Das Boarding-Haus

I

Mrs. Tibbs war ohne alle Frage die netteste, beweglichste, wirtschaftlichste kleine Frau, die jemals den Londoner Rauch einatmete, und ihr Haus in der großen Coramstraße ein wahres Schmuckkästchen. Die Tritte vor dem letzteren, die Haustür, der Türgriff, der Klopfer, das Schild mit Mrs. Tibbs‘ Namen wurden so oft und anhaltend gewaschen, gescheuert und geputzt, daß man sich wundern mußte, daß das Holz und die Steine nicht ganz weggewaschen waren und daß das Messing durch die beständige Reibung noch niemals Feuer gefangen hatte. Die ganze innere Einrichtung war die artigste und sauberste, die man sich nur denken mochte; man konnte sich in den Tischplatten spiegeln, und hell glänzte alles und jedes bis herunter zu den Haken auf der Treppe, die zur Befestigung der Fußteppiche dienten.

Mrs. Tibbs war klein und Mr. Tibbs nichts weniger als ein großer Mann. Er hatte außerdem sehr kurze Beine; indes war dafür sein Gesicht, gleichsam zur Entschädigung, besonders lang. Er war im Verhältnis zu seiner Frau, was die Null in der Zahl neunzig ist – hatte einige Bedeutung mit ihr – war nichts ohne sie. Mrs. Tibbs sprach fortwährend, Mr. Tibbs redete nur selten; sooft es aber möglich war, ein Wort einfließen zu lassen, tat er es, meistens gerade dann, wenn er hätte ganz stillschweigen sollen. Mrs. Tibbs konnte schlechterdings keine langen Geschichten leiden, und Mr. Tibbs hatte eine solche, deren Schluß jedoch selbst seine vertrautesten Freunde niemals gehört hatten. Sie fing stets an mit den Worten: »Ich entsinne mich, als ich im Jahre eintausendachthundertundsechs unter den Freiwilligen diente« – allein, da er langsam und leise und seine Ehehälfte sehr rasch und laut sprach, so gelang es ihm selten, über den Anfang hinauszukommen. Er war daher der traurigste Erzähler von der Welt, der ewige Jude der Anekdotenjägerei, unermüdlich, stets von vorn beginnend und gemieden von jedermann.

Mr. Tibbs genoß eine kleine Pension von jährlich 43 Pfund, und Mrs. Tibbs hatte 700 Pfund ererbt. Da das Ehepaar hiervon natürlich nicht leben konnte, so war Mrs. Tibbs darauf verfallen, ein Boarding-Haus einzurichten. Sie hatte die große Coramstraße, nicht weit vom Britischen Museum und Somers Town, erwählt, zwei Mägde und einen Laufjungen in Dienst genommen, und durch die Blätter dem Publikum verkündigt, »daß sechs Personen in einem geselligen, musikalischen Privathause und im Kreise einer erlesenen Familie, wohnhaft zehn Minuten von überall, allen zu wünschenden Komfort finden würden«. Der Erfolg war gewesen, daß drei Herren eingezogen waren und sich eine Dame mit zwei Töchtern geneigt zur Vermehrung – nicht ihrer eigenen – sondern der Familie Tibbs gezeigt hatte.

»Welch eine reizende Frau Mrs. Maplesone ist!« bemerkte Mrs. Tibbs, als sie mit ihrem Gatten nach dem Frühstück am Kamin saß und die drei Herren ausgegangen waren. »Welch eine herrliche Frau!« wiederholte sie, mehr im Selbstgespräch, als zu Mr. Tibbs redend, denn sie kümmerte sich nicht von fern um die Meinung ihres Mannes. »Die beiden Töchter sind gleichfalls höchst liebenswürdige Mädchen. Wir müssen heute Fisch haben; sie speisen zum ersten Male bei uns.«

Mr. Tibbs öffnete den Mund zum Reden, erinnerte sich jedoch, daß er nichts zu sagen hatte.

»Die jungen Damen«, fuhr Mrs. Tibbs fort, »haben sich freundlich und freiwillig erboten, ihr eigenes Piano mitzubringen.«

Tibbs dachte an seine Geschichte aus der Zeit, als er unter den Freiwilligen diente, wagte jedoch nicht, damit zum Vorschein zu kommen. Er hatte dagegen einen glänzenden Gedanken. »Es ist sehr wahrscheinlich«, sagte er –

»Sei so gut, deinen Kopf nicht an die Tapete zu lehnen«, unterbrach ihn Mrs. Tibbs, »und bleib mit den Füßen von dem stählernen Kamingitter, was noch ärger ist.«

Tibbs richtete den Kopf empor, zog die Füße zurück und fuhr fort: »Es ist sehr wahrscheinlich, daß eine der jungen Damen ihr Netz nach dem jungen Mr. Simpson auswerfen wird, und so könnte ein eheliche Verbindung –«

»Ich muß bitten, daß du von dergleichen stillschweigst«, fiel ihm Mrs. Tibbs in das Wort. »Eine eheliche Verbindung – mich wundert’s doch! Daß ich meine Kostgänger verlöre! Daraus wird nichts.«

Tibbs dachte, daß es trotzdem keineswegs unwahrscheinlich wäre, schwieg jedoch, da er niemals mit seiner Frau disputierte, und bemerkte, daß es Zeit sei, »ins Geschäft zu gehen«. Er ging an allen Wochentagen um zehn Uhr morgens aus und kehrte um fünf Uhr nachmittags mit einem äußerst schmutzigen Gesicht und sehr muffig riechend zurück. Niemand wußte, wohin er ging; allein Mrs. Tibbs pflegte mit sehr wichtiger Miene zu sagen, daß er in der City beschäftigt sei.

Die liebenswürdigen Misses Maplesone und die reizende Mrs. Maplesone langten am Nachmittag in einer Mietskutsche mit einer erstaunlichen Menge von Koffern, Kästen und Schachteln an und veranlaßten das grausamste Getümmel und das verwirrteste Hin- und Herlaufen, bis sie sich in ihrem Zimmer beim Ankleiden zum Dinner befanden.

»Sind die Mädchen hübsch?« fragte Mr. Simpson den zweiten der neuen Hausbewohner, Mr. Hicks, während sie sich im Besuchszimmer vor dem Dinner damit unterhielten, in sehr nachlässigen Haltungen auf dem Sofa zu ruhen und ihre Tanzschuhe zu betrachten.

»Kann’s nicht sagen«, antwortete Mr. Hicks, der ein dünner, hochgewachsener junger Mann mit einem Milchsuppengesicht und Brille war und ein schwarzes Band statt eines Halstuchs um den Hals trug – ein äußerst interessanter Jüngling, poetisch, der Arzneikunde beflissen und »höchst talentvoll«. Er liebte es ausnehmend, die Unterhaltung mit Zitaten aus Byrons Don Juan zu spicken, die er bei den Haaren herbeizog, ohne sich durch Rücksichten auf die Angemessenheit oder Nichtangemessenheit ihrer Anwendung Fesseln anlegen zu lassen. Mr. Simpson gehörte zu den jungen Männern, die in der Gesellschaft das sind, was die Statisten auf der Bühne. Sein Kopf war so leer wie die große Glocke der St. Paulskirche, und seine Fähigkeiten waren so mannigfaltig wie deren Töne. Er kleidete sich stets nach dem Muster der Karikaturen im Modejournal und schrieb Charakter mit einem th.

»Ich sah eine rasende Menge Kisten und Kästen auf dem Hausflur, als ich nach Hause kam«, sagte er.

»Ohne Zweifel Materialien für die Toilette«, bemerkte der eifrige Don-Juan-Leser.

»Viel Weißzeug, Spitzen, Strümpfe ohne Zahl,
Pantoffeln, Bürsten, Kämme, allzumal
Artikel, um die schönen Damen schön
Und sauber zu erhalten, und –«

»Sind die Verse von Milton?« unterbrach ihn Mr. Simpson.

»Nein – von Byron«, erwiderte Hicks mit einem Blicke voll grenzenloser Verachtung. Er war seines Autors vollkommen gewiß, da er nie einen andern gelesen hatte. »Pst!« sagte er, »da kommen die Mädel «, und beide fingen sogleich an, sehr laut zu sprechen, um unbefangen zu erscheinen.

Gleich darauf führte Mrs. Tibbs Mrs. Maplesone und deren Töchter herein. Sie sah sehr erhitzt aus und glich einer Wachspuppe an einem heißen Sommertag, denn sie hatte die Küchenoperationen beaufsichtigt. Sie stellte die Damen und Herren einander vor. Die Herren verbeugten sich mit ausgesuchter Höflichkeit und sahen dabei aus, als ob sie den Wunsch hegten, daß ihre Arme Beine sein möchten, so wenig wußten sie, was sie damit anfangen sollten. Die Damen lächelten, knicksten, nahmen Platz und bückten sich nach Taschentüchern, die sie hatten fallen lassen. Die Herren lehnten sich gegen die Fenster; Mrs. Tibbs und die Köchin, die erschien, um nach der Fischbrühe zu fragen, verständigten sich kunstvoll durch pantomimische Andeutungen, die beiden jungen Damen sahen einander an, und Mrs. Maplesone schien etwas sehr Anziehendes in den Verzierungen des Kamingitters entdeckt zu haben.

»Liebes Kind, Julie«, sagte sie endlich zu ihrer jüngsten Tochter gerade laut genug, um von allen gehört zu werden, »sitz nicht krumm!«

Sie sagte es, um die allgemeine Aufmerksamkeit auf Miss Julies allerdings untadelige Figur zu richten. Natürlich richteten sich aller Blicke darauf, und es trat abermals Stillschweigen ein.

»Wir hatten heute einen entsetzlich unhöflichen Mietkutscher«, sagte endlich Mrs. Maplesone zu Mrs. Tibbs gewendet.

»Die Mietkutscher sind in der Regel unhöflich«, fiel Mr. Hicks im einschmeichelndsten Tone ein.

»Die Fuhrleute sind es gleichfalls«, bemerkte Mr. Simpson – veranlaßte aber nur ein Nasenrümpfen bei den Damen und ein Husten bei Mr. Hicks, denn niemand mochte durch Wort oder Zeichen andeuten, auch nur die mindeste Kenntnis von den Sitten der Fuhrleute zu besitzen.

»Was willst du denn hier? So sprich doch!« rief Mrs. Tibbs dem Hausmädchen zu, das die Tür geöffnet hatte und ihr zuwinkte und hustete.

»Bitt‘ um Vergebung, Ma’am, der Herr wünscht ein reines Hemd«, antwortete das Hausmädchen, sich vergessend.

Es war zu lächerlich; die beiden jungen Herren drehten sich um und vermochten ihr Lachen bei weitem nicht vollkommen zu unterdrücken, die Damen hielten die Tücher vor den Mund, und die kleine Mrs. Tibbs schoß aus der Tür hinaus, um ihrem Gatten sein reines Weißzeug und dem Hausmädchen einen keifenden Verweis zu geben.

Bald darauf erschien Mr. Calton, der dritte der neuen Hausbewohner, und bewies sogleich, daß er sich trefflich darauf verstand, ein Gespräch zu unterhalten. Er war ein ausgedienter Dandy – ein altgewordener Knabe. Er pflegte von sich selber zu sagen, wenn sein Gesicht auch nicht regelmäßig schön sei, so habe er doch auffallende Züge; und dies war in der Tat der Fall, denn man konnte ihn nicht ansehen, ohne auf das lebhafteste an einen pausbäckigen Türklopfer, halb Löwe, halb Affe, erinnert zu werden. Auch hätte man diesen Vergleich auf seinen ganzen Charakter und seine Unterhaltung ausdehnen können. Er war stillgestanden, während alles um ihn her weitergegangen war. Er fing nie ein Gespräch an, brachte nie einen neuen Gedanken auf die Bahn; war aber eine Unterhaltung über Gemeinplätze im Gange, so nahm er daran mit bewundernswürdiger Zungenfertigkeit teil. Er litt bisweilen unter einem Wehmutsanfall, und dann war er vergleichsweise still; sonst aber war des Mühlengeklappers seines Mundwerks kein Ende. Er war nie verheiratet gewesen, stand indes noch immer auf der Lauer nach einer Frau mit Geld. Er genoß eine Leibrente von etwa 300 Pfund jährlich, war übermäßig eitel und grenzenlos selbstsüchtig. Er stand in dem Rufe, ein wahres Muster galanter Höflichkeit zu sein.

Mr. Calton hatte den Beschluß gefaßt, sich Mrs. Maplesone ausnehmend angenehm zu machen, ja, der Wunsch, so liebenswürdig als möglich zu erscheinen, herrschte allgemein in der ganzen Gesellschaft; denn Mrs. Tibbs glaubte, sich einer bewundernswürdigen kleinen Kriegslist bedient zu haben, indem sie den Herren gesagt hatte, sie habe einigen Grund, zu glauben, daß die Damen vermögend, und den Damen zu verstehen gegeben, daß die sämtlichen Herren heiratsfähig und keine schlechten Partien wären. Sie glaubte, ein wenig Liebeln würde ihr Haus gefüllt halten, ohne zu eigentlichen Resultaten zu führen. Mrs. Maplesone war eine unternehmende Witwe von ungefähr fünfzig Jahren: schlau, intrigant und gut aussehend. Sie war liebenswürdig besorgt um ihre Töchter und machte, um dies zu dokumentieren, nicht selten die Bemerkung, daß sie es nicht ablehnen würde, sich wieder zu verheiraten, wenn es ihren lieben Mädchen zum Vorteil gereichen sollte – denn einen andern Beweggrund könne sie nicht haben. Die »lieben Mädchen« selbst waren gegen die Vorteile einer »guten Partie« gleichfalls nichts weniger als unempfindlich. Die eine war fünfundzwanzig, die andere drei Jahre jünger. Sie hatten in vier Sommern Badereisen gemacht, hatten kokettiert im Versammlungssaale, Bücher gelesen auf Balkonen, verkauft im Frauenvereins-Basar, getanzt auf Bällen, empfindsame Unterhaltungen geführt – kurzum, alles getan, was kluge Töchter nur tun können: allein es war alles vergeblich gewesen.

»Wie vortrefflich Mr. Simpson sich kleidet!« flüsterte Mathilde Maplesone ihrer Schwester Julie zu.

Mr. Simpson trug einen schwarzen Leibrock mit Samtkragen und Aufschlägen – sehr ähnlich dem, in dem man häufig den großen Unbekannten erblickt, der sich herabläßt, in der Pantomime auf Richardsons Theater den Elegant zu spielen.

»Welch ein Knebelbart!« sagte Miss Julie.

»Entzückend!« erwiderte die Schwester; »und welch ein Haar!«

Es glich aber vollkommen dem kunstvoll geordneten, wie man es auf den Köpfen der rotwangigen jungen Herren in den Fenstern der Haarkünstler erblickt; und es war wirklich künstliches, und der unter dem Kinn fortlaufende Knebelbart Mr. Simpsons sah aus wie ein Band, die Haartour auf dem Kopfe festzuhalten.

Der Laufbursche erschien, zum ersten Male in einem gewendeten schwarzen Rock seines Herrn, und kündigte das Dinner an. Die Herren führten die Damen mit gebührender Feierlichkeit in das Speisezimmer, wo Mr. Tibbs vorgestellt wurde, der sich vor den neuen Hausbewohnerinnen gleich einer der artigen Figuren einer holländischen Uhr oder Drehorgel mit einer starken Feder in der Mitte des Leibes wiederholt verbeugte und sodann rasch am unteren Ende der Tafel Platz nahm, äußerst erfreut, hinter einer Suppenterrine versteckt zu sein.

»Biete doch Mrs. Maplesone Suppe an, lieber Mann«, sagte die geschäftige Mrs. Tibbs.

Sie nannte ihren Mann vor der Gesellschaft stets »lieber Mann«. Tibbs tat eilig, wie ihm geheißen war, denn ihn verlangte nach dem Fisch, machte eine kleine Insel auf dem Tafeltuche und setzte sein Weinglas darauf, um sie vor seiner Frau zu verbergen. Der Fisch wurde angeboten; Miss Julie bat um ein ganz kleines Stückchen, und ihre Mutter bemerkte gegen Mr. Calton, daß Julie erstaunlich wenig äße. Auch die übrigen baten nur um ganz wenig; indes würde es ihnen freilich auch nicht geholfen haben, wenn sie um viel gebeten hätten.

»Lieber Mann«, sagte Mrs. Tibbs, nachdem alle versorgt waren, »was beliebt dir?«

Sie begleitete die Frage mit einem Blicke, der deutlich genug sagte, daß er nicht Fisch sagen dürfe, da nur noch sehr wenig davon übrig war. Allein, Tibbs meinte, der Zornblick hätte seinen Grund in der Insel auf dem Tafeltuch, und erwiderte daher ohne Arg: »Ich bitte um – um ein wenig Fisch –«

»Sagtest du Fisch, lieber Mann«, fragte Mrs. Tibbs mit verstärktem Stirnrunzeln.

»Ja, meine Liebe«, antwortete der Ruchlose, während sich der nagendste Hunger in seinen Mienen ausdrückte. Mrs. Tibbs traten fast Tränen in die Augen, als sie ihrem »Schlingel von Mann«, wie sie ihn innerlich nannte, das letzte Stück Lachs von der Schüssel reichte. »James«, sagte sie gleich darauf, »bring deinem Herrn diese Schüssel und leg sein Messer auf das Büfett.« Und dies war wohlüberlegte Rache, denn Tibbs konnte keinen Fisch ohne Messer essen. Er sah sich daher genötigt, mit der Gabel und einer Brotrinde kleine Stückchen Lachs auf dem Teller umherzujagen und, so gut es gehen wollte, aufzufischen, was ihm auch bisweilen gelang, indem von seinen Bemühungen eine unter siebzehn glücklich enden mochte.

»James, wechsle die Teller«, rief Mrs. Tibbs nach seinem vierten oder fünften glücklichen Versuch, und Mr. Tibbs‘ Teller verschwand wie ein Blitz.

»Ein Stückchen Brot, James«, sagte der unglückliche Herr vom Hause, so hungrig wie zuvor; allein, Mrs. Tibbs befahl James, das Fleisch aufzusetzen, und James wurde fortwährend so sehr beschäftigt, daß das Brot für seinen Herrn vorerst vergessen wurde. Hicks nahm die Gelegenheit zu einem höchst angemessenen Zitate wahr:

»An Ochsen ist es arm, an Rindern auch dies Land,
Doch reich an Ziegen-, Schöps- und Lammfleisch ich es fand,
Und bringt ein Festtag ihnen lächelnd seine Grüße,
Dann drehen sie das Fleisch an dem Barbarenspieße.«

»Welch ein unfeines Benehmen, so zu sprechen«, dachte die kleine Mrs. Tibbs.

Die jungen Damen benutzten indes die Gelegenheit, sich belesen und poetisch zu zeigen, und nannten oder rezitierten die empfindsamsten Verse Byrons als ihre Lieblingsstellen. Mr. Septimus Hicks bemerkte, daß seinem Geschmack nach nie Schöneres gedichtet worden sei als der Anfang des siebten Gesanges des Don Juan, wo die Belagerung von Ismael geschildert werde.

»Da Sie von einer Belagerung reden«, fiel Tibbs ein, den Mund voll Brot, das er endlich erhalten hatte, »so lassen Sie sich sagen: Als ich 1806 unter den Freiwilligen diente – unser Kommandeur war Sir Charles Rampart –, sagte Sir Charles Rampart eines Tages, als wir auf dem Platz exerzierten, wo jetzt das Londoner Universitätsgebäude steht, zu mir und rief mich aus dem Gliede heraus: ›Tibbs‹, sagte er, ›Tibbs –‹«

»James, sag deinem Herrn«, unterbrach ihn Mrs. Tibbs in einem bedenklich scharfen Tone, »wenn er die Hühner durchaus nicht tranchieren will, so möge er sie mir schicken.« Der in Verwirrung gebrachte Freiwillige tranchierte und mußte seine Geschichte unbeendigt lassen. Die Unterhaltung wurde um so lebhafter, je bekannter die Gesellschaft miteinander wurde. Man fühlte sich allgemein bequemer und behaglicher, was auch bei Tibbs der Fall war, denn er schlief unmittelbar nach dem Essen ein. Mr. Hicks und die Damen sprachen über Ästhetik, Theater und Literatur; Mr. Calton wiederholte, was bereits gesagt worden war, zwei- und dreimal mit anderen Worten. Mrs. Tibbs stimmte allem bei, was Mrs. Maplesone sagte; Mr. Simpson saß da mit einem Lächeln auf dem Antlitz, und weil er nach je vier bis fünf Minuten ein »Ja« oder ein »Sehr wahr« einfließen ließ, so glaubte jedermann, er verstände vollkommen, was gesprochen wurde. Die Herren vereinigten sich nach dem Dessert sehr bald wieder mit den Damen. Mrs. Maplesone und Mr. Calton spielten Cribbage, und »die jungen Leute« unterhielten sich mit Musik und Konversation. Die Misses Maplesone sangen die rührendsten Duette und begleiteten sich selbst auf Gitarren an himmelblauen Bändern. Mr. Simpson hatte eine rosa Weste angelegt und sagte, daß er hingerissen sei, und Mr. Hicks befand sich im siebten Himmel der Poesie, oder im siebten Gesange des Don Juan, was für ihn ein und dasselbe war. Mrs. Tibbs war ganz bezaubert von ihren neuen Hausbewohnern, und Mr. Tibbs brachte den Abend nach seiner gewohnten Weise zu – das heißt, er schlief ein, erwachte, schlief abermals ein und wachte zur Abendessenszeit wieder auf.

Wir wollen uns der Erzählerfreiheit nicht bedienen und »Jahre dahinschwinden lassen«, sondern bitten die Leser nur gefälligst anzunehmen, daß seit dem beschriebenen Diner sechs Monate verflossen sind und daß Mrs. Tibbs‘ männliche und weibliche Mieter während dieser Zeit miteinander gesungen, getanzt und die Theater und Sehenswürdigkeiten besucht haben, wie es bei Boarders der Fall zu sein pflegt. Nach Verlauf besagter sechs Monate erhielt Mr. Septimus Hicks eines Morgens früh in seinem Schlafzimmer ein Billett von Mr. Calton, in dem ihn dieser ersuchte, zu ihm in sein Zimmer zu kommen. Der teilnehmende Arzneikunde-Beflissene eilte sogleich hinunter, in der Meinung, daß Mr. Calton Patient sei. Mr. Calton saß in einem Lehnsessel, einem Türklopfer ähnlicher als je. Mr. Hicks hustete und Mr. Calton schnupfte. Endlich begann Hicks:

»Ich erhielt ein Billett von Ihnen«, sagte er mit bedenklicher Miene und bebender Stimme, wie ein erkälteter Pulcinell.

»Allerdings«, erwiderte Calton.

»Hm!«

»Ja, ja!«

Da beide Herren nach diesem Zwiegespräch fühlten, daß etwas noch Wichtigeres zur Sprache kommen würde, so taten sie, was viele in ihrer Lage getan haben würden – sie sahen einander mit entschlossensten Mienen an. Die Unterredung war indes begonnen, und der Türklopfer nahm sich vor, sie mit einem tüchtigen Doppelschlage fortzusetzen. Er sprach immer sehr hochtrabend.

»Hicks«, sagte er, »ich habe Sie wegen gewisser Heiratsarrangements zu mir entbieten lassen, die in diesem Hause in der Schwebe sind.«

»Heiratsarrangements!« rief Hicks mit einem Gesicht aus, wogegen Hamlets Gesicht, wenn er seines Vaters Geist erblickt, ruhig und gefaßt ist.

»Wie ich Ihnen sage. Ich ließ Sie zu mir herunterholen, um Ihnen zu beweisen, wie sehr und wie fest ich Ihnen vertraue.«

»Wollen Sie mich verraten?« fragte Hicks sehr ängstlich, und vergaß in seinem Schrecken gänzlich, zu zitieren.

»Ich Sie verraten? Wollen Sie mich verraten?«

»Keineswegs! Nicht eine lebende Seele soll es bis zu meinem Sterbetage erfahren, daß Sie die Hand im Spiele gehabt haben«, erwiderte der höchlich erregte Hicks mit glühendrotem Gesicht und sich sträubendem Haar, als wenn er auf dem Konduktor einer arbeitenden Elektrisiermaschine stände.

»Die Welt muß es früher oder später erfahren – ich sollte meinen, im Verlauf eines Jahres«, sagte Calton im Tone großer Selbstgefälligkeit. »Wir haben dann vielleicht Familie, wissen Sie.«

»Wir! – Sie werden hoffentlich nichts damit zu schaffen haben.«

»Zum Geier! das hoff‘ ich allerdings.«

Hicks war mehr als betreten. Er wußte kaum, wo ihm der Kopf stand, geschweige denn, was er erwidern sollte. Calton schwelgte zu sehr in seinen seligen Vorgefühlen, um es zu beachten. Er warf sich in seinen Stuhl zurück und rief in empfindsam-winselndem Tone und die rechte Hand auf die linke Seite der Weste legend aus: »O Mathilde!«

»Welche Mathilde?« fragte Hicks zusammenschreckend.

»Mathilde Maplesone!« seufzte Calton.

»Ich heirate sie morgen früh«, schrie Hicks wütend.

»Sie lügen – ich heirate sie.«

»Sie heiraten sie!«

»Ich heirate sie!«

»Sie heiraten Mathilde Maplesone?«

»Mathilde Maplesone.«

»Sie heiraten Miss Maplesone?«

»Miss Maplesone? Nein, Mrs. Maplesone.«

»Gütiger Himmel!« sagte Hicks auf seinen Stuhl sinkend. »Sie heiraten die Mutter und ich die Tochter!«

»Unerhört!« bemerkte Calton, »und auch einigermaßen ungelegen; denn Sie müssen wissen, daß meine Mathilde ihre Absicht vor ihren Töchtern geheimzuhalten wünscht, bis die Trauung vorüber ist, und daher keinen ihrer Angehörigen und Freunde bitten mag, Brautvater zu sein. Mir ist es gleichfalls nicht recht, die Sache meinen Angehörigen jetzt schon mitzuteilen, und ich bat Sie, zu mir herunterzukommen, in der Absicht, Sie zu ersuchen, die Rolle des Brautvaters zu übernehmen.«

»Ich versichere Sie, daß ich es mit dem größten Vergnügen getan haben würde«, versetzte Hicks im Tone des Bedauerns; »allein Sie sehen, ich werde den Bräutigam spielen. Eine Rolle ist häufig Folge einer andern, allein, man kann nicht in zweien zugleich auftreten. Aber wir haben ja Simpson – er wird ohne Zweifel Ihrem Wunsche entgegenkommen.«

»Ich möchte ihn nicht gern darum bitten«, sagte Calton; »er ist solch ein Esel.«

Mr. Septimus Hicks blickte zur Decke empor und auf den Fußboden hinunter. Endlich hatte er einen Gedanken. »Nehmen Sie Tibbs zum Brautvater«, sagte er und zitierte sodann die auf Tibbs und das Brautpaar vortrefflich passenden Verse: –

»O Gott, welch grimmer Blick begegnet dort den ihren?
Des Vaters Blicke sind’s, die nach dem Paare stieren.«

»Ich bin darauf auch schon verfallen«, entgegnete Calton; »allein Mathilde will durchaus nicht – ich weiß nicht, aus welchem Grunde –, daß Mrs. Tibbs etwas erfahren soll, bis alles vorüber ist. Es wird am Ende nichts als ihr natürliches Zartgefühl sein.«

»Er ist der gefälligste kleine Mann von der Welt, wenn Sie ihn nur richtig nehmen«, fuhr Hicks fort. »Sagen Sie ihm, er möge gegen seine Frau schweigen, sie würde nicht böse darüber sein, und er tut, was Sie wollen. Meine Verheiratung ist heimlich wegen der Mutter und meines Vaters; Sie müssen ihm daher Stillschweigen auferlegen.«

In diesem Augenblicke wurde an der Haustür geklopft, so bescheiden, wie es nur der Hausherr tun konnte. Calton sah aus dem Fenster und bat ihn, zu ihm hinaufzukommen. Tibbs willigte sogleich ein. Er war hocherfreut, beachtet zu werden. Er erschien, wurde ersucht Platz zu nehmen, und sah so verblüfft aus, als wenn er plötzlich vor die Mitglieder der Inquisition gerufen worden wäre.

»Mr. Tibbs«, begann Calton im wichtig-geheimnisvollsten Tone, »mich nötigt ein sehr unangenehmer Umstand, Sie um Rat zu fragen und Sie zu bitten, über das, was ich Ihnen mitteilen werde, reinen Mund gegen Ihre Frau zu halten.«

Tibbs versprach es und dachte: »Was zum Teufel mag er verübt haben? Er hat sicher eine der besten Wasserkaraffen zerbrochen.«

»Mr. Tibbs«, fuhr Calton fort, »ich befinde mich in einer einigermaßen unangenehmen Lage.«

Tibbs sah Septimus Hicks an, als ob er glaube, die Unannehmlichkeit bestände darin, daß Mr. Calton mit Mr. Hicks in demselben Hause wohne, wußte indes nicht, was er sagen sollte, und schwieg daher.

»Lassen Sie mich Sie bitten«, sprach der Türklopfer weiter, »keinen Schrei der Überraschung auszustoßen, der von den Domestiken gehört werden könnte, wenn ich Ihnen sage – ich ersuche Sie dringend, beherrschen Sie ja Ihre Gefühle –, daß zwei Bewohner dieses Hauses morgen früh Hochzeit zu machen gedenken.«

Er schob seinen Sessel einige Schritte weit zurück, um die Wirkung seiner unerhörten Mitteilung desto besser beobachten zu können. Wenn Tibbs hinausgestürzt, hinuntergetaumelt und unten in Ohnmacht gefallen – ja, wenn er aus dem Fenster gesprungen wäre, sein Benehmen würde Mr. Calton nicht unerklärlicher gewesen sein. Er steckte nämlich die Hände in die Taschen seiner Unaussprechlichen und rief mit einem innerlichen Lachen aus: »Dachte mir’s wohl!«

»Sie sind nicht überrascht, Mr. Tibbs?« fragte Calton.

»Ganz und gar nicht, Sir«, erwiderte Tibbs, »’s ist ja so sehr natürlich. Wenn ein paar junge Leute zusammenkommen, wissen Sie –«

»Sehr wahr, sehr wahr«, fiel Calton mit einer Miene unsäglicher Selbstgefälligkeit ein.

»Sie halten die Partie also durchaus nicht für unpassend?« fragte Septimus Hicks, der Tibbs‘ Mienen in stummem Erstaunen beobachtet hatte.

»Nein, Sir«, antwortete Tibbs wirklich lächelnd; »ich sah in seinem Alter ebenso aus.«

»Wie vortrefflich ich mich konserviert haben muß!« dachte der entzückte alte Dandy; denn er wußte, daß er wenigstens zehn Jahre älter als Tibbs war. »Lassen Sie uns sogleich zur Sache kommen«, sagte er. »Wollen Sie die Güte haben, die Rolle des Brautvaters zu übernehmen?«

»Gern«, erwiderte Tibbs, fortwährend ohne die mindeste Spur von Überraschung.

»Gewiß?«,

»Von Herzen gern«, wiederholte Tibbs, der so ruhig aussah wie ein Krug Bier, das ausgeschäumt hat.

Calton ergriff die Hand des unter Schürzenregiment stehenden kleinen Mannes und schwur ihm ewige Freundschaft. Hicks tat dasselbe.

»Bekennen Sie nun aber«, sagte Calton, als Tibbs sich anschickte, hinunterzugehen, »waren Sie nicht ein wenig überrascht?«

»Ei freilich, als ich zuerst davon hörte, und es war so sonderbar, mich zu bitten. Was wird aber sein Vater dazu sagen? Das möcht‘ ich nur wissen.«

Hicks und Calton sahen einander an.

»Das Beste dabei ist«, sagte Calton endlich kichernd, »daß ich keinen Vater habe.«

»Sie freilich nicht, aber er«, sagte Tibbs.

»Wer?« fragte Hicks zornig.

»Nun er.«

»Wer denn? Kennen Sie mein Geheimnis? Meinen Sie mich?«

»Gott bewahre! Sie wissen ja wohl, wen ich meine.«

»Um des Himmels willen, wen meinen Sie?« fragte Calton, der gleich Mr. Hicks fast von Sinnen war vor Verwirrung.

»Nun, Mr. Simpson – wen denn sonst?« entgegnete Tibbs.

»Jetzt ist mir alles klar«, rief Hicks aus. »Simpson heiratet morgen früh Julie Maplesone. »Ei natürlich!« bemerkte Tibbs.

Es würde Hogarths Pinsel erfordern, um Hicks‘ und Caltons Mienen würdig zu schildern, unsere Feder ist zu schwach dazu; und ebenso unmöglich ist es uns, gehörig zu erklären – so leicht es auch unseren Leserinnen sein mag, es sich vorzustellen – welcher Künste sich die drei Damen bedient haben mochten, ihre Liebhaber zu fesseln. Doch gleichviel, sie hatten Erfolg gehabt. Der Mutter waren die Absichten ihrer Töchter keineswegs verborgen geblieben, und die Töchter kannten die Absicht ihrer verehrten Frau Mama ebenso genau. Sie meinten indes, daß die Sache ein romantischeres Aussehen bekommen würde, wenn sie sich unwissend stellten, und die Verheiratungen mußten sämtlich an demselben Tage stattfinden, da sonst die etwaige Entdeckung der einen der andern hätte störend in den Weg treten können. Daher kam es, daß Calton und Hicks mystifiziert wurden und Tibbs bereits in Beschlag genommen war.

Am folgenden Morgen wurden Mr. Septimus Hicks mit Miss Mathilde Maplesone getraut, und Mr. Simpson, mit Miss Julie. Tibbs agierte als Brautvater, zum ersten Male in dieser Rolle auftretend. Den Türklopfer, der nicht ganz so eifrig wie die beiden jungen Herren war, hatte die Doppelentdeckung beträchtlich abgekühlt, und da es ihm Mühe bereitet hatte, einen Brautvater zu finden, so fiel ihm ein, er könnte die ganze Schwierigkeit am besten dadurch beseitigen, daß er die Braut aufgäbe. Die Dame stellte indes eine Klage wegen gebrochenen Eheversprechens, und der unglückliche Calton mußte 1000 Pfund Entschädigungsgelder bezahlen. Mr. Septimus Hicks, nachdem er seinen medizinischen Kursus durchlaufen, ging schließlich davon, und seine schwer beleidigte Gattin wohnt gegenwärtig mit ihrer Mutter in Boulogne. Mr. Simpson hatte das Unglück, seine Frau sechs Wochen nach seiner Verbindung mit ihr schon zu verlieren (sie ließ sich nämlich von einem Offizier entführen, während ihr Gatte im Schuldgefängnis saß, weil er außerstande war, ihre kleinen Putzrechnungen zu berichtigen); sein Vater, der bald darauf starb, enterbte ihn, und er schätzte sich glücklich, ein bleibendes Engagement bei einem fashionablen Haarkünstler zu erlangen, indem er der Wissenschaft des Haarordnens längst große Aufmerksamkeit zugewendet hatte. Er hatte in seiner neuen Stellung notwendigerweise häufig Gelegenheit, sich mit den Manieren und der Denkweise des exklusiven Teils des englischen Adels bekannt zu machen, ein glücklicher Umstand, dem wir jene glänzenden Erzeugnisse seines fruchtbaren Genies, seine fashionablen Romane verdanken, die nicht verfehlen können, alle denkenden Leser zu unterhalten und zu belehren, solange ein reiner, durch keinerlei Übertreibung, Unnatur, Schwulst und faselnde Salbaderei befleckter Geschmack herrschend sein wird.

Es bleibt nur noch übrig hinzuzufügen, daß die arme Mrs. Tibbs infolge so gehäufter häuslicher Mißgeschicke ihre sämtlichen Mieter verlor, mit Ausnahme des einzigen, den sie mit dem lebhaftesten Vergnügen eingebüßt haben würde – ihres Ehegatten. Der zum Unglück geborene kleine Mann kehrte am Tage der Doppeltrauungen im Zustande ziemlicher Trunkenheit nach Hause zurück und wagte es unglaublicherweise mit dem Mute, den Wein, Aufregung und Verzweiflung ihm eingaben, dem Zorne seiner Gattin Trotz zu bieten. Er hat seit dieser unseligen Stunde seine Mahlzeiten in der Küche eingenommen und schläft in einem an diese anstoßenden Gemache. Es ist sehr wahrscheinlich, daß es ihm in seiner Zurückgezogenheit gelingen wird, seine Geschichte zu beendigen.

Mrs. Tibbs hat abermals ihr Haus durch die Blätter angeboten. Der Erfolg wird in einem andern Kapitel berichtet werden.

II

»Die Sachen haben keine gar zu schlechte Wendung genommen«, sprach Mrs. Tibbs eines Morgens, einen Fußteppich ausbessernd, bei sich selbst, »und das Haus wird wohl bald wieder gefüllt sein.«

Das Haus war so still wie möglich. Man hörte es oben deutlich, wie Tibbs die Stiefel der Herren in der Hinterküche reinigte und dabei trübselig vor sich hinsummte. Um so lauter ertönten die Doppelschläge des Briefträgers. Mrs. Tibbs wurde ein schlecht gesiegeltes Schreiben mit einer Aufschrift eingehändigt, die so weit in eine Ecke gerückt war, daß sie aussah, als ob sie sich ihrer selbst schämte. Der Inhalt war kein Muster einer klaren Schreibart, indes ersah Mrs. Tibbs daraus, daß sie um 12 Uhr eine Besucherin zu erwarten habe. Die Glocke der Sankt Pankratiuskirche hatte zwölf geschlagen, und als eine andere auf Sankt Sonstirgendwo ein Viertel schlug, klopfte eine einzelne Dame in einem pflaumenfarbigen Mantel, mit einem den Hut versteckenden Strauße von künstlichen Blumen auf dem Kopfe und einem grünen Sonnenschirm mit Spinnwebfransen in der Hand. Die Dame wurde in das Besuchszimmer hereingeführt. Sie war sehr dick und sehr rot im Gesicht; Mrs. Tibbs knickste, und die Unterhaltung nahm ihren Anfang. Die Stimme der unbekannten Dame glich der eines Mannes, der seit vierzehn Tagen unaufhörlich auf einer Papagenopfeife geblasen hat.

»Ich komme infolge einer Anzeige in den Blättern«, begann sie.

»Ah!« sagte Mrs. Tibbs, langsam die Hände reibend und der Dame gerade in das Gesicht schauend – wie sie bei solchen Veranlassungen immer tat.

»Auf das Geld kommt es mir ganz und gar nicht an«, fuhr Flora im Mantel fort, »und ich wünsche nur, still und zurückgezogen zu leben.«

Mrs. Tibbs konnte einem so sehr natürlichen Wunsche ihren Beifall nicht versagen.

»Ich lasse mich fortwährend ärztlich behandeln, bin seit einiger Zeit schauderhaft geplagt gewesen und habe seit Mr. Bloss‘, meines Mannes, Tode sehr wenig Ruhe gehabt.«

Mrs. Tibbs blickte die Witwe des seligen Mr. Bloss an und dachte, der hätte sicher bei seinen Lebzeiten wenig Ruhe gehabt. Sie durfte dies natürlich nicht äußern und nahm daher eine Miene zärtlicher Teilnahme an.

»Ich werde Ihnen große Unruhe verursachen, werde jedoch gern dafür bezahlen. Ich unterziehe mich einer Behandlung, die Aufmerksamkeit notwendig macht. Ich esse jeden Morgen um halb acht Uhr im Bette meine erste Hammelkarbonade und um zehn Uhr vormittags die zweite.«

Mrs. Tibbs verfehlte nicht, der Patientin ihr Beileid auszudrücken, und die fleischliebende Mrs. Bloss fuhr fort, mit bewundernswürdiger Präzision die Vorbedingungen herzuzählen. Mrs. Tibbs ließ sich zu allem bereit finden, und die Sache war bald abgemacht. Mrs. Bloss fügte indes noch einige Klauseln hinzu.

»Sie können mir doch mein Schlafzimmer im zweiten Stockwerk nach vorn hinaus geben?« – »Zu Befehl, Ma’am.«

»Sie werden auch Raum für meine kleine Dienerin Agnes finden?«

»Zu dienen, Ma’am.«

»Sie räumen mir einen Keller zur Aufbewahrung meines Flaschenporters ein?«

»Mit dem größten Vergnügen, Ma’am! Er soll bis Sonnabend für Sie eingerichtet sein.«

»Und ich denke, mich am Sonntagmorgen zum Frühstück bei Ihnen einzufinden.« »Vortrefflich«, sagte Mrs. Tibbs in ihrem süßesten Ton, denn die Nennung genügender Gewährsleute war erbeten worden und erfolgt, und es litt keinen Zweifel, daß Mrs. Bloss viel Geld hatte. »Es trifft sich ganz glücklich«, fuhr Mrs. Tibbs mit einem Lächeln fort, das so bezaubernd wie möglich sein sollte, »daß gerade auch ein Herr in meinem Hause wohnt, dessen Gesundheitszustand sehr delikat ist – ein Mr. Gobier. Das anstoßende Zimmer ist das seine.«

»Ach, mein Gott!« rief die Witwe aus.

»Er steht fast gar nicht auf«, flüsterte Mrs. Tibbs, »allein, wenn er aufgestanden ist, können wir ihn fast nicht bewegen, wieder zu Bett zu gehen.«

»Woran leidet er denn?« fragte Mrs. Bloss, gleichfalls flüsternd.

»Er hat keinen Magen.«

»Keinen Magen!« wiederholte die Witwe kopfschüttelnd und als ob sie außer sich vor Verwunderung sei, daß sich ein Herr ohne Magen in die Kost gebe.

»Wenn ich sage, daß er keinen Magen hat«, erläuterte die geschwätzige kleine Mrs. Tibbs, »so meine ich damit, daß seine Verdauung so geschwächt ist, daß ihm sein Magen nichts nützt, ja, ihn noch eher belästigt.«

»Unerhört!« rief Mrs. Bloss aus. »Er befindet sich in der Tat noch schlechter als ich.«

»Ohne allen Zweifel«, sagte Mrs. Tibbs, denn der Witwe Aussehen bewies klärlich, daß sie über Mr. Gobiers Leiden nicht zu klagen hatte.

»Sie haben meine Neugierde in hohem Grade erregt«, versetzte Mrs. Bloss aufstehend. »Mich verlangt sehr, ihn zu sehen.«

»Er pflegt wöchentlich einmal herunterzukommen. Sie werden ihn wahrscheinlich am Sonntag kennenlernen.«

Mit diesem trostreichen Versprechen mußte sich Mrs. Bloss begnügen. Sie entfernte sich unter Wehklagen über ihr Leiden und unter ebenso vielen Beileidsbezeigungen von Mrs. Tibbs. Es ist fast überflüssig zu sagen, daß sie höchst gewöhnlich, unwissend und egoistisch war. Ihr Seliger hatte als Korkschneider ein hübsches Vermögen gesammelt. Er hatte keine Verwandten außer einem unbemittelten Neffen und keine Freundin außer seiner Köchin gehabt. Der erstere war eines Morgens so frech gewesen, ihn um ein Darlehen von fünfzehn Pfund zu bitten, und er hatte zur Strafe für ihn am folgenden Tage die letztere geehelicht und zugleich zu seiner Universalerbin eingesetzt. Er hatte sich nach dem Frühstück unwohl gefühlt und war nach dem Mittagessen gestorben. In der Kirche seines Kirchspiels ist ein Täfelchen zu schauen, auf dem seine Tugenden zu lesen sind und sein Sterben beklagt wird. Er hatte nie eine Rechnung unbezahlt gelassen und nie einen Heller weggegeben!

Seine Witwe und Erbin war eine wunderliche Mischung von Schlauheit und Einfalt, Liberalität und Gewöhnlichkeit. Bei der Art ihrer Bildung und Gewohnheiten erschien ihr kein Leben so angenehm als das in einem Boarding-Hause, und da sie nichts zu tun noch zu wünschen hatte, so bildete sie sich natürlich ein, daß sie krank sei, und alle ihre Einbildungen wurden durch ihren Arzt, Doktor Wosky, und ihr Mädchen Agnes, ohne Zweifel aus lobenswerten Gründen, nach Kräften unterstützt.

Seit der am Ende des ersten Kapitels erzählten Katastrophe war Mrs. Tibbs in betreff junger Damen als Mieter äußerst kopfscheu geworden. Ihre gegenwärtigen Hausbewohner waren lauter Herren der Schöpfung, denen sie bei Tisch die erwartete Ankunft der Witwe Bloss verkündigte. Die Herren hörten die Mitteilung mit stoischer Gleichgültigkeit an, und Mrs. Tibbs widmete alle ihre Kräfte den Vorbereitungen zur Aufnahme der Patientin. Ihre Koffer und Schachteln langten an, und endlich erschien sie selbst nebst ihrer Agnes, die in ihrem kirschfarbigen Merinokleid, Zwickelstrümpfen und Schuhen mit kreuzweis gebundenen Bändern einer verkleideten Kolombine glich.

Die Einführung des Herzogs von Wellington als Kanzler der Universität Oxford war, was Lärm und Getümmel betrifft, nichts gegen die Einsetzung von Mrs. Bloss in ihre Appartements. Es fehlte freilich an einem Doktor der Rechte, der eine lateinische Rede gehalten hätte, wogegen aber mehrere alte Weiber anwesend waren, die ebensoviel und ebenso unverständlich redeten. Der Wirrwarr des Umzugs hatte die Karbonadenesserin so ermüdet, daß sie ihr Zimmer vor dem folgenden Morgen nicht verlassen wollte; man mußte ihr daher eine Hammelkarbonade, eine Quecksilberpille von zwei Gran, eine Flasche Doppelbier und andere Arzneien hinaufbringen.

»Was meinen Sie wohl, Ma’am«, sagte Agnes, als Mrs. Bloss seit etwa drei Stunden eingezogen war; »was meinen Sie wohl, die Frau vom Hause ist verheiratet!« »Unmöglich!« rief Mrs. Bloss aus.

»Sie können es glauben, Ma’am – und ihr Mann wohnt in der Küche!«

»In der Küche!«

»Was ich Ihnen sage, Ma’am! Und das Hausmädchen sagt, er käme niemals hinauf, ausgenommen sonntags, und Mrs. Tibbs ließe ihn die Stiefel der Herren und bisweilen auch die Fenster putzen, und eines Morgens früh, als er die Fenster des Besuchszimmers gewaschen, sei ein Herr vorübergegangen, der sonst hier gewohnt, und Mr. Tibbs habe ihm zugerufen:›Ah, Mr. Calton, wie befinden Sie sich?‹«

Die Kolombine lachte, und Mrs. Bloss rief aus: »Hat man jemals so etwas gehört!«

»Ja, ja, Ma’am«, fuhr Agnes fort, »und die Dienstboten geben ihm bisweilen Branntwein mit Wasser, und dann kommt er ins Weinen und sagt, daß ihm seine Frau und die Mieter in den Tod verhaßt seien und daß er sie kitzeln wollte.«

»Die Mieter kitzeln!« rief Mrs. Bloss voll Schrecken aus.

»Nein, Ma’am, die Mieter nicht, die Dienstboten.«

»O, wenn es weiter nichts ist!«

»Er wollte mich eben küssen, als ich die Treppe hinaufging«, fuhr die Kolombine entrüstet fort; »ich habe ihm aber Bescheid gesagt, dem unverschämten kleinen Wicht.«

Was Agnes behauptete, war allerdings begründet. Die fast notwendigen Folgen der Erniedrigung, die der unglückliche, geknechtete Freiwillige erfuhr, waren eingetreten. Die Dienstmädchen waren natürlich genug seine Vertrauten und Trösterinnen und er selbst eine Art von Don Juan verkleinerten Maßstabs im Souterrain geworden.

Das Frühstück wurde am Sonntagmorgen um zehn Uhr, eine Stunde später als an den Wochentagen, eingenommen. Tibbs war der erste im gemeinschaftlichen Zimmer und vertrieb sich die Zeit damit, einen Milchtopf mit einem Teelöffel zu leeren. Endlich trat ein Mann von ernsten Mienen und etwa fünfzig Jahren, mit sehr dünnem Haar und dem »Examiner« in der Hand, herein.

»Guten Morgen, Mr. Evenson«, begrüßte ihn Tibbs sehr demütig.

»Gut geschlafen, Mr. Tibbs?« entgegnete Evenson, setzte sich und fing an, sein Zeitungsblatt zu lesen, ohne sich weiter um Tibbs zu kümmern.

»Wissen Sie nicht, ob Mr. Wisbottle in der Stadt ist?« fragte Tibbs, nur um etwas zu sagen.

»Ich glaube; zum wenigsten pfiff er in seinem Zimmer neben dem meinigen heute morgen um fünf Uhr munter eine Melodie nach der andern.«

»Er liebt das Pfeifen ausnehmend.« »Allerdings – ich aber ganz und gar nicht.«

Mr. Evenson besaß mehrere Häuser in den Vorstädten und bezog davon ein gutes Einkommen. Er war äußerst mürrisch und mißvergnügt, ein eingefleischter Radikaler, und besuchte öffentliche Versammlungen aller Art nur, um jeden Vorschlag ohne Ausnahme zu tadeln. Mr. Wisbottle war dagegen ein überzeugter Konservativer. Er war Schreiber beim Forstdepartement und betrachtete seine Stellung als eine aristokratische, wußte das Adelsregister auswendig und konnte aus dem Kopf angeben, wo jeder vornehme Mann wohnte. Er hatte zwei Reihen schöner Zähne und einen vortrefflichen Schneider. Mr. Evenson sah auf alle diese Vorzüge mit tiefer Verachtung herab, und die Folge war, daß die beiden Herren zur Erbauung aller ihrer Hausgenossen fortwährend miteinander disputierten. Mr. Wisbottle pfiff nicht nur gern, sondern hatte auch eine große Meinung von sich selbst als Sänger.

Zwei andere Mieter waren Mr. Tomkins und Mr. O’Bleary. Tomkins war Kommis in einer Weinhandlung und Gemäldekenner und hatte ein ausgezeichnetes Auge für das Malerische. O’Bleary war ein erst vor kurzem herübergekommener Irländer, noch gänzlich wild, und in England erschienen, um Apotheker, Sekretär, Schauspieler, Reporter oder sonst etwas zu werden, wozu sich Gelegenheit darbieten möchte – er war durchaus nicht eigen oder wählerisch. Er stand mit zwei unbedeutenden irischen Parlamentsmitgliedern auf freundschaftlichem Fuße und verschaffte jedermann im Hause Briefe mit Frankovermerk. Gleich allen Irländern, wenn sie nach England herüberkommen, war er davon überzeugt, daß er vermöge seiner Verdienste ein ausgezeichnetes Glück machen müsse. Er trug schottische Unaussprechliche und sah auf der Straße allen Damen unter die Hüte. Sein Aussehen und seine Manieren erinnerten stark an einen Schauspieler.

»Da kommt Mr. Wisbottle«, sagte Tibbs.

Mr. Wisbottle erschien in der Tat, »Di piacer« pfeifend, trat an das Fenster und fuhr fort zu pfeifen.

»Eine vortreffliche Melodie«, bemerkte Evenson höhnisch, ohne die Blicke von seinem Zeitungsblatt emporzuheben.

»Freue mich, daß sie Ihnen gefällt«, erwiderte Wisbottle sehr vergnügt.

»Glauben Sie nicht, daß sie sich noch besser ausnehmen würde, wenn Sie noch ein wenig lauter pfiffen?« fuhr Evenson knurrend fort.

»Nein, in der Tat nicht«, entgegnete der arglose Wisbottle.

»Ich muß mir eine Bemerkung erlauben, Wisbottle«, sagte Evenson, in dessen Innerem der Zorn seit mehreren Stunden gärte; »das nächste Mal, wenn Sie die Lust in sich spüren, um fünf Uhr morgens zu pfeifen, so haben Sie doch die Güte, den Kopf dabei aus dem Fenster zu halten. Wenn Sie’s nicht tun, so lern‘ ich Triangel spielen – beim –!«

Mrs. Tibbs‘ Eintreten unterbrach den Fluß seiner Rede. Sie entschuldigte ihr verspätetes Erscheinen und begann, den Tee zu bereiten. Tibbs setzte sich ganz unten an den Tisch und fing an, Wasserkresse zu essen, gleich einem zweiten Nebukadnezar. O’Bleary und Tomkins traten ein. Mr. Alfred Tomkins ging nach dem Fenster und rief Wisbottle gleich darauf zu: »O bitte, kommen Sie einmal recht schnell hierher.« Wisbottle eilte zu ihm, und alle blickten auf.

»Sehen Sie«, sagte der Kenner, Wisbottle in die rechte Stellung bringend, »ein wenig mehr nach dieser Seite; so! sehen Sie, wie glänzend das Sonnenlicht auf die linke Seite des zerbrochenen Schornsteins von Nummer 48 fällt?«

»Wahrhaftig!« rief Wisbottle bewundernd aus.

»Ich habe nie einen Gegenstand so schön gegen den klaren Himmel stehen gesehen!« rief Alfred und alle, mit Ausnahme John Evensons, stimmten ein, denn Mr. Tomkins war dafür berühmt und verdiente den Ruhm, Schönheiten zu entdecken, die sonst niemand zu entdecken vermochte.

»Ich habe zu Dublin im College-Green häufig einen Schornstein beobachtet, der eine noch weit bessere Wirkung hervorbrachte«, sagte der patriotische O’Bleary, der es nie zugab, daß Irland in irgendeinem Punkte übertroffen wurde; allein Tomkins bezeigte den offenbarsten Unglauben und erklärte, daß sich kein Schornstein in den drei Königreichen so schön ausnehmen könne wie der auf Nr. 48. Jetzt öffnete Agnes plötzlich die Tür, und Mrs. Bloss trat ein. Sie trug ein geranienfarbiges Musselinkleid, eine goldene Uhr von dem Umfang einer kleinen Teeschale an einer Kette von der Dicke eines tüchtigen Strickes und ein glänzendes Assortiment von Ringen, mit Steinen so groß wie halbe Kronen. Mrs. Tibbs stellte die Witwe und die Herren einander vor und erkundigte sich leise nach Mrs. Bloss‘ Befinden, die alle Fragen mit der vollkommensten Verachtung pedantischer, grammatikalischer Vorschriften beantwortete. Als ein allgemeines Stillschweigen eingetreten war, fragte Mrs. Tibbs, um eine Unterhaltung in Gang zu bringen, den Irländer, ob ihm die Toiletten der Damen gefallen hätten, die zum letzten Empfang bei Hofe gefahren seien. Der »Schauspieler« war eifrig mit seinem Frühstück beschäftigt und erwiderte lakonisch: »Ja.«

»Sie sahen solche Toiletten sicher noch nie?« fiel Wisbottle ein.

»Nein – ausgenommen bei den Levers des Lord Leutnants von Irland«, sagte O’Bleary.

»Hm! an unserem Hofe wird doch in der Tat ein erstaunlicher Glanz entwickelt«, bemerkte der überzeugte Konservative.

»Dachten Sie niemals daran«, knurrte der Radikale, »daß wir und Sie mit für diesen Glanz teuer bezahlen?«

»Ich habe allerdings häufig daran gedacht«, entgegnete Wisbottle, in der Meinung, die treffendste und abfertigendste Antwort zu geben; »ich habe allerdings häufig daran gedacht und bezahle ihn gern mit.«

»Ich aber keineswegs«, fuhr Evenson fort, »denn weshalb sollt‘ ich’s? Es gibt zwei große Prinzipien –«

Mrs. Tibbs unterbrach ihn jedoch durch die Frage, ob er noch eine Schale Tee wünsche, und er nahm verdrießlich sein Zeitungsblatt wieder zur Hand. Alfred Tomkins kündigte der Gesellschaft an, daß er eine Dampfbootpartie nach Richmond zu machen gedächte, und bemerkte: »Ich freue mich im voraus der köstlichen Licht- und Schatteneffekte auf der Themse. Der Kontrast zwischen dem blauen Himmel und dem gelben Wasser ist häufig ausnehmend schön.« Mr. Wisbottle pfiff: »Auf glänzenden Silberwellen«, und O’Bleary sagte: »Wir haben ganz vortreffliche Dampfschiffe in Irland.« Mrs. Bloss war erfreut, daß ein Gespräch begonnen worden war, an dem sie teilnehmen konnte, und fiel vergnügt ein: »Da haben Sie vollkommen recht, Sir! Mein seliger Mann mußte von Zeit zu Zeit in Geschäften nach Irland; ich pflegte ihn zu begleiten, und wirklich, es war unübertrefflich, wie die Damen und Herren mit Betten bedient wurden.«

Tibbs öffnete den Mund zu einer Frage, wurde aber durch einen Blick seiner Gattin davon zurückgehalten. Wisbottle lachte und sagte, Tomkins habe einen Witz gemacht, und Tomkins lachte gleichfalls und sagte, es sei nicht der Fall.

Die Unterhaltung geriet ins Stocken, und die Frühstückenden spielten mit ihren Teelöffeln. Die Herren sahen aus dem Fenster, gingen im Zimmer umher und schlichen, wenn sie sich der Tür näherten, einer nach dem andern hinaus. Tibbs wurde hinausgewiesen, und Mrs. Tibbs und die Witwe blieben allein zurück.

»Ach, es ist ganz eigentümlich«, sagte die letztere, »ich fühle mich entsetzlich schwach« (was in der Tat auffallend war, da sie vier Pfund Brot und Fleisch zu sich genommen hatte). »Beiläufig, ich habe ja Mr. Gobler nicht gesehen.«

»Er ist ein äußerst mysteriöser Mann«, versetzte Mrs. Tibbs, »läßt sich das Essen hinaufbringen und kommt bisweilen wochenlang nicht aus seinem Zimmer.« – »Ich habe nichts von ihm gesehen noch gehört.«

»Sie werden ihn sicher heute noch hören; er stöhnt an den Sonntagabenden in der Regel gewaltig.«

»Ich habe noch nie in meinem Leben eine solche Anteilnahme für jemand empfunden«, sagte Mrs. Bloss, und gleich darauf wurde Doktor Wosky hereingeführt. Der Doktor war ein kleiner, schwarzgekleideter Mann mit einem roten Gesicht und trug eine steife, weiße Halsbinde. Er hatte eine sehr gute Praxis und viel Geld, das er dadurch erworben hatte, daß er den schlimmsten Einbildungen und Gelüsten seiner Patienten stets nachgab. Er erkundigte sich nach Mrs. Bloss‘ Befinden, die Witwe klagte, und er verordnete ihr Vermeidung von Aufregungen, nahrhafte Speisen und reichliches und starkes Getränk, steckte sein Honorar ein und entfernte sich, um andere Patientinnen gleich gut zu beraten und gleich gewissenhaft verdiente Guineen einzustecken.

Der geheimnisvolle Mr. Gobler war ein müßiggängerischer, träger, selbstsüchtiger Hypochonder, der fortwährend klagte, ohne jemals krank zu sein. Da sein Charakter dem der Witwe in vielen Beziehungen sehr nahe verwandt war, so entstand zwischen den beiden nach kurzer Zeit eine äußerst innige Freundschaft. Er war groß, schmächtig und blaß, und sein Gesicht hatte stets den Ausdruck eingebildeter Schmerzgefühle. Er sah beständig aus wie ein Mann, dessen Füße gegen seinen Willen in einem mit zu heißem Wasser angefüllten Gefäß stehen.

Ein paar Monate, nachdem Mrs. Bloss bei Mrs. Tibbs eingezogen war, bemerkte man, daß John Evenson mit jedem Tage beißender, übellauniger und boshafter wurde und noch wichtiger tat als früher, woraus klar zu ersehen war, daß er eine Entdeckung gemacht zu haben glaubte, zu deren Offenbarung er nur eine schickliche Gelegenheit erwartete, die sich endlich fand.

Eines Abends waren die Hausbewohner im Besuchszimmer versammelt. Mr. Gobler und Mrs. Bloss spielten Cribbage. Mr. Wisbottle beschrieb Halbkreise auf dem Klavierstuhl, blätterte in einem Notenbuch und pfiff höchst melodisch. Alfred Tomkins saß auf den Ellbogen gestützt am runden Tisch und skizzierte mit Bleistift einen Kopf, der beträchtlich länger als sein eigener war; O’Bleary las den Horaz und bemühte sich auszusehen, als ob er ihn verstände, und John Evenson hatte sich dicht zu Mrs. Tibbs an deren Nähtisch gesetzt und sprach leise und eifrig mit ihr.

»Ich versichere Sie, Mrs. Tibbs«, sagte er, »daß mich nur meine Teilnahme an Ihrem Wohlergehen bewegen konnte, Ihnen diese Mitteilung zu machen. Ich wiederhole es Ihnen, ich fürchte, daß Wisbottle die Neigung des jungen Frauenzimmers, der Agnes, zu gewinnen sucht, und in der Vorratskammer Zusammenkünfte mit ihr hat. Ich hörte gestern abend in meinem Zimmer deutlich Stimmen, öffnete leise die Tür, schlich an den Treppenabsatz und erblickte Mr. Tibbs, der, wie es schien, gleichfalls gestört war. – Mein Gott, Mrs. Tibbs, Sie verfärben sich ja!«

»O nein, nein – es ist nur so heiß im Zimmer«, erwiderte Mrs. Tibbs verlegen. »Wenn ich glauben müßte, was Sie von Mr. Wisbottle vermuten, so sollte er mir augenblicklich das Haus verlassen. Und wenn ihn gar mein Mann bei seinen Absichten unterstützte –«

»Ich hoffe«, fiel Evenson im beruhigendsten Tone ein, weil er es stets liebte, Unheil zu stiften, »daß Mr. Tibbs nichts mit der Sache zu schaffen hat. Er ist mir immer sehr harmlos erschienen.«

»Das ist er allerdings fast immer gewesen«, sagte die kleine Mrs. Tibbs schluchzend.

»Pst, pst! – Ich bitte – Mrs. Tibbs – bedenken Sie doch – man wird uns beobachten«, fuhr Evenson fort, der das Mißlingen seines ganzen Plans zu befürchten anfing. »Wir wollen uns schon Gewißheit verschaffen, und ich werde Ihnen mit dem größten Vergnügen meinen Beistand leihen. Wenn Sie glauben, daß alle zu Bett gegangen sind, und Sie wollen dann ohne Licht vor meiner Schlafzimmertür am Treppenfenster mit mir zusammentreffen, so denk‘ ich, wir werden dahinterkommen, wer es eigentlich ist, und Sie können dann Ihre Maßregeln danach ergreifen.«

Mrs. Tibbs war leicht überredet, denn ihre Neugier und Eifersucht waren erregt. Sie griff wieder zu ihrem Nähzeug, und Evenson ging, als wenn gar nichts vorgefallen wäre, mit den Händen auf dem Rücken im Zimmer auf und ab. Die Cribbagepartie war beendigt und die Unterhaltung begann wieder. Der Tee wurde eingenommen, und die Mieter entfernten sich endlich, um zu Bett zu gehen. Evenson zog die Stiefel aus, entschlossen, aufzubleiben, bis sich Gobler, der stets noch eine Stunde allein im Besuchszimmer blieb, Arznei einnahm und stöhnte, zur Ruhe begeben haben würde.

Es war fast zwei Uhr. »Er muß jetzt eingeschlafen sein«, dachte Evenson, nachdem er mit musterhafter Geduld noch eine Stunde gewartet, als Gobler das Besuchszimmer verlassen hatte. Er horchte – es war alles vollkommen still im Hause; er löschte sein Licht aus und öffnete seine Schlafzimmertür. Es war so finster auf der Treppe, daß man durchaus keinen Gegenstand unterscheiden konnte.

»S – s – s!« wisperte der Unheilstifter, ein Geräusch machend, wie wenn ein Feuerrad anfängt, loszugehen.

»Pst!« wisperte sonst jemand.

»Sind Sie das, Mrs. Tibbs?«

»Ja, Sir!«

»Wo sind Sie?«

»Hier«, und am Treppenfenster zeigte sich Mrs. Tibbs‘ unbestimmte Gestalt, gleich dem Geiste der Königin Anna in der Zeltszene in Shakespeares Richard dem Dritten.

»Kommen Sie, Mrs. Tibbs«, flüsterte der entzückte Evenson; »geben Sie mir Ihre Hand – so! Wer sie auch sein mögen, sie sind im Augenblick in der Vorratskammer, denn ich habe aus meinem Fenster gesehen, und konnte bemerken, daß sie zufällig die Leuchter umwarfen und sich in diesem Augenblicke in Finsternis befinden. Haben Sie die Schuhe ausgezogen?«

»Ja«, erwiderte Mrs. Tibbs, so heftig zitternd, daß sie kaum der Sprache mächtig war.

»Schön; ich habe meine Stiefel auch abgelegt, und wir können nach dem Treppengeländer schleichen und horchen.«

Es geschah.

»Ich will darauf schwören, daß Wisbottle dabei ist«, flüsterte der Radikale nach einigen Augenblicken.

»Pst! lassen Sie uns hören, was sie sagen«, erwiderte Mrs. Tibbs, deren Neugier jetzt die Oberhand über jede andere Leidenschaft oder Rücksicht gewonnen hatte.

»Ja, wenn ich Ihnen glauben könnte«, ließ sich eine kokettierende weibliche Stimme vernehmen, »so wollt‘ ich meine Missis bald genug dazu bringen.«

»Was sagt sie?« fragte Evenson, der minder scharf hörte.

»Sie will mich umbringen«, erwiderte Mrs. Tibbs. »Oh, die Verruchte! Sie sinnen auf Mord.«

»Ich weiß, daß Sie Geld nötig haben«, fuhr Agnes fort, der die Stimme angehörte, »und wenn Sie mir die fünfhundert Pfund zusichern wollen, so steh‘ ich dafür, daß sie in ganz kurzer Zeit Feuer fangen soll.«

»Was war das?« fragte Evenson, der eben genug hören konnte, um zu wünschen, mehr zu hören.

»Ich glaube, sie will das Haus in Brand stecken. Gott sei Dank, daß ich es versichert habe!« antwortete die bestürzte Mrs. Tibbs.

»Sobald ich mich deiner Missis versichert habe, bestes Kind«, sagte eine Männerstimme mit starker irischer Betonung, »so verlaß dich darauf, daß du das Geld bekommst.«

»So wahr ich lebe, es ist O’Bleary!« rief Mrs. Tibbs aus.

»Der Ruchlose!« fiel Evenson mit edler Entrüstung ein.

»Vor allen Dingen«, fuhr der Ire fort, »muß Gobler bis zu Tode –« Das übrige verlor sich.

»Das versteht sich«, bemerkte Agnes mit vollkommenster Kaltblütigkeit.

»Was hat er gesagt?« fragte Evenson abermals.

»Daß Mr. Gobler auch sterben soll«, entgegnete Mrs. Tibbs, fast versteinert ob des doppelten Mordanschlags.

»Und was Mrs. Tibbs anlangt«, fuhr O’Bleary fort, und Mrs. Tibbs schauderte.

»Pst!« rief Agnes im Tone der größten Bestürzung, als Mrs. Tibbs eben daran war, in Ohnmacht zu fallen. »Pst, still!«

»Pst, ganz still!« rief Evenson in demselben Augenblick Mrs. Tibbs zu. »Es kommt jemand die Treppe herauf«, sagte Agnes zu O’Bleary.

»Es kommt jemand die Treppe herunter«, flüsterte Evenson Mrs. Tibbs zu.

»Gehen Sie in das Besuchszimmer, Sir«, sagte Agnes. »Sie können drinnen sein, eh‘ die Person die Küchentreppe herauf ist, die da kommt.«

»In das Besuchszimmer, Mrs. Tibbs!« flüsterte Evenson, und beide eilten hinein, während sie deutlich hörten, daß zwei Personen herunterschlichen und eine hinauf.

»Mir ist alles wie ein Traum«, sagte Mrs. Tibbs. »Ich möchte um keinen Preis in dieser Situation gefunden werden.«

»Ich ebensowenig«, erwiderte Evenson, der schlechterdings keinen Scherz auf seine Kosten vertragen konnte. »Pst! sie sind vor der Tür.«

»Welch ein kostbarer Spaß!« flüsterte draußen eine Stimme. Sie gehörte Wisbottle an.

»Himmlisch«, flüsterte Alfred Tomkins. »Wer hätte sich so etwas gedacht!«

»Sagte ich’s Ihnen nicht? Er hat ihr seit zwei Monaten die ungewöhnlichste Aufmerksamkeit erwiesen. Ich beobachtete sie, während ich am Piano saß. Er flüsterte ihr zu und sie weinte, und ich will darauf schwören, er sagte ihr etwas von Zusammentreffen, wenn wir alle zu Bett gegangen wären.«

»Sie sprechen von uns!« rief die geängstigte Mrs. Tibbs aus.

»Freilich, freilich«, sagte Evenson im trostlosen Bewußtsein, daß es kein Mittel gab, der Entdeckung zu entgehen.

»Was ist zu tun? Wir dürfen uns hier durchaus nicht beieinander finden lassen«, flüsterte Mrs. Tibbs verzweifelnd.

»Ich will in den Schornstein hinaufsteigen.«

»Das können Sie nicht – er ist zu eng.« – »Pst!« rief Evenson.

»Pst, pst!« wurde unten wiederholt.

»Was für ein verwünschtes Pst-Pst-Rufen«, sagte Tomkins, der gar nicht mehr wußte, was er denken sollte.

»Da sind sie!« rief Wisbottle, als ein Rauschen in der Vorratskammer gehört wurde.

»Horch!« flüsterten beide.

»Horch!« flüsterten Mrs. Tibbs und Evenson.

»Lassen Sie mich zufrieden, Sir!« ertönte eine weibliche Stimme in der Vorratskammer.

»O Hagnes!« erwiderte eine andere Stimme, die offenbar Mr. Tibbs angehörte. »O Hagnes – immlisches Mädchen!«

»Lassen Sie mich gehen, Sir!«

»Hag–«

»So schämen Sie sich doch und denken Sie an Ihre Frau, Mr. Tibbs!«

»Meine Frau!« rief der tapfere Freiwillige, der sich offenbar Mut angetrunken hatte. »Sie ist mir bis in den Tod verhaßt, und ich kümmere mich nicht so viel um sie. Oh, Hagnes! als ich unter den Freiwilligen diente im Jahre –«

»Ich schreie, wenn Sie mich nicht zufrieden lassen.«

»Was ist das?« rief Tibbs bestürzt.

»Was denn?« fragte Agnes.

»Ei das!«

»Es wird eine schöne Geschichte werden, und das kommt nun davon, Sir«, schluchzte die erschreckte Agnes, als heftig an Mrs. Tibbs‘ Schlafzimmertür geklopft wurde.

»Mrs. Tibbs! Mrs. Tibbs!« rief Mrs. Bloss. »O bitte, stehen Sie augenblicklich auf!«

»O Himmel!« rief die unglückliche Gattin des lockeren Tibbs aus. »Sie klopft an meine Tür. Wir werden unfehlbar entdeckt werden. Was wird man von mir denken?«

»Mrs. Tibbs! Mrs. Tibbs!« fuhr die Witwe fort zu rufen.

»Was gibt es?« schrie Gobler, aus seinem Zimmer herausstürzend.

»Oh, Mr. Gobler!« rief die fast ohnmächtige Mrs. Bloss. »Ich glaube, es ist Feuer im Hause oder es sind Diebe darin. Ich habe die schrecklichsten Töne gehört.«

Gobler schoß in sein Zimmer und kehrte mit einem Lichte zurück.

»In aller Welt!« rief er aus. »Was ist denn das? Wisbottle – Tomkins – O’Bleary – Agnes! Zum Geier – alle auf und angekleidet!«

Die Witwe war herbeigelaufen und hatte sich an Goblers Arm gehängt.

»Wir müssen Mrs. Tibbs wecken!« rief Gobler und eilte in das Besuchszimmer. »Wie – was! Mrs. Tibbs und Mr. Evenson!«

»Mrs. Tibbs und Mr. Evenson!« wiederholten alle.

Wir müssen es dem Leser überlassen, sich den nun erfolgenden Auftritt selbst auszumalen. Mrs. Tibbs sank in Ohnmacht, und Wisbottle und Tomkins gelang es nur mit großer Kraftanstrengung zu verhindern, daß sie von ihrem Stuhl herunterfiel. Evenson gab Erklärungen, denen offenbar kein Glaube geschenkt wurde, Agnes wies Mrs. Tibbs‘ Anschuldigungen zurück, indem sie darzutun suchte, daß sie nur mit O’Bleary darüber unterhandelt habe, wie ihre Herrin zu beeinflussen sei, ihm ihre Neigung zuzuwenden. Gobler vernichtete O’Blearys süße Hoffnungen durch die Erklärung, daß er Mrs. Bloss bereits seinen Antrag gemacht habe und erhört sei. Agnes wurde verabschiedet, und O’Bleary nahm freiwilligen Abschied aus Mrs. Tibbs‘ Hause, ohne seine Rechnung berichtigt zu haben. Doch genug!

Gegenwärtig hat Mrs. Bloss Mr. Gobler geehelicht. Das glückliche Paar lebt in stiller Zurückgezogenheit von dem großen lärmenden Boardinghause, der Welt, freut sich seiner gegenseitigen Klagen und seines gemeinschaftlichen Tisches und wird von den Ärzten und allen Metzgern auf drei Meilen in der Runde gesegnet und gebenedeit. Mrs. und Mr. Tibbs haben sich nach einem freundschaftlichen Übereinkommen getrennt. Er teilt mit ihr seine Pension und lebt sehr zufrieden in Wolworth, wo man ihn in einer Taverne seine Geschichte hat bis zu Ende erzählen hören. Die unglückliche Mrs. Tibbs hat ihr Haus verkauft und sich in die tiefste Stille zurückgezogen, entschlossen, nie wieder ein Boardinghaus einzurichten.

Mr. Minns und sein Vetter

Mr. Augustus Minns war ein Hagestolz von ungefähr vierzig Jahren, wie er selbst sagte – von ungefähr achtundvierzig, wie seine Freunde sagten. Er war stets ausnehmend sauber, akkurat, ordentlich, vielleicht etwas pedantisch-eigen, und lebte so zurückgezogen wie immer möglich. Er trug in der Regel einen braunen Rock ohne Falten, helle Beinkleider ohne Flecke, ein hübsches Halstuch mit einer ausgezeichnet artigen Schleife, und führte einen braunseidenen Regenschirm mit einem Elfenbeingriff bei sich. Er war Büroschreiber in Somerset-House, oder »bekleidete«, wie er selbst zu sagen pflegte, »ein Amt bei der Regierung«. Er bezog ein gutes Gehalt, hatte zehntausend Pfund an Vermögen und eine Beletage in Tavistock-Street, Covent-Garden, inne, wo er seit zwanzig Jahren gewohnt, fortwährend mit dem Hauswirte gezankt, ihm regelmäßig am ersten Quartalstage die Miete aufgekündigt und am zweiten die Aufkündigung widerrufen hatte. Zwei Gruppen der Geschöpfe flößten ihm den tiefsten und grenzenlosesten Schauder ein: nämlich Hunde und Kinder. Er war nicht lieblos, würde aber jederzeit mit der lebhaftesten Freude einen Hund hinrichten oder ein Kind erdolchen gesehen haben. Ihre Art war mit seiner Ordnungsliebe im Widerstreit, und die Ordnungsliebe war bei ihm so mächtig wie die Liebe zum Leben. Mr. Augustus Minns hatte keine Anverwandten weder in noch außerhalb Londons, mit Ausnahme seines Vetters Mr. Oktavius Budden, bei dessen Sohn, den er nie gesehen (denn er konnte den Vater nicht leiden), er sich hatte bewegen lassen, durch Stellvertretung Gevatter zu stehen. Mr. Budden hatte sich durch sein Geschäft, den Kornhandel, ein mittelmäßiges Vermögen erworben und (da er von einer großen Vorliebe für das Landleben erfüllt war) ein Häuschen nicht weit von Stamford-Hill gekauft, wohin er sich mit der Frau seines Herzens und seinem einzigen Sohn, Master Alexander Augustus Budden, zurückgezogen hatte. Als Mr. und Mrs. Budden eines Abends diesen ihren Sohn bewunderten, seine mannigfachen Vorzüge erörterten, seine Erziehung besprachen und die Frage erwogen, ob die alten Sprachen in den Kreis seiner Studien gezogen werden sollten, führte Mrs. Budden ihrem Gatten so dringend zu Gemüte, wie angemessen es wäre, ihres Sohns wegen Mr. Minns‘ Freundschaft zu pflegen, daß Mr. Budden zuletzt versprach, es solle seine Schuld nicht sein, wenn er mit seinem Vetter künftig nicht auf einem vertrauteren Fuße stände.

»Ich will das Eis dadurch brechen, daß ich ihn zum Mittagessen auf nächsten Sonntag zu uns einlade«, sagte Mr. Budden, seinen Grog umrührend und seiner Gattin einen Seitenblick zuwerfend, um zu sehen, welche Wirkung die Ankündigung des großen Entschlusses bei ihr hervorbringe.

»Dann schreib ihm auf der Stelle, Mann«, erwiderte Mrs. Budden. »Wer weiß, wenn wir ihn erst einmal hier haben, ob er nicht unsern Alexander liebgewinnt und ihm sein Geld vermacht? Liebster Alick, setz deine Füße nicht auf die Stuhlleisten!«

»Du hast recht, vollkommen recht, liebe Frau«, sagte Mr. Budden nachdenklich.

Als Mr. Minns am folgenden Morgen beim Frühstück saß und abwechselnd einen Bissen von der gerösteten Brotschnitte abbiß und einen Blick in die Morgenzeitung warf, die er stets vom Titel bis zum Namen des Druckers durchlas, hörte er an der Haustür laut klopfen, und bald darauf trat sein Bedienter herein und überreichte ihm eine sehr kleine Karte mit sehr großer Schrift: »Oktavius Budden, Emiliensitz (Mrs. Budden hieß Emilie), Poplar-Walk, Stamford-Hill.«

»Budden!« rief Minns aus. »Was zum Geier mag diesen gewöhnlichen Menschen herführen? Sag, ich schliefe noch – sei ausgegangen und käme nie wieder nach Hause oder was du sonst willst, daß er nur unten bleibt.«

»Der Herr kommt aber schon herauf, Sir«, wendete der Bediente ein und hatte offenbar vollkommen recht, denn auf der Treppe ließ sich ein schreckliches Stiefelknirschen vernehmen, das von einem trappelnden Geräusch begleitet war, dessen Ursache sich Mr. Minns schlechterdings nicht zu erklären vermochte.

»Hm! – führe den Herrn herein«, sagte der unglückliche Hagestolz.

Der Bediente ging, Oktavius kam, und noch vor ihm erschien ein großer, weißer Hund in einem die Hälfte seines Leibes einhüllenden Wollkleid, mit roten Augen, langen Ohren und ohne erkennbaren Schwanz. Die Ursache des Trappelns auf der Treppe war nur zu klar. Mr. Augustus Minns hätte vor Entsetzen zu Boden sinken mögen.

»Guten Morgen, Liebster! Wie befinden Sie sich?« sagte Budden beim Eintreten. »Wie befinden Sie sich?«

Er sprach immer so laut wie er konnte und wiederholte dieselben Worte ein halbes Dutzend mal.

»Wie befinden Sie sich, mein Lieber?«

»Wie befinden Sie sich selbst, Mr. Budden? Setzen Sie sich«, stotterte der noch immer fassungslose Minns.

»Danke schön – danke schön – sehr wohl – wie steht es mit Ihnen?«

»Dank Ihnen – ich befinde mich außerordentlich wohl«, sagte Minns mit einem diabolischen Blick nach dem Hund, der seine Vorderpfoten auf den Tisch gelegt hatte und soeben eine mit Butter bestrichene Brotschnitte vom Teller nahm, um sie auf dem Teppich, die Butterseite nach unten, zu verzehren.

»Ei, du Schelm!« sagte Budden zu seinem Hunde. »Sie sehen, Minns, er macht’s wie ich selber – tut immer, als ob er zu Hause wäre. Wahrhaftig, ich bin grausam heiß und hungrig geworden, denn ich habe den ganzen Weg von Stamford-Hill hierher zu Fuß zurückgelegt.«

»Haben Sie gefrühstückt?« fragte Minns.

»Hm, nein! Ich bin eben gekommen, um bei Ihnen zu frühstücken; also klingeln Sie nur, mein Bester, und lassen Sie noch eine Teeschale und ein paar Stück kalten Schinken bringen. Ich tue immer, als ob ich zu Hause wäre, sehen Sie«, fuhr Budden, seine Schuhe mit einem Tellertuche abstaubend, fort. »Ha – ha – ha – ha – ha! Auf Ehre, ich bin hungrig.«

Minns klingelte und gab sich Mühe, zu lächeln.

»Ich bin bestimmt in meinem ganzen Leben nicht so heiß gewesen«, sprach Oktavius weiter, sich die Stirn abwischend. »Nun aber, wie geht es Ihnen, Minns? Bei meiner Seele, Sie halten sich vorzüglich!«

»Meinen Sie?« sagte Minns und bemühte sich, abermals zu lächeln.

»Auf meine Ehre!«

»Wie befinden sich Mrs. Budden und – wie heißt er doch?«

»Alick – Sie meinen Alick – unsern Sohn. Beide wohl. Alick sehr wohl. Aber in einer Wohnung, wie wir sie in Poplar-Walk haben, könnte er auch nicht krank sein, selbst wenn er wollte. Als ich sie zuerst sah mit dem Garten, der allgemeinen Eleganz, dem messingenen Klopfer, dem grünen Zaun, und was weiter dahin gehört, dachte ich wirklich, sie ginge ein klein wenig über meinen Stand hinaus.«

»Sollte Ihnen der Schinken nicht besser schmecken«, unterbrach Minns, »wenn Sie ein Stück von der anderen Seite abschnitten?« Er sah mit unmöglich zu beschreibenden Gefühlen, daß sein Gast den Schinken allen Regeln zuwider anschnitt oder vielmehr verstümmelte.

»Nein, danke schön«, sagte Budden mit wahrhaft barbarischer Gleichgültigkeit gegen seine Übertretung, »ich schneide ihn lieber so – er ißt sich nicht so faserig. Aber hören Sie, Minns, wann wollen Sie uns besuchen? Ich weiß, es wird Ihnen ganz ausnehmend bei uns gefallen. Ich sprach mit Emilie vor ein paar Abenden von Ihnen, und Emilie sagte – bitte mir noch ein Stück Zucker aus – danke – sagte, ich möchte Sie doch einmal freundschaftlich zu uns bitten – herunter da, Schlingel! – der Bösewicht von Hund verdirbt Ihnen Ihre Vorhänge, Minns – ha-ha-ha!«

Minns sprang empor, als wenn er von einem elektrischen Schlage getroffen wäre. »Hinaus – willst du wohl? – hinaus!« rief der arme Augustus, hielt sich jedoch nichtsdestoweniger in ehrerbietiger Entfernung von dem Hunde, da er noch vor einer halben Stunde in der Zeitung einen Bericht über einen Tollwutanfall gelesen hatte. Nach vieler Mühe, großem Rufen und Geschrei und wiederholtem Unter-die-Tische-Stoßen mit Stock und Regenschirm wurde der Hund endlich genötigt, das Feld zu räumen, worauf er sofort das fürchterlichste Geheul erhob und zugleich so beharrlich die Tür von draußen zerkratzte, daß kaum noch eine Spur von Farbe zurückblieb.

»Der Hund ist großartig für das Land«, bemerkte Budden kaltblütig, während Minns fast von Sinnen war. »An Zwang ist er freilich eben nicht gewöhnt. Doch sagen Sie, Minns, wann wollen Sie kommen? Ich nehme platterdings keine Entschuldigung an. Warten Sie mal – wir haben heute Donnerstag – wollen Sie am Sonntag kommen? Wir essen um fünf Uhr. Nicht wahr, Sie sagen nicht nein?«

Unaufhörlich bestürmt und endlich zur Verzweiflung getrieben, nahm Mr. Augustus Minns die Einladung an und versprach, am nächstfolgenden Sonntage ein Viertel vor fünf Uhr in Poplar-Walk zu erscheinen.

»Verlieren Sie die Adresse nicht«, sagte Budden, »die Kutsche geht vom ›Blumentopf‹ in der Bishopgatestraße jede halbe Stunde ab. Wenn Sie vor dem ›Schwan‹ anhält, werden Sie gerade gegenüber ein weißes Haus bemerken.«

»Ihr Haus – verstehe«, fiel Minns ein, der dem Besuche und zugleich der Geschichte ein Ende zu machen wünschte.

»Nein, nein«, entgegnete Budden, »es ist Grogus, des großen Eisenhändlers Haus. Ich wollte sagen, Sie gehen an dem weißen Hause vorüber, bis Sie keinen Schritt mehr weiter können, sehen dann eine Mauer vor sich, auf der geschrieben steht: ›Man nehme sich vor dem Hunde in acht!‹ – (Minns schauderte) – gehen an ihr etwa eine Viertelmeile entlang, und dann wird Ihnen jedermann meine Wohnung zeigen.«

»Sehr wohl – danke – adieu!«

»Seien Sie pünktlich!«

»Unfehlbar – guten Morgen!«

»Sie haben doch meine Karte?«

»Ja, ja; ich danke Ihnen.«

Mr. Oktavius Budden ging, und sein Vetter sah dem nächstfolgenden Sonntag mit den Gefühlen entgegen, mit denen ein armer Poet den wöchentlichen Besuch seiner schottischen Hauswirtin erwartet. – Der Sonntag kam; der Himmel war hell und klar; die Straßen wimmelten von geputzten Leuten, und alles und jedermann sah heiter aus, Mr. Augustus Minns allein ausgenommen.

Es war ein schöner, aber auch sehr heißer Tag, und nachdem Minns die Fleetstraße, Cheapside und Threadneedlestraße auf der Schattenseite mühsam durchwandert hatte, war er erklecklich warm und staubig geworden, und obendrein wurde es spät. Indes hielt eben, als er anlangte, zum außerordentlich großen Glück eine Kutsche vor dem »Blumentopf«, und Mr. Augustus Minns stieg sogleich ein, da ihm der Cad die feierliche Versicherung gab, daß sie in drei Minuten abfahren würde, denn dies sei die längste Zeit, die sie kraft betreffender Parlamentsakte warten dürfe. Es verging eine Viertelstunde, und noch immer war kein Zeichen bevorstehender Abfahrt zu erblicken. Minns sah zum sechsten Male auf seine Uhr.

»Kutscher, werden Sie abfahren oder nicht?« rief er aus dem Kutschenfenster hinaus.

»Sogleich, Sir«, rief der Kutscher zurück, der die Hände in die Taschen gesenkt hatte und einem Manne, der Eile hat, so wenig wie möglich ähnlich sah.

»Bill, nimm die Decken herunter!«

Nach abermaligen fünf Minuten stieg der Kutscher auf den Bock, schaute die Straße hinauf und herunter und rief noch fünf Minuten alle Fußgänger an.

»Kutscher, wenn Sie nicht im Augenblick abfahren, so werde ich wieder aussteigen«, sagte Mr. Minns, der nunmehr in Verzweiflung geriet, weil er die Unmöglichkeit erkannte, zur bestimmten Zeit nach Poplar-Walk zu gelangen.

»In der Minute, Sir«, lautete die Antwort, und die Maschine setzte sich wirklich in Bewegung, rumpelte einige hundert Schritte über das Pflaster hin und – hielt abermals still. Minns drückte sich in eine Ecke und überließ sich den schwärzesten Gedanken – als er ein Kind, eine Mutter, eine Schachtel und einen Sonnenschirm zu Reisegefährten erhielt. Das liebe Kind war von der zutunlichen und zärtlichen Art, hielt Minns irrtümlich für seinen Vater, schrie und wollte ihn umarmen.

»Sei still«, sagte die Mutter, ihren kleinen Liebling zurückhaltend, der mit seinen fetten Beinchen vor Ungeduld umherstrampelte und die wunderbarsten Verschlingungen machte. »Sei still, das ist dein Papa nicht.«

»Dem Himmel sei Dank«, dachte Minns, und der erste Freudestrahl an diesem Tage durchblitzte gleich einem Meteor das Dunkel seines Elends.

Bei dem Knäblein vermischte sich anmutig Freude am Scherz mit Zärtlichkeit. Als es sich überzeugt hatte, daß Minns sein Vater nicht war, machte es den Versuch, die Aufmerksamkeit des Herrn dadurch auf sich zu lenken, daß es dessen saubere Beinkleider mit seinen schmutzigen Schuhen rieb; ihn mit Mamas Sonnenschirm vor die Brust stieß und andere kleine, der Kindheit eigentümliche Liebkosungen vornahm, womit es sich die Langeweile der Fahrt (lediglich zu seiner eignen großen Belustigung) vertrieb.

Als der unglückliche Minns vor dem »Schwan« anlangte, ersah er zu seinem großen Schrecken, daß es ein Viertel nach fünf Uhr vorüber war. Er eilte an dem weißen Hause und der Mauer mit der ominösen Inschrift so rasch vorüber, wie es bei Herren von einem gewissen Alter, wenn sie zu spät zum Mittagessen kommen, nicht ungewöhnlich ist. Nach wenigen Minuten erblickte er ein gelbes Backsteinhaus mit grüner Tür, Messingklopfer, grünen Jalousien und grünem Zaun und einem »Garten« davor, das will sagen, einem offenen Platz mit einem runden und zwei schiefdreieckigen Beeten, auf denen ein Tannenbäumchen, ein paar Dutzend Zwiebelgewächse und eine unbegrenzte Anzahl von Ringelblumen standen. Mr. und Mrs. Buddens Geschmack offenbarte sich ferner durch zwei an der Haustür einander gegenüber auf Steinhaufen und Muscheln sitzende Cupidos. Auf Minns‘ Klopfen erschien ein kleiner und dicker Knabe in brauner Livree, baumwollenen Strümpfen und kurzen Stiefeln, hängte des Besuchers Hut an einen der den Flur, höflich »Halle« genannt, zierenden Messinghaken auf und führte Minns in das Besuchszimmer, das von einer sehr weiten Aussicht auf die Hinterhäuser der Nachbarn beherrscht wurde. Nachdem die Vorstellungsfeierlichkeit vorüber war, nahm Minns mit nicht geringer Unbehaglichkeit Platz, denn einmal war er der zuletzt Gekommene, und sodann fühlte er, daß er etwa von einem Dutzend Leute, die in einem kleinen Zimmer beisammensaßen und nicht wußten, wie sie die Zeit vor dem Mittagessen – die langweiligste von allen Zeiten – hinbringen sollten, wie ein Wundertier betrachtet wurde.

»Nun, Brogson«, redete Budden einen ältlichen Herrn in einem schwarzen Rock, kurzen Beinkleidern und langen Gamaschen an, der sich den Anschein gegeben hatte, die Bilder in einem Taschenbuch zu besehen, in der Tat aber beschäftigt gewesen war, über die Blätter hinüber Minns zu mustern; »nun, Brogson, was denken die Minister zu tun? Werden sie abtreten oder was sonst?«

»Hm –wirklich – Sie wissen, ich bin der letzte, an den man sich wenden muß, um Neuigkeiten zu erfahren; Ihr Herr Vetter wird die Frage seiner Stellung nach am ehesten beantworten können.«

Minns versicherte, daß er, obwohl er ein Amt bei der Regierung bekleide, keine offiziellen Mitteilungen in betreff der Absichten der Minister Ihrer Majestät erhalten habe. Seine Entgegnung wurde offenbar ungläubig aufgenommen, es entstand eine lange Pause, und die Gesellschaft suchte diese durch Husten und Räuspern auszufüllen, bis Mrs. Buddens Eintreten veranlaßte, daß man sich allgemein erhob. Bald darauf wurde gemeldet, daß angerichtet sei, man begab sich hinunter, und Minns führte Mrs. Budden bis vor die Tür des Besuchszimmers, jedoch nicht weiter, da die Treppe so schmal war, daß seine fernere Galanterie dadurch unmöglich gemacht wurde. Beim Essen ging es wie gewöhnlich zu. Von Zeit zu Zeit vernahm man unter dem Geklapper der Messer und Gabeln und dem Unterhaltungsgesumme die Stimme Mr. Buddens, wenn er jemand aufforderte, Wein mit ihm zu trinken, und dem Gast versicherte, erfreut zu sein, ihn bei sich zu sehen; auch war ein fortwährendes Parlamentieren zwischen Mrs. Budden und den Aufwärtern bemerkbar, wobei das Antlitz der Dame alle Wetterglasveränderungen und Stadien von »Sturm« bis zum »schönen Wetter« und »sehr trocken« durchlief.

Als der Nachtisch und der Wein auftragen worden waren, holte der Bediente, einem bedeutsamen Blick Mrs. Buddens gehorsam, Master Alexander in einem himmelblauen Habit mit silbernen Knöpfen und mit fast ebenso weißem Haar herunter. Nachdem Master Alexander einige Lobsprüche von der Mama und einige Ermahnungen zu artiger Aufführung vom Papa erhalten hatte, wurde er seinem Taufpaten vorgestellt.

»Nun, Kleiner, du bist ein hübscher Knabe, nicht wahr?« sagte Minns so vergnügt wie eine Meise auf einer Leimrute.

»Ja.«

»Wie alt bist du denn?«

»Nächsten Mittwoch acht Jahr. Wie alt bist du denn?«

»Alexander«, fiel die Mutter ein, »wie kannst du so dreist sein, Mr. Minns nach seinem Alter zu fragen?«

»Er fragte mich aber, wie alt ich sei«, sagte der frühreife liebe Knabe, dem Minns nie einen Schilling zu vermachen von dem Augenblick an innerlich fest beschloß.

Es entstand ein ziemlich allgemeines Gekichere, und als es wieder aufgehört hatte, rief ein kleiner, stets lächelnder Mann mit rotem Knebelbart, der unten am Tische saß und während des ganzen Diners bemüht gewesen war, einige Anekdoten von Sheridan an den Mann zu bringen, sehr im Gönnertone dem Knäblein zu: »Alick, was für ein Redeteil ist sein»?«

»Ein Zeitwort.«

»So war es recht mein Junge«, sagte Mrs. Budden mit dem ganzen Stolze einer Mutter. »Du weißt doch aber auch, was ein Zeitwort ist?«

»Ein Zeitwort ist ein Wort, das etwas sein, tun oder leiden bedeutet, wie: ich bin – ich regiere – ich werde regiert. Gib mir einen Apfel, Mama!«

»Ich will dir einen Apfel geben«, rief ihm der Rotbart zu, der als Hausfreund zum Familienkreis gehörte oder, mit andern Worten, von Mrs. Budden stets eingeladen wurde, gleichviel ob es Mr. Budden genehm war oder nicht; »ich will dir einen Apfel geben, wenn du mir die Bedeutung von ›sein‹ sagst.«

»Nein«, entgegnete das Knäblein sehr ungebärdig, »ich will einen Apfel haben von Mama, und du kannst deinen Apfel behalten; und Papa hat gesagt, du wärst –«

»Meine Herren«, rief Mr. Budden mit Stentorstimme und sichtbarer Unruhe, »darf ich Sie bitten, die Gläser zu füllen? Ich habe eine Gesundheit vorzuschlagen.«

Die Herren riefen: »Hört, hört« und ließen die Flaschen herumgehen, worauf Mr. Budden fortfuhr:

»Meine Herren, es befindet sich ein Mann in unserer Mitte –«

»Hört, hört!« rief der kleine Rotbart dazwischen.

»Bitte seien Sie still, Jones«, sagte Budden und fuhr fort wie folgt: »Es befindet sich ein Mann in unserer Mitte, dessen Anwesenheit ohne Zweifel zu unserer höchsten Freude gereichen und – und – und dessen interessante Unterhaltung uns allen das lebhafteste Vergnügen verschafft haben muß.« (»Dem Himmel sei Dank, er kann mich nicht meinen!« dachte Minns, der, seit er das Haus betreten, keine zehn Worte gesprochen hatte.) »Meine Herren, ich selbst darf keine Ansprüche machen und sollte mich vielleicht entschuldigen, daß ich mich durch meine Freundschaft und Zuneigung für den Verehrten, den ich im Sinne habe, bewegen ließ, mich zu erheben und seine Gesundheit – die Gesundheit eines Mannes vorzuschlagen, der, wie ich weiß – ich wollte sagen, dessen Tugenden ihn allen denen teuer machen müssen, die ihn kennen – und dem niemand gram sein kann, der ihn nicht kennt.« »Hört, hört!« rief die Gesellschaft ermutigend und beistimmend.

»Meine Herren«, sprach Budden weiter, »mein Vetter ist ein Mann, der – der mein Anverwandter ist –« (Hört, hört! Minns stöhnte hörbar), »den ich mich glücklich schätze, hier zu sehen, und der uns, wenn er nicht hier wäre, sicher des großen Vergnügens beraubt haben würde, das wir alle an seiner Gegenwart empfinden. (Lautes und vielfaches Hört!) Meine Herren, ich fühle, daß ich Ihre Aufmerksamkeit schon gar zu lange in Anspruch genommen habe, und erlaube mir, mit den Gefühlen – den lebhaftesten Gefühlen des – des – des –«

»Vergnügens«, half der Hausfreund ein.

»Des Vergnügens, Ihnen Mr. Minns Gesundheit vorzuschlagen.«

»Stehend, meine Herren«, rief der unermüdliche kleine Rotbart, »und mit allen Honneurs. Haben Sie die Güte, sich nach mir zu richten.«

Er schrie vor und die Gesellschaft schrie nach, und aller Blicke waren auf Minns gerichtet, der seine Verwirrung dadurch zu verbergen suchte, daß er auf die augenscheinliche Gefahr, zu ersticken, Portwein hinuntergoß. Nach einer Pause, die so lang war, wie der Anstand sie zuließ, erhob er sich; allein, wie es in den Zeitungsberichten heißt, »wir bedauern, gänzlich außerstande zu sein, den Inhalt der Rede des ehrenwerten Herrn wiederzugeben«. Die Worte: »anwesende Gesellschaft – Ehre – vorkommende Veranlassung« und »ausnehmendes Vergnügen«, die man verstand und die er von Zeit zu Zeit mit einem Gesicht wiederholte, das ebensoviel Verlegenheit als tiefempfundenen Jammer ausdrückte, gaben den Herrschaften die Überzeugung, daß er vortrefflich rede, und sie zollten ihm daher, als er sich wieder setzte, stürmischen Beifall, worauf Jones, der schon lange seine Gelegenheit erwartete, emporschoß.

»Budden«, sagte er, »erlauben Sie mir, auch eine Gesundheit vorzuschlagen?«

»Versteht sich«, erwiderte Budden und rief Minns mit leiser Stimme über den Tisch hinüber zu: »Ein verflucht gescheites Männchen – seine Rede wird Ihnen ausnehmend gefallen. Er spricht über alle Gegenstände gleich gut.« Minns verbeugte sich, und Mr. Jones hub an:

»Es ist bei mehreren Gelegenheiten, in verschiedenen Fällen, unter mannigfachen Umständen und in Gesellschaften aller Art mir zugefallen, denen eine Gesundheit vorzuschlagen, in deren Mitte ich mich eben zu befinden die Ehre hatte. Ich bekenne es gern – denn warum sollte ich es verhehlen? –, daß ich bisweilen fühlte, wie überwältigend meine Aufgabe und wie wenig ich ihr gewachsen war. Ist dies nun aber bei anderen Gelegenheiten der Fall gewesen, in welchem Maße muß es unter den außerordentlichen Umständen der Fall sein, in denen ich mich hier sehe! (Hört, hört!) Meine Gefühle ganz zu schildern würde unmöglich sein, aber ich kann Ihnen keine bessere Vorstellung davon geben als dadurch, daß ich mich auf einen Umstand beziehe, der mir sonderbar genug eben jetzt in den Sinn kommt. Einst, als der wahrhaft große Sheridan –«

Man kann nicht sagen, welche neue Spitzbüberei dem so sehr mißhandelten Sheridan in der Form eines Scherzes aufgebürdet werden sollte; denn in dem verhängnisvollen Augenblick stürzte einer der Aufwärter atemlos herein, um anzukündigen, daß es stark regne und daß der Neun-Uhr-Kutscher unten stände, um sich zu erkundigen, ob jemand mit zur Stadt zu fahren wünsche, für den er noch einen Innenplatz habe.

Minns sprang auf und ließ sich durch die zahllosesten Vorstellungen, Bitten und Verwunderungsbezeigungen von seinem Entschlusse nicht abbringen, den vakanten Platz anzunehmen. Indes war der braunseidene Regenschirm nirgends zu finden, und der Kutscher wollte nicht warten, sondern ließ Mr. Minns sagen, er möge nur nach dem »Schwan« kommen, von wo er ihn mitnehmen wollte. Minns entsann sich erst nach zehn Minuten, daß er den Regenschirm in der anderen Kutsche hatte stehenlassen, und gehörte außerdem keineswegs zu den Geschwindesten; es war demnach gar kein Wunder, daß er im »Schwan« erst anlangte, als die Kutsche – die letzte – bereits abgefahren war.

Es mochte drei Uhr nach Mitternacht sein, als er durchnäßt und durchkältet, verdrießlich und erschöpft an seiner Haustür klopfte. Er machte am andern Morgen sein Testament, und sein Anwalt hat uns im strengsten Vertrauen, worin auch wir den Lesern die Mitteilung machen, gesagt, daß darin weder der Name von Mr. Oktavius noch der von Mrs. Emilie oder der von Master Alexander Budden vorkäme.

Empfindsamkeit

Die beiden Misses Crumpton in Minerva-House, Hammersmith, waren zwei ungewöhnlich große, außerordentlich schmächtige und besonders magere Damen – von sehr gerader Haltung und sehr gelbem Teint. Miss Amalia Crumpton bekannte sich zu achtunddreißig, und Miss Maria Crumpton räumte ein, daß sie vierzig Jahre alt sei – ein Geständnis, das durch den Augenschein vollkommen überflüssig wurde, nach dem sie ohne alle Frage fünfzig zählte. Sie kleideten sich auf das Interessanteste – wie Zwillinge – und sahen so vergnügt und erfreulich aus wie ein Paar in Samen geschossene Ringelblumen. Sie waren sehr förmlich, hatten die denkbar strengsten Vorstellungen von Schicklichkeit, sie trugen falsches Haar und dufteten stets sehr stark nach Lavendel.

Minerva-House, das unter der Leitung der beiden Schwestern stand, war eine sogenannte »Vollendungspension für junge Damen«, in der einige zwanzig Mädchen von dreizehn bis neunzehn einige Brocken von allem und Kenntnis von nichts erhielten: Unterricht im Französischen und Italienischen, Tanzstunden zweimal wöchentlich und andere Notwendigkeiten des Lebens. Das Haus war weiß, stand etwas entfernt von der Straße, und der Garten zwischen ihr und jenem hatte ein dichtes Gitter. Die Schlafzimmerfenster standen fortwährend teilweise offen, um den Vorübergehenden einen flüchtigen Blick auf die Menge der kleinen Bettgestelle mit sehr weißen Dimityüberzügen zu gestatten; und im Erdgeschoß befand sich ein Zimmer, behangen mit stark kolorierten Karten, die nie angesehen, und gefüllt mit Büchern, die von niemand gelesen wurden: ein Zimmer, sagen wir, ausschließlich bestimmt, um darin die Eltern zu empfangen, die sich zu den Misses Crumpton verfügten.

»Liebe Amalia«, sagte Miss Maria Crumpton, als sie eines Morgens mit gewickeltem Haar – denn sie wickelte es bisweilen, um die jungen Damen zu überzeugen, daß es natürliches sei – in das Unterrichtszimmer trat: »Liebe Amalia, ich habe soeben eine höchst erfreuliche Zuschrift erhalten. Du kannst sie dreist laut lesen.«

Miss Amalia las sogleich mit großem Triumphe wie folgt:

»Indem ich mich Ihnen empfehle, erlaube ich mir zu sagen, daß ich sehr dankbar dafür sein würde, wenn Sie mich morgen um ein Uhr mit Ihrem Besuche beehren wollten, da ich recht sehr wünsche, mein Vorhaben mit Ihnen zu besprechen, meine Tochter Ihrer Leitung zu übergeben.

Cornelius Brook Dingwall, Esq., Adelphi. Parlamentsmitglied.«

»Also morgen.«

»Die Tochter eines Parlamentsmitglieds!« rief Miss Amalia im Tone der Ekstase aus.

»Die Tochter eines Parlamentsmitglieds!« wiederholte Miss Maria mit einem verzückten Lächeln, das natürlich bei den sämtlichen jungen Damen ein Gekicher des Vergnügens hervorrief.

»Es ist überaus erfreulich!« sagte Miss Amalia, worauf die jungen Damen abermals Bewunderung murmelten. Höflinge sind nur Schulkinder mit fünfzig multipliziert.

Das Ereignis war so wichtig, daß die Misses Crumpton sogleich die Stunden für den Tag frei gaben und sich in ihr Zimmer zurückzogen, um es noch weiter zu besprechen. Die jüngeren Mädchen erörterten das mutmaßliche Aussehen und Benehmen der Parlamentsmitgliedstochter, und die jungen Damen im achtzehnten und neunzehnten Jahr erklärten sich begierig zu wissen, ob sie verlobt, ob sie hübsch sei, viel Turnüre trüge und was der ähnlichen Wichtigkeiten mehr waren. Die beiden Misses Crumpton begaben sich am folgenden Tage zur bestimmten Zeit nach dem Adelphihotel, hatten sich natürlich auf das beste herausgeputzt und sahen so liebenswürdig wie möglich aus – was, beiläufig bemerkt, nicht eben viel bei ihnen sagen wollte. Sie übergaben einem feuerrot aussehenden Bedienten in glänzender Livree ihre Karten und wurden hineingeführt zu dem bedeutenden Manne.

Cornelius Brook Dingwall, Esq., Parlamentsmitglied, war sehr vornehm, sehr feierlich und sehr wichtig. Er hatte von Natur einen etwas krampfhaften Gesichtsausdruck, der dadurch nicht weniger auffallend wurde, daß er eine unendlich steife Halsbinde trug. Er war ausnehmend stolz auf das seinem Namen angehängte »P.M.« und ließ nie eine Gelegenheit unbenutzt vorübergehen, alle, mit denen er zu tun hatte, an seine Würde zu erinnern. Er hatte eine große Vorstellung von seinen Fähigkeiten, was sehr angenehm für ihn sein mußte, da sonst niemand etwas davon hielt; und in der Diplomatie, im kleinen Rahmen seiner Familienangelegenheiten, meinte er, ohnegleichen zu sein. Er war Friedensrichter in der Provinz, erfüllte seine friedensrichterlichen Obliegenheiten mit aller gebührender Unparteilichkeit und Gerechtigkeit und brachte häufig Wilddiebe ins Gefängnis und sich selbst in Verlegenheit. Miss Brook Dingwall gehörte der umfangreichen Klasse von jungen Damen an, die man gleich Adverbien daran erkennen kann, daß sie Alltagsfragen beantworten und sonst nichts tun.

Das Parlamentsmitglied saß in einer kleinen »Bibliothek«, an einem mit Papier bedeckten Tisch, tat gar nichts und bemühte sich, beschäftigt auszusehen. Parlamentsakten und Briefe, gerichtet an »Cornelius Brook Dingwall, Esq., P.M.«, lagen in kunstvoller Unordnung umher. Im Zimmer spielte eine jener Landplagen, ein verzogenes, nach der neuesten Mode herausgeputztes Kind in einem blauen Kittel mit einem eine Viertelelle breiten Gürtel, der mit einer ungeheuren Schnalle befestigt war, so daß das Knäblein wie ein durch ein Verkleinerungsglas beschauter Melodramaräuber aussah.

Nach einigen liebenswürdigen Scherzen von Seiten des holden Kleinen, der sich ein Vergnügen daraus machte, mit Miss Maria Crumptons Stuhl so schnell davonzulaufen, als er für sie hingestellt war, gelangten die Damen zum Sitzen, und Cornelius Brook Dingwall, Esq., eröffnete die Unterredung. Er hatte Miss Crumpton, wie er sagte, gebeten, zu ihm zu kommen, weil ihm sein Freund, Sir Alfred Muggs, ihre Pensionsanstalt so sehr gerühmt habe. Miss Crumpton murmelte ihm (Muggs) ihren Dank, und Cornelius fuhr fort: »Eine meiner Hauptgründe, Miss Crumpton, meine Tochter anderen Händen zu übergeben, ist der, daß sie sich in der letzten Zeit gewisse sentimentale Ideen in den Kopf gesetzt hat, von denen es höchst wünschenswert ist, daß sie aus ihrem jungen Gemüte wieder entfernt werden.«

Hier fiel die erwähnte kleine Unschuld mit schrecklichem Gepolter von einem Lehnsessel herunter.

»Unartiger Junge«, sagte seine Mama, die am meisten darüber verwundert schien, daß er sich die Freiheit genommen hatte, zu fallen: »Ich will nur klingeln, daß James kommt und ihn hinausbringt.«

»Laß ihn doch, liebes Kind«, sagte der Diplomat, sobald er sich bei diesem, dem Fall und der Drohung nachfolgenden fürchterlichen Geheule Gehör verschaffen konnte. »Es kommt alles von seiner großen, vielversprechenden Lebhaftigkeit her«, setzte er zu Miss Crumpton gewendet hinzu.

»Ohne Frage, Sir«, versetzte die ältliche Maria, ohne eben sehr deutlich zu begreifen, warum soviel Versprechendes darin liege, daß der Knabe von einem Sessel heruntergefallen war.

Es wurde endlich wieder still, und das Parlamentsmitglied fuhr fort: »Ich wüßte nichts, wodurch dieser Zweck so gewiß erreicht werden könnte, Miss Crumpton, als beständiger Umgang mit Mädchen ihres Alters, und da ich weiß, daß sie in Ihrer Anstalt mit jungen Mädchen zusammentreffen wird, die ihr kindliches Gemüt sicher nicht verderben werden, so gedenke ich, sie Ihnen anzuvertrauen.«

Die jüngere Miss Crumpton drückte den Dank der Anstalt aus. Maria war vollkommen sprachlos durch körperlichen Schmerz – der kleine Vielversprechende hatte sich von seinem Schrecken erholt und stand auf ihrem höchst empfindlichen Fuß, um über den Rand des Tisches hinüberblicken zu können.

»Natürlich wird meine Lavinia zu den am meisten begünstigten Kostgängerinnen gehören«, sprach der beneidenswerte Vater weiter; »und besonders in Beziehung auf einen Punkt wünsche ich, daß meine Weisungen streng befolgt werden. Die Sache ist die, daß ihr jetziger Gemütszustand von einem lächerlichen Liebeshandel herrührt, den sie mit jemand, der unter ihr steht, gehabt hat. Da ich weiß, daß sie, Ihrer Obhut übergeben, keine Gelegenheit haben kann, den jungen Menschen zu sehen, so habe ich nichts dagegen, oder es ist mir vielmehr lieb, wenn Sie sie in den Kreis Ihrer Bekannten einführen.«

Der vielversprechende kleine Lebhafte unterbrach die wichtige Rede des Vaters abermals, indem er eine Fensterscheibe zerbrach und fast in den Hof hinuntergestürzt wäre. Es wurde geklingelt, James erschien, es erfolgten beträchtliche Verwirrung und in der Luft stampfende Beine so groß, wie Reifenstöcke, der Bediente ging hinaus, und der Knabe war verschwunden.

»Mein Mann wünscht, daß Lavinia alles lernt«, nahm Mrs. Brook Dingwall, die nur selten sprach, das Wort.

»Versteht sich«, riefen beide Misses Crumpton zugleich.

»Und so wie ich hoffe, daß der Plan, den ich entworfen habe, meine Tochter von ihren abgeschmackten Ideen zurückbringen wird«, fuhr der Gesetzgeber fort, »hege ich auch das Vertrauen, daß Sie die Güte haben werden, allen meinen etwaigen Wünschen in allen Beziehungen entgegenzukommen.«

Natürlich wurde alles versprochen, und nach einer noch sehr verlängerten, von seiten der Dingwalls mit der gebührendsten diplomatischen Gravität und von der der Crumptons mit tiefem Respekt geführten Unterhaltung wurde endlich die Abrede getroffen, daß Miss Lavinia am zweitfolgenden Tag, an dem der Halbjahrsball der Anstalt bevorstand, nach Hammersmith versetzt werden solle. Es war anzunehmen, daß die kleine Festlichkeit dem lieben Mädchen eine angenehme Zerstreuung gewähren würde. Und hier zeigte sich, beiläufig gesagt, abermals ein Stückchen der väterlichen Diplomatie.

Miss Lavinia wurde gerufen und vorgestellt, und beide Misses Crumpton erklärten sie für ein »unendlich liebenswürdiges Mädchen«, eine Meinung, die sie merkwürdigerweise von jeder netten Kostschülerin hegten. Sodann erfolgten angemessener Knickse, Redensarten und Herablassung, und – die Misses Crumpton gingen. –

In Minerva-House wurden die großartigsten Vorbereitungen zum Ball getroffen. Das geräumigste Zimmer im Hause wurde mit blauen Kalikorosen, buntgewürfelten Tulpen und anderen ebenso natürlich aussehenden künstlichen Blumen von den Händen der jungen Damen verziert. Der Teppich wurde weg- und die Flügeltüren aus den Angeln genommen, die Möbel wurden hinaus- und Diwans hereingebracht. Die Putzhändler von Hammersmith gerieten in Erstaunen über die plötzliche Nachfrage nach Band und langen Glacéhandschuhen. Geranien wurden dutzendweise zu Buketts gekauft und eine Harfe und zwei Violinen bestellt; ein Flügel war bereits angelangt. Die jungen Damen, die ausgewählt waren, bei einer so passenden Gelegenheit zu glänzen und der Anstalt Ehre zu bereiten, übten sich unaufhörlich, recht sehr zu ihrem eigenen Vergnügen und noch mehr zum Ärger des alten, lahmen Herrn gegenüber; und zwischen den Misses Crumpton und dem Konditor von Hammersmith wurde ein beständiger Verkehr unterhalten.

Der Abend kam, und mit ihm begann ein Korsettschnüren und Sandalenbinden und Haarputzen, dergleichen nur in einer Pensionsanstalt mit dem gehörigen Grade von Getümmel stattfinden kann. Die kleineren Mädchen waren jedermann im Wege und wurden deshalb umhergestoßen, und die älteren putzten, schnürten, schmeichelten und beneideten einander so eifrig und aufrichtig, als wenn sie schon wirklich in die Gesellschaft eingeführt gewesen wären.

»Wie sehe ich aus, Liebe?« fragte Miss Emilie Smithers, die erste Schönheit des Hauses, Miss Karoline Wilson, ihre Busenfreundin, weil Miss Karoline Wilson das häßlichste Mädchen in- und außerhalb von Hammersmith war.

»O, bezaubernd! Wie sehe ich aus?«

»Entzückend! Du sahst noch nie so hübsch aus«, erwiderte die erste Schönheit, ihr Kleid glättend und die unglückliche Busenfreundin keines Blicks würdigend.

»Ich hoffe, der junge Hilton wird früh kommen«, sagte eine andere junge Dame zu Miss Soundso in einem Fieber von Erwartung.

»Es würde ihm sehr schmeicheln, wenn er dich so sprechen hören könnte«, versetzte Miss Soundso, die à l’été gekleidet war.

»Es ist ein so hübscher Mensch«, bemerkte die erste.

»So bezaubernd!« fiel eine zweite ein.

»Hat ein so distinguiertes Air«, sagte eine dritte.

»Was meint ihr wohl!« rief eine vierte, in das Zimmer hereinstürzend, »Miss Crumpton sagt, ihr Vetter käme.«

»Wie? Theodosius Butler?« fragten alle, von Entzücken ergriffen.

»Ist er schön?« fragte eine Novizin.

»Nein, nicht gerade eigentlich schön«, war die allgemeine Antwort; »aber, oh, so sehr gescheit!«

Mr. Theodosius Butler war eins der unsterblichen Genies, die man in fast jedem gesellschaftlichen Kreise findet. Sie haben gewöhnlich sehr tiefe, eintönige Stimmen. Sie überreden sich immer selbst, wundervolle Personen und sehr unglücklich zu sein, wenn sie auch nicht eigentlich wissen, warum. Sie sind sehr eingebildet und pflegen gerade einen halben Gedanken zu besitzen, erfreuen sich aber in den Augen enthusiastischer junger Damen und einfältiger junger Herren einer bedeutenden Überlegenheit. Mr. Theodosius Butler hatte ein Pamphlet geschrieben, das sehr wichtige Betrachtungen über die Nützlichkeit von Gott weiß was enthielt; und da jeder Satz wenigstens fünfzig viersilbige Worte hatte, so hielten es seine Bewunderer für ausgemacht, daß viel Sinn darin enthalten sei.

»Das ist er vielleicht«, riefen mehrere junge Damen, als das erste Läuten des Abends der Glocke Zerstörung drohte.

Es erfolgte eine feierliche Pause, und – einige Schachteln und einige junge Damen langten an; Miss Brook Dingwall in vollem Ballkostüm, mit einer ungeheuren goldenen Halskette, das Kleid mit einer einzigen Rose geschürzt, einen Elfenbeinfächer in der Hand und einen höchst interessanten Ausdruck der Verzweiflung auf dem Antlitz. Die Misses Crumpton erkundigten sich mit dem sorglichsten Eifer nach dem Befinden der lieben Ihrigen, stellten Miss Brook Dingwall ihren künftigen Pensionsgenossinnen in gebührender Form vor und sprachen mit den jungen Damen im allersüßesten Tone, um Miss Brook Dingwall sogleich eine angemessene Vorstellung davon zu geben, wie freundlich sie mit ihren Zöglingen umgingen.

Abermals ertönte die Glocke: Mr. Dadson, der Schreiblehrer, und Frau, Mrs. Dadson in grüner Seide, grünen Schuhen und Haubenbändern, und der Schreiblehrer in weißer Weste, schwarzen Kniehosen und ebensolchen Strümpfen, die zwei Beine zeigten, groß genug für zwei Schreibmeister. Die jungen Damen flüsterten miteinander, und Mr. Dadson und Frau schmeichelten den Misses Crumpton, die sich in Kanariengelb und mit langen Leibbinden wie Puppen präsentierten.

Das Läuten wurde häufiger, und zu viele Ballgäste langten an, als daß sie alle einzeln aufgeführt werden könnten: Papas und Mamas, Tanten und Onkel; Vormünder und Vormünderinnen der jungen Damen; der Singlehrer Signor Lobskini mit einer schwarzen Perücke; die Pianofortespielerin und die Violinen; der Harfenist im Zustande der Trunkenheit und einige zwanzig junge Herren, die an der Tür standen, miteinander flüsterten und bisweilen kicherten. Allgemeines Unterhaltungsgesumm begann, und Kaffee wurde gereicht und reichlich genossen von wohlbeleibten Müttern, die wie die dicken Leute aussahen, die in den Pantomimen zu dem einzigen Zwecke auftreten, um über den Haufen gerannt zu werden.

Sodann erschien der beliebte Mr. Hilton, und nachdem er der Aufforderung der Misses Crumpton folgend das Vortänzeramt übernommen hatte, nahmen die Quadrillen ihren Anfang. Die jungen Herren an der Tür rückten allmählich in die Mitte des Zimmers vor und gewannen endlich die erforderliche Dreistigkeit, sich Tänzerinnen vorstellen zu lassen. Der Schreiblehrer schlug keinen Tanz aus und sprang mit der schrecklichsten Beweglichkeit umher, und seine Frau spielte Whist im hinteren Zimmer, einem kleinen Gemach mit fünf Büchersimsen, das mit der Benennung Studierzimmer beehrt wurde. Sie an einen Whisttisch zu bringen, war eine halbjährlich wiederkehrende Kriegslist der Misses Crumpton, da sie notwendig irgendwo versteckt werden mußte, weil sie »eine Vogelscheuche« war.

Die interessante Lavinia Brook Dingwall war von allen anwesenden Mädchen die einzig teilnahmslose. Vergeblich wurde sie gebeten, zu tanzen, vergeblich war es, daß ihr, als der Tochter eines Parlamentsmitglieds, allgemein gehuldigt wurde. Sie blieb gleich unbeweglich bei dem glänzenden Tenor des unnachahmlichen Lobskini wie bei Miss Lätitia Parsons glänzendem Pianafortespiel, das dem vom Moscheles fast gleich erklärt wurde. Nicht einmal die Ankündigung, daß Mr. Theodosius Butler angelangt sei, konnte sie bewegen, den Winkel des Seitenzimmers zu verlassen, im dem sie saß.

»Lieber Theodosius«, sagte Miss Maria Crumpton, nachdem der erleuchtete Pamphletist fast durch die ganze Gesellschaft Spießruten gelaufen war, »jetzt muß ich Sie unserem neuen Zögling vorstellen.«

Theodosius sah aus, als ob er an irdische Dinge nicht von fern dächte.

»Sie ist die Tochter eines Parlamentsmitglieds.«

Theodosius stutzte;

»Ihr Name –?« fragte er.

»Lavinia Brook Dingwall.«

»O ihr himmlischen Mächte!« rief Theodosius poetisch in leisem Tone aus.

Miss Crumpton begann die Vorstellung in gehöriger Form. Miss Brook Dingwall hob matt und schmachtend den Kopf empor.

»Edward!« rief sie mit einem halben Aufschrei aus, als sie die wohlbekannten Nankingbeine erblickte.

Da sich Miss Maria Crumpton glücklicherweise keines übergroßen Maßes von Scharfsinn rühmen konnte, und da es eins der diplomatischen Arrangements war, daß Miss Lavinias unzusammenhängende Ausrufe nicht beachtet werden sollten, so merkte sie von der Erregtheit des Pärchens nicht das mindeste und ließ die beiden allein, sobald sie gehört hatte, daß Miss Brookes Theodosius‘ Bitte um den nächsten Tanz Gehör gab.

»O Edward!« rief die romantischste aller romantischen jungen Damen aus, als sich dieses Licht der Wissenschaft an ihre Seite setzte; »o Edward, sind Sie es wirklich?«

Mr. Theodosius versicherte dem süßen Wesen in den leidenschaftlichsten Ausdrücken, das er sich nicht bewußt sei, sonst jemand zu sein als er selber.

»Dann – warum – warum dieses Inkognito? O Edward M’Neville Walter, was habe ich um Ihretwillen erduldet!«

»Lavinia, hören Sie mich«, erwiderte der Held in seinem sentimentalsten Ton. »Verdammen Sie mich nicht ungehört. Wenn etwas, das der Seele eines Elenden, wie ich bin, entfloß, eine Stelle in Ihrer Erinnerung einnehmen kann – wenn etwas so Niedres Ihre Beachtung verdient – so entsinnen Sie sich vielleicht, daß ich ein Pamphlet drucken – auf meine Kosten – drucken ließ, betitelt: ›Betrachtungen über die Rätlichkeit der Aufhebung der Wachssteuer.‹«

»Ja – ja –«, schluchzte Lavinia.

»Es war ein Gegenstand«, fuhr der Liebhaber fort, »dem Ihr Vater Herz und Seele widmete.«

»Freilich – freilich!« rief die gefühlvolle Lavinia aus.

»Ich wußte es«, sprach Theodosius mit tragischem Ton weiter. »Ich wußte es, – übersandte ihm ein Exemplar – und er wünschte, mich kennenzulernen. Konnte ich mit meinem wahren Namen hervortreten? Nimmer! Ich nahm den Namen an, den Sie so oft in süßen Schmeicheltönen ausgesprochen haben, widmete mich als M’Neville Walter der großen Sache, gewann als M’Neville Walter Ihr Herz. Unter diesem Namen ward ich von Ihres Vaters Dienerschaft aus dem Hause gestoßen, und unter keinem war es mir seitdem möglich, Sie zu sehen. Wir finden uns jetzt wieder, und ich bekenne mit Stolz, daß ich – Theodosius Butler bin.«

Die junge Dame schien durch diese bündige und inhaltsreiche Erklärung vollkommen zufriedengestellt zu sein und beseligte durch einen Blick glühender Zärtlichkeit den unsterblichen Wachsfürsprecher.

»Darf ich hoffen«, sagte er, »eine Erneuerung des Versprechens zu vernehmen, das eine Unterbrechung durch Ihres Vaters leidenschaftliches Benehmen erlitt?«

»Lassen Sie uns zum Tanze antreten«, erwiderte Lavinia kokettierend – denn Mädchen von neunzehn Jahren können allerdings schon kokett sein.

»Nein«, rief Theodosius Butler. »Ich gehe von den Qualen der Ungewißheit gepeinigt keinen Schritt von dieser Stelle. Darf – darf ich hoffen?«

»Ja.«

»Das Versprechen ist erneuert?«

»Es ist’s.«

»Ich habe Ihre Erlaubnis?«

»Sie haben sie.«

»In vollkommenster Ausdehnung?«

»Sie wissen es«, erwiderte Lavinia.

Lavinia tat, als ob sie errötete, und die Gesichtsverzerrungen des geistreichen Theodosius drückten seine Verzückung aus.

Mr. Theodosius und Miss Lavinia tanzten, plauderten und seufzten den ganzen Abend miteinander. Die Misses Crumpton waren entzückt darüber. Der Schreibmeister fuhr fort, mit Ein-Pferdekraft umherzuspringen, und seine Frau verließ in einer unerklärlichen Laune den Whisttisch und ließ es sich durchaus nicht nehmen, ihren grünen Kopfputz an der Stelle des Ballzimmers zu zeigen, wo er am sichtbarsten war. Das Abendessen bestand aus kleinen, dreieckigen Sandwiches auf Präsentierschüsseln, mit einer Torte hier und da zur Abwechslung; und die Gäste tranken warmes, durch Zitronensaft maskiertes und mit Muskatnuß betüpfeltes Wasser unter dem Namen Glühwein. Doch wir haben wichtigere Dinge zu berichten.

Vierzehn Tage nach dem Ball saß Cornelius Brook Dingwall, Esq., P.M., in seinem oben beschriebenen Zimmer. Er war allein, und auf seiner Stirn lagerten die Furchen tiefen Nachdenkens und feierlicher Würde. Er entwarf eine »Schrift zu besserer Heilighaltung des Ostermontags«.

Der Bediente klopfte an die Tür. Der Gesetzgeber fuhr aus seinem Nachsinnen empor, und Miss Crumpton wurde gemeldet und nach einiger Zeit vorgelassen. Sie nahm mit einem gehörigen Maße von Affektation Platz, der Bediente ging, und Miss Crumpton und das P.M. waren allein. Wie sehnlich sie eine dritte Person herbeiwünschte! Sogar das spaßhafte junge Herrlein würde ihr Herzenserleichterung verschafft haben.

Miss Crumpton hub an. Sie hoffte, daß sich Mrs. Brook Dingwall und der allerliebste kleine Knabe wohl befänden.

Es verhielt sich so. Sie weilten übrigens in Brighton.

»Ich bin Ihnen sehr verbunden, Miss Crumpton«, sagte Cornelius in seinem würdevoll-herablassendsten Tone; »sehr verbunden für Ihren Besuch. Ich würde nach Hammersmith gekommen sein, um Lavinia zu sehen, allein, Ihr Bericht war so befriedigend, und meine Obliegenheiten im Hause beschäftigten mich so sehr, daß ich beschloß, es noch eine Woche aufzuschieben. Wie ist es bisher mit ihr gegangen?«

»O, sehr gut, Sir«, erwiderte Maria, die sich fürchtete, dem Vater die Mitteilung zu machen, daß seine Tochter davongegangen sei.

»Schön. Ich wußte es wohl, daß mein wohlberechnetes Verfahren seinen Zweck nicht verfehlen konnte.«

Miss Maria Crumpton hatte hier eine Gelegenheit, sogleich anzuknüpfen und Mr. Dingwall zu sagen, daß Miss Lavinia durch die unzweifelhaft an sich richtige Rechnung einen unberechneten Strich gemacht hätte; allein, die unglückliche Miss Crumpton fühlte sich zu schwach dazu.

»Sie haben die Linie des von mir vorgeschriebenen Benehmens ohne Zweifel vollkommen eingehalten, Miss Crumpton?«

»Vollkommen, Sir!«

»Sie schrieben mir, daß meine Tochter allmählich wieder heiterer würde.«

»Sie wurde allerdings viel aufgeweckter.«

»Ich war im voraus davon überzeugt.«

»Ich fürchte nun aber, Sir«, sagte Miss Crumpton mit sichtlicher Bewegung, »ich fürchte, daß Ihr Plan nicht so wohl gelungen ist, wie zu wünschen wäre.«

»Wie!« rief der Prophet aus; »Miss Crumpton, ich erschrecke. Was ist vorgefallen?«

»Miss Brook Dingwall, Sir –«

»Nun, Ma’am –«

»Hat sich entfernt, Sir«, sagte Maria, eine starke Neigung zu einer Ohnmacht an den Tag legend.

»Hat sich entfernt!«

»Entführen lassen, Sir!«

»Entführen lassen – von wem – wann – wohin – wie?« schrie der bestürzte Diplomat fast.

Das natürliche Gesichtsgelb der unglücklichen Maria verwandelte sich in alle Farben des Regenbogens, indem sie ein kleines Paket auf Cornelius‘ Tisch legte.

Er öffnete es hastig. Ein Schreiben von seiner Tochter, und ein zweites von Theodosius. Er durchlief den Inhalt – »bevor Sie diese Zeilen erhalten, weit entfernt – Berufung auf Ihre Gefühle – unwiderstehliche Macht der Liebe – Wachs – Sklaverei«, usw. usw. Er schlug sich mit der Hand vor die Stirn und ging zur großen Beunruhigung der förmlichen Maria mit schrecklich langen Schritten auf und ab.

»Hören Sie«, sagte Mr. Brook Dingwall, plötzlich am Tische stillstehend und den Takt darauf schlagend, »von dieser Stunde an werde ich keinem Menschen, der Pamphlete schreibt, unter keinerlei Umständen wieder gestatten, ein Gemach dieses Hauses zu betreten, die Küche ausgenommen – ich gebe meiner Tochter und ihrem Mann hundertundfünfzig Pfund jährlich, und sie kommen mir nie wieder vor die Augen – und, alle Teufel! Ma’am, ich bringe einen Gesetzentwurf ein für Abschaffung der Vollendungsschulen!«

Es ist seit dieser zornigen Erklärung einige Zeit verflossen. Mr. und Mrs. Butler genießen ihre Seligkeit in einem ländlichen Häuschen in Balls-Pond, das reizend in der Nähe eines Backsteinfeldes gelegen ist. Sie haben keine Familie. Mr. Theodosius zeigt sehr wichtige Mienen und schreibt unaufhörlich; allein, infolge einer ruchlosen Verschwörung der Buchhändler wird keins der Erzeugnisse seiner Feder gedruckt. In seiner jungen Frau steigt der Gedanke auf, daß eingebildetes Elend wirklichen Leiden vorzuziehen und daß eine in Hast geschlossene und nach Muße bereute Verheiratung eine bitterere Schmerzensquelle sei, als sie es sich jemals geträumt hätte.

Nach ruhiger Überlegung sah sich Cornelius Brook Dingwall genötigt, einzuräumen, daß er das unglückliche Ergebnis seiner bewundernswürdigen Anordnungen nicht den Misses Crumpton, sondern seiner eigenen Diplomatie zuschreiben müsse. Er tröstete sich jedoch gleich anderen kleinen Diplomaten damit, daß, genau betrachtet, seine Pläne, wenn sie nicht gelungen waren, doch hätten gelingen sollen. Minerva-House befindet sich im Status quo, und die Misses Crumpton befinden sich fortwährend im friedlichen und ungestörten Genusse sämtlicher, ihrer Vollendungsschule entsprießender Vorteile.

Horatio Sparkins

»Wirklich, lieber Mann, er bewies Theresa am letzten Gesellschaftsabend große Aufmerksamkeiten«, sagte Mrs. Malderton zu ihrem Gatten, der, nach seinen Tagesmühen in der City, ein seidenes Tuch über den Kopf gedeckt, die Füße auf das Kamingitter gestellt hatte und seinen Portwein trank; »sehr große Aufmerksamkeiten; und ich wiederhole es, wir sollten ihm auf jede Weise entgegenkommen. Er muß durchaus zum Mittagessen eingeladen werden.«

»Wer muß eingeladen werden?« fragte Mr. Malderton.

»Du weißt ja, wen ich meine, liebster Malderton – der junge Mann mit dem schwarzen Backenbart und der weißen Halsbinde, der soeben in unserem Gesellschaftszirkel aufgetaucht ist und von dem alle Mädchen sprechen – der junge – wie heißt er doch? – Marianne, wie heißt er?«

Marianne war Mrs. Maldertons jüngste Tochter. Sie war beschäftigt, eine Börse zu sticken, und bemühte sich, empfindsam auszusehen. »Mr. Horatio Sparkins, Mama«, erwiderte Miss Marianne mit einem Juliaseufzer.

»Richtig – Horatio Sparkins«, sagte Mrs. Malderton; »ohne Frage der feinste und wohlerzogenste junge Mann, den ich jemals gesehen habe. Er sah am letzten Gesellschaftsabend in seinem wie angegossen sitzenden Rocke aus wie – wie –«

»Wie Prinz Leopold, Mama – so nobel, so gefühlvoll!« fiel Miss Marianne im Tone enthusiastischer Bewunderung ein.

»Du solltest bedenken, liebster Mann«, fuhr Mrs. Malderton fort, »daß Theresa achtundzwanzig Jahre alt und daß es wirklich von großer Wichtigkeit ist, daß etwas geschieht.«

Miss Theresa Malderton war eine kleine, runde Person mit hochroten Wangen, von freundlichem Wesen und noch ohne Gatten, Bewerber oder Anbeter; ein Unglück, dessen Ursache jedoch, um ihr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, keineswegs in einem Mangel an Beharrlichkeit von ihrer Seite lag. Sie hatte vergeblich zehn Jahre lang kokettiert, vergeblich hatten Mr. und Mrs. Malderton eine ausgedehnte Bekanntschaft mit jungen heiratsfähigen Männern aus Camberwell, Wandsworth und Brixton sogar sorgfältig unterhalten; die Londoner noch nicht einmal gerechnet, die sonntags vorsprachen. Miss Malderton war so bekannt wie der Löwe auf dem Giebel von Northumberland-House und hatte ungefähr ebensoviel Wahrscheinlichkeit, »wegzugehen«, wie der Tierkönig, obschon er fortwährend, gleich Miss Malderton, »auf dem Sprunge« war.

»Ich bin vollkommen überzeugt, daß er dir gefallen würde«, fuhr Mrs. Malderton fort; »er ist so weltmännisch.«

»So geistreich«, sagte Miss Marianne.

»Und spricht so vortrefflich, so fließend«, fügte Miss Theresa hinzu.

»Er hegt große Hochachtung für dich, lieber Mann«, sagte Mrs. Malderton zu ihrem Gatten in vertraulichem Tone.

Mr. Malderton hustete und sah in das Feuer.

»Ich bin überzeugt, daß er sehr viel von Papa hält«, sagte Miss Marianne.

»Ohne allen Zweifel«, bekräftigte Miss Theresa.

»In der Tat, er hat es mir selbst im Vertrauen gesagt«, bemerkte Mrs. Malderton.

»Schon gut, schon gut«, entgegnete Mr. Malderton einigermaßen geschmeichelt; »wenn ich ihn morgen im Gesellschaftszirkel sehe, lade ich ihn vielleicht zu uns ein. Ich denke, er wird wissen, daß wir auf Oak Lodge in Camberwell wohnen, meine Liebe?«

»Natürlich – und auch, daß du einen Wagen und ein Pferd hältst.«

»Nun, wir wollen sehen«, sagte Mr. Malderton, sich zu einem Schläfchen zurechtsetzend; »ich werde daran denken.«

Mr. Malderton war ein Mann, dessen Gesichtskreis auf Lloyds, die Börse, das Ostindienhaus und die Bank beschränkt war. Einige glückliche Spekulationen hatten ihn aus einem dürftigen Mann in einen wohlhabenden verwandelt. Wie es in solchen Fällen häufig zu geschehen pflegt, hatte sich mit der Zunahme der Mittel seine Meinung von seiner Person und seiner Familie sehr ungebührlich gesteigert; er suchte es den Vornehmeren und Reicheren in jeder Torheit nachzutun, strebte vornehm zu sein und legte einen entschiedenen und geziemenden Abscheu vor allem, was möglicherweise als gewöhnlich betrachtet werden konnte, an den Tag. Mr. Malderton war gastlich aus Prunksucht, engstirnig aus Unwissenheit und voll von Vorurteilen aus Dünkel und Eitelkeit. Sein vortrefflicher Tisch verschaffte ihm zahlreiche Gäste. Er sah gern gescheite Personen bei sich oder solche, die er dafür hielt, weil davon gesprochen wurde, konnte aber durchaus die »gewitzten« Leute, wie er sie nannte, nicht leiden. Er hegte diese Abneigung wahrscheinlich aus Höflichkeit gegen seine beiden Söhne, die ihrem werten Papa in dieser Beziehung keine Unruhe verursachten. Die Familie war von dem Ehrgeiz besessen, sich Bekanntschaften und Verbindungen in einem höheren gesellschaftlichen Kreise zu verschaffen als dem, in dem sie sich selbst bewegte; und eine der notwendigen Folgen dieses Hanges und ihrer damit verbundenen gänzlichen Unkenntnis der Welt außerhalb ihrer eigenen beschränkten Sphäre war die, daß jeder, der sich nur mit einigem Schein einer Bekanntschaft mit Leuten von Rang und hoher Geburt rühmen konnte, gastlicher Aufnahme in Mr. Maldertons Hause stets gewiß war.

Mr. Horatio Sparkins‘ Erscheinen in dem Gesellschaftszirkel hatte unter deren regelmäßigen Teilnehmern nicht wenig Aufsehen und Neugierde erregt. Was mochte er sein? Er war augenscheinlich zurückhaltend und, wie es schien, melancholisch. War er ein Geistlicher? Er tanzte zu gut. Ein Sachwalter? Man sah und hörte nichts von ihm in den Gerichtshöfen. Er bediente sich sehr gewählter Ausdrücke und sprach ziemlich viel. War er vielleicht ein Ausländer von Distinktion, der in der Absicht nach England gekommen war, das Land und seine Sitten und Gebräuche zu schildern, und Citybälle und öffentliche Diners besuchte, um sich mit dem Leben und Treiben der großen Welt und englischer verfeinerter Sitte und Bildung bekannt zu machen? Aber man bemerkte bei ihm durchaus keine fremde Betonung. War er Wundarzt, Künstler, schrieb er Moderomane oder für die belletristischen Zeitblätter? Nein. Dem allen stand irgendeine gewichtige Einwendung entgegen. Jedermann sagte: »Er muß aber doch etwas sein.« Auch Mr. Malderton schloß sich dieser Meinung an, »denn«, sprach er bei sich selbst, »er fühlt unsere Überlegenheit und erweist uns so große Aufmerksamkeit.«

Der Abend nach der erwähnten Familienunterredung war ein »Gesellschaftsabend«. Das Vorfahren des Wagens ward auf präzis neun Uhr bestellt. Die Misses Malderton legten himmelblaue, mit künstlichen Blumen besetzte Atlaskleider an, und Mrs. Malderton – eine kleine, runde Frau – war ebenso angezogen und sah aus wie ihre älteste Tochter mit zwei multipliziert. Mr. Frederick Malderton, der älteste Sohn, war in seinem eleganten Ballanzug das wahrhafte Ideal eines fixen, geschniegelten Kellners, und Mr. Thomas Malderton, der jüngste Sohn, glich in seiner weißen Halsbinde, seinem blauen Rock mit glänzenden Knöpfen und seinem roten Uhrband auf das Haar dem Bildnis jenes interessanten, obgleich ein wenig unbesonnenen jungen Herrn George Barnwell. Sämtliche Familienglieder hatten sich darauf vorbereitet, Mr. Horatio Sparkins‘ Bekanntschaft zu pflegen. Miss Theresa war natürlich so liebenswürdig und interessant, wie Damen von achtundzwanzig auf der Mannsschau zu sein pflegen, und Mrs. Malderton schien lauter Lächeln und Freundlichkeit zu sein. Miss Marianne wollte sich ein paar Verse in ihr Stammbuch erbitten, Mr. Malderton den großen Unbekannten durch eine Einladung zum Mittagessen protegieren, und Tom hatte sich’s ausgesonnen, ihn in betreff seiner Schnupftabak- und Zigarrenkenntnis auszuholen. Sogar Mr. Frederick Malderton – er, das Familienorakel in allem, was Geschmack, Kleidung und elegante Arrangements betraf – er, der seine eigene Wohnung im Westend und freien Zutritt im Covent-Garden-Theater hatte, stets nach der Mode des Monats gekleidet war, dieselben Partien machte, die von der vornehmen Welt gemacht wurden, und sich eines vertrauten Freundes rühmte, der einst mit einem Gentleman bekannt war, der vormals in Albany wohnte – selbst er hatte beschlossen, daß Mr. Horatio Sparkins ein verflucht guter Patron sei und daß er ihm die Ehre erweisen wolle, ihn zu einer Partie Billard aufzufordern.

Der erste, die sehnsüchtigen Blicke der hoffenden Familie bei ihrem Eintritte in den Ballsaal treffende Gegenstand, war der interessante Horatio. Er lehnte mit aus der Stirn gestrichenem Haar und die Augen empor an die Decke geheftet an einem Pfeiler.

»Da ist er«, flüsterte Mrs. Malderton sehr erregt ihrem Gatten zu.

»Wie ähnlich Lord Byron«, murmelte Theresa.

»Oder Montgomery«, flüsterte Miss Marianne.

»Oder den Porträts des Kapitän Roß!« fiel Tom ein.

»Tom – sei kein Esel«, sagte sein Vater, der Tom bei jeder Gelegenheit zum Schweigen verwies, wahrscheinlich um zu verhindern, daß er »gewitzt« würde, was sehr unwahrscheinlich war.

Der elegante Sparkins posierte mit bedeutendem Effekt, bis die Familie Malderton in seine Nähe kam, fuhr sodann mit höchst natürlich nachgemachter freudiger Überraschung empor, redete Mrs. Malderton mit der größten Herzlichkeit an, begrüßte die jungen Damen auf die bezauberndste Weise, verbeugte sich auf das ehrerbietigste vor Mr. Malderton und erwiderte die Begrüßung der beiden jungen Herren mit halb erfreuter und halb herablassender Gönnermiene, was ihre Überzeugung zu vollkommener Gewißheit erhob, daß er ein bedeutender und zugleich ein verbindlich-liebenswürdiger Mann sei.

»Miss Malderton«, sagte Horatio nach den gewöhnlichen Begrüßungen und verbeugte sich dabei sehr tief, »vergönnen Sie mir, die Hoffnung hegen zu dürfen, daß Sie mir gestatten werden, das Vergnügen zu haben –«

»Ich glaube nicht, daß ich schon engagiert bin«, sagte Miss Theresa, schreckliche Gleichgültigkeit mimend – »aber wirklich – so viele –«

Horatio sah so allerliebst unglücklich aus wie ein auf einem Stückchen Apfelsinenschale ausgleitender Hamlet.

»Es wird mir das größte Vergnügen gewähren«, säuselte die interessante Theresa endlich, und Horatios Antlitz begann wieder zu glänzen wie ein alter Hut in einem Regenschauer.

»Es ist wahr, ein sehr feiner junger Mann«, bemerkte Mr. Malderton sehr befriedigt, als Horatio seine Partnerin zum Tanz entführte.

»Sein Takt ist ganz ausgezeichnet«, fiel Mr. Frederick ein.

»Wahrhaftig, er ist ein Hauptkerl«, sagte Tom, der es sich nie versagen konnte, mit einzureden; »er spricht ganz wie ein Auktionator.«

»Tom!« sagte sein Vater feierlich, »ich meinte dir schon gesagt zu haben, daß du kein Gimpel sein sollst.«

Tom sah so vergnügt aus wie ein Hahn an einem regnerischen Morgen.

»Wie entzückend!« sagte der interessante Horatio zu seiner Tänzerin, als er mit ihr nach Beendigung der Quadrille im Saale auf und ab ging – »wie entzückend, wie erquickend ist es, sich von den Gewitterstürmen, den Wirren und Unruhen des Lebens, und wär‘ es auch nur für kurze flüchtige Augenblicke, zurückzuziehen; und diese Momente, so kurz sie sein und so schnell sie dahinschwinden mögen, in der süßen, seligen Nähe einer Dame hinzubringen, deren Zürnen der Tod, deren Falschheit Verderben, deren Treue Seligkeit sein und deren Kälte in Wahnsinn stürzen würde – deren Zuneigung als der glänzendste und schönste Lohn erscheint, mit dem der Himmel einen Mann beglücken könnte.«

»Wie gefühlvoll, wie poetisch!« dachte Miss Theresa und lehnte sich stärker auf ihres Führers Arm.

»Doch genug – genug«, fuhr der elegante Sparkins mit theatralischer Betonung fort. »Was hab‘ ich gesagt? Was hab‘ ich – hab‘ ich – mit Gefühlen dieser Art zu schaffen? Miss Malderton – darf ich hoffen, daß Sie es mir erlauben, Ihnen das sehr geringe Anerbieten –«

»Wirklich, Mr. Sparkins«, unterbrach ihn Theresa innerlich jubelnd und süß und verwirrt errötend, »ich muß Sie an meinen Vater verweisen. Ohne seine Einwilligung darf ich es schlechterdings nicht wagen, zu – zu –«

»Er wird sicher nichts dagegen haben –«

»Ach, Sie – Sie kennen ihn nicht«, fiel Miss Theresa ein, sehr wohl wissend, daß nichts zu fürchten war; allein, sie wünschte, eine Romanszene herbeizuführen.

»Er kann in der Tat nichts dagegen haben, daß ich Ihnen ein Glas Glühwein anbiete«, fuhr der anbetungswürdige Sparkins ein wenig überrascht fort.

»Ist das alles?« sprach die getäuschte Theresa bei sich selbst. »Wieviel Lärm um nichts!« –

»Es wird mir das größte Vergnügen gewähren, Sir, Sie am nächsten Sonntag um fünf Uhr in Oak Lodge zum Mittagessen bei mir zu sehen, sofern Sie nichts Besseres vorhaben«, sagte Mr. Malderton, als er und seine Söhne nach Beendigung des Balls, mit Mr. Horatio Sparkins plauderten.

Horatio verbeugte sich verbindlich und nahm die schmeichelhafte Einladung an.

»Ich muß gestehen«, fuhr der manövrierende Vater, seinem neuen Bekannten die Dose bietend, fort, »daß ich diese Gesellschaft nicht so sehr liebe wie den Komfort – ich hätte bald gesagt, den Luxus von Oak Lodge; sie haben keine großen Reize für ältere Leute.«

»Und am Ende, Sir, was sind Leute, was sind Menschen?« sagte der metaphysische Sparkins – »wie gesagt, was ist der Mensch?«

»Sehr wahr«, bemerkte Mr. Malderton, »sehr wahr.«

»Wir wissen, daß wir leben und atmen«, fahr Horatio fort; »daß wir Bedürfnisse und Wünsche, Neigungen und –«

»Ohne allen Zweifel«, unterbrach Mr. Frederick Malderton mit äußerst weiser Miene.

»Ich wollte sagen, wir wissen, daß wir existieren«, wiederholte Horatio mit erhobener Stimme; »doch hier sind wir ans Ende unseres Wissens, auf dem Gipfel unserer Forschungen, am Ziele unserer Bestrebungen angelangt. Was wüßten wir weiter?«

»Nichts«, entgegnete Mr. Frederick, und in der Tat konnte niemand mit größerem Rechte eine solche Antwort geben als er. Tom wollte gleichfalls etwas sagen, bemerkte jedoch zum Glück für den Ruf seiner Weisheit des Vaters zornige Seitenblicke and schlich sich davon wie ein auf einer kleinen Dieberei ertappter junger Hund.

»Auf mein Wort«, sagte Malderton der Vater, als die Familie im Wagen nach Hause fuhr, »der Sparkins ist ein wundervoller junger Mann. Was für erstaunliche Kenntnisse! Welch eine stupende Gelehrsamkeit! Und welch eine glänzende Redegabe!«

»Ich glaube fest, daß eine bedeutende Person unter seiner Maske steckt«, bemerkte Miss Marianne. »Wie bezaubernd romantisch!«

»Er spricht sehr laut und sehr artig«, fiel Tom schüchtern ein; »allein, ich verstehe eigentlich nicht, was er sagt.«

»Ich fange fast an zu verzweifeln, daß du jemals irgend etwas verstehen wirst, Tom«, sagte sein Vater, der natürlich durch Mr. Horatio Sparkins‘ Unterhaltung sehr erleuchtet war.

»Es ist ganz offenbar, Tom«, sagte Miss Theresa, »daß du dich heute abend entsetzlich lächerlich gemacht hast.«

Die ganze Familie bestätigte Theresas Ausspruch, und der unglückliche Tom drückte sich möglichst tief in seine Wagenecke. Mr. und Mrs. Malderton besprachen noch lange ihrer Tochter Aussichten und die demnächst zu treffenden Einrichtungen. Miss Theresa begab sich zu Bett, erwägend, ob es sich, falls sie einen Titel erheiratete, für sie schicken würde, die Besuche ihrer jetzigen Freundinnen anzunehmen, und träumte die ganze Nacht von verkleideten Grafen, prachtvollen Gesellschaften, Straußfedern, Brautkränzen und Horatio Sparkins.

Am Sonntagmorgen ward vielfach darüber hin und her gesprochen, auf welche Weise der sehnsüchtig erwartete Horatio mutmaßlich erscheinen würde. Hielt er ein Gig – sollte er vielleicht zu Pferd kommen – oder einem Stellwagen seine Gönnerschaft zuwenden? Diese und andere Fragen von gleicher Wichtigkeit beschäftigten Mrs. Malderton und ihre Töchter den ganzen Vormittag.

»Ich muß doch in der Tat sagen«, bemerkte Mr. Malderton zu seiner Gattin, »es ist höchst verdrießlich, daß dein Bruder sich gerade heute bei uns zu Gast gebeten hat. Er hat gar zu gewöhnliche Manieren. Ich habe, da Mr. Sparkins kommt, absichtlich niemand außer Flamwell eingeladen. Und nun dein Bruder – ein Gewürzkrämer – es ist unerträglich. Ich würde lieber tausend Pfund verlieren, als ihn in Gegenwart unseres neuen Bekannten seines Ladens erwähnen hören. Es würde mich nicht stören, daß er hier ist, wenn er nur so gescheit wäre, es nicht merken zu lassen, welch ein Schandfleck er für die Familie ist; aber er ist so verwünscht verliebt in sein schauderhaftes Geschäft, daß er jedermann offenbaren wird, wer und was er ist.«

Mr. Jakob Barton, der Bruder und Schwager, von dem Mr. Malderton sprach, war ein wohlhabender Gewürzkrämer, und so gewöhnlich denkend, so ganz entblößt von feinem Gefühl, daß er nie und nirgend Bedenken trug, zu bekennen, daß er sich nicht »zu vornehm für sein Geschäft« hielt. »Ich mache mir mein Geld damit«, pflegte er zu sagen, »und meinetwegen mag’s die ganze Welt wissen.«

»Ah, mein wertester Flamwell, wie geht’s?« rief Mr. Malderton einem eintretenden kleinen Mann mit grüner Brille entgegen. »Sie erhielten mein Billett?«

»Allerdings, und stellte mich mit Ihrer Erlaubnis ein.«

»Kennen Sie nicht einen Mr. Sparkins wenigstens dem Namen nach? Sie kennen ja alle Welt?«

Mr. Flamwell gehörte zu den Leuten mit unglaublich ausgebreiteter Bekanntschaft, die jedermann zu kennen vorgeben, und natürlich niemand kennen. In Maldertons Haus, wo mit begierigen Blicken alles verschlungen wurde, was vornehme Personen betraf, war er ebenso beliebt wie geehrt, und da er sehr gut wußte, mit was für Leuten er es zu tun hatte, ließ er seiner Leidenschaft, mit jedermann bekannt sein zu wollen, alle Zügel schießen. Er hatte eine besondere Manier, seine größten Lügen beiläufig und mit der Miene der Selbstverleugnung einzuflechten oder hinzuwerfen, als ob er fürchtete, für anmaßend gehalten zu werden.

»Hm, nein, ich kenne ihn unter dem Namen nicht«, erwiderte er mit leiser Stimme und unermeßlich wichtiger Miene. »Indes zweifle ich nicht im mindesten, daß ich ihn kenne. Ist er groß?«

»Von Mittelgröße«, sagte Miss Theresa.

»Er hat schwarzes Haar?« fuhr Flamwell, eine dreiste Behauptung wagend, fort.

»Ja, ja«, erwiderte Theresa eifrig.

»Ein wenig von einer Stumpfnase?«

»Nein, o nein«, sagte Theresa verblüfft; »er hat eine römische Nase.«

»Ganz recht, eine römische Nase – das wollte ich eben sagen. Er ist ein feiner junger Mann?«

»Freilich.«

»Hat äußerst einnehmende Manieren?«

»Ja freilich«, sagte die ganze Familie aus einem Munde. »Sie kennen ihn unfehlbar.«

»Ich dachte mir’s wohl, daß Sie ihn kennen würden, wenn er ein irgendwie bedeutender junger Mann ist«, rief Mr. Malderton triumphierend aus. »Was meinen Sie, wer er ist?«

»Ihrer Schilderung nach«, sagte Flamwell sinnend und ließ die Stimme fast bis zum Geflüster sinken, »hat er eine starke Ähnlichkeit mit dem hochachtbaren Augustus Fitz-Edward Fitz-John Fitz-Osborne. Er ist ein äußerst begabter junger Mann und ein wenig exzentrisch. Es ist sehr wahrscheinlich, daß er zu irgendeinem Zweck für den Augenblick einen anderen Namen angenommen hat.«

Wie hoch Theresa das Herz schwoll! Sollte er wirklich der hochachtbare Augustus Fitz-Edward Fitz-John Fitz-Osborne sein? Welch ein Name auf eleganten Verlobungskarten! »Der hochachtbare Augustus Fitz-Edward Fitz-John Fitz-Osborne!« Der Gedanke war Entzücken und Seligkeit.

»’s ist in fünf Minuten fünf Uhr«, sagte Mr. Malderton, auf seine Uhr sehend; »ich will hoffen, daß er uns nicht vergebens auf sich warten läßt.«

»Da ist er!« rief Miss Theresa aus, denn es ertönten mächtige Doppelschläge an der Haustür. Alle bemühten sich – wie es häufig zu geschehen pflegt, wenn ein Besucher begierig erwartet wird – auszusehen, als wenn sie an niemands Eintreten gedacht hätten.

Die Tür wurde geöffnet. »Mr. Barton!« rief der Bediente.

»Der verwünschte Krämer«, murmelte Mr. Malderton. »Ah, mein werter Herr, wie befinden Sie sich? Nichts Neues?«

»Nein, nichts Besonderes«, antwortete Barton mit seiner gewöhnlichen biederen Zutraulichkeit; »nichts Besonderes, daß ich wüßte. Was macht ihr, Mädels und Burschen? – Freue mich, Sie hier zu sehen, Mr. Flamwell.«

»Da kommt Mr. Sparkins, und auf was für ’nem prächtigen Rappen!« sagte Tom, der durch das Fenster geschaut hatte.

In der Tat sprengte Horatio auf einem Rappen daher, den er gleich dem ersten Kunstreiter kurbettieren ließ. Er stieg ab und übergab sein Roß dem Stallbedienten, trat ein und wurde Flamwell und Barton sowie diese ihm vorgestellt. Flamwell musterte ihn durch seine Brille mit geheimnisvoll-wichtiger Miene, und Horatio warf Theresa, die sich anstrengte, ausnehmend schmachtend auszusehen, unaussprechliche Dinge verkündende Blicke zu.

»Ist’s der hochachtbare Augustus – wie nannten Sie ihn doch?« flüsterte Mrs. Malderton Flamwell zu, der sie nach dem Speisezimmer führte.

»Hm – nein – zum wenigsten nicht so ganz eigentlich«, erwiderte das große Orakel, »nicht so ganz eigentlich.«

»Aber wer ist er denn?«

»Pst!« sagte Flamwell mit bedeutsamem Kopfnicken, um anzudeuten, daß er es sehr gut wisse, allein durch wichtige Gründe bewogen würde, das wichtige Geheimnis nicht verlauten zu lassen. Der Unbekannte war vielleicht ein Mitglied des Ministeriums, das sich inkognito mit der Volksstimmung bekannt machen wollte.

»Mr. Sparkins«, sagte die glückliche Mrs. Malderton, »darf ich bitten, daß Sie die Damen trennen? John, setzen Sie einen Stuhl für den Herrn zwischen Miss Theresa und Miss Marianne.«

John versah gewöhnlich die Dienste des Stallknechts und Gärtners, war aber an diesem Tage, da es galt, Mr. Sparkins eine große Vorstellung von den Maldertons beizubringen, in Schuhe und ein weißes Halstuch gesteckt und sonst nach Kräften aufgestutzt worden, um wie ein zweiter Bedienter auszusehen. Das Diner war ausgesucht, Horatio erwies Theresa alle möglichen Aufmerksamkeiten, und alle waren äußerst vergnügt mit Ausnahme Mr. Maldertons, der seinen Schwager zu gut kannte, um nicht in fortwährender Angst zu schweben.

»Haben Sie Ihren Freund, Sir Thomas Noland, kürzlich gesehen, Flamwell?« fragte er, Horiatio von der Seite anblickend, um zu sehen, was für Effekt die Erwähnung eines so bedeutenden Mannes bei ihm machte.

»Hm, nein – ganz kürzlich nicht; vorgestern sah ich aber Lord Gubbleton.«

»Ich hoffe, Seine Lordschaft befindet sich wohl«, fuhr Malderton im Ton der lebhaftesten Teilnahme fort, und kaum wird es nötig sein, zu sagen, daß er bis zu diesem Augenblick hinsichtlich seiner Kenntnis vom Dasein des edeln Lords im Stande der vollkommensten Unschuld gelebt hatte.

»O ja; der Lord befand sich sehr wohl – in der Tat sehr wohl. Er ist ein sehr lieber Mann. Ich begegnete ihm in der City und plauderte lange mit ihm. Wir sind sehr vertraut miteinander. Ich konnte mich indes nicht so lange bei ihm aufhalten, wie ich’s gewünscht hätte, weil ich gerade auf dem Wege zu einem Bankier war, einem sehr reichen Mann und Parlamentsmitglied, mit dem ich gleichfalls, wie ich wohl sagen kann, auf dem vertrautesten Fuß stehe.«

»Ah, ich weiß, wen Sie meinen«, sagte Malderton, der genausoviel wußte wie Flamwell selbst.

»Er macht sehr ausgedehnte Geschäfte.«

Hiermit war ein sehr gefährlicher Gegenstand berührt.

»Da von Geschäften die Rede ist«, nahm Barton, der mitten am Tische saß, das Wort, »fällt mir ein, Malderton, daß vor einigen Tagen ein Herr, den Sie sehr genau gekannt haben, ehe Sie Ihre erste glückliche Spekulation machten, in meinen Laden kam, und –«

»Barton, darf ich Sie um die Kartoffeln bitten«, unterbrach ihn der unglückliche Gastgeber, in der Hoffnung, die Geschichte im Keime zu ersticken.

»Mit Vergnügen«, entgegnete der Gewürzkrämer, ohne seines Schwagers Absicht nur von fern zu ahnen – »und fragte sehr freundschaftlich –«

Malderton unterbrach ihn zum zweiten Male durch ein ähnliches Anliegen. Er fürchtete den Schluß der Erzählung und vor allen Dingen die Wiederholung des Wörtchens »Laden«.

»Und fragte also, wie gesagt, sehr freundschaftlich«, fuhr der unerschütterliche Barton fort, »wie geht es mit Ihrem Geschäft? Ich antwortete scherzend: Sie kennen meine Weise – ich halte mich nicht zu vornehm für mein Geschäft und hoffe, es wird auch mich nicht vornehm im Stich lassen. Ha, ha, ha!«

»Mr. Sparkins«, sagte Malderton, der vergeblich seinen Verdruß zu verbergen suchte, »ein Glas Wein?«

»Mit dem größten Vergnügen, Sir.«

»Freue mich, Sie bei uns zu sehen.«

»Danke ergebenst.«

»Wir sprachen vor ein paar Tagen«, fuhr der Wirt zu Horatio fort, um sowohl seinem neuen Bekannten Gelegenheit zu verschaffen, seine Unterhaltungsgabe zu zeigen, als auch in der Hoffnung, den Krämer zu hindern, mit seinen Geschichten zum Vorschein zu kommen – »wir sprachen vor ein paar Tagen über die menschliche Natur. Ihre Ansichten erschienen mir ebenso neu wie wahr.«

»Mir auch«, fiel Mr. Frederick ein, und Horatio antwortete durch eine graziöse Kopfneigung.

»Was ist denn Ihre Meinung über die Frauen, Mr. Sparkins?« nahm Mr. Malderton das Wort.

Die jungen Damen lächelten und sahen verschämt vor sich nieder.

»Der Mann«, erwiderte Horatio, »der Mann, sei es, daß er die holden, seligen, blumigen Fluren eines zweiten Eden, oder die öde, unfruchtbare, und wenn ich so sagen darf, alltäglich-gemeine Steppe bewohnt, an die wir uns in Zeiten wie die unsrigen gewöhnen müssen: ich sage, der Mann – und zwar unter allen Umständen und an jedem Orte – mühselig sein Dasein fristend zwischen den Eisfeldern der kalten Zone oder keuchend unter den senkrechten Strahlen der glühenden Äquatorsonne – der Mann würde, ohne die Frauen – allein sein.«

»Es freut mich ausnehmend, Mr. Sparkins«, bemerkte Mrs. Malderton, »zu sehen, daß Sie so ehrenhafte Meinungen hegen.«

»Mich gleichfalls«, fügte Miss Theresa hinzu.

Horatio warf ihr einen dankbar-seligen Blick zu, und die junge Dame wurde so rot wie eine vollkommen aufgeblühte Päonie.

»Meine Meinung ist«, hub Barton an –

»Ich weiß, was Sie sagen wollen«, unterbrach ihn Malderton, entschlossen, seinen Schwager nicht wieder zu Wort kommen zu lassen, »und bin Ihrer Meinung keineswegs.«

»Wieso?« fragte Barton verwundert.

»Tut mir leid, anderer Meinung sein zu müssen«, erwiderte Malderton so bestimmt, als wenn er wirklich einer ausgesprochenen Behauptung Bartons entgegentrete; »kann aber in der Tat eine Ansicht nicht billigen, die mir als durchaus verkehrt erscheint.«

»Ich wollte aber nur sagen –«

»Sie werden mich nie überzeugen«, unterbrach ihn Malderton im Tone der hartnäckigsten Bestimmtheit; »nie!«

»Und ich«, fiel Mr. Frederick ein, dem Vater zum Angriffe nachfolgend, »ich kann Mr. Sparkins‘ Meinung durchaus nicht teilen.«

»Wie!« rief Horatio aus, der in demselben Maße metaphysischer und redseliger wurde, als er gewahrte, daß ihm die Damen mit bewunderndem Entzücken zuhörten; »wie! ist die Wirkung die Folge der Ursache? Ist die Ursache die Vorläuferin der Folge?«

»Das eben ist die Frage«, fiel Flamwell beistimmend ein.

»Allerdings«, sagte Mr. Malderton.

»Ist nun die Wirkung der Ursache Folge und geht die Ursache der Wirkung vorher, so möchten Sie entschieden unrecht haben«, fuhr Horatio fort.

»Offenbar unrecht«, bekräftigte Flamwell.

»Ich darf zum wenigsten hoffen, meine Behauptung logisch begründet zu haben?« sagte Sparkins in fragendem Ton.

»Ohne allen Zweifel«, stimmte Flamwell abermals bei. »Sie haben sie ganz außer Frage gestellt.«

»Mag sein«, sagte Mr. Frederick; »es wollte mir nur nicht sogleich einleuchten.«

Und mir leuchtet es auch jetzt noch nicht ein, dachte der Gewürzkrämer.

»Wie wundervoll gescheit er ist!« flüsterte Mrs. Malderton ihren Töchtern zu, als sie sich mit ihnen zurückzog.

»Oh, er ist ein ganz prächtiger Mensch!« sagten die beiden jungen Damen. »Er muß reiche Lebenserfahrungen gemacht haben.«

Als die Herren sich selbst überlassen waren, trat eine Pause ein, während der alle sehr nachdenklich aussahen, als wenn sie durch Horatios Gedankentiefe ganz überwältigt wären. Flamwell, der auszuforschen beschlossen hatte, wer und was Mr. Sparkins eigentlich war, brach zuerst das Stillschweigen.

»Bitte um Vergebung, Sir«, hub er an, »haben Sie nicht die Rechte studiert? Es war einst auch meine Absicht, und ich bin noch jetzt mit mehreren der höchsten Zierden der englischen Anwaltschaft genau bekannt.«

»Nein!« erwiderte Horatio ein wenig zögernd, »so eigentlich nicht.«

»Allein, ich müßte doch sehr irren, wenn Sie nicht vielen Umgang mit Rechtsgelehrten gehabt hätten?«

»Allerdings; fortwährend seit meinen ersten Jünglingsjahren.

Flamwell meinte, jetzt vollkommen genau zu wissen, was er wissen wollte. Sparkins war ein junger angehender Sachwalter.

»Ich möchte nicht Sachwalter sein«, sagte Tom, der jetzt zum ersten Male den Mund öffnete und umherschaute, um jemand zu finden, der seine Bemerkung beachtete, was indes von niemand geschah.

»Ich möchte keine Perücke tragen«, wagte Tom hinzuzusetzen.

»Tom, ich bitte dich, mach dich nicht lächerlich«, nahm sein Vater das Wort. »Höre zu, unterrichte dich durch das, was du hörst, und mach nicht fortwährend so abgeschmackte Bemerkungen.«

»Ja, ja, Vater«, versetzte der unglückliche Tom, der, seit er seine Mutter um ein Viertel nach fünf – und es war jetzt acht Uhr – um ein Stück Rindfleisch gebeten, kein Wort gesprochen hatte.

»Laß gut sein, Tom«, sagte sein gutmütiger Onkel, »ich denke wie du; möchte auch keine Perücke tragen, binde lieber ’ne Schürze vor.«

Mr. Malderton hustete stark genug, allein Barton fuhr fort:

»Denn wenn sich jemand zu vornehm für sein Geschäft dünkt –«

Der Husten kehrte mit zehnfacher Heftigkeit zurück und hörte nicht eher wieder auf, als bis der Unheilstifter, der Schuld daran war, vollkommen vergessen hatte, was er sagen wollte.

»Mr. Sparkins«, begann Flamwell, seinen Entdeckungsversuch wieder aufnehmend, »kennen Sie vielleicht Mr. Delafontaine von Bedford-Square?«

»Er hat mir und ich habe ihm eine Karte geschickt, und ich hatte seitdem Gelegenheit, ihm einen nicht unbeträchtlichen Dienst zu leisten«, erwiderte Horatio, sich ein wenig verfärbend – ohne Zweifel, weil er sich hatte verleiten lassen, so etwas auszuschwatzen.

»Sie sind sehr glücklich zu schätzen, wenn Sie Gelegenheit gehabt haben, sich diesen angesehenen Mann zu verpflichten«, bemerkte Flamwell mit einer Miene tiefer Ehrerbietung.

»Ich weiß in der Tat nicht, wer er ist«, flüsterte Flamwell dem Gastgeber vertraulich zu, als sie Horatio in das Damenzimmer folgten; »indes ist es ganz ausgemacht, daß er dem Stande der Rechtsgelehrten angehört, ein Mann von Bedeutung ist, vornehme Verbindungen hat.«

»Ohne Zweifel, ohne allen Zweifel«, versetzte Mr. Malderton.

Der Abend verging äußerst angenehm. Barton schlief ein, Malderton sah sich dadurch von seinen Ängsten befreit und war deshalb so gesprächig und liebenswürdig wie möglich. Miss Theresa spielte ein Modestück, wie Mr. Sparkins erklärte, »vollkommen meisterhaft«, und beide sangen mit Frederick Terzetts ohne Zahl, nachdem sie die erfreuliche Entdeckung gemacht, daß ihre Stimmen auf das schönste harmonierten. Freilich sangen alle drei die erste Stimme und Horatio hatte nicht nur das kleine Unglück, kein musikalisches Gehör zu haben, sondern kannte auch nicht eine einzige Note; allein die Zeit verging dessenungeachtet unendlich angenehm, und es war zwölf Uhr geworden, als Mr. Sparkins sein Trauerpferd vorführen ließ. Er hatte jedoch zuvor heilig versprechen müssen, seinen Besuch am folgenden Sonntag zu wiederholen.

»Vielleicht nimmt aber Mr. Sparkins morgen abend an unserer Partie teil?« sagte die Frau vom Hause. »Malderton denkt, die Mädchen ins Theater zu führen.«

Mr. Sparkins verbeugte sich und versprach, während der Vorstellung in Loge Nr. 48 zu erscheinen.

»Wir wollen Ihnen den Vormittag nicht rauben«, sagte Theresa in bezauberndem Tone; »denn Mutter gedenkt, die Putzlädenrunde mit uns zu machen, und ich weiß, daß die Herren nur zu oft einen wahren Abscheu davor hegen.«

Mr. Sparkins verbeugte sich abermals und versicherte, daß er entzückt gewesen wäre, wenn er daran hätte teilnehmen können, doch während des Vormittags von wichtigen Geschäften in Anspruch genommen würde. Flamwell warf Malderton bedeutsame Blicke zu. »’s ist die Zeit der Gerichtssitzungen«, flüsterte er.

Am folgenden Vormittag um zwölf Uhr stand der Wagen vor Mr. Maldertons Haustür bereit, die Mutter und die Töchter aufzunehmen. Sie beabsichtigten, bei einer Freundin zu Mittag zu essen und sich zum Theater anzukleiden, zuvor aber zahllose Läden zu besuchen und mannigfache Einkäufe zu machen. Die jungen Damen vertrieben sich die Langeweile der Fahrt damit, daß sie Mr. Horatio Sparkins priesen und auf ihre Frau Mama schalten, daß diese sie immer weiter und weiter fahren ließ, um ein paar Schillinge zu sparen. Endlich hielt das Fuhrwerk vor einem sehr kläglich aussehenden Laden, in dessen Fenster ein buntes Gemisch von Handelsartikeln ausgestellt war – Saffianschuhe, Schals, Sonnenschirme und Hunderte andere.

»Oh, Himmel, Mama, wohin bringen Sie uns!« sagte Miss Theresa; »was würde Mr. Sparkins sagen, wenn er uns hier sähe!«

»Oh, um alles in der Welt!« rief Miss Marianne schaudernd aus.

»Bitte, nehmen Sie Platz, meine Damen. Was befehlen Sie?« fragte der dienstbeflissene Ladenbesitzer, der, in seinem mächtigen weißen Halstuch mit steifer Schleife, dem schlechten »Porträt eines Gentleman« in der Kunstausstellung glich.

»Ich wünsche, seidene Stoffe zu sehen«, erwiderte Mrs. Malderton.

»Augenblicklich, Ma’am – Mr. Smith! Wo ist Mr. Smith?«

»Hier, Sir«, ertönte eine Stimme aus dem Kontor hinter dem Laden.

»Geschwind, Mr. Smith«, rief ihm sein Prinzipal zu. »Sie sind doch niemals am Platz, wenn man Ihrer bedarf.«

Mr. Smith gehorchte der Aufforderung, sprang mit großer Behendigkeit über einen Warenballen, der ihm im Wege lag, und stand wie ein Deus ex machina hinter dem Ladentisch dicht vor den kauflustigen Damen. Mrs. Malderton stieß einen ohnmächtigen Schrei aus; Miss Theresa, die sich zur Seite gewendet hatte, um mit ihrer Schwester zu flüstern, blickte auf und erschaute – Horatio Sparkins!

»Wir wollen einen Schleier über die jetzt folgende Szene ziehen«, wie die Romanschreiber sagen. Der geheimnisvolle philosophische, romantische, metaphysische Sparkins – er, der der interessanten Theresa als das verkörperte Ideal der jungen Herzöge und poetischen Grafen erschienen war, von dem sie geträumt und gelesen, das zu schauen sie aber kaum gehofft hatte – war plötzlich verwandelt in Mr. Samuel Smith, den Ladendiener bei einem Kramhändler sehr untergeordneter Klasse! Das würdevolle Verschwinden des Helden von Oak Lodge bei dieser unerwarteten Enthüllung war nur der Flucht eines diebischen Hundes zu vergleichen, dem ein ansehnlicher Stein nachgeworfen wird. Die süßen Hoffnungen der Familie Malderton sollten in nichts zerfließen wie das Zitroneneis bei einem Sommerdiner; Almacks stand ihnen fortwährend so fern wie der Nordpol. Und Miss Theresas Aussichten, einen Mann zu bekommen, waren ungefähr so wahrscheinlich wie die Entdeckung einer nordwestlichen Durchfahrt durch Kapitän Roß.

Jahre sind seit jenem schrecklichen Morgen verflossen. Die Gänseblümchen haben dreimal auf dem Anger von Camberwell geblüht – die Sperlinge haben dreimal ihr Frühlingsgezirp im Hain von Camberwell wiederholt – aber noch immer sind die Misses Malderton unvermählt. Miss Theresas Fall ist verzweifelter denn je, allein Flamwell steht im Zenit seines Ansehens, und die Familie hegt immer noch dieselbe Vorliebe für aristokratische Bekanntschaften und eine verstärkte Abneigung gegen alles Gewöhnliche.

Mrs. Joseph Porter

Umfassend und großartig waren die Vorkehrungen in der von Mr. Gattleton, dem sehr wohlhabenden Börsenmakler, bewohnten Villa Rose Clapham Rise, und groß war die gespannte Erwartung der interessanten Familie Mr. Gattletons, als der Tag herannahte, der für die »seit vielen Monaten vorbereiteten« Darstellungen auf dem Liebhabertheater bestimmt war. Die ganze Familie war von der Schauspielmanie besessen. Das sonst immer so saubere und ordentliche Haus war nach Mr. Gattletons markantem Ausdruck »wie aus den Fenstern hinausgeworfen«: Das große Speisezimmer bot, von allen Möbeln und allem Schmuck entblößt, den Anblick einer Rumpelkammer dar, denn es war gefüllt mit allen Kulissenarten, Lampen, Brücken, Wolken, Donner und Blitz, Girlanden und Blumen, Dolchen und Haudegen, und in einem Wort – mit alledem, was man unter dem Ausdruck Theaterutensilien begreift. Die Schlafzimmer waren voll von Prospekten und die Küche voll von Dekorationsarbeitern. Einen Abend um den andern fanden Proben im Besuchszimmer statt, und alle Sofas im Hause waren mehr oder minder durch die Beharrlichkeit und Energie beschädigt, womit Mr. Sempronius Gattleton und Miss Lucina die Erstickungsszene in Othello probierten – denn diese Tragödie sollte als erstes Stück aufgeführt werden.

»Wenn wir noch ein klein wenig mehr eingeübt sind, denk‘ ich, soll es ganz vortrefflich gehen«, sagte Mr. Sempronius zu den übrigen »Mitwirkenden« nach dem Schlusse der hundertundfünfzigsten Probe. Mr. Sempronius war in Erwägung der geringfügigen Unbequemlichkeit, daß er sämtliche Kosten trug, auf die artigste Weise einstimmig zum Direktor erwählt worden.

»Evans«, fuhr er fort, einen langen, schmächtigen, blassen jungen Herrn mit ausgezogenem Knebelbart anredend; »Evans, auf mein Wort, Sie spielen den Roderigo herrlich.«

»Herrlich!« wiederholten die drei Misses Gattleton.

Sämtliche Freundinnen Mr. Evans‘ erklärten ihn für »einen gar zu lieben Menschen«. Er sah so interessant aus und hatte einen so liebenswürdigen Knebelbart, ganz zu schweigen von seinem Talent, Verse in ein Stammbuch zu schreiben und die Flöte zu spielen! Der interessante Roderigo verbeugte sich mit einem unendlich süßen Lächeln.

»Ich glaube jedoch«, fügte der Direktor hinzu, »daß Sie noch nicht ganz perfekt sind in – in dem Hinfallen – in Ihrer Fechtszene – Sie verstehen?«

»Das Fallen ist sehr schwer«, sagte Mr. Evans nachdenklich. »Ich habe es in der letzten Zeit in unserem Kontor sehr oft probiert, allein, man tut sich dabei gar zu weh. Ich muß rücklings fallen, und es geht dabei nicht ohne verdrießliche Beulen ab.«

»Nehmen Sie sich ja in acht, daß Sie keine Kulisse umstürzen«, bemerkte Mr. Gattleton senior, der zum Souffleur ernannt worden war und an der Sache ein ebenso großes Interesse nahm wie die Jüngsten in der Gesellschaft. »Die Bühne ist sehr beschränkt, wie Sie wissen.«

»Seien Sie ohne Sorgen«, erwiderte Mr. Evans sehr selbstzufrieden. »Ich werde mit dem Kopf ›ab‹fallen von der Bühne, und dann kann ich keinen Schaden tun.«

»Wir machen ohne Frage bedeutenden Effekt mit dem Masaniello«, sagte der Direktor händereibend. »Harleigh singt ihn zum Bewundern.«

Die ganze Gesellschaft pflichtete bei. Mr. Harleigh lächelte, sah dabei sehr einfältig aus – was nichts Seltenes bei ihm war – summte: »O schaut, wie herrlich strahlt der Morgen«, und wurde so rot wie die Fischernachtmütze, die er aufprobierte.

»Laß doch einmal sehen«, sagte der Direktor, an den Fingern zählend. »Wir werden drei tanzende Bäuerinnen haben, außer Fenella, und vier Fischer. Dann unser Bedienter Tom, dem wir ein Paar von meinen Drellbeinkleidern und eins von Bobs gewürfelten Hemden und eine Nachtmütze geben können, so daß er auch ein Fischer ist – macht fünf. In den Chören können wir natürlich alle zwischen den Kulissen mitsingen und in der Marktszene in Mänteln umhergehen und darunter tragen, was wir wollen. Wenn der Aufstand beginnt, muß Tom mit einer Spitzhacke von der einen Seite auf die Bühne herein und an der anderen so schnell er kann wieder fortstürzen. Die Wirkung muß elektrisierend sein: es wird ganz aussehen, als ob er eine Menge wäre. Und in der Vesuvausbruchsszene müssen wir das rote Feuer brennen lassen, das Teebrett zur Erde werfen und Schreien und Lärmen aller Art treiben – und wir machen ohne Frage Furore.«

»Ohne Frage!« riefen alle aus einem Munde nach – und Mr. Sempronius Gattleton eilte fort, um sich das korkgeschwärzte Gesicht abzuwaschen und die Aufstellung einer nicht genug zu bewundernden Dekoration von Dilettantenmalerei zu beaufsichtigen.

Mrs. Gattleton war eine ehrliche, gutmütige, vulgäre alte Seele, die ihren Mann und ihre Kinder auf das zärtlichste liebte und nur drei Antipathien hatte. Erstlich waren ihr von Natur jedermanns unverheiratete Töchter, mit Ausnahme ihrer eigenen, zuwider; zweitens hegte sie eine entsetzliche Furcht vor dem Lächerlichen aller Art; und drittens – was eine notwendige Folge davon war – flößte ihr »Mrs. Joseph Porter von gegenüber« fast Schauder ein. Den guten Leuten von Clapham und Umgegend war insgemein vor Lästerung und Sarkasmen äußerst bange, und sie machten daher Mrs. Joseph Porter den Hof, schmeichelten ihr, liebedienerten ihr und luden sie ein, so ziemlich aus demselben Grunde, aus dem sich ein blutarmer Schriftsteller mit der allergrößten Höflichkeit gegen den Geldbriefträger benimmt.

»Lassen Sie es nur gut sein, Mama«, sagte Miss Emma Porter zu ihrer verehrten Mutter und bemühte sich dabei, gleichgültig auszusehen. »Wenn ich zur Teilnahme eingeladen worden wäre, so wissen Sie, daß weder Papa noch Sie selbst Ihre Erlaubnis zu einer solchen Schaustellung meiner Person gegeben haben würden.«

»Ich habe nichts anderes von deinem Schicklichkeitsgefühl erwartet«, erwiderte Mrs. Porter. »Ich freue mich zu hören, Emma, daß du die Sache so richtig benennst.«

Miss Porter hatte ihre Person, beiläufig gesagt, erst vor einer Woche vier Tage lang hinter einem Ladentisch auf Fancy Fair jedermann zur Schau gestellt, der geneigt gewesen war, einen Schilling für das Vorrecht zu bezahlen, einige Dutzend Mädchen mit Unbekannten kokettieren und Ladenjungfern spielen zu sehen.

»Seht!« rief Mrs. Porter, durch das Fenster blickend; »da werden zwei Rindskeulen und ein Schinken offenbar zu Sandwiches hineingetragen, und Thomas, der Konditor, sagt, es wären außer Blancmanger und Gelees zwölf Dutzend Torten bestellt. Und sich nun obenein die Misses Gattleton in Theaterkostümen zu denken!«

»Oh, es ist gar zu lächerlich«, sagte Miss Porter mit einem krampfhaften Kichern. »Ich will ihnen doch aber die Sache ein wenig verleiden«, sagte Mrs. Porter und griff zum Hute und Schal, um ihre menschenfreundliche Absicht auf der Stelle auszuführen.

»Meine liebe Mrs. Gattleton«, sagte sie, nachdem sie eine Zeitlang bei der Nachbarin gesessen und ihr kraft unermüdlichen Ausfragens alles abgelockt hatte, was Mrs. Gattleton selbst von den beabsichtigten theatralischen Vorstellungen wußte; »die Leute mögen sagen, was ihnen beliebt, meine Beste: und wir wissen ja, daß sie freilich viel und mancherlei reden, denn manche sind nun einmal so boshaft. Ah, meine liebe Miss Lucina, wie befinden Sie sich? – Ich wollte eben Ihrer Frau Mutter mitteilen, daß ich sagen gehört habe –«

»Was haben Sie sagen gehört?« fragte die Desdemona.

»Mrs. Porter spricht von den theatralischen Vorstellungen«, fiel Mrs. Gattleton ein. »Sie wollte mir leider eben mitteilen –«

»Ich bitte, reden Sie doch nicht davon«, unterbrach Mrs. Porter. »Es ist ja höchst abgeschmackt – geradeso abgeschmackt, als wenn der junge – wie heißt er doch? – sagt, er wundere sich, wie Miss Karoline mit einem solchen Fuße und Knöchel die Eitelkeit haben könne, die Fenella zu geben.«

»So unverschämt wie möglich, wer es auch gesagt hat«, erklärte Mrs. Gattleton, vor Unwillen errötend.

»Sie haben vollkommen recht, meine Liebe«, pflichtete die entzückte Mrs. Porter bei; »denn ich sagte gleich, wenn auch Miss Karoline die Fenella gebe, so folge ja noch gar nicht daraus, daß sie einen zierlichen Fuß zu haben glaube. Und was für Laffen diese jungen Leute sind! Er hatte die Unverschämtheit, zu sagen, –«

Es ist unmöglich, zu sagen, inwieweit Mrs. Porter ihren angenehmen Zweck erreicht haben dürfte, wenn nicht Mr. Thomas Balderstone, Mrs. Gattletons Bruder (im Familienkreise vertraulich »Onkel Tom« genannt) eingetreten wäre, das Gespräch auf einen anderen Gegenstand und Mrs. Porter auf einen trefflichen Operationsplan für den Vorstellungsabend gebracht hätte.

Onkel Tom war sehr reich, liebte seine Neffen und Nichten ausnehmend und war daher ein äußerst wichtiger Mann in der Familie. Er hatte das beste Herz von der Welt, war stets guter Laune und sprach fortwährend. Er setzte seinen Ruhm darin, bei allen Gelegenheiten Stulpenstiefel zu tragen und nie das damals moderne schwarzseidene Halstuch anzulegen. Es war sein Stolz, die wichtigsten Shakespearestücke von Anfang bis zu Ende im Gedächtnis zu haben. Die Folge dieses Papageientalents war, daß er »den Schwan von Avon« nicht nur selbst beständig zitierte, sondern daß er ihn auch nie unrichtig zitieren hören konnte, ohne den unglücklichen Delinquenten zu korrigieren. Auch war er ein Spaßvogel, ließ nie eine Gelegenheit vorübergehen, etwas Witziges oder was er dafür hielt zu sagen, und lachte ohne Ausnahme über alles, was ihm spaßig oder lächerlich vorkam, bis ihm die Tränen in die Augen traten.

»Nun, Mädchen,« sagte Onkel Tom nach dem einleitenden Küssen und Fragen nach dem Befinden, »wie steht’s mit der Hauptsache? Könnt ihr eure Rollen – wie? Lucina, liebes Kind, Akt 2, Szene l, linke Seite, Stichwort: ›Im Schoß der Zukunft harrt.‹ Wie heißt es weiter – nun? ›Verhüte Gott –‹«

»Ja, ja«, sagte Miss Lucina, »ich entsinne mich schon –

›Verhüte Gott,
Daß unsre Lieb‘ und Glück nicht sollten wachsen
Wie unsrer Tage Zahl.‹«

»Mach hier und da eine Pause«, sagte der alte Herr, der seiner Meinung nach ein großer Kritiker war. »›Daß unsre Lieb‘ und Glück nicht sollten wachsen‹ – Nachdruck auf das letzte Wort ›wachsen‹ – laut ›wie‹, – eins, zwei, drei, vier; dann wieder laut ›unsrer Tage Zahl‹; Tage betont. So ist’s recht, liebes Kind; verlaß dich auf deinen Onkel, was Betonung anbelangt. – Ah, Sem, wie geht’s, alter Junge?«

»Sehr wohl, danke schön, Onkel«, erwiderte Mr. Sempronius, der eben eingetreten war und so ziemlich wie eine Ringeltaube aussah, da er infolge seines beständigen Schwärzens einen Kreis um jedes Auge hatte. »Wir sehen Sie Donnerstag natürlich?«

»Versteht sich, versteht sich, alter Junge!«

»Wie schade es doch ist, daß Ihr Neffe nicht daran dachte, Sie zum Souffleur zu machen, Mr. Balderstone«, flüsterte Mrs. Joseph Porter. »Sie würden ganz unschätzbar gewesen sein.«

»Ich schmeichle mir allerdings, daß ich den Posten erträglich ausfüllen würde«, entgegnete Onkel Tom.

»Sie müssen mir erlauben, mich am Schauspielabend neben Sie zu setzen. Sie würden jederzeit imstande sein, mich zu belehren, wenn Ihre lieben Nichten oder Neffen in irgendeiner Beziehung fehlen sollten. Die Vorstellungen werden ganz unendlich anziehend für mich sein.«

»Und ich werde mich unendlich glücklich schätzen, Ihnen nach meinem besten Vermögen zu dienen.«

»Sie dürfen es aber nicht vergessen.« – »Sicherlich nicht.«

»Ich weiß nicht«, sagte Mrs. Gattleton zu ihren memorierenden Töchtern, als sie am Abend mit ihnen vor dem Kamin saß, »aber ich möchte gar zu gern, daß Mrs. Joseph Porter Donnerstag nicht käme. Ich bin überzeugt, daß sie Böses im Schilde führt.«

»Sie kann uns indes nicht lächerlich machen«, bemerkte Mr. Sempronius Gattleton, sich in die Brust werfend.

Der lange erwartete Donnerstag kam zur gehörigen Zeit und brachte, wie Mr. Gattleton senior philosophisch bemerkte, »keine der Rede werten Unfälle mit«. Freilich war es noch zweifelhaft, ob Cassio imstande sein würde, das Kostüm anzulegen, das man ihm aus der Maskeradengarderobe hatte kommen lassen. Ebenso ungewiß war es, ob die Sängerin von der Influenza hinlänglich wiederhergestellt sein würde, um auftreten zu können. Mr. Harleigh, der Masaniello, war heiser und fühlte sich ziemlich unpäßlich, weil er so große Quantitäten Zitronensaft und Kandiszucker genossen, um seiner Stimme zu Hilfe zu kommen; und zwei Flöten und ein Violoncell hatten sich mit starken Erkältungen entschuldigen lassen. Doch was wollte das sagen? Sämtliche Zuschauer kamen. Die Gesellschaft konnte ihre Rollen; die Anzüge waren mit Goldborten und Flittern auf das reichlichste besetzt; die weißen Federn nahmen sich prachtvoll aus; Mr. Evans hatte das Fallen so lange eingeübt, daß er perfekt darin und vom Kopf bis zu den Füßen mit Beulen bedeckt war, und Jago war vollkommen überzeugt, daß er in der Erdolchungsszene den bedeutendsten Effekt machen würde. Ein tauber Herr, der die Flöte ohne Lehrer gelernt, hatte sich freundlich erboten, sein Instrument mitzubringen und war eine schätzbare Vervollständigung des Orchesters; Miss Jenkins Fertigkeit auf dem Piano war zu bekannt, um nur einen Augenblick in Zweifel gezogen werden zu können; Mr. Cape hatte das Violinspiel oft mit ihr geübt; und Mr. Brown, der mit seinem Violincell zu kommen gütigst zugesagt hatte, wenn er nur ein paar Stunden vorher Nachricht erhielte, machte seine Sachen ohne Frage vortrefflich.

Es schlug sieben Uhr, und die Zuschauer versammelten sich; das Theater füllte sich rasch mit allem, was in Clapham und Umgegend Rang und Namen hatte. Man sah die Smiths, die Gubbins, die Nixons, die Dixons, die Hicksons usf.; ferner zwei Ratsherrn, einen Sheriff in spe, Sir Thomas Glumper (der unter der vorigen Regierung zum Ritter ernannt worden war, weil er wegen jemands Errettung von Gott weiß was eine Adresse überbracht hatte); und als die letzten, aber nicht unbedeutendsten, Mrs. Joseph Porter und Onkel Tom, die in der Mitte der dritten Sitzreihe von der Bühne saßen, Mrs. Joseph Porter Onkel Tom mit Geschichtchen aller Art und Onkel Tom jedermann durch unmäßiges Gelächter unterhaltend.

Punkt acht Uhr ertönte die Souffleurglocke, und augenblicklich begann das Orchester die Ouvertüre zu den »Geschöpfen des Prometheus«. Die Pianofortespielerin hämmerte mit der lobenswürdigsten Beharrlichkeit darauflos, und das von Zeit zu Zeit einfallende Violoncell machte sich wirklich sehr schön, wenn man etwas Rücksicht nahm. Der Unglückliche freilich, der es übernommen, die Flötenbegleitung »vom Blatte« zu spielen, erkannte aus verdrießlicher Erfahrung die vollkommene Wahrheit des alten Sprichworts: »aus den Augen, aus dem Sinn«, denn da er sehr kurzsichtig war und vom Notenbuch nur gar zu entfernt saß, so blieb seine Mitwirkung darauf beschränkt, daß er dann und wann ein paar Takte zur unrechten Zeit spielte und die anderen darausbrachte. Man läßt jedoch Mr. Brown nur Gerechtigkeit widerfahren, wenn man sagt, daß er es zum Bewundern tat. Die Ouvertüre war in der Tat einem Wettrennen der Instrumente nicht sehr unähnlich. Erst eilte das Piano und dann das Violoncell einige Takte voraus, und beide ließen die arme Flöte weit hinter sich zurück; wogegen der taube Herr durch seine Beharrlichkeit endlich doch den Sieg davontrug, indem er lustig immer drauflos blies, ohne zu ahnen, daß er allein musizierte, bis ihn das Applaudieren der Zuschauer belehrte, daß die Ouvertüre zu Ende sei. Und als sie zu Ende war, vernahm man auf der Bühne ein verwirrtes Hin- und Herlaufen, und hörte flüstern: »Das ist eine schöne Geschichte! – Was ist zu tun?« usf. Die Zuschauer applaudierten abermals, um die Schauspieler zu ermutigen, und nunmehr forderte Mr. Sempronius den Souffleur mit sehr hörbarer Stimme auf, zum Anfang zu klingeln.

Die Glocke ertönte, sämtliche Zuschauer setzten sich, der Vorhang zitterte, hob sich gerade so hoch, daß man mehrere Paar gelbe Stiefel umhertrippeln sehen konnte, und blieb dann hängen.

Abermals ertönte die Glocke, am Vorhang wurde heftig gerissen, allein er hob sich nicht höher; die Zuschauer kicherten, Mrs. Joseph Porter sah Onkel Tom und Onkel Tom sah jedermann an, rieb sich die Hände und lachte ausgelassen. Nachdem mit der kleinen Glocke so lange geläutet worden war, wie ein Semmelbursche Zeit gebraucht hätte, eine ziemlich lange Straße hinunterzuläuten, und nach sehr vielem Flüstern, Hämmern und lauten Rufen nach Nägeln und Stricken ging der Vorhang endlich in die Höhe, und auf der Bühne zeigte sich den Blicken ganz allein der Othello, Mr. Sempronius Gattleton. Das Publikum klatschte und rief Beifall zu dreien Malen, während Mr. Sempronius die rechte Hand auf die linke Brust legte und sich auf die untadeligste Weise verbeugte. Endlich trat er vor und sagte:

»Meine Damen und Herren, ich versichere Sie, daß es mit dem aufrichtigsten Bedauern geschieht, daß ich bedaure, genötigt zu sein, Ihnen ankündigen zu müssen, daß Jago, der Mr. Wilson spielen sollte – ich bitte um Vergebung, meine Damen und Herren; aber ich bin natürlich ein wenig erregt (Applaus) – ich wollte sagen, daß Mr. Wilson, der den Jago spielen sollte, im – auf – das heißt nämlich – oder mit anderen Worten, ich erhielt soeben ein Billett von ihm, worin er mir schreibt, daß Jago heute den ganzen Abend dringend im Postbüro beschäftigt sei. Unter diesen Umständen bin ich vollkommen überzeugt – wird ein – ein – Liebhabertheater – indem ein anderer Herr die Rolle zu lesen hat – und muß ich also um eine kurze Geduld bitten – und die Humanität und Güte eines britischen Publikums –«

Beifallklatschen erstickte zum Überfluß seine Stimme; er trat ab, und der Vorhang fiel. Der Vorfall versetzte die Zuschauer natürlich in die heiterste Laune; sie betrachteten das Ganze als einen Spaß, warteten mit der größten Geduld eine Stunde und ließen sich dabei die herumgereichten Erfrischungen munden. Später vernahm man von Mr. Sempronius, daß die Verzögerung nicht so lange gedauert hätte, wenn nicht Jago von der Post unerwartet gerade dann angelangt wäre, als der stellvertretende Jago soeben mit dem Ankleiden fertig geworden. Der letztere hatte sich daher wieder aus- und der erstere sich sodann ankleiden müssen, worüber eine um so beträchtlichere Zeit verging, weil ihm das Kostüm zu eng gewesen war.

Endlich nahm die Tragödie allen Ernstes ihren Anfang und hatte auch einen erträglichen Fortgang bis zur dritten Szene des ersten Akts, in der Othello den Senat anredet und Jago, dessen Füße für sämtliche Bühnenstiefel zu groß oder von der Hitze und Aufregung zu geschwollen waren, seine Rolle in gewöhnlichen kurzen Stiefeln spielen mußte, die ziemlich sonderbar von seinen reichbesetzten Pantalons abstachen. Als Othello seine Anrede an den Senat begonnen hatte (dessen Würde durch einen Handlanger, der den Herzog vorstellte, zwei auf Empfehlung des Gärtners engagierte gute Freunde besagten Handlangers und einen Knaben vertreten wurde), fand sich für Mrs. Joseph Porter die ersehnte Gelegenheit.

Mr. Sempronius fuhr fort:

»Ehrwürd’ger, mächt’ger und erlauchter Rat,
Sehr edle, wohlerprobte gute Herrn –
Daß ich dem alten Mann die Tochter nahm,
Ist völlig wahr; ich bin von rauhem Wort –«

»War das recht?« flüsterte Mrs. Porter Onkel Tom zu.

»Nein.«

»So sagen Sie es ihm doch.«

»Ja, ja, – Sem! das war nicht recht, alter Junge.«

»Was war nicht recht, Onkel?« fragte Othello, die Würde seiner Rolle gänzlich vergessend.

»Du hast etwas ausgelassen. ›Wahr, sie ist mir vermählt –‹«

»Ah, ah!« sagte Mr. Sempronius und bemühte sich ebensosehr und so unwirksam, seine Verwirrung zu verbergen, wie die Zuschauer sich Mühe gaben, ihr Kichern durch heftiges Husten zu unterdrücken – –

»wahr, sie ist mir vermählt; –
Der Tatbestand und Umfang meiner Schuld
Reicht dahin; weiter nicht.«

»Warum soufflierst du nicht, Vater?«

»Weil ich meine Brille verlegt habe«, erwiderte Mr. Gattleton, der von der Hitze und dem Getümmel halb tot war.

»Weiter!« rief Onkel Tom. »Jetzt kommt: ›ich bin von rauhem Wort‹.«

»Ja, ich weiß es«, rief der unglückliche Direktor zurück und redete weiter.

Es würde nutzlos und ermüdend sein, noch die vielen Fälle aufzuzählen, in denen Onkel Tom, der jetzt vollkommen in seinem Element war und durch die boshafte Mrs. Porter fortwährend angestachelt wurde, die Irrtümer der Schauspieler verbesserte. Es mag hinreichen, zu sagen, daß ihn, nachdem er sein Steckenpferd einmal bestiegen hatte, nichts bewegen konnte, wieder herunterzusteigen, und daß er, gleichsam als ein zweiter Souffleur, das ganze Stück vor sich hinmurmelte. Die Zuschauer ergötzten sich ausnehmend, Mrs. Porter war entzückt, und sämtliche Schauspieler gerieten außer Fassung: Onkel Tom hatte sich in seinem Leben nicht besser unterhalten, und seine Neffen und Nichten, obwohl die erklärten Erben seiner Schätze, hatten nie so herzlich gewünscht, daß er zu seinen Vätern versammelt sein möchte, wie an jenem denkwürdigen Abend.

Verschiedene andere, geringere Ursachen kamen noch hinzu, um den Eifer der Liebhaber zu dämpfen. Keiner von ihnen konnte in den knapp anliegenden Gewändern gehen oder die Arme in den Kostümen rühren: die Hosen waren zu kurz, die Stiefel zu weit und die Schwerter von allen Größen und Arten. Mr. Evans, der zu groß für die Bühne war, trug einen schwarzen Samthut mit ungeheuren, weißen Federn, die von den Zuschauern nicht gesehen werden konnten, und den er nur mit großer Schwierigkeit auf dem Kopfe zu befestigen, und wenn er ihn festgesetzt hatte, nicht wieder herunterzubringen vermochte. Trotz allem seinem Einüben fiel er mit dem Kopfe und den Schultern so meisterhaft durch eine Seitenwand, wie ein Harlekin in einer Weihnachtspantomime durch einen Reif gesprungen sein würde. Die Pianofortespielerin wurde am Anfang der Nachstücke infolge der Hitze im Saale ohnmächtig, und die Flöte und das Violoncell mußten Masaniello allein beim Gesang begleiten. Das Orchester beklagte sich, daß es von Mr. Harleigh darausgebracht würde, und Mr. Harleigh erklärte, daß ihn das Orchester gänzlich am Singen hindere. Die gemieteten Fischer revoltierten im eigentlichen Sinne und wollten schlechterdings nicht spielen, wenn ihnen nicht eine größere Quantität Branntwein bewilligt würde; und als ihrem Begehren Genüge geleistet war, traten sie in der Vesuvausbruchsszene so natürlich betrunken wie möglich auf. Das rote Feuer am Schlusse des zweiten Aktes hatte nicht nur die Zuschauer fast erstickt, sondern obendrein beinahe das Haus in Brand gesteckt, und die Schlußszene wurde in dichtem Rauche gespielt.

Kurzum, das Ganze mißglückte vollkommen, wie Mrs. Joseph Porter jedermann triumphierend sagte. Die Zuschauer kehrten um vier Uhr morgens heim, erschöpft vom Lachen, an heftigen Kopfschmerzen leidend, und schrecklich nach Schwefel und Schießpulver riechend. Die Herren Gattleton, senior und junior, begaben sich mit der unbestimmten Idee zur Ruhe, in den ersten Tagen der nächstfolgenden Woche nach dem Schwanenflusse auszuwandern.

Villa Rose sieht wieder aus wie sonst: die Möbel des Speisezimmers stehen wieder an ihrem Ort; die Tische sind so hell poliert wie früher, und sämtliche Vorderfenster haben zum Schutz gegen Mrs. Joseph Porters forschende Blicke Jalousien erhalten. Das Theater wird in der Familie Gattleton nicht mehr erwähnt, ausgenommen von seiten Onkel Toms, der sich nicht enthalten kann, bisweilen sein Erstaunen und Bedauern auszudrücken, daß seine Neffen und Nichten allen Geschmack an den Schönheiten Shakespeares und dem Zitieren aus den Werken des unsterblichen Dichters verloren zu haben scheinen.

Master Kitterbells Taufe

Mr. Nikodemus Dumps oder, wie seine Bekannten ihn zu nennen pflegten, »der lange Dumps«, war ein Hagestolz, sechs Fuß hoch und fünfzig Jahre alt – mürrisch, totengräberisch, wunderlich und boshaft. Er war nur vergnügt, wenn er unglücklich war und fühlte sich stets unglücklich, wenn er die meiste Ursache zur Fröhlichkeit hatte. Sein einziges wahrhaftes Vergnügen bestand darin, jedermann um sich her verdrießlich oder sorgenvoll zu sehen, und erst wenn dies der Fall war, konnte man von ihm sagen, daß er seines Lebens froh wurde. Er war mit einem Amt bei der Bank mit jährlichen fünfhundert Pfund geplagt und mietete eine Wohnung in Pentonville, weil er aus seinen Fenstern die Aussicht auf den ganz nahen Kirchhof hatte. Er kannte jeden Grabstein auf das genaueste, und jedes Leichenbegängnis schien seine lebhafteste Teilnahme zu erregen. Seine Freunde nannten ihn sauertöpfisch; er bestand darauf, er sei nervenschwach. Sie hießen ihn einen Glückspilz: allein er beteuerte, der unglücklichste Mensch von der Welt zu sein. Kalt, wie er war, und unglücklich, wie er sich selbst nannte, war er doch nicht ganz unempfänglich für wärmere Gefühle und Neigungen, Er verehrte das Andenken des berühmten Whist-Schriftstellers Hoyle, da er selbst ein ausgezeichneter und unermüdlicher Whistspieler war; er kicherte vor innerlichem Behagen, wenn er einen verdrießlichen und ungeduldigen Mitspieler hatte. Den König Herodes verehrte er wegen des bethlehemischen Kindermords wie einen Heiligen; denn wenn er irgendein Geschöpf mehr als ein anderes haßte, so war es ein Kind. Übrigens mißfiel ihm freilich alles, und zwar in ziemlich gleichem Maße; vielleicht aber galten Kabrioletts, alten Frauen, Türen, die nicht schließen wollten, Musikdilettanten und Cads (Omnibuskondukteure) seine größten Antipathien. Er schickte dem Verein der Gesellschaft für Unterdrückung des Lasters beträchtliche Beiträge, um das Vergnügen zu haben, harmlose Belustigungen hindern zu helfen, und steuerte sehr reichlich zur Unterstützung zweier reisender Methodistenprediger in der holdseligen Hoffnung bei, daß recht viele durch die Umstände Begünstigte und Glückliche in dieser Welt durch die unterstützten Prediger bekehrt und durch Furcht vor der andern Welt unglücklich werden würden.

Mr. Dumps hatte einen Neffen, der seit einem Jahr verheiratet war und bei seinem Oheim einigermaßen in Gunst stand, weil er einen trefflichen Gegenstand zur Übung des Unheils stiftenden, Verdruß bereitenden Talents seines Onkels abgab. Mr. Charles Kitterbell war ein kleiner, gedrückter Mann mit einem breiten, gutgelaunten Gesicht. Er sah aus wie ein zusammengeschrumpfter Riese mit teilweise wiederhergestelltem Kopf und Antlitz und schielte dermaßen, daß es für jemand, der mit ihm sprach, rein unmöglich war dahinterzukommen, nach welcher Richtung er hinsähe. Seine Blicke schienen an die Wand geheftet, und man geriet vor ihnen außer Fassung; man bemühte sich vergebens, sie zu fesseln oder festzuhalten, und hätte sich vor ihnen verstecken mögen. Es war nur ein Glück, daß sie nicht ansteckten. Außerdem war Mr. Charles Kitterbell der leichtgläubigste und prosaischste Mann, der jemals eine Frau und ein Haus in der Großen Russelstraße, Bedfordsquare, nahm. Onkel Dumps ließ übrigens »Bedfordsquare« immer aus, und sagte dafür schauderhafterweise »Tottenham-Court-Road«.

»Wahrhaftig, Onkel, Sie müssen mir’s versprechen, Gevatter zu stehen«, sagte Mr. Kitterbell, als er sich eines Morgens bei seinem verehrten Verwandten befand.

»Kann’s, kann’s in der Tat nicht«, entgegnete Dumps.

»Aber warum denn nicht? Mary wird Sie für sehr unfreundlich halten. Es ist ja nur eine geringe Mühe.«

»Was die Mühe betrifft«, erwiderte der unglücklichste Mann von der Welt, »so denke ich gar nicht daran; allein meine Nerven sind in einem Zustand, daß ich die Taufhandlung nicht aushalten kann. Du weißt, daß ich nicht gern ausgehe. – Charles, um des Himmels willen, schaukle dich nicht so auf dem Stuhl, ich könnte wahnsinnig dabei werden.«

Mr. Kitterbell hatte sich seit einer Viertelstunde, ohne alle Rücksicht auf seines Onkels Nerven, auf dem Geschäftsstuhl in der Schwebe gehalten, so daß der Stuhl auf einem Bein balancierte.

»Bitte um Verzeihung«, sagte er bestürzt; »aber kommen Sie doch, Onkel! Wenn es ein Knabe ist, so müssen wir zwei Paten haben.«

» Wenn es ein Knabe ist!« sagte Dumps; »warum sagst du mir nicht, ob es ein Knabe oder ein Mädchen ist?«

»Ich würde es Ihnen sehr gern sagen, wenn ich nur könnte; allein das Kind ist ja noch ungeboren.«

»Noch ungeboren!« wiederholte Dumps, und ein Hoffnungsstrahl erhellte sein düsteres Antlitz. »Nun, es kann ein Mädchen werden, und dann bedarfst du meiner Patenschaft nicht; oder es wird ein Knabe, und dann kann er vor der Taufe sterben.«

»Das will ich nicht hoffen«, sagte der harrende junge Ehemann mit sehr langem Gesicht.

»Ich auch nicht«, stimmte ihm Dumps bei, der offenbar anfing, vergnügt zu werden. »Ich auch nicht; allein, in den ersten drei Tagen eines Kindeslebens kommen sehr häufig betrübende Fälle vor; der Kinnbackenkrampf ist sehr gewöhnlich, und gefährliche Darmkatarrhe bleiben fast nie aus.«

»O Himmel, Onkel!« keuchte der kleine Kitterbell.

»Ja, ja; am vorigen Dienstag kam meine Hauswirtin mit einem allerliebsten Knaben nieder; Donnerstag abend hat ihn die Wärterin auf dem Schoße – er ist so gesund und munter wie möglich – plötzlich wird er schwarz im Gesicht – man ruft den Arzt – wendet alle möglichen Mittel an, allein –«

»Entsetzlich!« unterbrach der geängstigte Kitterbell.

»Natürlich starb das Kind, doch es kann sein, daß dein Kind am Leben bleibt; und sollt‘ es ein Knabe sein und bis zur Taufe am Leben bleiben, so werd‘ ich dann freilich wohl Gevatter stehen müssen.«

Dumps hatte böse Vorahnungen und war deshalb offenbar in guter Laune.

»Ich danke Ihnen, Onkel«, sagte sein äußerst unruhig gewordener Neffe und drückte ihm die Hand so herzlich, als wenn ihm der Sonderling einen wesentlichen Dienst geleistet hätte. »Es wird jedoch am besten sein, wenn ich meiner Frau Ihre Andeutungen mitteile.«

»Wenn sie nervenschwach ist, so sag ihr wenigstens von meiner Hauswirtin Schicksal nichts«, erwiderte Dumps, der natürlich die ganze Geschichte ersonnen hatte; »obwohl es vielleicht deine Pflicht als Ehemann wäre, sie jedenfalls auf das Schlimmste vorzubereiten.«

Als Dumps ein paar Tage später beim Frühstück die Zeitung las, fiel ihm plötzlich die Geburtsanzeige eines jungen Kitterbells in das Auge.

»’s ist wirklich ein Knabe geworden!« rief er aus und warf das Zeitungsblatt auf den Tisch, faßte sich jedoch bald wieder, da seine Blicke gleich nachher auf eine lange Liste gestorbener Kinder fielen.

Es vergingen sechs Wochen, und da er keine Einladung von seinem Neffen erhielt, fing er an, sich mit dem Gedanken zu schmeicheln, daß das Kind gestorben wäre. Ein Billett zerstörte jedoch seine angenehmen Hoffnungen.

Onkel!

Sie werden hocherfreut sein, von mir zu hören, daß meine geliebte Mary das Wöchnerinnenzimmer verlassen hat und daß Ihr Großneffe und künftiger Pate vortrefflich gedeiht. Er war anfangs sehr klein, ist aber viel größer geworden, und die Wärterin sagt, daß er mit jedem Tage zunähme. Er schreit ziemlich viel und hat eine sehr sonderbare Farbe, was Mary und mich unruhig genug machte; doch die Wärterin sagt, daß es natürlich sei, und da wir von Dingen dieser Art noch nicht viel wissen und verstehen, so beruhigen wir uns vollkommen bei dem, was die Wärterin sagt. Wir glauben, daß er ein sehr kluges Kind werden wird, und die Wärterin glaubt es ganz gewiß, da er nie einschlafen will. Sie können sich leicht denken, daß wir sehr glücklich sind; wir haben nur etwa über ein wenig Ermüdung zu klagen, da er uns keine Nacht schlafen läßt; doch die Wärterin sagt, wir müßten uns daran gewöhnen, es wäre in den ersten sechs bis acht Monaten immer so. Er ist geimpft worden, allein, der Operateur hat sich etwas ungeschickt gezeigt und mit der Lymphe einige kleine Glasstückchen in den Arm gebracht, woher es vielleicht kommt, daß der Knabe ein wenig widerspenstig ist; zum wenigsten meint dies die Wärterin. Wir denken, ihn Freitag um zwölf Uhr in der St. Georgskirche in der Hartstraße Frederick Charles William taufen zu lassen. Ich bitte, kommen Sie nicht später als ein Viertel vor zwölf Uhr. Wir werden einige Freunde zum Abendessen bei uns haben, an dem Sie natürlich teilnehmen müssen. Ich füge mit Leidwesen hinzu, daß das liebe Kind heute ein wenig unruhig ist, ich fürchte, weil es Fieber hat. Glauben Sie, lieber Onkel, daß ich stets bin

Ihr ergebener Charles Kitterbell

N. S. Wir haben soeben die Unruhe des kleinen Frederick entdeckt. Sie liegt in keinem Fieber, wie ich befürchtete, sondern die Wärterin hat ihm gestern abend zufällig eine Nadel in das Bein gestochen. Wir haben sie herausgenommen, und er ist stiller geworden, obgleich er noch immerfort weint.«

Es ist fast unnötig zu sagen, daß das mitgeteilte interessante Schreiben dem hypochondrischen Dumps wenig zur Freude gereichte. Zurücktreten konnte er nicht wieder; er machte indessen die beste Miene – d. h. eine ungewöhnlich jammervolle – zum bösen Spiele und ließ für den kleinen Kitterbell einen artigen silbernen Becher mit den Buchstaben F.C.W.K. nebst obligaten Verzierungen anfertigen.

Am Montag war schönes, am Dienstag köstliches Wetter, der Mittwoch war beiden genannten Tagen gleich, und der Donnerstag übertraf sie alle; vier schöne Tage hintereinander in London! Die Mietskutscher wurden aufrührerisch, und die dem Fußgänger so dienstwillig aufwartenden Gassenkehrer fingen an, das Dasein einer Vorsehung zu bezweifeln. Der »Morning Herald« zeigte in seinen Spalten an, man habe eine alte Frau in Camden Town sagen hören, daß sich die ältesten Leute keines so beständigen schönen Wetters zu erinnern wüßten, und die Schreiber in Islington mit großen Familien und kleinen Gehältern verabschiedeten ihre schwarzen Gamaschen, verschmähten ihre einst grün gewesenen baumwollenen Regenschirme und stolzierten in weißen Strümpfen und rein gebürstetem Schuhwerk zur Stadt. Dumps sah dem allen mit der Miene tiefster Verachtung zu – sein Triumph stand nahe bevor – er wußte, daß es regnen würde, sobald er ausginge, und wenn das Wetter vier Wochen statt vier Tage schön gewesen wäre; er fühlte sich jammervoll glücklich in der Überzeugung, daß der Freitag ein sehr regnerischer Tag werden würde – und er hatte recht.

»Ich wußt’s vorher«, sagte Dumps, als er sich am Freitagmorgen um halb zwölf Uhr Mansion-House gegenüber umschaute; »ich wußt’s vorher, denn ich bin in im Spiel, und das ist genug.«

In der Tat war das Wetter hinlänglich schlecht, um auch hoffnungslustigere Leute, als Dumps war, zu entmutigen. Es hatte seit acht Uhr ohne Aufhören geregnet, und alle Fußgänger sahen naß und kotbespritzt aus. Alle Arten vergessener oder längst beiseite gestellter Regenschirme waren wieder hervorgesucht, die Gardinen der Kabrioletts sorgfältig verschlossen worden, und die letztern glichen den geheimnisvollsten Bildern in Mrs. Radcliffes Schlössern. Die Omnibuspferde rauchten wie Dampfmaschinen; niemand dachte daran, zeitweiligen Schutz unter Torwegen oder Bogen zu suchen, da das Wetter von jedermann als hoffnungslos erkannt wurde. Alles eilte und drängte triefend und in Schweiß gebadet hastig aneinander vorbei. Dumps stand still; er konnte nicht daran denken, zu gehen, da er sich zur Taufe angekleidet hatte. Nahm er ein Kabriolett, so war er überzeugt, daß er umgeworfen werden würde, und eine Mietskutsche erschien ihm bei seiner Sparsamkeit zu teuer. An der Ecke gegenüber hielt ein Omnibus – der Fall war verzweifelt – Dumps hatte nie gehört, daß ein Omnibus umgeworfen oder daß die Pferde mit einem solchen durchgegangen wären; und warf der Cad ihn um, so konnte er ihn dafür vor Gericht belangen.

»Hallo, Sir!« rief ihm der junge Gentleman zu, der die Würde des Cad bei den »Dorfburschen« – wie das erwähnte Gebäude hieß – bekleidete.

Dumps eilte hinüber.

»Hier, Sir!« rief ihm der Rosselenker des »Hark away« zu, und fuhr gerade vor die Wagentür des Nebenbuhlers; »hier, Sir – der ist voll.«

Dumps stand unschlüssig still, worauf die Dorfburschendirigenten den »Hark away« mit einem Strome von Schimpfwörtern überschütteten. Der Streit wurde jedoch vom »Admiral Napier« auf eine für alle Parteien befriedigende Weise beigelegt, indem der Admiral den langen Dumps um den Leib faßte und ihn mitten in sein Fuhrwerk hineinschleuderte, das eben herangekommen war und dem nur noch der Sechzehnte inwendig fehlte.

»Alles in Ordnung«, sagte der Admiral, und fort rasselte das Gebäude wie eine Feuerspritze im vollen Galopp mit seinem weggekaperten Passagier, der die Stellung eines halbaufgeklappten Stiefelknechts zu behaupten suchte und bei jedem Stoße bald zur einen, bald zur anderen Seite fiel, wie »ein Jack-im-Grün« am Maitag, der der Dame mit dem Kochlöffel hin und her taumelnd nachhüpft.13

»Um des Himmels willen, wo soll ich sitzen?« fragte der Unglückliche einen alten Herrn, dem er soeben zum vierten Male auf den Leib gefallen war.

»Wo Sie belieben, nur nicht auf mir«, erwiderte der alte Herr verdrießlich.

Es gelang Dumps endlich, sich einen Sitzplatz zu erringen zwischen einem Fenster, das sich nicht verschließen lassen wollte, und einem Mann, der den ganzen Morgen ohne Regenschirm umhergewandert war und aussah, als wenn er in einer Wassertonne gelegen hätte – nur noch nasser.

»Schlagen Sie doch die Tür nicht so«, sagte Dumps zu dem Kondukteur, als dieser vier Passagiere hinausgelassen hatte; »meine Nerven halten es unmöglich aus.«

»Sagte da ein Herr was?« entgegnete der Cad, steckte den Kopf in den Wagen und bemühte sich, auszusehen, als ob er nicht verstanden hätte.

»Ich sagte, Sie möchten die Tür nicht so heftig zuschlagen«, wiederholte Dumps mit einem Gesicht, das dem des Treffbuben in Krämpfen glich.

»’s ist ganz besonders mit dieser Tür, Sir; sie schließt nicht ohne Zuschlagen«, erwiderte der Cad, öffnete die Tür, so weit er konnte, und schlug sie zum Beweise seiner Angabe mit dem lautesten Krachen zu.

»Bitte um Vergebung, Sir«, redete ein kleiner, kurzatmiger alter Mann, der ihm gegenüber saß, Dumps an; »bitte um Vergebung; aber haben Sie nicht auch bemerkt, daß von fünf Omnibuspassagieren an einem Regentage immer vier mit großen, baumwollenen Regenschirmen einsteigen, die weder Griffe noch Spitzen haben?«

»Nein, Sir, ich habe die Bemerkung noch nicht gemacht«, entgegnete Dumps; er hörte es zwölf schlagen und schrie, da der Omnibus eben an Drury-Lane vorüberrasselte, wo er hinausgelassen zu werden bestimmt hatte: »Hallo, hallo! – wo ist der Cad?«

Der Cad hörte nicht. Einige mutwillige Passagiere kicherten. Der Omnibus rollte an der St. Giles-Kirche vorüber. Dumps wurde ganz heiser und matt von vergeblichem Rufen.

»Halt!« rief endlich der Cad. »Ich will mich fressen lassen, wenn ich den Herrn nicht vergessen hab’«, der bei Drury-Lane abgesetzt werden wollte. – Machen’s ein bissel hurtig, Sir, wenn’s beliebt!«

Er öffnete die Wagentür und half Dumps so kaltblütig hinaus, als wenn »alles in Ordnung« wäre. Dumps‘ Entrüstung gewann dieses Mal die Oberhand über seinen bittern Gleichmut. »Drury-Lane!« keuchte er mit der Stimme eines Knaben, der zum ersten Male in ein kaltes Bad geht.

»Drury-Lane, Sir? – ja, Sir – an der dritten Ecke rechter Hand, Sir!«

Dumps‘ Zorn beherrschte ihn ganz; er faßte seinen Regenschirm mit festem Griff und ging mit großen Schritten und mit dem hartnäckigen Entschluß davon, seine Fahrt nicht zu bezahlen. Es traf sich so merkwürdig, daß der Cad gerade der entgegengesetzten Meinung war, und der Himmel mag wissen, wozu diese Meinungsverschiedenheit geführt haben würde, wenn sie nicht durch den Kutscher zu einem sehr schicklichen und befriedigenden Ende gebracht worden wäre.

»Hallo!« rief dieses respektable Individuum, auf dem Bocke stehend und sich mit der einen Hand auf das Omnibusdach stützend; »hallo, Tom, sag dem Herrn, wenn er sich betrogen fühlte, wollten wir ihn umsonst nach Edgeware-Road mitnehmen und ihn bei Drury-Lane absetzen, wenn wir zurückkämen. Da kann er nichts gegen haben.«

Es war in der Tat nichts dawider einzuwenden; Dumps zahlte die bestrittenen sechs Pence, stand nach einer Viertelstunde vor seines Neffen Haustür in der Großen Russelstraße und wurde sofort eingelassen. – Im Hause deutete alles darauf hin, daß Vorbereitungen getroffen wurden, abends »einige Freunde« zu empfangen. Das sehr heiß und geschäftig aussehende Hausmädchen führte Dumps in ein vorderes, sehr stattlich möbliertes Besuchszimmer, in dem auf allen Tischen kleine Körbe, Porzellanfiguren, Rosa- und Goldalbums, regenbogenfarbige kleine Bücher und dergleichen Sächelchen zur Schau standen und lagen.

»Ah, Onkel«, rief Kitterbell Dumps entgegen; »wie befinden Sie sich? Liebe Mary – mein Onkel. Ich denke, Sie haben Mary schon gesehen, Sir?«

»Habe schon das Vergnügen gehabt«, erwiderte der lange Dumps, doch so, daß es der Ton seiner Stimme und seine Mienen sehr zweifelhaft machten, ob er jemals in seinem Leben dergleichen empfunden habe

»Gewiß«, sagte Mrs. Kitterbell mit einem schmachtenden Lächeln und ein wenig hustend; »gewiß – hm – jeder Freund meines Charles – hm – und noch weit mehr jeder Anverwandte ist –«

»Ich kenne deine Gesinnung, meine Liebe«, unterbrach sie der kleine Kitterbell, indem er seine Gattin auf das zärtlichste anblickte und dabei aussah, als wenn er nach den Häusern gegenüber schaute; »möge dich der Himmel dafür segnen.«

Er begleitete diese letzteren Worte mit einem so süßen Lächeln und einem so zärtlichen Händedruck, daß Onkel Dumps‘ Galle erregt wurde.

»Jane, sag der Wärterin, daß sie den Kleinen herunterbringen möchte«, befahl Mrs. Kitterbell dem Hausmädchen.

Mrs. Kitterbell war eine große, dünne junge Frau mit sehr hellem Haar und einem auffallend weißen Gesicht – eine der jungen Frauen die, obwohl man schwerlich zu sagen wüßte, warum, stets den Gedanken an kalten Kalbsbraten hervorrufen. Das Hausmädchen ging, und die Wärterin kam, und zwar mit einem sehr, sehr kleinen Bündel auf den Armen, das in einen blauen Mantel mit weißem Pelzbesatz eingehüllt und in dem das Kindlein verborgen war.

»Nun, Onkel«, sagte Kitterbell, indem er mit einer triumphierenden Miene das Gesicht des Kindes enthüllte, »was meinen Sie, wem sieht er ähnlich?«

Mrs. Kitterbell wiederholte kichernd die Frage, nahm ihres Gatten Arm und sah Dumps mit so viel Freundlichkeit, als sie anzunehmen imstande war, in das Gesicht. »Gütiger Himmel, wie klein er ist!« rief der liebenswürdige Oheim aus, mit sehr gut nachgemachter Überraschung zurückschreckend; »in der Tat, ganz merkwürdig klein.«

»Meinen Sie wirklich?« fragte der arme kleine Kitterbell, ein wenig verblüfft. »Er ist jetzt ein Ungeheuer gegen das, was er anfangs war – nicht wahr, Wärterin?«

»’s ist ein Herz«, sagte die Wärterin ausweichend und das Kind an die Brust drückend. Sie hätte freilich nichts dawider gehabt, eine Unwahrheit zu sagen, allein, sie mochte sich nicht um Dumps‘ halbe Krone bringen.

»Aber wem sieht er ähnlich?« fragte der kleine Kitterbell zum zweiten Male.

Dumps sah auf das kleine rosa Bündel hinunter und sann eben nach, wie er die jungen Eheleute am besten ärgern könnte.

»Meinen Sie nicht, daß er mir ähnlich sieht?« fragte sein Neffe mit einer schalkhaften Miene.

» Dir ganz bestimmt nicht«, erwiderte Dumps mit nicht zu mißdeutender nachdrücklicher Betonung. »Nein, dir sieht er nicht im mindesten ähnlich – keine Spur von Ähnlichkeit.«

»Mary?« fragte Kitterbell kleinlaut.

»Auch nicht, Charles; nicht von fern. Ich bin in solchen Dingen natürlich kein kompetenter Richter, allein ich glaube wirklich, er ist einer der kleinen, interessanten Steinfiguren ähnlich, wie man sie bisweilen eine Trompete blasend auf Grabmonumenten sieht.«

Die Wärterin beugte sich über das Kind nieder und unterdrückte nur mit großer Mühe ein lautes Gelächter. Die Eltern sahen fast ebenso jammervoll wie der liebenswürdige Oheim aus.

»Sie werden schon noch besser sagen können, wem er ähnlich sieht«, bemerkte der niedergeschlagene kleine Vater. »Sie sollen ihn heute abend ohne Mantel sehen.«

»Ich danke dir«, sagte Dumps mit Empfindungen, die von allem, was Dankbarkeit heißt, sehr weit entfernt waren.

»Es ist aber Zeit, daß wir aufbrechen, Liebe«, sagte Kitterbell zu seiner Frau. »Onkel, wir treffen den andern Paten und die Patin in der Kirche – Mr. und Mrs. Wilson – ganz allerliebste Leute. Meine liebe Mary, du hast dich doch warm angekleidet?«

Mrs. Kitterbell bejahte.

»Willst du nicht lieber noch einen Schal umbinden?« sagte der besorgte Gatte.

»Es ist nicht nötig, mein süßes Herz«, erwiderte die bezaubernde Mutter, Dumps‘ dargebotenen Arm nehmend.

Sie stiegen in die Mietskutsche, und Dumps unterhielt Mrs. Kitterbell während der Fahrt zur Kirche damit, daß er ihr mit großer Anschaulichkeit weitläufig die Gefahren der Zahnfieber, Masern, Blattern, Brechdurchfälle, Krämpfe und anderer Kinderkrankheiten schilderte. Die etwa fünf Minuten währende Taufe ging vorüber, ohne daß sich etwas Besonderes dabei ereignet hätte. Der Geistliche war zu einem Mittagessen in einer entfernten Vorstadt eingeladen und hatte vorher noch in weniger als einer Stunde zwei Wöchnerinnen einzusegnen, drei Kinder zu taufen und einen Leichensermon zu halten. Die Gevattern sprachen daher in des Täuflings Namen, »zu entsagen dem Teufel und allen seinen Werken«, und der kleine Kitterbell war getauft im Umsehen und ohne Gefährdung, nur fehlte wenig, daß Dumps das unter den Händen des Geistlichen in das Taufbecken hätte fallen lassen. Mit schwerem Herzen und der qualvollen Aussicht auf eine Abendgesellschaft langte Dumps um zwei Uhr in seiner Wohnung an.

Der Abend kam – und auch Dumps‘ Tanzschuhe, schwarze, seidene Strümpfe und weißes Halstuch. Der unglückliche Pate kleidete sich in eines Freundes Kontor an und begab sich von dort zu Fuß – denn hatte zu regnen aufgehört, und das Wetter war erträglich geworden – in einer Stimmung fünfzig Grad unter Null nach der Großen Straße. Er ging langsam seines Weges, sah so bärbeißig aus wie das Gallionsbild eines Kriegsschiffes und entdeckte bei jedem Schritte neue Ursachen des Verdrusses. Er wendete sich eben um eine Ecke, als ein anscheinend betrunkener Mensch gegen ihn anrannte und ihn niedergeworfen haben würde, wenn er nicht hilfreich von einem elegant kleideten jungen Herrn gehalten worden wäre. Der Stoß hatte jedoch seine Nerven so sehr erschüttert und seinen Anzug in eine so schmähliche Unordnung gebracht, daß er kaum aufrecht stehen konnte. Der Herr gab ihm den Arm und geleitete ihn äußerst gefällig bis zum Fernival-Gasthaus. Dumps empfand zum ersten Male in seinem Leben Dankbarkeit und Neigung zur Höflichkeit und schied von dem jungen Mann unter vielen eifrigen Versicherungen, sich ihm höchlich verpflichtet zu fühlen.

»Es gibt doch wenigstens einige Wohlgesinnte in der Welt«, dachte der misanthropische Dumps im Weitergehen.

Als er sich Kitterbells Haus näherte, klopfte dort oben ein Kutscher an, aus dessen Wagen eine alte Dame und ein alter Herr und drei Kopien der alten Dame in rosa Kleidern und Schuhen ausstiegen. »’s ist eine große Gesellschaft«, seufzte der unglückliche Gevatter und wischte sich große Schweißtropfen von der Stirn. Es währte einige Zeit, ehe er sich überwinden konnte, zu klopfen; und als er eingelassen wurde, den geputzten Mietaufwärter und den Hausflur so glänzend erleuchtet sah und das Gesumm vieler Stimmen und die Töne einer Harfe und zweier Violinen sein Ohr trafen, drängte sich ihm sogleich die wehmütige Überzeugung auf, daß seine Vermutungen nur zu wohl begründet wären.

Der kleine Kitterbell schoß unendlich geschäftig aus dem kleinen Hinterstübchen mit einem Korkzieher in der Hand heraus und begrüßte ihn.

»Guter Gott!« rief Dumps aus, als er sich in das Hinterstübchen begab, um seine Schuhe anzuziehen, die er in der Rocktasche mitgebracht hatte, und eine Menge Flaschen und Gläser erblickte; »wie viele Gäste hast du denn oben?«

»O, nicht mehr als fünfunddreißig; und wir werden ein ordentliches warmes Essen haben. Mary hielt es für besser wegen des Redenhaltens und all dem. Aber um des Himmels willen, Onkel, was haben Sie denn? Was haben Sie verloren? Ihre Brieftasche?«

Dumps stand da mit einem Schuh, durchsuchte seine Taschen und schnitt dabei die schrecklichsten Gesichter.

»Nein«, sagte er in Tönen redend, wie Desdemona mit dem Kissen auf dem Munde.

»Ihr Markenkästchen – Ihre Schnupftabaksdose – Ihren Hausschlüssel?« ließ Kitterbell schnell wie Blitze eine weitere Frage auf die andern folgen.

»Nein, nein!« ächzte Dumps, fortwährend seine Taschen durchsuchend.

»Vielleicht – vielleicht den Becher, von dem Sie heute morgen sprachen?«

»Ja, den Becher!« entgegnete Dumps, auf einen Stuhl sinkend.

»Wie konnten Sie aber auch so etwas verlieren?« sagte Kitterbell. »Sind Sie gewiß, daß Sie ihn eingesteckt haben?«

»O weh! jetzt wird mir alles klar!« rief Dumps plötzlich aus. »Ich unglückseliger Mensch – ich bin zur Qual geboren; jetzt ist mir alles klar: es war der elegante, gefällige junge Herr!«

»Mr. Dumps!« schrie mit Stentorstimme der in einen Aufwärter verwandelte Obsthändler, indem er dem ziemlich wieder gefaßten Paten eine halbe Stunde später die Tür des Gesellschaftszimmers öffnete. Aller Augen wendeten sich nach der Tür, und Dumps, der sich so behaglich und an seiner Stelle fühlte wie ein Lachs auf einem Kiesweg, trat ein.

»Freue mich, Sie wiederzusehen«, sagte Mrs. Kitterbell, ohne im mindesten zu ahnen, wie verwirrt und elend der Unglückliche war; »erlauben Sie mir, Sie den Meinigen vorzustellen. Meine Mutter, Mr. Dumps – mein Vater – meine Schwestern.« Dumps ergriff die Hand der Mutter mit so viel Wärme, als wenn die alte Dame seine eigene Mutter gewesen wäre, verbeugte sich vor den jungen Frauenzimmern und gegen einen Herrn hinter ihm, ohne von dem Vater Notiz zu nehmen, der eine Verbeugung nach der andern machte.

»Onkel«, sagte der kleine Kitterbell, nachdem Dumps ein paar Dutzend erlesenen Freunden vorgestellt worden war, »Sie müssen mir vergönnen, daß ich Sie meinem Freunde Danton dort hinten vorstelle. Ein ganz ausgezeichneter Mensch! Ich weiß gewiß, daß er Ihnen gefallen wird – hier, wenn’s beliebt.«

Dumps folgte so langsam wie ein zahmer Bär.

Mr. Danton war ein junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren mit einem beträchtlichen Vorrat von Unverschämtheit und einem sehr kleinen Maß von Verstand und Kenntnissen. Er war besonders bei den jungen Damen von sechzehn bis sechsundzwanzig ausnehmend beliebt, verstand, die Töne des Waldhorns bewundernswürdig nachzuahmen, sang ganz unnachahmlich komische Lieder und konnte seinen Verehrerinnen impertinente Albernheiten und Plattheiten auf die einnehmendste Weise von der Welt sagen. Er hatte, Gott weiß wie, den Ruf erlangt, ein äußerst witziger Kopf zu sein, und natürlich lachten alle, die ihn kannten, sobald er nur den Mund öffnete.

Dumps wurde ihm und er Dumps vorgestellt. Mr. Danton verbeugte sich und drehte ein Damentaschentuch, das er in der Hand hatte, auf eine höchst komische Weise. Jedermann lächelte.

»Sehr warm«, sagte Dumps, der es notwendig erachtete, etwas zu sagen.

»Es war gestern noch wärmer«, bemerkte der witzige Danton, und alle Umstehenden lachten laut.

»Es gewährt mir großes Vergnügen, Ihnen zu Ihrem ersten Auftreten in der Vater- – Gevatterrolle wollte ich sagen – Glück zu wünschen«, fuhr Danton fort.

Die jungen Damen waren in Ekstase, und die Herren wollten sich vor Lachen ausschütten.

Ein allgemeines Bewunderungsgesumm unterbrach das Gespräch. Die Wärterin mit dem Kinde trat herein. Die jungen Damen umringten sie augenblicklich; denn die Mädchen sind in Gesellschaft stets unendlich verliebt in Kinderchen.

»Oh, welch ein liebes Kind!« rief die eine.

»Du süßes Herzchen!« eine zweite.

»Welch ein himmlisches kleines Wesen!« eine dritte im Tone der allerhöchsten Bewunderung und Zärtlichkeit.

»Was für allerliebste kleine Arme« jubelte eine vierte und hielt einen Arm des Kindes empor, der etwa von der Größe und Gestalt eines gerupften Hühnerbeins war.

»Geben Sie ihn mir einmal her, Wärterin«, sagte eine fünfte.

»Kann er schon die Augen öffnen, Wärterin?« fragte eine sechste, die vollkommenste Unschuld spielend.

Mit einem Wort, die unverheirateten Damen erklärten das Kind einstimmig für einen Engel, und die verheirateten gestanden einhellig, daß es das hübscheste sei, das sie je gesehen hätten – ihre eigenen ausgenommen.

Der Tanz wurde wieder begonnen und über Mr. Danton geurteilt, daß er sich selbst übertreffe. Mehrere junge Damen entzückten die Gesellschaft und gewannen sich selbst Bewunderer durch sentimentale Lieder, die sie mit großem Ausdruck sangen. Die jungen Herren »machten sich höchst angenehm«, wie Mrs. Kitterbell sagte; die Mädchen ließen ihre Gelegenheiten nicht unbenutzt vorübergehen, und alles verhieß einen köstlichen und köstlich endenden Abend. Dumps hatte sich jedoch einen Plan – einen kleinen Spaß nach seiner Art ausgedacht und war fast vergnügt. Er spielte einen Rubber und verlor ihn bis auf den letzten Point, was er, wie Mr. Danton sagte, mit Willen getan, indem es sein letzter, sein Ziel-Point, beim Spiel gewesen. Die ganze Gesellschaft lachte. Dumps antwortete durch einen weit besseren Scherz, allein niemand lächelte auch nur, mit Ausnahme des Wirts, der es für seine Pflicht zu halten schien, über alles zu lachen, bis er schwarz im Gesicht war. Nur in einer einzigen Beziehung ging nicht alles, wie es sollte – die Spielleute spielten nicht mit so viel Feuer, wie man es hätte wünschen mögen; indes konnten sie allerdings eine genügende Entschuldigung anführen. Sie hatten nämlich schon den ganzen Tag auf einem Dampfschiff gespielt, das eine muntere Gesellschaft nach Gravesend hin- und zurückgefahren hatte.

Das Souper war ausgesucht. Mrs. Kitterbell hatte vier Zuckertempel auf den Tisch stellen lassen, die sich vortrefflich ausgenommen hätten, wenn sie nicht zusammengeschmolzen wären, ehe sich die Gesellschaft zu Tisch setzte. Ebenso lief das Wasser eines Beckens mit einer allerliebsten Mühle auf das Tischtuch über, statt daß die letztere umlief. Es fehlte nicht an allen möglichen Leckerbissen, nur ein paarmal an reinen Tellern. Mr. Kitterbell rief sich heiser danach, sie kamen dennoch nicht, und die Herren, denen sie fehlten, erklärten, es tue gar nichts, sie wollten ein jeder den Teller einer Dame nehmen. Mrs. Kitterbell belobte sie wegen ihrer Galanterie; der Obsthändler rannte umher, bis ihm seine acht Schillinge sehr sauer verdient vorkamen; die jungen Damen aßen nicht viel, aus Furcht, daß es unromantisch aussehen könnte, und die verheirateten Damen aßen soviel wie möglich, aus Furcht, nicht genug zu bekommen; es wurde viel Wein getrunken, und alle sprachen und lachten nicht wenig.

»Pst, pst!« sagte der kleine Kitterbell aufstehend und mit sehr wichtiger Miene. »Meine Liebe«, rief er seiner Gattin am anderen Ende des Tisches zu, »übernimm es, für Mrs. Marwell und deine Frau Mutter und die übrigen verheirateten Damen zu sorgen; ich bin überzeugt, die Herren werden die jungen Damen bewegen, ihre Gläser zu füllen.«

»Meine Damen und Herren«, begann der lange Dumps mit einer echten Grabstimme und Bußpredigtbetonung, indem er sich wie der Geist im Don Juan erhob, »wollen Sie die Güte haben, Ihre Gläser zu füllen? Ich wünsche sehr, eine Gesundheit auszubringen.«

Es folgte ein tiefes Stillschweigen, die Gläser wurden gefüllt, und man sah nur noch ernsthafte Gesichter.

»Meine Damen und Herren«, fuhr Dumps langsam fort, »ich –«

Hier ahmte Mr. Danton ein paar Takte Waldhornmusik nach, und zwar so durchdringend und natürlich, daß der nervenschwache Dumps wie elektrisiert war und die übrige Gesellschaft ausgelassen lachte.

»Zur Ordnung, zur Ordnung!« rief der kleine Kitterbell, indem er seine Lachlust zu bemeistern suchte.

»Zur Ordnung!« riefen die Herren.

»Danton, seien Sie ruhig«, herrschte ein engerer Bekannter den Frevler an, ohne sein Lachen ganz unterdrücken zu können.

Dumps faßte sich sehr bald wieder, zumal er nur wenig außer Fassung gekommen, denn er war ein ziemlich guter Redner, und hub noch einmal an. »Meine Damen und Herren, ich habe es mir erlaubt, aufzustehen, um Ihnen eine Gesundheit vorzuschlagen, da dergleichen meines Wissens Gebrauch bei Taufschmäusen ist und ich einer der Paten Master Frederick Charles William Kitterbells bin.« (Seine Stimme bebte bei diesen Worten, denn er erinnerte sich des Bechers.) »Ich brauche kaum zu sagen, daß mein Vorschlag dahin geht, auf das Wohlsein und Gedeihen des jungen Herrleins zu trinken, zu dessen Ehren wir hier versammelt sind. (Beifall.) Meine Damen und Herren, wir können unmöglich annehmen, daß seine Eltern, deren aufrichtige Freundinnen und Freunde wir alle sind, ihre Lebensbahn zurücklegen werden, ohne ihre Leidenskraft auf schwere Proben gestellt zu sehen, ohne manch großes Leid, viel herben Kummer, ohne Verluste zu erleiden!«

Hier hielt der arglistige, schalkhafte Dumps inne, zog langsam und bedächtig ein großes, weißes Tuch aus der Tasche, und mehrere Damen folgten seinem Beispiele.

»Daß sie lange damit verschont bleiben mögen, ist mein inbrünstiges Flehen, mein heißester Wunsch.« (Die Großmutter begann hier vernehmlich zu schluchzen.) »Ich hoffe und vertraue, meine Damen und Herren, daß das liebe Kind, dessen Tauffeier uns zusammengeführt hat, seinen liebenden Eltern nicht durch einen frühen Tod entrissen, daß seine jetzt scheinbar gute Gesundheit nicht durch ein langsames Siechtum zerstört werden möge.« (Dumps blickte sardonisch umher, denn er sah, daß er beträchtlichen Eindruck bei den verheirateten Damen hervorgebracht hatte.) »Ich weiß, daß Sie meinen Wunsch teilen, daß es leben möge zur Freude und zum Trost seines Vaters und seiner Mutter.« (Hier rief Mr. Kitterbell: »hört, hört!« und schluchzte gerührt.) »Doch sollte der Knabe nicht so werden, wie wir es von ihm wünschen – sollte er dereinst vergessen, was er seinen zärtlichen Eltern schuldig ist und verdankt – sollten sie so unglücklich sein, an ihm zu erfahren, wie traurig wahr es ist, daß ›ein undankbarer Sohn schlimmer ist als der Zahn einer giftigen Schlange‹–«

Hier stürzte Mrs. Kitterbell mit dem Tuche vor den Augen und von mehreren Damen begleitet hinaus und sank im Vorzimmer in heftigen Krämpfen zu Boden; ihr Gatte war fast in demselben Zustande, und Dumps hatte sich großen Beifall erworben, denn wie es auch sei, man läßt sich gern rühren.

Kaum braucht indes hinzugefügt zu werden, daß Onkel Dumps‘ Rede den Freuden des Abends ein Ende machte. Weinessig, Hirschhorn und kaltes Wasser waren urplötzlich so sehr an der Tagesordnung, wie es kurz zuvor Glühwein und Backwerk gewesen waren. Man brachte Mrs. Kitterbell in ihr Schlafgemach, die Spielleute wurden verabschiedet, aller Scherz wie alles Lachen und Schäkern hörten auf, und die Gesellschaft entfernte sich in aller Stille. Dumps entfernte sich zuerst und ging leichten Schrittes und mit einem (für ihn) fröhlichen – Herzen nach Hause. Seine Hauswirtin will ihn auf eine eigentümliche Weise lachen gehört haben, sobald er seine Tür hinter sich verschlossen hatte; eine Behauptung, die jedoch zu unwahrscheinlich ist, als daß man ihr Glauben schenken könnte.

Kitterbells Familie hat sich seit der Zeit sehr vermehrt; er erfreut sich jetzt zweier Knaben und eines Mädchens und sieht sich, da er seine Kinderzahl binnen kurzem abermals vergrößert zu sehen erwartet, nach einem passenden Taufpaten um. Er ist jedoch entschlossen, ihm zwei Bedingungen zu stellen. Der Taufpate soll sich erstlich feierlich verpflichten, durchaus keine Rede beim Nachtisch zu halten, und zweitens auf keinerlei Weise mit »dem unglücklichsten Manne von der Welt« in Verbindung stehen zu dürfen.

Ende