Siebentes Kapitel.
Herr und Madame Squeers in ihrem häuslichen Kreise.
Als Herr Squeers wohlbehalten die Kutsche verlassen hatte, ließ er Nicolaus und die Knaben mit dem Gepäck auf der Straße stehen, damit sie sich an dem Wechseln der Pferde unterhalten könnten, und eilte in das Wirtshaus, um an dem Schenktisch die Beine zu strecken. Nach einigen Minuten kam er mit sehr gestreckten Beinen zurück, wenn anders die Farbe seiner Nase und ein kurzes Schlucksen als ein geeignetes Merkmal dafür betrachtet werden konnten. Zu gleicher Zeit wurde ein schmutziger Einspänner und ein Karren, an den zwei Arbeiter gespannt waren, aus dem Hofe gezogen.
»Setzt die Knaben und die Koffer in den Karren«, sagte Squeers, die Hände reibend, »während wir, dieser junge Mann und ich, den Einspänner benutzen wollen. Steigen Sie ein, Nickleby.«
Nicolaus gehorchte, und nachdem Herr Squeers die Mähre nicht ohne einige Mühe veranlaßt hatte, gleichfalls zu gehorchen, fuhren sie ab und ließen den mit Kinderelend beladenen Karren in Muße folgen.
»Friert es Sie, Nickleby?« fragte Squeers, nachdem sie schweigend eine Strecke gefahren waren.
»Ziemlich, Sir, ich kann´s nicht leugnen.«
»Nun, ich finde es sehr begreiflich«, meinte Squeers; »es ist eine lange Reise bei solchem Wetter.«
»Ist es noch weit nach Dotheboys Hall, Sir?« fragte Nicolaus.
»Noch etwa drei Meilen«, versetzte Squeers. »Aber Sie können hier unten das Hall weglassen.«
Nicolaus hustete, als wollte er damit andeuten, daß es ihm angenehm wäre, den Grund hiervon zu erfahren.
»Es gibt nämlich kein Hall hier«, bemerkte Squeers trocken.
»Ah, so!« entgegnete Nicolaus, nicht wenig durch diese Mitteilung befremdet.
»In London nennen wir es Hall«, fuhr Herr Squeers fort, »weil es vornehmer klingt; aber hier herum ist dieser Name unbekannt. Es kann einer sein Haus eine Insel heißen, wenn es ihm beliebt, denn soviel ich weiß, ist dies durch keine Parlamentsakte verboten.«
»Ich glaube nicht, Sir«, erwiderte Nicolaus.
Squeers warf bei dem Schluß dieses kleinen Zwiegesprächs einen schlauen Blick auf seinen Begleiter, und da er fand, daß sich dieser in Gedanken vertiefte und keineswegs geneigt war, weiter auf sein Gespräch einzugehen, so begnügte er sich, auf den Gaul loszuschlagen, bis sie an dem Ziel ihrer Reise anlangten.
»So, Herr Nickleby, steigen Sie hier aus«, sagte Squeers. »Heda! heraus! Das Pferd ausgespannt! Wird’s bald?«
Während der Schulmeister diese und ähnliche ungeduldige Rufe erschallen ließ, hatte Nicolaus Zeit, Beobachtungen anzustellen. Herrn Squeers Anstalt war ein langes, kalt aussehendes, einstöckiges Haus, hinter dem sich einige Nebengebäude, eine Scheune und ein Stall befanden. Nach einigen Minuten hörte man den Riegel des Hoftors zurückschieben, und unmittelbar darauf trat ein langer, ausgemergelter Junge mit einer Laterne in der Hand heraus.
»Bist du’s, Smike?« rief Squeers.
»Ja, Sir«, erwiderte der Junge.
»Warum, zum Teufel, hast du uns so lange warten lassen?«
»Ich bitte um Verzeihung, Sir; ich bin bei dem Feuer eingeschlafen«, antwortete Smike demütig.
»Feuer? Was für ein Feuer? Wo ist Feuer?« fragte der Schulmeister scharf.
»Nur in der Küche, Sir«, entgegnete der Junge; »die Madame sagte, ich könne hineingehen und mich wärmen, da ich aufbleiben müsse.«
»Ich glaube, die Madame ist toll geworden«, erwiderte Squeers; »ich wette, du wärst in der Kälte um ein gut Teil wacher geblieben.«
Herr Squeers war mittlerweile ausgestiegen und befahl nun dem Jungen, nach dem Pferd zu sehen und dafür Sorge zu tragen, daß es an diesem Abend keinen Hafer mehr bekomme. Dann hieß er Nicolaus an der Vordertür warten, da er um das Haus herumgehen und die Tür von innen öffnen wolle.
Ein Heer schlimmer Ahnungen, die unserem Nicolaus bereits auf der ganzen Reise zugesetzt hatten, drängte sich jetzt, als er allein war, mit doppelter Gewalt seiner Seele auf. Die große Entfernung von der Heimat und die Unmöglichkeit, sie anders als zu Fuß zu erreichen, wenn er genötigt sein sollte, dahin zurückzukehren, malte sich ihm in den beunruhigendsten Farben; und als er sich das trübselige Haus mit den dunklen Fenstern und die wilde, rund umher mit Schnee bedeckte Gegend betrachtete, fühlte er ein Herzweh, wie er es früher nie empfunden hatte.
»Nun«, rief Squeers, den Kopf aus der vorderen Tür steckend, »wo sind Sie, Nickleby?«
»Hier, Sir«, versetzte Nicolaus.
»So kommen Sie herein«, sagte Squeers. »Der Wind saust hier durch die Tür, daß er einen umwerfen könnte.«
Nicolaus gehorchte seufzend. Herr Squeers legte, um die Tür gegen den Wind zu sichern, einen Balken vor und führte dann seinen Hilfslehrer in ein kleines, sparsam mit Stühlen versehenes Zimmer. An der Wand hing eine vergilbte Landkarte, und von zwei Tischen trug der eine einige Vorbereitungen zum Nachtessen, während auf dem andern »der wohlberatene Hofmeister«, Murrays Grammatik, ein halbes Dutzend Pensions-Offerten und ein alter, an Wackford Squeers Wohlgeboren adressierter Brief in malerischer Verwirrung umherlagen.
Sie waren kaum ein paar Minuten in diesem Gemach, als eine Weibsperson hereinstürzte, Herrn Squeers bei der Kehle faßte und ihm zwei schallende Küsse versetzte, die sich so rasch, wie das Pochen eines Briefträgers folgten. Die Dame, eine hagere, grobknochige Gestalt, war fast um einen halben Kopf größer als Herr Squeers und trug einen barchentnen Bettkittel, Papierwickeln in den Haaren und eine schmutzige Nachthaube, gegen die ein gelbes, baumwollenes Schnupftuch, das sie unter dem Kinn zusammengeknüpft hatte, gar liebenswürdig abstach.
»Was macht mein Squeerschen?« sagte die Dame in scherzendem Ton und mit rauher, heiserer Stimme.
»Ich bin wohl, ganz wohl, meine Liebe«, versetzte Squeers. »Wie steht’s mit den Kühen?«
»Alles in Ordnung, Stück für Stück«, antwortete die Dame.
»Und die Schweine?« fuhr Squeers fort.
»Sind so munter, wie sie bei deinem Abgang waren.«
»Gott sei Dank«, sagte Squeers, seinen Überrock ausziehend. »Die Jungen sind wahrscheinlich auch, wie sie sein sollen?«
»O ja, wohl genug«, versetzte Frau Squeers verdrießlich. »Der kleine Pitcher hat das Fieber.«
»Hol der Henker den Jungen«, rief Squeers; »der ist doch auch immer krank.«
»Ich glaube, die ganze Welt hat keinen solch nichtsnutzigen Burschen mehr aufzuweisen«, erwiderte Frau Squeers; »und wenn etwas an ihn kommt, so ist es noch obendrein immer ansteckend. Aber glaube mir, es ist nichts als eitle Widerspenstigkeit, und kein Mensch soll mich von dem Gegenteil überzeugen. Verlaß dich drauf, Schläge würden ihn kurieren, wie ich dir schon vor sechs Monaten gesagt habe.«
»Ja, ich erinnere mich, meine Liebe«, erwiderte Squeers. »Wir wollen aber sehen, was sich machen läßt.«
Während dieses kleinen Zärtlichkeitsaustausches stand Nicolaus verlegen in der Mitte des Zimmers, ohne mit sich eins werden zu können, ob man wohl von ihm erwarte, daß er sich nach der Hausflur zurückziehe, oder daß er an Ort und Stelle bleibe. Aber nun erlöste ihn Herr Squeers aus dieser peinlichen Ungewißheit.
»Dies ist der neue junge Mann, mein Schatz«, sagte der Herr.
»Ah!« erwiderte Madame Squeers, indem sie Nicolaus mit dem Kopf zunickte und ihn kalt vom Wirbel bis zur Zehe musterte.
»Er wird mit uns zu Nacht speisen«, sagte Squeers, »und morgen sein Geschäft bei den Jungen beginnen. Du kannst ihm doch eine Streu zurechtmachen, nicht wahr?«
»Will sehen, wie’s geht«, entgegnete die Dame. »Sie machen sich wohl nichts daraus, wie Sie schlafen, Sir?«
»O nein«, erwiderte Nicolaus, »ich bin in dieser Hinsicht nicht verwöhnt.«
»Das ist ein Glück«, sagte Frau Squeers.
Der Witz dieser Dame bestand hauptsächlich in ihren beißenden Antworten. Herr Squeers lachte herzlich bei dem letzten Scherz seiner werten Hälfte und schien von Nicolaus dasselbe zu erwarten.
Es folgte nun zwischen dem Schulmeister und der Schulmeisterin eine weitere Verhandlung über den Erfolg von Herrn Squeers Abstecher, der sich hauptsächlich um geleistete Zahlungen und böse Schuldner drehte, bis endlich ein junges Dienstmädchen eine Yorkshirer Pastete nebst einem Stück kalten Rindfleisches hereintrug und beides auf den Tisch setzte. Als das geschehen war, erschien der Knabe Smike mit einem Krug Bier.
Herr Squeers leerte die Taschen seines Überrocks von den Briefen an verschiedene Knaben und von andern kleinen Dokumenten, die er in diesen mit herbefördert hatte. Der Knabe blickte mit einem scheuen und ängstlichen Ausdruck auf die Papiere, als hege er die schwache Hoffnung, daß auch etwas für ihn darunter sei. Der Blick war ein sehr schmerzlicher und drang Nicolaus tief ins Herz; denn er erzählte eine lange und traurige Geschichte.
Nicolaus wurde dadurch veranlaßt, den Jungen aufmerksamer zu betrachten, und fand sich nicht wenig überrascht, als er die seltsame Mischung von Kleidern, die dessen Anzug bildeten, gewahrte. Obgleich er nicht weniger als achtzehn oder neunzehn Jahre zählen konnte und für dieses Alter ziemlich groß war, war doch seine Kleidung ungefähr eine solche, wie man sie kleinen Knaben zu geben pflegt, zwar an Armen und Beinen abgeschmackt kurz, demungeachtet aber weit genug für das ausgehungerte Gerippe. Um die untere Partie seiner Beine mit dieser seltsamen Garderobe in Einklang zu bringen, trug er ein Paar ungeheure Stiefel, die ursprünglich mit Stulpen versehen gewesen und für einen stämmigen Bauern gemacht worden sein mochten, jetzt aber sogar für einen Bettler zu sehr geflickt und zerrissen waren. Gott weiß, wie lange er sich schon bei Squeers befand; aber er trug noch immer dasselbe Weißzeug, das er mit sich hergebracht hatte; denn um seinen Hals hing eine zerrissene Kinderkrause, die zur Hälfte von einem groben Mannshalstuch bedeckt war. Er hinkte, und während er sich anstellte, als sei er emsig mit der Zurüstung des Tisches beschäftigt, warf er einen so scharfen und doch so entmutigenden und hoffnungslosen Blick auf die Briefe, daß Nicolaus es kaum mit ansehen konnte.
»Was schnupperst du da herum, Smike?« rief Madame Squeers. »Willst du die Sachen liegenlassen, he?«
»Ah, bist du da?« fragte Squeers aufsehend.
»Ja, Sir«, versetzte der Junge, die Hände zusammendrückend, als ob er mit Gewalt die zuckenden Finger abhalten müsse, nach den Papieren zu greifen; »ist da –«
»Nun?« entgegnete Squeers.
»Haben Sie – ist jemand – hat man nichts gehört – über mich?«
»Zum Henker, nein«, erwiderte Squeers verdrießlich.
Der Junge blickte weg und bewegte sich, die Hand vor das Gesicht haltend, gegen die Tür.
»Nicht ein Wort«, nahm Squeers wieder auf, »und ich werde wohl auch nie etwas zu hören bekommen. Ist es nicht eine feine Geschichte, daß du schon so viele Jahre hier bist, und daß nach den ersten sechsen kein Heller mehr für dich bezahlt wurde? Ja, man hat nicht einmal nach dir gefragt, so daß man etwa hätte ausfindig machen können, wohin du gehörst. Eine feine Geschichte das – einen so großen Schlingel wie du auffüttern zu müssen, ohne die Hoffnung zu haben, je einen Pfennig dafür zu bekommen. Wie?«
Der Junge drückte die Hand an seine Stirn, als versuche er, sich irgendeine Erinnerung zurückzurufen, blickte dann ausdruckslos auf den Frager, verzog allmählich sein Gesicht zu einem Lächeln und hinkte hinaus.
»Ich muß dir etwas sagen, Squeers«, bemerkte die Frau Schulmeisterin, als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte; »ich glaube, der junge Bursche wird noch blödsinnig.«
»Ich hoffe nicht«, versetzte Herr Squeers, »denn er ist außer dem Hause ein anstelliger Bursche, der sein Essen und Trinken wohl verdient. Wäre es aber auch der Fall, so hätte er, denke ich, immerhin noch genug Verstand für uns. Doch komm, wir wollen zu Nacht essen. Ich bin hungrig und müde und will deshalb machen, daß ich zu Bett komme.«
Auf diese Erinnerung wurde noch extra ein Beefsteak für Herrn Squeers herbeigebracht, der nicht versäumte, demselben volle Gerechtigkeit angedeihen zu lassen. Nicolaus zog seinen Stuhl an den Tisch, aber der Appetit war ihm gänzlich vergangen.
»Wie findest du das Beefsteak, Squeers?« fragte die Schulmeisterin.
»Zart wie Lammfleisch«, erwiderte Squeers. »Willst du’s versuchen?«
»Ich könnte keinen Bissen mehr hinunterbringen«, entgegnete die Frau. »Was soll der junge Mann haben, mein Lieber?«
»Was ihm von dem Vorhandenen beliebt«, erwiderte Squeers in einer höchst ungewöhnlichen Anwandlung von Großmut.
»Nun, was wünschen Sie, Herr Knittelbrei?« fragte Frau Squeers.
»Ich möchte mir ein kleines Stückchen von der Pastete ausbitten – nur ein ganz kleines; denn ich bin nicht hungrig«, antwortete Nicolaus.
»Ist es aber nicht schade, die Pastete anzuschneiden, wenn Sie nicht hungrig sind?« meinte Frau Squeers. »Wollen Sie nicht ein Stückchen von dem Rindfleisch versuchen?«
»Wie Ihnen beliebt«, versetzte Nicolaus zerstreut; »es ist mir ganz gleichgültig.«
Frau Squeers machte auf diese Antwort eine sehr gnädige Miene, nickte Squeers zu, als ob sie ihre Zufriedenheit darüber ausdrücken wolle, daß sich der junge Mann so gut in seine Stellung zu finden wisse, und legte Nicolaus mit eigenen schönen Händen eine Fleischschnitte vor.
»Bier, Squeerchen?« fragte die Dame, indem sie ihrem Mann durch Blinzen und Stirnrunzeln zu verstehen gab, daß die Frage nicht so gemeint sei, ob er Bier trinken wolle, sondern ob Nicolaus welches haben solle.
»Allerdings«, versetzte Squeers unter ähnlichen Gebärden. »Ein Glas voll.«
Nicolaus erhielt also ein Glas voll, und da er eben mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt war, so trank er es in glücklicher Nichtbeachtung dessen, was an seiner Seite verhandelt wurde, aus.
»Das Beefsteak ist ungemein saftig«, sagte Squeers, indem er Messer und Gabel, mit denen er eine Zeitlang schweigend gespielt hatte, niederlegte.
»Es ist Mastochsenfleisch«, entgegnete die Dame. »Ich kaufte ein schönes, großes Stück in der Absicht –«
»In was für einer Absicht?« rief Squeers hastig. »Doch nicht für die – –«
»Nein, nein, nicht für sie«, erwiderte Frau Squeers, »sondern für dich, wenn du wieder nach Hause kämest. Du mein Himmel, wie kann dir nur einfallen, daß mir ein solcher Mißgriff begegnen könnte?«
»Auf Ehre, meine Liebe, ich konnte mir nicht denken, was du sagen wolltest«, entschuldigte sich Squeers, der ganz blaß geworden war.
»Brauchst dir keine unnötigen Sorgen zu machen«, bemerkte die Frau, herzlich lachend. «Auch nur zu denken, ich könnte eine solche Gans sein! Ei, Ei!«
Dieser Teil der Unterhaltung war etwas unverständlich, wenn man keine Kunde von dem in der Gegend im Umlaufe befindlichen Gerüchte hatte, Herr Squeers hasse alle Grausamkeit gegen Tiere so sehr, daß er für die Küche seiner Zöglinge Fleisch von Rindvieh aufkaufe, das eines natürlichen Todes gestorben sei; und vielleicht fürchtete er, bei dem vorerwähnten Anlasse, ohne es zu wissen, ein auserlesenes Stückchen, das für die jungen Herrchen bestimmt war, verzehrt zu haben.
Als das Nachtessen vorüber war, wurde es von einem kleinen Dienstmädchen mit hungrigen Augen wieder abgetragen, und Madame Squeers entfernte sich, um die Überbleibsel einzuschließen. Desgleichen trug sie Sorge, die Anzüge der fünf eben angekommenen Knaben aufzubewahren, die sich jetzt auf dem Wege zu ihrem Nachtlager, nämlich auf einer steilen Wendeltreppe, befanden, die man nicht mit Unrecht die Todesleiter nennen konnte, da es selten ohne eine Erkältung auf derselben ablief. Man hatte sie vorher mit einem leichten Süppchen beköstigt und packte sie nun, Seite an Seite, in eine kleine Bettstelle, wo sie sich gegenseitig wärmen und von einem besseren Mahle nebst einem geheizten Stübchen träumen konnten, wenn, wie nicht unwahrscheinlich, ihre Einbildungskraft diese Richtung einschlug.
Herr Squeers labte sich selbst mit einem tüchtigen Glase Grog, wobei er dem beliebten Grundsatze »ebensoviel Branntwein wie heißes Zuckerwasser« folgte, und sein liebenswürdiges Ehegemahl mischte für Nicolaus ein kleines Glas voll desselben Getränkes, nur in weit wässerigerer Zusammensetzung. Als dies geschehen war, rückten Herr und Frau Squeers dicht an das Feuer, setzten ihre Füße auf das Kamingitter und flüsterten vertraulich zusammen, während Nicolaus »den wohlberatenen Hofmeister« aufnahm und die ansprechenden Artikel desselben, nebst den darin enthaltenen Bildern, mit ebensoviel Bewußtsein dessen, was er tat, durchblätterte, als wäre er in magnetischem Schlaf gewesen.
Endlich gähnte Herr Squeers entsetzlich und meinte, es wäre hohe Zeit zu Bett zu gehen, worauf Frau Squeers und das Dienstmädchen eine kleine Strohmatratze und ein paar Decken in das Zimmer schleppten und sie zu einem Lager für Nicolaus zurüsteten.
»Wir wollen Ihnen morgen Ihr regelmäßiges Schlafgemach anweisen, Nickleby«, sagte Squeers. »Wer schläft in Brooks‘ Bett, meine Liebe?«
»In Brooks‘ Bett? versetzte Frau Squeers nachsinnend. »Jennings, der kleine Bolder, Graymarsh und – wie heißt doch der vierte –«
»Ach, so«, entgegnete Squeers; »richtig, Brooks‘ Bett ist voll.«
»Voll?« dachte Nicolaus. »Ich sollte es wohl selbst auch glauben.«
»Es muß aber irgendwo noch Platz geben«, fuhr Squeers fort, »ich kann mich nur im Augenblick nicht recht darauf besinnen. Doch lassen wir das bis morgen. Gute Nacht, Nickleby! Vergessen Sie nicht – morgen früh um sieben Uhr!«
»Ich werde bereit sein, Sir«, erwiderte Nicolaus. »Gute Nacht.«
»Ich will selbst kommen und Ihnen den Brunnen zeigen«, sagte Squeers. »Sie werden immer ein Stückchen Seife auf dem Küchenfenster finden; das gehört Ihnen.«
Nicolaus machte große Augen, ohne jedoch etwas zu entgegnen; und Squeers schickte sich aufs neue zum Fortgehen an, kehrte jedoch abermals zurück.
»Ich weiß in der Tat nicht«, sagte er, »wessen Handtuch ich Ihnen anweisen soll. Doch Sie können sich ja morgen früh mit etwas anderem behelfen, meine Frau wird dann im Laufe des Tages dafür Sorge tragen. Vergiß mir’s nicht, meine Liebe.«
»Ich will darauf Bedacht nehmen«, entgegnete Frau Squeers; »und Sie, junger Mann, sehen Sie darauf, daß Sie zuerst an den Brunnentrog kommen. Es ist nicht mehr als billig, daß der Lehrer sich desselben zuerst bediene; wenn Sie aber nicht eilen, so werden die Jungen Ihnen zuvorkommen.«
Ehe sich das edle Paar entfernte, gab Herr Squeers seiner Frau noch einen Wink, die Branntweinflasche fortzuschaffen, damit nicht Nicolaus in der Nacht Gebrauch davon mache, was denn auch von der Dame mit großer Eile besorgt wurde.
Als Nicolaus allein war, ging er ein halb dutzendmal in großer Aufregung durch das Zimmer. Allmählich wurde er jedoch ruhiger, setzte sich auf einen Stuhl und faßte den Entschluß, alles Ungemach, was da kommen möchte, eine Zeitlang geduldig über sich ergehen zu lassen, um seinem Onkel keinen Vorwand zu geben, die Hand von seiner hilflosen Mutter und Schwester abzuziehen. Eine edle Absicht verfehlt selten, gute Früchte in der Seele, in der sie entspringt, zu treiben. Sein Kleinmut legte sich, und – so lebhaft sind die Traume der Jugend – er hoffte sogar, daß sich die Angelegenheiten in Dotheboys Hall noch besser machen dürften, als es das Aussehen hatte.
Er wollte sich eben, wieder etwas erheitert, auf sein Lager werfen, als ein versiegelter Brief aus seiner Rocktasche fiel. Er hatte in der Eile, womit er London verließ, diesen ganz vergessen und sich seiner nicht mehr erinnert; setzt fiel ihm auf einmal wieder Newman Noggs und sein geheimnisvolles Benehmen ein.
»Himmel, was für eine wunderliche Hand!« sagte Nicolaus.
Der Brief war an ihn selbst adressiert, auf ein ungemein schmutziges Papier geschrieben und die Buchstaben so undeutlich gekritzelt, daß man sie kaum lesen konnte. Nach vieler Mühe gelang es ihm endlich, das Folgende herauszubringen:
»Mein lieber junger Herr!
Ich kenne die Welt. Ihr Vater kannte sie nicht, sonst würde er mir keine Wohltaten erwiesen haben, da er auf keinen Wiederersatz rechnen durfte. Auch Sie kennen sie nicht, sonst hätten Sie sich zu keiner solchen Reise verpflichtet.
Wenn Sie je eines Obdachs in London bedürfen sollten, (zürnen Sie nicht wegen dieses Ausdrucks, denn ich hielt es ehedem gleichfalls für unmöglich), so können Sie meine Wohnung bei dem Wirt zur Krone, Golden Square in der Silberstraße, erfahren. Es ist das Eckhaus der Silber- und Jacobsstraße und hat nach beiden Straßen hinaus eine Tür. Sie können abends kommen. Einst schämte sich niemand – doch das ist jetzt gleichgültig – es ist alles vorüber.
Entschuldigen Sie die schlechte Schrift. Ich würde sogar nicht einmal wissen, wie man einen ganzen Rock trägt. Ich habe alles Frühere vergessen und damit wohl auch meine Orthographie.
Newman Noggs.
P.S.
Wenn Sie nach Barnet Castle kommen, so treffen Sie im Königskopf gutes Bier. Sagen Sie, daß Sie mich kennen, und man wird Ihnen keine Rechnung machen. Sie können dort von Herrn Noggs sprechen, denn ich war damals ein Mann von Stande – ja, in der Tat.«
Es ist vielleicht nicht der Erwähnung wert; aber als Nicolaus Nickleby das Schreiben zusammenlegte und in seiner Brieftasche verwahrte, trübte eine Feuchtigkeit seine Augen, die man hätte für Tränen halten können.