Fünftes Kapitel.

Nicolaus begibt sich nach Yorkshire auf den Weg. – Abschied von den Seinigen, seine Reisegefährten und was ihnen unterwegs begegnete.

Wenn Tränen, die in einen Koffer träufeln, Schutzmittel wären, um dessen Eigentümer vor Leid und Mißgeschick zu bewahren, so hätte Nicolaus Nickleby seine Reise unter den glücklichsten Vorbedeutungen begonnen. Man hatte so viel zu tun und doch so wenig Zeit dazu – so viele herzliche Worte zu sprechen und doch so bitteren Schmerz im Herzen, der die Laute erstickte, daß die kleinen Vorbereitungen für den Aufbruch in der Tat in größter Trauer getroffen wurden. Nicolcaus bestand darauf, hundert Dinge, die die ängstliche Sorge der Mutter und Schwester für durchaus unentbehrlich hielten, zurückzulassen, da sie den Seinigen nachher nützlich werden oder im Falle der Not in Geld umgesetzt werden könnten. Hundert zärtliche Wortwechsel über derartige streitige Punkte fanden in der traurigen Nacht statt, die seiner Abreise voranging; und je näher sie das Ende eines jeden dieser harmlosen Zwiste dem Schlusse ihrer kleinen Vorbereitungen brachte, desto geschäftiger wurde Käthchen und desto mehr weinte sie im stillen.

Der Koffer war endlich gepackt, und nun wurde das Nachtessen mit einer eigens für diesen Anlaß bereiteten Leckerei herbeigebracht, für deren Bestreitung Käthchen und ihre Mutter nicht zu Mittag gegessen hatten, indem sie vorgaben, sie hätten es getan, als Nicolaus nicht zu Hause war. Die Bissen quollen ihm jedoch im Munde, und es wollte ihm fast das Herz brechen, als er einige Scherze anzubringen und ein melancholisches Lachen hervorzuzwingen versuchte. So zögerten sie, bis die gewöhnliche Schlafengehenszeit längst vorüber war; und erst jetzt fanden sie, daß sie recht wohl früher ihren wahren Gefühlen hätten Luft machen können, da sie dieselben trotz aller Mühe doch nicht zu unterdrücken vermochten. Sie ließen ihnen daher den Lauf, und auch dies gereichte ihnen zur Erleichterung.

Nicolaus schlief tief bis morgens 6 Uhr, träumte von der Heimat oder von dem, was sonst seine Heimat war – was allerdings gleich viel bedeutet, denn Dinge, die anders geworden oder dahin sind, führt uns, Gott sei Dank, der Schlaf wieder zurück, wie sie ehedem waren – und stand ganz frisch und munter auf. Er schrieb mit dem Bleistift einige Zeilen des Abschieds, da er sich den Schmerz des mündlichen Lebewohls ersparen wollte, legte sie nebst der Hälfte seiner spärlichen Barschaft vor die Tür seiner Schwester, warf seinen Koffer über die Schulter und schlich sacht die Stiegen hinunter.

»Hanna, bist du’s?« rief eine Stimme von Fräulein La Creevys Arbeitszimmer her, aus dem der matte Schein eines Kerzenlichtes die Wand beleuchtete.

»Ich bin’s, Fräulein La Creevy«, sagte Nicolaus, indem er den Koffer niedersetzte und hineinblickte.

»O du mein Himmel!« rief Fräulein La Creevy aufspringend, indem sie mit der Hand nach ihren Haarwickeln fuhr; »Sie sind sehr früh auf, Herr Nickleby.«

»Sie gleichfalls«, erwiderte Nicolaus.

»Die schönen Künste bringen mich so zeitig aus den Federn, Herr Nickleby«, entgegnete die Dame. »Ich harre des Tags, um einen Gedanken auszuführen.«

Fräulein La Creevy war so früh aufgestanden, um eine Phantasienase in das Miniaturportrat eines häßlichen kleinen Jungen zu malen, das die Bestimmung hatte, seiner Großmutter auf dem Lande geschickt zu werden, von der man erwartete, sie würde ihn in ihrem Testamente besonders bedenken, wenn sich bei ihm eine Familienähnlichkeit vorfände.

»Einen Gedanken auszuführen«, wiederholte Miß La Creevy; »und da kommt mir der Umstand, daß ich in einer so belebten Straße, wie der Strand, wohne, sehr zu statten. Wenn ich einer Nase oder eines Auges für einen meiner Kunden bedarf, so brauche ich mich bloß ans Fenster zu setzen und zu warten, bis mir vorkommt, was ich haben möchte.«

»Braucht man lange dazu, um eine Nase zu bekommen?« fragte Nicolaus lächelnd.

»Das hängt ganz davon ab, was es für eine sein soll«, antwortete Miß La Creevy. »Stumpfnasen und Habichtsnasen gibt es genug, und Plattnasen von jeder Sorte und Größe trifft man, wenn es eine Versammlung zu Exeter Hall gibt; aber wirkliche Adlernasen sind, wie ich mit Bedauern gestehen muß, sehr selten, und doch brauchen wir sie so oft für Offiziere oder amtliche Persönlichkeiten.«

»Wirklich?« entgegnete Nicolaus. »Wenn mir auf meinen Reisen eine solche aufstoßen sollte, so will ich versuchen, Ihnen ein Bild davon zu fertigen.«

»Sie wollen damit doch nicht sagen, daß Sie wirklich die Absicht hätten, bei diesem kalten, winterlichen Wetter den weiten Weg nach Yorkshire hinunter zu machen, Herr Nickleby?« erwiderte Fräulein La Creevy. »Ich hörte in der letzten Nacht davon sprechen.«

»Allerdings habe ich diese Absicht«, antwortete Nicolaus. »Sie wissen, die Not ist eine harte Drängerin.«

»Nun, da kann ich weiter nichts sagen, als daß es mir sehr leid tut«, erwiderte Fräulein La Creevy, »sowohl um Ihrer Mutter und Schwester als um Ihretwillen. Ihre Schwester ist ein gar hübsches Mädchen, Herr Nickleby, und schon deshalb könnte sie recht wohl einen Beschützer brauchen. Ich habe sie überredet, mir ein paar Male zu sitzen, um ihr Bild für meinen Haustürrahmen benutzen zu können. Ach, das wird ein herrliches Miniaturporträt geben.«

Bei diesen Worten hielt Fräulein La Creevy ein auf Elfenbein gemaltes Gesicht mit sehr bemerklichen himmelblauen Adern empor und betrachtete es mit so viel Wohlbehagen, daß Nicolaus sie ordentlich beneidete.

»Wenn Sie je Gelegenheit haben sollten, Käthchen irgendeinen kleinen Liebesdienst zu erweisen, so verspreche ich mir von Ihrer Güte, daß Sie es tun werden«, sagte Nicolaus, ihr die Hand reichend.

»Sie dürfen sich darauf verlassen«, entgegnete die gutmütige Porträtmalerin. »Gott sei Ihr Begleiter und lasse es Ihnen wohlergehen, Herr Nickleby.«

Nicolaus kannte die Welt nur wenig, konnte aber doch so viel von ihrer Weise erraten, daß er glaubte, es könne vielleicht nicht schaden, Fräulein La Creevy für die Seinigen günstig zu stimmen, wenn er ihr einen kleinen Kuß gäbe. Er gab ihr daher drei oder vier mit einer Art scherzender Galanterie, und Fräulein La Creevy ließ keine stärkeren Andeutungen ihres Mißvergnügens bemerken, als daß sie, während sie ihren gelben Turban zurechtsetzte, erklärte, das wäre etwas Unerhörtes, und sie hätte es selber nie für möglich gehalten.

Als dieses unverhoffte Renkontre in einer so befriedigenden Weise verlaufen war, verließ Nicolaus eilig das Haus. Es war erst sieben Uhr, als er einen Mann auftrieb, der ihm den Koffer tragen sollte, und so ging er langsam dahin, wahrscheinlich mit nicht halb so leichtem Herzen in der Brust, wie der ihm folgende Träger, obgleich dieser keine Weste besaß, die seinige damit zu bedecken, und obgleich er, wie man aus seinen übrigen Kleidern schließen konnte, augenscheinlich die Nacht in einem Stall zugebracht und sein Frühstück bei einem Brunnen eingenommen hatte.

Nicolaus betrachtete mit nicht geringer Neugier und Teilnahme die geschäftigen Vorbereitungen für den kommenden Tag, die sich nicht nur in jeder Straße, sondern fast vor jedem Hause zeigten, und machte sich hin und wieder seine Gedanken darüber, daß es doch hart für ihn sei, so weit reisen zu müssen, um sich seinen Lebensunterhalt zu gewinnen, da doch so viele Menschen aller Art den ihrigen in London fänden, bis er endlich vor dem Mohrenkopf auf Snow Hill anlangte. Nachdem er seinen Begleiter entlassen und seinen Koffer wohlbehalten in dem Postbureau untergebracht hatte, sah er sich in den Frühstückszimmern nach Herrn Squeers um.

Er fand den Schulmann beim Frühstück sitzend, während die drei bereits erwähnten Knaben nebst zwei andern, die Herr Squeers durch irgendeinen glücklichen Zufall seit der Besprechung des gestrigen Tages aufgetrieben hatte, der Reihe nach auf einer gegenüberstehenden Bank aufgepflanzt waren. Herr Squeers hatte eine kleine Kaffeekanne, eine Platte mit gerösteten Brotschnitten und ein Stück kaltes Rindfleisch vor sich, war jedoch in diesem Augenblick beschäftigt, das Frühstück für die Knaben zu besorgen.

»Das soll für zwei Pence Milch sein, Kellner?« sagte Herr Squeers und sah in einen großen blauen Krug, den er ein wenig schräg hielt, um einen genauen Überblick über die darin enthaltene Flüssigkeit zu gewinnen.

»Das ist für zwei Pence, Sir«, antwortete der Kellner.

»Was doch die Milch in London für ein teurer Artikel ist!« sprach Herr Squeers mit einem Seufzer. »Nun so füllen Sie mir den Krug vollends mit lauem Wasser, Wilhelm.«

»Bis an den Rand, Sir?« fragte der Kellner. »Ei, da wird ja die Milch ersaufen.«

»Kümmern Sie sich nicht darum«, versetzte Herr Squeers. »Es geschieht ihr dann nur ihr Recht, weil sie so teuer ist. Haben Sie ein dickes Brot und Butter für drei bestellt?«

»Wird sogleich kommen, Sir.«

»Es hat’s nicht so eilig«, entgegnete Squeers; »wir haben noch genug Zeit. Bekämpft eure Leidenschaften, Jungen, und seid mir nicht gierig auf das Essen.«

Während Herr Squeers diese gute Lehre anbrachte, sprach er seinem Rindfleisch kräftig zu, als er auf einmal seinen neuangestellten Hilfslehrer erblickte.

»Setzen Sie sich, Herr Nickleby«, sagte Squeers. »Wir sind hier beim Frühstück, wie Sie sehen.«

Nicolaus konnte nicht sehen, daß jemand anders als Herr Squeers beim Frühstück wäre, er verbeugte sich aber mit dem geziemenden Respekt und nahm eine so heitere Miene an, wie er konnte.

»Ach, ist das die Milch mit Wasser, Wilhelm?« fragte Squeers. »Gut! vergessen Sie das Brot und die Butter nicht.«

Bei dieser neuen Erwähnung des Butterbrots sahen sich die fünf Knaben gierig an und folgten mit ihren Augen dem Kellner, während Herr Squeers die Wassermilch kostete.

»Ah!« sagte der Schulmann, mit den Lippen schnalzend, »das ist eine treffliche Milch! Denkt an die vielen Bettler und Waisen in den Straßen, die froh dabei wären, ihr Jungen. Der Hunger ist ein leidig Ding, nicht wahr, Herr Nickleby?«

»Allerdings, sehr leidig, Sir«, versetzte Nicolaus.

»Wenn ich eins zähle«, fuhr Herr Squeers fort, indem er den Krug vor den Kindern niedersetzte, »so kann der Knabe, der zunächst an dem Fenster sitzt, einen Trunk tun; zähle ich zwei, so trinkt der nächste und so fort, bis ich zu fünf, das heißt, zu dem letzten Knaben komme. Seid ihr bereit?«

»Ja, Sir«, riefen alle Knaben einstimmig.

»So ist’s recht!« entgegnete Squeers, ruhig an seinem Frühstück fortfahrend. »Haltet euch bereit, bis ich zu zählen anfange. Bezähmt euren Appetit, meine Lieben, und ihr werdet zu Herren eurer tierischen Begierden. Das ist die Weise, wie wir die Kinder an Selbstbeherrschung gewöhnen, Herr Nickleby«, fügte der Schulmeister mit von Fleisch und Brotschnitten vollgepfropftem Munde, gegen Nicolaus gewendet, bei.

Nicolaus murmelte etwas – er wußte nicht, was – als Erwiderung, und die Jungen teilten ihre Blicke zwischen dem Krug, dem Butterbrot, das inzwischen angelangt war, und jedem Bissen, den Herr Squeers in seinen Mund steckte, während in ihren gierigen Augen alle Qualen der Erwartung zu lesen waren.

»Gottlob, das hat geschmeckt«, sagte Squeers, als er mit seinem Frühstück zu Ende gekommen war. »Nummer Eins kann zu trinken anfangen.«

Nummer Eins griff heißhungrig nach dem Krug und hatte eben genug getrunken, um noch nach mehr begierig zu sein, als Herr Squeers das Signal für Nummer Zwei gab, die ihn in demselben bedeutungsvollen Augenblick an Nummer Drei abgeben mußte, und so wurde der Prozeß wiederholt, bis die Wassermilch mit Nummer Fünf alle war.

»Und nun –« sagte der Schulmeister, das Butterbrot für drei in ebenso viele Portionen, als Kinder da waren, zerteilend – »werdet ihr gut tun, mit eurem Frühstück rasch zu machen; denn das Horn wird in ein paar Minuten blasen, und dann muß jeder Knabe aufhören.«

Da die Kinder jetzt Erlaubnis hatten, über das Butterbrot herzufallen, so begannen sie heißhungrig und in verzweifelter Hast zu essen, während der Schulmann, der nach seiner Mahlzeit ungemein gut gelaunt war, mit der Gabel die Zähne ausstocherte und lächelnd zusah. Kurz darauf ließ sich das Horn vernehmen.

»Ich dachte mir wohl, daß es nicht lange dauern würde«, sagte Squeers aufspringend und einen kleinen Korb unter seinem Sitz hervorziehend. »Legt das, was ihr nicht habt essen können, hier herein, Knaben, es wird euch unterwegs gut tun.«

Nicolaus war über diese höchst ökonomische Einrichtung nicht wenig verblüfft, aber er hatte keine Zeit darüber nachzudenken, denn die Knaben mußten oben auf die Kutsche hinaufgehoben, ihr Gepäck herausgeholt und versorgt, wie auch Herrn Squeers‘ Bagage sorgfältig in dem Wagenkorbe untergebracht werden, was alles dem Hilfslehrer anheimfiel. Er hatte alle Hände voll zu tun und war eben mit diesen Vorkehrungen zustande gekommen, als ihn sein Onkel, Herr Ralph Nickleby, anredete.

»Ah, du bist hier, Musje?« sagte Ralph. »Hier sind deine Mutter und Schwester.«

»Wo?« rief Nicolaus, sich hastig umsehend.

»Hier!« versetzte sein Onkel. »Da sie zuviel Geld haben und nicht wissen, was sie damit anfangen sollen, wollten sie eben eine Kutsche mieten, als ich zu ihnen kam.«

»Wir fürchteten, zu spät da zu sein und ihn nicht mehr zu sehen, ehe er abreiste«, entgegnete Frau Nickleby, ihren Sohn umarmend, ohne der im Hofe umherschlendernden Zuschauer zu achten.

»Sehr gut, Madame«, erwiderte Ralph; »Sie müssen das natürlich am besten wissen. Ich sagte nur, Sie seien im Begriff gewesen einen Lohnkutscher zu bezahlen. Ich zahle nie eine Lohnkutsche, Madame, und miete auch keine. Ich bin seit dreißig Jahren nicht auf eigene Rechnung in einer Mietkutsche gesessen, und ich hoffe, es soll noch dreißig Jahre dauern, bis ich es tue, wenn ich so lange lebe.«

»Ich hätte es mir nie vergeben können, wenn ich ihn nicht noch einmal gesehen hätte«, sagte Frau Nickleby. »Der liebe, arme Junge – er ging sogar ohne Frühstück fort, weil er fürchtete, daß uns der Abschied schmerzlich fiele.«

»Gewiß – außerordentlich zart!« bemerkte Ralph grämlich. »Als ich ins Geschäftsleben trat, war jeden Morgen, ehe ich in die City ging, ein Pennybrot und für einen halben Penny Milch mein Frühstück. Was sagen Sie hierzu, Madame? Frühstück! Bah!«

»Nun, Nickleby«, sagte Squeers, der in diesem Augenblick, seinen Überrock zuknöpfend, herantrat; »es wird gut sein, wenn Sie hinten aufsitzen: es könnte einer der Knaben herunterfallen, und dann sind jährlich zwanzig Pfund zum Henker.«

»Lieber Nicolaus«, flüsterte Käthchen, ihres Bruders Arm berührend, »wer ist dieser rohe Mensch?«

»He?« brummte Ralph, dessen rasches Ohr die Frage aufgefangen hatte, »wünschest du dem Herrn Squeers vorgestellt zu werden, meine Liebe?«

»Das der Schulmeister? Nein, Onkel, gewiß nicht«, versetzte das Mädchen zurücktretend.

»Ich hörte doch eben, daß du ihn kennenzulernen wünschtest«, entgegnete Ralph in seiner kalten, beißenden Weise. »Herr Squeers, hier ist meine Nichte, Nicolaus‘ Schwester.«

»Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Fräulein«, erwiderte Squeers, seinen Hut um einige Zoll lüftend. »Ich wünschte nur, daß Frau Squeers Schülerinnen aufnähme; wir könnten Sie dann als Lehrerin brauchen. Ich möchte übrigens nicht dafür stehen, ob sie nicht eifersüchtig würde, ha! ha! ha!«

Hätte der Eigentümer von Dotheboys Hall wissen können, was in diesem Augenblick in der Brust seines Hilfslehrers vorging, so würde er mit einiger Überraschung bemerkt haben, daß er einer gesunden Tracht Schläge so nahe war, wie nur je in seinem Leben. Käthchen Nickleby übrigens, die die Gefühle ihres Bruders schnell erfaßte, führte ihn sacht beiseite und verhinderte dadurch, daß Herr Squeers auf eine etwas unangenehme Weise mit der Tatsache bekannt wurde.

»Mein lieber Nicolaus«, fragte das Mädchen, »wer ist dieser Mann, und was für eine Stelle kannst du bei ihm zu versehen haben?«

»Ich weiß es selbst nicht, Käthchen«, entgegnete Nicolaus, die Hand der Schwester drückend. »Ich denke, die Leute von Yorkshire sind etwas roh und ungebildet; das wird wohl alles sein.«

»Aber dieser Mensch?« erwiderte Käthchen.

»Ist mein Dienstherr, mein Vorgesetzter, oder wie ich es nennen mag«, versetzte Nicolaus rasch, »und es war einfältig von mir, seine Ungeschliffenheit übelzunehmen. Sie sehen nach uns her, und es ist Zeit, daß ich meinen Platz einnehme. Gott sei mit dir, meine Liebe, und lasse es dir wohlergehen. Mutter, denken Sie nicht an die Trennung, sondern an das Wiedersehen. Leben Sie wohl, Onkel! Herzlichen Dank für alles, was Sie an uns getan haben und noch zu tun gedenken. Ich bin fertig, Sir.«

Mit diesen raschen Abschiedsworten schwang sich Nicolaus gewandt nach seinem Sitze hinauf und winkte den Seinen zu, als ob er unverzagten Herzens in die Zukunft blicke.

In diesem Augenblick, als der Postillion zum letzenmal vor dcm Aufbruch mit dem Schaffner die Unkosten der Fahrt berechnete, die Lastträger die letzten widerstrebenden sechs Pence herauspreßten, hausierende Neuigkeitskrämer den letzten Versuch machten, eine Morgenzeitung anzubringen, und die Pferde zum letztenmal ungeduldig in ihren Geschirren rasselten, fühlte sich Nicolaus auf einmal sanft am Beine berührt. Er sah hinunter und entdeckte Newman Noggs, der ihm einen schmutzigen Brief heraufreichte.

»Was ist das?« fragte Nicolaus.

»Bst!« versetzte Noggs, auf Ralph Nickleby blickend, der mit Herrn Squeers in geringer Entfernung noch einige ernste Worte wechselte. »Nehmen Sie; lesen Sie. Niemand weiß davon. Das ist alles.«

»Halten Sie noch«, rief Nicolaus.

»Nein«, entgegnete Noggs.

Nicolaus rief abermals »Halt«, aber Newman Noggs war verschwunden.

Die Rührigkeit einer Minute, das Auf- und Zuklappen der Kutschenschläge, eine Neigung des Wagens auf die eine Seite, als der schwere Postillion und der noch schwerere Schaffner auf ihre Sitze klommen, ein Ruf, daß alles in Ordnung sei, ein paar Stöße in das Posthorn; dann noch ein hastiger Blick von zwei bekümmerten Gesichtern unten, die harten Züge Ralph Nicklebys – und die Kutsche rasselte über das Pflaster von Smietfield dahin.

Die Beine der kleinen Knaben waren zu kurz, als daß sie diese, wenn sie saßen, hätten auf etwas ruhen lassen können, und da ihre Leiber deshalb in unablässiger Gefahr waren, von der Kutsche heruntergeworfcn zu werden, so hatte Nicolaus genug zu tun, sie zu halten. Er fühlte sich daher nach der mit diesem Geschäfte verbundenen Angst und körperlichen Anstrengung nicht wenig erleichtert, als die Kutsche vor dem Pfauen zu Islington halt machte. Noch mehr Trost gewährte es ihm aber, als ein Herr von biederem Äußeren, einem heiteren Gesicht und gesunder Farbe hinten aufstieg und sich erbot, die andere Seite des Sitzes einzunehmen.

»Wenn wir einige von diesen Knaben in die Mitte nehmen«, sagte der neue Ankömmling, »so werden sie, im Falle sie einschlafen sollten, sicherer sein, – meinen Sie nicht?«

»Wenn Sie diese Güte haben wollten, Sir«, versetzte Squeers, »so würde ich es Ihnen sehr Dank wissen. Herr Nickleby, nehmen Sie drei von den Knaben zwischen sich und den Herrn. Belling, und der iüngere Snawley können zwischen mir und dem Schaffner sitzen. Drei Kinder«, erklärte Squeers gegen den Fremden, »werden als zwei eingebucht.«

»Das kann man sich gefallen lassen«, entgegnete der Herr. »Ich haben einen Bruder, der nichts dagegen haben würde, wenn seine sechs Kinder in den Büchern der Bäcker und Metzger des Königreichs als zwei betrachtet würden; im Gegenteil –«

»Sechs Kinder, Sir?« rief Squeers.

»Ja, und lauter Knaben«, erwiderte der Fremde.

»Herr Nickleby«, sagte Squeers in großer Hast, »halten Sie mir diesen Korb ein wenig. Erlauben Sie mir, Sir, Ihnen die Karte eines musterhaften Instituts zu überreichen, wo diese sechs Knaben auf eine lichtvolle, freisinnige und moralische Weise erzogen werden können, ohne daß mehr als zwanzig Guineen, – zwanzig Guineen jährlich, Sir, für den Kopf bezahlt zu werden brauchen. Ich würde auch alle zusammen für die runde Summe von hundert Pfund jährlich aufnehmen.«

»Ah, da sind wohl Sie selbst der hier erwähnte Squeers,« sagte der Herr mit einem Blicke nach der Karte.

»Ja, Sir«, erwiderte der würdige Pädagog. »Wackford Squeers ist mein Name, und ich darf mich dessen nicht schämen. Dies sind einige meiner Schüler, Sir, und da einer meiner Hilfslehrer – Herr Nickleby, ein Mann aus gutem Hause mit gar schönen mathematischen, klassischen und wirtschaftlichen Kenntnissen. Wir machen in unserer Anstalt die Sachen nicht halb ab. Meine Schüler müssen alles lernen, Sir. Ich scheue dabei keine Kosten; auch erhalten sie eine väterliche Behandlung und obendrein die Wäsche.«

»Meiner Treu«, sagte der Herr, indem er Nicolaus mit einem halben Lächeln und einem mehr als halben Ausdruck von Überraschung anblickte; »das nenne ich mir in der Tat Vorteile.«

»Sie dürfen wohl so sagen, Sir«, entgegnete Squeers, die Hände in seine Überrocktaschen steckend. »Auf Verlangen können die einwandfreiesten Zeugnisse nachgewiesen werden. Ich würde jedoch keinen Zögling aufnehmen, für den nicht die Zahlung von fünf Pfunden fünf Schillingen vierteljährlich verbürgt ist, – nein, nicht wenn sie auf die Knie vor mir niederfielen und mich mit Tränen im Gesicht drum bäten.«

»Sehr vorsichtig«, meinte der Reisende.

»Vorsicht ist stets mein Hauptaugenmerk, Sir«, versetzte Squeers. »Snawley junior, wenn du nicht aufhörst zu frieren und mit den Zähnen zu klappern, so will ich dich, ehe eine halbe Minute vergeht, mit einer Tracht Schläge warm machen.«

»Sitzen Sie hier fest, meine Herren?« fragte der Schaffner, als er nach seinem Platze hinaufstieg.

»Ist alles hinten in Ordnung, Dick?« rief der Postillion,

»Alles richtig«, war die Antwort. »Vorwärts!«

Und vorwärts ging es unter lautem Schmettern des Posthornes und dem ruhigen Beifall aller Roß- und Wagenkenner, die vor dem Pfauen versammelt waren, insbesondere aber dem der Stallknechte, die, die Pferdedecken über ihren Armen, der Kutsche nachsahen, bis sie verschwunden war, und dann wieder brummend nach den Ställen gingen, der Schönheit der Abfahrt allerlei bewundernde Lobsprüche zollend.

Als der Schaffner, ein stämmiger, alter Yorkshirer, sich fast außer Atem geblasen hatte, steckte er das Hörn in ein an der Seite der Kutsche zu diesem Zwecke angebrachtes Futteral, zerklopfte sich selbst unter der Bemerkung, daß es ungewöhnlich kalt sei, tüchtig Brust und Arme und fragte dann jede Person besonders, ob sie geradeaus zu reisen gedenke, und wenn nicht, wo der Weg hinginge. Als diese Fragen zur Zufriedenheit beantwortet waren, meinte er, die Wege wären nach dem Schneefall der letzten Nacht ziemlich schwer zu befahren, und nahm sich die Freiheit, zu fragen, ob einer von den Herren eine Schnupftabakdose bei sich führe. Da zufälligerweise keiner der Anwesenden schnupfte, bemerkte er mit geheimnisvoller Miene, daß er, als er in der letzten Woche nach Grantham hinuntergefahren, einen Doktor hätte sagen hören, daß das Schnupfen nicht gut für die Augen sei, obgleich er für seine Person dieses nie gefunden hätte, und er der Ansicht sei, daß jeder äußern solle, wie er es finde. Da niemand den Versuch machte, etwas gegen diesen Satz einzuwenden, so nahm er ein kleines braunes Papierpäckchen aus seinem Hut, setzte eine Hornbrille auf seine Nase (weil die Schrift etwas undeutlich sei), überlas die Anweisung ein halbes Dutzend Male, brachte Päckchen und Brille wieder an den früheren Platz und starrte dann alle Reisenden der Reihe nach an. Er griff nun, da die gewöhnlichen Gemeinplätze seiner Unterhaltung erschöpft waren, um sich zu erfrischen, abermals nach dem Horn, schlug dann zuletzt, so gut es bei den vielen Röcken, die er anhatte, möglich war, die Arme zusammen und blickte stumm und unbekümmert auf die verschiedenen Gegenstände, an denen die Kutsche vorbeirollte. Die einzigen Dinge, für die er ein Interesse zu haben schien, waren Pferde und Viehherden, die er, sooft man an solchen vorbeikam, mit den Blicken eines Kenners musterte.

Es war bitterkalt; hin und wieder stöberte es tüchtig, und der Wind war unerträglich schneidend.

Herr Squeers stieg bei jeder Station aus, um, wie er sagte, seine Beine zu strecken, und da er von solchen Ausflügen immer mit einer sehr roten Nase zurückkam und unmittelbar darauf sein Schläfchen machte, so ist Grund zur Annahme vorhanden, daß ihm dieses Verfahren sehr gut bekam. Die kleinen Zöglinge wurden durch die Überreste ihres Frühstücks und durch einige kleine Schlückchen einer seltsamen Herzstärkung gelabt, die Herr Squeers bei sich führte, und die fast wie Brotwasser, das aus Versehen in eine Branntweinflasche gegossen wurde, schmeckte. Sie schliefen ein, erwachten wieder, schauderten und weinten, wie es ihnen eben gerade behagte. Nicolaus und der andere Flügelmann wußten über so mancherlei zu sprechen, daß während ihrer Unterhaltung und den Versuchen, die Knaben zu ermuntern, die Zeit so schnell entschwand, wie es unter solchen leidigen Umständen möglich war.

So verging der Tag. Zu Eton Slocomb trafen sie eine gute Mahlzeit, an der die Mehrzahl der Reisegesellschaft – worunter auch Nicolaus, der gutgelaunte Mann und Herr Squeers – teilnahm, während man die fünf Knaben, um sie aufzutauen, an den Kamin setzte und sie mit Butterbrot und kaltem Fleisch erquickte. Ein paar Stationen später wurden die Laternen angezündet und eine große Störung durch die Aufnahme einer gezierten Dame verursacht, die mit ihren Dutzend Mänteln und Schachteln aus einem Wirtshaus in einer Nebenstraße einstieg, zur großen Erbauung der Passagiere sich laut über das Ausbleiben ihres eigenen Wagens, der sie hätte aufnehmen sollen, beklagte und dem Schaffner das feierliche Versprechen abnahm, jede grüne Kutsche, die er kommen sähe, anzuhalten, was auch dieser Ehrenmann, da es stockfinstere Nacht war und er mit dem Gesicht nach der andern Seite saß, unter ernstlichen Beteuerungen zu tun versprach. Als endlich die gezierte Dame fand, daß in dem Innern des Wagens nur ein einzelner Herr saß, so ließ sie sich eine kleine Laterne, die sie in ihrem Strickbeutel bei sich führte, anzünden, und nachdem der neue Passagier endlich mit vieler Mühe hineingebracht war, flog der Wagen unter vollem Galopp der Pferde von hinnen.

Die Nacht hindurch schneite es stark, zum großen Leidwesen der Reisenden. Man hörte keinen andern Ton als das Heulen des Windes; denn die Bewegung der Räder und der Tritt der Pferde waren auf der dicken Schneehülle, die die Erde bedeckte und mit jedem Augenblick zunahm, nicht vernehmlich. Als sie durch Stamfort kamen, fanden sie die Straßen verlassen, und die alten Kirchtürme stiegen düster und zürnend auf der weißen Ebene empor. Zwanzig Meilen weiter machten sich zwei Reisende von den vorderen Außensitzen die Ankunft bei einem der besten Gasthäuser in England zunutze und blieben im Georg zu Grantham über Nacht. Die übrigen hüllten sich dichter in ihre Überröcke und Mäntel, lehnten sich, als sie das Licht und die Wärme der Stadt wieder verlassen mußten, gegen das Gepäck und schickten sich mit vielen halbunterdrückten Seufzern an, aufs neue dem schneidenden Winde, der über über [*Doppelung] die Schneefelder fegte, zu begegnen.

Sie befanden sich wenig mehr als eine Station von Grantham, oder ungefähr auf dem halben Wege zwischen dieser Stadt und Newark, als Nicolaus, der kurz zuvor eingeschlafen war, plötzlich durch einen heftigen Stoß geweckt wurde, der ihn beinahe von seinem Sitz geworfen hätte. Er griff nach der Lehne und fand, daß die Kutsche sich ganz auf die eine Seite neigte, obgleich sie noch immer von den Pferden fortgeschleppt wurde. Durch den Stoß und das laute Kreischen der Dame im Innern verwirrt, besann er sich eben, ob er hinausspringen solle oder nicht, als der Wagen plötzlich ganz umkippte und ihm, indem er ihn auf die Straße schleuderte, alle weitere Ungewißheit ersparte.