsh!«

Der Knabe gehorchte, und der Schulmeister überflog wie vorher den Brief.

»Graymarsh‘ Tante mütterlicherseits –« fuhr Squeers fort, nachdem er sich den Inhalt zu eigen gemacht hatte – »ist sehr erfreut über die Nachricht, daß er so gesund und zufrieden ist: sie läßt Madame Squeers ihre achtungsvollsten Komplimente vermelden und glaubt, daß sie ein Engel sein müsse. In gleicher Weise meint sie, Herr Squeers sei zu gut für diese Welt, hofft jedoch, daß er ihr noch lange erhalten bleibe, um sein Geschäft fortzusetzen. Sie würde die verlangten zwei Paar Strümpfe geschickt haben, wenn in ihrer Kasse nicht Ebbe wäre; statt dessen sendet sie ein Traktätlein und hofft, daß Graymarsh sein Vertrauen auf Gott setzen werde. Vor allem aber wünscht sie, daß er sich Mühe gebe, Herrn und Frau Squeers in jeder Hinsicht zu Gefallen zu leben und sie als seine einzigen Freunde zu betrachten. Er solle den jungen Herrn Squeers lieben und sich nicht auf eine unchristliche Weise darüber beschweren, daß er zu fünf in einem Bett schlafen müsse. »Ah!« sagte Squeers, das Schreiben zusammenschlagend, »ein köstlicher Brief, sehr liebreich – in der Tat!«

Er war in einem gewissen Sinne allerdings sehr liebreich, denn Graymarsh‘ mütterlicherseits Tante war, wie sich ihre vertrauten Freundinnen ins Ohr flüsterten, niemand anders, als Graymarsh‘ wirkliche Mutter. Squeers fuhr jedoch, ohne auf diesen Teil der Geschichte anzuspielen, da es vor dem Knaben unmoralisch geklungen haben würde, in seinem Geschäft fort, indem er den Namen »Mobbs« rief, worauf sich ein anderer Knabe erhob und Graymarsh wieder Platz nahm.

»Mobbs Stiefmutter –« sagte Squeers – »mußte sich zu Bett legen, als sie hörte, daß er kein Fett essen wolle, und ist seitdem immer krank gewesen. Sie wünscht mit einer der nächsten Posten zu erfahren, wo er hingebracht zu werden erwartet, da er sich über die Kost beklagt, und will wissen, mit welchen Gefühlen er seine Nase über die Kuhleberbrühe rümpfen kann, nachdem sein guter Lehrer den Segen darüber gesprochen hat. Daß das letztere geschieht, hat sie aus den Londoner Zeitungen und nicht von Herrn Squeers erfahren, der zu menschenfreundlich und wohlwollend ist, um Leute gegeneinander aufzuhetzen; sie fühlt sich übrigens in einer Weise gekränkt, daß sich Mobbs gar keinen Begriff davon machen kann. Es tut ihr leid, eine sündhafte und abscheuliche Unzufriedenheit an ihm zu bemerken, weshalb sie hofft, Herr Squeers werde ihn schon in einen ruhigeren Gemütszustand hineinprügeln. Wegen seines schlechten Betragens behält sie auch den wöchentlichen halben Penny Taschengeld zurück und hat ein Messer mit doppelter Klinge und einem Korkzieher, das für ihn gekauft worden war, den Missionaren geschenkt.

Ein widerspenstiger Gemütszustand führt zu nichts«, fuhr Herr Squeers fort, indem er abermals die Fläche seiner rechten Hand anfeuchtete; »Heiterkeit und Zufriedenheit müssen stets aufrechterhalten werden. Mobbs, tritt hervor!«

Mobbs bewegte sich langsam nach dem Pult hin und rieb in der Vorahnung, bald genug Anlaß dazu zu erhalten, seine Augen; er erhielt auch denselben in so hohem Grade, wie sich’s ein Knabe nur immer wünschen kann, und wurde gleichfalls durch die Seitentür entfernt.

Herr Squeers fuhr dann fort, die verschiedenen übrigen Briefe zu öffnen. Einige von ihnen enthielten Geld, das Frau Squeers »zum Aufheben« gegeben wurde, und andere bezogen sich auf verschiedene kleine Anzugsartikel, wie Mützen usw., die aber alle nach der Ansicht der genannten Dame bald zu groß, bald zu klein waren und für niemand als den jungen Squeers passen wollten, der in der Tat die allergefügigsten Gliedmaßen zu haben schien, da alles, was in die Anstalt kam, ihm wie angegossen war; besonders mußte sein Kopf eine wunderbare Elastizität besitzen, da ihm Hüte und Mützen von jeder Weite gleich gut saßen.

Nach Abmachung dieses Geschäfts hudelte man noch einige Schulstunden ab, worauf sich Herr Squeers in seinen Familienkreis zurückzog und dem Lehrgehilfcn die Obhut der Knaben in der äußerst kalten Schulstube überließ, wo man, sobald es dunkel wurde, eine Abendmahlzeit von Brot und Käse austeilte.

In einer Ecke der Schulstube, zunächst dem Pult des Schulmeisters, befand sich ein kleiner Ofen, bei dem sich Nicolaus niedersetzte und in dem Gefühl seiner herabgewürdigten Stellung den Tod als einen beglückenden Erlöser aus seiner traurigen Lage herbeiwünschte. Die Grausamkeit, deren unfreiwilliger Zeuge er gewesen, Squeers‘ rohes und schuftiges Benehmen, selbst wenn er in der besten Laune war – überhaupt alles, was er an diesem schmutzigen Ort sah oder hörte, vereinigte sich, diese trübe Stimmung hervorzurufen. Wenn er aber gar dachte, daß er dabei mitwirken und – gleichgültig, welche Verkettung der Umstände ihn dazu gezwungen hatte – als Helfer und Mitschuldiger eines Systems erscheinen mußte, das nur Ekel und Unwillen in seiner Seele hervorrief, so verabscheute er sich selbst, und es kam ihm in diesem Augenblick vor, als ob es ihm schon die bloße Rückerinnerung an seine gegenwärtige Erniedrigung für alle Zeiten unmöglich mache, sein Antlitz wieder vor den Leuten zu erheben.

Vorderhand war jedoch sein Entschluß gefaßt, und die Vorsätze der vorangehenden Nacht blieben ungetrübt. Er hatte seiner Mutter und Schwester geschrieben, ihnen die glückliche Beendigung seiner Reise mitgeteilt und von Dotheboys Hall nur sehr wenig, aber auch dieses Wenige in der möglichst heitern Weise erzählt. Er hoffte, wenn er bliebe, selbst hier einiges Gute wirken zu können, und jedenfalls hingen andere zu sehr von der Gunst seines Onkels ab, als daß er sich jetzt schon seinen Groll hätte zuziehen dürfen.

Ein Gedanke beunruhigte ihn jedoch weit mehr, als alle aus seiner Lage entsprießenden Rücksichten für die eigene Persönlichkeit – nämlich das wahrscheinliche Los seiner Schwester. Sein Onkel hatte ihn hintergangen, und stand da nicht zu befürchten, daß er sie auf irgendeinen elenden Ort beschränke, wo ihre Schönheit und Jugend ihr zu einem weit größeren Fluch gereichen konnten als Häßlichkeit und Alter? Dies war ein schrecklicher Gedanke für einen an Händen und Füßen gebundenen Mann; – doch nein, seine Mutter war ja bei ihr und auch die Malerin, freilich ein sehr einfaches Wesen, die aber doch in und von der Welt lebte. Er war geneigt zu glauben, daß Ralph einen persönlichen Widerwillen gegen ihn nährte. Da nun hinlänglicher Grund vorhanden war, einen gleichen in seinem eigenen Innern zu hegen, so wurde ihm diese Vermutung zur Gewißheit, obgleich er sich zu überreden suchte, daß der gegenseitige Groll auf niemand anders als auf sie beide Bezug habe.

In solche Betrachtungen vertieft, fiel sein Blick zufällig auf Smike, der auf seinen Knien vor dem Ofen lag, ein paar abgesprungene Aschenfunken von dem Herde auflas und sie wieder in das Feuer legte. Der arme Junge hatte eben innegehalten, um einen verstohlenen Blick auf Nicolaus zu werfen. Als er jedoch sah, daß er bemerkt wurde, schrak er zurück, als fürchte er, dafür gezüchtigt zu werden.

»Du brauchst dich nicht vor mir zu fürchten«, sagte Nicolaus freundlich. »Friert es dich?«

»N–e–i–n.«

»Deine Zähne klappern?«

»Es friert mich nicht«, versetzte Smike rasch. »Ich bin daran gewöhnt.«

In seinem Benehmen zeigte sich so augenscheinlich die Furcht, Anstoß zu geben, auch war er überhaupt so scheu und niedergedrückt, daß Nicolaus sich des Ausruf«: »Armer Junge!« nicht erwehren konnte.

Wenn er den armen Leidensträger geschlagen hätte, so würde sich dieser, ohne ein Wort zu sprechen, davongeschlichen haben; so aber brach er in Tränen aus.

»Ach du mein Gott!« rief er, indem er mit den aufgesprungenen und schwieligen Händen sein Gesicht bedeckte; »das Herz bricht mir, – ach, das Herz bricht mir.«

»Ruhig«, sagte Nicolaus, die Hand auf seine Achsel legend. »Sei ein Mann – du bist´s ja fast an Jahren; Gott helfe dir.«

»An Jahren?« rief Smike. »O mein Himmel, wie viele sind ihrer! Wie viele Jahre sind dahingegangen, seit ich als ein kleines Kind hierherkam, jünger, als irgendeines von denen, die jetzt da sind! Wo sind sie alle!«

»Wovon sprichst du?« fragte Nicolaus, der das arme, halb blödsinnige Geschöpf zur Vernunft zurückbringen wollte. »Rede.«

»Meine Verwandte«, erwiderte er, »ich – mein – ach! welche Leiden habe ich erduldet!«

»Die Hoffnung stirbt nicht«, versetzte Nicolaus, ohne zu wissen, was er sagen sollte.

»Nein, entgegnete der andere, »nein, für mich gibts keine. Erinnern Sie sich des Knaben, der hier starb?« »Du weißt, ich war damals noch nicht hier«, sagte Nicolaus sanft, »aber was ist mit ihm?«

»Ei«, antwortete Smike, indem er dem Frager näher rückte, »ich wachte bei ihm, und als alles still um uns her war, rief er nicht mehr nach seinen Verwandten, von denen er wünschte, daß sie sich bei ihm niedersetzen möchten, sondern er fing an, Gesichter um sich her zu sehen, die von Hause kamen. Er sagte, sie lächelten ihm zu und sprächen mit ihm, und endlich starb er, als er eben den Kopf aufrichtete, um sie zu küssen. Hören Sie?«

»Ja, ja«, entgegnete Nicolaus.

»Welche Gesichter werden mir zulächeln, wenn ich sterbe?« fuhr Smike schaudernd fort. »Wer wird zu mir sprechen in jenen langen Nächten? Sie können nicht von Hause kommen; sie würden mich erschrecken, wenn sie es täten; denn ich weiß nichts von einer Heimat und würde sie nicht kennen. Für mich gibt’s nur Furcht und Leiden – Furcht und Leiden im Leben und im Tode; aber keine Hoffnung – keine Hoffnung.«

Die Glocke läutete zum Schlafengehen, und Smike, der bei diesem Ton wieder in seinen gewohnten, gleichgültigen Stumpfsinn versank, schlich fort, als scheue er sich bemerkt zu werden. Bald hernach folgte ihm Nicolaus, da er kein eigenes Gemach hatte, nach dem schmutzigen und überfüllten Schlafsaal.

Viertes Kapitel.


Viertes Kapitel.

Nicolaus und sein Onkel machen, um das Glück ohne Zeitverlust zu fesseln, bei Herrn Wackford Squeers, dem Schulmeister von Yorkshire, ihren Besuch

Snow Hill! Was für eine Art von Ort mag sich wohl der ruhige Städter unter Snow Hill denken, wenn er dieses Wort mit der vollen Deutlichkeit goldener Buchstaben im schwarzen Schatten auf den Landkutschen aus dem Norden liest? Jedermann hat einen unbestimmten Begriff von einem Platz, dessen Namen man oft sieht oder hört, und welch eine Unzahl von Vorstellungen ins Blaue hinein mögen sich wohl ohne Unterlaß an dieses Snow Hill ketten? Es ist ein vielbesagender Name. Snow Hill – und Snow Hill noch dazu in Verbindung mit einem Mohrenkopf – führt uns infolge einer dopelten Ideen-Assoziation etwas Unfreundliches und Rauhes vor die Seele. Ein frostiger, öder Landstrich, der schneidenden Winden und wilden Winterstürmen preisgegeben ist – eine kalte, trübselige Heide, auf der sich bei Tage niemand blicken läßt und an die nachts der ehrliche Mann nur mit Schrecken denken kann – ein Ort, den der einsame Wanderer scheut und wo nur verzweifelte Räuber ihre Versammlungen abhalten; – in diese oder ähnliche ferne Gegenden auf dem Lande mag wohl die Einbildungskraft Snow Hill verlegen und sich dabei denken, wie der Mohrenkopf alle Tage und alle Nächte gleich irgendeinem schrecklichen Gespenst mit geheimnisvoller und geisterartiger Pünktlichkeit über diese hinstreift und in seinem raschen, ungestümen Lauf, an dem ihn weder Wind noch Wetter zu hindern vermag, sogar den Elementen Trotz zu bieten scheint.

Die Sache verhält sich jedoch in der Wirklichkeit ganz anders und ist übrigens demungeachtet auch nicht zu verachten. Der Name führt uns ganz in den Mittelpunkt von London, recht in das Herz seiner Geschäftigkeit und Rührigkeit, in den Wirbel des Lärms und der Bewegung. Dort – gleichsam um die gewaltigen Ströme des Lebens zu hemmen, die von allen Seiten ohne Unterlaß herbeifließen und sich unter seinen Mauern begegnen, steht Newgate. In der gedrängt vollen Straße, auf die dieses Gebäude so düster zürnend herunterblickt, wenige Fuß von den schmutzigen, wankenden Häusern, auf derselben Stelle, auf der die Garköche, Fischhändler und Obstverkäufer ihr Gewerbe treiben, sind Hunderte von menschlichen Wesen – oft vier, sechs bis acht kräftige Männer zumal unter einem Gebrüll von Stimmen, gegen das sogar der Tumult einer großen Stadt als nichts erscheint, schnell und gewaltsam unter dem fürchterlichsten Zudrang von Menschenmassen aus der Welt geschafft worden. Neugierige Augen blickten dann aus allen Fenstern, von allen Dachgiebeln, Mauern und Pfeilern, und wenn dann der zum Tode verurteilte Elende sich mit dem alles umfassenden Blick der Todesangst unter der Masse von weißen, aufwärts gerichteten Gesichtern umsah, so traf er auch nicht eins – nicht eins – das den Ausdruck von Mitleid oder Teilnahme getragen hätte.

In der Nähe des Gefängnisses und daher auch in der Nähe von Smithfield, dem Schuldturm, und dem Lärm der City, gerade an einer Stelle von Snow Hill, wo die nach Osten gehenden Omnibuspferde allen Ernstes daran denken, absichtlich zu fallen, und die westwärts ziehenden Droschkengäule nicht selten zufällig stürzen, befindet sich der Wagenschuppen des Wirtshauses zum Mohrenkopf, dessen Portal durch die Büsten von zwei Mohren gehütet wird. Es war ehedem der Stolz und Ruhm der geistvollen Londoner Jugend, diese beiden Wächter herunterzustoßen; aber schon seit einiger Zeit befinden sie sich in ungestörter Ruhe, vielleicht weil diese Art von Scherz sich nunmehr auf den St.-James-Bezirk beschränkt, wo man sich lieber mit den leichter tragbaren Türklingeln zu tun macht und Klingeldrähte für geeignete Zahnstocher hält.

Mag nun dies der Grund sein oder nicht – genug sie sind da, zürnend von jeder Seile des Torwegs herabstierend. Das Wirtshaus selbst, das mit einem weiteren Mohrenkopf geziert ist, blickt finster aus dem Hintergrunde des Hofes hervor, während sich über der Tür des hinteren Schuppens, in dem die roten Postkutschen stehen, ein kleiner Mohrenkopf befindet, der dem vor dem Hauptportal sprechend ähnlich ist, wie denn auch das ganze Äußere des Gebäudes nebst der Säulenordnung dem sarazenischen Geschmack anzugehören scheint.

Wenn man in den Hof kommt, so hat man das Einschreibebureau zur Linken, den Turm der Kirche zum heiligen Grab, der schroff himmelan steigt, zur Rechten und eine Reihe von Schlafzimmern auf beiden Seiten. Gerade nach vorn ist ein hohes Fenster bemerklich, über dem das Wort »Kaffeezimmer« gemalt ist. Wer da zu rechter Zeit gekommen wäre, hätte durch dieses Fenster Herrn Wackford Squeers mit den Händen in den Rocktaschen auf und ab gehen sehen können.

Herrn Squeers Äußeres war nicht besonders ansprechend. Er hatte nur ein Auge, während man doch allgemein das Vorurteil hegt, daß man zwei haben müsse. Das, was er besaß, kam ihm ohne Zweifel sehr zustatten, obgleich es ihm nicht sonderlich zur Zierde gereichte, denn es hatte eine grünlich graue Farbe und glich so ziemlich dem Ventilator einer Haustür. Die blinde Seite seines Gesichts war in unzählige Falten und Runzeln gelegt, was ihm, besonders wenn er lächelte, einen um so häßlicheren Ausdruck verlieh, da dann seine Physiognomie eine nur allzugroße Ähnlichkeit mit der eines Gauners gewann. Sein Haar war glänzend und glatt gestrichen, ausgenommen an der niederen, sich vordrängenden Stirn, wo es steif in die Höhe gebürstet war – ein Bild, das mit der rauhen Stimme und dem unbeholfenen Benehmen des Mannes trefflich zusammenstimmte. Er war etwa zwei- oder dreiundfünfzig Jahre alt, ein wenig unter Mittelgröße und trug ein weißes Halstuch mit langen Zipfeln nebst einem schwarzen Schulmeisteranzug. Aber die Ärmel seines Frackes waren viel zu lang und seine Hosen viel zu kurz, so daß es fast aussah, als wären die Kleider nicht die seinigen und als sei er in beharrlicher Verwunderung, sich selbst in einem so respektablen Anzug zu finden.

Herr Squeers stand in einem Verschlage bei einem der Kaffeezimmerkamine, in dem sich ein Tisch, wie man sie gewöhnlich in Kaffeezimmern sieht, und zwei andere von ganz seltsamer Form, wie sie eben für die Winkel der Wände paßten, befanden. Auf einer Eckbank stand ein mit einem vermürbten Strick zusammengebundener kleiner Koffer, und auf dem Koffer saß ein winziger Knabe, dessen Bundstiefeln und Corduroy-Beinkleider in der Luft baumelten, während er die Schultern bis an die Ohren hinaufgezogen hatte und mit auf die Knie gepflanzten Händen von Zeit zu Zeit in augenscheinlicher Furcht und Besorgnis ängstliche Blicke nach dem Schulmeister schoß.

»Halb drei«, brummte Herr Squeers, indem er sich von dem Fenster abwandte und verdrießlich nach der Uhr des Kaffeezimmers blickte. »Es wird heute niemand mehr kommen.«

Durch diese Aussicht sehr mißlaunig gestimmt, blickte Herr Squeers nach dem kleinen Knaben, um nachzusehen, ob er nicht etwas täte, wofür man ihn züchtigen könnte. Da aber dieser zufällig gar nichts tat, so versetzte er ihm nur eine Ohrfeige und sagte ihm, er solle es nicht wieder tun.

»Als ich das letztemal hier war«, brummte Herr Squeers, seine Klage wieder aufnehmend, vor sich hin – »konnte ich zehn Knaben mitnehmen: zehnmal zwanzig macht zweihundert Pfund. Morgen früh um acht Uhr kehre ich wieder zurück und habe nur drei – dreimal Null ist Null –, dreimal zwei ist sechs – sechzig Pfund. Was ist denn aus all diesen Jungen geworden? Was ist den Eltern in die Köpfe gefahren? Was soll das alles heißen?«

Der kleine Knabe auf dem Koffer nieste jetzt heftig.

»Wie, Junge«, zürnte der Schulmeister, sich umwendend, »was war das?«

»Nichts, Sir«, antwortete der Knabe.

»Wie? Nichts?« rief Herr Squeers.

»Ich habe nur geniest, lieber Herr«, versetzte der Knabe und zitterte so heftig, daß der kleine Koffer unter ihm klapperte.

»Ah, du hast geniest, nicht wahr?« versetzte Herr Squeers. »Warum sagtest du dann, du hättest nichts getan, Bürschchen.«

In Ermangelung einer besseren Antwort auf diese Frage bohrte der Kleine ein paar Fingerknöchel in jedes seiner Augen und begann zu weinen, wofür Herr Squeers ihn mit einem Schlage auf die eine Seite seines Gesichts von dem Koffer herunter und mit einem zweiten auf die andere wieder hinaufschlug.

»Warte nur, bis ich dich in Yorkshire drunten habe, mein junges Herrchen«, sagte Herr Squeers; »der Rest soll dir dort nicht entgehen. Willst du augenblicklich still sein, Bürschchen?«

»J–i–a«, schluchzte der Knabe, indem er sich das Gesicht eifrig mit einem baumwollenen Taschentuch rieb, das mit der Bettlerpetition bedruckt war.

»So sei es gleich jetzt«, donnerte Squeers; »hörst du?«

Da diese Ermahnung von einer wilden, drohenden Gebärde begleitet war, rieb der Knabe sein Gesicht noch stärker, um die Tränen zurückzuhalten, und machte seinen Gefühlen nur noch abwechselnd durch ein Schnüffeln und Schlucksen Luft.

»Herr Squeers!« rief jetzt ein Kellner zur Tür herein, »am Büfett ist ein Herr, der nach Ihnen fragt.«

»Führen Sie ihn herein, Richard«, entgegnete Herr Squeers mit sanfter Stimme. »Stecke dein Schnupftuch in die Tasche, du kleiner Spitzbube, oder ich bringe dich um, sobald der Herr fort ist.«

Der Schulmeister hatte kaum dem Knaben diese Worte in einem grimmigen Tone zugeflüstert, als der Fremde eintrat. Herr Squeers tat, als sähe er ihn nicht, und gab sich den Anschein, als sei er eifrig beschäftigt, seinem jungen Zöglinge eine Feder zu schneiden und ihm wohlwollende Ermahnungen zu erteilen.

»Mein liebes Kind«, begann Herr Squeers, »jedermann hat seine trüben Augenblicke. Aber diese frühe Prüfung, ob der dir das Herz brechen möchte und du dir die Augen aus dem Kopf weinst – was ist sie? Nichts, – weniger als nichts. Du verlässest zwar deine Familie, mein Lieber, aber du wirst in mir einen Vater und in Madame Squeers eine Mutter finden. In dem anmutigen Dorf Dotheboys bei Greta Bridge in Yorkshire, wo junge Leute verköstigt, gekleidet, mit Büchern, Wäsche, Taschengeld und allem Nötigen versehen werden –«

»Er ist es«, sagte der Fremde, den Schulmeister in der Wiederholung seiner Anzeige unterbrechend. »Herr Squeers, wie ich glaube?«

»Hier bin ich, Sir«, versetzte Herr Squeers mit der Miene der höchsten Überraschung.

»Der Herr«, fuhr der Fremde fort, »der eine Anzeige in die Zeitung einrücken ließ?«

»Ja, in die Times, Morning Post, Chronicle, Herald und Advertiser hinsichtlich der Akademie Dotheboys Hall bei dem anmutigen Dorfe Dotheboys in der Nähe von Greta Bridge in Yorkshire«, fügte Herr Squeers bei. »Sie kommen in Geschäftssachen, Sir, wie ich an diesen meinen jungen Freunden bemerke. Wie befindest du dich, mein junges Herrchen? Und wie geht’s dir, mein Lieber?«

Mit dieser Begrüßung klopfte Herr Squeers zwei hohläugigen, ausgemergelten, kleinen Knaben auf den Kopf, die der Besuchende mit sich gebracht hatte, und harrte fernerer Mitteilungen.

»Ich handle mit Öl und Farben und heiße Snawley, Sir«, kündigte sich der Fremde an.

Squeers nickte mit dem Kopf, als wolle er damit sagen, »ein sehr schöner Name.«

»Ich habe mir vorgenommen, Herr Squeers«, fuhr der Fremde fort, »meine zwei Knaben Ihrer Anstalt anzuvertrauen.«

»Es schickt sich vielleicht nicht für mich, Sir, es zu sagen«, versetzte Herr Squeers; »aber ich glaube kaum, daß Sie eine bessere Wahl hätten treffen können.«

»Hm!« sagte der andere; »zwanzig Pfund jährlich, glaube ich, Herr Squeers?«

»Guíneen«, entgegnete der Schulmeister mit einem überredenden Lächeln.

»Pfund, denke ich, Herr Squeers, da ich gleich zwei bringe«, erwiderte Herr Snawley feierlich.

»Wird sich kaum machen lassen, Sir«, wendete Squeers ein, als ob ihm nie früher ein solcher Antrag gemacht worden wäre. »Doch wir wollen sehen, viermal fünf ist zwanzig – dieses doppelt genommen und davon ab –, nun ein Pfund mehr oder weniger soll uns nicht im Wege stehen. Sie müssen mich bei Ihren Bekannten empfehlen, Sir, und es auf diese Weise wieder auszugleichen suchen.«

»Sie sind keine starken Esser«, sagte Herr Snawley.

»Oh, das kommt nicht in Betracht«, versetzte Squeers. »Wir nehmen in unserer Anstalt keine Rücksicht auf den Appetit der Knaben.«

Dieses war allerdings vollkommen wahr.

»Die gesundeste Kost, Sir, die man in Yorkshire auftreiben kann«, fuhr Squeers fort, »herrliche Sittenlehren, die ihnen Madame Squeers beibringt, alles, was sich ein Knabe nur zu Hause wünschen kann, Herr Snawley.«

»Es wäre mir lieb, wenn vor allem für ihre Sittlichkeit Sorge getragen würde«, bemerkte Herr Snawley.

»Ich freue mich, dies zu hören, Sir«, versetzte der Schulmeister, sich in die Brust werfend. »Hinsichtlich der moralischen Grundlage hätten Sie an kein besseres Institut kommen können, Sir.«

»Sie sind selbst ein Mann von Religion?« sagte Herr Snawley.

»Ich meine wenigstens, Sir«, entgegnete Herr Squeers.

»Ich habe diese beruhigende Überzeugung, Sir«, erwiderte Herr Snawley. »Ich fragte bei einem Manne, auf den Sie sich beriefen, nach, und er sagte, Sie gehörten zu den Frommen.«

»Ich hoffe allerdings ein wenig auf ihren Pfaden zu wandeln, Sir«, sagte Herr Squeers.

»Ich hoffe das von mir gleichfalls«, meinte der andere. »Könnte ich nicht ein paar Worte allein mit Ihnen sprechen?«

»Aber gewiß!« – versetzte Squeers mit einem Grinsen. »Meine Lieben, wollt ihr euch nicht ein paar Minuten mit eurem neuen Spielkameraden unterhalten? Dies ist einer meiner Zöglinge, Sir. Er heißt Belling und ist von Taunton, Sir.«

»Wirklich?« erwiderte Herr Snawley, indem er den armen Kleinen wie irgendeine außerordentliche Naturmerkwürdigkeit anstaunte.

»Er geht morgen mit mir«, fuhr Herr Squeers fort. »Der Koffer, auf dem er sitzt, enthält sein Gepäck. Jeder Knabe muß zwei volle Anzüge, sechs Hemden, sechs paar Strümpfe, zwei Schlafmützen, zwei Taschentücher, zwei paar Schuhe, zwei Hüte und ein Rasiermesser mitbringen.«

»Ein Rasiermesser«, rief Herr Snawley, als sie in das Nebengemach traten. »Wozu denn dieses?«

»Zum Rasieren«, entgegnete Squeers in einem langsamen gezogenen Tone.

Es lag nicht viel in diesen zwei Worten: aber in der Art, wie sie gesprochen wurden, mußte etwas zu finden gewesen sein, was Aufmerksamkeit erregte; denn der Schulmeister und sein Gefährte blickten sich einige Augenblicke gegenseitig an und wechselten dann ein sehr bedeutungsvolles Lächeln. Snawley war ein runder, plattnasiger Mann, dunkel gekleidet, mit langen, schwarzen Gamaschen, in dessen Zügen der Ausdruck großer Selbstzerknirschung und Heiligkeit lag, so daß dieses Lächeln ohne irgendeinen augenfälligen Grund nur um so merkwürdiger war.

»Bis zu welchem Alter behalten Sie die Knaben in Ihrer Schule?« fragte er endlich.

»Gerade so lange, als ihre Verwandten meinem Geschäftsträger in der Stadt die vierteljährliche Pension vorausbezahlen, oder bis die Jungen davonlaufen«, antwortete Squeers. »Wir müssen uns verständigen; denn ich sehe, wir können es ohne Gefahr tun. Was sind das für Knaben? – Uneheliche Kinder?«

»Nein, das sind sie nicht«, versetzte Snawley, dem Blicke des einäugigen Schulmeisters entgegenkommend.

»Ich glaubte, es wäre so«, entgegnete Squeers kaltblütig. »Wir haben deren eine große Anzahl; der Knabe ist auch eines.«

»Der nebenan?« fragte Snawley.

Squeers nickte bejahend, und der Farbenhändler blickte abermals nach dem Knaben auf dem Koffer hinüber, wandte sich wieder um, machte ganz eine Miene, als nähme es ihn höchlich Wunder, daß dieser ganz wie andere Kinder aussähe, und meinte, daß er sich das nicht hätte träumen lassen.

»Und doch ist’s so«, erwiderte Squeers: »aber Sie wollten mich wegen Ihrer Knaben sprechen?«

»Ja«, erwiderte Snawley. »Der Umstand ist, daß ich nicht ihr eigentlicher Vater, sondern nur ihr Stiefvater bin, Herr Squeers.«

»Ah, verhält es sich so?« sagte der Schulmeister. »Das erklärt freilich alles«. Ich konnte mir nicht vorstellen, was zum Henker Sie veranlassen mochte, die Jungen nach Yorkshire zu schicken. Ha, ha, ich verstehe jetzt.«

»Sehen Sie, ich habe die Mutter geheiratet«, fuhr Snawley fort. »Es kostet viel, die Kinder zu Hause zu erziehen: und da sie einiges Vermögen besitzt, so fürchte ich – denn Weiber sind gar töricht, Herr Squeers – sie möchte es auf die Knaben vergeuden, was ihnen, wie Sie wissen, nur zum Verderben gereichen würde.«

»Ich begreife«, entgegnete Squeers, indem er sich in seinem Stuhl zurücklehnte und mit der Hand winkte.

»Und dies« – nahm Snawley wieder auf – »hat mich zu dem Wunsche veranlaßt, sie in eine recht entfernte Kostschule zu geben, wo es keine Ferien gibt, das unzweckmäßige Nachhausekommen der Kinder, das alle Jahre zweimal zum großen Nachteil der Erziehung stattfindet, wegfällt, und sie ein wenig abgerieben werden. – Sie verstehen mich?«

»Die Zahlungen regelmäßig, ohne irgend weitere Nachfrage?« erwiderte Squeers, den Kopf nickend.

»Natürlich«, erklärte der andere: »nur wünsche ich, daß dabei streng auf die Sittlichkeit gesehen wird.«

»Versteht sich«, sagte Squeers.

»Ich hoffe, es ist nicht gestattet, daß sie allzuviel nach Hause schreiben?« versetzte der Stiefvater zögernd.

»Nie, als am Christtag, wo alle in gleicher Weise ihren Angehörigen melden müssen, daß sie sich nie so glücklich befunden hätten, und daß sie nicht wünschten, je wieder abgeholt zu werden«, entgegnete Squeers.

»Recht so, recht so«, erwiderte der Stiefvater, vergnügt die Hände reibend.

»Und nun wir uns gegenseitig verstehen«, fuhr Herr Squeers fort, »werden Sie mir auch die Frage zugut halten, ob Sie mich für einen wirklich tugendhaften, exemplarischen und untadelhaften Mann im Privatleben betrachten, und ob Sie in meine Person als Erzieher, was makellose Rechtlichkeit, Uneigennützigkeit, Religiosität und Tüchtigkeit anbelangt, vollkommenes Vertrauen setzen?«

»Gewiß«, versetzte der Stiefvater, das Grinsen des Schulmeisters erwidernd.

»Sie würden vielleicht auch nichts dagegen haben, wenn ich mich auf Sie beriefe?«

»Nicht das mindeste.«

»Sie sind ein Mann von meinem Sinne«, erwiderte Squeers, eine Feder zur Hand nehmend, »das nenn‘ ich mir ein Geschäft, wie ich’s liebe!«

Nachdem der Schulmeister Herrn Snawleys Adresse eingetragen hatte, blieb ihm noch das weit angenehmere Geschäft übrig, den Empfang der ersten Vierteljahrsrate zu quittieren; und kaum war er mit diesem Geschäfte zu Ende gekommen, als sich eine andere Stimme vernehmen ließ, die nach Herrn Squeers fragte.

»Hier ist er«, antwortete der Schulmeister. »Was steht zu Diensten?«

»Nur eine Geschäftssache, Sir«, sagte Ralph Nickleby, eintretend, während ihm Nicolaus auf der Ferse folgte. »Diesen Morgen stand eine Ankündigung mit Ihrem Namen in den Zeitungen?«

»Es ist so, Sir. Ist’s Ihnen gefällig, hier hineinzuspazieren?« versetzte Squeers, indem er nach dem Gemach, wo der Kamin stand, deutete. »Wollen Sie Platz nehmen?«

»Ich denke wohl«, entgegnete Ralph, seine Worte durch die Tat begleitend, indem er zugleich seinen Hut auf den Tisch vor sich hinlegte. »Das ist mein Neffe, Sir, Herr Nicolaus Nickleby.«

»Wie befinden Sie sich, Sir?« erwiderte Squeers.

Nicolaus verbeugte sich, sagte, daß er ganz wohl sei, und schien nicht wenig erstaunt über das Äußere des Eigentümers von Dotheboys Hall, wozu er denn auch alle Ursache hatte.

»Vielleicht erinnern Sie sich meiner«, sagte Ralph, den Schulmeister scharf ins Auge fassend.

»Ich glaube, Sie bezahlten mir einige Jahre lang bei meinen halbjährigen Besuchen in der Stadt eine kleine Note, Sir?« versetzte Squeers.

»Es ist so«, entgegnete Ralph.

»Für Rechnung der Eltern eines Knaben, namens Dorker, der unglücklicherweise –«

»– unglücklicherweise in Dotheboys Hall starb«, fiel Ralph, den Satz beendigend, ein.

»Ich kann mich noch recht gut erinnern, Sir«, erwiderte Squeers. »Ach, Sir, meine Frau hatte den Knaben so gerne, als ob er ihr eigenes Kind gewesen wäre. Die Aufmerksamkeit, Sir, die wahrend seiner Krankheit auf ihn verwendet wurde – Anisschnitten und warmen Tee jeden Abend und jeden Morgen, als er nichts mehr hinunterbringen konnte – ein Licht in seinem Schlafgemach in der Nacht, in der er starb – das beste Kissen hinaufgeschickt, um seinen Kopf darauf zu legen. Doch ich bereue es nicht, denn es ist etwas gar Angenehmes in dem Gedanken, seine Schuldigkeit getan zu haben.«

Ralph lächelte, aber in einer Weise, als ob es ihm gar nicht lächerlich sei, und betrachtete die anwesenden fremden Gesichter.

»Das sind nur einige meiner Zöglinge«, sagte Wackford Squeers, indem er nach dem kleinen Knaben auf dem Koffer und den beiden andern auf dem Boden deutete, die sich gegenseitig, ohne ein Wort zu sprechen, anstierten und ihre Körper auf eine gar seltsame Weise verdrehten, wie Kinder zu tun pflegen, wenn sie zum ersten Male miteinander bekannt werden. »Dieser Herr, Sir, ist ein Vater, der so gütig war, mir ein Kompliment zu machen über den Erziehungsplan zu Dotheboys Hall, das bei dem angenehmen Dörfchen Dotheboys in der Nähe von Greta Bridge in Yorkshire liegt, wo junge Leute verköstigt, gekleidet, mit Büchern, Wäsche und Taschengeld –«

»Ja, wir wissen das alles, Sir«, unterbrach ihn Ralph mürrisch; »es steht in der Anzeige.«

»Sie haben vollkommen recht, Sir; es steht in der Anzeige«, versetzte Squeers.

»Und verhält sich auch ganz so«, fiel Herr Snawley ein. »Ich fühle mich verpflichtet, Ihnen zu versichern, Sir, und ich bin stolz auf diese Gelegenheit, es tun zu können, daß ich Herrn Squeers für einen höchst tugendhaften, exemplarischen, tadellosen Mann halte, und daß –«

»Ich ziehe es nicht in Zweifel, Sir«, unterbrach ihn Ralph, den Strom dieser Lobpreisung und Empfehlung hemmend; »ich setze es nicht im mindesten in Zweifel. Doch ich denke, wir können an unser Geschäft gehen?«

»Mit größter Freude, Sir«, sagte Squeers. »Du sollst dein Geschäft nie verschieben, ist die erste Regel, die wir unsern für den Handelsstand bestimmten Zöglingen ans Herz legen. Master Belling, mein Lieber, behalte dies stets im Gedächtnis; hörst du?«

»Ja, Sir«, erwiderte Master Belling.

»Weiß er wohl jetzt noch das Sprüchlein?« – fragte Ralph,

»Sag‘ es dem Herrn her«, entgegnete Squeers.

»Du sollst –« wiederholte Master Belling.

»Sehr gut«, sagte Squeers. »Weiter!«

»Deine Geschäfte nie –« fuhr Master Belling fort.

»Sehr gut, in der Tat«, lobte Herr Squeers. »Nun?«

»Ver–« flüsterte Nicolaus gutmütig dem Knaben zu.

»Verrichten«, sagte Master Belling. »Du sollst – deine Geschäfte – nie verrichten.«

»Sehr wohl, Bürschchen«, erwiderte Squeers, einen vernichtenden Blick auf den Verbrecher werfend. »Wenn wir’s auch jetzt verschieben müssen, so werden wir doch, wenn wir allein sind, ein kleines Geschäft miteinander zu verrichten haben.«

»Vorderhand wäre es aber vielleicht geeigneter, wenn wir an das unsrige gingen«, sagte Ralph.

»Ganz nach Ihrem Belieben«, entgegnete Squeers.

»Es wird bald abgetan sein«, fuhr Ralph fort. »Ihrer Anzeige zufolge suchen Sie einen tüchtigen Hilfslehrer, Sir?«

»Ganz richtig«, erwiderte Squeers.

»Und brauchen also wirklich einen solchen?«

»Gewiß«, antwortete Squeers.

»Hier steht er«, sagte Ralph. »Mein Neffe Nicolaus kommt warm von der Schule weg, und da ihm alles, was er dort gelernt hat, im Kopfe, und nichts in der Tasche gärt, so ist er gerade ein Mann, wie Sie ihn brauchen.«

»Ich fürchte nur«, wendete Squeers ein, den die Bewerbung eines Jünglings von Nicolaus‘ Äußerem verwirrte – »ich fürchte nur, der junge Mann wird nicht für mich passen.«

»Er wird«, sagte Ralph; »ich weiß das besser. – Du brauchst den Mut nicht gleich sinken zu lassen, denn du wirst in weniger als einer Woche die jungen Edelleute in Dotheboys Hall unterrichten, wenn dieser Herr nicht störrischer ist, als ich voraussetze.«

»Ich besorge nur, Sir«, sprach Nicolaus zu Herrn Squeers, »daß Sie gegen meine Jugend und den Umstand, daß ich nicht Magister der freien Künste bin, etwas einzuwenden haben.«

»Der Mangel eines akademischen Grades kommt allerdings in Betracht«, versetzte Squeers mit möglichst ernster Miene, obgleich nicht wenig verblüfft durch den Gegensatz in der Einfachheit des Neffen und dem weltklugen Benehmen des Onkels sowohl, als durch die unbegreifliche Anspielung auf die jungen Edelleute, die sich in seiner Schule befinden sollten.

»Merken Sie einmal auf, Sir«, sagte Ralph; »ich will die Sache in ein paar Augenblicken in das rechte Licht stellen.«

»Wenn Sie die Güte haben wollen«, versetzte Squeers.

»Dies ist ein Knabe, ein Jüngling, ein junger Mann, ein Springinsfeld, oder wie sie ihn sonst nennen wollen, von achtzehn oder neunzehn Jahren«, fuhr Ralph fort.

»Das sehe ich«, bemerkte der Schulmeister.

»Und ich auch«, meinte Snawley, der es für passend hielt, seinem neuen Freunde gelegentlich den Rücken zu decken.

»Sein Vater ist tot. Er weiß nichts von der Welt, ist durchaus mittellos und braucht Beschäftigung«, erklärte Ralph. »Ich empfehle ihn daher Ihrem vortrefflichen Institute, das er zu dem Grundstein seines Glücks machen kann, wenn er es recht anzufangen weiß. Hast du mich verstanden?«

»Alle Welt muß das einsehen«, versetzte Squeers, den spöttischen Seitenblick nachahmend, mit dem Ralph seinen unerfahrenen Neffen betrachtete.

»Natürlich«, entgegnete Nicolaus hastig.

»Sie sehen, er hat mich verstanden«, fuhr Ralph in derselben harten und trockenen Weise fort. »Wenn irgendeine leidenschaftliche Laune ihn veranlassen sollte, diese goldene Gelegenheit wegzuwerfen, ehe sie zur Reife gediehen ist, so hört meine Verbindlichkeit, seiner Mutter oder Schwester Beistand zu leisten, auf. Sehen Sie ihn einmal an und überlegen Sie, auf wievielerlei Weise er Ihnen nützlich werden kann. Es fragt sich nun, ob er Ihren Zwecken für die nächste Zeit nicht besser entsprechen wird als zwanzig andere, die Sie unter gewöhnlichen Umständen erhalten könnten. Ist dies nicht der Überlegung wert?«

»Allerdings«, entgegnete Squeers, ein Kopfnicken von seiten Ralphs mit einem gleichen erwidernd.

»Gut«, versetzte Ralph; »ich möchte nun noch ein paar Worte allein mit Ihnen sprechen.«

Dieses geschah, und in einigen Minuten erklärte Herr Wackford Squeers, daß Herrn Nicolaus Nickleby von Stunde an das Amt eines ersten Hilfslehrers in Dotheboys Hall übertragen sei.

»Sie verdanken es der Empfehlung Ihres Onkels, Herr Nickleby«, bemerkte Wackford Squeers.

Nicolaus drückte in der Freude seines Herzens über diesen glücklichen Erfolg seinem Onkel die Hand und hätte auf der Stelle vor Squeers niederfallen können.

»Er sieht zwar etwas wunderlich aus«, dachte Nicolaus; »doch, was macht das? bei Porson und dem Doktor Johnson war es derselbe Fall, wie überhaupt bei allen solchen Bücherwürmern.«

»Morgen früh um acht Uhr geht die Kutsche ab, Herr Nickleby«, bemerkte Squeers. »Sie müssen eine Viertelstunde früher hier sein, da wir diese Knaben mitnehmen.«

»Ich werde nicht fehlen, Sir«, sagte Nicolaus.

»Ich habe die Fahrt für dich bezahlt«, grämelte Ralph; »du hast also nichts zu tun, als dich warm zu kleiden.«

Das war ein neuer Beweis von der Großmut seines Onkels. Nicolaus empfand diese unerwartete Güte so tief, daß er kaum Worte für seine Dankäußerungen finden konnte, und er hatte deren in der Tat auch nicht halb genug gefunden, als sie sich von dem Schulmeister verabschiedeten und das Gasthaus zum Mohrenkopf verließen.

»Ich werde morgen hier sein, um dich wohlbehalten abfahren zu sehen«, sagte Ralph. »Daß du dich also bei Zeiten einstellst!«

»Ich danke Ihnen, Sir«, versetzte Nicolaus; »ich werde Ihre Güte nie vergessen.«

»Daran wirst du wohl tun«, entgegnete sein Onkel. »Doch mach‘ jetzt, daß du nach Hause kommst, und packe ein, was du zu packen hast. Glaubst du den Weg nach Golden Square zum erstenmal finden zu können?«

»Gewiß«, erwiderte Nicolaus; »ich kann ja fragen.«

»So bring‘ diese Papiere meinem Schreiber«, sagte Ralph, ein kleines Päckchen herausziehend, »und sage ihm, er soll auf mich warten, bis ich nach Hause käme.«

Nicolaus übernahm gerne diese Botschaft, verabschiedete sich herzlich von seinem würdigen Onkel, was von dem warmherzigen, alten Herrn nur durch ein Brummen erwidert wurde, und eilte fort, um seinen Auftrag auszurichten. Er fand sich nach Golden Square zurecht, und Herr Noggs, der im Heimgehen auf einige Minuten in einem Wirtshaus vorgesprochen hatte, drückte eben auf die Türklinke, als ersterer bei der Wohnung seines Oheims anlangte.

»Was ist das?« fragte Noggs, auf das Päckchen deutend.

»Papiere von meinem Onkel«, antwortete Nicolaus. »Er läßt Ihnen sagen, Sie möchten warten, bis er nach Hause käme.«

»Onkel?« rief Noggs.

»Herr Nickleby«, erklärte Nicolaus.

»Kommen Sie herein«, versetzte Newmann.

Er führte Nicolaus, ohne ein weiteres Wort zu sprechen, in die Hausflur und von da in das Bureau an dem Ende derselben, wo er ihm einen Stuhl anwies und dann selber seinen Schreibbock bestieg, auf dem er mit gerade an den Seiten herunterhängenden Armen saß und den neuen Ankömmling wie von einer Warte herunter festen Blicks betrachtete.

»Es bedarf keiner Antwort«, sagte Nicolaus, das Päckchen auf einen Tisch neben sich legend.

Newman erwiderte nichts, sondern schlug seine Arme übereinander, streckte den Kopf vorwärts, um Nicolaus‘ Gesicht besser beobachten zu können, und forschte aufmerksam in dessen Zügen.

»Keine Antwort!« wiederholte Nicolaus sehr laut, da es ihm vorkam, als ob Newman Noggs schwerhörig sei.

Newman legte die Hände auf seine Knie und fuhr, ohne eine Silbe laut werden zu lassen, fort, das Gesicht seines Gefährten zu prüfen.

Dieses Benehmen von seiten eines landfremden Menschen war höchst auffallend und das Äußere desselben so sonderbar, daß Nicolaus, der eine Lächerlichkeit wohl aufzufinden wußte, sich nicht enthalten konnte, den Mund zu einem Lächeln zu verziehen, als er Noggs fragte, ob er einen Auftrag für ihn hätte.

Noggs schüttelte den Kopf und seufzte, worauf Nicolaus mit der Bemerkung, daß er nicht müde sei, sich wieder erhob und jenem guten Tag wünschte.

Newman Noggs atmete jetzt tief auf und unterzog sich einer Anstrengung, deren man ihn bisher, zumal einem ganz Fremden gegenüber, nicht für fähig gehalten haben würde, indem er, ohne auch nur ein einziges Mal zu stottern, sagte, daß es ihm sehr angenehm wäre zu erfahren, was sein Onkel für ihn zu tun im Sinne hätte, wenn es der junge Herr für gut finden sollte, eine Mitteilung darüber zu machen.

Nicolaus sah nicht ein, warum er das nicht tun sollte, sondern war im Gegenteil sehr erfreut, eine Gelegenheit zu finden, von dem, was seine Gedanken so ganz in Anspruch nahm, zu reden. Er setzte sich daher wieder nieder und ging, da seine warmherzige Einbildungskraft während des Sprechens immer wärmer wurde, in eine glühende Schilderung all jener Ehren und Vorteile ein, die er sich von seiner Anstellung an dem Sitze der Gelehrsamkeit, Dotheboys Hall, versprach.

»Doch was ist Ihnen – sind Sie unwohl?« unterbrach sich Nicolaus plötzlich, als sein Gefährte, nachdem er sich in den verschiedensten, merkwürdigsten Stellungen verdreht hatte, seine Hände unter dem Sitze zusammenschlug und an den Gelenken knackte, als ob er alle Fingerknochen zerbrechen wollte.

Newman Noggs erwiderte nichts, sondern fuhr fort, die Achseln zu zucken und mit den Fingergelenken zu knacken, indem er zugleich das Gesicht zu einem schrecklichen Lächeln verzog und fast mit gespenstigem Ausdruck unverwandten Auges ins Leere starrte.

Anfangs glaubte Nicolaus, der rätselhafte Mensch habe einen Anfall von Veitstanz, aber bei weiterer Überlegung entschied er sich für die Meinung, er wäre betrunken, weshalb er es für das vernünftigste hielt, sich ohne weitere Umstände zu entfernen. Als er die Tür geöffnet hatte, blickte er noch einmal zurück. Newman Noggs erging sich noch immer in denselben seltsamen Gebärden, und das Knacken seiner Finger schallte lauter als je.

Fünftes Kapitel.


Fünftes Kapitel.

Nicolaus begibt sich nach Yorkshire auf den Weg. – Abschied von den Seinigen, seine Reisegefährten und was ihnen unterwegs begegnete.

Wenn Tränen, die in einen Koffer träufeln, Schutzmittel wären, um dessen Eigentümer vor Leid und Mißgeschick zu bewahren, so hätte Nicolaus Nickleby seine Reise unter den glücklichsten Vorbedeutungen begonnen. Man hatte so viel zu tun und doch so wenig Zeit dazu – so viele herzliche Worte zu sprechen und doch so bitteren Schmerz im Herzen, der die Laute erstickte, daß die kleinen Vorbereitungen für den Aufbruch in der Tat in größter Trauer getroffen wurden. Nicolcaus bestand darauf, hundert Dinge, die die ängstliche Sorge der Mutter und Schwester für durchaus unentbehrlich hielten, zurückzulassen, da sie den Seinigen nachher nützlich werden oder im Falle der Not in Geld umgesetzt werden könnten. Hundert zärtliche Wortwechsel über derartige streitige Punkte fanden in der traurigen Nacht statt, die seiner Abreise voranging; und je näher sie das Ende eines jeden dieser harmlosen Zwiste dem Schlusse ihrer kleinen Vorbereitungen brachte, desto geschäftiger wurde Käthchen und desto mehr weinte sie im stillen.

Der Koffer war endlich gepackt, und nun wurde das Nachtessen mit einer eigens für diesen Anlaß bereiteten Leckerei herbeigebracht, für deren Bestreitung Käthchen und ihre Mutter nicht zu Mittag gegessen hatten, indem sie vorgaben, sie hätten es getan, als Nicolaus nicht zu Hause war. Die Bissen quollen ihm jedoch im Munde, und es wollte ihm fast das Herz brechen, als er einige Scherze anzubringen und ein melancholisches Lachen hervorzuzwingen versuchte. So zögerten sie, bis die gewöhnliche Schlafengehenszeit längst vorüber war; und erst jetzt fanden sie, daß sie recht wohl früher ihren wahren Gefühlen hätten Luft machen können, da sie dieselben trotz aller Mühe doch nicht zu unterdrücken vermochten. Sie ließen ihnen daher den Lauf, und auch dies gereichte ihnen zur Erleichterung.

Nicolaus schlief tief bis morgens 6 Uhr, träumte von der Heimat oder von dem, was sonst seine Heimat war – was allerdings gleich viel bedeutet, denn Dinge, die anders geworden oder dahin sind, führt uns, Gott sei Dank, der Schlaf wieder zurück, wie sie ehedem waren – und stand ganz frisch und munter auf. Er schrieb mit dem Bleistift einige Zeilen des Abschieds, da er sich den Schmerz des mündlichen Lebewohls ersparen wollte, legte sie nebst der Hälfte seiner spärlichen Barschaft vor die Tür seiner Schwester, warf seinen Koffer über die Schulter und schlich sacht die Stiegen hinunter.

»Hanna, bist du’s?« rief eine Stimme von Fräulein La Creevys Arbeitszimmer her, aus dem der matte Schein eines Kerzenlichtes die Wand beleuchtete.

»Ich bin’s, Fräulein La Creevy«, sagte Nicolaus, indem er den Koffer niedersetzte und hineinblickte.

»O du mein Himmel!« rief Fräulein La Creevy aufspringend, indem sie mit der Hand nach ihren Haarwickeln fuhr; »Sie sind sehr früh auf, Herr Nickleby.«

»Sie gleichfalls«, erwiderte Nicolaus.

»Die schönen Künste bringen mich so zeitig aus den Federn, Herr Nickleby«, entgegnete die Dame. »Ich harre des Tags, um einen Gedanken auszuführen.«

Fräulein La Creevy war so früh aufgestanden, um eine Phantasienase in das Miniaturportrat eines häßlichen kleinen Jungen zu malen, das die Bestimmung hatte, seiner Großmutter auf dem Lande geschickt zu werden, von der man erwartete, sie würde ihn in ihrem Testamente besonders bedenken, wenn sich bei ihm eine Familienähnlichkeit vorfände.

»Einen Gedanken auszuführen«, wiederholte Miß La Creevy; »und da kommt mir der Umstand, daß ich in einer so belebten Straße, wie der Strand, wohne, sehr zu statten. Wenn ich einer Nase oder eines Auges für einen meiner Kunden bedarf, so brauche ich mich bloß ans Fenster zu setzen und zu warten, bis mir vorkommt, was ich haben möchte.«

»Braucht man lange dazu, um eine Nase zu bekommen?« fragte Nicolaus lächelnd.

»Das hängt ganz davon ab, was es für eine sein soll«, antwortete Miß La Creevy. »Stumpfnasen und Habichtsnasen gibt es genug, und Plattnasen von jeder Sorte und Größe trifft man, wenn es eine Versammlung zu Exeter Hall gibt; aber wirkliche Adlernasen sind, wie ich mit Bedauern gestehen muß, sehr selten, und doch brauchen wir sie so oft für Offiziere oder amtliche Persönlichkeiten.«

»Wirklich?« entgegnete Nicolaus. »Wenn mir auf meinen Reisen eine solche aufstoßen sollte, so will ich versuchen, Ihnen ein Bild davon zu fertigen.«

»Sie wollen damit doch nicht sagen, daß Sie wirklich die Absicht hätten, bei diesem kalten, winterlichen Wetter den weiten Weg nach Yorkshire hinunter zu machen, Herr Nickleby?« erwiderte Fräulein La Creevy. »Ich hörte in der letzten Nacht davon sprechen.«

»Allerdings habe ich diese Absicht«, antwortete Nicolaus. »Sie wissen, die Not ist eine harte Drängerin.«

»Nun, da kann ich weiter nichts sagen, als daß es mir sehr leid tut«, erwiderte Fräulein La Creevy, »sowohl um Ihrer Mutter und Schwester als um Ihretwillen. Ihre Schwester ist ein gar hübsches Mädchen, Herr Nickleby, und schon deshalb könnte sie recht wohl einen Beschützer brauchen. Ich habe sie überredet, mir ein paar Male zu sitzen, um ihr Bild für meinen Haustürrahmen benutzen zu können. Ach, das wird ein herrliches Miniaturporträt geben.«

Bei diesen Worten hielt Fräulein La Creevy ein auf Elfenbein gemaltes Gesicht mit sehr bemerklichen himmelblauen Adern empor und betrachtete es mit so viel Wohlbehagen, daß Nicolaus sie ordentlich beneidete.

»Wenn Sie je Gelegenheit haben sollten, Käthchen irgendeinen kleinen Liebesdienst zu erweisen, so verspreche ich mir von Ihrer Güte, daß Sie es tun werden«, sagte Nicolaus, ihr die Hand reichend.

»Sie dürfen sich darauf verlassen«, entgegnete die gutmütige Porträtmalerin. »Gott sei Ihr Begleiter und lasse es Ihnen wohlergehen, Herr Nickleby.«

Nicolaus kannte die Welt nur wenig, konnte aber doch so viel von ihrer Weise erraten, daß er glaubte, es könne vielleicht nicht schaden, Fräulein La Creevy für die Seinigen günstig zu stimmen, wenn er ihr einen kleinen Kuß gäbe. Er gab ihr daher drei oder vier mit einer Art scherzender Galanterie, und Fräulein La Creevy ließ keine stärkeren Andeutungen ihres Mißvergnügens bemerken, als daß sie, während sie ihren gelben Turban zurechtsetzte, erklärte, das wäre etwas Unerhörtes, und sie hätte es selber nie für möglich gehalten.

Als dieses unverhoffte Renkontre in einer so befriedigenden Weise verlaufen war, verließ Nicolaus eilig das Haus. Es war erst sieben Uhr, als er einen Mann auftrieb, der ihm den Koffer tragen sollte, und so ging er langsam dahin, wahrscheinlich mit nicht halb so leichtem Herzen in der Brust, wie der ihm folgende Träger, obgleich dieser keine Weste besaß, die seinige damit zu bedecken, und obgleich er, wie man aus seinen übrigen Kleidern schließen konnte, augenscheinlich die Nacht in einem Stall zugebracht und sein Frühstück bei einem Brunnen eingenommen hatte.

Nicolaus betrachtete mit nicht geringer Neugier und Teilnahme die geschäftigen Vorbereitungen für den kommenden Tag, die sich nicht nur in jeder Straße, sondern fast vor jedem Hause zeigten, und machte sich hin und wieder seine Gedanken darüber, daß es doch hart für ihn sei, so weit reisen zu müssen, um sich seinen Lebensunterhalt zu gewinnen, da doch so viele Menschen aller Art den ihrigen in London fänden, bis er endlich vor dem Mohrenkopf auf Snow Hill anlangte. Nachdem er seinen Begleiter entlassen und seinen Koffer wohlbehalten in dem Postbureau untergebracht hatte, sah er sich in den Frühstückszimmern nach Herrn Squeers um.

Er fand den Schulmann beim Frühstück sitzend, während die drei bereits erwähnten Knaben nebst zwei andern, die Herr Squeers durch irgendeinen glücklichen Zufall seit der Besprechung des gestrigen Tages aufgetrieben hatte, der Reihe nach auf einer gegenüberstehenden Bank aufgepflanzt waren. Herr Squeers hatte eine kleine Kaffeekanne, eine Platte mit gerösteten Brotschnitten und ein Stück kaltes Rindfleisch vor sich, war jedoch in diesem Augenblick beschäftigt, das Frühstück für die Knaben zu besorgen.

»Das soll für zwei Pence Milch sein, Kellner?« sagte Herr Squeers und sah in einen großen blauen Krug, den er ein wenig schräg hielt, um einen genauen Überblick über die darin enthaltene Flüssigkeit zu gewinnen.

»Das ist für zwei Pence, Sir«, antwortete der Kellner.

»Was doch die Milch in London für ein teurer Artikel ist!« sprach Herr Squeers mit einem Seufzer. »Nun so füllen Sie mir den Krug vollends mit lauem Wasser, Wilhelm.«

»Bis an den Rand, Sir?« fragte der Kellner. »Ei, da wird ja die Milch ersaufen.«

»Kümmern Sie sich nicht darum«, versetzte Herr Squeers. »Es geschieht ihr dann nur ihr Recht, weil sie so teuer ist. Haben Sie ein dickes Brot und Butter für drei bestellt?«

»Wird sogleich kommen, Sir.«

»Es hat’s nicht so eilig«, entgegnete Squeers; »wir haben noch genug Zeit. Bekämpft eure Leidenschaften, Jungen, und seid mir nicht gierig auf das Essen.«

Während Herr Squeers diese gute Lehre anbrachte, sprach er seinem Rindfleisch kräftig zu, als er auf einmal seinen neuangestellten Hilfslehrer erblickte.

»Setzen Sie sich, Herr Nickleby«, sagte Squeers. »Wir sind hier beim Frühstück, wie Sie sehen.«

Nicolaus konnte nicht sehen, daß jemand anders als Herr Squeers beim Frühstück wäre, er verbeugte sich aber mit dem geziemenden Respekt und nahm eine so heitere Miene an, wie er konnte.

»Ach, ist das die Milch mit Wasser, Wilhelm?« fragte Squeers. »Gut! vergessen Sie das Brot und die Butter nicht.«

Bei dieser neuen Erwähnung des Butterbrots sahen sich die fünf Knaben gierig an und folgten mit ihren Augen dem Kellner, während Herr Squeers die Wassermilch kostete.

»Ah!« sagte der Schulmann, mit den Lippen schnalzend, »das ist eine treffliche Milch! Denkt an die vielen Bettler und Waisen in den Straßen, die froh dabei wären, ihr Jungen. Der Hunger ist ein leidig Ding, nicht wahr, Herr Nickleby?«

»Allerdings, sehr leidig, Sir«, versetzte Nicolaus.

»Wenn ich eins zähle«, fuhr Herr Squeers fort, indem er den Krug vor den Kindern niedersetzte, »so kann der Knabe, der zunächst an dem Fenster sitzt, einen Trunk tun; zähle ich zwei, so trinkt der nächste und so fort, bis ich zu fünf, das heißt, zu dem letzten Knaben komme. Seid ihr bereit?«

»Ja, Sir«, riefen alle Knaben einstimmig.

»So ist’s recht!« entgegnete Squeers, ruhig an seinem Frühstück fortfahrend. »Haltet euch bereit, bis ich zu zählen anfange. Bezähmt euren Appetit, meine Lieben, und ihr werdet zu Herren eurer tierischen Begierden. Das ist die Weise, wie wir die Kinder an Selbstbeherrschung gewöhnen, Herr Nickleby«, fügte der Schulmeister mit von Fleisch und Brotschnitten vollgepfropftem Munde, gegen Nicolaus gewendet, bei.

Nicolaus murmelte etwas – er wußte nicht, was – als Erwiderung, und die Jungen teilten ihre Blicke zwischen dem Krug, dem Butterbrot, das inzwischen angelangt war, und jedem Bissen, den Herr Squeers in seinen Mund steckte, während in ihren gierigen Augen alle Qualen der Erwartung zu lesen waren.

»Gottlob, das hat geschmeckt«, sagte Squeers, als er mit seinem Frühstück zu Ende gekommen war. »Nummer Eins kann zu trinken anfangen.«

Nummer Eins griff heißhungrig nach dem Krug und hatte eben genug getrunken, um noch nach mehr begierig zu sein, als Herr Squeers das Signal für Nummer Zwei gab, die ihn in demselben bedeutungsvollen Augenblick an Nummer Drei abgeben mußte, und so wurde der Prozeß wiederholt, bis die Wassermilch mit Nummer Fünf alle war.

»Und nun –« sagte der Schulmeister, das Butterbrot für drei in ebenso viele Portionen, als Kinder da waren, zerteilend – »werdet ihr gut tun, mit eurem Frühstück rasch zu machen; denn das Horn wird in ein paar Minuten blasen, und dann muß jeder Knabe aufhören.«

Da die Kinder jetzt Erlaubnis hatten, über das Butterbrot herzufallen, so begannen sie heißhungrig und in verzweifelter Hast zu essen, während der Schulmann, der nach seiner Mahlzeit ungemein gut gelaunt war, mit der Gabel die Zähne ausstocherte und lächelnd zusah. Kurz darauf ließ sich das Horn vernehmen.

»Ich dachte mir wohl, daß es nicht lange dauern würde«, sagte Squeers aufspringend und einen kleinen Korb unter seinem Sitz hervorziehend. »Legt das, was ihr nicht habt essen können, hier herein, Knaben, es wird euch unterwegs gut tun.«

Nicolaus war über diese höchst ökonomische Einrichtung nicht wenig verblüfft, aber er hatte keine Zeit darüber nachzudenken, denn die Knaben mußten oben auf die Kutsche hinaufgehoben, ihr Gepäck herausgeholt und versorgt, wie auch Herrn Squeers‘ Bagage sorgfältig in dem Wagenkorbe untergebracht werden, was alles dem Hilfslehrer anheimfiel. Er hatte alle Hände voll zu tun und war eben mit diesen Vorkehrungen zustande gekommen, als ihn sein Onkel, Herr Ralph Nickleby, anredete.

»Ah, du bist hier, Musje?« sagte Ralph. »Hier sind deine Mutter und Schwester.«

»Wo?« rief Nicolaus, sich hastig umsehend.

»Hier!« versetzte sein Onkel. »Da sie zuviel Geld haben und nicht wissen, was sie damit anfangen sollen, wollten sie eben eine Kutsche mieten, als ich zu ihnen kam.«

»Wir fürchteten, zu spät da zu sein und ihn nicht mehr zu sehen, ehe er abreiste«, entgegnete Frau Nickleby, ihren Sohn umarmend, ohne der im Hofe umherschlendernden Zuschauer zu achten.

»Sehr gut, Madame«, erwiderte Ralph; »Sie müssen das natürlich am besten wissen. Ich sagte nur, Sie seien im Begriff gewesen einen Lohnkutscher zu bezahlen. Ich zahle nie eine Lohnkutsche, Madame, und miete auch keine. Ich bin seit dreißig Jahren nicht auf eigene Rechnung in einer Mietkutsche gesessen, und ich hoffe, es soll noch dreißig Jahre dauern, bis ich es tue, wenn ich so lange lebe.«

»Ich hätte es mir nie vergeben können, wenn ich ihn nicht noch einmal gesehen hätte«, sagte Frau Nickleby. »Der liebe, arme Junge – er ging sogar ohne Frühstück fort, weil er fürchtete, daß uns der Abschied schmerzlich fiele.«

»Gewiß – außerordentlich zart!« bemerkte Ralph grämlich. »Als ich ins Geschäftsleben trat, war jeden Morgen, ehe ich in die City ging, ein Pennybrot und für einen halben Penny Milch mein Frühstück. Was sagen Sie hierzu, Madame? Frühstück! Bah!«

»Nun, Nickleby«, sagte Squeers, der in diesem Augenblick, seinen Überrock zuknöpfend, herantrat; »es wird gut sein, wenn Sie hinten aufsitzen: es könnte einer der Knaben herunterfallen, und dann sind jährlich zwanzig Pfund zum Henker.«

»Lieber Nicolaus«, flüsterte Käthchen, ihres Bruders Arm berührend, »wer ist dieser rohe Mensch?«

»He?« brummte Ralph, dessen rasches Ohr die Frage aufgefangen hatte, »wünschest du dem Herrn Squeers vorgestellt zu werden, meine Liebe?«

»Das der Schulmeister? Nein, Onkel, gewiß nicht«, versetzte das Mädchen zurücktretend.

»Ich hörte doch eben, daß du ihn kennenzulernen wünschtest«, entgegnete Ralph in seiner kalten, beißenden Weise. »Herr Squeers, hier ist meine Nichte, Nicolaus‘ Schwester.«

»Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Fräulein«, erwiderte Squeers, seinen Hut um einige Zoll lüftend. »Ich wünschte nur, daß Frau Squeers Schülerinnen aufnähme; wir könnten Sie dann als Lehrerin brauchen. Ich möchte übrigens nicht dafür stehen, ob sie nicht eifersüchtig würde, ha! ha! ha!«

Hätte der Eigentümer von Dotheboys Hall wissen können, was in diesem Augenblick in der Brust seines Hilfslehrers vorging, so würde er mit einiger Überraschung bemerkt haben, daß er einer gesunden Tracht Schläge so nahe war, wie nur je in seinem Leben. Käthchen Nickleby übrigens, die die Gefühle ihres Bruders schnell erfaßte, führte ihn sacht beiseite und verhinderte dadurch, daß Herr Squeers auf eine etwas unangenehme Weise mit der Tatsache bekannt wurde.

»Mein lieber Nicolaus«, fragte das Mädchen, »wer ist dieser Mann, und was für eine Stelle kannst du bei ihm zu versehen haben?«

»Ich weiß es selbst nicht, Käthchen«, entgegnete Nicolaus, die Hand der Schwester drückend. »Ich denke, die Leute von Yorkshire sind etwas roh und ungebildet; das wird wohl alles sein.«

»Aber dieser Mensch?« erwiderte Käthchen.

»Ist mein Dienstherr, mein Vorgesetzter, oder wie ich es nennen mag«, versetzte Nicolaus rasch, »und es war einfältig von mir, seine Ungeschliffenheit übelzunehmen. Sie sehen nach uns her, und es ist Zeit, daß ich meinen Platz einnehme. Gott sei mit dir, meine Liebe, und lasse es dir wohlergehen. Mutter, denken Sie nicht an die Trennung, sondern an das Wiedersehen. Leben Sie wohl, Onkel! Herzlichen Dank für alles, was Sie an uns getan haben und noch zu tun gedenken. Ich bin fertig, Sir.«

Mit diesen raschen Abschiedsworten schwang sich Nicolaus gewandt nach seinem Sitze hinauf und winkte den Seinen zu, als ob er unverzagten Herzens in die Zukunft blicke.

In diesem Augenblick, als der Postillion zum letzenmal vor dcm Aufbruch mit dem Schaffner die Unkosten der Fahrt berechnete, die Lastträger die letzten widerstrebenden sechs Pence herauspreßten, hausierende Neuigkeitskrämer den letzten Versuch machten, eine Morgenzeitung anzubringen, und die Pferde zum letztenmal ungeduldig in ihren Geschirren rasselten, fühlte sich Nicolaus auf einmal sanft am Beine berührt. Er sah hinunter und entdeckte Newman Noggs, der ihm einen schmutzigen Brief heraufreichte.

»Was ist das?« fragte Nicolaus.

»Bst!« versetzte Noggs, auf Ralph Nickleby blickend, der mit Herrn Squeers in geringer Entfernung noch einige ernste Worte wechselte. »Nehmen Sie; lesen Sie. Niemand weiß davon. Das ist alles.«

»Halten Sie noch«, rief Nicolaus.

»Nein«, entgegnete Noggs.

Nicolaus rief abermals »Halt«, aber Newman Noggs war verschwunden.

Die Rührigkeit einer Minute, das Auf- und Zuklappen der Kutschenschläge, eine Neigung des Wagens auf die eine Seite, als der schwere Postillion und der noch schwerere Schaffner auf ihre Sitze klommen, ein Ruf, daß alles in Ordnung sei, ein paar Stöße in das Posthorn; dann noch ein hastiger Blick von zwei bekümmerten Gesichtern unten, die harten Züge Ralph Nicklebys – und die Kutsche rasselte über das Pflaster von Smietfield dahin.

Die Beine der kleinen Knaben waren zu kurz, als daß sie diese, wenn sie saßen, hätten auf etwas ruhen lassen können, und da ihre Leiber deshalb in unablässiger Gefahr waren, von der Kutsche heruntergeworfcn zu werden, so hatte Nicolaus genug zu tun, sie zu halten. Er fühlte sich daher nach der mit diesem Geschäfte verbundenen Angst und körperlichen Anstrengung nicht wenig erleichtert, als die Kutsche vor dem Pfauen zu Islington halt machte. Noch mehr Trost gewährte es ihm aber, als ein Herr von biederem Äußeren, einem heiteren Gesicht und gesunder Farbe hinten aufstieg und sich erbot, die andere Seite des Sitzes einzunehmen.

»Wenn wir einige von diesen Knaben in die Mitte nehmen«, sagte der neue Ankömmling, »so werden sie, im Falle sie einschlafen sollten, sicherer sein, – meinen Sie nicht?«

»Wenn Sie diese Güte haben wollten, Sir«, versetzte Squeers, »so würde ich es Ihnen sehr Dank wissen. Herr Nickleby, nehmen Sie drei von den Knaben zwischen sich und den Herrn. Belling, und der iüngere Snawley können zwischen mir und dem Schaffner sitzen. Drei Kinder«, erklärte Squeers gegen den Fremden, »werden als zwei eingebucht.«

»Das kann man sich gefallen lassen«, entgegnete der Herr. »Ich haben einen Bruder, der nichts dagegen haben würde, wenn seine sechs Kinder in den Büchern der Bäcker und Metzger des Königreichs als zwei betrachtet würden; im Gegenteil –«

»Sechs Kinder, Sir?« rief Squeers.

»Ja, und lauter Knaben«, erwiderte der Fremde.

»Herr Nickleby«, sagte Squeers in großer Hast, »halten Sie mir diesen Korb ein wenig. Erlauben Sie mir, Sir, Ihnen die Karte eines musterhaften Instituts zu überreichen, wo diese sechs Knaben auf eine lichtvolle, freisinnige und moralische Weise erzogen werden können, ohne daß mehr als zwanzig Guineen, – zwanzig Guineen jährlich, Sir, für den Kopf bezahlt zu werden brauchen. Ich würde auch alle zusammen für die runde Summe von hundert Pfund jährlich aufnehmen.«

»Ah, da sind wohl Sie selbst der hier erwähnte Squeers,« sagte der Herr mit einem Blicke nach der Karte.

»Ja, Sir«, erwiderte der würdige Pädagog. »Wackford Squeers ist mein Name, und ich darf mich dessen nicht schämen. Dies sind einige meiner Schüler, Sir, und da einer meiner Hilfslehrer – Herr Nickleby, ein Mann aus gutem Hause mit gar schönen mathematischen, klassischen und wirtschaftlichen Kenntnissen. Wir machen in unserer Anstalt die Sachen nicht halb ab. Meine Schüler müssen alles lernen, Sir. Ich scheue dabei keine Kosten; auch erhalten sie eine väterliche Behandlung und obendrein die Wäsche.«

»Meiner Treu«, sagte der Herr, indem er Nicolaus mit einem halben Lächeln und einem mehr als halben Ausdruck von Überraschung anblickte; »das nenne ich mir in der Tat Vorteile.«

»Sie dürfen wohl so sagen, Sir«, entgegnete Squeers, die Hände in seine Überrocktaschen steckend. »Auf Verlangen können die einwandfreiesten Zeugnisse nachgewiesen werden. Ich würde jedoch keinen Zögling aufnehmen, für den nicht die Zahlung von fünf Pfunden fünf Schillingen vierteljährlich verbürgt ist, – nein, nicht wenn sie auf die Knie vor mir niederfielen und mich mit Tränen im Gesicht drum bäten.«

»Sehr vorsichtig«, meinte der Reisende.

»Vorsicht ist stets mein Hauptaugenmerk, Sir«, versetzte Squeers. »Snawley junior, wenn du nicht aufhörst zu frieren und mit den Zähnen zu klappern, so will ich dich, ehe eine halbe Minute vergeht, mit einer Tracht Schläge warm machen.«

»Sitzen Sie hier fest, meine Herren?« fragte der Schaffner, als er nach seinem Platze hinaufstieg.

»Ist alles hinten in Ordnung, Dick?« rief der Postillion,

»Alles richtig«, war die Antwort. »Vorwärts!«

Und vorwärts ging es unter lautem Schmettern des Posthornes und dem ruhigen Beifall aller Roß- und Wagenkenner, die vor dem Pfauen versammelt waren, insbesondere aber dem der Stallknechte, die, die Pferdedecken über ihren Armen, der Kutsche nachsahen, bis sie verschwunden war, und dann wieder brummend nach den Ställen gingen, der Schönheit der Abfahrt allerlei bewundernde Lobsprüche zollend.

Als der Schaffner, ein stämmiger, alter Yorkshirer, sich fast außer Atem geblasen hatte, steckte er das Hörn in ein an der Seite der Kutsche zu diesem Zwecke angebrachtes Futteral, zerklopfte sich selbst unter der Bemerkung, daß es ungewöhnlich kalt sei, tüchtig Brust und Arme und fragte dann jede Person besonders, ob sie geradeaus zu reisen gedenke, und wenn nicht, wo der Weg hinginge. Als diese Fragen zur Zufriedenheit beantwortet waren, meinte er, die Wege wären nach dem Schneefall der letzten Nacht ziemlich schwer zu befahren, und nahm sich die Freiheit, zu fragen, ob einer von den Herren eine Schnupftabakdose bei sich führe. Da zufälligerweise keiner der Anwesenden schnupfte, bemerkte er mit geheimnisvoller Miene, daß er, als er in der letzten Woche nach Grantham hinuntergefahren, einen Doktor hätte sagen hören, daß das Schnupfen nicht gut für die Augen sei, obgleich er für seine Person dieses nie gefunden hätte, und er der Ansicht sei, daß jeder äußern solle, wie er es finde. Da niemand den Versuch machte, etwas gegen diesen Satz einzuwenden, so nahm er ein kleines braunes Papierpäckchen aus seinem Hut, setzte eine Hornbrille auf seine Nase (weil die Schrift etwas undeutlich sei), überlas die Anweisung ein halbes Dutzend Male, brachte Päckchen und Brille wieder an den früheren Platz und starrte dann alle Reisenden der Reihe nach an. Er griff nun, da die gewöhnlichen Gemeinplätze seiner Unterhaltung erschöpft waren, um sich zu erfrischen, abermals nach dem Horn, schlug dann zuletzt, so gut es bei den vielen Röcken, die er anhatte, möglich war, die Arme zusammen und blickte stumm und unbekümmert auf die verschiedenen Gegenstände, an denen die Kutsche vorbeirollte. Die einzigen Dinge, für die er ein Interesse zu haben schien, waren Pferde und Viehherden, die er, sooft man an solchen vorbeikam, mit den Blicken eines Kenners musterte.

Es war bitterkalt; hin und wieder stöberte es tüchtig, und der Wind war unerträglich schneidend.

Herr Squeers stieg bei jeder Station aus, um, wie er sagte, seine Beine zu strecken, und da er von solchen Ausflügen immer mit einer sehr roten Nase zurückkam und unmittelbar darauf sein Schläfchen machte, so ist Grund zur Annahme vorhanden, daß ihm dieses Verfahren sehr gut bekam. Die kleinen Zöglinge wurden durch die Überreste ihres Frühstücks und durch einige kleine Schlückchen einer seltsamen Herzstärkung gelabt, die Herr Squeers bei sich führte, und die fast wie Brotwasser, das aus Versehen in eine Branntweinflasche gegossen wurde, schmeckte. Sie schliefen ein, erwachten wieder, schauderten und weinten, wie es ihnen eben gerade behagte. Nicolaus und der andere Flügelmann wußten über so mancherlei zu sprechen, daß während ihrer Unterhaltung und den Versuchen, die Knaben zu ermuntern, die Zeit so schnell entschwand, wie es unter solchen leidigen Umständen möglich war.

So verging der Tag. Zu Eton Slocomb trafen sie eine gute Mahlzeit, an der die Mehrzahl der Reisegesellschaft – worunter auch Nicolaus, der gutgelaunte Mann und Herr Squeers – teilnahm, während man die fünf Knaben, um sie aufzutauen, an den Kamin setzte und sie mit Butterbrot und kaltem Fleisch erquickte. Ein paar Stationen später wurden die Laternen angezündet und eine große Störung durch die Aufnahme einer gezierten Dame verursacht, die mit ihren Dutzend Mänteln und Schachteln aus einem Wirtshaus in einer Nebenstraße einstieg, zur großen Erbauung der Passagiere sich laut über das Ausbleiben ihres eigenen Wagens, der sie hätte aufnehmen sollen, beklagte und dem Schaffner das feierliche Versprechen abnahm, jede grüne Kutsche, die er kommen sähe, anzuhalten, was auch dieser Ehrenmann, da es stockfinstere Nacht war und er mit dem Gesicht nach der andern Seite saß, unter ernstlichen Beteuerungen zu tun versprach. Als endlich die gezierte Dame fand, daß in dem Innern des Wagens nur ein einzelner Herr saß, so ließ sie sich eine kleine Laterne, die sie in ihrem Strickbeutel bei sich führte, anzünden, und nachdem der neue Passagier endlich mit vieler Mühe hineingebracht war, flog der Wagen unter vollem Galopp der Pferde von hinnen.

Die Nacht hindurch schneite es stark, zum großen Leidwesen der Reisenden. Man hörte keinen andern Ton als das Heulen des Windes; denn die Bewegung der Räder und der Tritt der Pferde waren auf der dicken Schneehülle, die die Erde bedeckte und mit jedem Augenblick zunahm, nicht vernehmlich. Als sie durch Stamfort kamen, fanden sie die Straßen verlassen, und die alten Kirchtürme stiegen düster und zürnend auf der weißen Ebene empor. Zwanzig Meilen weiter machten sich zwei Reisende von den vorderen Außensitzen die Ankunft bei einem der besten Gasthäuser in England zunutze und blieben im Georg zu Grantham über Nacht. Die übrigen hüllten sich dichter in ihre Überröcke und Mäntel, lehnten sich, als sie das Licht und die Wärme der Stadt wieder verlassen mußten, gegen das Gepäck und schickten sich mit vielen halbunterdrückten Seufzern an, aufs neue dem schneidenden Winde, der über über [*Doppelung] die Schneefelder fegte, zu begegnen.

Sie befanden sich wenig mehr als eine Station von Grantham, oder ungefähr auf dem halben Wege zwischen dieser Stadt und Newark, als Nicolaus, der kurz zuvor eingeschlafen war, plötzlich durch einen heftigen Stoß geweckt wurde, der ihn beinahe von seinem Sitz geworfen hätte. Er griff nach der Lehne und fand, daß die Kutsche sich ganz auf die eine Seite neigte, obgleich sie noch immer von den Pferden fortgeschleppt wurde. Durch den Stoß und das laute Kreischen der Dame im Innern verwirrt, besann er sich eben, ob er hinausspringen solle oder nicht, als der Wagen plötzlich ganz umkippte und ihm, indem er ihn auf die Straße schleuderte, alle weitere Ungewißheit ersparte.

Sechsundzwanzigstes Kapitel.


Sechsundzwanzigstes Kapitel.

In dem Käthchen Nicklebys Seelenfrieden in Gefahr gerät.

Wir führen den Leser nach einer Reihe schöner Zimmer in der Regentenstraße. Die Zeit ist drei Uhr nachmittags für den geplagten Arbeiter und die erste Morgenstunde für den lustigen Lebemann. Dort finden wir den Lord Friedrich Verisopht und seinen Freund Sir Mulberry Hawk.

Das edle Paar lümmelte verdrossen auf zwei Sofas. Zwischen ihnen stand ein Tisch, auf dem die Materialien eines unberührten Frühstücks in bunter Verwirrung umherlagen. Durch das Zimmer waren Zeitungsblätter zerstreut; aber auch diese blieben, wie das Mahl, unbeachtet. Freilich nicht, weil eine lebhafte Unterhaltung die Aufmerksamkeit von den Journalen ablenkte; denn man vernahm keine Silbe aus dem Munde der beiden und auch keinen anderen Ton, als wenn etwa einer von ihnen sich umherwälzte, um eine bequemere Unterlage für seinen schmerzenden Kopf zu suchen, oder wenn er ungeduldig knurrte, was dann den Gefährten in seiner Ruhe störte.

Schon diese Merkmale hätten einen hinreichenden Schlüssel zu der Ausdehnung der in der vergangenen Nacht stattgehabten Schwelgerei geben können, wenn auch keine anderen Spuren vorhanden gewesen wären, aus denen die Art ihrer Vergnügungen sich hätte erkennen lassen. Ein paar beschmutzte Billardbälle, zwei zerknüllte Hüte, eine Champagnerflasche, um deren Hals ein unsauberer Handschuh gewunden war, um sie bequemer als eine Angriffswaffe benutzen zu können, ein zerbrochener Stock, umhergestreute Karten, ein leerer Geldbeutel, eine zersprengte Uhrkette, eine Handvoll Silbermünzen mit den Resten halbausgerauchter Zigarren vermischt – diese und andere Abzeichen von Unordnung und Ausschweifung bekundeten unverkennbar die Art, wie sich die beiden gnädigen Herren in der letzten Nacht belustigt hatten.

Lord Friedrich Verisopht war der erste, der zu sprechen begann. Er ließ einen bepantoffelten Fuß auf den Boden gleiten, gähnte gewaltig, mühte sich aufzusitzen, heftete die abgelebten Augen auf seinen Freund und rief ihm mit schläfriger Stimme zu.

»Was gibt’s?« versetzte Sir Mulberry, sich umwendend.

»Wollen wir den ganzen Ta-ag hier liegen?« sagte der Lord.

»Ich weiß nicht, ob wir zu etwas anderem zu brauchen sind«, entgegnete Sir Mulberry. »Vorderhand können wir wenigstens nichts Besseres tun. Ich habe diesen Morgen kein Quentchen Leben in mir.«

»Leben?« rief Lord Verisopht; »mir wäre nichts angenehmer und beha-aglicher, als wenn ich auf der Stelle sterben könnte.«

»Nun, warum sterben Sie denn nicht?« erwiderte Sir Mulberry.

Mit diesen Worten kehrte er sein Gesicht auf die andere Seite und versuchte aufs neue einzuschlafen.

Sein hoffnungsvoller Freund und Zögling zog einen Stuhl an den Frühstückstisch und versuchte zu essen. Als er aber fand, daß dies nicht möglich sei, schleppte er sich nach dem Fenster, schlenderte dann, die Hand an den glühenden Kopf gelegt, im Zimmer auf und ab, warf sich endlich wieder auf das Sofa und weckte seinen Freund aufs neue.

»Was zum Teufel wollen Sie denn von mir?« stöhnte Sir Mulberry, indem er sich auf seinem Diwan aufrichtete.

Obgleich Sir Mulberry das in ziemlich übler Laune sagte, schien er doch nicht zu glauben, daß er sich ganz ruhig verhalten dürfe; denn nachdem er sich ziemlich oft gerekelt und unter einigem Frösteln erklärt hatte, daß es teufelmäßig kalt wäre, machte er gleichfalls einen Versuch mit dem Frühstück und blieb, da ihm dieser besser gelang als seinem weniger aufgelegten Freunde, an dem Tisch sitzen.

»Angenommen«, sagte Sir Mulberry, ein Stückchen Fleisch auf seiner Gabelspitze betrachtend, »wir kämen wieder auf den Nicklebyschen Gegenstand zurück, – wie?«

»Welchen Nicklebyschen? Meinen Sie den Geldjuden oder das Mädchen?« fragte Lord Verisopht.

»Ich sehe. Sie verstehen mich«, versetzte Sir Mulberry. »Natürlich das Mädchen.«

»Sie versprachen mir, sie ausfindig zu machen«, sagte Lord Verisopht.

»Wahr«, erwiderte sein Freund, »aber ich habe seitdem reiflicher über die Sache nachgedacht. Sie trauen mir in der Sache nicht, und ich überlasse es daher Ihnen selbst, sie aufzufinden.«

»O nicht doch«, antwortete Lord Verisopht.

»Und ich sage ja«, versetzte Sir Mulberry. »Forschen Sie nach ihr nur selber nach. Aber ich setze meinen Kopf daran, wenn Sie auch nur eine Spur von ihr ohne mich zu Gesicht bekommen. Doch ich will Sie nicht zappeln lassen. Ich sage. Sie sollen sie auffinden – werden sie auffinden, und ich will Ihnen den Weg andeuten.«

»Nun, mich soll der Teufel holen, wenn Sie nicht ein wahrer, verteufelter, aufrichtiger, durch und durch wackerer Freund sind«, entgegnete der junge Lord, auf den diese Worte die belebendste Wirkung geübt hatten.

»Ich will Ihnen sagen, wie sich’s machen läßt«, versetzte Sir Mulberry. »Sie war bei jenem Diner als ein Köder für Sie zugegen.«

»Ha!« rief der junge Lord, »das wäre der Teu–«

»Als ein Köder für Sie«, wiederholte sein Freund; »der alte Nickleby hat es mir selbst gesagt.«

»Das ist ja ein Mordkerl«, rief Lord Verisopht, »ein nobler Spitzbube.«

»Ja«, entgegnete Sir Mulberry, »er wußte, daß sie ein niedliches Geschöpfchen –«

»Niedlich?« fiel der junge Lord ein. »So wahr ich lebe, Hawk, sie ist eine vollendete Schönheit, ein – ein Bild, ein Kunstwerk, ein – ein – meiner Seele, das ist sie.«

»Meinetwegen«, erwiderte Sir Mulberry, indem er die Achseln zuckte und wenigstens gleichgültig schien, mochte er es nun sein oder nicht. »Das ist Geschmacksache; es ist nur um so besser, wenn der meine nicht mit dem Ihrigen harmoniert.«

»Hol Sie der Teufel«, sagte der Lord; »Sie waren an jenem Tage scharf genug auf sie. Ich konnte kaum zu Worte kommen.«

»Sie war gut genug für einmal – gut genug für einmal«, versetzte Sir Mulberry, »aber keineswegs so, daß ich es der Mühe wert hielt, ein zweites Mal den Kavalier bei ihr zu spielen. Wenn Sie allen Ernstes die Nichte aufspüren wollen, so sagen Sie dem Onkel, Sie müßten wissen, wo, wie und mit wem sie lebt, oder Sie würden allen Geschäftsverkehr mit ihm abbrechen. Passen Sie auf, er wird’s Ihnen schnell genug sagen.«

»Warum sagten Sie das nicht schon früher«, fragte Lord Verisopht, »und lassen mich da brennen, vergehen und ein miserables Dasein durch ein ganzes Menschenalter hinschleppen?«

»Erstlich wußte ich es nicht«, antwortete Sir Mulberry unbekümmert, »und zweitens glaubte ich nicht, daß es Ihnen so Ernst mit der Sache wäre.«

Nun verhielt sich aber die Sache so, daß Sir Mulberry Hawk seit Ralph Nicklebys Diner im geheimen alle ihm zu Gebot stehenden Mittel angewandt hatte, um zu entdecken, woher Käthchen so plötzlich erschienen und wohin sie so plötzlich verschwunden war. Da ihm aber Ralphs Beistand fehlte, den er seit dem damaligen nicht sehr freundlichen Abschied nicht mehr gesehen hatte, so waren alle seine Anstrengungen vergeblich. Dadurch wurde er denn auch bewogen, dem jungen Lord das Wesentliche des Zugeständnisses, das er Ralph, dem Ehrenmanne, entlockt hatte, mitzuteilen. Hierzu bewogen ihn verschiedene Rücksichten, unter denen die Gewißheit, daß der schwache junge Mann alle Nachrichten, die er einzuholen vermochte, ihm mitteilen würde, nicht die geringste war. Der Wunsch nämlich, die Nichte des Wucherers wiederzusehen, durch Anwendung aller seiner Künste ihren Stolz zu beugen und sich für die Verachtung, die sie ihm erwiesen, zu rächen, hatte in seiner Seele ganz die Oberhand gewonnen. Sein Verfahren war dabei allerdings so schlau berechnet, daß sich alles, wie es auch gehen mochte, zu seinem Vorteile wenden mußte. Denn die Tatsache, daß er Ralph Nickleby seine wahre Absicht, warum er Käthchen in eine solche Gesellschaft eingeführt, entlockt hatte, wie auch die hohe Uneigennützigkeit, womit er diese so unverhohlen seinem Freunde mitteilte, mußte nicht nur seinen Plänen in der gedachten Hinsicht förderlich sein, sondern auch die ohnehin schon häufigen Geldwanderungen aus den Taschen des Lord Friedrich Verisopht in die des Sir Mulberry Hawk ungemein erleichtern.

So folgerte Sir Mulberry und begab sich daher bald darauf mit seinem Freund zu Ralph Nickleby, um dort einen von ihm entworfenen Feldzugsplan in Gang zu setzen, der angeblich die Absichten seines Freundes unterstützen, in der Tat aber nur seinen eigenen Vorschub leisten sollte.

Sie fanden Ralph zu Hause und allein. Als er sie in das Besuchszimmer führte, schien ihm die Erinnerung an den Auftritt, der hier stattgehabt hatte, wieder aufzutauchen; denn er warf einen forschenden Blick auf Sir Mulberry, der diesen nur mit einem unbekümmerten Lächeln erwiderte.

Sie sprachen eine kleine Weile über Geldangelegenheiten, und als diese abgemacht waren, erklärte (infolge von Sir Mulberrys Anweisungen) der hochgeborne Pinsel mit einiger Verlegenheit, daß er Ralph allein sprechen wollte.

»Wie – allein?« rief Sir Mulberry mit geheuchelter Überraschung. »Ah, sehr gut, ich will in das nächste Zimmer gehen. Halten Sie mich aber nicht lange auf.«

Mit diesen Worten nahm Sir Mulberry seinen Hut, summte einige Takte aus einer Arie, entfernte sich durch die Verbindungstüre der beiden Zimmer und schloß sie hinter sich ab.

»Nun, Mylord«, sagte Ralph, »womit kann ich Ihnen dienen?«

»Nickleby«, sagte der Lord, indem er sich der Länge nach auf dem Sofa, wo er vorhin gesessen, ausstreckte, um seine Lippen dem Ohr des alten Mannes näher zu bringen, »was Sie nicht für ein niedliches Geschöpfchcn als Nichte haben!«

»Meinen Sie, Mylord?« versetzte Ralph. »Mag sein – mag sein – ich bemühe meinen Kopf nicht mit derartigen Dingen.«

»Sie wissen, daß sie ein verdammt hübsches Mädchen ist«, entgegnete der Lord; »Sie müssen das wissen, Nickleby. Versuchen Sie’s nur nicht, zu leugnen.«

»Nun, ich glaube, man hält sie dafür«, erwiderte Ralph, »und in der Tat, ich weiß auch, daß sie es ist. Wenn das aber auch nicht der Fall ist, so gelten Sie mir als eine gewichtige Autorität für derartige Dinge, denn Ihr Geschmack, Mylord, ist in jeder Hinsicht als der beste anerkannt.«

Keinem als dem jungen Manne, an den diese Worte gerichtet waren, hätte der Ton des Hohns in ihnen oder der Blick der Verachtung, womit sie begleitet wurden, entgehen können. Aber Lord Friedrich Verisopht gewahrte nichts davon, sondern er sah in dem Ganzen nur die gerechte Anerkennung seiner Verdienste.

»Nun«, sagte er, »vielleicht haben Sie ein wenig recht – vielleicht auch ein wenig unrecht – möglicherweise auch ein wenig von beiden, Nickleby. Ich möchte eigentlich wissen, wo diese Schönheit wohnt, um ihr noch einmal einen Blick nachwerfen zu können, Nickleby.«

»Wirklich –« begann Ralph in seinem gewöhnlichen Tone.

»Sprechen Sie nicht so laut«, rief der andere, der diesen Hauptpunkt der ihm erteilten Anweisungen zum Wundern gut aufgefaßt hatte; »Hawk braucht nichts davon zu hören.«

»Sie wissen, daß er Ihr Nebenbuhler ist?« fragte Ralph, den Lord scharf ansehend.

»Das ist der verda-ammte Spitzbube immer«, versetzte der Lord, »und ich möchte ihm einmal ganz sacht den Rang ablaufen. Hahaha! Es wird ihn schon genug empören, Nickleby, daß wir hier ohne ihn miteinander reden. Wo wohnt sie, Nickleby? Ich brauche nichts weiter zu wissen. Sagen Sie mir nur, wo sie wohnt, Nickleby.«

»Er beißt an«, dachte Nickleby, »er beißt an.«

»Nun, so reden Sie doch«, fuhr der Besucher fort. »Wo wohnt sie?«

»In der Tat«, sagte Ralph, indem er langsam die Hände übereinanderrieb, »ich muß erst überlegen, ehe ich es Ihnen sagen kann.«

»Ei, lassen Sie das bleiben, Nickleby«, versetzte Verisopht. »Sie sollten überhaupt nie überlegen. Wo ist sie?«

»Es kommt vielleicht nichts Gutes dabei heraus, wenn Sie es wissen«, entgegnete Ralph. »Sie ist tugendhaft und wohlerzogen; auch schön, aber arm und schutzlos – ein armes, armes Mädchen.« –

Ralph überflog diesen kurzen Inbegriff von Käthchens Stellung, als ginge er ihm nur so durch den Kopf, ohne daß er die Absicht hätte, laut zu sprechen; aber der verschmitzte Blick, den er auf den jungen Herrn richtete, strafte diese armselige Verstellung Lügen.

»Ich versichere Ihnen, daß ich sie nur sehen will«, rief der Lord. »Man darf doch einem hübschen Mädchen nachschauen, ohne daß es ihr Scha-aden tut – oder nicht? Nun, wo wohnt sie? Sie wissen, daß Sie mit mir gute Geschäfte machen, Nickleby, und meiner Seele, niemand soll mich vermögen, zu jemand anderem zu gehen, wenn Sie mir diese Kleinigkeit mitteilen.«

»Da Sie mir dies versprechen, Mylord«, sagte Nalph mit verstelltem Widerstreben, »und ich Ihnen recht gerne einen Gefallen erweisen möchte – und da außerdem kein Schaden daraus erwachsen kann – ja, kein Schaden –, so will ich’s Ihnen sagen. Aber Sie werden gut tun, wenn Sie es für sich behalten, Mylord – ausschließlich für sich.«

Ralph deutete bei diesen Worten nach der Tür des anstoßenden Zimmers und nickte ausdrucksvoll mit dem Kopfe.

Der junge Lord tat, als fühle er gleichfalls die Notwendigkeit dieser Vorsichtsmaßregel, und Ralph teilte ihm nun mit, wo und unter welchen Verhältnissen seine Nichte zurzeit lebte, indem er zugleich den Charakter der Familie, in deren Hause sich Käthchen befand, näher bezeichnete und die Ansicht äußerte, daß ein Lord ohne Zweifel leicht Zutritt finden könnte, wenn er Lust hätte, da man dort viel auf vornehme Bekanntschaften zu halten schiene.

»Und da Sie meine Nichte nur zu sehen wünschen«, schloß Ralph, »so können Sie auf diesem Wege zu jeder Zeit Ihren Zweck erreichen.«

Lord Verisopht dankte für diesen Wink mit manchem Druck auf Ralphs harte und hornige Hand und flüsterte dann, daß sie jetzt gut tun würden, die Unterhaltung abzubrechen, worauf er Sir Mulberry Hawk wieder hereinrief.

»Es kam mir fast vor, als wäret ihr eingeschlafen«, sagte Sir Mulberry, als er sehr übelgelaunt wieder in das Zimmer trat.

»Tut mir leid, daß Sie warten mußten«, versetzte der Gimpel; »aber Nickleby ist so erstaunlich spa-aßhaft gewesen, daß ich mich nicht von ihm losreißen konnte.«

»Nicht doch«, entgegnete Ralph; »die Schuld liegt ganz an Seiner Herrlichkeit. Sie wissen, welch ein witziger, humoristischer, geistreicher junger Herr Lord Friedrich ist. Bitte, spazieren Sie voran, Mylord – Sir Mulberry?«

Mit solchen Höflichkeitsphrasen, vielen tiefen Bücklingen und dem gleichen, kalten, höhnischen Zug im Gesicht, den er die ganze Zeit über bewahrt hatte, begleitete Ralph die beiden adligen Herren die Treppe hinunter, ohne den verwunderten Blick Sir Mulberrys, der ihm ein Kompliment über seine vollendete Spitzbüberei zu machen schien, mit etwas anderem als einem leichten Zucken der Mundwinkel zu erwidern.

Einige Augenblicke vorher hatte die Klingel getönt, und Newman Noggs öffnete eben die Tür, als sie in der Hausflur anlangten. Der gewöhnlichen Hausordnung zufolge würde Newman den neuen Besuch schweigend eingelassen oder ihn ersucht haben, ein wenig beiseite zu treten, bis die Herren hinaus wären; er hatte jedoch kaum die Person erkannt, als er sich auf eigene Faust hin eine Abweichung von der Regel erlaubte und mit einem Rückblick auf das achtbare Trio laut ausrief: »Madame Nickleby.«

»Madame Nickleby?« rief Sir Mulberry Hawk, als sich Ralph umwandte und ihm ins Gesicht sah.

Es war in der Tat diese dienstfertige Dame, die, da ein Anerbieten für das leere Haus in der City gemacht worden war, sich ohne Zögern mit der Eile eines Briefträgers auf den Weg gemacht hatte, um das Schreiben Herrn Nickleby selber zu überbringen.

»Es ist niemand, den Sie kennen«, sagte Ralph. »Treten Sie in das Kontor, meine – meine – Liebe. Ich werde sogleich bei Ihnen sein.«

»Niemand, den ich kenne?« rief Sir Mulberry Hawk, auf die bestürzte Dame zugehend. »Ist dies Madame Nickleby – die Mutter von Fräulein Nickleby – dem bezaubernden Wesen, das ich so glücklich war, bei dem letzten Diner in diesem Hause zu sehen? –- Aber nein«, sprach Sir Mulberry, plötzlich abbrechend, »nein, es kann nicht sein. Es ist zwar der nämliche Schnitt des Gesichts, derselbe unbeschreibliche Ausdruck des – aber nein, nein. Diese Dame ist zu jung dazu.«

»Ich denke, Sie können dem Herrn sagen, wenn es ein Interesse für ihn hat«, sagte Madame Nickleby, indem sie das Kompliment mit einer huldvollen Verbeugung anerkannte, »daß Käthchen Nickleby meine Tochter ist.«

»Ihre Tochter, Mylord?« rief Sir Mulberry, sich zu seinem Freunde wendend. »Die Tochter dieser Dame, Mylord!«

»Mylord?« dachte Madame Nickleby. »Nun, ich hätte mir doch nimmer –!«

»Das, Mylord, ist also die Dame«, fuhr Sir Mulberry fort, »deren holdem Ehebund wir so viel Glück verdanken. Diese Dame ist die Mutter des liebenswürdigen Käthchens. Bemerken Sie nicht die außerordentliche Ähnlichkeit, Mylord? Nickleby – stellen Sie uns vor.«

Ralph tat es in einer Art von Verzweiflung.

»Aber nein, das ist ja köstlich«, rief Lord Friedrich, sich vordrängend. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«

Madame Nickleby war infolge dieser ungewöhnlich freundlichen Begrüßungen, wie auch eines innerlichen Ärgers, nicht ihren andern Hut aufgesetzt zu haben, zu verwirrt, als daß sie eine Antwort hätte geben können, weshalb sie sich begnügte, fortwährend zu knixen, zu lächeln und große Aufregung zu verraten.

»Und wa-as macht Fräulein Nickleby?« sagte Lord Friedrich. »Sie ist hoffentlich wohl?«

»Ganz wohl, danke der Nachfrage, Mylord«, antwortete Madame Nickleby sich sammelnd. »Sie war einige Tage nach dem Diner hier im Hause unwohl, und ich kann mir nicht anders denken, als daß sie sich beim Heimfahren in der Mietkutsche erkältete. Mietkutschen, Mylord, sind solche garstige Dinger, daß man fast besser tut, wenn man zu Fuß geht. Obgleich ich nämlich glaube, daß ein Mietkutscher Deportation auf Lebenszeit verdient, wenn er zerbrochene Fenster hat, so sind doch alle so unbekümmert, daß es wohl kaum einen einzigen gibt, der nicht zerbrochene Fenster hätte. Ich habe mir einmal beim Fahren in einer Mietkutsche einen Gesichtsrheumatismus geholt, Mylord, wegen dem ich sechs Wochen im Bett bleiben mußte – ich glaube, es war eine Mietkutsche«, fuhr Madame Nickleby nach einigem Besinnen fort, »wenn ich gleich nicht ganz gewiß bin, ob es nicht eine Chaise war. Jedenfalls erinnere ich mich, daß sie grün angestrichen war und eine sehr lange Nummer hatte, die mit einer Null anfing und mit einer Neun endigte – nein, mit einer Neun anfing und mit einer Null endigte. Ja, so war’s – und natürlich würde die Polizei, wenn sie Nachforschungen anstellte, leicht ausfindig machen können, ob es eine Kutsche oder eine Chaise gewesen. Sei dem jedoch wie ihm wolle, sie hatte ein zerbrochenes Fenster, und ich bekam auf sechs Wochen einen Gesichtsrheumatismu«. Ich denke, es war dieselbe Mietkutsche, in der wir nachher wieder fuhren und die die ganze Zeit über ein zurückgeschlagenes Verdeck hatte – wir würden dieses Umstandes nicht einmal wahrgenommen haben, wenn man uns deshalb nicht einen Schilling extra für die Stunde abgefordert hätte, was Gesetz zu sein scheint oder vielleicht damals Gesetz war; aber jedenfalls ist es ein schändliches Gesetz. Ich verstehe mich zwar nicht auf die Sache, aber ich darf sagen, die Korngesetze sind nichts gegen eine solche Parlamentsakte.«

Nachdem Madame Nickleby in dieser Weise ihrer Zunge den Lauf gelassen hatte, hielt sie so plötzlich, als sie angefangen hatte, inne und wiederholte, daß Käthchen ganz wohl wäre.

»In der Tat«, fügte sie bei, »ich glaube nicht, daß sie sich je wohler befand, seit sie den Keuchhusten, das Scharlachfieber und die Masern – und zwar alle drei zu gleicher Zeit – hatte. Ja, das muß wahr sein.«

»Ist das Schreiben an mich?« brummte Ralph, auf das Päckchen deutend, das Madame Nickleby in ihrer Hand hielt.

»Ja, an Sie, Schwager«, versetzte Madame Nickleby, »und ich bin deshalb den ganzen Weg hierher, so schnell ich konnte, gelaufen, um es Ihnen zu geben.«

»Den ganzen Weg hierher gelaufen?« rief Sir Mulberry, der diese Gelegenheit erfaßte, um zu erfahren, woher Madame Nickleby käme. »Das muß wohl eine verdammte Entfernung sein? Wie weit ist es wohl?«

»Wie weit?« entgegnete Madame Nickleby. »Warten Sie mal – es ist genau eine Meile von unserer Haustür bis nach Oldbailey.«

»Nein – nein – nein, so weit kann’s nicht sein«, meinte Sir Mulberry.

»Aber, ganz gewiß«, erwiderte Madame Nickleby. »Ich berufe mich auf Seine Herrlichkeit.«

»Ich kann Ihnen bestimmt versichern, daß es eine Meile ist«, bemerkte Lord Friedrich mit der ernsthaftesten Miene.

»Es muß so sein – gewiß, keine Elle weniger«, fuhr Madame Nickleby fort. »Die ganze Newgatestraße und ganz Cheapside herunter, die ganze Lombardstraße hinauf, die Gnadenkirchstraße hinunter und auf der Themsestraße fort bis zum Spigwiffins-Kai. O, es ist eine Meile.«

»Wenn ich mir’s näher betrachte, so haben Sie recht«, sagte Sir Mulberry. »Aber Sie haben doch gewiß nicht im Sinn, den ganzen Weg wieder zu Fuß zurückzulegen?«

»O nein«, erwiderte Madame Nickleby, »ich will einen Omnibus benutzen. Ach, ich bin freilich nicht in Omnibussen gefahren, als mein armer Nicolaus noch lebte, Schwager! Aber Sie wissen, wie’s geht.«

»Ja, ja«, entgegnete Ralph ungeduldig, »und Sie täten besser, sich auf den Weg zu machen, ehe es dunkel wird.«

»Sie haben recht, Schwager – ich danke Ihnen«, erwiderte Madame Nickleby. »Es wird daher wohl am besten sein, wenn ich mich gleich verabschiede.«

»Wollen Sie nicht noch ein wenig bleiben und – ausruhen?« sagte Ralph, der selten eine Erfrischung anbot, wenn nichts dabei zu gewinnen war.

»Ach, lieber Gott, nein«, versetzte Madame Nickleby mit einem Blick nach der Uhr.

»Lord Friedrich«, sagte Sir Mulberry, »wir haben mit Madame Nickleby einen Weg. Wir müssen doch sehen, daß sie sicher in einem Omnibus unterkommt.«

»J-a freilich.«

»Ach, eine solche Ehre wäre allzu groß«, meinte Madame Nickleby.

Aber Sir Mulberry Hawk und Lord Verisopht bestanden darauf, ihr diese Ehre zu erweisen, und verließen, Madame Nickleby in der Mitte, das Haus, ohne auf Ralph Rücksicht zu nehmen, der – und zwar nicht mit Unrecht – anzunehmen schien, daß er als bloßer Zuschauer eine weniger lächerliche Rolle spielen würde, als wenn er in den Verhandlungen Partei ergriffe. Die gute Dame fühlte sich überglücklich, sowohl durch die Aufmerksamkeiten, die ihr von zwei adligen Herren erwiesen wurden, als auch durch die feste Überzeugung, daß ihr Käthchen jetzt mindestens zwischen zwei ungeheuer reichen und durchaus tadellosen Freiern die Wahl hätte.

Während sie sich so einem Strom von Gedanken, die alle mit der künftigen Größe ihrer Tochter in Verbindung standen, hingab, wechselten Sir Mulberry Hawk und sein Freund über den Hut weg, den die arme Frau nicht zu Hause gelassen zu haben so sehr bedauerte, Blicke der Verständigung und ließen sich in hohem Entzücken, jedoch auch mit vieler Achtung über Fräulein Nicklebys mannigfaltige Vorzüge aus.

»Welche Wonne, welcher Trost, welches Glück muß nicht dieses holde Wesen für Sie sein!« sagte Sir Mulberry mit dem Ausdruck des wärmsten Gefühls in seiner Stimme.

»Das ist sie in der Tat, Sir«, versetzte Madame Nickleby. »Sie ist das sanfteste und gutherzigste Geschöpf – und so verständig!«

»Man steht ihr den Versta-and an«, sagte Lord Verisopht mit der Miene eines Mannes, dem ein Urteil in derartigen Dingen zusteht.

»Ich versichere Ihnen, sie ist es, Mylord«, entgegnete Madame Nickleby. »Als sie in der Pension zu Devonshire war, galt sie allgemein und ohne alle Ausnahme für das gescheiteste Mädchen, und es waren doch viele recht verständige unter den Pensionärinnen – das muß man sagen. Fünfundzwanzig junge Damen, von denen jede fünfzig Guineen ohne die Nebenausgaben bezahlte. Die beiden Fräulein Dowdles, die vollkommensten, elegantesten und bezauberndsten Wesen. – Ach du mein Himmel«, fuhr Madame Nickleby fort, »ich werde nie vergessen, wieviel Freude sie mir und ihrem armen Vater bereitete, als sie in jener Pension war – nie! Wenn ich nur an die herrlichen Briefe denke, die sie jedes halbe Jahr schrieb, und in denen sie uns sagte, daß sie die Erste in der ganzen Anstalt sei und bessere Fortschritte gemacht habe als alle andern. Ach, ich darf kaum mehr daran denken! Die Mädchen schrieben die Briefe alle selber«, fügte Madame Nickleby bei, »und der Lehrer verbesserte sie nachher mit einem Vergrößerungsglas und einer silbernen Feder. Wenigstens glaube ich, daß es eigenhändige Briefe waren, obgleich es Käthchen nicht ganz gewiß behaupten konnte, weil sie nachher ihre Handschrift nicht erkannte. Jedenfalls weiß ich aber, daß es ein Musterbrief war, den alle abzuschreiben hatten, und die Eltern mußten dann natürlich eine große Freude darüber haben.«

Mit ähnlichen Erinnerungen verscheuchte Madame Nickleby die Langeweile des Weges, bis sie bei dem Omnibus anlangten. Die neuen Freunde wollten sie aus lauter Höflichkeit nicht verlassen, bis sie wirklich abgefahren wäre. Bei dieser Gelegenheit, so versicherte Madame Nickleby nachher ihren Zuhörern oft genug, nahmen die Kavaliere ihre Hüte »ganz« ab und küßten Madames strohfarbenen Glacéhandschuhe, bis sie ihnen aus dem Gesicht entschwunden war.

Madame Nickleby drückte sich in die hinterste Ecke des Omnibusses zurück, schloß ihre Augen und überließ sich einer Fülle der angenehmsten Betrachtungen. Käthchen hatte nie ein Wort von diesen Herren gesagt, »und dies«, dachte sie, »beweist, daß sie einen von ihnen begünstigt«. Aber welcher von beiden mochte es wohl sein? Der Lord war der jüngste und sein Rang entschieden der höhere; aber Käthchen war nicht das Mädchen, das sich durch derartige Rücksichten bestimmen ließ. »Ich werde ihren Neigungen nie einen Zwang antun«, sagte Madame Nickleby zu sich selbst. »Aber in der Tat, ich glaube, es kann zwischen Seiner Lordschaft und Sir Mulberry von einer schwierigen Wahl gar keine Rede sein – Sir Mulberry ist ein gar aufmerksamer, galanter Herr, hat so viel Manier, so viel Ton und überhaupt so viel, was für ihn spricht. Ich hoffe, es ist Sir Mulberry – ja gewiß, es muß Sir Mulberry sein!« Und dann kehrten ihre Gedanken auf ihre alten Prophezeiungen zurück, indem sie sich erinnerte, wie viel hundertmal sie gesagt hätte, Käthchen würde ohne Vermögen eine weit bessere Versorgung finden, als anderer Leute Töchter mit Tausenden. Als sie sich aber dabei mit der lebhaften Phantasie einer Mutter die Schönheit und Anmut des armen Mädchens vergegenwärtigte, die sich so ganz ohne Murren den Mühseligkeiten und Beschwerden der letzteren Zeit unterzogen hatte, da schwoll ihr das Herz, und die Tränen rollten ihr über die Wangen.

Ralph ging inzwischen in seinem kleinen Bureau auf und ab, nicht wenig durch das, was eben vorgefallen, beunruhigt. Es wäre zwar die gröbste Verleumdung, wenn man sagen wollte, daß Ralph gegen irgendein Geschöpf Gottes Liebe oder Teilnahme – in dem gewöhnlichen Sinn dieser Worte – empfand. Trotzdem aber beschlich ihn hin und wieder ein Gedanke an seine Nichte, der eine leichte Färbung von Mitleid hatte – freilich nur ein matter Schimmer, im günstigsten Falle ein schwacher, kränkelnder Strahl, der durch die düstere Wolke von Unlust oder Gleichgültigkeit, womit er alle Menschen betrachtete, brach – aber dennoch ein Etwas, das ihm das arme Mädchen in einem bessern und reinern Lichte zeigte, als ihm bis jetzt die Menschheit überhaupt erschienen war.

»Ich wünschte«, dachte Ralph, »ich hätte es nicht getan. Und doch – es wird diesen jungen Laffen an mich fesseln, solange noch Geld bei ihm herauszuholen ist. – Freilich, ein Mädchen verkaufen! Ihr Versuchung, Beleidigung, Roheiten in den Weg werfen! Aber bereits fast zweitausend Pfund Profit von ihm gezogen? Ach was! Heiratstiftende Mütter tun jeden Tag das nämliche.«

Er setzte sich nieder und zählte die Möglichkeiten für und gegen an den Fingern ab.

»Wenn ich sie heute nicht auf die rechte Spur geleitet haben würde«, dachte Ralph, »so hätte es dieses einfältige Weib getan. Je nun, wenn ihre Tochter so fest ist, wie sie den Vorgängen nach zu sein scheint, was kann daraus Übles erwachsen? Ein bißchen Quälerei, ein wenig Demütigung, ein paar Tränen – ja«, sagte Ralph laut, indem er seine eiserne Kasse verschloß, »sie mag sich selber durchhelfen. Ihr Geschick liegt in ihrer eigenen Hand.«

Siebenundzwanzigstes Kapitel.


Siebenundzwanzigstes Kapitel.

Madame Nickleby wird mit den Herren Pyke und Pluck bekannt, deren Ergebenheit und Teilnahme über alle Grenzen geht.

Wie stolz und wichtig fühlte sich nicht Madame Nickleby, als sie ihre Wohnung erreichte und sich ganz den schönen Träumen hingeben konnte, die sie auf ihrem Wege begleitet hatten. Lady Mulberry Hawk! – Dies war die vorwaltende Idee. Lady Mulberry Hawk! – Am letzten Dienstag wurde in der St. Georgskirche Hannovers Square durch den hochwürdigen Bischof von Clandaff Sir Mulberry Hawk von Mulberry Castle in Nordwales mit Katharina, der einzigen Tochter des verstorbenen Nicolaus Nickleby, Esquire in Devonshire, ehelich verbunden. »Meiner Treu«, rief Herrn Nicolaus Nicklebys Hinterbliebene, »das klingt ja ganz prächtig.«

Nachdem die Trauungszeremonie mit den dazu gehörigen Festlichkeiten abgetan war, vergegenwärtigte sich die phantasievolle Mutter eine lange Reihe von Ehren und Auszeichnungen, die notwendig im Gefolge von Käthchens neuer und glänzender Laufbahn sein mußten. Sie wurde natürlich bei Hofe vorgestellt. An ihrem Geburtstage, der auf den neunzehnten fiel (»zehn Minuten nach drei Uhr morgens«, dachte Madame Nickleby in einer Parenthese, »denn ich erinnere mich noch recht gut, daß ich fragte, wieviel Uhr es wäre«), gab Sir Mulberry allen seinen Pächtern ein großes Fest und erließ ihnen dreieinhalb Prozent von dem Ertrage des letzten halbjährigen Pachtes, was dann natürlich zum unbegreiflichen Vergnügen und Staunen aller Leser umständlich in den öffentlichen Blättern beschrieben wurde. Käthchens Porträt erschien wenigstens in einem halben Dutzend von Taschenbüchern, und auf der andern Seite war in den elegantesten Lettern zu lesen: »Verse bei Betrachtung eines Porträts der Lady Mulberry Hawk, von Sir Dingleby Dabber.« Vielleicht enthielt auch ein nach einem umfassenderen Plane bearbeitetes Taschenbuch ein Porträt von Lady Mulberry Hawks Mutter mit Versen von Sir Dingleby Dabbers Vater. Es kommen ja jeden Tag noch viel unwahrscheinlichere Dinge vor. Schon viel unbedeutendere Porträts sind erschienen. Als der guten Dame dieser Gedanke auftauchte, nahm ihr Gesicht unwillkürlich jenen gemischten Ausdruck von Schmachten und Schläfrigkeit an, der allen derartigen Porträts eigen ist, und in dem vielleicht der Grund liegt, daß sie immer so reizend und liebenswürdig aussehen.

Mit solchen glorreichen Luftschlössern beschäftigte sich Madame Nickleby den ganzen Abend, an dem sie zufälligerweise Ralphs vornehmen Freunden vorgestellt worden war. Nicht weniger prophetische und verheißungsvolle Träume umgaukelten die Nacht über ihren Schlaf. Sie bereitete des andern Tages eben ihr einfaches Mittagessen – natürlich noch immer in denselben Ideen sich ergehend, die vielleicht durch den Schlaf und das Licht der Sonne etwas gemildert waren –, als das Mädchen, das ihr teils als Gesellschafterin, teils als Beistand in ihrem Haushalt diente, mit ungewohnter Aufregung in das Zimmer stürzte und zwei Herren anmeldete, die in dem Hausflur stünden und um die Erlaubnis bäten, Madame Nickleby ihren Besuch zu machen.

»Allmächtiger Himmel!« rief Madame Nickleby, hastig Haube und Locken ordnend; »wenn es am Ende gar die – um Himmels willen! Müssen da die ganze Zeit in der Hausflur stehen. Warum läufst du nicht und fragst sie, ob sie nicht heraufspazieren wollen, du dummes Ding?«

Sobald sich das Mädchen mit diesem Auftrage entfernt hatte, fuhr Madame Nickleby mit allen Spuren von Essen und Trinken in den Schrank und setzte sich dann in möglichst gefaßter Haltung nieder, als auf einmal zwei ihr völlig fremde Herren ins Zimmer traten.

»Wie befinden Sie sich?« fragte der eine Herr, indem er einen großen Nachdruck auf das zweite Wort seiner Frage legte.

» Wie befinden Sie sich?« fragte der andere Herr, das erste Wort stärker betonend, um eine Abwechslung in die Frage zu bringen.

Madame Nickleby knixte und lächelte, und knixte wieder und bemerkte händereibend, »daß sie nicht – wirklich – daß sie nicht die Ehre hätte –«

»Uns zu kennen?« sagte der erste Herr. »Der Nachteil ist auf unserer Seite, Madame Nickleby. Ist der Nachteil nicht auf unserer Seite, Pyke?«

»Ohne Widerrede, Pluck«, antwortete der andere Herr.

»Wir haben es, glaube ich, schon sehr oft bedauert«, bemerkte der erste Herr.

»Sehr oft«, versetzte der zweite.

»Aber jetzt«, sagte der erste Herr, »jetzt erfreuen wir uns des lange ersehnten Glückes. Haben lange nach diesem Glück geschmachtet – oder haben wir nicht, Pyke?«

»Sie können unmöglich vergessen haben, Pluck, daß wir es taten«, entgegnete Pyke vorwurfsvoll.

»Hören Sie ihn?« fragte Herr Pluck, indem er sich umsah. »Sie hören das unparteiische Zeugnis meines Freundes Pyke. Doch das erinnert mich – Förmlichkeiten, Madame – Förmlichkeiten dürfen nie in einer gebildeten Gesellschaft hintangesetzt werden. Pyke – Madame Nickleby.«

Herr Pyke legte die Hand aufs Herz und verbeugte sich tief.

»Ob ich mich selbst mit derselben Förmlichkeit einführen soll«, fuhr Herr Pluck fort, »ob ich selbst sagen soll, daß mein Name Pluck ist, oder ob ich meinen Freund Pyke bitten soll (der jetzt als regelmäßig eingeführt dieses Amt versehen kann), mich Ihnen, Madame Nickleby, als Herrn Pluck vorzustellen; ob ich den Anspruch, den ich auf Ihre Bekanntschaft mache, auf das lebhafte Interesse, das ich an Ihrem Wohle nehme, begründe, oder ob ich mich Ihnen als einen Freund des Sir Mulberry Hawk vorstellen soll – das, Madame Nickleby, sind Erwägungen, die ich Ihrer Entscheidung überlassen will.«

»Ein Freund des Sir Mulberry Hawk bedarf bei mir keiner weitern Einführung«, bemerkte Madame Nickleby huldvoll.

»Es macht mich glücklich, Sie so sprechen zu hören«, versetzte Herr Pluck, indem er einen Stuhl zu Madame Nickleby rückte und sich niedersetzte. »Es tut mir in allen Gliedern wohl, zu erfahren, daß Sie meinen vortrefflichen Freund, Sir Mulberry, so hochschätzen. Ein Wort ins Ohr, Madame Nickleby. Wenn Sir Mulberry es erfährt, so wird er sich überglücklich fühlen – ich sage Ihnen, Madame, überglücklich fühlen; Pyke, setzen Sie sich!«

» Meine gute Meinung«, entgegnete Madame Nickleby – und die arme Frau frohlockte bei dem Gedanken, daß sie ihr Sprüchlein wundervoll angebracht hätte, » meine gute Meinung kann für einen Herrn, wie Sir Mulberry, nur von sehr geringer Bedeutung sein.«

»Von geringer Bedeutung?« rief Herr Pluck. »Pyke, von welcher Bedeutung ist die gute Meinung der Frau Nickleby für Sir Mulberry?«

»Von welcher Bedeutung?« echote Pyke.

»Ja«, entgegnete Pluck. »Ist sie für ihn nicht von der größten Bedeutung?«

»Von der allergrößten Bedeutung«, erwiderte Pyke.

»Es kann Madame Nickleby nicht unbekannt sein«, sagte Herr Pluck, »welchen allmächtigen Eindruck jenes süße Mädchen auf –«

»Pluck!« verwies ihm sein Freund; »was tun Sie?«

»Pyke hat recht«, murmelte Herr Pluck nach einer kurzen Pause. »Ich hätte mir keine derartige Anspielung erlauben sollen. Pyke hat vollkommen recht. Ich danke Ihnen, Pyke.«

»Was Sie sagen!« dachte Frau Nickleby; »eine solche interessante Geschichte ist mir noch nie vorgekommen.«

Herr Pluck tat einige Minuten, als hätte ihn seine Unbedachtsamkeit in große Verlegenheit gesetzt, und nahm dann die Unterhaltung wieder auf, indem er Madame Nickleby bat, nicht auf das zu achten, was ihm so unwillkürlich entwischt wäre, und ihn lieber für unklug, voreilig und gedankenlos zu betrachten. Dabei wolle er sich weiter nichts zu seinen Gunsten ausbitten, als daß seine gute Absicht nicht verkannt werden möchte.

»Aber wenn ich« – fuhr Herr Pluck fort, – »wenn ich so viel Schönheit und Anmut auf der einen Seite und so viel Glut und aufopferungsfähige Liebe auf der anderen sehe, so – verzeihen Sie, Pyke, ich kam unabsichtlich wieder auf das Thema zurück. Beginnen Sie eine andere Unterhaltung, Pyke.«

»Wir versprachen Sir Mulberry und Lord Friedrich«, sagte Pyke, »daß wir Sie diesen Morgen besuchen und nachfragen wollten, ob Sie sich gestern abend nicht erkältet hätten.«

»O, gestern abend? – nein, nicht im mindesten, Sir«, versetzte Madame Nickleby. »Ich danke übrigens Seiner Herrlichkeit und Sir Mulberry untertänigst für diese gnädige Nachfrage. – O nein, nicht im mindesten, was mich um so mehr wundernimmt, da ich in der Tat zu Erkältungen sehr geneigt bin – ja gewiß und wahrhaftig, sehr geneigt bin. Ich habe mir einmal bei einer Erkältung einen Schnupfen geholt«, fuhr Madame Nickleby fort. »Ich glaube, es war im Jahr Achtzehnhundertundsiebzehn. Warten Sie einmal – vier und fünf ist neun, und – ja, Achtzehnhundertundsiebzehn – und ich meinte, ich könne ihn gar nimmer loswerden. Gewiß und wahrhaftig, ich meinte, er wolle gar nicht mehr von mir weichen. Ich wurde endlich nur durch ein Mittel kuriert, von dem Sie vielleicht nie etwas gehört haben, Herr Pluck. Sie nehmen einige Liter Wasser, so heiß, als Sie es nur kriegen können, tun ein Pfund Salz und für sechs Pence feinste Kleie hinein und baden sich damit alle Abende vor dem Schlafengehen wenigstens zwanzig Minuten lang den Kopf – ach nein, nicht den Kopf – ich wollte sagen, die Füße. Es ist ein ganz außerordentliches Mittel – gewiß ein höchst außerordentliches Mittel. Ich erinnere mich noch, daß ich es das erstemal den Tag nach dem Christfest anwandte, und in der Mitte des April war der Schnupfen weg. Es scheint ein wahres Wunder zu sein, wenn man bedenkt, daß ich ihn vom Anfang des September an hatte.«

»Welch ein bedauerlicher Unfall«, sagte Herr Pyke.

»Ganz schrecklich!« rief Herr Pluck.

»Aber es ist wohl der Pein wert, es zu hören, wenn man nur hintendrein erfährt, daß Madame Nickleby wieder davon genas – nicht wahr, Pluck?« rief Herr Pyke.

»Und eben das ist es, was die Sache so sehr interessant macht«, versetzte Herr Pluck.

»Aber wir dürfen in dem Vergnügen dieser Begegnung unsern Auftrag nicht vergessen«, sagte Herr Pyke in einem Ton, als ob er sich desselben plötzlich entsinne. »Wir haben nämlich einen Auftrag, Madame Nickleby.«

»Einen Auftrag?« rief die gute Dame, deren Geist sich plötzlich einen Heiratsantrag für Käthchen in den lebhaftesten Farben vergegenwärtigte.

»Von Sir Mulberry«, fuhr Pyke fort. »Sie müssen hier ein sehr langweiliges Leben führen?«

»Ich gestehe es – ziemlich langweilig«, versetzte Madame Nickleby.

»Sir Mulberry Hawk läßt Ihnen beste Grüße bestellen und Sie inständig bitten, daß Sie ein Privatlogenbillett für das heutige Stück von ihm annehmen möchten«, entgegnete Herr Pluck.

»Ach du mein Himmel!« erwiderte Madame Nickleby. »Aber ich gehe ja nie aus.«

»Das ist gerade der triftigste Grund, Madame Nickleby, heute abend auszugehen«, versicherte Herr Pluck. »Pyke, helfen Sie mir Madame Nickleby erweichen.«

»Ach, ich bitte«, sagte Pyke.

»Sie müssen durchaus«, drängte Pluck.

»Sie sind allzu gütig«, versetzte Madame Nickleby; »aber –«

»Wir lassen uns von keinem Aber abspeisen, verehrteste Madame Nickleby«, entgegnete Herr Pluck. »Es gibt im ganzen Wörterbuch kein solches Wort. Ihr Schwager kommt, Lord Friedrich kommt, Sir Mulberry kommt, Pyke kommt – es kann also von einer Ablehnung keine Rede sein. Sir Mulberry sendet Ihnen einen Wagen – genau fünfundzwanzig Minuten vor sieben. Sie werden nicht so grausam sein, der ganzen Gesellschaft die Freude zu verderben, Madame Nickleby?«

»Sie drängen mich so, daß ich kaum weiß, was ich sagen soll«, erwiderte die würdige Dame.

»Sagen Sie nichts – kein Wort – keine Silbe, meine Verehrteste«, drängte Herr Pluck. »Madame Nickleby«, fuhr der treffliche Herr flüsternd fort, »ich mißbrauche zwar ein Vertrauen, wenn ich Ihnen eine Mitteilung mache, aber ich denke, es läßt sich entschuldigen. Und doch, wenn mein Freund Pyke davon hörte – er hat ein so ungemein zartes Ehrgefühl, Madame Nickleby, daß er mich, glaube ich, noch vor dem Mittagessen herausfordern würde.«

Madame Nickleby warf einen besorgten Blick auf den gurgelschneiderischen Pyke, der an das Fenster getreten war, während Herr Pluck ihr die Hand drückte und fortfuhr:

»Ihre Tochter hat eine Eroberung gemacht – eine Eroberung, zu der ich Ihnen nur Glück wünschen kann. Sir Mulberry, meine Verehrteste, Sir Mulberry schmachtet in ihren Fesseln – ahem.«

»Ha«, rief jetzt Herr Pyke, indem er mit theatralischer Stellung etwas von dem Kamingesims wegnahm, »was ist das? Was sehe ich?«

»Was sehen Sie, mein lieber Freund?« fragte Herr Pluck.

»Es ist das Gesicht, der Ausdruck, die Züge«, rief Herr Pyke, mit einem Miniaturporträt in der Hand auf einen Sessel sinkend. »Zwar nur in schwachen Umrissen und unvollkommener Auffassung, aber doch das Gesicht, der Ausdruck, die Züge

»Ich erkenne es schon auf diese Entfernung«, rief Herr Pluck in einem Anfall von Begeisterung. »Ist es nicht, meine Verehrte, ist es nicht das unvollkommene Ebenbild von –«

»Es ist das Porträt meiner Tochter«, sagte Madame Nickleby mit großem Stolz.

Und so war es. Das kleine Fräulein La Creevy hatte es einige Tage vorher zum Ansehen hergebracht.

Herr Pyke hatte sich kaum überzeugt, daß er mit seiner Vermutung auf dem rechten Wege war, als er sich in die ausschweifendsten Lobsprüche des göttlichen Originals ergoß. In der Wärme seiner Begeisterung küßte er das Bildchen tausend Male, während Herr Pluck Madame Nicklebys Hand an sein Herz drückte und ihr mit so viel Feuer und Teilnahme zu dem Besitz einer solchen Tochter Glück wünschte, daß ihm die Tränen in den Augen standen oder doch zu stehen schienen. Die arme Madame Nickleby, die anfangs in einem Zustande beneidenswerter Selbstgefälligkeit zugehört hatte, wurde endlich durch so viele Beweise von Achtung und Zuneigung in ihren Gefühlen ganz überwältigt; und selbst das Dienstmädchen, das durch die Tür hereinsah, blieb vor Erstaunen über die Begeisterung der beiden freundlichen Herren wie angewurzelt auf ihrer Stelle stehen.

Die Ausbrüche des Entzückens milderten sich nach und nach, und Madame Nickleby schickte sich an, ihre Gäste mit Wehklagen über ihre gesunkenen Glücksumstände und einer malerischen Beschreibung ihrer alten Wohnung auf dem Lande zu unterhalten. Sie erging sich in einer umständlichen Schilderung der verschiedenen Gemächer, wobei sie ihnen nicht einmal das kleine Speisekämmerchen schenkte, erzählte ihnen, wie viele Stufen in den Garten hinuntergingen, welchen Weg man von den Wohnzimmern eingeschlagen hatte, und wie alles so solide in ihrer Küche ausgesehen. Diese letzte Erinnerung führte sie natürlich in das Waschhaus, wo sie über den Brauapparat stolperte und wahrscheinlich auch eine volle Stunde unter demselben herumgewandclt wäre, wenn nicht schon die bloße Erwähnung derartiger Requisiten vermöge einer naheliegenden Ideenverknüpfung Herrn Pyke gemahnt hätte, daß er »erstaunlich durstig« wäre.

»Und ich will Ihnen etwas sagen«, fügte Herr Pyke bei; »wenn Sie nach dem Wirtshaus hinüberschicken und eine Kanne milden Halbundhalb holen lassen wollten, so würde ich sie gewiß unfehlbar trinken.«

Und Herr Pyke leerte sie zielbewußt und unentwegt unter Herrn Plucks Beistand, während Madame Nickleby ihre Verwunderung zwischen der Herablassung der beiden Herren und der Fertigkeit, womit sie die Zinnkanne zu handhaben wußten, teilte. Um dieses scheinbare Wunder zu erklären, erlauben wir uns hier die Bemerkung, daß Herren, die wie Pyke und Pluck von ihrem Verstand (oder vielleicht besser – von der Abwesenheit des Verstandes bei andern Leuten) leben, hin und wieder ziemlich in die Klemme kommen und bei solchen Anlässen sich auf eine sehr einfache Weise zu erholen pflegen.

»Zwanzig Minuten vor sieben Uhr also« – sagte Herr Pyke aufstehend – »wird die Kutsche hier sein. Doch jetzt nur noch einen Blick – nur noch einen einzigen kleinen Blick auf dieses holde Antlitz! Ach, da ist es – bewegungslos, unverändert!« (Das war allerdings ein höchst merkwürdiger Umstand, da Miniaturporträts so gar vielen Wechseln des Ausdrucks unterworfen sind). »O Pluck! Pluck!«

Herrn Plucks Erwiderung bestand bloß darin, daß er mit vielem Sentiment Madame Nicklebys Hand küßte. Als Herr Pyke das gleiche getan hatte, entfernten sich beide Herren mit großer Eile.

Madame Nickleby tat sich gern etwas auf ihren Scharfsinn und ihre Menschenkenntnis zugut. Aber nie war sie so ganz und gar mit sich selbst zufrieden gewesen, wie an diesem Tag. Sie hatte das alles schon am gestrigen Abend gewußt. Sie hatte zwar Sir Mulberry und Käthchen nie zusammen gesehen – nicht einmal Sir Mulberrys Namen gehört, und doch – war nicht alles von ihr vorausgesagt worden? Lag nicht alles schon von dem ersten Augenblick an klar vor ihrer Seele? Welch ein Triumph jetzt für sie; denn wer hätte auch noch daran zweifeln können? Wenn man die schmeichelhaften Aufmerksamkeiten gegen sie nicht für einen hinreichenden Beweis wollte gelten lassen, hatte nicht Sir Mulberrys vertrauter Freund das Geheimnis in so manchen Worten verlauten lassen?

»In der Tat, ich bin ganz verliebt in diesen entzückenden Herrn Pluck«, sagte Madame Nickleby.

Aber mitten in diesem Glück war es ihr doch nicht wohl; denn sie hatte niemanden, dem sie es hätte vertrauen können. Einige Male war sie fast entschlossen, schnurstracks zu Fräulein La Creevy zu eilen und ihr alles zu erzählen. »Aber ich weiß nicht«, dachte die gute Frau; »sie ist zwar eine sehr achtbare Person, jedoch ich fürchte, sie steht zu tief unter Sir Mulberrys Rang, als daß sie eine passende Gesellschaft für uns wäre. Das arme Ding!«

Aus diesem wichtigen Grund wies sie den Gedanken ab, die kleine Porträtmalerin in ihr Vertrauen zu ziehen, und begnügte sich, einige unbestimmte und geheimnisvolle Hoffnungen hinsichtlich einer bevorstehenden großen Veränderung gegen das Dienstmädchen laut werden zu lassen, die diese unklaren Hindeutungen auf eine aufdämmernde Größe mit heiliger Verehrung hinnahm.

Der versprochene Wagen erschien pünktlich zu der bestimmten Zeit – kein Mietwagen, sondern eine Privatequipage mit einem Lakaien hintenauf, dessen Beine, obgleich sie etwas zu groß für seinen Körper waren, an sich betrachtet Modelle für die königliche Akademie hätten abgeben können. Es war ganz entzückend, das Getöse und den Lärm zu hören, womit er den Kutschenschlag auf- und zuwarf und dann, sobald Madame Nickleby innen saß, wieder hinten hinaufsprang. Da die gute Dame keine Ahnung davon hatte, daß derselbe den goldenen Knopf seines langen Stocks an seine Nase hielt und in dieser Weise gerade über ihrem Haupte weg höchst respektwidrig dem Kutscher telegraphisch Zeichen zugehen ließ, so saß sie auch nicht wenig stolz auf ihre dermalige Stellung mit vieler Steifheit und Würde da.

An dem Theatereingang wurde der Kutschenschlag noch entzückender auf- und zugeworfen. Auch waren schon die Herren Pyke und Pluck zugegen, die ihrer harrten, um sie nach der Loge zu führen. Sie waren dabei so ungemein höflich und zuvorkommend, daß Herr Pyke einem sehr alten Mann, der zufällig mit einer Laterne über ihren Weg stolperte, mit vielen Eiden zuschwor, er wolle ihn »kanonisieren« – zum großen Schrecken der Dame Nickleby, die mehr aus der Aufregung des Herrn Pyke als aus einer nähern Vertrautheit mit der Bedeutung des Wortes schloß, daß Kanonisieren und Blutvergießen in der Hauptsache wohl ein und dasselbe sein müsse, und daher ob des Gedankens, daß sich so etwas zutragen könnte, über die Maßen geängstigt war.

Glücklicherweise beschränkte sich jedoch Herrn Pykes Kanonisieren nur auf Worte, und sie gelangten zu ihrer Loge, ohne eine ernstere Unterbrechung zu erfahren, als daß derselbe kampflustige Herr den Logenhüter »zu Haarpuder zermalmen« wollte, weil er sich in der Nummer geirrt hatte.

Madame Nickleby hatte sich kaum in einem Armsessel hinter dem Logenvorhang niedergelassen, als Sir Mulberry und Lord Verisopht, von dem Scheitel bis zu den Enden ihrer Handschuhe und von den Enden ihrer Handschuhe bis zu den Spitzen ihrer Stiefel aufs eleganteste und kostbarste gekleidet, eintraten. Sir Mulberry war noch ein wenig heiserer als tags zuvor, und Lord Verisopht sah etwas schläfrig und verstört aus, wozu sich noch der weitere Umstand gesellte, daß beide etwas unsicher auf ihren Beinen waren – lauter Anzeichen, aus denen Madame Nickleby den richtigen Schluß zog, daß sie vom Dinieren herkämen.

»Wir haben – wir haben – Ihre liebenswürdige Tochter hochleben lassen, Madame Nickleby«, flüsterte ihr Sir Mulberry zu, der hinter ihr Platz nahm.

»Ah – so«, dachte die erfahrene Frau; »der Wein geht hinein, die Wahrheit heraus. – Sie sind sehr gütig, Sir Mulberry.«

»Nein, nein, meiner Seele!« entgegnete Sir Mulberry Hawk. »S i e sind gütig, meiner Seele! Es war sehr gütig von Ihnen, daß Sie diesen Abend kamen.«

»Sie wollen sagen, daß es sehr gütig von Ihnen war, mich einzuladen, Sir Mulberry«, entgegnete Madame Nickleby, indem sie mit einem zum Verwundern schlauen Blick den Kopf in die Höhe warf.

»Ich wünsche so sehr, Sie näher kennenzulernen, so sehr, Ihre gute Meinung zu gewinnen, und hoffe so sehnlich, es möchte sich eine Art süßen Familienverhältnisses zwischen uns bilden«, sagte Sir Mulberry, »daß Sie ja nicht glauben dürfen, meinen Handlungen liege nicht auch ein bestimmtes Interesse zugrunde. Ich bin verdammt selbstsüchtig – ja das bin ich, meiner Seele.«

»Gewiß, Sie können nicht selbstsüchtig sein, Sir Mulberry«, versetzte Madame Nickleby. »In Ihrem offenen, edlen Antlitz steht wenigstens nichts davon geschrieben.«

»Was Sie nicht für eine außerordentliche Beobachtungsgabe haben!«

»O nicht doch, mein Blick ist nicht besonders scharf, Sir Mulberry«, versetzte Madame Nickleby mit einem Ton in der Stimme, der dem Baronet andeuten sollte, daß sie in der Tat sehr scharfsichtig sei.

»Ich muß mich wahrhaftig vor Ihnen fürchten«, entgegnete der Baronet. »Wahrhaftig«, wiederholte Sir Mulberry, indem er sich nach seinem Gefährten umsah, »ich muß mich vor Madame Nickleby fürchten. Sie ist ein wahrer Schrecken von Verstand.«

Die Herren Pyke und Pluck schüttelten geheimnisvoll ihre Köpfe und bemerkten miteinander, daß sie das schon längst gefunden hätten, worauf Madame Nickleby kicherte, Sir Mulberry lachte und Pyke und Pluck brüllten.

»Aber wo ist denn mein Schwager, Sir Mulberry?« fragte Madame Nickleby. »Es schickt sich nicht, daß ich ohne ihn hier bin. Ich hoffe, er wird doch noch kommen?«

»Pyke«, sagte Sir Mulberry, indem er seinen Zahnstocher herausnahm und sich in seinem Stuhl zurücklehnte, als wäre er zu trüge, eine Antwort auf diese Frage zu ersinnen, »wo ist Ralph Nickleby?«

»Pluck«, sagte Pyke, die Miene des Baronets nachahmend und die Lüge auf seinen Freund überwälzend, »wo ist Ralph Nickleby?«

Herr Pluck war im Begriff, irgendeine ausweichende Antwort zu geben, als ein Geräusch, veranlaßt durch den Eintritt einiger Personen in die nächste Loge, die Aufmerksamkeit aller vier Herren, die sich vielsagende Blicke zuwarfen, in Anspruch zu nehmen schien. Sobald übrigens die neuen Ankömmlinge unter sich zu sprechen begannen, nahm Sir Mulberry plötzlich die Stellung eines aufmerksamen Horchers an und beschwor seine Freunde, nicht zu atmen – nein, nicht einmal zu atmen.

»Warum nicht?« fragte Madame Nickleby. »Was gibt’s denn?«

»Pst«, versetzte Sir Mulberry, indem er eine Hand auf ihren Arm legte. »Lord Friedrich, erkennen Sie den Ton dieser Stimme?«

»Der Teufel soll mich holen, wenn es mir nicht vorkommt, als wäre es die Stimme von Fräulein Nickleby.«

»O Himmel, Mylord!« rief Fräulein Nicklebys Mama, indem sie den Kopf um den Vorhang hinumsteckte. »Ei, in der Tat, Käthchen, mein liebes Käthchen!

»Sie hier, Mama? – Ist’s möglich?«

»Möglich – meine Liebe? Warum nicht?«

»Und wen – um Gottes willen – wen haben Sie bei sich, Mama?« sagte Käthchen zurückfahrend, als sie eines Mannes ansichtig wurde, der ihr lächelnd Kußhändchen zuwarf.

»Was meinst du wohl, meine Liebe?« versetzte Madame Nickleby, indem sie sich ein wenig gegen Madame Wititterly hinbeugte und etwas lauter sprach, damit sich auch diese Dame daran ergötzen könnte. »Es ist Herr Pyke, Herr Pluck, Sir Mulberry Hawk und Lord Friedrich Verisopht.«

»Barmherziger Gott!« dachte Käthchen, »wie kommt sie in solche Gesellschaft?«

Das rasche Aufblitzen dieses Gedankens, die plötzliche Überraschung und die Erinnerung alles dessen, was bei Ralphs ergötzlichem Diner vorgefallen war – alles dieses bewirkte, daß Käthchcn ungemein blaß wurde und sehr aufgeregt erschien, was Madame Nickleby im Augenblick wahrnahm und vermöge ihres ungemeinen Scharfsinns als die Wirkungen einer leidenschaftlichen Liebe deutete. Aber obgleich sie nicht wenig entzückt bei dieser Entdeckung war, die ihrer schnellen Auffassungsgabe so viel Ehre machte, so minderte sie doch ihre mütterliche Besorgnis um Käthchen nicht. Deshalb verließ sie denn auch mit allen zärtlichen Bekümmernissen einer Mutter ihre eigene Loge, um in die der Madame Wititterly zu eilen. Madame Wititterly, gespornt durch die Aussicht auf den Ruhm, einen Lord und einen Baronet unter ihre Hausfreunde zu zählen, verlor keine Zeit, Herrn Wititterly zuzuwinken, er möchte die Tür öffnen, und in weniger als dreißig Sekunden hatte Madame Nicklebys Gesellschaft einen Einfall in Madame Wititterlys Loge gemacht, die dadurch bis zur Tür angefüllt und in der Tat so vollgepfropft wurde, daß für die Herren Pyke und Pluck der Raum nur so weit reichte, ihre Köpfe und Westen hereinzustecken.

»Mein liebes Käthchen«, sagte Madame Nickleby, indem sie ihre Tochter zärtlich küßte, »wie blaß hast du vor einem Augenblick ausgesehen! Ich versichere dir, daß du mich vorhin ganz erschrecktest.«

»Es kam Ihnen nur so vor, Mama, – der – der – Widerschein der Lichter vielleicht«, versetzte Käthchen, indem sie sich ängstlich umsah und die Unmöglichkeit erkannte, ihrer Mutter irgendeine Erklärung oder Warnung zuzuflüstern.

»Siehst du Sir Mulberry Hawk nicht, meine Liebe?«

Käthchen bückte sich leicht, biß sich in die Lippe und wandte den Kopf gegen die Bühne.

Aber Sir Mulberry Hawk ließ sich nicht so leicht zurückweisen: denn er trat mit ausgestreckter Hand näher, und da Madame Nickleby dienstfertig Käthchen diesen Umstand mitteilte, so sah sich diese gleichfalls genötigt, die ihrige auszustrecken. Sir Mulberry hielt sie fest, murmelte eine Flut von Schmeicheleien, die Käthchen – nach dem, was zwischen ihnen vorgefallen war – mit Recht als eben so viele Erschwerungen der Beleidigung betrachtete, die er ihr bereits zugefügt hatte. Dann folgte eine Erkennungsszene mit Lord Verisopht, dann eine Begrüßung von Herrn Pyke, dann ein Kompliment von Herrn Pluck, und endlich, um den Verdruß vollkommen zu machen, sah sich Käthchen durch Madame Wititterlys Geheiß genötigt, die Personen, die sie nur mit dem höchsten Unwillen und Abscheu betrachten konnte, förmlich vorzustellen.

»Madame Wititterly ist ganz entzückt«, sagte Herr Wititterly, die Hände reibend: – »ich versichere Ihnen, Mylord – ganz entzückt ob dieser Gelegenheit, eine Bekanntschaft anzuknüpfen, die, wie ich hoffe, Mylord, eine dauerndere sein wird. Liebe Julia, ich bitte dich, laß dich nicht zu sehr aufregen – in der Tat, du darfst es nicht. Madame Wititterly ist von äußerst sensiblem Wesen, Sir Mulberry – die Schnuppe einer Kerze – der Docht einer Lampe – der Duft auf einer Pfirsich – der Flügelstaub eines Schmetterlings – Sie könnten sie wegblasen, Mylord: Sie könnten sie wegblasen.«

Sir Mulberry schien zu denken, daß es gar bequem sein dürfte, wenn die Dame weggeblasen, nur weggeblasen werden möchte. Er sagte jedoch nur, daß das Entzücken wechselseitig wäre, und Lord Verisopht versicherte das gleiche, wie denn auch die Herren Pyke und Pluck, die man aus der Entfernung murmeln hörte, gleichfalls an dieser Wechselseitigkeit des Entzückens im höchsten Grad teilnehmen wollten.

»Ich nehme ein Interesse, Mylord –« sagte Madame Wititterly mit schmachtendem Lächeln – »ach, ein zu großes Interesse an dem Schauspiel.«

»I-a, es ist sehr interessant«, versetzte Lord Verisopht.

»Ich fühle mich immer nach Shakespeare unwohl«, entgegnete Madame Wititterly. »Ich bin am nächsten Tage kaum mehr vorhanden; ich befinde mich nach einem Trauerspiel in einer zu großartigen Reaktion, Mylord, und Shakespeare ist ein zu köstliches Geschöpf.«

»I-a«, erwiderte Lord Verisopht. »Er war ein gescheiter Mann.«

»Ich kann Ihnen sagen, Mylord«, fuhr Madame Wititterly nach einer langen Pause fort, »daß ich, nachdem ich in dem zu allerliebsten armseligen Häuschen war, worin er geboren wurde, ein noch viel größeres Interesse an seinem Stücke finde. Sind Sie einmal dort gewesen, Mylord?«

»Nein, nie«, versetzte Verisopht.

»Dann müssen Sie in der Tat hingehen, Mylord«, entgegnete Madame Wititterly mit einer ungemein schmachtenden und gedehnten Betonung. »Ich weiß nicht, wie es zugeht, aber wenn man den Ort gesehen und seinen Namen in das kleine Buch eingeschrieben hat, so scheint man irgendwie ganz begeistert: es entzündet ein eigentliches Feuer in dem Innern.«

»I-a«, erwiderte Lord Verisopht, »ich muß wahrhaftig hingehen.«

»Julia, mein Leben«, fiel Herr Wititterly ein, »du täuschest Seine Herrlichkeit – Mylord, sie täuscht Sie, ohne es zu wollen. Dein poetisches Temperament, meine Liebe – deine ätherische Seele – deine glühende Einbildungskraft stürzt dich in eine Glut von Aufregung und Begeisterung. Der Platz will nichts heißen, meine Liebe – nichts – gar nichts.«

»Ich sollte doch meinen, daß es etwas damit wäre«, sagte Madame Nickleby, die bisher schweigend zugehört hatte; »denn bald nach meiner Hochzeit fuhr ich mit meinem armen seligen Manne von Birmingham aus in einer Postkutsche – war es auch eine Postkutsche?« unterbrach sich Madame Nickleby überlegend. – »Ja, es muß eine Postkutsche gewesen sein; denn ich erinnere mich noch recht gut, wie es mir auffiel, daß der Postillion einen grünen Schirm über dem linken Auge hatte. – Ich fuhr also in einer Postkutsche von Birmingham nach Stratford, und nachdem wir Shakespeares Grab und das Haus, wo er geboren wurde, gesehen hatten, gingen wir in das Wirtshaus zurück, wo wir über Nacht blieben, und ich erinnere mich, daß mir die ganze Nacht über von nichts als einem schwarzen, gipsernen Herrn in Lebensgröße träumte, dessen umgeschlagener Kragen mit zwei Troddeln zusammengeknüpft war. Er lehnte nachdenkend an einem Pfahl, und als ich am andern Morgen aufwachte und die Gestalt meinem seligen Manne beschrieb, so sagte er, das wäre Shakespeare gewesen, wie er geleibt und gelebt hätte. Das war doch gewiß höchst sonderbar. Stratford – Stratford«, fuhr Madame Nickleby sich besinnend fort. »Ja, ich bin dessen ganz gewiß, denn ich erinnere mich, ich war damals mit meinem Sohn Nicolaus guter Hoffnung, und an demselben Morgen hatte mir ein junger italienischer Gipsfigurenhändler einen großen Schrecken eingejagt. Es war in der Tat Gnade vom Himmel, Madame«, flüsterte Madame Nickleby Madame Wititterly zu, »daß mein Sohn nicht als ein Shakespeare auf die Welt kam, was ja ganz etwas Schreckliches gewesen wäre.«

Als Madame Nickleby diese ansprechende Anekdote zu Ende erzählt hatte, machten Pyke und Pluck – stets eifrig in den Angelegenheiten ihres Gönners – den Vorschlag, einen Teil der Gesellschaft in die nächste Loge zu verlegen. Die Einleitungen wurden mit solcher Gewandtheit getroffen, daß Käthchen trotz alles ihres Einspruches keine andere Wahl blieb, als sich von Sir Mulberry Hawk hinüberführen zu lassen. Ihre Mutter und Herr Pluck begleiteten sie. Aber die würdige Dame nahm sich mit einer Diskretion, auf die sie sich wunder was zugute tat, soviel wie möglich in acht, den ganzen Abend nicht auf ihre Tochter zu sehen, und tat, als wäre sie durch Herrn Plucks humoristische Unterhaltung ganz hingerissen. Dieser Ehrenmann aber hatte die Aufgabe, Madame Nickleby zu hüten, weshalb er auch keine Gelegenheit versäumte, ihre Aufmerksamkeit zu fesseln.

Lord Friedrich Verisopht blieb in der nächsten Loge, um sich mit Madame Wititterly zu unterhalten, und Herr Pyke war zur Hand, um, wo nötig, ein oder zwei Worte einzuflicken. Was Herrn Wititterly anbelangt, so war dieser im ganzen Hause herum ungemein geschäftig, indem er allen Freunden und Bekannten, die er aufzufinden vermochte, mitteilte, die zwei Herren, die sie in der Loge mit Madame Wititterly hätten sprechen sehen, wären der ausgezeichnete Lord Friedrich Verisopht und dessen vertrautester Freund, der heitere Sir Mulberry Hawk, – eine Eröffnung, die mehrere achtbare Personen, die auf gesellschaftlichen Verkehr hielten, mit der größten Wut und Eifersucht erfüllte und sechzehn unverheiratete Töchter ganz an den Rand der Verzweiflung brachte. Das Stück war endlich vorüber. Aber Käthchen mußte sich noch durch den von ihr verabscheuten Sir Mulberry die Stiege hinunterführen lassen, wobei die Herren Pyke und Puck so geschickt manövrierten, daß sie und der Baronet die letzten des Zuges waren und sogar – ohne daß es den Anschein eines überdachten Planes hatte – ein wenig hinter der übrigen Gesellschaft zurückblieben.

»Nur etwas langsam – etwas langsam«, sagte Sir Mulberry, als Käthchen vorwärtsdrängte und ihren Arm loszumachen suchte.

Sie erwiderte nichts, sondern vermehrte ihre Bemühungen.

»Wohlan denn« – bemerkte Sir Mulberry kaltblütig, indem er sie ohne weitere Umstände zum Stehen zwang.

»Sie werden guttun, wenn Sie mich nicht zurückzuhalten suchen, Sir«, sagte Käthchen unwillig.

»Und warum – wenn ich fragen darf?« entgegnete Sir Mulberry. »Mein holdes Wesen, warum stellen Sie sich denn immer noch so ungnädig?«

» Stellen?« wiederholte Käthchen mit Entrüstung. »Wie kommen Sie überhaupt zu der Frechheit, mit mir zu sprechen, Sir, – mich anzureden – mir unter die Augen zu treten?«

»Ihre Aufwallung macht Sie nur noch hübscher, Fräulein Nickleby«, versetzte Sir Mulberry Hawk, sich niederbeugend, um ihr besser ins Gesicht sehen zu können.

»Ich kenne Ihnen gegenüber kein anderes Gefühl als das der tiefsten Verachtung und des höchsten Abscheus, Sir«, sagte Käthchen. »Wenn Sie an Blicken, die solche Empfindungen ausdrücken, Gefallen finden, so – doch zurück! Lassen Sie mich augenblicklich zu meiner Gesellschaft. Wenn mich noch Rücksichten zurückgehalten haben, ich werde alle schwinden lassen und einen Weg einschlagen, der selbst Ihnen empfindlich fallen dürfte, wenn Sie mich nicht auf der Stelle loslassen.«

Sir Mulberry lächelte und ging – noch immer in ihr Gesicht blickend und ihren Arm festhaltend – nach der Tür.

»Wenn nicht die Achtung für mein Geschlecht oder meine hilflose Lage Sie veranlassen kann, von dieser rohen und unmännlichen Verfolgung abzulassen«, fuhr Käthchen fort, indem sie in dem Sturm ihrer Gefühle kaum wußte, was sie sagte; »so habe ich einen Bruder, der es eines Tages schwer zu rächen wissen wird.«

»Wahrhaftig«, rief Sir Mulberry, gleichsam als spräche er nur mit sich selber, indem er zugleich seinen Arm um ihren Leib legte, »ihr Äußeres gewinnt immer mehr, und sie gefällt mir in diesem Zorne viel besser, als wenn sie die Augen niederschlägt und vollkommen ruhig ist!«

Käthchen gelangte zu der in der Vorhalle ihrer harrenden Gesellschaft, ohne selbst zu wissen wie, stürzte rücksichtslos an dieser vorbei, stieß ihren Begleiter zurück und sprang in die Kutsche, wo sie sich in den hintersten Winkel warf und in Tränen ausbrach.

Die Herren Pyke und Pluck, die ihr Schlagwort wußten, brachten auf einmal die Gesellschaft in eine große Verwirrung, indem sie nach dem Wagen riefen und mit einigen Umherstehenden einen heftigen Streit anfingen. Mitten in diesem Tumult brachten sie die erschrockene Madame Nickleby in ihren Wagen, und nachdem man sich dieser glücklich entledigt hatte, faßten sie Madame Wititterly ins Auge, deren Aufmerksamkeit sie in sehr wirksamer Weise dadurch von Käthchen ablenkten, daß sie die Dame in einen Zustand der höchsten Bestürzung und Verwirrung versetzten. Endlich rollte der Wagen, in dem sie angekommen war, mit seiner Last weiter, und die vier Braven, die allein in der Säulenhalle zurückblieben, brachen nun in ein schallendes Gelächter aus.

»So!« sagte Sir Mulberry zu seinem edlen Freund. »Sagte ich Ihnen nicht gestern abend, daß wir diese Leute übertölpeln würden, wenn wir durch Bestechung eines Dieners ihre Loge ausfindig machten und mit der Mutter gerade nebenan Platz nähmen? Da haben wir’s jetzt – alles in vierundzwanzig Stunden fertiggebracht!«

»J-a«, versetzte der adelige Pinsel, »aber ich habe den ga-anzen Abend bei dem alten Weibe aushalten müssen.«

»Hört doch«, sagte Sir Mulberry zu seinen zwei Freunden – »hört nur diesen unzufriedenen Brummer. Sollte man’s da nicht satt bekommen, ihm je wieder bei seinen Entwürfen und Ränken Beistand zu leisten? Muß das einen nicht verdammt verdrießen?«

Pyke fragte Pluck, ob einen so etwas nicht verdammt verdrießen müsse, und Pluck fragte Pyke das gleiche, ohne daß einer von beiden die Frage beantwortete.

»Habe ich nicht recht?« fragte Verisopht. »War es nicht so?«

»War es nicht so?« wiederholte Sir Mulberry. »Wie haben Sie’s denn haben wollen? Wie hätten wir bei der ersten Begegnung eine allgemeine Einladung erhalten können, zu kommen, wenn’s beliebt, zu gehen, wenn’s beliebt, zu bleiben, solange es beliebt, zu tun, was beliebt – wenn nicht Sie, der Lord, – sich der einfältigen Frau vom Hause angenehm machten? Kümmere ich mich um das Mädchen aus einem anderen Grund, als um Ihretwillen? Habe ich nicht den ganzen Abend Ihr Loblied in ihr Ohr gesungen und um Ihretwillen ihre empfindlichen und schnippischen Reden hingenommen? Meinen Sie denn, ich sei aus einem besonderen Stoffe gemacht? Würde ich das für jedermann tun? – Und habe ich nicht einen Anspruch auf Ihre Dankbarkeit?«

»Sie sind ein teufelmäßig guter Kerl«, sagte der arme Lord, den Arm seines Freundes ergreifend. »Bei meinem Leben, Sie sind ein teufelmäßig guter Kerl, Hawk.«

»Und habe ich’s nicht recht gemacht – wie?« fragte Sir Mulberry.

»Ga-anz recht.«

»Und wie ein gutmütiger Tropf gehandelt, der alles den Rücksichten für den Freund opfert – wie?«

»J-a – wie ein Freund«, entgegnete der andere.

»Nun denn, dann bin ich zufrieden«, erwiderte Sir Mulberry. »Aber jetzt lassen Sie uns gehen und an dem deutschen Baron und dem Franzosen Revanche nehmen, die Ihnen gestern abend die Taschen so rein ausfegten.«

Mit diesen Worten nahm der aufopferungsvolle Freund den Lord beim Arm und führte ihn fort, indem er sich dabei halb umdrehte und mit einem verächtlichen Lächeln den Herren Pyke und Pluck zublinzelte, die, um ihre geheime Freude über den ganzen Verlauf der Sache anzudeuten, ihre Taschentücher in den Mund preßten und ihrem Gönner nebst dessen Opfer in einiger Entfernung nachfolgten.