Unser Kirchspiel
Der Kirchspieldiener – Die Feuerspritze – Der Schulmeister
Wieviel sagen die kurzen Worte: »Das Kirchspiel!« und an wieviel Kummer und Elend, entschwundenes Glück und vereitelte Hoffnungen, nur zu oft ungemilderte Leiden, nur zu oft erfolgreiche Büberei erinnern sie! Ein armer Mann bringt es, bei geringem Verdienst und einer großen Familie, gerade so weit, aus der Hand in den Mund und aus einem Tage in den andern zu leben; nur mit Mühe gelingt es ihm, den Bedürfnissen des Augenblicks zuvorzukommen – an die Zukunft kann er nicht denken.
Er bleibt mit seinen Steuern ein, zwei, drei Vierteljahre im Rückstand; er wird vor das Kirchspiel geladen. Seine Habseligkeiten werden verkauft, seine Kinder weinen vor Hunger und Kälte, selbst das Bett wird ihm genommen, in dem sein krankes Weib liegt. Was kann er anfangen? Wohin soll er sich um Hilfe wenden? An die Wohltätigkeit der Privaten? An menschenfreundliche Individuen? Beileibe nicht – wofür wäre sein Kirchspiel?
Da sind der Kirchspielvorstand, das Kirchspielkrankenhaus, der Kirchspielarzt, die Kirchspielbeamten, der Kirchspielbote. Treffliche Einrichtungen und edle, gutherzige Leute! Die Frau stirbt – sie wird auf Kosten des Kirchspiels begraben. Die Kinder sind ohne Versorger – das Kirchspiel übernimmt die Fürsorge für sie. Der Vater vernachlässigt zuerst sein Geschäft und kann späterhin keine Arbeit mehr bekommen – das Kirchspiel unterstützt ihn; und ist er endlich durch Elend und Trunkenheit gänzlich zugrunde gegangen, so nimmt ihn das Kirchspielirrenhaus als einen harmlosen, unglücklichen Blödsinnigen auf.
Der Kirchspieldiener oder Bote ist eins der wichtigsten, vielleicht überhaupt das allerwichtigste Mitglied der Gemeindeverwaltung. Er steht sich freilich weder so gut wie der Kirchenvorsteher noch ist er so gelehrt wie der Kirchspielschreiber; besitzt auch nicht so viel Macht und eigenen Willen als jene beiden: allein, seine Gewalt ist demungeachtet sehr bedeutend, und der Würde seines Amtes geschieht niemals Abbruch durch Mangel an Bemühungen von seiner Seite, sie aufrechtzuerhalten. Der Bote unseres Kirchspiels ist ein unvergleichlicher Mensch. Es ist ein wahrer Genuß, ihn reden zu hören, wenn er an Sitzungsabenden im Vorsaal des Sitzungshauses den tauben alten Frauen die gegenwärtig bestehenden Armengesetze erklärt; von ihm zu hören, was er zu dem Kirchenältesten, und was der Kirchenälteste zu ihm sagte, und was »wir« (der Kirchspielbote und die anderen Herren) zuletzt beschlossen. Ein zerlumptes, verhungertes Weib wird in das Sitzungszimmer gerufen und stellt ihre gänzliche Armut und große Hilfsbedürftigkeit vor. Sie ist eine Witwe mit sechs kleinen Kindern.
»Wo wohnt Ihr?« fragt einer der Armenpfleger.
»Ich habe mich in einem Hinterstübchen in der kleinen König-Wilhelms-Gasse Nr. 3 bei Mrs. Brown eingemietet, die dort seit fünfzehn Jahren wohnt und mich sehr genau kennt als eine stets fleißige Frau. Und als mein seliger Mann noch lebte, meine Herren, der im Hospital starb –«
»Schon gut, schon gut«, unterbricht sie der Armenpfleger, der sich ihre Hausnummer aufgeschrieben hat, »ich werde morgen früh Simmons, den Kirchspieldiener, schicken. Er soll nachsehen, ob Eure Angaben begründet sind, und wenn es der Fall ist, so werden wir Euch wohl in das Armenhaus aufnehmen müssen. Simmons, gehen Sie morgen so früh wie möglich zu dieser Frau.«
Simmons verbeugt sich und führt die Frau hinaus. Ihre Ehrfurcht vor dem Armen-Kollegium (dessen Mitglieder mit den Hüten auf dem Kopf hinter großen Büchern dasitzen) verschwindet gänzlich in ihrer Unterwürfigkeit vor ihrem Führer im Amtsrock; und ihre Erzählung von dem, was sich im Sitzungszimmer zugetragen hat, erhöht womöglich noch den tiefen Respekt, den die versammelte Menge der Armen dem gestrengen Herrn Kirchspielboten erweist.
Wer richtet einen Auftrag im Namen des Kirchspiels wie Simmons aus? Er weiß sämtliche Titel des Bürgermeisters aus dem Kopf und trägt die Sache vor, ohne auch nur ein einziges Mal anzustoßen; ja, es geht ein Gerücht, daß er dabei einst einen Scherz gemacht habe, der fast einem der Späße Mr. Hoblers gleichgekommen sei, wie der erste Bediente des Bürgermeisters, der zufällig gegenwärtig gewesen, nachher einem Freund im Vertrauen gesagt hat.
Oder man sehe ihn sonntags in seinem Staatskleid mit seinem dreieckigen Hut auf dem Kopf, einem Stab mit mächtigem Knauf zur Schau in der Linken und einem dünnen Rohr zum Gebrauch in der Rechten. Mit welcher Würde weist er die Kinder an ihre Plätze, und mit welch heiliger Scheu schielen ihn die kleinen Buben von der Seite an, wenn er die Schar, sobald alle sitzen, mit einem den Kirchspieldienern eigentümlichen Starr- und Autoritätsblick überschaut. Befinden sich die Kirchenvorsteher und Armenpfleger in ihren mit Gardinen versehenen Kirchstühlen, so nimmt er auf einem ganz oben im Kirchgang ausdrücklich für ihn bestimmten Mahagonisitz Platz und teilt seine Aufmerksamkeit zwischen dem Gebetbuch und den Knaben. Plötzlich – und gerade beim Anfang der Abendmahlsliturgie, wenn die ganze Gemeinde das tiefste Stillschweigen bewahrt, das nur durch die Stimme des Geistlichen unterbrochen wird –, plötzlich hört man mit erstaunlicher Vernehmlichkeit, da, wo die Kinder sitzen, einen Penny auf das steinerne Pflaster im Kirchgang fallen. Beachtet jetzt wohl Simmons‘ Schlauheit und Geistesgegenwart!
Seine unwillkürliche Miene des Schauders weicht augenblicklich dem Ausdruck vollkommenster Gleichgültigkeit, als ob er ganz allein das Geräusch nicht gehört hätte. Die Kriegslist gelingt. Der Ärmste, der das Geldstück hat fallen lassen, fühlt mit dem rechten und linken Fuß und bückt sich ein paarmal danach; der Kirchspieldiener hat sich inzwischen leise in seine Nähe geschlichen und begrüßt seinen Kopf, wenn er wieder emportaucht, mehrmals sehr unsanft mit seinem oben erwähnten Rohr, zum großen Vergnügen einiger junger Leute im nächsten Kirchstuhl, die noch lange ihre Heiterkeit durch Husten zu unterdrücken suchen.
Dies sind einige Züge der Würde und Wichtigkeit eines Kirchspieldieners – einer Würde, die wir ihn nie aufgeben sahen, den einzigen Fall ausgenommen, wenn eine Feuerspritze nötig wurde, dann ist freilich alles rührig, geschäftig, beflissen. Ein paar kleine Knaben laufen, so schnell sie’s vermögen, zum Kirchspieldiener und melden ihm, daß sie einen Rauchfang hätten brennen sehen. In größter Eile wird die Feuerspritze herausgebracht; zwanzig Buben sind versammelt; sie spannen sich vor; fort rasselt die Spritze über das Pflaster, und der Kirchspieldiener rennt atemlos nebenher, bis man vor einem stark nach Ruß riechenden Hause anlangt.
Der Kirchspieldiener klopft eine halbe Stunde mit Macht, allein die Hausbewohner nehmen keine Notiz davon, die Spritze wird nach dem Werkhaus zurückgebracht, und der Kirchspieldiener fordert am andern Tag von dem Unglücklichen, dem er zu Hilfe geeilt war, die ihm gesetzlich zukommende Belohnung. Wir haben nur ein einziges Mal eine Kirchspielfeuerspritze bei einer wirklichen Feuersbrunst gesehen. Sie rasselte mit der Schnelligkeit von drei und einer halben Meile in der Stunde heran. Wasser in genügender Menge war schon früher angekommen. Die Pumpen wurden in Bewegung gesetzt – das Volk schrie – der Kirchspieldiener schwitzte entsetzlich; allein, als man das Feuer zu löschen gedachte, wurde zum großen Unglück die Entdeckung gemacht, daß sich niemand auf das Füllen verstand und daß achtzehn Knaben und ein Mann zwanzig Minuten gepumpt und sich fast tot gepumpt hatten, ohne auch nur die mindeste Wirkung zu erzielen.
Die wichtigsten Personen nach dem Kirchspieldiener sind der Werkhausmeister und der Kirchspiellehrer. Der Küster, wie jedermann weiß, ist ein kleines, gedrücktes Männchen in Schwarz, mit einer dicken, sehr langen Uhrkette, an der zwei große Petschafte und ein Uhrschlüssel baumeln. Er ist stets geschäftig, doch niemals mehr, als wenn er, mit den zusammengeknüllten Handschuhen in der einen Hand und einem großen roten Buch unter dem anderen Arm, in eine Kirchspielversammlung eilt. Von den Kirchenvorstehern und Aufsehern reden wir nicht weiter; denn wir alle wissen von ihnen, daß sie achtbare Gewerbsleute sind, Hüte mit flachen Rändern tragen, und bisweilen, den wichtigen Umstand, daß sie eine Emporkirche vergrößert oder ausgeschmückt oder eine Orgel neu gebaut haben, durch goldene Buchstaben auf blauem Grund an solchen Stellen in der Kirche verewigen, wo die Inschriften am meisten in das Auge fallen.
Der Werkhausmeister in unserm Kirchspiel – wie in den meisten andern – gehört nicht zu der Klasse von Menschen, die bessere Tage gesehen haben und sich in ihrer späteren niedrigeren Stellung gedemütigt und unzufrieden fühlen. Wir wissen nicht, was er früher gewesen ist, sollten aber meinen, ein Advokatenschreiber geringerer Sorte oder ein Unterlehrer. Doch gleichviel, es ist klar, daß sich seine Lage verbessert hat. Freilich ist sein Einkommen gering, wie sein schwarz gewesener Rock mit abgetragenem Samtkragen bezeugt; allein, er hat doch freie Wohnung, Heizung und Licht und eine fast unbeschränkte Autorität in seinem winzigen Königreich.
Er ist ein großer, hagerer, knochiger Mann, trägt immer einen Überrock, Schuhe und schwarze wollene Strümpfe und blickt die vor seinem Fenster Vorübergehenden an, als ob er wünschte, daß sie Kirchspielarme sein möchten, nur um sie ein Pröbchen seiner Gewalt fühlen zu lassen. Er ist das wahre Muster eines kleinen Tyrannen; mürrisch, brutal und übellaunig, bramarbasierend gegen die unter ihm Stehenden, kriechend gegen seine Vorgesetzten und eifersüchtig auf den Einfluß und die Autorität des Kirchspieldieners.
Unser Schulmeister ist der wahre Gegensatz dieses liebenswürdigen Beamten. Er gehört zu den Menschen, die vom Mißgeschick wahrhaft verfolgt zu werden scheinen; nie ist ihm etwas geglückt. Ein reicher alter Anverwandter von ihm, der ihn erzog, versprach und vermachte ihm in seinem Testament 10 000 Pfund und widerrief die Verfügung in einem Zusatz. Auf seine persönlichen Hilfsmittel beschränkt, verschaffte er sich eine Stelle in einem Büro. Die jüngeren Schreiber, die er hinter sich hatte, starben wie die Fliegen, als wenn die Pest unter ihnen gewütet hätte, die älteren vor ihm, auf deren Tod er so sehnsüchtig hoffte, lebten fort, als wenn sie unsterblich wären. Er ließ sich in eine Spekulation ein und kam um sein Geld. Er spekulierte zum zweitenmal, machte einen bedeutenden Gewinn und – gelangte nie zu seinem Geld.
Er besaß bedeutende Anlagen, war gefällig, großmütig und freigebig. Seine Freunde benutzten die ersteren und trieben Mißbrauch mit seiner Dienstfertigkeit und Freigebigkeit. Ein Verlust folgte dem andern, ein Unglück dem andern, jeder Tag brachte ihn dem Abgrund hoffnungsloser Verarmung näher, und gerade seine wärmsten Freunde wurden am kältesten und gleichgültigsten. Er hatte Kinder, die er liebte, und eine Gattin, die er anbetete. Jene wendeten ihm den Rücken, diese starb gebrochenen Herzens. Er ließ sich von dem Strom fortstrudeln – dies war von jeher seine Schwäche gewesen, und er besaß nie Kraft und Mut genug, sich bei so vielen Schicksalsschlägen aufrecht zu halten –, er hatte nie für sich selber gesorgt, und die einzige, die in seinem Elend für ihn gesorgt hatte, war ihm entrissen.
Er kam um die Unterstützung des Kirchspiels ein. Zufällig war ein gutherziger Mann, der ihn in besseren Zeiten gekannt hatte, in dem Jahr Kirchenvorsteher und verschaffte ihm durch seinen Einfluß die Lehrerstelle, die er gegenwärtig innehat. Er ist ein alter Mann geworden. Von seinen vielen Maulfreunden aus besseren Tagen sind einige gestorben, einige, wie er selbst, vom Unglück, andere vom Glück heimgesucht – vergessen haben ihn alle. Zeit und Leid haben sein Gedächtnis wohltätig geschwächt, und Gewohnheit hat ihm seine Lage erträglich gemacht. Weil er so sanftmütig ist, niemals klagt und stets so eifrig seines Amtes waltet, hat man ihm das letztere lange über die gewöhnliche Zeit hinaus gelassen, und er wird es ohne Zweifel behalten, bis das Alter ihn vollkommen unfähig macht, es weiterhin zu versehen, oder der Tod ihn davon erlöst. Wenn der grauhaarige alte Mann zwischen den Schulstunden an der Sonnenseite seines kleinen Hofraums mit wankenden Schritten auf und nieder geht, dann würde es seinen vormaligen Freunden, selbst den vertrautesten, schwer werden, in dem armen Kirchspielschulmeister den einst so munteren Gefährten bei ihren Lustbarkeiten wiederzuerkennen.