Achtes Kapitel.

Von dem inneren Haushalt in Dotheboys Hall.

Eine Fahrt von zweihundert und etlichen Meilen bei schlechtem Wetter kann auch das härteste Bett weich machen. Vielleicht ist sie auch imstande, die Träume zu versüßen; denn Träume, die Nicolaus‘ rauhes Lager umgaukelten und ihr luftiges Nichts in sein Ohr flüsterten, waren von der angenehmsten und glücklichsten Art. Er war eben im Begriff, das Glück auf Windesflügeln einzuholen, als der schwache Schimmer eines ersterbenden Lichtes auf seine Augen fiel und eine Stimme, die er ohne Schwierigkeit für die des Herrn Squeers erkennen konnte, ihn erinnerte, daß es Zeit sei aufzustehen.

»Sieben Uhr vorbei«, sagte Herr Squeers.

»Ist es schon Morgen?« fragte Nicolaus, im Bette aufsitzend.

Ah, freilich ist es«, antwortete Squeers, »und dazu ein recht eisiger. Nun, Nickleby, beeilen Sie sich.«

Nicolaus bedurfte keiner weitern Ermahnung, sondern beeilte sich und kleidete sich bei dem Kerzenlicht, das Herr Squeers in der Hand hatte, an.

»Das ist ein schöner Auftritt«, sagte der Schulmann; »der Brunnen ist eingefroren.«

»So«, entgegnete Nicolaus, den diese Nachricht nicht besonders interessierte.

»Ja«, erwiderte Squeers. »Sie können sich diesen Morgen nicht waschen.«

»Mich nicht waschen?« rief Nicolaus.

»Nein, es ist nicht daran zu denken«, erwiderte Squeers spitzig. »Sie müssen sich begnügen, sich eine trockene Politur zu geben, bis wir das Eis im Brunnen einstoßen und einen Eimer voll für die Jungen herausholen können. Was starren Sie mich so an? Geschwind! Geschwind!«

Nicolaus erwiderte nichts, sondern schlüpfte hastig in seine Kleider, während Squeers die Läden öffnete und das Licht ausblies. Bald darauf ließ sich die Stimme der liebenswürdigen Frau Schulmeisterin vernehmen, die Einlaß begehrte.

»Komm herein, mein Schatz«, sagte Squeers.

Frau Squeers kam herein, noch in denselben Bettkittel gekleidet, in dem sie sich schon in der vorigen Nacht so vorteilhaft ausgenommen hatte, nur daß sie als weitere Zierde einen altertümlichen Biberhut mit vieler Anmut und Leichtigkeit über der früher erwähnten Nachthaube trug.

»Hol’s» der Henker«, begann die Dame, den Wandschrank öffnend; »ich kann den Schullöffel nirgends finden.«

»Laß dich das nicht anfechten, meine Liebe«, bemerkte Squeers begütigend: »wir haben ihn ja vorderhand nicht nötig.«

»Nicht nötig? Wie kannst du nur so reden«, versetzte Frau Squeers beißend. »Ist heute nicht der Schwefelmorgen?«

«Ja, ja, du hast recht, ich habe das ganz vergessen«, entgegnete Herr Squeers. »Wir reinigen den Knaben hin und wieder das Blut, Nickleby.«

»Pah! Albernheiten!« sagte die Dame. »Glauben Sie ja nicht, junger Mann, daß wir uns für Schwefelblumen und Sirup in Unkosten versetzen, bloß um ihr Blut zu reinigen. Wenn Sie glaubten, wir trieben das Geschäft in dieser Weise, so wären Sie sehr im Irrtum. Ich will daher gleich offen Farbe bekennen.«

»Mein Schatz«, wandte Squeers mit einem Stirnrunzeln ein. »Hm!«

»Pah, Dummheiten!« erwiderte Frau Squeers. »Wenn der Herr hier Lehrer sein will, so muß er von vornherein wissen, daß es da keiner Alfanzereien bei den Knaben bedarf. Sie erhalten den Schwefel und Sirup – einmal, weil sie, wenn man anders mit ihnen dokterte, immer etwas zu klagen hätten, so daß man gar nicht fertig mit ihnen würde, und dann, weil es ihnen den Appetit verdirbt und auch wohlfeiler zu stehen kommt, als ein Frühstück und ein Mittagessen. So tut es zu gleicher Zeit ihnen und uns gut, und was will man weiter?«

Nach dieser Erklärung steckte Frau Squeers den Kopf in den Schrank und stellte genauere Nachforschung nach dem Löffel an, wobei ihr Herr Squeers half. Während des Suchens flüsterten sie miteinander; aber der Schrank dämpfte den Ton der Stimme, so daß Nicolaus nichts weiter unterscheiden konnte, als daß Herr Squeers meinte, seine Frau hätte etwas Unverständiges gesagt, eine Ansicht, die indessen Frau Squeers für dummes Geschwätz erklärte.

Als sich alles Suchen und Herumstöbern als fruchtlos erwies, wurde Smike herbeigerufen, der nun von Frau Squeers so lange mit Püffen und von Herrn Squeers mit Ohrfeigen bearbeitet wurde, bis sich im Laufe dieser Doppelbehandlung sein Geist so weit aufhellte, daß er die Vermutung auszusprechen imstande war, Madame Squeers habe ihn vielleicht in der Tasche, was sich denn auch als richtig herausstellte. Da jedoch Frau Squeers vorher beteuert hatte, sie wisse ganz bestimmt, daß er nicht dort wäre, so erhielt Smike eine weitere Ohrfeige, weil er sich unterfangen hatte, seiner Gebieterin zu widersprechen, und zugleich die Verheißung einer gesunden Tracht Schläge, wenn er sich in Zukunft nicht respektvoller benehme; so daß ihm also sein Scharfsinn keinen besonderen Gewinn brachte.

»Ein unbezahlbares Weib, Nickleby«, sagte Squeers, als seine Gattin hinauseilte und den armen Haussklaven vor sich hin stieß.

»Es scheint so«, bemerkte Nicolaus.

»Ich kenne nicht ihresgleichen«, fuhr Squeers fort. »Sie ist immer dieselbe, Nickleby – immer das gleiche, geschäftige, rührige, tätige, sparsame Geschöpf, wie Sie es zur Stunde sehen.«

Nicolaus seufzte unwillkürlich bei dem Gedanken an die liebenswürdigen Aussichten, die sich ihm in diesem Hause auftaten; aber Squeers war zufällig zu sehr von seinen eigenen Gedanken erfüllt, um es zu bemerken.

»Wenn ich in London oben bin«, fuhr Squeers fort, »so brauche ich gewöhnlich die Redensart, daß sie den Knaben eine Mutter sei. Aber sie ist ihnen zehnmal mehr als eine Mutter. Sie tut Dinge für die Jungen, Nickleby, daß ich wohl behaupten kann, die Hälfte der Mütter vermöchten es nicht, etwas der Art für ihre eigenen Söhne zu tun.«

»Ich glaube das selber auch, Sir«, entgegnete Nicolaus.

Das Wahre an der Sache war übrigens, daß beide, Herr und Frau Squeers, die Knaben als ihre eigentlichen und natürlichen Feinde betrachteten, oder mit andern Worten, sie waren der Ansicht, es sei ihr Beruf und Gewerbe, von jedem Knaben soviel wie nur immer möglich herauszupressen. Über diesen Punkt waren beide einig und richteten demgemäß ihr Benehmen ein. Es gab nur den einen Unterschied zwischen ihnen, daß Frau Squeers den Krieg gegen den Feind offen und furchtlos führte, während Squeers auch zu Hause seine Schuftigkeit mit einem Anstrich seiner gewohnten Verstellung verhüllte, als meine er wirklich, eines Tages sich selbst täuschen und überreden zu können, daß er eigentlich doch eine seelensgute Haut wäre.

»Aber kommen Sie«, sagte Squeers, einen ähnlichen Gedankengang in dem Geiste seines Gehilfen unterbrechend: »wir wollen nach dem Schulzimmer gehen. Helfen Sie mir meinen Schulrock anziehen.«

Nicolaus half seinem Dienstherrn ein altes barchentnes Jagdwams anzuziehen, das dieser von einem Kleiderständer in der Hausflur herunternahm. Squeers bewaffnete sich mit seinem spanischen Rohr und führte den Unterlehrer über einen Hof zu einer Tür des Hinterhauses.

»So!« sagte der Schulmeister, als sie miteinander eintraten: »das ist unsere Arbeitsstätte.«

Man traf hier auf ein so buntes Schauspiel und auf so viele Dinge, die die Aufmerksamkeit auf sich zogen, daß Nicolaus im Anfang nur aufschauen konnte, ohne eigentlich etwas zu unterscheiden. Nach und nach löste sich jedoch der Ort in ein kahles und schmutziges Zimmer mit ein paar Fenstern auf, an denen übrigens das Glas kaum den zehnten Teil ausmachen mochte, da der Rest mit Papier aus alten Schreibbüchern geflickt war. Außerdem fand man noch ein paar lange, alte, gebrechliche Tische, die mit Messern zerschnitten, mit Tinte beschmiert und auf jede nur mögliche Weise beschädigt waren, einige Bänke, ein besonderes Pult für Herrn Squeers und ein anderes für seinen Gehilfen. Die Decke war, wie die einer Scheune, durch Querbalken und Sparren unterstützt und die Wände so besudelt und geschwärzt, daß es unmöglich war zu ermitteln, ob ihr ursprünglicher Anstrich, wenn ein solcher vorhanden war, von dem Tüncher oder dem Maler herrührte.

Und erst die Zöglinge – die jungen Edelleute! Die letzten schwachen Hoffnungsstrahlen, der entfernteste Lichtblick einer Möglichkeit, daß seine Bemühungen in dieser Schauerhöhle je etwas Gutes erzielen könnten, schwanden aus Micolaus‘ Seele, als er mit Schrecken der Wirklichkeit ansichtig wurde. Bleiche, hagere Gesichter, abgezehrte Gerippe, Kinder mit den Zügen von Greisen, Mißgestalten mit eisernen Schienen an den Gliedern, Knaben von verkümmertem Wuchs, und andere, deren lange, dürre Beine die gebeugten Körper kaum zu tragen vermochten –, alles dieses drängte sich vor seinem Blick. Da waren Triefaugen, Hasenscharten, Klumpfüße, kurz jede Häßlichkeit und Entstellung, die auf eine unnatürliche Abneigung der Eltern gegen ihre Sprößlinge oder auf ein Leben hindeutete, das von frühester Kindheit an nur Grausamkeit und Vernachlässigung gekannt hatte. Man sah einige kleine Gesichter, die schön gewesen sein würden, wären sie nicht durch den finstern Blick eines durch Leiden verstockten Inneren verdüstert gewesen; eine Kindheit, der der Glanz des Auges erloschen, deren Schönheit entschwunden und wo nur die Hilflosigkeit zurückgeblieben war; boshafte Gesichter, die bleiernen Auges, wie Übeltäter in einem Gefängnis, vor sich hinbrüteten; und arme Geschöpfe, die, die Sünden ihre schwachen Eltern büßend, selbst nach den gedungenen Wärterinnen weinten – dem einzigen, was sie gekannt hatten, und wo sie doch nicht ganz verlassen in ihrer Einsamkeit waren. Welche heranschießende Höllensaat wurde hier erzogen, wo Mitgefühl und Liebe schon in der Geburt erstickt wurden, wo man jedes frische und jugendliche Gefühl durch Schläge und Hunger erdrückte und wo jede der Rachsucht entquellende Leidenschaft sich leise ihre Eitergänge bis in das Innerste des übervollen Herzens fraß!

Und doch hatte dieser Anblick, so schmerzlich er auch war, seine komischen Züge, die bei einem minderbeteiligten Zuschauer, als Nicolaus es war, wohl ein Lächeln hervorrufen konnten. Frau Squeers stand hinter einem der Lehrerpulte und hatte eine ungeheure Schüssel mit Schwefel und Sirup vor sich. Von dieser köstlichen Mischung gab sie einem jeden Knaben eine starke Dosis, wobei sie sich eines gemeinschaftlichen, ursprünglich wohl für einen Riesen angefertigten hölzernen Löffels bediente, der den Mund eines jeden der jungen Herrchen beträchtlich erweiterte, da sie unter schweren Strafandrohungen den ganzen Löffel voll auf einmal hinunterschlucken mußten. In einer Ecke der Stube hatten sich, der Kameradschaft halber, die in der Nacht angekommenen kleinen Knaben zusammengedrückt, drei von ihnen in ungemein weiten Lederhosen und zwei in alten langen Hosen, die sogar noch bedeutend enger anlagen, als man gewöhnlich Unterbeinkleider zu tragen pflegt. In einer kleinen Entfernung von ihnen saß Herrn Squeers‘ jugendlicher Sohn und Erbe, ein sprechendes Ebenbild seines Vaters. Er wehrte sich aus Leibeskräften mit Händen und Füßen gegen Smike, der ihm ein Paar neue Stiefel von verdächtiger Ähnlichkeit mit denen, die der kleinste der neuen Ankömmlinge auf der Herreise getragen hatte, anziehen wollte; und auch der kleine Knabe schien sein Eigentum zu erkennen, denn er betrachtete dasselbe mit einem Blick der kläglichsten Verwunderung. Außerdem stand eine lange Reihe von Knaben harrend da, freilich mit Gesichtern, die nicht das angenehmste Vorgefühl hinsichtlich des Gesiruptwerdens aussprachen; und ein anderes Häuflein, das eben diese Tortur überstanden hatte, deutete durch allerhand Mundverzerrungen an, daß dieses Löffeltraktament eben nicht zu den angenehmsten gehöre. Die Knaben waren insgesamt so buntscheckig, übel zusammenpassend und ungewöhnlich gekleidet, daß man sich des Lachens nicht hätte erwehren können, wäre nicht der ekelerregende Anblick von Schmutz, Unordnung und Kränklichkeit damit verbunden gewesen.

»Nun«, sagte Squeers, indem er mit seinem Rohr so heftig auf den Tisch schlug, daß die Hälfte der Knaben beinahe aus ihren Stiefeln gesprungen wäre; »ist das Doktern endlich vorbei?«

»Im Augenblick«, versetzte Frau Squeers, die dem letzten Knaben, den sie in ihrer Eile beinahe erstickt hätte, mit dem hölzernen Löffel auf den Scheitel klopfte, um ihn wieder zu sich zu bringen. »Smike, nimm die Schüssel fort – geschwind!«

Smike hinkte mit der Schüssel hinaus, und Frau Squeers folgte ihm, nachdem sie zuvor ihre schmutzigen Finger in dem Lockenkopfe eines Knaben abgewischt hatte, hastig nach einer Art Waschhaus, wo ein kleines Feuer unter einem großen Kessel brannte und eine Anzahl kleiner hölzerner Näpfe auf einem Tische standen.

In diese Näpfe goß Frau Squeers, unter dem Beistände ihres ausgehungerten Dienstmädchens, ein braunes Gemisch, das wie Lohbrühe aussah und Suppe genannt wurde. In jeden Napf kam ein winziges Scheibchen Schwarzbrot, und als die Knaben ihre Suppe mit dem Brote ausgelöffelt und hintendrein auch diesen Löffel verzehrt hatten, womit das Früstück beendigt war, sprach Herr Squeers mit feierlicher Stimme: »Herr, laß uns aufrichtig dankbar sein für alles Gute, was wir von dir empfangen«, und begab sich dann zu seiner eigenen Morgenerquickung.

Nicolaus erweiterte seinen Magen mit einem Napf Suppe, wohl aus demselben Grunde, der einige Milde veranlaßt, Erde zu verschlucken – damit nämlich hernach ihr Eingeweide sie nicht quäle, wenn sie nichts zu essen hätten. Als er hierauf noch eine Brotschnitte mit Butter verzehrt hatte, die ihm vermöge seiner Eigenschaft als Lehrer zuteil wurde, so setzte er sich nieder und harrte, bis der Unterricht begänne.

Es konnte ihm nicht entgehen, daß statt des Lebensmutes nur stumme Trauer unter den Knaben herrschte. Dort war keine Spur von dem Tumult und Lärmen eines Schulzimmers, nichts von seinen geräuschvollen Spielen und seiner herzlichen Fröhlichkeit. Die Kinder kauerten sich zitternd zusammen und schienen nicht den Mut zu haben, sich zu bewegen. Der einzige Zögling, der einige Neigung zu Scherz und Bewegung kundgab, war der junge Herr Squeers. Da aber seine Hauptbelustigung darin bestand, daß er mit seinen Stiefeln den andern Knaben auf die Zehen trat, so konnte man an seiner Munterkeit gerade keinen besonderen Gefallen finden.

Nach einer halben Stunde trat Herr Squeers wieder ein. Die Knaben gingen an ihre Plätze und griffen nach ihren Büchern, von denen durchschnittlich etwa eins auf acht Schüler kam. Herr Squeers nahm einige Minuten eine sehr gelehrte Miene an, als könne er alles in den Büchern auswendig und wisse jedes Wort aus dem Kopfe herzusagen, wenn er sich nur die Mühe nehmen wollte, und rief dann die erste Klasse auf.

Dem Geheiße gehorsam, stellten sich ein halb Dutzend Vogelscheuchen mit Löchern an den Knien und Ellenbogen vor dem Pulte des Schulmeisters auf, und eine davon legte ein zerrissenes und schmutziges Buch unter sein gelehrtes Auge.

»Dies ist die erste Klasse; sie erhält Unterricht im Englischlesen und in der Philosophie, Nickleby«, sagte Squeers, indem er Nicolaus näher zu treten winkte. »Wir wollen auch eine lateinische Klasse gründen und sie Ihnen übertragen. Wohlan denn, wo ist der Primus?«

»Er putzt in der hintern Stube die Fenster«, sagte der damalige Zugführer der philosophischen Klasse.

»Ah, richtig«, erwiderte Squeer«. »Wir halten uns an die praktische Lehrmethode, Nickleby – das einzige richtige Erziehungssystem. P-u-tz, Putz, e-n, en, Putzen, Zeitwort, reinmachen, reinigen. F-e-n, Fen, s-t-e-r, ster, Fenster, eine mit einer durchsichtigen Substanz verwahrte Öffnung, durch die Licht in die Häuser fällt. Wenn ein Knabe etwas der Art aus dem Buche gelernt hat, so geht er hin und tut es. Wir folgen hier ganz demselben Grundsatz, den man beim Gebrauch der Globen geltend macht. Wo ist der Zweite?«

»Er jätet im Garten Unkraut aus«, entgegnete eine zarte Stimme.

»Ja ja«, fuhr Squeers fort, ohne sich aus der Fassung bringen zu lassen;, »so ist’s. B-o, Bo, t-a, ta, Bota, n-i-k, nik, Botanik, Hauptwort, Kenntnis der Pflanzen. Wenn er gelernt hat, daß Botanik Kenntnis der Pflanzen bedeutet, so geht er hin und lernt sie kennen. Dies ist unser System, Nickleby. Was halten Sie davon?«

»Jedenfalls ist es ein sehr nutzenbringendes«, antwortete Nicolaus bedeutsam.

»Das will ich meinen«, entgegnete Squeers, dem die ironische Betonung seines Hilfslehrers nicht aufgefallen war. »Nun, du Dritter, was ist ein Pferd?«

»Ein Tier, Sir«, versetzte der Knabe.

»Richtig«, sagte Squeers: »nicht wahr, Nickleby?«

»Ich glaube, daß hier kein Zweifel obwalten kann, Sir«, erwiderte Nicolaus.

»Natürlich nicht«, sagte Squeers. »Ein Pferd ist ein Quadruped, und Quadruped ist das lateinische Wort für Tier, wie jeder, der die Grammatik durchgemacht hat, weiß; denn wo läge sonst der Nutzen der Grammatik?«

»In der Tat, wo läge er?« sprach Nicolaus zerstreut.

»Da du deine Sache so gut gemacht hast«, nahm Squeers wieder auf, »so geh und sieh nach meinem Pferd; striegle es ordentlich, sonst will ich dich striegeln. Die übrigen der Klasse gehen hinaus und schöpfen Wasser, bis man sie aufhören heißt; denn die Kessel müssen für die morgige Wäsche gefüllt werden.«

Mit diesen Worten entließ er die erste Klasse zu ihren Übungen in der praktischen Philosophie und sah Nicolaus mit einem halb verschmitzten, halb zweifelhaften Blick an, als wolle er sich überzeugen, welchen Eindruck dieses Verfahren auf seinen Hilfslehrer gemacht hatte.

»So wird die Sache bei uns betrieben, Nickleby«, sagte er nach einer langen Pause.

Nicolaus zuckte auf eine kaum bemerkliche Weise die Achseln und sagte, daß ihn dies der Augenschein lehre.

»Es ist übrigens eine sehr gute Methode«, fuhr Squeers fort. »Doch lassen Sie jetzt diese vierzehn kleinen Knaben lesen; denn Sie müssen anfangen, sich nützlich zu machen. Faulenzerei geht hier nicht an.«

Herr Squeers sagte dies mit einem Ton, als sei ihm plötzlich eingefallen, daß er seinem Hilfslehrer nicht zuviel sagen dürfe, oder daß dieser ihm nicht genug zum Lobe der Anstalt gesagt hätte. Die Kinder mußten sich nun in einen Halbkreis um den neuen Lehrer stellen, und bald horchte dieser auf ihr träges, schleppendes und stockendes Hersagen jener wichtigen Geschichten, die in den älteren Fibelbüchern zu finden sind.

Unter dieser angenehmen Beschäftigung schlich der Morgen schwerfällig hin. Um ein Uhr kamen die Knaben, nachdem man ihnen vorher den Appetit durch Haferbrei und Kartoffeln benommen hatte, zu einem Stückchen tüchtig eingepökelten Ochsenfleisches in die Küche, und Nicolaus erhielt gnädigst die Erlaubnis, seinen Anteil nach seinem einsamen Pult zu tragen, um es dort ungestört verzehren zu können. Dann kauerten sich die Knaben abermals eine Stunde fröstelnd in dem kalten Schulzimmer zusammen, worauf der Unterricht wieder seinen Anfang nahm.

Herr Squeers pflegte nach jedem seiner halbjährlichen Besuche in der Hauptstadt die Knaben zusammenzurufen und ihnen eine Art Mitteilung zu machen über Verwandte, die er gesehen, Neuigkeiten, die er gehört, Briefe, die er mitgebracht, Rechnungen, die man bezahlt, oder Auslagen, die man schuldig geblieben war usw. Diese festliche Musterung fand jedesmal an dem Nachmittag des ersten Tages nach seiner Zurückkunft statt; vielleicht, um durch die Spannung des Morgens die Selbstüberwindung der Knaben zu kräftigen, vielleicht auch, weil Herr Squeers durch gewisse warme Getränke, die er gewöhnlich nach dem Mittagessen zu sich zu nehmen pflegte, größeren Ernst und größere Unbeugsamkeit gewann. – Doch, sei dem, wie ihm wolle – die Knaben wurden von den Fenstern, dem Garten, dem Stall und dem Hof zurückgerufen, und das Schulzimmer barg die volle Versammlung, als Herr Squeers, mit einem kleinen Paketchen Briefschaften in der Hand und von Frau Squeers begleitet, die ein paar Haselnußstöcke trug, in das Zimmer trat und Stillschweigen gebot.

»Wenn einer, ohne daß er gefragt wird, das Maul auftut«, sagte Herr Squeers in mildem Tone, »so kriegt er Hiebe, bis ihm die Haut vom Leibe fällt.«

Diese Ankündigung hatte den beabsichtigten Erfolg; denn im Augenblick trat eine totengleiche Stille ein, und Herr Squeers fuhr fort:

»Jungen, ich bin in London gewesen und so gesund und wohl wie je wieder zu meiner Familie und zu euch zurückgekehrt.«

Die Jungen begrüßten diese erfreuliche Nachricht, dem halbjährlichen Brauche zufolge, mit drei schwachen Freuderufen. Aber was für Freuderufe? – kaum wie ein starker Seufzer aus der Brust eines Menschen, dem der Todesschweiß auf der Stirn steht.

»Ich habe die Eltern von einigen unter euch gesehen«, fuhr Squeers, seine Papiere durchblätternd, fort; »und sie sind so erfreut über die Fortschritte ihrer Söhne, daß an ein Zurücknehmen derselben gar nicht zu denken ist, was natürlich allen Parteien in gleicher Weise zustatten kommt.«

Bei diesen Worten fuhren zwei oder drei Hände zu zwei oder drei Augen, aber der größere Teil der jungen Leutchen wußte nicht viel von seinen Eltern zu sagen und war daher bei der Sache in keiner Weise beteiligt.

»Ich hatte mit Widerwärtigkeiten zu kämpfen«, sagte Squeers, indem er eine zürnende Miene annahm; »Bolders Vater blieb zwei Pfund, zehn Schillinge schuldig. Wo ist Bolder?«

»Hier, Sir«, erwiderten zwanzig diensteifrige Stimmen. Knaben sind in solchen Fällen gerade wie die Männer.

»Komm her, Bolder«, rief Squeers.

Ein kränklich aussehender Knabe mit von Warzen bedeckten Händen trat leichenblaß und klopfenden Herzens an das Pult des Lehrers und erhob seine Augen flehend zu Squeers‘ Gesicht.

»Bolder«, begann Squeers in einem langsamen Ton; denn er überlegte im Sprechen, wie er ihm am besten beikommen könne.

»Bolder, wenn dein Vater glaubt, daß – doch was soll das, Bürschlein?«

Mit diesen Worten faßte Squeers die Hand des Knaben bei dem Ärmelaufschlag und betrachtete sie mit einem erbaulichen Ausdruck von Entsetzen und Ekel.

»Wie nennst du dies, Musje?« fragte der Schulmeister, indem er dem Knaben gleich vornweg einen Streich mit der Haselnußgerte gab, um die Antwort zu beschleunigen.

»Ach, ich kann ja nicht dafür, Sir«, erwiderte der Knabe weinend. »Sie kommen von selbst; ich glaube, es ist die schmutzige Arbeit, Sir – wenigstens weiß ich nicht, woher es kommt, Sir; aber meine Schuld ist es gewiß nicht.«

»Bolder«, sagte Squeers, indem er seine Hemdärmel zurückschlug und die Fläche der rechten Hand anfeuchtete, um den Stock besser fassen zu können; »du bist ein unverbesserlicher junger Schlingel, und da die letzte Tracht Prügel nicht angeschlagen hat, so wollen wir sehen, ob eine andere nicht bessere Wirkung tut.«

Squeers fiel sofort, ohne des kläglichen Geschreis um Schonung zu achten, über den Knaben her und bearbeitete denselben so lange mit seinem Rohr, bis er kaum mehr den Arm zu rühren vermochte.

»So!« sagte Squeers, als er fertig war; »reibe dir den Rücken, so viel du willst. Das wenigstens wirst du nicht sofort herunterreiben. – Wie, du willst nicht zu heulen aufhören? Führe ihn hinaus, Smike.«

Der Haussklave wußte aus Erfahrung zu gut, daß durch Zögerung nichts gewonnen werde, und schaffte daher das arme Opfer durch eine Seitentür, während Herr Squeers sich wieder auf seinen Stuhl pflanzte und Frau Squeers einen andern an seiner Seite einnahm.

»Nun laßt uns weiter sehen«, sagte Squeer«. »Ein Brief für Cobbey. Steh auf, Cobbey!«

Ein anderer Knabe erhob sich und betrachtete mit ängstlichen Blicken den Brief, während Squeers den Inhalt in einem kurzen Auszug vortrug.

»Ah!« sagte Squeers, »Cobbeys Großmutter ist tot und sein Onkel Johann hat sich dem Trinken ergeben. Das sind alle Neuigkeiten, die seine Schwester sendet, achtzehn Penc ausgenommen, die gerade hinreichen werden, die zerbrochene Fensterscheibe zu bezahlen. Liebe Frau, willst du das Geld zu dir nehmen?«

Die würdige Dame steckte die achtzehn Pence mit der gleichgültigsten Geschäftsmiene ein, und Squeers ging so kaltblütig wie möglich zu dem nächsten Knaben über.

»Die Reihe kommt jetzt an Graymarsh«, sagte Squeers. »Steh auf, Graymarsh!«

Der Knabe gehorchte, und der Schulmeister überflog wie vorher den Brief.

»Graymarsh‘ Tante mütterlicherseits –« fuhr Squeers fort, nachdem er sich den Inhalt zu eigen gemacht hatte – »ist sehr erfreut über die Nachricht, daß er so gesund und zufrieden ist: sie läßt Madame Squeers ihre achtungsvollsten Komplimente vermelden und glaubt, daß sie ein Engel sein müsse. In gleicher Weise meint sie, Herr Squeers sei zu gut für diese Welt, hofft jedoch, daß er ihr noch lange erhalten bleibe, um sein Geschäft fortzusetzen. Sie würde die verlangten zwei Paar Strümpfe geschickt haben, wenn in ihrer Kasse nicht Ebbe wäre; statt dessen sendet sie ein Traktätlein und hofft, daß Graymarsh sein Vertrauen auf Gott setzen werde. Vor allem aber wünscht sie, daß er sich Mühe gebe, Herrn und Frau Squeers in jeder Hinsicht zu Gefallen zu leben und sie als seine einzigen Freunde zu betrachten. Er solle den jungen Herrn Squeers lieben und sich nicht auf eine unchristliche Weise darüber beschweren, daß er zu fünf in einem Bett schlafen müsse. »Ah!« sagte Squeers, das Schreiben zusammenschlagend, »ein köstlicher Brief, sehr liebreich – in der Tat!«

Er war in einem gewissen Sinne allerdings sehr liebreich, denn Graymarsh‘ mütterlicherseits Tante war, wie sich ihre vertrauten Freundinnen ins Ohr flüsterten, niemand anders, als Graymarsh‘ wirkliche Mutter. Squeers fuhr jedoch, ohne auf diesen Teil der Geschichte anzuspielen, da es vor dem Knaben unmoralisch geklungen haben würde, in seinem Geschäft fort, indem er den Namen »Mobbs« rief, worauf sich ein anderer Knabe erhob und Graymarsh wieder Platz nahm.

»Mobbs Stiefmutter –« sagte Squeers – »mußte sich zu Bett legen, als sie hörte, daß er kein Fett essen wolle, und ist seitdem immer krank gewesen. Sie wünscht mit einer der nächsten Posten zu erfahren, wo er hingebracht zu werden erwartet, da er sich über die Kost beklagt, und will wissen, mit welchen Gefühlen er seine Nase über die Kuhleberbrühe rümpfen kann, nachdem sein guter Lehrer den Segen darüber gesprochen hat. Daß das letztere geschieht, hat sie aus den Londoner Zeitungen und nicht von Herrn Squeers erfahren, der zu menschenfreundlich und wohlwollend ist, um Leute gegeneinander aufzuhetzen; sie fühlt sich übrigens in einer Weise gekränkt, daß sich Mobbs gar keinen Begriff davon machen kann. Es tut ihr leid, eine sündhafte und abscheuliche Unzufriedenheit an ihm zu bemerken, weshalb sie hofft, Herr Squeers werde ihn schon in einen ruhigeren Gemütszustand hineinprügeln. Wegen seines schlechten Betragens behält sie auch den wöchentlichen halben Penny Taschengeld zurück und hat ein Messer mit doppelter Klinge und einem Korkzieher, das für ihn gekauft worden war, den Missionaren geschenkt.

Ein widerspenstiger Gemütszustand führt zu nichts«, fuhr Herr Squeers fort, indem er abermals die Fläche seiner rechten Hand anfeuchtete; »Heiterkeit und Zufriedenheit müssen stets aufrechterhalten werden. Mobbs, tritt hervor!«

Mobbs bewegte sich langsam nach dem Pult hin und rieb in der Vorahnung, bald genug Anlaß dazu zu erhalten, seine Augen; er erhielt auch denselben in so hohem Grade, wie sich’s ein Knabe nur immer wünschen kann, und wurde gleichfalls durch die Seitentür entfernt.

Herr Squeers fuhr dann fort, die verschiedenen übrigen Briefe zu öffnen. Einige von ihnen enthielten Geld, das Frau Squeers »zum Aufheben« gegeben wurde, und andere bezogen sich auf verschiedene kleine Anzugsartikel, wie Mützen usw., die aber alle nach der Ansicht der genannten Dame bald zu groß, bald zu klein waren und für niemand als den jungen Squeers passen wollten, der in der Tat die allergefügigsten Gliedmaßen zu haben schien, da alles, was in die Anstalt kam, ihm wie angegossen war; besonders mußte sein Kopf eine wunderbare Elastizität besitzen, da ihm Hüte und Mützen von jeder Weite gleich gut saßen.

Nach Abmachung dieses Geschäfts hudelte man noch einige Schulstunden ab, worauf sich Herr Squeers in seinen Familienkreis zurückzog und dem Lehrgehilfcn die Obhut der Knaben in der äußerst kalten Schulstube überließ, wo man, sobald es dunkel wurde, eine Abendmahlzeit von Brot und Käse austeilte.

In einer Ecke der Schulstube, zunächst dem Pult des Schulmeisters, befand sich ein kleiner Ofen, bei dem sich Nicolaus niedersetzte und in dem Gefühl seiner herabgewürdigten Stellung den Tod als einen beglückenden Erlöser aus seiner traurigen Lage herbeiwünschte. Die Grausamkeit, deren unfreiwilliger Zeuge er gewesen, Squeers‘ rohes und schuftiges Benehmen, selbst wenn er in der besten Laune war – überhaupt alles, was er an diesem schmutzigen Ort sah oder hörte, vereinigte sich, diese trübe Stimmung hervorzurufen. Wenn er aber gar dachte, daß er dabei mitwirken und – gleichgültig, welche Verkettung der Umstände ihn dazu gezwungen hatte – als Helfer und Mitschuldiger eines Systems erscheinen mußte, das nur Ekel und Unwillen in seiner Seele hervorrief, so verabscheute er sich selbst, und es kam ihm in diesem Augenblick vor, als ob es ihm schon die bloße Rückerinnerung an seine gegenwärtige Erniedrigung für alle Zeiten unmöglich mache, sein Antlitz wieder vor den Leuten zu erheben.

Vorderhand war jedoch sein Entschluß gefaßt, und die Vorsätze der vorangehenden Nacht blieben ungetrübt. Er hatte seiner Mutter und Schwester geschrieben, ihnen die glückliche Beendigung seiner Reise mitgeteilt und von Dotheboys Hall nur sehr wenig, aber auch dieses Wenige in der möglichst heitern Weise erzählt. Er hoffte, wenn er bliebe, selbst hier einiges Gute wirken zu können, und jedenfalls hingen andere zu sehr von der Gunst seines Onkels ab, als daß er sich jetzt schon seinen Groll hätte zuziehen dürfen.

Ein Gedanke beunruhigte ihn jedoch weit mehr, als alle aus seiner Lage entsprießenden Rücksichten für die eigene Persönlichkeit – nämlich das wahrscheinliche Los seiner Schwester. Sein Onkel hatte ihn hintergangen, und stand da nicht zu befürchten, daß er sie auf irgendeinen elenden Ort beschränke, wo ihre Schönheit und Jugend ihr zu einem weit größeren Fluch gereichen konnten als Häßlichkeit und Alter? Dies war ein schrecklicher Gedanke für einen an Händen und Füßen gebundenen Mann; – doch nein, seine Mutter war ja bei ihr und auch die Malerin, freilich ein sehr einfaches Wesen, die aber doch in und von der Welt lebte. Er war geneigt zu glauben, daß Ralph einen persönlichen Widerwillen gegen ihn nährte. Da nun hinlänglicher Grund vorhanden war, einen gleichen in seinem eigenen Innern zu hegen, so wurde ihm diese Vermutung zur Gewißheit, obgleich er sich zu überreden suchte, daß der gegenseitige Groll auf niemand anders als auf sie beide Bezug habe.

In solche Betrachtungen vertieft, fiel sein Blick zufällig auf Smike, der auf seinen Knien vor dem Ofen lag, ein paar abgesprungene Aschenfunken von dem Herde auflas und sie wieder in das Feuer legte. Der arme Junge hatte eben innegehalten, um einen verstohlenen Blick auf Nicolaus zu werfen. Als er jedoch sah, daß er bemerkt wurde, schrak er zurück, als fürchte er, dafür gezüchtigt zu werden.

»Du brauchst dich nicht vor mir zu fürchten«, sagte Nicolaus freundlich. »Friert es dich?«

»N–e–i–n.«

»Deine Zähne klappern?«

»Es friert mich nicht«, versetzte Smike rasch. »Ich bin daran gewöhnt.«

In seinem Benehmen zeigte sich so augenscheinlich die Furcht, Anstoß zu geben, auch war er überhaupt so scheu und niedergedrückt, daß Nicolaus sich des Ausruf«: »Armer Junge!« nicht erwehren konnte.

Wenn er den armen Leidensträger geschlagen hätte, so würde sich dieser, ohne ein Wort zu sprechen, davongeschlichen haben; so aber brach er in Tränen aus.

»Ach du mein Gott!« rief er, indem er mit den aufgesprungenen und schwieligen Händen sein Gesicht bedeckte; »das Herz bricht mir, – ach, das Herz bricht mir.«

»Ruhig«, sagte Nicolaus, die Hand auf seine Achsel legend. »Sei ein Mann – du bist´s ja fast an Jahren; Gott helfe dir.«

»An Jahren?« rief Smike. »O mein Himmel, wie viele sind ihrer! Wie viele Jahre sind dahingegangen, seit ich als ein kleines Kind hierherkam, jünger, als irgendeines von denen, die jetzt da sind! Wo sind sie alle!«

»Wovon sprichst du?« fragte Nicolaus, der das arme, halb blödsinnige Geschöpf zur Vernunft zurückbringen wollte. »Rede.«

»Meine Verwandte«, erwiderte er, »ich – mein – ach! welche Leiden habe ich erduldet!«

»Die Hoffnung stirbt nicht«, versetzte Nicolaus, ohne zu wissen, was er sagen sollte.

»Nein, entgegnete der andere, »nein, für mich gibts keine. Erinnern Sie sich des Knaben, der hier starb?« »Du weißt, ich war damals noch nicht hier«, sagte Nicolaus sanft, »aber was ist mit ihm?«

»Ei«, antwortete Smike, indem er dem Frager näher rückte, »ich wachte bei ihm, und als alles still um uns her war, rief er nicht mehr nach seinen Verwandten, von denen er wünschte, daß sie sich bei ihm niedersetzen möchten, sondern er fing an, Gesichter um sich her zu sehen, die von Hause kamen. Er sagte, sie lächelten ihm zu und sprächen mit ihm, und endlich starb er, als er eben den Kopf aufrichtete, um sie zu küssen. Hören Sie?«

»Ja, ja«, entgegnete Nicolaus.

»Welche Gesichter werden mir zulächeln, wenn ich sterbe?« fuhr Smike schaudernd fort. »Wer wird zu mir sprechen in jenen langen Nächten? Sie können nicht von Hause kommen; sie würden mich erschrecken, wenn sie es täten; denn ich weiß nichts von einer Heimat und würde sie nicht kennen. Für mich gibt’s nur Furcht und Leiden – Furcht und Leiden im Leben und im Tode; aber keine Hoffnung – keine Hoffnung.«

Die Glocke läutete zum Schlafengehen, und Smike, der bei diesem Ton wieder in seinen gewohnten, gleichgültigen Stumpfsinn versank, schlich fort, als scheue er sich bemerkt zu werden. Bald hernach folgte ihm Nicolaus, da er kein eigenes Gemach hatte, nach dem schmutzigen und überfüllten Schlafsaal.