Sechstes Kapitel
In dem der im vorigen Kapitel erwähnte Unfall einigen Herren Gelegenheit gibt, sich Geschichten zu erzählen.
»O ha!« rief der Schaffner, der in einem Augenblick wieder auf den Beinen war und zu den Vorderpferden des Zuges eilte. »Ist kein Herr da, der hier Hand anlegen kann? Ruhig, ihr verwünschten Bestien. O ha!«
»Was gibt’s?« fragte Nicolaus, schlaftrunken aufsehend.
»Was es gibt? Es gibt genug für eine Nacht«, versetzte der Schaffner. »Der Henker hole die einäugige Mähre; sie ist toll geworden und bildet sich was drauf ein, daß sie die Kutsche umgeworfen hat. Da, können Sie nicht Hand mit anlegen? Hol’s der Teufel, ich tät’s, wenn auch alle meine Knochen zerbrochen wären.«
»Ich bin bereit«, rief Nicolaus, sich auf die Beine helfend. »Meine Sinne waren nur nicht ganz beieinander, das ist alles.«
»Ziehen Sie fest an«, rief der Schaffner, »ich will inzwischen die Stränge abschneiden. Recht so, Musje. Jetzt können Sie sie fahren lassen. Blitz und Hagel, sie werden schnell genug heimlaufen.«
In der Tat waren die Tiere auch kaum erlöst, als sie gar umsichtig wieder nach dem Stall zurücktrabten, den sie erst vor ein paar Minuten verlassen hatten.
»Können Sie Horn blasen?« fragte der Schaffner, eine der Kutschenlaternen losmachend.
Nicolaus bejahte.
»Nun, so blasen Sie einmal in das, das dort auf dem Boden liegt, hinein«, fuhr der Mann fort; »es ist so gut, daß man die Toten damit wecken könnte. Ich will inzwischen dem Gekreisch in der Kutsche da drinnen Einhalt tun. Kommen Sie heraus, kommen Sie heraus, Frauenzimmer! Machen Sie keinen solchen Lärm.«
Unter diesen Worten war es dem Manne gelungen, den nach oben gekehrten Kutschenschlag aufzureißen, und Nicolaus weckte mit einer der außerordentlichsten Leistungen, die je von menschlichen Ohren auf einem Posthorn gehört wurden, das Echo auf eine weite Ferne hin. Die Töne taten auch ihre Wirkung, denn sie brachten nicht nur die Passagiere, die sich allmählich von den betäubenden Wirkungen ihres Falles erholten, auf die Beine, sondern riefen auch Beistand herbei, denn man sah bereits Lichter in der Ferne, die immer näher kamen.
In der Tat galoppierte auch, noch ehe sich die Passagiere gehörig gesammelt hatten, ein Reiter heran, und bei einer sorgfältigen Untersuchung stellte sich heraus, daß die Dame im Innern ihre Lampe und der Herr seinen Kopf zerstoßen hatte; zwei Reisende von dem vorderen Außensitz waren mit blauen Augen, einer aus der Droschke mit blutiger Nase, der Postillion mit einer Beule an der Schläfe, Herr Squeers mit einer Beule an seinem Gesäß und die übrigen Reisenden – Dank sei es der Weichheit der Schneeschicht, auf die sie geworfen wurden – ohne alle Beschädigung davongekommen. Sobald man sich hierüber Gewißheit verschafft hatte, wollte die Dame in Ohnmacht fallen; aber man bedeutete ihr, daß man sie, wenn sie das täte, einem Herrn auf die Schultern laden und sie so nach dem nächsten Wirtshause bringen würde, weshalb sie sich weislich eines Bessern besann und mit dem Rest der Gesellschaft auf ihren eigenen Beinen nach demselben zurückgehen wollte.
Als sie daselbst anlangten, fanden sie, daß es ein ziemlich einsamer Ort war, der hinsichtlich des Raumes, den er bot, keine sonderlichen Bequemlichkeiten gewährte, da sich dieser nur auf das einzige, reichlich mit Sand bestreute und mit etlichen Stühlen versehene Wirtschaftszimmer beschränkte. Als man jedoch ein großes Reisigbündel und eine tüchtige Portion Kohlen auf dem Herde aufgehäuft hatte, gewann das Ganze bald ein besseres Aussehen, und ehe man noch alle vertilgbaren Spuren des kürzlichen Unfalles wegwaschen konnte, war das Zimmer warm und hell – kein übler Tausch für die Nacht und Kälte im Freien.
»Nun, Herr Nickleby«, sagte Squeers, der für sich die wärmste Ecke ausgesucht hatte; »es war sehr gut, daß Sie die Pferde hielten. Ich hätte es auch so gemacht, wenn ich zeitig genug dazugekommen wäre; es freut mich aber recht, daß Sie es taten. Sie haben sehr wohl daran getan – sehr wohl.«
»So wohl«, sagte der Herr mit dem heiteren Gesicht, dem der Gönnerton, den Squeers Nickleby gegenüber anschlug, nicht sonderlich zu gefallen schien, »daß Ihnen wahrscheinlich kein Gehirn geblieben wäre, mit dem Sie hätten Unterricht erteilen können, wenn sie nicht gerade in diesem Augenblick festgehalten worden wären.«
Diese Bemerkung veranlaßte eine reichlich mit Komplimenten und Danksagungen gewürzte Erörterung über die Gewandtheit, die Nicolaus bei dieser Gelegenheit an den Tag gelegt hatte.
»Ich bin natürlich sehr froh, so davongekommen zu sein«, bemerkte Squeers; »denn jedermann freut sich, eine Gefahr glücklich überstanden zu haben. Aber wenn einer meiner Pflegebefohlenen Schaden genommen hätte – wenn ich verhindert worden wäre, einen dieser kleinen Knaben seinen Eltern wieder ganz gesund zurückzugeben, wie ich ihn erhielt –, was hätten da meine Gefühle sein müssen? Es würde mir weit lieber gewesen sein, wenn mir ein Rad über den Kopf gegangen wäre.«
»Sind es lauter Brüder, Sir?« fragte die Dame, die den ›Davy‹ oder die Sicherheitslampe bei sich geführt hatte.
»In einem gewissen Sinne sind sie es, Madame«, antwortete Squeers, in seinen Überrocktaschen nach Karten suchend. »Sie stehen alle unter der gleichen, liebevollen und väterlichen Leitung. Madame Squeers und ich, wir beide sind jedem derselben Mutter und Vater. Herr Nickleby, geben Sie der Dame und den Herren diese Karten. Vielleicht kennen sie einige Eltern, die sich freuen würden, mein Institut zu benutzen.«
Mit diesen Worten legte Herr Squeers, der keine Gelegenheit versäumte, seine Anzeige unentgeltlich unter die Leute zu bringen, die Hände auf seine Knie und blickte mit so viel Wohlwollen, als er zur Schau zu stellen vermochte, auf seine Zöglinge, während Nicolaus schamrot dem Auftrag entsprach und die Karten umherbot.
»Ich hoffe, Sie haben bei dem Umwerfen keinen Schaden genommen, Madame«, sagte der Herr mit dem heiteren Gesicht zu der gezierten Dame, als sei es sein sehnlichster Wunsch, den Gegenstand des Gesprächs zu wechseln.
»Körperlich nicht«, versetzte die Dame.
»Wie, ich will nicht hoffen, daß Sie im Geiste –«
»Der Vorfall ist für meine Gefühle zu schmerzlich, Sir«, entgegnete die Dame in großer Aufregung, »und ich bitte Sie als einen Mann von Erziehung, seiner nicht mehr zu erwähnen.«
»Du mein Himmel!« sagte der Herr mit dem heiteren Gesicht, eine noch heiterere Miene annehmend, »ich wollte bloß fragen –«
»Ich hoffe, daß man keine Fragen an mich stellt«, sagte die Dame, »oder ich werde mich genötigt sehen, den Schutz der übrigen Herren aufzurufen. Herr Wirt, ich bitte, lassen Sie einen Knaben vor der Tür achtgeben. Wenn eine grüne Kutsche von Grantham herkommt, so soll er sie sofort anhalten.«
Die Leute im Hause waren augenscheinlich durch diese Bitte überrascht, und als die Dame dem Knaben anempfahl, als Erkennungszeichen der erwarteten grünen Kutsche auf den mit Goldborten versehenen Hut des Kutschers auf dem Bock und auf den Lakaien hinten, der wahrscheinlich seidene Strümpfe tragen würde, zu achten, verdoppelte sich die Aufmerksamkeit der Wirtin. Selbst der Passagier aus der Droschke ließ sich hiervon anstecken, wurde wunderbar höflich und fragte sogleich, ob es in dieser Gegend nicht sehr gute Gesellschaft gäbe, was die Dame auf eine Weise bejahte, die deutlich merken ließ, daß sie sich eigentlich auf der obersten Spitze derselben bewege.
»Da der Schaffner nach Grantham geritten ist, um eine andere Kutsche zu holen«, sagte der Herr mit dem heiteren Gesicht, als sie eine Weile schweigend um das Feuer gesessen hatten, »und er vor ein paar Stunden nicht wieder zurückkommen kann, so mache ich den Vorschlag, eine Bowle Punsch miteinander zu leeren. Was sagen Sie dazu, Sir?«
Diese Frage war an den Mann gerichtet, der sich im Innern der Kutsche den Schädel zerstoßen hatte. Er war von sehr achtbarem Äußeren, in Trauer gekleidet und nicht über das mittlere Alter hinaus, obgleich sein Haar – vielleicht von Gram und Sorge – frühzeitig gebleicht war. Er ging auf den Vorschlag bereitwillig ein und schien an der freimütigen guten Laune dessen, der ihn gemacht hatte, Gefallen zu finden.
Dieser übernahm, als der Punsch fertig war, das Amt des Mundschenken und leitete, nachdem er alle mit dem dampfenden Naß versehen hatte, die Unterhaltung auf die Altertümer von York, mit denen sowohl er als der grauhaarige Herr sehr vertraut zu sein schienen. Als dieser Gegenstand erschöpft war, wandte er sich lächelnd an den Herrn mit dem grauen Haar und fragte ihn, ob er singen könne.
»Nein, das kann ich wirklich nicht«, erwiderte dieser, gleichfalls lächelnd.
»Schade«, sagte der Eigentümer des heiteren Gesichtes. »Ist niemand hier, der ein Liedchen singen könnte, um uns die Zeit zu kürzen?«
Die Passagiere beteuerten samt und sonders, daß sie nicht singen könnten; die einen wünschten, daß sie es könnten, die andern konnten sich des Textes nicht erinnern, wenn sie nicht das Buch hatten usw.
»Vielleicht wäre es der Dame angenehm«, sagte der Vorsitzer mit einer tiefen Verbeugung und einem heitern Blinzeln seines Auges. »Irgendeine kleine italienische Arie aus der Oper, die letzthin in der Stadt gegeben wurde, würde gewiß von allen mit dem größten Beifall aufgenommen werden.«
Da sich die Dame nicht herabließ, etwas zu erwidern, sondern nur verächtlich den Kopf in die Höhe warf und etwas von Verwunderung, daß die grüne Kutsche so lange ausbliebe, murmelte, drängten einige Stimmen den Vorsitzenden selber, einen Versuch zum allgemeinen Besten zu machen.
»Gerne, wenn ich könnte«, sagte der Herr mit dem heiteren Gesicht; »denn ich halte es für passend, daß in diesem, wie in allen anderen Fällen, wo Fremde unerwartet zusammentreffen, alle sich bemühen sollten, sich der kleinen Gesellschaft so angenehm wie möglich zu machen.«
»Ich wünschte, daß dieser Grundsatz überall und allgemeiner gehandhabt würde«, erwiderte der Mann mit dem grauen Haar.
»Ich höre das nicht ungerne«, erwiderte der andere. »Vielleicht würde es Ihnen, da Sie nicht singen können, recht sein, uns eine Geschichte zu erzählen?«
»Nein, ich würde Sie darum bitten.«
»Nach Ihnen – mit Vergnügen.«
»Wirklich?« versetzte der grauhaarige Herr lächelnd. »Nun, so sei es. Ich fürchte nur, der Gang meiner Gedanken ist nicht geeignet, die Zeit, die wir hier zubringen müssen, auf eine heitere Weise zu töten; da Sie aber so wünschen, so mögen Sie selbst urteilen. Wir haben eben von dem Münster in York gesprochen. Meine Geschichte steht in einiger Beziehung zu demselben; ich nenne sie daher:
»Die fünf Schwestern von York.«
Nach einem Beifallsgemurmel seitens der übrigen Passagiere, währenddessen die empfindliche Dame heimlich ein Glas Punsch austrank, nahm der Herr mit dem grauen Haar wieder das Wort:
Vor einer langen Reihe von Jahren – denn das fünfzehnte Jahrhundert war damals kaum zwei Jahre alt, und König Heinrich IV. saß auf dem Thron von England – wohnten in der alten Stadt York fünf jungfräuliche Schwestern, die den Gegenstand meiner Erzählung bilden.
Diese fünf Schwestern waren von außerordentlicher Schönheit. Die älteste stand in ihrem dreiundzwanzigsten Jahre, die zweite war ein Jahr jünger, die dritte ein Jahr jünger als die zweite und die vierte ein Jahr jünger als die dritte. Alle waren hohe, stattliche Gestalten mit dunklen, leuchtenden Augen und kohlschwarzen Haaren. In jeder ihrer Bewegungen lag Anmut und Würde, und der Ruf ihrer hohen Schönheit war im ganzen Lande verbreitet.
Aber, wenn die vier älteren Schwestern liebenswürdig waren, wie bezaubernd war nicht erst die jüngste, ein holdes Wesen von fünfzehn Jahren! Das sanfteste Rot einer Frucht, die zarteste Färbung der Blume sind nicht lieblicher als die Mischung der Rosen und Lilien in ihrem edlen Antlitz oder als das tiefe Blau ihres Auges. Die Rebe in ihrer zierlichsten Üppigkeit ist nicht anmutiger als die reichen braunen Locken, die um ihre Stirne wehten.
Wenn wir alle so leichte Herzen hätten, wie sie in der Brust der Jugend und Schönheit schlagen, welch ein Himmel würde die Erde sein! Wenn unsere Herzen ihre jugendliche Frische bewahren könnten, während unsere Körper hinwelken, was könnten uns dann Sorge und Leiden anhaben? Aber das schwache Abbild des Paradieses, das unserer Kindheit eingeprägt ist, reibt sich auf in den rauhen Kämpfen mit der Welt und schwindet bald dahin – nur zu oft, um nichts zurückzulassen als eine traurige Öde.
Das Herz dieses schönen Mädchens hüpfte vor Heiterkeit und Freude. Eine aufopfernde Anhänglichkeit an ihre Schwestern und eine glühende Liebe für alles Schöne in der Natur waren ihre reinen Gefühle. Ihre frohe Stimme und ihr heiteres Lachen bildeten die süßeste Musik an ihrem heimischen Herde, dessen eigentliches Licht und Leben sie selbst war. Die schönsten Blumen des Gartens waren von ihr gezogen; die Vögel in den Käfigen sangen, wenn sie ihre Stimme hörten, und trauerten, wenn sie dieses Wohllauts entbehren mußten. O Alice, holde Alice, welches lebende Wesen hätte in deinem süßen Zauberkreise weilen und dich nicht lieben müssen.
Man würde jetzt vergeblich nach der Stätte forschen, wo die Schwestern wohnten, denn selbst ihre Namen sind verklungen, und der im Schutt wühlende Altertumsforscher spricht von ihnen nur als von einer Fabel. Sie wohnten jedoch in einem alten, hölzernen Hause – alt schon in jenen Tagen – mit überhängenden Giebeln und eichenen, durch rohes Schnitzwerk verzierten Balkonen, das in einem anmutigen Garten stand. Dieser wurde von einer einfachen, steinernen Mauer umschlossen, von wo aus ein tüchtiger Bogenschütze einen Pfeil nach der Abtei der heiligen Maria hätte hinüberschießen können. Die alte Abtei befand sich damals in ihrer Blüte, und die fünf Schwestern, die auf dem Grund und Boden des Klosters wohnten, hatten an die schwarzen Benediktinermönche, die in demselben hausten, jährliche Abgaben zu entrichten.
Eines Tages, an einem köstlichen Sommermorgen, tauchte einer jener schwarzen Mönche aus der Klosterpforte auf und lenkte seine Schritte nach dem Hause der schönen Schwestern. Der Himmel oben war blau, und die Erde unten war grün. Der Strom blitzte im Schein der Sonne wie ein Pfad von Diamanten; die Vögel sangen unter den schattigen Bäumen ihre Lieder; die Lerche schwebte hoch über den wogenden Kornfeldern, und das tiefe Summen der Insekten füllte die Luft. Alles atmete Lust und Heiterkeit, aber der heilige Mann ging düster, mit gesenkten Augen seines Weges. Die Schönheit der Erde ist nur ein Hauch und der Mensch nur ein Schatten; welche Mitgefühle hätten sie wecken können in der Brust eines Mannes, der den Eitelkeiten der Welt entsagt hatte?
Mit zur Erde gesenktem Blick, den er nur erhob, wenn es durch ein auf seinem Wege liegendes Hindernis nötig ward, ging der Mönch langsam vorwärts, bis er ein kleines Pförtchen in der Gartenmauer der Schwestern erreichte, durch das er hineintrat und es wieder hinter sich abschloß. Er war jedoch noch nicht weit gegangen, als er den Ton sanfter Stimmen und fröhlichen Gelächters vernahm. Er erhob nun seine Augen höher, als es seine demütige Gewohnheit war, und sah in geringer Entfernung die fünf Schwestern, wie gewöhnlich mit Stickereien beschäftigt, Alice in der Mitte, im Grase sitzen.
»Gott sei mit euch, schöne Töchter«, sagte der Mönch. Sie waren aber auch in der Tat so schön, daß selbst ein Mönch sie als auserlesene Meisterstücke aus der Hand seines Schöpfers hätte lieben können.
Die Schwestern begrüßten den heiligen Mann mit geziemender Ehrfurcht, und die älteste winkte ihm, auf einer Moosbank neben ihnen Platz zu nehmen; aber der gute Mönch schüttelte den Kopf und ließ sich auf einen sehr harten Stein nieder, woran ohne Zweifel die Engel im Himmel eine sehr große Freude hatten.
»Ihr wart fröhlich, meine Töchter«, sagte der Mönch.
»Ihr wißt, wie leichten Herzens die gute Alice ist«, versetzte die älteste Schwester, indem sie mit den Fingern durch die Locken des lächelnden Mädchens fuhr.
»Muß es nicht Freude und Wonne in unsere Herzen gießen, wenn wir die ganze Natur in ihrem Festgewand und in den heitersten Strahlen der Sonne sehen, Vater?« fügte Alice, unter dem strengen Blick des Asketen errötend, bei.
Der Mönch antwortete nur durch ein ernstes Neigen des Kopfes, und die Schwestern fuhren schweigend in ihrer Arbeit fort.
»Ihr vergeudet also noch immer« – sagte endlich der Mönch, indem er sich an die älteste Schwester wandte – »ihr vergeudet also noch immer die kostbaren Stunden auf dieses eitle Treiben. Ach! ach! daß die wenigen Schaumblasen auf der Fläche der Ewigkeit – alles, was uns der Himmel von jenem dunkeln, tiefen Strome schauen lassen will – so leichtfertig umhergestreut werden müssen.«
»Vater«, entgegnete das Mädchen, indem sie wie die übrigen in ihrem Geschäft innehielt; »wir haben diesen Morgen die Messe gehört, das tägliche Almosen an der Tür verteilt, die Kranken besucht und unser Morgentagewerk vollendet. Ich hoffe, unsere gegenwärtige Beschäftigung ist nicht von der Art, daß sie Tadel verdiente?«
»Seht hier« – sagte der Mönch, den Stickrahmen aus ihrer Hand nehmend – »ein buntes Farbengewirr, ohne irgendeinen anderen Zweck, als daß es eines Tages zu einer eitlen Zierde diene und den Hochmut eines schwachen und unbeständigen Geschlechtes unterstütze. Wie viele Tage sind auf dieses bedeutungslose Geschäft verwendet worden, und doch ist es noch nicht halb vollendet. Der Schatten eines jeden entschwundenen Tages fällt auf unsere Gräber, und die Würmer frohlocken, wenn sie ihn niedersinken sehen; denn sie wissen, daß wir ihm bald folgen werden. Töchter! Töchter! wißt ihr die flüchtigen Stunden nicht besser zu benutzen?«
Die vier älteren Schwestern senkten, beschämt durch den Vorwurf des heiligen Mannes, die Blicke, aber Alice erhob die ihrigen und richtete sie sanft auf den Mönch.
»Unsere liebe Mutter – möge Gott ihrer Seele gnädig sein –« begann die Jungfrau.
»Amen«, entgegnete der Mönch mit tiefer Stimme.
»Unsere liebe Mutter« – stotterte die schöne Alice – »war noch am Leben, als wir diese langwierigen Arbeiten begannen, und befahl uns, sie in unseren Mußestunden mit aller Sorgfalt und Heiterkeit fortzusetzen, wenn sie das Zeitliche gesegnet haben würde. Sie sagte, wenn wir diese Stunden in harmloser Fröhlichkeit und bei jungfräulichen Beschäftigungen verlebten, so würden sie die glücklichsten und friedvollsten in unserem Leben sein; und wenn wir später in die Welt hinausträten und mit ihren Sorgen und Prüfungen bekannt würden – wenn wir, durch ihre Versuchungen angelockt und durch ihren Flitter geblendet, je der Liebe und Pflicht vergäßen, die die Kinder einer Mutter mit heiligen Banden umschlingen sollten – dann würde ein Blick auf die alte Arbeit unserer gemeinschaftlich verlebten Mädchenjahre gute Gedanken an die Vergangenheit in uns wecken und unsere Herzen aufs neue der Innigkeit und Liebe erschließen.«
»Alice spricht wahr, Vater«, sagte die älteste Schwester mit einigem Stolze. Sie nahm mit diesen Worten ihre Arbeit wieder auf, und die übrigen folgten ihrem Beispiel.
Jede der Schwestern hatte ein Modell von großem Umfang vor sich; das Muster war verwickelt und schwierig, Zeichnung und Farben aber bei allen die gleichen. Die Schwestern beugten sich anmutig über ihre Arbeit nieder, und der Mönch, der das Kinn auf seine Hände stützte, blickte schweigend von der einen auf die andere.
»Wie viel besser wäre es«, sagte er endlich, »allen solchen Gedanken und Möglichkeiten vorzubeugen und in dem friedlichen Schirme der Kirche das Leben dem Himmel zu weihen! Kindheit, Jugend, das Alter des Mannes und das des Greises schwinden so schnell dahin, wie sie aufeinander folgen. Bedenkt, wie der Staubmensch dem Grabe zueilt, wendet eure Augen ohne Unterlaß auf dieses Ziel eurer Rennbahn und meidet die Wolke, die über den irdischen Lüsten der Welt aufsteigt und die Sinne der Weltmenschen betrügt. Nehmt den Schleier, meine Töchter, nehmt den Schleier!«
»Nimmermehr, Schwestern!« rief Alice. »Vertauscht nicht das Licht und die Luft des Himmels, die Frische der Erde und alle diese Herrlichkeiten, die auf ihr atmen, gegen eine kalte Klosterzelle. Die Segnungen der Natur sind die eigentlichen Lebensgüter, und wir dürfen uns ihrer recht wohl erfreuen, ohne befürchten zu müssen, eine Sünde zu begehen. Der Tod ist zwar unser bitteres Erbteil, aber ach – laßt uns sterben im Kreise des Lebens. Wenn unsere Pulse stocken, mögen warme Herzen in unserer Nähe schlagen, und unser letzter Blick hafte auf den Grenzen, die Gott seinem schönen Himmel gesteckt hat – nicht aber auf steinernen Mauern und eisernen Gittern. Liebe Schwestern, hört auf meine Worte: laßt uns in der Umzäunung dieses schönen Gartens leben und sterben; laßt uns das Düstere und die Trauer des Klosters meiden!«
Tränen entquollen den Augen der Jungfrau, als sie ihren leidenschaftlichen Aufruf schloß und ihr Gesicht an dem Busen einer Schwester verbarg.
»Beruhige dich, Alice«, sagte die Älteste, indem sie die schöne Stirne des Mädchens küßte. »Der Schleier soll nie dein junges Antlitz beschatten. Was sagt ihr, Schwestern? Sprecht für euch selbst, und nicht für Alice oder für mich.«
Die Schwestern riefen wie mit einem Mund, daß ihre Lose zusammengeworfen seien und daß es auch außerhalb der Klostermauern Wohnungen des Friedens und der Tugend gebe.
»Vater!« sagte die Älteste, indem sie mit Würde aufstand, »Ihr habt unsern unabänderlichen Entschluß vernommen. Die gleiche fromme Sorgfalt, die die Abtei zur heiligen Maria bereicherte und uns Waisen ihrer wohlwollenden Obhut anheimgab, befahl, daß unsern Neigungen kein Zwang auferlegt werden, sondern daß wir frei und ganz nach unserer eigenen Wahl leben sollen. Wir bitten Euch, laßt uns nichts mehr von alledem hören. Doch Schwestern, es ist bald Mittag; wir wollen bis zum Abend Schutz im Hause suchen.«
Die Dame erhob sich mit einer Verbeugung gegen den Mönch und ging, Hand in Hand mit Alice, dem Hause zu; die übrigen Schwestern folgten.
Der heilige Mann, der früher schon oft dieselbe Angelegenheit zur Sprache gebracht, aber nie eine so unumwundene Abfertigung erhalten hatte, ging mit zur Erde gesenkten Blicken in kurzer Entfernung hinter ihnen her und bewegte seine Lippen wie im Gebet. Als die Schwestern die Tür erreicht hatten, beschleunigte er seinen Schritt und rief ihnen zu, daß sie halten möchten.
»Verweilt noch«, sagte der Mönch, die rechte Hand in die Höhe hebend, indem er abwechselnd einen zürnenden Blick auf Alice und die älteste Schwester warf; »verweilt noch und hört von mir, was diese Rückerinnerungen sind, die ihr höher schätzt als die Ewigkeit, und die ihr, wenn sie durch die Gnade des Himmels schlummern, kraft solchen eitlen Tandes wieder erwecken möchtet. Die Erinnerung an Erdendinge ist in späteren Jahren immer mit bitterer Täuschung, Schmerz und Tod belastet und spricht nur von traurigem Wechsel und verzehrendem Gram. Es wird eines Tages eine Zeit kommen, wo ein Blick auf dieses nichtige Spielwerk in den Herzen einiger von euch tiefe Wunden aufreißen und eure innerste Seele treffen wird. Wenn diese Stunde kommt – und denkt an mich, sie wird kommen –, so wendet euch von der Welt, die ihr so brünstig umschließt, nach dem Zufluchtsort, den ihr verachtet. Die Zelle ist nicht so kalt wie das Herz des Sterblichen, wenn sein Feuer durch Prüfungen und Unglück gelöscht ist; sucht sie daher auf und weint um die Träume eurer Jugend. Doch diese Dinge sind der Wille des Himmels und nicht der meine«, sagte der Mönch mit leiserer Stimme, als er die erbebenden Mädchen der Reihe nach anblickte. »Der Segen der heiligen Jungfrau komme über euch, meine Töchter.«
Mit diesen Worten verschwand er durch das Pförtchen, und die Schwestern, die in das Haus eilten, ließen sich an diesem Tage nicht mehr blicken.
Aber die Natur lachte trotz des Stirnrunzelns der Priester. Die Sonne schien hell und klar am nächsten Tage, wie auch am zweiten und dritten. Die fünf Schwestern lustwandelten nach wie vor im Morgenrot und in der sanften Ruhe des Abends, oder vertrieben sich die Zeit mit Arbeit und heiterer Unterhaltung in ihrem friedlichen Garten.
Die Zeit entschwand einem Märchen gleich, das erzählt ist, – schneller sogar, als manche Geschichten sich erzählen lassen, unter die, wie ich fürchte, auch die gegenwärtige gehört. Das Haus der fünf Schwestern stand noch immer an derselben Stelle, und dieselben Bäume warfen ihren lieblichen Schatten auf den Rasen des Gartens. Auch die Schwestern waren da, liebenswürdig wie ehedem, aber in ihrer Wohnung hatte sich gar vieles verändert. Man vernahm bisweilen Waffenlärm, und der Mond beleuchtete stählerne Helme. Ein andermal sprengten abgehetzte Rosse vor das Tor, und eine weibliche Gestalt glitt rasch hervor, als harrte sie neugierig der Kunde, die der ermüdete Bote brachte. Einmal übernachtete ein stattlicher Zug von Rittern und Damen in den Mauern der Abtei, und am nächsten Morgen ritten sie mit zweien der schönen Schwestern wieder fort. Dann begannen die Reiter sich seltner zu zeigen, und wenn sie kamen, schienen sie nur böse Nachrichten zu bringen. Endlich blieben sie ganz aus, und Bauern mit wunden Füßen schlichen sich nach Sonnenuntergang an die Tür, um heimlich ihre Botschaft zu bestellen. Einmal wurde in stiller Mitternacht eilig ein Diener nach der Abtei geschickt, und als der Morgen kam, hörte man Jammerlaute und Wehegeschrei in der Wohnung der Schwestern. Dann umfing die Stille des Grabes das Haus, und weder Ritter noch Dame, weder Roß noch Rüstung wurden je wieder in der Nähe desselben gesehen.
Ein unheimliches Düster umflorte den Himmel, und die Sonne war zürnend untergegangen, die dunklen Wolken mit den letzten Spuren ihres Grolles färbend, als derselbe schwarze Mönch, einen Steinwurf weit von der Abtei entfernt, mit übereinandergeschlagenen Armen einherging. Die Bäume und Gesträuche ließen ihre Zweige sinken, und der Wind, der endlich die unnatürliche Stille, die den ganzen Tag über geherrscht hatte, zu unterbrechen begann, seufzte hin und wieder schwer auf, als wolle er mit Wehmut die Verheerungen des kommenden Sturmes voraussagen. Die Fledermaus flatterte in gespenstigen Kreisen durch die schwüle Luft, und der Boden wimmelte von kriechendem Gewürm, das der Instinkt an die Oberfläche brachte, um sich an dem kommenden Regen zu erquicken.
Die Augen des Mönches waren nicht mehr zur Erde gesenkt; er warf sie frei umher und ließ sie von einer Stelle zur andern schweifen, als ob das Düster und die Verödung der Szene einen raschen Anklang in seiner eigenen Brust fände. Er blieb wieder vor der Gartenmauer des Hauses der Schwestern stehen und trat abermals durch das Pförtchen.
Aber jetzt begegnete sein Ohr keinem frohen Gelächter, und sein Auge traf nicht auf die schönen Gestalten der fünf Schwestern; alles war stumm und öde. Die Zweige der Bäume waren niedergebogen und zerbrochen, und das Gras wucherte hoch und wild auf dem Boden. Ach, so viele, viele Tage hatte es kein leichter Fuß niedergetreten!
Mit der Unempfindlichkeit oder Gleichgültigkeit eines Mannes, der an den Wechsel gewöhnt ist, glitt der Mönch in das Haus und trat in ein niederes, düsteres Gemach. Hier saßen vier Schwestern. Ihre schwarzen Gewänder ließen ihre bleichen Gesichter noch blasser erscheinen. Zeit und Kummer hatten tiefe Spuren der Verheerung auf denselben zurückgelassen. Es waren noch immer stattliche Gestalten, aber die Wärme und der Stolz jugendlicher Schönheit war dahin.
Und Alice – wo war sie? Im Himmel!
Der Mönch – selbst der Mönch – konnte sich hier einigen Schmerzes nicht erwehren; denn die Schwestern hatten sich lange nicht zusammengefunden, und in ihren bleichen Gesichtern zeigten sich Furchen, wie sie die Zeit allein nicht eingraben konnte. Er setzte sich schweigend nieder und winkte ihnen, ihr Gespräch fortzusetzen.
»Hier sind sie, Schwestern«, sagte die Älteste mit bebender Stimme. »Ich habe es seitdem nicht vermocht, sie wieder anzusehen, und ich schäme mich jetzt meiner Schwäche. Liegt denn etwa in der Erinnerung an die Schwester, was wir scheuen müßten? Sollte es uns jetzt nicht eher eine wehmütige Lust gewähren, die Tage der Vergangenheit uns ins Gedächtnis zurufen?«
Sie warf bei diesen Worten einen Blick auf den Mönch, öffnete ein Gemach und brachte fünf Stickrahmen zum Vorschein, daran die Arbeit längst vollendet war. Ihr Schritt war fest, aber ihre Hand zitterte, als sie den letzten vorzeigte. Die andern Schwestern machten bei dem Anblick desselben ihren Gefühlen durch Tränen Luft, und die Älteste vereinigte die ihrigen damit und sprach schluchzend: »Gottes Frieden sei mit ihr!«
Der Mönch stand auf und trat ihnen näher.
»Es war wohl der letzte Gegenstand, den sie in den Tagen ihrer Gesundheit berührte«, sagte er mit leiser Stimme.
»Er war’s«, sprach die Älteste, bitterlich weinend.
Der Mönch wandte sich an die zweite Schwester.
»Der tapfere Jüngling, der dir ins Auge blickte und an jedem deiner Atemzüge hing, als er dich zuerst mit diesem Tand beschäftigt sah, liegt unter dem Rasen begraben, den sein Blut rötete. Rostige Bruchstücke einer sonst so herrlich glänzenden Rüstung liegen zerfressen auf dem Boden und sind von seinen eigenen Überresten so wenig zu unterscheiden wie in Moder verfallene Gebeine.«
Die Dame seufzte und rang die Hände.
»Die Schlauheit der Höfe«, fuhr er gegen die beiden andern Schwestern fort – »führte euch aus eurer friedlichen Heimat zu Schauplätzen des Prunkes und der Lust. Dieselbe Arglist und der nie rastende Ehrgeiz stolzer, übermütiger Männer hat euch als verwitwete Jungfrauen entehrt und gedemütigt zurückgeschickt. Spreche ich wahr?«
Das Schluchzen der beiden Schwestern war die einzige Antwort.
»Warum wollt ihr« – fuhr der Mönch mit vielsagendem Blicke fort – »eure Zeit mit einem Tand vergeuden, der nur die bleichen Geister entschwundener Hoffnungen heraufbeschwört? Begrabt sie, bringt sie durch Reue und Buße zur Ruhe und laßt sie die Mauern eines Klosters umschließen.«
Die Schwestern baten um drei Tage Bedenkzeit, und es war ihnen in jener Nacht, als ob der Schleier in der Tat das passendste Leichentuch für ihre hingestorbenen Freuden wäre. Aber der Morgen kam, und obgleich die Zweige der Bäume herniederhingen oder auf dem Boden umherlagen, so war es doch noch derselbe Garten. Das Gras war dicht und hoch, aber sie fanden doch noch die Stelle, auf der sie so oft beieinander gesessen hatten, als sie Wechsel und Kummer nur dem Namen nach kannten. Alle die Pfade und Ecken waren noch vorhanden, denen Alices heiterer Sinn Leben verliehen hatte, und in dem Schiff der Klosterkirche lag ein flacher Stein, unter dem sie im Frieden schlummerte.
Und konnten sie, wenn sie sich erinnerten, wie Alices Herz bei dem Gedanken an Klostermauern erbebte – konnten sie in Gewändern auf ihr Grab blicken, die sogar die Asche in demselben noch verletzt haben würden? Konnten sie in dem Niedersinken bei klösterlichen,Gebeten, selbst wenn der ganze Himmel sich ihnen aushorchend zugeneigt hätte, den tiefen Schatten der Trauer über das Antlitz eines Engels bringen? – Nein!
Sie sandten nach den berühmtesten Künstlern und ließen, als sie die Genehmigung der Kirche zu ihrem frommen Werk erlangt hatten, mit kostbarem buntem Glase eine Kopie ihrer Stickereien in fünf großen Feldern ausführen. Diese wurden einem großen Fenster, das bisher ohne allen Schmuck gewesen war, eingepaßt, und wenn die Sonne prachtvoll leuchtete, wie es die Schwestern ehedem so gerne gesehen hatten, so strahlten die liebgewonnenen Bilder in ihren ursprünglichen Farben und warfen ihren schimmernden Lichtstrom warm auf den Namen Alice.
Die Schwestern gingen jeden Tag viele Stunden langsam in dem Schiff der Kirche auf und ab oder knieten an der Seite des breiten, flachen Steines nieder. Im Verlaufe der Jahre sah man nur noch drei, dann zwei und endlich nur noch eine einzige Frauengestalt. diese aber von Alter gebeugt, an dem gewohnten Art. Endlich blieb auch sie aus, und der Stein trug einfach fünf Taufnamen.
Man hat den Stein weggenommen und durch einen andern ersetzt, und manche Generation wurde seitdem geboren und wieder zu Grabe getragen. Die Zeit hat die Farben gebleicht, aber derselbe Lichtstrom fällt noch auf das vergessene Grab, das durch kein Denkmal mehr angezeigt ist; und bis auf den heutigen Tag zeigt man dem Volk in der Kathedrale zu York ein altes Fenster, das den Namen: » Die fünf Schwestern« trägt.
»Das ist eine trübselige Geschichte«, sagte der Herr mit dem heiteren Gesicht, indem er sein Glas leerte.
»Es ist eine Geschichte nach dem Leben, wie denn überhaupt unser Erdenwallen eine Kette derartiger Leiden ist«, entgegnete der andere höflich, aber mit einem ernsten und traurigen Tone der Stimme.
»Jedes gute Gemälde hat seine Schattenflächen, aber auch seine Lichtseiten, wenn wir sie nur suchen wollen«, sagte der Herr mit dem heiteren Gesicht. »Die jüngste Schwester in Ihrer Erzählung war immer frohen Sinnes.«
»Und starb früh«, entgegnete der andere weich.
»Sie würde wohl früher gestorben sein, wenn sie weniger glücklich gewesen wäre«, erwiderte der erste Sprecher mit Gefühl. »Glauben Sie, die Schwestern, die sie so sehr liebten, hätten sich weniger gegrämt, wenn ihr Leben reich an Schmerz und Trübsal gewesen wäre? Wenn irgend etwas den ersten Schmerz eines schweren Verlustes sänftigen kann, so ist es meiner Ansicht nach der Gedanke, daß diejenigen, um die wir trauern, in ihrem unschuldigen Glück, dessen sie sich hienieden erfreuten, und in der Liebe, mit der sie ihre Umgebung umfingen, für ein reineres und glücklicheres Dasein sich vorbereiteten. Verlassen Sie sich darauf, die Sonne scheint nicht auf diese Erde, um finstern Gesichtern zu begegnen.«
»Ich glaube. Sie haben recht«, sagte der Herr, der die Geschichte erzählt hatte.
»Glauben?« versetzte der andere. »Kann das wohl einem Zweifel unterliegen? Rufen Sie sich was immer für einen schmerzlichen Gegenstand ins Gedächtnis und sehen Sie, ob sich nicht auch viel Wonne daran knüpft. Dagegen kann die Erinnerung entschwundener Freuden schmerzlich werden –«
»Gewiß«, fiel der andere ein.
»Es ist eine bekannte Tatsache. Der Rückblick auf ein Glück, das unwiederbringlich dahin ist, erzeugt Schmerz, aber einen Schmerz milderer Art. Unsere Erinnerungen sind unglücklicherweise mit vielem gemischt, was wir beklagen, und mit manchen Handlungen, die wir bitter bereuen. Aber ich bin der festen Überzeugung, daß auch in dem getrübtesten Leben so viele kleine Sonnenstrahlen sind, auf die man zurückblicken kann, daß ich nicht glaube, irgendein Sterblicher, der sich nicht selbst alle Lichtblicke der Hoffnung abgeschnitten hat, würde mit Vorbedacht einen Trunk aus Lethes Strom tun, wenn er es auch könnte.«
»Ihre Ansicht ist vielleicht richtig«, sagte der grauhaarige Herr nach einem kurzen Nachdenken, »und ich bin nicht abgeneigt, Ihrer Meinung beizupflichten.«
»Je nun«, erwiderte der andere, »dann überwiegt das Gute, dem wir in unserm Erdenleben begegnen, das Schlimme, mögen auch die sogenannten Philosophen sagen, was sie wollen. Wenn unsere Gefühle auch manche Prüfungen erdulden müssen, so bleiben sie doch unser Trost und unsere Lust, wie denn auch die Erinnerung, selbst wenn sie noch so düster ist, die schönste und reinste Verbindung zwischen dieser und einer bessern Welt bildet. – Doch, fahren wir fort; ich will Ihnen ein Geschichtchen anderer Art erzählen.«
Nach einem kurzen Schweigen füllte der Herr mit dem heiteren Gesicht die Gläser der Anwesenden aufs neue mit Punsch, warf einen schlauen Blick nach der gezierten Dame, die sich mit der Besorgnis, es möchte irgend etwas Unschickliches erzählt werden, abzuängstigen schien, und nannte den Titel seiner Geschichte:
»Der Freiherr von Weinzapf«.
Der Freiherr von Weinzapf auf Zapfenburg war ein so liebenswürdiger junger Edelmann, wie man nur einen sehen kann. Ich habe nicht nötig zu sagen, daß er in einer Burg wohnte, weil sich das von selber versteht. Auch brauche ich nicht zu bemerken, daß er in einer alten Burg lebte; denn welcher deutsche Baron hat je in einer neuen gewohnt? Es standen viele sonderbare Umstände mit diesem ehrwürdigen Gebäude in Verbindung, und unter diesen war auch der nicht am wenigsten befremdende und geheimnisvolle, daß es, wenn der Wind blies, in den Schornsteinen orgelte oder durch die Bäume des naheliegenden Forstes heulte, und daß die Strahlen des Mondes durch gewisse kleine Öffnungen in der Mauer ihren Weg fanden und in der Tat einige Teile der weiten Hallen und Galerien hell erleuchteten, während andere in tiefem Schatten blieben. Ich glaube, daß einer von des Freiherrn Vorfahren, als es ihm an Geld gebrach, einen Herrn, der in einer Nacht hier ansprach, um nach dem Weg zu fragen, erdolchte, und man vermutete, daß diese wunderbaren Ereignisse eine Folge dieser Untat wären. Freilich kann ich mir die Möglichkeit davon kaum denken, denn der Ahnherr des Freiherrn war ein sehr achtbarer Mann, und seine übereilte Handlung ging ihm nachher sehr zu Herzen, weshalb er sich auch mit Gewalt einer Partie von Steinen und Bauholz bemächtigte, die einem schwächeren Baron gehörte, zur Sühne seines Vergehens eine Kapelle daraus baute und sich auf diese Weise eine Gesamtquittung für alle Forderungen, die der Himmel an ihn machen konnte, erwarb.
Da gerade von einem Vorfahren des Freiherrn die Rede ist, so darf ich nicht vergessen zu erwähnen, welche hohe Ansprüche auf Achtung der Erbe seinem Stammbaum verdankte. Es tut mir zwar leid, daß ich die Zahl seiner Ahnen nicht anzugeben vermag; jedenfalls aber weiß ich, daß er mehr hatte als irgendein anderer Mann seiner Zeit, und ich wünschte nur, daß er in unsern Tagen gelebt hätte, um sich einer noch größeren Anzahl rühmen zu können. Es ist überhaupt ein großes Unglück für die großen Männer vergangener Jahrhunderte, daß sie so früh geboren werden mußten, weil sich von einem Mann, der vor drei- oder vierhundert Jahren in die Welt trat, vernünftigerweise nicht erwarten läßt, daß er so viele Vorfahren aufzuweisen habe als einer, der in unsern Tagen lebt. Der letzte Mensch, wer er auch immer sein mag – und wäre er nur ein Schuhflicker oder sonst irgendein armseliger Tropf – wird einen längeren Stammbaum haben als ein Mann vom ältesten Adel in unsern Tagen; und das ist doch gewiß etwas, was von Rechts wegen nicht sein sollte.
Gut also: der Freiherr von Weinzapf auf Zapfenburg war ein hübscher, dunkelgebräunter Herr mit schwarzen Haaren und einem großen Schnurrbart, der in hellgrünen Kleidern, mit Juchtenstiefeln an den Füßen und einem Horn über seiner Schulter, ähnlich dem der englischen Postkutschenschaffner, auf die Jagd zu reiten pflegte. Wenn er in dieses Horn stieß, brachen sogleich vierundzwanzig andere Edelleute von untergeordnetem Range in etwas gröberer, grüner Tracht und etwas dicker besohlten Juchtenstiefeln auf und galoppierten in einem Trupp mit Spießen in den Händen, die lackierten Gitterstäben glichen, dahin, um Eber zu hetzen oder vielleicht einen Bären aufzutreiben, in welch letzterem Fall ihm der Freiherr zuerst den Genickfang gab und dann mit dem Fett desselben seinen Schnurrbart wichste.
Das war ein lustiges Leben für den Freiherrn von Weinzapf und ein noch lustigeres für seine Vasallen, die jede Nacht Rheinwein tranken, bis sie unter den Tisch fielen, wo sie dann noch auf dem Boden fortzechten und nach Pfeifen riefen. Nie gab es so muntere, lärmende, Scherz liebende Gesellen als Weinzapfs lustige Bande.
Aber die Freuden der Tafel oder die Freuden unter der Tafel fordern eine kleine Abwechslung, besonders wenn dieselben fünfundzwanzig Leute Tag für Tag unter demselben Tische liegen, über dieselben Gegenstände sprechen und dieselben Geschichten erzählen. Der Freiherr wurde es endlich satt und sah sich nach etwas Anregenderem um. Er fing daher mit seinen Kameraden Händel an und machte sich das schöne Vergnügen, zwei oder drei davon jedesmal nach dem Mittagessen mit den Füßen zu treten. So angenehm aber auch dieser Wechsel im Anfang war, so wurde er doch dem Freiherrn nach ungefähr einer Woche zu einförmig. Seine gute Laune wich, und so sah er sich denn in der Verzweiflung nach neuen Belustigungen um.
Eines Abends nach einer Jagd, in der er sogar Nimrod ausgestochen und abermals einen schönen Bären erlegt hatte, den er im Triumph nach Hause brachte, saß der Baron von Weinzapf übelgelaunt oben an seinem Tisch und betrachtete die rauchige Decke der Halle mit mißvergnügten Blicken. Er schüttete ungeheure Humpen Weines durch seine Kehle, aber je mehr er trank, desto finsterer wurde seine Stirn. Die Herren, die mit der gefährlichen Auszeichnung beehrt wurden, ihm zur Rechten und Linken zu sitzen, taten es ihm zum Wunder im Trinken gleich und warfen sich gleichfalls finstere Blicke zu.
»Ich will’s!« rief der Freiherr plötzlich, indem er mit der rechten Hand auf den Tisch schlug und mit der linken seinen Schnurrbart drehte. »Füllt die Humpen zu Ehren der Freifrau von Weinzapf!«
Die vierundzwanzig Grünröcke erblaßten, mit Ausnahme ihrer Nasen, die unverändert blieben.
»Ich brachte die Gesundheit der Freifrau von Weinzapf aus!« wiederholte der Freiherr, indem er die Blicke an dem Tische hingleiten ließ.
»Die Freifrau von Weinzapf!« brüllten die Grünen, und vierundzwanzig gewaltige Humpen von so herrlichem alten Gewächs flossen durch ihre vierundzwanzig Kehlen hinunter, so daß sie mit ihren achtundvierzig Lippen schnalzten und von neuem nach dem Fasse blinzten.
»Die schöne Tochter des Freiherrn von Schwillenhausen!« erklärte von Weinzapf herablassend. »Wir wollen sie von ihrem Vater zur Ehe begehren, ehe noch die Sonne morgen in ihr Bett steigt. Wenn er unsere Bewerbung zurückweist, so werden wir ihm die Nase abschneiden.«
Die Gesellschaft ließ ein wildes Hurra vernehmen, und jeder griff mit schrecklicher Bedeutsamkeit zuerst nach dem Hefte seines Schwertes und dann nach der Spitze seiner Nase.
Es ist doch etwas Schönes um den kindlichen Gehorsam! Hätte die Tochter des Freiherrn von Schwillenhausen von einem bereits verschenkten Herzen gesprochen oder sich ihrem Vater zu Füßen geworfen und diese mit Tränen gebadet, oder wäre sie nur in Ohnmacht gefallen und dem alten Herrn mit schrecklichen Gefühlsausbrüchen zu Leibe gegangen, so hätte man hundert gegen eins wetten können, daß Burg Schwillenhausen zum Fenster hinausgeworfen worden wäre, oder besser, daß der Freiherr aus dem Fenster geflogen und in der Burg alles darunter und darüber gegangen wäre. Das Freifräulein verhielt sich jedoch, als am nächsten Morgen ein Bote das Gesuch des Freiherrn von Weinzapf vorbrachte, ganz ruhig und zog sich bescheiden nach ihrem Kämmerlein zurück, von wo sie der Ankunft ihres Freiers und seines Gefolges entgegensah. Sie hatte sich kaum überzeugt, daß der Reiter mit dem großen Schnurrbart der Freier wäre, als sie sogleich zu ihrem Vater eilte und ihm ihre Bereitwilligkeit ausdrückte, sich für seinen Frieden zum Opfer zu bringen. Der ehrwürdige Baron umarmte sein Kind und vergoß eine Freudenträne.
Auf der Burg war an diesem Tage ein großes Bankett. Weinzapfs vierundzwanzig Grüne tauschten das Gelübde ewiger Freundschaft mit zwölf Grünen des von Schwillenhausen aus und versprachen dem alten Freiherrn, daß sie von seinem Weine trinken wollten, »bis alles blau wäre« – was wahrscheinlich soviel sagen sollte, bis ihre Gesichter dieselbe Farbe erhalten hätten wie ihre Nasen. Als die Zeit des Aufbruchs kam, klopften sich alle gegenseitig auf die Schulter, und der Freiherr von Weinzapf ritt mit seinem Gefolge frohen Muts nach Hause.
Sechs sterbenslange Wochen hatten die Bären und Eber Feiertage. Die Häuser von Weinzapf und Schwillenhausen waren vereinigt, die Spieße rosteten, und das Horn des Freiherrn wurde heiser, weil es nicht mehr geblasen wurde.
Das waren glückliche Tage für die vierundzwanzig; aber ach, diese glorreiche Zeit hatte bereits Stiefeln angezogen und war im Begriff, sich auf und davon zu machen.
»Mein Bester«, sagte die Freifrau.
»Meine Liebe«, sagte der Freiherr.
»Diese rohen, lärmenden Menschen –«
»Welche?« fragte der Freiherr auffahrend.
Die Freifrau deutete aus dem Fenster, an dem sie mit ihrem Gemahl stand, nach dem Hof hinunter, wo die nichtsahnenden Grünen im Steigbügel noch einen guten Schluck zu sich nahmen, um sich für die Eberhetze zu stärken.
»Mein Jagdgefolge?« fragte der Baron.
»Entlasse sie, mein Bester«, flüsterte die Freifrau.
»Sie entlassen?« rief der Freiherr erstaunt.
»Mir zu Gefallen, mein Lieber«, versetzte die Baronesse.
»Dem Teufel zu Gefallen!« antwortete der Baron.
Die Freifrau stieß hierauf einen lauten Schrei aus und sank ohnmächtig zu den Füßen des Freiherrn nieder.
Was konnte der Freiherr tun? Er rief nach der Kammerfrau, eilte in den Hof hinunter, trat zwei der Grünen, die am meisten daran gewöhnt waren, mit den Füßen, verwünschte die übrigen der Reihe nach und hieß alle zum – – doch es ist gleichgültig, wohin er sie gehen hieß.
Ich halte es nicht für meinen Beruf, anzudeuten, welcher Mittel und Wege sich manche Frauen bedienen, die Männer ihrem Regiment in einer Weise zu unterwerfen, wie sie es tun, obgleich ich meine eigene Meinung über diesen Gegenstand haben mag und vollkommen der Ansicht bin, daß kein Parlamentsmitglied verheiratet sein sollte, da unter vier Verheirateten immer drei nach dem Gewissen ihrer Weiber (wenn sie anders eines haben) und nicht nach ihrem eigenen votieren, weil sie so votieren müssen. Ich brauche hier nichts weiter zu sagen, als daß die Freifrau von Weinzapf so oder so eine große Gewalt über den Freiherrn auf Zapfenburg gewann, und daß der Baron allmählich mehr und mehr bei irgendeiner strittigen Frage den kürzeren zog oder schlau aus dem Sattel irgendeines alten Steckenpferdes geworfen wurde. Nach und nach war er ein wohlgenährter und rüstiger Achtundvierziger und hatte weder Gelage noch Jagden – kurz nichts mehr, was ihm sonst Freude machte, oder was er zu haben gewöhnt war. Er war zwar immer noch unbändig wie ein Löwe und starr wie Erz. Demungeachtet aber hatte ihn entschieden seine Frau auf seinem eigenen Schlosse gemeistert und zu Paaren getrieben.
Das war jedoch nicht der ganze Umfang von dem Mißgeschick des Freiherrn. Ungefähr ein Jahr nach seiner Vermählung kam ein lustiger junger Freiherr in die Welt, dem zu Ehren ein großes Feuerwerk abgebrannt und eine Unmasse von Wein getrunken wurde. Aber im nächsten Jahr kam ein kleines Freifräulein, das Jahr darauf wieder ein junger Freiherr, und so abwechselnd jedes Jahr ein Freiherr oder ein Freifräulein, in einem Jahr sogar beides zumal, bis der Baron Vater einer kleinen Familie von zwölf Kindern war. Bei jedem dieser jährlichen Ereignisse war die verehrliche Freifrau von Schwillenhausen in tausend Nöten wegen des Wohls ihres Kindes, der Freifrau von Weinzapf, und obwohl man nicht finden konnte, daß die gute Dame etwas Wesentliches zu der Genesung ihres Kindes beitrug, so machte sie sich’s doch zu einer Ehrensache, auf der Burg Zapfenburg so bekümmert wie möglich zu tun und ihre Zeit zwischen moralischen Bemerkungen über des Barons Haushalt und Klagen über das harte Schicksal ihrer unglücklichen Tochter zu teilen. Wenn dann der Freiherr von Weinzapf sich dadurch ein wenig gekränkt fühlte und sich ein Herz zu der Gegenbemerkung faßte, daß seine Gattin wenigstens nicht übler daran sei als die Frauen anderer Barone, so rief die Baronesse von Schwillenhausen alle Welt zum Zeugen auf, daß niemand als sie ein Mitgefühl für die Leiden ihrer lieben Tochter hätte, worauf natürlich alle ihre Verwandten und Freunde bemerkten, daß sie jedenfalls weit mehr Tränen vergösse als ihr Schwiegersohn, und daß es keinen hartherzigeren Unmenschen gäbe als den Freiherrn von Weinzapf.
Der arme Freiherr ertrug dies alles, solange er konnte, und als er es nicht länger vermochte, verlor er Appetit und Heiterkeit und setzte sich düster und niedergeschlagen in eine Ecke. Aber es stand ihm noch Schlimmeres bevor, und als dieses kam, vermehrte sich seine Schwermut. Die Zeiten änderten sich, und er geriet in Schulden. In Weinzapfs Kassen ging es auf die Neige, obgleich die Familie Schwillenhausen sie für unerschöpflich gehalten hatte, und als die Freifrau im Begriff war, den Stammbaum des Hauses mit einem dreizehnten Sproß zu vermehren, machte der Freiherr die betrübende Entdeckung, daß er keine Mittel besäße, die Kassen wieder zu füllen.
»Ich sehe nicht, was ich weiter tun kann«, sagte der Freiherr. »Es wird wohl das beste sein, wenn ich mich umbringe.«
Das war ein großartiger Gedanke. Der Freiherr nahm ein altes Jagdmesser aus einem Wandschrank, wetzte es an seiner Stiefelsohle und fuhr damit nach seiner Kehle.
»Hm!« sagte der Baron innehaltend; »vielleicht ist es nicht scharf genug.«
Der Freiherr wetzte es abermals und machte einen zweiten Versuch, aber er wurde wieder durch ein lautes Schreien der jungen Freiherren und Freifräulein gestört, deren Stube sich eine Treppe höher in einem Turme befand, dessen Fenster von außen mit Eisenstäben verwahrt waren, damit die hoffnungsvolle Jugend nicht in den Graben hinunterpurzle.
»Wäre ich ein Junggeselle«, sagte der Freiherr seufzend, »so hätte ich’s wohl fünfzigmal tun können, ohne eine Störung erleiden zu müssen. – Heda! bringt mir eine Flasche Wein und die größte Pfeife in das kleine Zimmer hinter der Halle.«
Einer der Dienstboten führte den Befehl des Freiherrn gar dienstfertig im Verlauf einer halben Stunde oder drüber aus, und der Freiherr ging, als er davon Nachricht erhielt, nach dem gewölbten Zimmer, dessen schwarzgetäfelte und polierte Wände von dem Feuer des im Kamin lodernden Holzstoßes widerstrahlten, Flasche und Pfeife waren bereit, und der Ort sah im ganzen recht behaglich aus.
»Laß die Lampe da«, sagte der Freiherr.
»Steht sonst noch etwas zu Befehl, gnädiger Herr?« fragte der Diener.
»Nichts, als daß du das Zimmer räumst«, erwiderte der Freiherr.
Der Diener gehorchte, und der Baron verschloß die Tür.
»Ich will noch meine letzte Pfeife rauchen«, sagte der Freiherr, »und dann der Welt Lebewohl sagen.«
Mit diesen Worten legte der Herr von Weinzapf das Messer auf den Tisch, bis er es brauchen würde, goß ein ziemliches Quantum Wein hinunter, warf sich in seinem Stuhl zurück, streckte seine Füße vor dem Feuer aus und blies tüchtige Rauchwolken von sich.
Er machte sich allerlei Gedanken über seine gegenwärtige Trübsal, über die entschwundenen Tage seines Junggesellenlebens und über die vierundzwanzig Grünröcke, die sich seitdem nach allen vier Himmelsgegenden zerstreut hatten, ohne wieder etwas von sich hören zu lassen, zwei ausgenommen, denen unglücklicherweise der Kopf abgeschlagen worden war, und vier, die durch ihr Trinken sich selbst unter den Boden gebracht hatten. Sein Geist war mit Bären und Ebern beschäftigt, und er hatte eben sein Glas angesetzt, um es bis auf den Boden zu leeren, als er auf einmal mit grenzenlosem Erstaunen bemerkte, daß er nicht allein sei.
Er war auch wirklich nicht allein; denn an der entgegengesetzten Seite des Feuers saß mit verschlungenen Armen eine runzlige, greuliche Gestalt mit tief eingesunkenen, blutunterlaufenen Augen und einem ungemein langen, leichenhaften Gesicht, das durch verfilztes und struppiges schwarzes Haar beschattet wurde. Sie trug ein einfaches Kleid von einer dunklen, ins Blaue spielenden Farbe, das, wie der Freiherr bei aufmerksamer Betrachtung bemerkte, vorn von oben bis unten mit Sarggriffen verziert und zusammengeheftet war. Auch ihre Beine waren, statt in die Schienen einer Rüstung, in Sargschilder eingeschlossen, und über der linken Schulter trug sie einen kurzen, dunklen Mantel, der aus dem Überrest eines Sargtuches gemacht zu sein schien. Sie achtete des Freiherrn nicht, sondern blickte unablässig ins Feuer.
»Heda!« sagte der Freiherr, mit dem Fuß stampfend, um sich bemerklich zu machen.
»Nun, was gibt’s?« versetzte der Fremde, indem er wohl seine Augen, nicht aber sein Gesicht oder seine Person dem Freiherrn zuwandte.
»Was es gibt?« fuhr der Freiherr fort, dem die hohle Stimme und die glanzlosen Augen keine Furcht einzujagen vermochten. »Diese Frage steht eigentlich mir zu; wie bist du hierher gekommen?«
»Durch die Tür«, entgegnete die Gestalt.
»Wer bist du?« fragte der Freiherr.
»Ein Mensch«, antwortete die Gestalt.
»Das glaube ich nicht«, erwiderte der Freiherr.
»So laß es bleiben«, sagte die Gestalt.
»Das will ich«, versetzte der Freiherr.
Die Gestalt blickte den kühnen Baron von Weinzapf eine Weile an und sagte dann vertraulich:
»Ich sehe wohl, daß du dich nicht täuschen läßt. Ich bin kein Mensch.«
»Was bist du denn?« fragte der Freiherr.
»Ein Engel«, antwortete die Gestalt.
»Du siehst nicht gerade wie ein solcher aus«, meinte der Freiherr verächtlich.
»Ich bin der Engel der Verzweiflung und des Selbstmordes«, sagte die Erscheinung. »Nun kennst du mich.«
Mit diesen Worten wandte sich das Gespenst gegen den Freiherrn, als wollte es erst jetzt recht mit ihm sprechen. Es war übrigens höchst bemerkenswert, daß es seinen Mantel beiseite warf und einen Pfahl sehen ließ, der ihm mitten durch den Leib geschlagen war1: diesen zog es mit einem Ruck heraus und legte ihn so kaltblütig auf den Tisch, als ob er ein Spazierstock gewesen wäre.
»Nun«, sagte das Gespenst, nach dem Jagdmesser schielend, »bist du für mich bereit?«
»Noch nicht ganz«, antwortete der Freiherr. »Ich muß zuvor diese Pfeife ausrauchen.«
»So mache schnell«, sagte die Gestalt.
»Du scheinst es sehr eilig zu haben«, entgegnete der Freiherr.
»Das ist allerdings der Fall«, versetzte die Gestalt. »In Frankreich und England bin ich zurzeit überaus beschäftigt, so daß meine Zeit sehr in Anspruch genommen ist.«
»Trinkst du?« fragte der Freiherr, die Flasche mit dem Pfeifenkopf berührend.
»In neun Fallen unter zehn, und dann tüchtig«, erwiderte das Gespenst trocken.
»Niemals mit Maß?« fragte der Baron.
»Niemals«, antwortete die Gestalt mit einem Schauder; »das würde Heiterkeit erzeugen.«
Der Freiherr betrachtete seinen neuen Freund abermals und meinte, daß er ein gar seltsamer Kauz wäre. Endlich fragte er ihn, ob er in so kleinen Angelegenheiten, wie er (der Baron) gerade eine im Schild führe, auch einen tätigen Anteil nehme.
»Nein«, antwortete das Gespenst ausweichend; »aber ich bin immer zugegen.«
»Um zu sehen, daß alles in Ordnung zugeht, denke ich?« fragte der Freiherr.
»Ja«, versetzte der Geist, indem er mit seinem Pfahl spielte und den Eisenbeschlag desselben untersuchte. »Aber mache jetzt so schnell, wie du kannst, denn ich wittere, daß ein junges Herrlein, das mit zuviel Geld und Muße geplagt ist, gegenwärtig meiner bedarf.«
»Wie? er will sich umbringen, weil er zuviel Geld hat?« rief der Baron, nicht wenig gekitzelt; »ha! ha! das ist ein seltsamer Gedanke!« – Es war wieder das erste Lachen, das man seit manchem langen Tag an dem Baron bemerken konnte.
»Ich muß dir bedeuten«, erklärte ihm der Geist mit einer sehr gekränkten Miene, »daß du mir dies in Zukunft unterläßt.«
»Warum?« fragte der Freiherr.
»Weil es mir bis ins Mark schneidet«, antwortete die Gestalt. »Seufze, so viel du willst; das tut mir wohl.«
Der Freiherr seufzte unwillkürlich bei der Erwähnung dieses Wortes; das Gespenst wurde wieder heiter und händigte ihm mit der gewinnendsten Höflichkeit das Jagdmesser ein.
»In der Tat, es ist kein übler Gedanke, sich den Hals abzuschneiden, weil man zu viel Geld hat«, sagte der Baron, indem er die Schneide seines Messers prüfte.
»Bah!« meinte die Erscheinung, »nicht schlimmer, als wenn sich jemand umbringt, weil er wenig oder keines hat.«
Sprach der Geist aus Unachtsamkeit so, oder hielt er den Entschluß des Freiherrn für so fest begründet, daß er sich nichts mehr um solche hingeworfene Worte kümmerte? – ich habe es nicht ausfindig machen können. Nur so viel weiß ich, daß der Freiherr seine Hand plötzlich anhielt, die Augen weit öffnete und ganz so aussah, als sei ihm zum erstenmal ein neues Licht aufgegangen.
»Ei, in der Tat«, sagte von Weinzapf; »nichts ist so schlimm, daß es sich nicht wieder gutmachen ließe.«
»Leere Kassen ausgenommen«, sagte das Gespenst.
»Je nun, sie lassen sich wieder füllen«, meinte der Freiherr.
»Keifende Weiber«, schnarrte ihn der Geist an.
»Oh, auch diese lassen sich zähmen«, entgegnete der Freiherr.
»Dreizehn Kinder«, brüllte der Geist.
»Können gewiß nicht alle mißraten«, erwiderte der Freiherr.
Der Geist wurde augenscheinlich ganz wütend über den Freiherrn, daß er auf einmal seine Ansichten so ganz und gar geändert hatte, aber er versuchte es, seinen Grimm wegzulachen, und sagte, »er würde sich dem Baron sehr verpflichtet fühlen, wenn er mit seinen Scherzreden aufhören wollte.«
»Es ist mir nie weniger eingefallen zu scherzen als gegenwärtig«, versetzte der Freiherr.
»Nun, es freut mich, das zu hören«, sagte das Gespenst mit einer äußerst grämlichen Miene, »denn der Scherz ist im eigentlichsten Sinne mein Tod. Wohlan denn, so gib sie rasch auf, diese traurige Welt.«
»Ich weiß nicht«, sagte der Freiherr, mit dem Messer spielend; »sie ist allerdings sehr traurig, aber ich glaube nicht, daß die deine viel besser ist; denn dein Aussehen wenigstens ist nicht besonders tröstlich, und da meine ich – welche Sicherheit habe ich denn dafür, daß ich besser daran sein werde, wenn ich aus dieser Welt gehe?« rief er aufspringend; »ich habe die Sache nie in diesem Lichte betrachtet.«
»Beeile dich!« rief das Gespenst, mit den Zähnen knirschend.
»Weiche von hinnen«, sagte der Freiherr. »Ich will nicht länger über meinem Unglück brüten, sondern eine gute Miene dazu machen und es wieder mit der frischen Luft und den Bären versuchen. Hilft das nicht, so will ich ein vernünftiges Wörtlein mit der gnädigen Frau sprechen und die Schwillenhausen totschlagen.«
Mit diesen Worten sank der Freiherr in seinen Stuhl zurück und lachte so laut, daß das Zimmer dröhnte.
Das Gespenst wich um einige Schritte zurück, indem es zugleich den Freiherrn mit einem Blick des größten Entsetzens betrachtete. Dann griff es wieder nach dem Pfahl, stieß ihn sich mit aller Macht durch den Leib, heulte fürchterlich und verschwand.
Von Weinzapf sah den Geist nie wieder. Da er einmal entschlossen war zu handeln, so brachte er die Freifrau und die von Schwillenhausen bald zur Vernunft und starb viele Jahre nachher, wenigstens als ein glücklicher, wenn auch nicht als ein reicher Mann, obschon ich in letzterer Hinsicht keine bestimmte Auskunft zu geben vermag. Er hinterließ eine zahlreiche Familie, die unter seiner persönlichen Aufsicht zur Bären- und Eberjagd herangebildet worden war.
Die Nutzanwendung meiner Geschichte besteht darin, daß alle Männer, die aus ähnlichen Ursachen melancholisch geworden sind – was wohl bei gar vielen der Fall sein mag –, beide Seiten der Frage betrachten und an die bessere ein Vergrößerungsglas halten sollten. Fühlen sie sich dann noch versucht, sich ohne Abschied aus der Welt zu machen, so mögen sie vorher noch eine große Pfeife rauchen, eine Flasche Wein austrinken und aus dem lobenswerten Beispiel des Freiherrn v. Weinzapf Nutzen ziehen.
»Der neue Wagen ist bereit! Wenn´s gefällig ist, meine Herren und Damen –« rief ein neuer Postillion in das Zimmer.
Diese Kunde bewirkte, daß die Punschgläser in großer Eile geleert wurden, und verhinderte eine Besprechung der letzten Geschichte. Man bemerkte jedoch, daß Herr Squeers, ehe man aufbrach, den grauhaarigen Herrn angelegentlich beiseite zog, um ihm eine Frage vorzulegen. Sie bezog sich auf die fünf Schwestern von York und war in der Tat nichts weiter als eine Erkundigung, ob der Herr ihm nicht sagen könne, wieviel Pensionsgeld die Klöster von Yorkshire sich in jener Zeit von ihren Kostgängern hätten zahlen lassen.
Die Reise wurde wieder fortgesetzt. Nicolaus schlief gegen Morgen ein, und als er wieder erwachte, fand er zu seinem großen Leidwesen, daß während seines Schlummers beide, der Baron von Weinzapf und der grauhaarige Herr, ausgestiegen und davongegangen waren. Der Tag schleppte sich langweilig genug hin, und ungefähr abends gegen sechs Uhr wurden Herr Squeers, der Hilfslehrer, die Knaben und das gesamte Gepäck vor dem neuen Gasthof zum Georg in Greta Bridge abgesetzt.