Siebenundzwanzigstes Kapitel.

Madame Nickleby wird mit den Herren Pyke und Pluck bekannt, deren Ergebenheit und Teilnahme über alle Grenzen geht.

Wie stolz und wichtig fühlte sich nicht Madame Nickleby, als sie ihre Wohnung erreichte und sich ganz den schönen Träumen hingeben konnte, die sie auf ihrem Wege begleitet hatten. Lady Mulberry Hawk! – Dies war die vorwaltende Idee. Lady Mulberry Hawk! – Am letzten Dienstag wurde in der St. Georgskirche Hannovers Square durch den hochwürdigen Bischof von Clandaff Sir Mulberry Hawk von Mulberry Castle in Nordwales mit Katharina, der einzigen Tochter des verstorbenen Nicolaus Nickleby, Esquire in Devonshire, ehelich verbunden. »Meiner Treu«, rief Herrn Nicolaus Nicklebys Hinterbliebene, »das klingt ja ganz prächtig.«

Nachdem die Trauungszeremonie mit den dazu gehörigen Festlichkeiten abgetan war, vergegenwärtigte sich die phantasievolle Mutter eine lange Reihe von Ehren und Auszeichnungen, die notwendig im Gefolge von Käthchens neuer und glänzender Laufbahn sein mußten. Sie wurde natürlich bei Hofe vorgestellt. An ihrem Geburtstage, der auf den neunzehnten fiel (»zehn Minuten nach drei Uhr morgens«, dachte Madame Nickleby in einer Parenthese, »denn ich erinnere mich noch recht gut, daß ich fragte, wieviel Uhr es wäre«), gab Sir Mulberry allen seinen Pächtern ein großes Fest und erließ ihnen dreieinhalb Prozent von dem Ertrage des letzten halbjährigen Pachtes, was dann natürlich zum unbegreiflichen Vergnügen und Staunen aller Leser umständlich in den öffentlichen Blättern beschrieben wurde. Käthchens Porträt erschien wenigstens in einem halben Dutzend von Taschenbüchern, und auf der andern Seite war in den elegantesten Lettern zu lesen: »Verse bei Betrachtung eines Porträts der Lady Mulberry Hawk, von Sir Dingleby Dabber.« Vielleicht enthielt auch ein nach einem umfassenderen Plane bearbeitetes Taschenbuch ein Porträt von Lady Mulberry Hawks Mutter mit Versen von Sir Dingleby Dabbers Vater. Es kommen ja jeden Tag noch viel unwahrscheinlichere Dinge vor. Schon viel unbedeutendere Porträts sind erschienen. Als der guten Dame dieser Gedanke auftauchte, nahm ihr Gesicht unwillkürlich jenen gemischten Ausdruck von Schmachten und Schläfrigkeit an, der allen derartigen Porträts eigen ist, und in dem vielleicht der Grund liegt, daß sie immer so reizend und liebenswürdig aussehen.

Mit solchen glorreichen Luftschlössern beschäftigte sich Madame Nickleby den ganzen Abend, an dem sie zufälligerweise Ralphs vornehmen Freunden vorgestellt worden war. Nicht weniger prophetische und verheißungsvolle Träume umgaukelten die Nacht über ihren Schlaf. Sie bereitete des andern Tages eben ihr einfaches Mittagessen – natürlich noch immer in denselben Ideen sich ergehend, die vielleicht durch den Schlaf und das Licht der Sonne etwas gemildert waren –, als das Mädchen, das ihr teils als Gesellschafterin, teils als Beistand in ihrem Haushalt diente, mit ungewohnter Aufregung in das Zimmer stürzte und zwei Herren anmeldete, die in dem Hausflur stünden und um die Erlaubnis bäten, Madame Nickleby ihren Besuch zu machen.

»Allmächtiger Himmel!« rief Madame Nickleby, hastig Haube und Locken ordnend; »wenn es am Ende gar die – um Himmels willen! Müssen da die ganze Zeit in der Hausflur stehen. Warum läufst du nicht und fragst sie, ob sie nicht heraufspazieren wollen, du dummes Ding?«

Sobald sich das Mädchen mit diesem Auftrage entfernt hatte, fuhr Madame Nickleby mit allen Spuren von Essen und Trinken in den Schrank und setzte sich dann in möglichst gefaßter Haltung nieder, als auf einmal zwei ihr völlig fremde Herren ins Zimmer traten.

»Wie befinden Sie sich?« fragte der eine Herr, indem er einen großen Nachdruck auf das zweite Wort seiner Frage legte.

» Wie befinden Sie sich?« fragte der andere Herr, das erste Wort stärker betonend, um eine Abwechslung in die Frage zu bringen.

Madame Nickleby knixte und lächelte, und knixte wieder und bemerkte händereibend, »daß sie nicht – wirklich – daß sie nicht die Ehre hätte –«

»Uns zu kennen?« sagte der erste Herr. »Der Nachteil ist auf unserer Seite, Madame Nickleby. Ist der Nachteil nicht auf unserer Seite, Pyke?«

»Ohne Widerrede, Pluck«, antwortete der andere Herr.

»Wir haben es, glaube ich, schon sehr oft bedauert«, bemerkte der erste Herr.

»Sehr oft«, versetzte der zweite.

»Aber jetzt«, sagte der erste Herr, »jetzt erfreuen wir uns des lange ersehnten Glückes. Haben lange nach diesem Glück geschmachtet – oder haben wir nicht, Pyke?«

»Sie können unmöglich vergessen haben, Pluck, daß wir es taten«, entgegnete Pyke vorwurfsvoll.

»Hören Sie ihn?« fragte Herr Pluck, indem er sich umsah. »Sie hören das unparteiische Zeugnis meines Freundes Pyke. Doch das erinnert mich – Förmlichkeiten, Madame – Förmlichkeiten dürfen nie in einer gebildeten Gesellschaft hintangesetzt werden. Pyke – Madame Nickleby.«

Herr Pyke legte die Hand aufs Herz und verbeugte sich tief.

»Ob ich mich selbst mit derselben Förmlichkeit einführen soll«, fuhr Herr Pluck fort, »ob ich selbst sagen soll, daß mein Name Pluck ist, oder ob ich meinen Freund Pyke bitten soll (der jetzt als regelmäßig eingeführt dieses Amt versehen kann), mich Ihnen, Madame Nickleby, als Herrn Pluck vorzustellen; ob ich den Anspruch, den ich auf Ihre Bekanntschaft mache, auf das lebhafte Interesse, das ich an Ihrem Wohle nehme, begründe, oder ob ich mich Ihnen als einen Freund des Sir Mulberry Hawk vorstellen soll – das, Madame Nickleby, sind Erwägungen, die ich Ihrer Entscheidung überlassen will.«

»Ein Freund des Sir Mulberry Hawk bedarf bei mir keiner weitern Einführung«, bemerkte Madame Nickleby huldvoll.

»Es macht mich glücklich, Sie so sprechen zu hören«, versetzte Herr Pluck, indem er einen Stuhl zu Madame Nickleby rückte und sich niedersetzte. »Es tut mir in allen Gliedern wohl, zu erfahren, daß Sie meinen vortrefflichen Freund, Sir Mulberry, so hochschätzen. Ein Wort ins Ohr, Madame Nickleby. Wenn Sir Mulberry es erfährt, so wird er sich überglücklich fühlen – ich sage Ihnen, Madame, überglücklich fühlen; Pyke, setzen Sie sich!«

» Meine gute Meinung«, entgegnete Madame Nickleby – und die arme Frau frohlockte bei dem Gedanken, daß sie ihr Sprüchlein wundervoll angebracht hätte, » meine gute Meinung kann für einen Herrn, wie Sir Mulberry, nur von sehr geringer Bedeutung sein.«

»Von geringer Bedeutung?« rief Herr Pluck. »Pyke, von welcher Bedeutung ist die gute Meinung der Frau Nickleby für Sir Mulberry?«

»Von welcher Bedeutung?« echote Pyke.

»Ja«, entgegnete Pluck. »Ist sie für ihn nicht von der größten Bedeutung?«

»Von der allergrößten Bedeutung«, erwiderte Pyke.

»Es kann Madame Nickleby nicht unbekannt sein«, sagte Herr Pluck, »welchen allmächtigen Eindruck jenes süße Mädchen auf –«

»Pluck!« verwies ihm sein Freund; »was tun Sie?«

»Pyke hat recht«, murmelte Herr Pluck nach einer kurzen Pause. »Ich hätte mir keine derartige Anspielung erlauben sollen. Pyke hat vollkommen recht. Ich danke Ihnen, Pyke.«

»Was Sie sagen!« dachte Frau Nickleby; »eine solche interessante Geschichte ist mir noch nie vorgekommen.«

Herr Pluck tat einige Minuten, als hätte ihn seine Unbedachtsamkeit in große Verlegenheit gesetzt, und nahm dann die Unterhaltung wieder auf, indem er Madame Nickleby bat, nicht auf das zu achten, was ihm so unwillkürlich entwischt wäre, und ihn lieber für unklug, voreilig und gedankenlos zu betrachten. Dabei wolle er sich weiter nichts zu seinen Gunsten ausbitten, als daß seine gute Absicht nicht verkannt werden möchte.

»Aber wenn ich« – fuhr Herr Pluck fort, – »wenn ich so viel Schönheit und Anmut auf der einen Seite und so viel Glut und aufopferungsfähige Liebe auf der anderen sehe, so – verzeihen Sie, Pyke, ich kam unabsichtlich wieder auf das Thema zurück. Beginnen Sie eine andere Unterhaltung, Pyke.«

»Wir versprachen Sir Mulberry und Lord Friedrich«, sagte Pyke, »daß wir Sie diesen Morgen besuchen und nachfragen wollten, ob Sie sich gestern abend nicht erkältet hätten.«

»O, gestern abend? – nein, nicht im mindesten, Sir«, versetzte Madame Nickleby. »Ich danke übrigens Seiner Herrlichkeit und Sir Mulberry untertänigst für diese gnädige Nachfrage. – O nein, nicht im mindesten, was mich um so mehr wundernimmt, da ich in der Tat zu Erkältungen sehr geneigt bin – ja gewiß und wahrhaftig, sehr geneigt bin. Ich habe mir einmal bei einer Erkältung einen Schnupfen geholt«, fuhr Madame Nickleby fort. »Ich glaube, es war im Jahr Achtzehnhundertundsiebzehn. Warten Sie einmal – vier und fünf ist neun, und – ja, Achtzehnhundertundsiebzehn – und ich meinte, ich könne ihn gar nimmer loswerden. Gewiß und wahrhaftig, ich meinte, er wolle gar nicht mehr von mir weichen. Ich wurde endlich nur durch ein Mittel kuriert, von dem Sie vielleicht nie etwas gehört haben, Herr Pluck. Sie nehmen einige Liter Wasser, so heiß, als Sie es nur kriegen können, tun ein Pfund Salz und für sechs Pence feinste Kleie hinein und baden sich damit alle Abende vor dem Schlafengehen wenigstens zwanzig Minuten lang den Kopf – ach nein, nicht den Kopf – ich wollte sagen, die Füße. Es ist ein ganz außerordentliches Mittel – gewiß ein höchst außerordentliches Mittel. Ich erinnere mich noch, daß ich es das erstemal den Tag nach dem Christfest anwandte, und in der Mitte des April war der Schnupfen weg. Es scheint ein wahres Wunder zu sein, wenn man bedenkt, daß ich ihn vom Anfang des September an hatte.«

»Welch ein bedauerlicher Unfall«, sagte Herr Pyke.

»Ganz schrecklich!« rief Herr Pluck.

»Aber es ist wohl der Pein wert, es zu hören, wenn man nur hintendrein erfährt, daß Madame Nickleby wieder davon genas – nicht wahr, Pluck?« rief Herr Pyke.

»Und eben das ist es, was die Sache so sehr interessant macht«, versetzte Herr Pluck.

»Aber wir dürfen in dem Vergnügen dieser Begegnung unsern Auftrag nicht vergessen«, sagte Herr Pyke in einem Ton, als ob er sich desselben plötzlich entsinne. »Wir haben nämlich einen Auftrag, Madame Nickleby.«

»Einen Auftrag?« rief die gute Dame, deren Geist sich plötzlich einen Heiratsantrag für Käthchen in den lebhaftesten Farben vergegenwärtigte.

»Von Sir Mulberry«, fuhr Pyke fort. »Sie müssen hier ein sehr langweiliges Leben führen?«

»Ich gestehe es – ziemlich langweilig«, versetzte Madame Nickleby.

»Sir Mulberry Hawk läßt Ihnen beste Grüße bestellen und Sie inständig bitten, daß Sie ein Privatlogenbillett für das heutige Stück von ihm annehmen möchten«, entgegnete Herr Pluck.

»Ach du mein Himmel!« erwiderte Madame Nickleby. »Aber ich gehe ja nie aus.«

»Das ist gerade der triftigste Grund, Madame Nickleby, heute abend auszugehen«, versicherte Herr Pluck. »Pyke, helfen Sie mir Madame Nickleby erweichen.«

»Ach, ich bitte«, sagte Pyke.

»Sie müssen durchaus«, drängte Pluck.

»Sie sind allzu gütig«, versetzte Madame Nickleby; »aber –«

»Wir lassen uns von keinem Aber abspeisen, verehrteste Madame Nickleby«, entgegnete Herr Pluck. »Es gibt im ganzen Wörterbuch kein solches Wort. Ihr Schwager kommt, Lord Friedrich kommt, Sir Mulberry kommt, Pyke kommt – es kann also von einer Ablehnung keine Rede sein. Sir Mulberry sendet Ihnen einen Wagen – genau fünfundzwanzig Minuten vor sieben. Sie werden nicht so grausam sein, der ganzen Gesellschaft die Freude zu verderben, Madame Nickleby?«

»Sie drängen mich so, daß ich kaum weiß, was ich sagen soll«, erwiderte die würdige Dame.

»Sagen Sie nichts – kein Wort – keine Silbe, meine Verehrteste«, drängte Herr Pluck. »Madame Nickleby«, fuhr der treffliche Herr flüsternd fort, »ich mißbrauche zwar ein Vertrauen, wenn ich Ihnen eine Mitteilung mache, aber ich denke, es läßt sich entschuldigen. Und doch, wenn mein Freund Pyke davon hörte – er hat ein so ungemein zartes Ehrgefühl, Madame Nickleby, daß er mich, glaube ich, noch vor dem Mittagessen herausfordern würde.«

Madame Nickleby warf einen besorgten Blick auf den gurgelschneiderischen Pyke, der an das Fenster getreten war, während Herr Pluck ihr die Hand drückte und fortfuhr:

»Ihre Tochter hat eine Eroberung gemacht – eine Eroberung, zu der ich Ihnen nur Glück wünschen kann. Sir Mulberry, meine Verehrteste, Sir Mulberry schmachtet in ihren Fesseln – ahem.«

»Ha«, rief jetzt Herr Pyke, indem er mit theatralischer Stellung etwas von dem Kamingesims wegnahm, »was ist das? Was sehe ich?«

»Was sehen Sie, mein lieber Freund?« fragte Herr Pluck.

»Es ist das Gesicht, der Ausdruck, die Züge«, rief Herr Pyke, mit einem Miniaturporträt in der Hand auf einen Sessel sinkend. »Zwar nur in schwachen Umrissen und unvollkommener Auffassung, aber doch das Gesicht, der Ausdruck, die Züge

»Ich erkenne es schon auf diese Entfernung«, rief Herr Pluck in einem Anfall von Begeisterung. »Ist es nicht, meine Verehrte, ist es nicht das unvollkommene Ebenbild von –«

»Es ist das Porträt meiner Tochter«, sagte Madame Nickleby mit großem Stolz.

Und so war es. Das kleine Fräulein La Creevy hatte es einige Tage vorher zum Ansehen hergebracht.

Herr Pyke hatte sich kaum überzeugt, daß er mit seiner Vermutung auf dem rechten Wege war, als er sich in die ausschweifendsten Lobsprüche des göttlichen Originals ergoß. In der Wärme seiner Begeisterung küßte er das Bildchen tausend Male, während Herr Pluck Madame Nicklebys Hand an sein Herz drückte und ihr mit so viel Feuer und Teilnahme zu dem Besitz einer solchen Tochter Glück wünschte, daß ihm die Tränen in den Augen standen oder doch zu stehen schienen. Die arme Madame Nickleby, die anfangs in einem Zustande beneidenswerter Selbstgefälligkeit zugehört hatte, wurde endlich durch so viele Beweise von Achtung und Zuneigung in ihren Gefühlen ganz überwältigt; und selbst das Dienstmädchen, das durch die Tür hereinsah, blieb vor Erstaunen über die Begeisterung der beiden freundlichen Herren wie angewurzelt auf ihrer Stelle stehen.

Die Ausbrüche des Entzückens milderten sich nach und nach, und Madame Nickleby schickte sich an, ihre Gäste mit Wehklagen über ihre gesunkenen Glücksumstände und einer malerischen Beschreibung ihrer alten Wohnung auf dem Lande zu unterhalten. Sie erging sich in einer umständlichen Schilderung der verschiedenen Gemächer, wobei sie ihnen nicht einmal das kleine Speisekämmerchen schenkte, erzählte ihnen, wie viele Stufen in den Garten hinuntergingen, welchen Weg man von den Wohnzimmern eingeschlagen hatte, und wie alles so solide in ihrer Küche ausgesehen. Diese letzte Erinnerung führte sie natürlich in das Waschhaus, wo sie über den Brauapparat stolperte und wahrscheinlich auch eine volle Stunde unter demselben herumgewandclt wäre, wenn nicht schon die bloße Erwähnung derartiger Requisiten vermöge einer naheliegenden Ideenverknüpfung Herrn Pyke gemahnt hätte, daß er »erstaunlich durstig« wäre.

»Und ich will Ihnen etwas sagen«, fügte Herr Pyke bei; »wenn Sie nach dem Wirtshaus hinüberschicken und eine Kanne milden Halbundhalb holen lassen wollten, so würde ich sie gewiß unfehlbar trinken.«

Und Herr Pyke leerte sie zielbewußt und unentwegt unter Herrn Plucks Beistand, während Madame Nickleby ihre Verwunderung zwischen der Herablassung der beiden Herren und der Fertigkeit, womit sie die Zinnkanne zu handhaben wußten, teilte. Um dieses scheinbare Wunder zu erklären, erlauben wir uns hier die Bemerkung, daß Herren, die wie Pyke und Pluck von ihrem Verstand (oder vielleicht besser – von der Abwesenheit des Verstandes bei andern Leuten) leben, hin und wieder ziemlich in die Klemme kommen und bei solchen Anlässen sich auf eine sehr einfache Weise zu erholen pflegen.

»Zwanzig Minuten vor sieben Uhr also« – sagte Herr Pyke aufstehend – »wird die Kutsche hier sein. Doch jetzt nur noch einen Blick – nur noch einen einzigen kleinen Blick auf dieses holde Antlitz! Ach, da ist es – bewegungslos, unverändert!« (Das war allerdings ein höchst merkwürdiger Umstand, da Miniaturporträts so gar vielen Wechseln des Ausdrucks unterworfen sind). »O Pluck! Pluck!«

Herrn Plucks Erwiderung bestand bloß darin, daß er mit vielem Sentiment Madame Nicklebys Hand küßte. Als Herr Pyke das gleiche getan hatte, entfernten sich beide Herren mit großer Eile.

Madame Nickleby tat sich gern etwas auf ihren Scharfsinn und ihre Menschenkenntnis zugut. Aber nie war sie so ganz und gar mit sich selbst zufrieden gewesen, wie an diesem Tag. Sie hatte das alles schon am gestrigen Abend gewußt. Sie hatte zwar Sir Mulberry und Käthchen nie zusammen gesehen – nicht einmal Sir Mulberrys Namen gehört, und doch – war nicht alles von ihr vorausgesagt worden? Lag nicht alles schon von dem ersten Augenblick an klar vor ihrer Seele? Welch ein Triumph jetzt für sie; denn wer hätte auch noch daran zweifeln können? Wenn man die schmeichelhaften Aufmerksamkeiten gegen sie nicht für einen hinreichenden Beweis wollte gelten lassen, hatte nicht Sir Mulberrys vertrauter Freund das Geheimnis in so manchen Worten verlauten lassen?

»In der Tat, ich bin ganz verliebt in diesen entzückenden Herrn Pluck«, sagte Madame Nickleby.

Aber mitten in diesem Glück war es ihr doch nicht wohl; denn sie hatte niemanden, dem sie es hätte vertrauen können. Einige Male war sie fast entschlossen, schnurstracks zu Fräulein La Creevy zu eilen und ihr alles zu erzählen. »Aber ich weiß nicht«, dachte die gute Frau; »sie ist zwar eine sehr achtbare Person, jedoch ich fürchte, sie steht zu tief unter Sir Mulberrys Rang, als daß sie eine passende Gesellschaft für uns wäre. Das arme Ding!«

Aus diesem wichtigen Grund wies sie den Gedanken ab, die kleine Porträtmalerin in ihr Vertrauen zu ziehen, und begnügte sich, einige unbestimmte und geheimnisvolle Hoffnungen hinsichtlich einer bevorstehenden großen Veränderung gegen das Dienstmädchen laut werden zu lassen, die diese unklaren Hindeutungen auf eine aufdämmernde Größe mit heiliger Verehrung hinnahm.

Der versprochene Wagen erschien pünktlich zu der bestimmten Zeit – kein Mietwagen, sondern eine Privatequipage mit einem Lakaien hintenauf, dessen Beine, obgleich sie etwas zu groß für seinen Körper waren, an sich betrachtet Modelle für die königliche Akademie hätten abgeben können. Es war ganz entzückend, das Getöse und den Lärm zu hören, womit er den Kutschenschlag auf- und zuwarf und dann, sobald Madame Nickleby innen saß, wieder hinten hinaufsprang. Da die gute Dame keine Ahnung davon hatte, daß derselbe den goldenen Knopf seines langen Stocks an seine Nase hielt und in dieser Weise gerade über ihrem Haupte weg höchst respektwidrig dem Kutscher telegraphisch Zeichen zugehen ließ, so saß sie auch nicht wenig stolz auf ihre dermalige Stellung mit vieler Steifheit und Würde da.

An dem Theatereingang wurde der Kutschenschlag noch entzückender auf- und zugeworfen. Auch waren schon die Herren Pyke und Pluck zugegen, die ihrer harrten, um sie nach der Loge zu führen. Sie waren dabei so ungemein höflich und zuvorkommend, daß Herr Pyke einem sehr alten Mann, der zufällig mit einer Laterne über ihren Weg stolperte, mit vielen Eiden zuschwor, er wolle ihn »kanonisieren« – zum großen Schrecken der Dame Nickleby, die mehr aus der Aufregung des Herrn Pyke als aus einer nähern Vertrautheit mit der Bedeutung des Wortes schloß, daß Kanonisieren und Blutvergießen in der Hauptsache wohl ein und dasselbe sein müsse, und daher ob des Gedankens, daß sich so etwas zutragen könnte, über die Maßen geängstigt war.

Glücklicherweise beschränkte sich jedoch Herrn Pykes Kanonisieren nur auf Worte, und sie gelangten zu ihrer Loge, ohne eine ernstere Unterbrechung zu erfahren, als daß derselbe kampflustige Herr den Logenhüter »zu Haarpuder zermalmen« wollte, weil er sich in der Nummer geirrt hatte.

Madame Nickleby hatte sich kaum in einem Armsessel hinter dem Logenvorhang niedergelassen, als Sir Mulberry und Lord Verisopht, von dem Scheitel bis zu den Enden ihrer Handschuhe und von den Enden ihrer Handschuhe bis zu den Spitzen ihrer Stiefel aufs eleganteste und kostbarste gekleidet, eintraten. Sir Mulberry war noch ein wenig heiserer als tags zuvor, und Lord Verisopht sah etwas schläfrig und verstört aus, wozu sich noch der weitere Umstand gesellte, daß beide etwas unsicher auf ihren Beinen waren – lauter Anzeichen, aus denen Madame Nickleby den richtigen Schluß zog, daß sie vom Dinieren herkämen.

»Wir haben – wir haben – Ihre liebenswürdige Tochter hochleben lassen, Madame Nickleby«, flüsterte ihr Sir Mulberry zu, der hinter ihr Platz nahm.

»Ah – so«, dachte die erfahrene Frau; »der Wein geht hinein, die Wahrheit heraus. – Sie sind sehr gütig, Sir Mulberry.«

»Nein, nein, meiner Seele!« entgegnete Sir Mulberry Hawk. »S i e sind gütig, meiner Seele! Es war sehr gütig von Ihnen, daß Sie diesen Abend kamen.«

»Sie wollen sagen, daß es sehr gütig von Ihnen war, mich einzuladen, Sir Mulberry«, entgegnete Madame Nickleby, indem sie mit einem zum Verwundern schlauen Blick den Kopf in die Höhe warf.

»Ich wünsche so sehr, Sie näher kennenzulernen, so sehr, Ihre gute Meinung zu gewinnen, und hoffe so sehnlich, es möchte sich eine Art süßen Familienverhältnisses zwischen uns bilden«, sagte Sir Mulberry, »daß Sie ja nicht glauben dürfen, meinen Handlungen liege nicht auch ein bestimmtes Interesse zugrunde. Ich bin verdammt selbstsüchtig – ja das bin ich, meiner Seele.«

»Gewiß, Sie können nicht selbstsüchtig sein, Sir Mulberry«, versetzte Madame Nickleby. »In Ihrem offenen, edlen Antlitz steht wenigstens nichts davon geschrieben.«

»Was Sie nicht für eine außerordentliche Beobachtungsgabe haben!«

»O nicht doch, mein Blick ist nicht besonders scharf, Sir Mulberry«, versetzte Madame Nickleby mit einem Ton in der Stimme, der dem Baronet andeuten sollte, daß sie in der Tat sehr scharfsichtig sei.

»Ich muß mich wahrhaftig vor Ihnen fürchten«, entgegnete der Baronet. »Wahrhaftig«, wiederholte Sir Mulberry, indem er sich nach seinem Gefährten umsah, »ich muß mich vor Madame Nickleby fürchten. Sie ist ein wahrer Schrecken von Verstand.«

Die Herren Pyke und Pluck schüttelten geheimnisvoll ihre Köpfe und bemerkten miteinander, daß sie das schon längst gefunden hätten, worauf Madame Nickleby kicherte, Sir Mulberry lachte und Pyke und Pluck brüllten.

»Aber wo ist denn mein Schwager, Sir Mulberry?« fragte Madame Nickleby. »Es schickt sich nicht, daß ich ohne ihn hier bin. Ich hoffe, er wird doch noch kommen?«

»Pyke«, sagte Sir Mulberry, indem er seinen Zahnstocher herausnahm und sich in seinem Stuhl zurücklehnte, als wäre er zu trüge, eine Antwort auf diese Frage zu ersinnen, »wo ist Ralph Nickleby?«

»Pluck«, sagte Pyke, die Miene des Baronets nachahmend und die Lüge auf seinen Freund überwälzend, »wo ist Ralph Nickleby?«

Herr Pluck war im Begriff, irgendeine ausweichende Antwort zu geben, als ein Geräusch, veranlaßt durch den Eintritt einiger Personen in die nächste Loge, die Aufmerksamkeit aller vier Herren, die sich vielsagende Blicke zuwarfen, in Anspruch zu nehmen schien. Sobald übrigens die neuen Ankömmlinge unter sich zu sprechen begannen, nahm Sir Mulberry plötzlich die Stellung eines aufmerksamen Horchers an und beschwor seine Freunde, nicht zu atmen – nein, nicht einmal zu atmen.

»Warum nicht?« fragte Madame Nickleby. »Was gibt’s denn?«

»Pst«, versetzte Sir Mulberry, indem er eine Hand auf ihren Arm legte. »Lord Friedrich, erkennen Sie den Ton dieser Stimme?«

»Der Teufel soll mich holen, wenn es mir nicht vorkommt, als wäre es die Stimme von Fräulein Nickleby.«

»O Himmel, Mylord!« rief Fräulein Nicklebys Mama, indem sie den Kopf um den Vorhang hinumsteckte. »Ei, in der Tat, Käthchen, mein liebes Käthchen!

»Sie hier, Mama? – Ist’s möglich?«

»Möglich – meine Liebe? Warum nicht?«

»Und wen – um Gottes willen – wen haben Sie bei sich, Mama?« sagte Käthchen zurückfahrend, als sie eines Mannes ansichtig wurde, der ihr lächelnd Kußhändchen zuwarf.

»Was meinst du wohl, meine Liebe?« versetzte Madame Nickleby, indem sie sich ein wenig gegen Madame Wititterly hinbeugte und etwas lauter sprach, damit sich auch diese Dame daran ergötzen könnte. »Es ist Herr Pyke, Herr Pluck, Sir Mulberry Hawk und Lord Friedrich Verisopht.«

»Barmherziger Gott!« dachte Käthchen, »wie kommt sie in solche Gesellschaft?«

Das rasche Aufblitzen dieses Gedankens, die plötzliche Überraschung und die Erinnerung alles dessen, was bei Ralphs ergötzlichem Diner vorgefallen war – alles dieses bewirkte, daß Käthchcn ungemein blaß wurde und sehr aufgeregt erschien, was Madame Nickleby im Augenblick wahrnahm und vermöge ihres ungemeinen Scharfsinns als die Wirkungen einer leidenschaftlichen Liebe deutete. Aber obgleich sie nicht wenig entzückt bei dieser Entdeckung war, die ihrer schnellen Auffassungsgabe so viel Ehre machte, so minderte sie doch ihre mütterliche Besorgnis um Käthchen nicht. Deshalb verließ sie denn auch mit allen zärtlichen Bekümmernissen einer Mutter ihre eigene Loge, um in die der Madame Wititterly zu eilen. Madame Wititterly, gespornt durch die Aussicht auf den Ruhm, einen Lord und einen Baronet unter ihre Hausfreunde zu zählen, verlor keine Zeit, Herrn Wititterly zuzuwinken, er möchte die Tür öffnen, und in weniger als dreißig Sekunden hatte Madame Nicklebys Gesellschaft einen Einfall in Madame Wititterlys Loge gemacht, die dadurch bis zur Tür angefüllt und in der Tat so vollgepfropft wurde, daß für die Herren Pyke und Pluck der Raum nur so weit reichte, ihre Köpfe und Westen hereinzustecken.

»Mein liebes Käthchen«, sagte Madame Nickleby, indem sie ihre Tochter zärtlich küßte, »wie blaß hast du vor einem Augenblick ausgesehen! Ich versichere dir, daß du mich vorhin ganz erschrecktest.«

»Es kam Ihnen nur so vor, Mama, – der – der – Widerschein der Lichter vielleicht«, versetzte Käthchen, indem sie sich ängstlich umsah und die Unmöglichkeit erkannte, ihrer Mutter irgendeine Erklärung oder Warnung zuzuflüstern.

»Siehst du Sir Mulberry Hawk nicht, meine Liebe?«

Käthchen bückte sich leicht, biß sich in die Lippe und wandte den Kopf gegen die Bühne.

Aber Sir Mulberry Hawk ließ sich nicht so leicht zurückweisen: denn er trat mit ausgestreckter Hand näher, und da Madame Nickleby dienstfertig Käthchen diesen Umstand mitteilte, so sah sich diese gleichfalls genötigt, die ihrige auszustrecken. Sir Mulberry hielt sie fest, murmelte eine Flut von Schmeicheleien, die Käthchen – nach dem, was zwischen ihnen vorgefallen war – mit Recht als eben so viele Erschwerungen der Beleidigung betrachtete, die er ihr bereits zugefügt hatte. Dann folgte eine Erkennungsszene mit Lord Verisopht, dann eine Begrüßung von Herrn Pyke, dann ein Kompliment von Herrn Pluck, und endlich, um den Verdruß vollkommen zu machen, sah sich Käthchen durch Madame Wititterlys Geheiß genötigt, die Personen, die sie nur mit dem höchsten Unwillen und Abscheu betrachten konnte, förmlich vorzustellen.

»Madame Wititterly ist ganz entzückt«, sagte Herr Wititterly, die Hände reibend: – »ich versichere Ihnen, Mylord – ganz entzückt ob dieser Gelegenheit, eine Bekanntschaft anzuknüpfen, die, wie ich hoffe, Mylord, eine dauerndere sein wird. Liebe Julia, ich bitte dich, laß dich nicht zu sehr aufregen – in der Tat, du darfst es nicht. Madame Wititterly ist von äußerst sensiblem Wesen, Sir Mulberry – die Schnuppe einer Kerze – der Docht einer Lampe – der Duft auf einer Pfirsich – der Flügelstaub eines Schmetterlings – Sie könnten sie wegblasen, Mylord: Sie könnten sie wegblasen.«

Sir Mulberry schien zu denken, daß es gar bequem sein dürfte, wenn die Dame weggeblasen, nur weggeblasen werden möchte. Er sagte jedoch nur, daß das Entzücken wechselseitig wäre, und Lord Verisopht versicherte das gleiche, wie denn auch die Herren Pyke und Pluck, die man aus der Entfernung murmeln hörte, gleichfalls an dieser Wechselseitigkeit des Entzückens im höchsten Grad teilnehmen wollten.

»Ich nehme ein Interesse, Mylord –« sagte Madame Wititterly mit schmachtendem Lächeln – »ach, ein zu großes Interesse an dem Schauspiel.«

»I-a, es ist sehr interessant«, versetzte Lord Verisopht.

»Ich fühle mich immer nach Shakespeare unwohl«, entgegnete Madame Wititterly. »Ich bin am nächsten Tage kaum mehr vorhanden; ich befinde mich nach einem Trauerspiel in einer zu großartigen Reaktion, Mylord, und Shakespeare ist ein zu köstliches Geschöpf.«

»I-a«, erwiderte Lord Verisopht. »Er war ein gescheiter Mann.«

»Ich kann Ihnen sagen, Mylord«, fuhr Madame Wititterly nach einer langen Pause fort, »daß ich, nachdem ich in dem zu allerliebsten armseligen Häuschen war, worin er geboren wurde, ein noch viel größeres Interesse an seinem Stücke finde. Sind Sie einmal dort gewesen, Mylord?«

»Nein, nie«, versetzte Verisopht.

»Dann müssen Sie in der Tat hingehen, Mylord«, entgegnete Madame Wititterly mit einer ungemein schmachtenden und gedehnten Betonung. »Ich weiß nicht, wie es zugeht, aber wenn man den Ort gesehen und seinen Namen in das kleine Buch eingeschrieben hat, so scheint man irgendwie ganz begeistert: es entzündet ein eigentliches Feuer in dem Innern.«

»I-a«, erwiderte Lord Verisopht, »ich muß wahrhaftig hingehen.«

»Julia, mein Leben«, fiel Herr Wititterly ein, »du täuschest Seine Herrlichkeit – Mylord, sie täuscht Sie, ohne es zu wollen. Dein poetisches Temperament, meine Liebe – deine ätherische Seele – deine glühende Einbildungskraft stürzt dich in eine Glut von Aufregung und Begeisterung. Der Platz will nichts heißen, meine Liebe – nichts – gar nichts.«

»Ich sollte doch meinen, daß es etwas damit wäre«, sagte Madame Nickleby, die bisher schweigend zugehört hatte; »denn bald nach meiner Hochzeit fuhr ich mit meinem armen seligen Manne von Birmingham aus in einer Postkutsche – war es auch eine Postkutsche?« unterbrach sich Madame Nickleby überlegend. – »Ja, es muß eine Postkutsche gewesen sein; denn ich erinnere mich noch recht gut, wie es mir auffiel, daß der Postillion einen grünen Schirm über dem linken Auge hatte. – Ich fuhr also in einer Postkutsche von Birmingham nach Stratford, und nachdem wir Shakespeares Grab und das Haus, wo er geboren wurde, gesehen hatten, gingen wir in das Wirtshaus zurück, wo wir über Nacht blieben, und ich erinnere mich, daß mir die ganze Nacht über von nichts als einem schwarzen, gipsernen Herrn in Lebensgröße träumte, dessen umgeschlagener Kragen mit zwei Troddeln zusammengeknüpft war. Er lehnte nachdenkend an einem Pfahl, und als ich am andern Morgen aufwachte und die Gestalt meinem seligen Manne beschrieb, so sagte er, das wäre Shakespeare gewesen, wie er geleibt und gelebt hätte. Das war doch gewiß höchst sonderbar. Stratford – Stratford«, fuhr Madame Nickleby sich besinnend fort. »Ja, ich bin dessen ganz gewiß, denn ich erinnere mich, ich war damals mit meinem Sohn Nicolaus guter Hoffnung, und an demselben Morgen hatte mir ein junger italienischer Gipsfigurenhändler einen großen Schrecken eingejagt. Es war in der Tat Gnade vom Himmel, Madame«, flüsterte Madame Nickleby Madame Wititterly zu, »daß mein Sohn nicht als ein Shakespeare auf die Welt kam, was ja ganz etwas Schreckliches gewesen wäre.«

Als Madame Nickleby diese ansprechende Anekdote zu Ende erzählt hatte, machten Pyke und Pluck – stets eifrig in den Angelegenheiten ihres Gönners – den Vorschlag, einen Teil der Gesellschaft in die nächste Loge zu verlegen. Die Einleitungen wurden mit solcher Gewandtheit getroffen, daß Käthchen trotz alles ihres Einspruches keine andere Wahl blieb, als sich von Sir Mulberry Hawk hinüberführen zu lassen. Ihre Mutter und Herr Pluck begleiteten sie. Aber die würdige Dame nahm sich mit einer Diskretion, auf die sie sich wunder was zugute tat, soviel wie möglich in acht, den ganzen Abend nicht auf ihre Tochter zu sehen, und tat, als wäre sie durch Herrn Plucks humoristische Unterhaltung ganz hingerissen. Dieser Ehrenmann aber hatte die Aufgabe, Madame Nickleby zu hüten, weshalb er auch keine Gelegenheit versäumte, ihre Aufmerksamkeit zu fesseln.

Lord Friedrich Verisopht blieb in der nächsten Loge, um sich mit Madame Wititterly zu unterhalten, und Herr Pyke war zur Hand, um, wo nötig, ein oder zwei Worte einzuflicken. Was Herrn Wititterly anbelangt, so war dieser im ganzen Hause herum ungemein geschäftig, indem er allen Freunden und Bekannten, die er aufzufinden vermochte, mitteilte, die zwei Herren, die sie in der Loge mit Madame Wititterly hätten sprechen sehen, wären der ausgezeichnete Lord Friedrich Verisopht und dessen vertrautester Freund, der heitere Sir Mulberry Hawk, – eine Eröffnung, die mehrere achtbare Personen, die auf gesellschaftlichen Verkehr hielten, mit der größten Wut und Eifersucht erfüllte und sechzehn unverheiratete Töchter ganz an den Rand der Verzweiflung brachte. Das Stück war endlich vorüber. Aber Käthchen mußte sich noch durch den von ihr verabscheuten Sir Mulberry die Stiege hinunterführen lassen, wobei die Herren Pyke und Puck so geschickt manövrierten, daß sie und der Baronet die letzten des Zuges waren und sogar – ohne daß es den Anschein eines überdachten Planes hatte – ein wenig hinter der übrigen Gesellschaft zurückblieben.

»Nur etwas langsam – etwas langsam«, sagte Sir Mulberry, als Käthchen vorwärtsdrängte und ihren Arm loszumachen suchte.

Sie erwiderte nichts, sondern vermehrte ihre Bemühungen.

»Wohlan denn« – bemerkte Sir Mulberry kaltblütig, indem er sie ohne weitere Umstände zum Stehen zwang.

»Sie werden guttun, wenn Sie mich nicht zurückzuhalten suchen, Sir«, sagte Käthchen unwillig.

»Und warum – wenn ich fragen darf?« entgegnete Sir Mulberry. »Mein holdes Wesen, warum stellen Sie sich denn immer noch so ungnädig?«

» Stellen?« wiederholte Käthchen mit Entrüstung. »Wie kommen Sie überhaupt zu der Frechheit, mit mir zu sprechen, Sir, – mich anzureden – mir unter die Augen zu treten?«

»Ihre Aufwallung macht Sie nur noch hübscher, Fräulein Nickleby«, versetzte Sir Mulberry Hawk, sich niederbeugend, um ihr besser ins Gesicht sehen zu können.

»Ich kenne Ihnen gegenüber kein anderes Gefühl als das der tiefsten Verachtung und des höchsten Abscheus, Sir«, sagte Käthchen. »Wenn Sie an Blicken, die solche Empfindungen ausdrücken, Gefallen finden, so – doch zurück! Lassen Sie mich augenblicklich zu meiner Gesellschaft. Wenn mich noch Rücksichten zurückgehalten haben, ich werde alle schwinden lassen und einen Weg einschlagen, der selbst Ihnen empfindlich fallen dürfte, wenn Sie mich nicht auf der Stelle loslassen.«

Sir Mulberry lächelte und ging – noch immer in ihr Gesicht blickend und ihren Arm festhaltend – nach der Tür.

»Wenn nicht die Achtung für mein Geschlecht oder meine hilflose Lage Sie veranlassen kann, von dieser rohen und unmännlichen Verfolgung abzulassen«, fuhr Käthchen fort, indem sie in dem Sturm ihrer Gefühle kaum wußte, was sie sagte; »so habe ich einen Bruder, der es eines Tages schwer zu rächen wissen wird.«

»Wahrhaftig«, rief Sir Mulberry, gleichsam als spräche er nur mit sich selber, indem er zugleich seinen Arm um ihren Leib legte, »ihr Äußeres gewinnt immer mehr, und sie gefällt mir in diesem Zorne viel besser, als wenn sie die Augen niederschlägt und vollkommen ruhig ist!«

Käthchen gelangte zu der in der Vorhalle ihrer harrenden Gesellschaft, ohne selbst zu wissen wie, stürzte rücksichtslos an dieser vorbei, stieß ihren Begleiter zurück und sprang in die Kutsche, wo sie sich in den hintersten Winkel warf und in Tränen ausbrach.

Die Herren Pyke und Pluck, die ihr Schlagwort wußten, brachten auf einmal die Gesellschaft in eine große Verwirrung, indem sie nach dem Wagen riefen und mit einigen Umherstehenden einen heftigen Streit anfingen. Mitten in diesem Tumult brachten sie die erschrockene Madame Nickleby in ihren Wagen, und nachdem man sich dieser glücklich entledigt hatte, faßten sie Madame Wititterly ins Auge, deren Aufmerksamkeit sie in sehr wirksamer Weise dadurch von Käthchen ablenkten, daß sie die Dame in einen Zustand der höchsten Bestürzung und Verwirrung versetzten. Endlich rollte der Wagen, in dem sie angekommen war, mit seiner Last weiter, und die vier Braven, die allein in der Säulenhalle zurückblieben, brachen nun in ein schallendes Gelächter aus.

»So!« sagte Sir Mulberry zu seinem edlen Freund. »Sagte ich Ihnen nicht gestern abend, daß wir diese Leute übertölpeln würden, wenn wir durch Bestechung eines Dieners ihre Loge ausfindig machten und mit der Mutter gerade nebenan Platz nähmen? Da haben wir’s jetzt – alles in vierundzwanzig Stunden fertiggebracht!«

»J-a«, versetzte der adelige Pinsel, »aber ich habe den ga-anzen Abend bei dem alten Weibe aushalten müssen.«

»Hört doch«, sagte Sir Mulberry zu seinen zwei Freunden – »hört nur diesen unzufriedenen Brummer. Sollte man’s da nicht satt bekommen, ihm je wieder bei seinen Entwürfen und Ränken Beistand zu leisten? Muß das einen nicht verdammt verdrießen?«

Pyke fragte Pluck, ob einen so etwas nicht verdammt verdrießen müsse, und Pluck fragte Pyke das gleiche, ohne daß einer von beiden die Frage beantwortete.

»Habe ich nicht recht?« fragte Verisopht. »War es nicht so?«

»War es nicht so?« wiederholte Sir Mulberry. »Wie haben Sie’s denn haben wollen? Wie hätten wir bei der ersten Begegnung eine allgemeine Einladung erhalten können, zu kommen, wenn’s beliebt, zu gehen, wenn’s beliebt, zu bleiben, solange es beliebt, zu tun, was beliebt – wenn nicht Sie, der Lord, – sich der einfältigen Frau vom Hause angenehm machten? Kümmere ich mich um das Mädchen aus einem anderen Grund, als um Ihretwillen? Habe ich nicht den ganzen Abend Ihr Loblied in ihr Ohr gesungen und um Ihretwillen ihre empfindlichen und schnippischen Reden hingenommen? Meinen Sie denn, ich sei aus einem besonderen Stoffe gemacht? Würde ich das für jedermann tun? – Und habe ich nicht einen Anspruch auf Ihre Dankbarkeit?«

»Sie sind ein teufelmäßig guter Kerl«, sagte der arme Lord, den Arm seines Freundes ergreifend. »Bei meinem Leben, Sie sind ein teufelmäßig guter Kerl, Hawk.«

»Und habe ich’s nicht recht gemacht – wie?« fragte Sir Mulberry.

»Ga-anz recht.«

»Und wie ein gutmütiger Tropf gehandelt, der alles den Rücksichten für den Freund opfert – wie?«

»J-a – wie ein Freund«, entgegnete der andere.

»Nun denn, dann bin ich zufrieden«, erwiderte Sir Mulberry. »Aber jetzt lassen Sie uns gehen und an dem deutschen Baron und dem Franzosen Revanche nehmen, die Ihnen gestern abend die Taschen so rein ausfegten.«

Mit diesen Worten nahm der aufopferungsvolle Freund den Lord beim Arm und führte ihn fort, indem er sich dabei halb umdrehte und mit einem verächtlichen Lächeln den Herren Pyke und Pluck zublinzelte, die, um ihre geheime Freude über den ganzen Verlauf der Sache anzudeuten, ihre Taschentücher in den Mund preßten und ihrem Gönner nebst dessen Opfer in einiger Entfernung nachfolgten.