Einundfünfzigstes Kapitel


Einundfünfzigstes Kapitel

Enthält einige nähere Umstände betreffs des eben erwähnten Klopfens und unter anderem auch interessante, bedeutsame Aufschlüsse in bezug auf Mr. Snodgraß und eine junge Dame.

Die Erscheinung, die sich den Blicken des erstaunten Schreibers darbot, war ein junger, auffallend dicker, livrierter Bursche, der kerzengerade und mit geschlossenen Augen dastand, als ob er im Stehen schliefe. Mr. Lowten hatte noch nie einen so fetten Burschen im Leben gesehen, und dies, verbunden mit der beispiellosen Ruhe und Gelassenheit seiner Erscheinung, entsprach so wenig dem Bilde, das er sich von der Person gemacht, die so stürmisch angeklopft, daß er in die größte Verwunderung geriet.

„Was gibt’s denn?“ fragte er verblüfft.

Der seltsame Bursche erwiderte darauf kein Wort, sondern nickte bloß, und Mr. Lowten hatte den Eindruck, als ob er leise schnarche. „Warum, zum Teufel, haben Sie denn auf eine solche Weise geklopft?“

„Auf was für eine Weise?“ fragte der Bursche mit schläfriger Stimme.

„Gerade wie vierzig Mietkutscher“, erwiderte der Schreiber ärgerlich.

„Weil mein Herr gesagt hat, ich solle in einem fort klopfen, bis die Tür geöffnet würde, damit ich nicht einschliefe.“

„Gut, und was sollen Sie denn hier?“ verhörte der Schreiber.

„Er ist unten“, lallte der Bursche.

„Wer?“

„Mein Herr. Er will wissen, ob Sie zu Hause sind.“

Lowten ging ans Fenster und sah hinaus. Als er einen wohlbeleibten alten Herrn in einem offenen Wagen unten erbückte, der sehr unruhig heraufschaute, winkte er ihm, und ein paar Minuten darauf erschien der Gentleman in Gestalt des alten Mr. Wardle in der Kanzlei, grüßte flüchtig und ging direkt in Mr. Perkers Zimmer.

„Ah, Pickwick“, rief der alte Herr. „Deine Hand, lieber Freund. Denk dir, erst gestern habe ich gehört, daß du dich ins Gefängnis sperren ließest. Warum haben Sie es zugegeben, Perker?“

„Ich bin unschuldig, mein lieber Herr“, erwiderte Perker mit einem Lächeln und nahm eine Prise. „Sie wissen ja, wie eigensinnig er ist.“

„Jaja, das weiß ich“, versetzte der alte Herr. „Aber dessenungeachtet freut es mich herzlich, ihn wiederzusehen. Ich werde ihn auch sobald nicht wieder aus den Augen lassen.“

Mit diesen Worten schüttelte Wardle Mr. Pickwick aber mals die Hand und warf sich in einen Lehnstuhl. Sein lustiges rotes Gesicht glänzte wie gewöhnlich vor Freude und Gesundheit.

„Na, was sagst du zu der kleinen schwarzäugigen Hexe?“ platzte er urplötzlich heraus. „Ich hatte selbst große Lust, sie gelegentlich zu heiraten. – Na, ’s ist anders gekommen. Bin auch so zufrieden. Freue mich herzlich darüber.“

„Wie hast du es denn erfahren?“ fragte Mr. Pickwick.

„Natürlich durch meine Mädchen. Arabella schrieb vorgestern, sie habe heimlich und ohne Einwilligung ihres Schwiegervaters geheiratet, und du seiest fortgereist, um seine Einwilligung zu etwas einzuholen, was er nun einmal nicht mehr ändern könne. Ich hielt das für eine sehr passende Gelegenheit, ein paar ernste Worte an meine Mädchen zu richten, und sagte ihnen, was es für eine schreckliche Sache sei, wenn Kinder ohne Erlaubnis ihrer Eltern heiraten, und so weiter. Aber es machte nicht den geringsten Eindruck auf sie. Sie fanden es nur schrecklich, daß die Hochzeit ohne Brautjungfern vor sich gegangen sei.“

Der alte Herr hielt inne und lachte herzlich.

„Das ist aber noch lange nicht alles, kaum die Hälfte von den Liebeshändeln und Komplotten, die gegenwärtig vor sich gehen“, fuhr er fort. „Wir sind in den letzten sechs Monaten auf Minen gewandelt, und jetzt sind sie endlich in die Luft geflogen.“

„Was meinst du damit?“ rief Mr. Pickwick erbleichend. „Hoffentlich doch keine zweite heimliche Heirat?“

„Nein, nein“, erwiderte der alte Wardle, „so schlimm steht’s nicht.“

„Aber was ist’s denn? So sprich doch! Bin ich vielleicht auch darein verwickelt?“

„Soll ich die Frage beantworten, Perker?“ fragte Wardle.

„Wenn Sie sich nicht dadurch kompromittieren, mein lieber Herr.“

„Na, also gut. – Ja, allerdings.“

„Wieso?“ fragte Mr. Pickwick ängstlich. „Inwiefern?“

„Weißt du“, erwiderte Wardle, „du bist ein so hitzköpfiges junges Blut, daß ich mich beinah fürchte, es dir zu sagen; doch wenn Perker sich zwischen uns setzt, um Unheil zu verhüten, so will ich es wagen. – Also die Sache ist die. Meine Tochter Bella – du weißt doch – die den jungen Trundle geheiratet hat?“

„Jaja, das wissen wir alles“, sagte Mr. Pickwick ungeduldig.

„Mache mir nur nicht gleich im Anfang angst, hörst du? Also meine Tochter Bella setzte sich, nachdem Emilie, die mir Arabellas Brief vorgelesen, mit Kopfschmerzen zu Bett gegangen war, vorgestern abend an meine Seite und ring an, von dieser Heiratsgeschichte zu sprechen. ,Nun, lieber Papa‘, sagte sie, ,was hältst du von der Sache?‘ – ,Ei, liebes Kind‘, antwortete ich, ,ich denke, es kann noch ganz gut werden; ich hoffe das Beste.‘ Ich antwortete so, weil ich gerade vor dem Feuer saß, etwas gedankenvoll meinen Grog trank und wußte, daß sie weitersprechen würde, wenn ich nur dann und wann, ein Wort dazwischenwürfe. Meine Mädchen sind beide die getreuen Abbilder ihrer seligen Mutter, und jetzt, wo ich alt werde, sitze ich gerne bei ihnen, und ihre Stimmen und ihre Blicke führen mich in die glücklichste Periode meines Lebens zurück und machen midi für den Augenblick wieder so jung, wie ich damals war, wenn auch nicht wieder so leichtfüßig. ,Es ist eine Neigungsheirat‘, sagte Bella nach einer Pause. Ja, liebes Kind‘, erwiderte ich, ,allein solche Ehen sind nicht immer die glücklichsten.'“

„Das bestreite ich“, fiel Mr. Pickwick mit Wärme ein.

„Na ja“, antwortete Wardle, „bestreite, was du willst, aber laß mich doch nur ausreden.“

„Pardon.“

„Na gut“, fuhr Wardle fort. „,Es tut mir leid, daß du gegen Neigungsheiraten bist, Papa‘, sagte Bella und verfärbte sich ein wenig. ,Ich hatte unrecht, ich hätte das nicht sagen sollen, liebes Kind‘, antwortete ich und tätschelte sie so freundlich auf die Wange, wie es ein altes Rauhbein wie ich nur tun kann, ,deine Mutter hat ja auch aus Neigung geheiratet, und du ebenfalls.‘ – ,Das meinte ich eigentlich nicht, Papa‘, drückte Bella herum. ,Ich – ich – ich wollte eigentlich mit dir über Emilie sprechen.'“

Mr. Pickwick erschrak.

„Na, was ist denn?“ fragte Wardle und hielt in seiner Erzählung inne.

„Nichts, nichts“, erwiderte Mr. Pickwick, „bitte, fahre nur fort.“

„Ich habe nie eine Geschichte gehörig von Anfang an erzählen können“, sagte Wardle. „Früher oder später muß es doch heraus, und wenn es auf einmal kommt, erspart man viel Zeit. Also kurz und gut: Bella faßte sich endlich ein Herz und gestand mir, Emilie sei höchst unglücklich; sie und dein junger Freund Snodgraß hätten seit Weihnachten in fortwährendem Briefwechsel miteinander gestanden, und sie habe pflichtgetreu beschlossen, in lobenswerter Nachahmung des Beispiels ihrer alten Schulfreundin, davonzulaufen. Inzwischen habe sie jedoch Gewissensbisse empfunden, da ich von jeher gut zu ihr gewesen sei, und so wäre denn beschlossen worden, mir die Ehre zu erweisen, mich zu fragen, ob ich nichts dagegen einzuwenden habe, daß sie einander auf die gewöhnliche alltägliche Art heiraten. So stehen die Sachen, und wenn es dir möglich ist, lieber Pickwick, deine Augen wieder auf die normale Größe zu reduzieren und mir dann einen guten Rat zu erteilen, so werde ich mich dir sehr verpflichtet fühlen.“

Der etwas wunderliche Schluß des guten alten Herrn war ziemlich berechtigt, denn Mr. Pickwicks Gesicht hatte einen seltenen Grad von Verwunderung und Erstaunen angenommen.

„Snodgraß? – Seit Weihnachten?“ waren die ersten Worte, die über seine Lippen kamen.

„Allerdings. Seit Weihnachten. Und wir müssen sehr schlechte Brillen aufgehabt haben, daß wir nicht schon früher etwas gemerkt haben.“ „Es ist mir rein unbegreiflich“, meinte Mr. Pickwick nachdenklich, „rein unbegreiflich.“

„Die Sache ist nicht so unbegreiflich“, erwiderte der alte Herr. „Wärest du jünger, wüßtest du sie wahrscheinlich längst, und außerdem“, fügte Mr. Wardle nach einem kurzen Zögern hinzu, „muß ich gestehen, daß ich seit den letzten vier oder fünf Monaten Emilie einigermaßen gedrängt habe, die Bewerbungen eines jungen Mannes unserer Nachbarschaft anzunehmen, selbstverständlich nur, wenn sie ihn glaubte lieben zu können, denn ich würde meine Tochter nie zu einer Ehe gezwungen haben. Ich zweifle nicht, daß sie nach Mädchenart, um ihren eigenen Wert zu erhöhen und das Liebesfeuer des Mr. Snodgraß noch mehr anzuschüren, ihm die Sachen in den glühendsten Farben vorgestellt hat, und daß sie auf diesem Wege zu dem Entschluß gelangt sind, sie seien schrecklich verfolgte unglückliche Menschenkinder, denen gar nichts mehr übrigbliebe, als heimlich zu heiraten oder sich mit Kohlengas umzubringen. – Jetzt fragt es sich also bloß, was ist zu tun?“

„Was hast du denn getan?“ fragte Mr. Pickwick.

„Ich?“

„Ja, ich meine, was du getan hast, als deine verheiratete Tochter dir diese Mitteilung machte.“

„Na, natürlich einen dummen Streich.“

„Das glaube ich“, fiel Perker ein, der dieses Zwiegespräch mit wiederholtem Zupfen an .seiner Uhrkette, grimmigem Reiben seiner Nase und andern Symptomen von Ungeduld begleitet hatte. – „Das ist ganz natürlich; aber erklären Sie sich näher.“

„Ich geriet so in Zorn, daß meine Mutter vor lauter Angst einen Krampfanfall bekam.“

„Das war sehr gescheit“, bemerkte Perker. „Und was weiter, mein lieber Herr?“

„Ich tobte den ganzen folgenden Tag und machte gewaltigen Lärm im Haus. Schließlich wurde es mir aber zu dumm, mich und andre zu ärgern, und ich nahm daher in Muggleton einen Wagen, spannte meine eigenen Pferde davor und fuhr unter dem Vorwand, Emilie sollte Arabella besuchen, nach London.“

„Emilie ist also auch hier?“ fragte Mr. Pickwick.

„Freilich“, erwiderte Wardle, „und zwar in ,Osbornes Hotel‘ in Adelphi, wenn nicht dein unternehmender Freund diesen Morgen mit ihr davongelaufen ist, während wir hier schwatzen.“

„Sie sind also wieder versöhnt?“ fragte Perker.

„Nicht die Spur. Sie hat die ganze Zeit über Gesichter geschnitten und geweint, ausgenommen gestern abend zwischen dem Tee und dem Abendessen, wo sie sehr ostentativ einen Brief schrieb, was ich aber natürlich nicht bemerkte.“

„Sie wünschen also wohl meinen Rat in dieser Sache zu hören?“ fragte Perker und nahm schnell hintereinander mehrere Prisen von seinem Lieblingsstimulans.

„Na ja – was meinst du?“ sagte Mr. Wardle und blickte Mr. Pickwick fragend an.

„Nun gut“, sagte Perker, stand auf und schob seinen Stuhl zurück, „mein Rat ist der, daß Sie beide jetzt miteinander fortgehen oder –fahren oder sich auf irgendeine Art fortmachen und die Sache zusammen überlegen, denn ich bin Ihrer ein bißchen müde. Haben Sie, bis wir uns das nächste Mal wiedersehen, einen Entschluß gefaßt, so will ich sagen, was zu tun ist.“

„Wahrhaftig, ein köstlicher Rat!“ versetzte Wardle, der nicht recht wußte, ob er lächeln oder beleidigt sein sollte.

„Ach was, mein lieber Herr“, erwiderte Perker, „ich kenne Sie beide besser, als Sie sich selbst. Sie haben Ihren Entschluß ja doch innerlich schon gefaßt.“

Dabei stieß der kleine Anwalt seine Schnupftabaksdose zuerst Mr. Pickwick auf die Brust und dann Mr. Wardle gegen die Weste, und dann lachten alle drei und schüttelten sich ohne besonderen Grund unaufhörlich die Hände.

„Sie speisen doch mit mir zu Mittag?“ fragte Wardle Mr. Perker, als sie zusammen hinausgingen.

„Kann’s nicht versprechen, mein lieber Herr, kann’s nicht versprechen“, erwiderte Perker. „Indes werde ich mich jedenfalls abends für ein paar Minuten einstellen.“

„Also gut, ich erwarte Sie um fünf Uhr“, sagte Wardle. „Hallo, Joe!“

Nachdem Joe glücklich aufgerüttelt war, fuhren die beiden Freunde in den „Georg und Geier“. Arabella war, als sie von Emiliens Ankunft in London erfahren, schnurstracks nach Adelphi gefahren, und da Mr. Wardle Geschäfte in der City hatte, schickte er den Wagen mit dem fetten Burschen in sein Hotel und ließ sagen, daß er und Mr. Pickwick um fünf Uhr mitsammen zum Mittagessen kommen würden.

Sei es nun, daß die Stöße des Wagens auf dem holprigen Pflaster die Geisteskräfte des fetten Jungen verwirrt oder eine solche Menge neuer Ideen in ihm erweckt hatten, daß er die gewöhnlichen Umgangsformen darüber vergaß, oder daß sie sein Einschlafen beim Ersteigen der Treppen nicht zu verhindern vermocht hatten, soviel ist gewiß, daß er, ohne vorher anzuklopfen, direkt ins Besuchszimmer trat und daselbst einen Gentleman erblickte, der seinen Arm um den Leib der Tochter seines Gebieters geschlungen hielt und sehr verliebt neben ihr auf einem Sofa saß, indes Arabella und ihr hübsches Dienstmädchen sich stellten, als ob sie interessiert zum Fenster hinaussähen. Beim Anblick dieses Phänomens stieß der fette Bursche einen Ruf der Verwunderung aus, die Damen schrien laut auf und der Herr fluchte. – Alles zu gleicher Zeit. „Du Tölpel, was willst du hier?“ rief der Herr, der natürlich Mr. Snodgraß war.

Der fette Junge war vor Schrecken völlig sprachlos und starrte nur Emilie an.

„Was willst du denn von mir, du dummer Kerl?“ fragte Emilie und wendete das Gesicht ab.

„Der Herr und Mr. Pickwick kommen um fünf Uhr zum Essen“, stotterte der fette Bursche.

„Mach, daß du hinauskommst“, rief Mr. Snodgraß mit wildem Blick.

„Nein, nein!“ fiel Emilie hastig ein. „Rate mir doch, liebe Bella.“

Emilie, Mr. Snodgraß, Arabella und Mary steckten sodann die Köpfe zusammen und flüsterten mehrere Minuten lang eifrig miteinander.

„Joe“, sagte Arabella endlich und wendete sich mit ihrem bezauberndsten Lächeln an den fetten Jungen, „wie geht es dir, Joe?“

„Joe“, lobte Emilie, „du bist wirklich ein ganz vortrefflicher Junge.“

„Ach, du bist’s, Joe“, rief Mr. Snodgraß, „ich habe dich vorhin gar nicht erkannt. Da hast du fünf Schilling, Joe.“

„Und von mir auch fünf“, sagte Arabella, „du weißt, weil wir alte Bekannte sind.“ Und wieder verschwendete sie ein berückendes Lächeln an den beleibten Eindringling.

Da die Fassungskraft des fetten Jungen etwas langsam war, machte er bei den unerwarteten Gunstbezeigungen ein höchst verdutztes Gesicht und stierte auf eine wirklich beunruhigende Weise um sich. Endlich begann sein dickes Gesicht Symptome eines Grinsens von verhältnismäßig breiten Dimensionen zu zeigen; er versenkte in jede seiner beiden Seitentaschen eine halbe Krone und brach in ein fettes Glucksen aus. „Ich sehe schon, er versteht uns!“ sagte Arabella.

„Er muß sogleich etwas zu essen bekommen“, bemerkte Emilie besorgt.

„Ich will mit Ihnen zu Mittag essen, Sir, wenn Sie nichts dagegen haben“, sagte Mary.

„Jaja, kommen Sie“, grinste der fette Bursche vergnügt. „Es ist ganz famose Fleischpastete da.“ Mit diesen Worten ging er mit ihr animiert die Treppe hinunter.

Die Fleischpastete, von der Joe so gefühlvoll gesprochen, stand auf dem Tisch, samt einem Stück Roastbeef, einer Schüssel Kartoffeln und einem Krug Porter. – Beide setzten sich.

„Wollen Sie auch etwas?“ fragte der fette Junge und versenkte Messer und Gabel bis ans Heft in die Pastete.

„Ein bißchen, wenn ich bitten darf“, erwiderte Mary.

Joe legte Mary eine kleine, sich selbst aber eine sehr große Portion vor und war eben im Begriff, mit dem Essen zu beginnen, als er auf einmal Messer und Gabel niederlegte, sich in seinem Stuhl vorwärtsbeugte und sehr langsam sagte:

„Herrschaft, wie hübsch Sie sind!“

„Aber Mr. Joseph“, zierte sich Mary und stellte sich, als ob sie errötete. „Aber gehen Sie.“

Der fette Junge, der allmählich seine frühere Stellung wieder eingenommen hatte, antwortete nur mit einem tiefen Seufzer, blieb einige Augenblicke in Gedanken versunken und tat dann einen langen Zug aus dem Porterkruge. Dann seufzte er wieder und machte sich mit großem Eifer über die Pastete her.

„Was für eine feine nette junge Dame doch Miß Emilie ist!“ begann Mary nach langem Schweigen.

Der fette Junge war indessen mit der Pastete fertig geworden. Er heftete seine Augen auf Mary und erwiderte:

„Ich kenne noch eine nettere.“

„Wirklich?“

„Ja, wirklich“, erwiderte der fette Junge mit ungewohnter Lebhaftigkeit.

„Wie heißt sie denn?“

„Wie heißen Sie?“

„Mary.“

„So heißt sie auch“, sagte der fette Junge. „Sie sind es selbst.“

Dabei grinste er, um seinem Kompliment mehr Nachdruck zu geben, und verdrehte seine Augen auf eine höchst wunderliche Art, was wahrscheinlich ein Liebäugeln bedeuten sollte.

„Aber gehen Sie, Sie Schlimmer“, sagte Mary. „Es ist Ihnen ja doch nicht Ernst.“

„So? Meinen Sie?“ erwiderte der fette Bursche. „Ich sage Ihnen …“

„Nun?“

„Kommen Sie gewöhnlich hierher?“

„Nein“, antwortete Mary und schüttelte den Kopf. „Ich gehe noch heute abend wieder fort. – Aber warum?“

„Oh!“ rief Joe gefühlvoll. „Was für eine angenehme Gesellschaft hätten wir beim Essen aneinander gehabt, wenn Sie dageblieben wären!“

„Vielleicht komme ich hie und da, um nach Ihnen zu sehen“, sagte Mary und legte mit erkünstelter Sprödigkeit ihre Serviette zusammen. „Aber Sie müssen mir einen Gefallen tun.“

Der fette Junge blickte von der Pastetenschüssel auf das Roastbeef, offenbar in dem Glauben, eine Gefälligkeit müsse unbedingt etwas mit Essen zu tun haben, zog dann eine seiner beiden halben Kronen heraus und schaute sie mit großem Behagen an.

„Verstehen Sie, was ich meine?“ fragte Mary mit einem koketten Blick.

Abermals betrachtete Joe seine halbe Krone und sagte mit schwacher Stimme:

„Nein.“

„Die Damen bitten Sie, Mr. Wardle nichts von dem jungen Herrn zu sagen, der oben war, und ich bitte Sie auch darum.“

„Ist das alles?“ fragte der fette Junge und schob erleichtert das Geldstück wieder ein. „Ich will gewiß nichts sagen.“

„Wissen Sie“, fuhr Mary fort, „Mr. Snodgraß ist sehr verliebt in Miß Emilie, und Miß Emilie in ihn, und wenn Sie etwas davon ausplauderten, würde der alte Herr sie viele Meilen weit in eine Gegend fortschaffen, wo sie einander niemals wieder zu Gesicht bekämen.“

„Nein, nein, ich sag gewiß nichts“, beteuerte der fette Junge.

„So ist’s recht“, lobte Mary. „Jetzt muß ich aber nach oben gehen und meine Herrschaft zum Diner ankleiden helfen.“

„Ach, bleiben Sie doch noch ein bissel!“ drängte der fette Junge.

„Ich muß“, erwiderte Mary. „Adje. Auf Wiedersehen!“ Mit Elefantengrazie streckte der fette Junge seine Arme aus, um ihr einen Kuß zu rauben; da es aber keiner großen Gewandtheit bedurfte, ihm auszuweichen, so war seine schöne Herzensbezwingerin verschwunden, ehe er sie wieder sinken ließ, worauf er voll Gleichmut noch ein Pfund Roastbeef mit sentimentalem Gesicht verzehrte und dann fest einschlief.

Die jungen Leute oben hatten sich noch so viel zu sagen, und es waren so viele Flucht- und heimliche Trauungspläne zu besprechen, falls der alte Wardle bei seiner Grausamkeit verharren sollte, daß Mr. Snodgraß erst eine halbe Stunde vor dem Mittagessen zum letzten Male Abschied nahm. Die Damen eilten in Emiliens Schlafzimmer, um Toilette zu machen, und der verliebte Pickwickier nahm seinen Hut und entfernte sich. Kaum war er zur Tür hinaus, als er die laute Stimme Mr. Wardles vernahm und ihn vom Geländer herab in Begleitung einiger andrer Herren die Treppe heraufkommen sah.

Da Mr. Snodgraß im Hause unbekannt war, eilte er in seiner Verwirrung in das eben verlassene Zimmer zurück, ging von da in ein zweites (Mr. Wardles Schlafgemach) und schloß behutsam die Tür gerade in dem Augenblick, als die Herren, die er hatte kommen sehen, ins Wohnzimmer traten. Es waren die Herren Wardle, Pickwick, Nathaniel Winkle und Benjamin Allen.

Ein Glück, daß ich Geistesgegenwart genug besaß, ihnen auszuweichen, sagte sich Mr. Snodgraß freudig lächelnd und schlich sich auf den Zehen zu der zweiten Tür neben dem Bett. Diese da führt ebenfalls auf den Gang hinaus und ich kann mich jetzt in aller Ruhe aus dem Staube machen. Diesem ruhigen Sich-aus-dem-Staube-Machen stellte sich aber nur ein einziges Hindernis in den Weg, nämlich, daß die Tür verschlossen und der Schlüssel abgezogen war.

„Geben Sie uns heute von Ihren besten Weinen“, hörte man nebenan den alten Wardle rufen. „Und lassen Sie die Damen wissen, daß wir hier sind, Kellner.“

„Sehr wohl, Sir.“

Sehnlichst wünschte sich Mr. Snodgraß, die Damen hätten eine Ahnung, daß auch er hier sei. Er wagte es ein einziges Mal, durch das Schlüsselloch flüsternd, „Kellner!“ zu rufen; aber nur ein einziges Mal, denn es –drängte sich ihm die Befürchtung auf, ein falscher Kellner könne ihm zu Hilfe kommen und es ihm dann so ähnlich gehen, wie einem Gentleman, der erst vor kurzem in einem benachbarten Hotel in ähnlicher Lage angetroffen worden war und über dessen Mißgeschick die heutigen Morgenblätter unter der Rubrik „Polizeiangelegenheiten“ ausführlich berichtet hatten. Er ließ sich daher, am ganzen Leibe zitternd, lieber auf einem Mantelsack nieder.

„Wir wollen nicht erst auf Perker warten“, sagte Wardle nebenan und sah auf die Uhr. „Er ist immer pünktlich. Wenn er kommen will, so kommt er rechtzeitig, und wenn nicht, so hilft auch das Warten nichts. – Hallo, Arabella!“

„Ah, meine Schwester!“ rief Mr. Benjamin Allen und schloß die junge Mrs. Winkle theatralisch in seine Arme.

„Aber, lieber Ben, wie du wieder nach Tabak riechst!“ sagte Arabella. „Du erdrückst mich ja.“

„Wirklich?“ sagte Mr. Benjamin Allen. „Rieche ich so nach Tabak, Bella? Na ja, es könnte ja sein.“

Natürlich konnte es sein, denn er hatte soeben noch mit zwölf jungen Chirurgiebeflissenen in einem kleinen Hinterstübchen eine lustige kleine Rauchsitzung abgehalten.

„Ich bin entzückt, dich zu sehen. Grüß dich Gott, Bella.“

„Da!“ sagte Arabella und beugte sich vor, um ihren Bruder zu küssen. „Aber halt mich nur nicht so fest, lieber Ben, du bringst ja meine Kleider ganz in Unordnung.“

„Na, und mir hat man gar nichts zu sagen?“ rief Wardle mit offenen Armen.

„Oh, sehr viel“, flüsterte Arabella, als sie die Liebkosungen und herzlichen Glückwünsche des alten Herrn über sich ergehen ließ. „Sie sind ein hartherziges, gefühlloses, grausames Ungeheuer!“

„Und Sie eine kleine Rebellin“, erwiderte Wardle in demselben Ton, „ich fürchte sehr, ich werde mich genötigt sehen, Ihnen das Haus zu verbieten. Leute wie Sie, die allen zum Trotz heiraten, sollte man nicht auf die Gesellschaft loslassen. Aber kommen Sie“, fügte der alte Herr lauter hinzu, „es wird serviert, Sie müssen neben mir sitzen. – Joe! Was zum Teufel, der Bursche ist wach?!“

Zur großen Verwunderung der Anwesenden war der fette Junge tatsächlich in einem Zustand merkwürdigen Wachseins; seine Augen standen weit offen und sahen aus, als ob sie es vorläufig sogar bleiben sollten. In seinem ganzen Wesen lag eine rein unerklärliche Munterkeit; sooft seine Blicke denen Emiliens oder Arabellas begegneten, schmunzelte und grinste er, und einmal hätte Mr. Wardle sogar darauf schwören mögen, er habe ihn zwinkern sehen.

Die Veränderung in Joes Benehmen kam natürlich daher, daß er sich seiner Wichtigkeit und der Ehre, von den jungen Damen ins Vertrauen gezogen worden zu sein, mit Stolz bewußt war, und sein fortwährendes Schmunzeln, Grinsen und Blinzeln war daher bloß eine herablassende Versicherung, daß sie auf seine Treue bauen könnten. Da indes diese Zeichen mehr geeignet waren, Verdacht zu erwecken als zu beschwichtigen, und überdies Verlegenheiten herbeiführen konnten, so erwiderte sie Arabella gelegentlich mit einem Stirnrunzeln oder Kopfschütteln, was der fette Junge als Winke betrachtete, er solle auf seiner Hut sein, weshalb er nun begann, mit verdoppeltem Eifer durch Schmunzeln, Grinsen und Blinzeln anzudeuten, daß er sie vollkommen verstehe.

„Joe“, sagte Mr. Wardle nach einer erfolglosen Durchsuchung aller seiner Taschen, „sieh mal nach, liegt meine Dose nicht auf dem Sofa?“ „Nein, Sir“, erwiderte der fette Junge.

„Ah! Ich erinnere mich, ich habe sie heute früh auf dem Waschtisch liegenlassen“, sagte Wardle. „Geh ins Zimmer nebenan und hole sie.“

Der fette Junge ging und kam etwa nach einer Minute mit der Dose und totenbleichem Gesicht zurück.

„Zum Donnerwetter, was hat denn der Bursche!“ rief Wardle.

„N–nichts“, stammelte Joe, am ganzen Leibe zitternd.

„Hast du vielleicht einen Geist gesehen?“ fragte der alte Herr.

„Oder einen genossen?“ fügte Ben Allen hinzu.

„Jaja, Sie werden recht haben“, rief Wardle über den Tisch hinüber. „Natürlich. Er ist betrunken.“

Ben Allen erwiderte, er glaube das bestimmt, und da er als Fachmann schon viele solche Krankheitsfälle gesehen haben mußte, bestärkte dies Mr. Wardle natürlich in seiner Meinung, die sich ihm schon seit einer halben Stunde aufgedrängt hatte.

Der unglückliche Jüngling war aber durchaus nicht betrunken, sondern hatte nur ein Dutzend Worte mit Mr. Snodgraß gewechselt, der ihn beschworen, durch irgend jemand seine Erlösung zu bewerkstelligen, und ihn dann mit der Dose hinausgestoßen hatte, damit seine lange Abwesenheit nicht auffalle. Er besann sich ein wenig mit verstörter Miene und verließ dann das Zimmer, um Mary aufzusuchen.

Zum Unglück aber war Mary, nachdem sie ihrer Gebieterin beim Ankleiden geholfen, fortgegangen, und Joe kam daher, womöglich noch verstörter als vorher, zurück.

Wardle und Ben Allen wechselten einen Blick.

„Joe!“

„Hier, Sir.“

„Warum bist du soeben hinausgegangen?“

Der fette Junge stierte hoffnungslos alle am Tische Sitzenden der Reihe nach an und stammelte endlich, er wisse es selbst nicht. „So, so“, sagte Wardle, „du weißt es selbst nicht? Reiche mal Mr. Pickwick den Käse.“

Mr. Pickwick strahlte gerade in rosenfarbigster Laune, er war das ganze Essen über sehr vergnügt gewesen und unterhielt sich soeben sehr lebhaft mit Emilie und Mr. Winkle. Im Eifer des Gesprächs hatte er das Haupt lauschend vorgebeugt, agierte ein wenig mit seiner linken Hand, um seinen Bemerkungen gehörigen Nachdruck zu verleihen, und glühte geradezu vor stiller Wonne. Er nahm ein Stückchen Käse vom Teller und war eben im Begriff, seine Rede wieder fortzusetzen, als der fette Junge ihn heftig anstieß, mit dem Daumen über die Schulter deutete und das schauderhafteste Gesicht schnitt, das man je außerhalb einer Pantomime gesehen.

„Mein Gott!“ sagte Mr. Pickwick erschrocken. „Was? – Wie?“

Er hielt inne, denn der fette Junge hatte sich wieder emporgerichtet und schlief entweder wirklich oder stellte sich wenigstens so.

„Was gibt’s denn?“ fragte Wardle.

„Ihr Bedienter ist wirklich ein ganz sonderbarer Kauz“, erwiderte Mr. Pickwick mit einem unruhigen Blick auf den Burschen. „Man soll so etwas zwar nicht sagen, aber auf mein Wort, ich fürchte, er hat zuweilen einen kleinen Sparren.“

„Oh, Mr. Pickwick, bitte, sagen Sie das nicht“, riefen Emilie und Arabella wie aus einem Munde.

„Ich kann es natürlich nicht mit Gewißheit behaupten“, entschuldigte sich Mr. Pickwick inmitten der allgemeinen Stille, „aber sein Benehmen in diesem Augenblick war wirklich sehr beunruhigend. – Au!“ schrie er plötzlich laut auf und sprang vom Sessel empor. „Ich bitte um Verzeihung, meine Damen, aber er hat mich gerade wieder mit einem spitzigen Instrument ins Bein gestochen. Er ist wahrhaftig nicht recht bei Trost.“

„Nein, betrunken ist er“, brüllte der alte Wardle ingrimmig. „Winkle, klingeln Sie, rufen Sie die Kellner; er ist betrunken.“

„Nein, ich bin es gewiß nicht“, jammerte der fette Junge und fiel auf die Knie, als sein Herr ihn am Kragen packte. „Ich bin gewiß nicht betrunken.“

„Dann bist du toll, und das ist noch schlimmer. Rufen Sie die Kellner.“

„Nein, ich bin nicht toll, ich bin ganz vernünftig“, beteuerte Joe und fing an zu heulen.

„Was, zum Teufel, stichst du denn dann Mr. Pickwick scharfe Instrumente ins Bein?“ fragte Wardle zornig.

„Er wollte mich nicht ansehen und ich hätt ihm gern was gesagt“, schluchzte der Bursche.

„Was hättest du ihm gern gesagt?“ fragten ein halbes Dutzend Stimmen zugleich.

Der fette Junge stöhnte, blickte nach der Tür des Schlafzimmers, stöhnte wieder und wischte sich mit den Fingerknöcheln die Tränen aus den Augen.

„Was wolltest du sagen?“ fragte Wardle unerbittlich und schüttelte ihn.

„Halt!“ mischte sich Mr. Pickwick ein. „Erlaube mal. Was wolltest du mir mitteilen, armer Bursche?“

„Ich wollte Ihnen was ins Ohr flüstern“, erwiderte der fette Junge.

„Du wolltest ihm wahrscheinlich das Ohr abbeißen“, sagte Wardle. „Gehe nicht zu nahe an ihn heran, Pickwick, er ist toll; klingeln Sie, Winkle, der Kellner soll ihn fortführen.“

Eben faßte Mr. Winkle die Klingelschnur, da wurde er durch einen allgemeinen Ausruf des Erstaunens daran gehindert, denn plötzlich trat mit einem vor Beschämung glühenden Gesicht der gefangene Liebhaber aus dem Schlafzimmer und verbeugte sich vor der ganzen Gesellschaft.

„Hallo!“ rief Wardle, ließ den Kragen des fetten Jungen los und taumelte zurück. „Was ist das?“

„Ich befand mich seit Ihrer Rückkehr im Zimmer daneben versteckt, Sir“, erklärte Mr. Snodgraß.

„Aber, Emilie! Kind!“ sagte Wardle in vorwurfsvollem Ton. „Du weißt, ich verabscheue Hinterlist und Betrug, und dies hier ist im höchsten Grade unzart und einfach unentschuldbar. Das habe ich wirklich nicht um dich verdient, Emilie.“

„Liebster, guter Papa!“ schluchzte Emilie. „Arabella weiß es – jedermann hier weiß es – Joe weiß es, daß ich dabei die Hand nicht im Spiele gehabt habe. August, erkläre um Himmels willen, wie das zuging.“

Mr. Snodgraß, der nur auf die Gelegenheit, Gehör zu finden, gewartet hatte, erzählte sogleich mit größter Geläufigkeit, wie er in diese peinliche Lage geraten sei – wie die Besorgnis, häusliche Zwistigkeiten zu veranlassen, ihn allein bewogen habe, Mr. Wardle bei seiner Ankunft auszuweichen, und wie er durch eine andre Tür entwischen zu können geglaubt, diese aber verschlossen gefunden habe und dadurch genötigt gewesen sei, gegen seinen Willen zu bleiben. Seine Lage sei peinlich gewesen, indes bedaure er sie jetzt keineswegs, da sie ihm jetzt Gelegenheit gebe, hier, vor Freunden, das Bekenntnis abzulegen, daß er Mr. Wardles Tochter aus tiefstem Herzen und aufrichtig liebe und stolz darauf sei, sagen zu können, daß seine Empfindungen erwidert werden, und daß er, wenn auch Tausende von Meilen zwischen ihnen lägen oder ganze Ozeane, er doch keinen Augenblick die seligen Tage vergessen könnte, wo er zum .erstenmal – und so weiter, und so weiter. Nach dieser Erklärung verbeugte sich Mr. Snodgraß abermals, schaute in seinen Hut und schritt zur Tür.

„Halt!“ rief Wardle. „Bei allem, was …“

„Entzündbar ist“, fiel Mr. Pickwick aufatmend ein, denn er hatte gefürchtet, es werde etwas Schlimmeres kommen. „Nun gut – bei allem, was entzündbar ist“, wiederholte Wardle. „Warum haben Sie mir nicht das alles schon früher gesagt?“

„Oder sich mir anvertraut?“ fügte Mr. Pickwick hinzu.

„Du lieber Gott“, sagte Arabella, die Verteidigung übernehmend, „was nützt all das Gefrage, wo man doch weiß, daß Sie Ihr habgieriges altes Herz an einen reicheren Schwiegersohn gehängt haben und überdies so wild und bärbeißig sind, daß jedermann vor Ihnen Angst hat, nur ich nicht. Geben Sie ihm die Hand, und lassen Sie ihm um Gottes Barmherzigkeit willen etwas zu essen kommen. Er sieht ja halb verhungert aus, und dann bestellen Sie schon endlich einmal Ihre Weine, denn Sie werden ja doch nicht eher erträglich, als bis Sie zum mindesten zwei Flaschen getrunken haben.“

Der würdige alte Herr zupfte Arabella am Ohr, küßte sie auch ohne weitere Umstände, küßte auch seine Tochter mit vieler Zärtlichkeit und schüttelte dann Mr. Snodgraß herzlich die Hand.

„In einem Punkt hat sie jedenfalls recht“, sagte er vergnügt. „Pickwick, läute, daß der Wein gebracht wird.“

Der Wein kam, und in demselben Augenblick trat Perker ein. Mr. Snodgraß bekam an einem Nebentisch noch schnell etwas zu essen, und als er damit fertig war, rückte er ohne die mindeste Einwendung des alten Herrn seinen Stuhl dicht neben Emilie.

Der Abend wurde großartig. Der kleine Mr. Perker ging prachtvoll aus sich heraus, erzählte viele komische Geschichten und sang ein ernstes Lied, wobei er noch humoristischer wirkte als bei seinen Anekdoten. Arabellas Charme blühte voll auf, Mr. Wardle wurde sehr jovial, Mr. Pickwick vermittelte nach allen Seiten, Mr. Ben Allen war der Lauteste von allen und Mr. Winkle wurde ungewöhnlich gesprächig. Nur die Liebenden blieben stumm: Alle waren glücklich.

Einundvierzigstes Kapitel


Einundvierzigstes Kapitel

Zeigt, wie Mr. Samuel Weller ins Unglück kommt.

In einem hohen, schlecht erleuchteten und noch schlechter gelüfteten Zimmer in der Portugalstreet, Lincolns Inn Fields, sitzen jahraus und jahrein, wie es der Zufall mit sich bringt, ein, zwei, drei oder vier perückte Herren hinter kleinen Schreibpulten, wie sie gewöhnlich die Richter auf dem Lande besitzen, die keinen Sinn für französischen Geschmack haben. Zu ihrer Rechten sieht man eine Box für die Advokaten, zu ihrer Linken eine Abteilung für die Insolventen und vor ihnen eine geneigte Ebene von Schmutzgesichtern. Diese Herren sind die Kommissäre des Insolvenzgerichtshofes, und der Ort, an dem sie ihre Sitzungen abhalten, ist der Insolvenzgerichtshof.

Dieser Gerichtshof hat und hatte schon seit undenklichen Zeiten das Schicksal, von der ganzen Sippschaft schäbig-eleganter Bankerotteure als gemeinschaftlicher Sammelpunkt und tägliches Stelldichein angesehen zu werden. Er ist immer voll. Der Bier- und Branntweindunst steigt unaufhörlich zur Decke empor und träufelt, von der Wärme verdichtet, gleich Tau an den Wänden herab. Hier sieht man an einem Tage mehr alte Trachten, als im ganzen Houndsditch in einem Jahre feilgeboten werden, und mehr ungewaschene Gesichter und schmutzige Barte, als alle Brunnen und Barbierstuben zwischen Tyburn und Whitechapel vom Aufgang bis zum Untergang der Sonne zu reinigen imstande wären.

Nicht etwa, als habe irgendeiner von diesen Besuchern auch nur ein Jota von Geschäft hier abzuwickeln. Wäre dies der Fall, so hätte die Sache durchaus nichts Wunderbares an sich. Einige schlafen den größten Teil der Sitzung hindurch; andre führen kleine tragbare Diners bei sich, die entweder in Taschentücher eingewickelt sind oder aus ihren abgenutzten Taschen hervorragen, und kauen und horchen mit gleicher Lust; aber noch keinen hat man gesehen, der auch nur das entfernteste persönliche Interesse an einem Fall gehabt hätte, der je vorgebracht wurde. Was sie immer auch zu tun unternehmen, hier sitzen sie vom ersten Augenblick an bis zum letzten. Bei starkem Regenwetter kommen sie ganz durchnäßt, und dann dunstet es im Gerichtssaal wie in einer Pilzgrube.

Wer zufälligerweise hineingerät, könnte diesen Ort für einen dem Genius des Unflats geheiligten Tempel halten. Im ganzen Hause sieht man keinen Gerichtsboten, der einen ihm auf den Leib zugeschnittenen, Rock trüge, kein Gesicht, das auch nur einen Anstrich von Lebensfrische und Gesundheit hätte, außer einem kleinen rotbackigen Gerichtsdiener mit weißen Haaren, und sogar dieser scheint wie eine wurmdurchnagte Kirsche, die in Weingeist aufbewahrt wird, das gute Aussehen, auf das er von Natur keinen Anspruch hatte, der Hand der Kunst zu verdanken. Selbst die Advokatenperücken sind schlecht gepudert, und ihre Locken schmachten nach dem Haarkräusler.

Die Anwälte, die an einem großen, nackten Tische unter den Kommissären sitzen, sind jedenfalls die größten Merkwürdigkeiten. Die berufliche Ausstattung der Wohlhabenderen dieser Herren besteht in einem blauen Aktenbeutel und einem Jungen, der gewöhnlich auf den Glauben der Hebräer eingeschworen ist. Sie haben keine bestimmten Kanzleien, denn ihre Rechtsgeschäfte werden in den Wirtshäusern und in den Gefängnishöfen abgewickelt, in die sie sich scharenweise eindrängen und wo sie sich auf die den Omnibusjungen eigne Weise nach Kunden umsehen. Ihr Äußeres ist schmutzig und mit Staub bedeckt, und wenn ihnen überhaupt Laster zugeschrieben werden können, so ist vielleicht der Hang zum Trinken und Betrügen das hervorragendste. Ihre Wohnungen haben sie meist in den Vorstädten der sogenannten Rules, die hauptsächlich im Umkreis von einer Meile um den Obelisk in St. Georg Fields herum liegen. Ihre Gesichter sind nicht einnehmend und ihre Manieren befremdlich.

Mr. Salomo Pell, einer von dieser gelehrten Körperschaft, war ein fetter Mann mit einem blassen, welken Gesicht und trug einen Oberrock, der bald grün und bald braun schimmerte, mit einem Samtkragen von denselben Chamäleonsfarben. Seine Stirn war schmal, sein Gesicht breit, der Kopf groß und die Nase auf die Seite gedrückt, als hätte ihr die Natur im Ärger über die Neigungen, die sie bei der Geburt Mr. Pells an ihm entdeckte, einen Hieb versetzt, von dem . sie sich nicht wieder erholen konnte. Da Mr. Pell jedoch kurzhalsig und engbrüstig war, so beschränkte sich seine Respiration beinahe einzig auf dieses Organ, das dadurch, was ihm an Schönheit abging, an Nützlichkeit ersetzte. „Ich bring ihn schon durch“, sagte Mr. Pell.

„Glauben Sie?“ versetzte die Person, an die diese Versicherung gerichtet war.

„Ganz bestimmt“, beteuerte Mr. Pell, „aber wenn er an irgendeinen Winkeladvokaten geraten wäre, hätte ich nix für die Folgen stehen mögen.“ „So?“ rief der andre mit offenem Munde.

„Ja, ich hätte nix dafür stehen mögen“, wiederholte Mr. Pell, warf die Lippen auf, runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf mit geheimnisvoller Miene.

Der Ort, an dem dieses Gespräch geführt wurde, war das Wirtshaus, das dem Insolvenzgerichtshofe gegenübersteht, und die Person, mit der es geführt wurde, niemand anders als Mr. Weller senior, der hierhergekommen war, um einem Freunde Trost und Stärkung zu bringen, dessen Crida an diesem Tage verhandelt werden sollte und dessen Anwalt er 111 diesem Augenblick um seine Meinung befragte.

„Und wo is Schorsch?“ fragte der alte Herr.

Mr. Pell winkte mit dem Kopfe nach einem Hinterzimmer, in das sich Mr. Weller alsbald begab und zur Beglückwünschung von einem halben Dutzend Kollegen aufs wärmste und schmeichelhafteste begrüßt wurde. Der Herr in Zahlungsschwierigkeiten, der aus spekulativer, aber unkluger Leidenschaft für das Befahren weiter Stationen in seine gegenwärtige Verlegenheit geraten war, trug ein äußerst heiteres Aussehen zur Schau und bekämpfte seine Aufregung erfolgreich mit Krabben und Porter.

Die Begrüßung zwischen Mr. Weller und seinen Freunden hielt sich ganz in den Schranken der Gewerbsfreimaurerei und bestand lediglich in einem die Runde mach enden Händedruck und einem gleichzeitigen Schnalzen mit dem kleinen Finger der Linken. Es gab einmal zwei berühmte Kutscher – sie sind jetzt tot, die armen Burschen –, die Zwillinge waren, und zwischen denen eine ungeheuchelte und innige Zuneigung bestand. Sie kamen seit zwanzig Jahren jeden Tag an der Dowerstreet aneinander vorüber und wechselten nie einen anderen Gruß als diesen, und doch, als der eine starb, welkte der andre dahin und folgte ihm bald nach.

„Na, Schorsch“, sagte Mr. Weller senior, seine Rockschöße zusammennehmend und sich mit der gewohnten Würde niedersetzend. „Wie steht’s? Alles in Ordnung hinten, und innen voll?“

„Alles in Ordnung, alter Kamerad“, erwiderte der Cridatar.

„Is die graue Stute in Flege gegeben?“ forschte Mr. Weller bewegt.

Schorsch nickte bejahend.

„Na, denn is ja alles gut“, sagte Mr. Weller. „Die Kutsche auch beiseite geschafft?“

„In ’nen sichern Verwahrungsort gebracht“, versetzte Schorsch, riß einem halben Dutzend Krabben die Köpfe ab und verschlang sie ohne weitere Präliminarien.

„Famos“, bemerkte Mr. Weller. „Immer schön die Bremse anziehen, wenn’s bergab geht. Is der Frachtzettel deutlich?“

„Sie meinen das Inventar, Sir“, sagte Pell, erratend, was Mr. Weller sagen wollte, „alles so klar und bestimmt, wie es nur Tinte und Feder machen können.“

Mr. Weller nickte auf eine Weise, die seine innere Billigung aller dieser Anordnungen aussprach, und sagte dann, auf seinen Freund Schorsch deutend, zu Mr. Pell:

„Wann, nehmen Sie an, geht er vom Start?“

„Nu“, versetzte Mr. Pell, „er is der dritte auf der Liste, und ich glaube, es werd ungefähr in aner halben Stund an ihn kommen. Ich hab mein Schreiber die Weisung gegeben, er soll erüberkommen und melden, wenn ä Parteienwechsel vorkommt.“

Mr. Weller betrachtete den Anwalt bewundernd von Kopf bis zu Fuß und sagte dann mit Emphase:

„Was wollen Sie trinken?“

„Nu, wirklich“, zierte sich Mr. Pell, „Sie sind sehr – mei Ehrenwort, es ist nicht meine Gewohnheit – es ist noch so früh am Tage, daß ich wirklich – doch, Sie können mir für drei Pence Rum bringen, meine Liebe.“

Die Kellnerin war dem Befehl bereits zuvorgekommen, setzte Mr. Pell ein Glas Brandy vor und verschwand.

„Meine Herren“, sagte Mr. Pell und sah sich rund in der Gesellschaft um, „auf gutes Gelingen für Ihren Freund! Ich will mich nicht rühmen, meine Herren, das ist nix meine Gewohnheit, aber ich muß bemerken, daß, wenn Ihr Freund nicht das Glück gehabt hätte, zu mir zu kommen – na, ich sag lieber nix. Meine Herren, auf Ihre Gesundheit!“

Mr. Pell leerte sein Glas in einem Augenblick, schnalzte mit den Lippen und sah die versammelten Kutscher, die offenbar eine Art göttlichen Wesens in ihm verehrten, nacheinander mit großer Selbstgefälligkeit an.

„Nun, laß mer sehen“, sagte er dann. „Was wollt ich sagen, meine Herren?“

„Sie sagten gerade, daß Sie gegen ein zweites vom gleichen nichts einzuwenden haben“, fiel Mr. Weller mit würdevoller Heiterkeit ein.

„Haha!“ lachte Mr. Pell. „Nicht übel, nicht übel. Versteht sein Fach, der Mann. Um diese Morgenstunde könnte es auch nicht schaden . .. Nu, ich weiß nicht, meine Liebe – Sie können es ja repetieren, wenn es Ihnen gefällig ist. – Hem hem!“

Das „Hem“ war ein feierliches und würdevolles Husten das sich Mr. Pell bei Wahrnehmung einer unziemlichen Neigung einiger seiner Zuhörer zur Fröhlichkeit erlauben zu müssen glaubte.

„Der letzte Lordkanzler, meine Herren, hielt große Stücke auf mir“, begann er dann.

„Und vertraute ihm auch bannich viel an“, fiel Mr. Weller ein.

„Hört, hört“, rief der Cridatar aus. „Und warum hätte er auch nich sollen?“

„Ja – hm!“ bemerkte ein Mann mit einem hochroten Gesicht, der bis jetzt noch nichts gesagte hatte und auch gar nicht danach aussah, als wollte er mehr sagen. „Warum hätte er auch nich sollen?“

Ein Beifallsgemurmel lief durch die Gesellschaft.

„Ich erinnere mich, meine Herren“, nahm Mr. Pell seine Rede wieder auf, „daß ich einmal bei ihm zu Mittag gegessen hab – mir waren nur unser zwei; aber es war alles so splendid, als ob mer zwanzig Personen erwartet hätt; das große Siegel lag rechts auf einem Drehtisch, und ein Mann mit einer Zopfperücke und ’n Harnisch bewachte das Zepter mit gezücktem Schwert und seidenen Strümpfen, was immer der Fall ist, meine Herren, Tag und Nacht. – ,Pell‘, sagte er, der Lordkanzler, ,keine falsche Bescheidenheit, Pell. Sie sin ä Mann von Talent; Sie bringen alles im Insolvenzgerichtshofe durch, Pell, und das Land derf stolz auf Ihnen sein.‘ Das waren seine eigenen Worte. – ,Mylord‘, erwiderte ich, ,Sie schmeicheln.‘ – ,Pell‘, sagte er, ,wenn ich schmeichle, so will ich verdammt sein.'“

„Sagte er das wirklich?“ fragte Mr. Weller.

„Ja, das sagte er“, beschwor Pell.

„Na, denn“, bemerkte Mr. Weller, „hätte das Parlament von wegen Fluchen einschreiten sollen, und wenn es ’n armer Kerl gewesen wäre, um den es sich drehte, denn wäre es sicher auch passiert.“

„Aber lieber Freund“, erklärte Mr. Pell, „es war doch im Vertrauen gesprochen.“

„In was?“

„Im Vertrauen.“

„Na gut“, versetzte Mr. Weller nach einigem Nachdenken, „wenn er sich im Vertrauen verdammt hat, denn is das natürlich ganz was anderes.“

„Natürlich war es was anderes“, sagte Mr. Pell. „Der Unterschied fällt in die Augen, wie Sie gleich sehen werden.“

„Ändert die Sache gänzlich“, bemerkte Mr. Weller. „Nu mal weiter!“

„Nein, ich fahr nicht fort“, erwiderte Mr. Pell mit gedämpftem, geheimnisvollem Ton. „Sie haben mich daran erinnert, Sir, daß die Unterredung eine geheime war; eine geheime und vertrauliche, meine Herren. Meine Herren, ich bin ä Mann vom Fach. Mag sein, daß ich in den Augen meiner Kollegen dadurch gehoben wurde, möglich auch, daß es nich der Fall war. Die meisten Leute wissen das. Ich sag kein Wort. Bemerkungen sind schon in dem Zimmer gemacht worden, die den Ruf meines vornehmen Freundes angetastet haben. Sie werden mich entschuldigen, meine Herren, ich war unvorsichtig. Ich seh ein, daß ich nicht recht daran getan hab, das Thema ohne seine Beistimmung zu berühren.“ Und Mr. Pell steckte seine Hände in die Taschen und klimperte mit grimmigem Stirnrunzeln und furchtbarer Entschlossenheit mit drei Halbpencestücken.

Plötzlich stürmten der Junge und der blaue Beutel, die unzertrennliche Gefährten waren, ins Zimmer herein und sagten – wenigstens der Junge, der blaue Beutel schwieg –, die Sache komme im Augenblick zur Verhandlung. Sofort eilte die ganze Gesellschaft auf die Straße und brach sich in dem Gerichtshof Bahn – eine Maßnahme, die in gewöhnlichen Fällen eine Zeit von fünfundzwanzig bis dreißig Minuten in Anspruch nehmen würde.

Mr. Weller, ein starker Mann, warf sich ohne weiteres ins Gedränge, mit der verzweifelten Hoffnung, um jeden Preis einen Platz zu erobern, der für ihn angemessen wäre. Der Erfolg entsprach jedoch seinen Erwartungen nicht ganz, denn sein Hut, den er abzunehmen vergessen hatte, wurde ihm von einem Unsichtbaren, dem er ziemlich stark auf die Zehen getreten hatte, über die Augen geschlagen. Offenbar bereute aber der Täter seine Heftigkeit sofort, denn er zog gleich darauf, einen unbestimmten Ausruf der Überraschung murmelnd, den alten Herrn in die Vorhalle und befreite ihn durch einen heftigen Ruck von seiner Maske.

„Samuel?“ rief Mr. Weller, dieser Art in. den Stand gesetzt, seinen Befreier zu sehen. Sam nickte.

„Du bist ja ’n recht zärtlicher Knabe, daß du deinem Vater in seinen alten Tagen den Deckel über die Ohren drischst.“

„Konnte nich wissen, wer’s war“, rechtfertigte sich der Sohn. „Du nimmst doch nich etwa an, daß ich dir am Gewicht von deine Latschen erkennen kann?“

„Das is ja nu wahr, Sammy“, gab Mr. Weller, vollständig besänftigt, zu. „Aber was treibst du hier? Dein Herr kann doch hier nichts ausrichten. Die stoßen dem Verdikt nich wieder um; machen die nich, Sammy.“

Und Mr. Weller schüttelte den Kopf mit der Feierlichkeit eines Rechtsgelehrten.

„Was is das nu wieder für dummes Zeug!“ rief Sam. „Immer nur Verdikte und Alibis und dergleichen. Wer sagt denn was von Verdiktumstoßen?“

Mr. Weller gab keine Antwort, sondern schüttelte nur den Kopf mit einer noch gelehrteren Miene.

„Kümmer dich nich um Sachen, wo du nich verstehen tust“, sagte Sam ungeduldig, „und quatsch nich. Ich war übrigens gestern abend im ,Marquis von Granby‘.“

„Haste die Markise von Granby gesehen, Sammy?“ fragte Mr. Weller mit einem Seufzer. „Jawoll.“

„Wie sah der Seelenhirte aus?“

„Sonderbar“, versetzte Sam. „Ich glaube, er richtet sich allmählich selbst zugrunde mit zuviel Ananasgrog und andern starken Medizinen.“ „Glaubste?“ fragte Mr. Weller senior mit ernstem Ton. „‚türlich.“

Mr. Weller ergriff die Hand seines Sprößlings, drückte sie und ließ sie dann wieder fallen. Es lag während dieses Verfahrens ein Ausdruck auf seinem Gesicht, nicht von Besorgnis oder Angst, sondern von aufdämmernder süßer Hoffnung. Ein Schimmer von Ergebung und sogar von Heiterkeit ging über sein Gesicht, als er langsam sagte:

„Ich bin mir die Sache nich gewiß, Sam; ich möchte nich gerade sagen, daß ich ganz positiv darin bin; ich könnte mir schließlich täuschen; aber ich nehme doch beinahe an, mein Junge, ich nehme beinahe an, daß der Vizehirt sich ’n Leberleiden angesoffen hat.“

„Sah er so schlimm aus?“ fragte Sam.

„Du, der is ganz ungewöhnlich blaß. Bloß um die Nase rum nich. Die glüht wie noch nie. Sein Appetit is aber bloß soso; bloß saufen kann er wie ’ne Eins.“

Mr. Wellers Geist schienen sich auch einige Gedanken an den von ihm so geliebten Rum aufzudrängen, denn er sah trübe und nachdenklich drein; aber bald sammelte er sich wieder, wie ein lebendiges Alphabet von Augenzwinkern verriet, dem er nur zu huldigen pflegte, wenn er besonders vergnügt war.

„Aber jetzt mal“, sagte Sam, „zu meinen Angelegenheiten. Spitz die Ohren und unterbrich mich nich, bis ich fertig bin.“

Nach dieser kurzen Einleitung erzählte Sam so gedrängt wie möglich die letzte merkwürdige Unterredung, die er mit Mr. Pickwick gehabt hatte. „Sitzt da allein, der arme Deubel“, rief Mr. Weller senior aus, „und kein Mensch kümmert sich um ihn! Das geht so nich weiter, Samuel, geht einfach nich.“

„Natürlich nich“, pflichtete Sam bei, „das wußte ich schon, bevor ich herkam.“

„Die fressen ihn da bei lebendigem Leibe auf, Sammy.“

Sam nickte zustimmend.

„Rein geht er grün, Sammy“, sagte Mr. Weller metaphorisch, „und rauskommt er so furchtbar braun, daß ihn seine besten Freunde nich mehr kennen werden, ’ne gebratene Taube is da nichts gegen, Sammy.“

Wieder nickte Sam Weller.

„Sollte aber nich sein, Samuel“, bemerkte Mr. Weller ernst.

„Darf einfach nich sein“, bekräftigte Sam. „Du bist ’n famoser Prophet; wie der rotbackige Nix, wo auf den Sixpencebüchern abkonterfeit ist.“ „Wer war denn das, Sammy?“

„Ach, egal, wer es war“, erwiderte Sam, „ein Kutscher war es nich, und das muß dir genügen.“

„3ch kannte mal ’nen Hausknecht dieses Namens“, sagte Mr. Weller nachdenklich.

„Der war es nich“, erwiderte Sam. „Der Schendlmän, wo ich meine, war Prophet.“

„Was is eigentlich ’n Prophet?“ fragte Mr. Weller mit forschendem Blick.

„Na, so ’n Mensch, wo die Zukunft voraussagt.“

„Schade, daß ich den nich gekannt habe, Sammy“, meinte Mr. Weller, „vielleicht hätte der mir ’n kleines Licht von wegen dem Leberleiden aufstecken können, wo ich ebend drüber sprach. Wo er nu aber tot is und keinem sein Geschäft hinterlassen hat, ist da ebend nichts zu machen. Rede weiter, Sammy“, seufzte Mr. Weller.

„Na“, bemerkte Sam. „Du hast doch aber die Zukunft vorausgesagt. Von wegen dem, was dem Gouverneur passieren wird, wenn er alleine bleibt. Weißt du denn kein Mittel nich, wie man für ihn sorgen könnte?“

„Nö, weiß keins, Sammy“, erwiderte Mr. Weller mit nachdenklichem Gesicht, „außer“, und der Schein eines inneren Lichtes überstrahlte sein Gesicht, als er seine Stimme zu einem Geflüster dämpfte und seinen Mund so nahe wie möglich dem Ohr seines Sprößlings näherte, „außer, er läßt sich in ’nem Kastenbett heimlich rausschaffen oder würde sich als altes Weib mit ’nem grünen Schleier verkleiden.“

Sam Weller nahm beide Vorschläge mit unerwarteter Verachtung auf und wiederholte seine Frage.

„Nö“, sagte der alte Herr, „wenn er dich nich bei sich lassen will, denn sehe ich absolut kein Mittel. Nichts zu machen, Sammy, nichts zu machen!“

„Na, denn will ich dir mal was sagen“, versetzte Sam. „Pump mir fünfundzwanzig Fund.“

„Wozu denn?“

„Is doch gleichgültig. Kannst mich doch denn vielleicht so nach fünf Minuten mahnen; vielleicht bezahle ich denn nich und werde frech gegen dir. Ich meine, du wirst doch denn nich etwa dran denken, daß du dein eigenen Sohn wegen Schulden schnappen und nach der Fleet bringen lassen wirst; oder würdest du das womöglich doch machen, du unnatürlicher Landstreicher?“

In Mr. Wellers senior Blick leuchtete ein Blitz des Einverständnisses auf. Er setzte sich auf eine steinerne Bank und lachte, bis er ganz blau war.

„Was ist das doch für ’n alter Holzgötze!“ rief Sam, unwillig über diesen Zeitverlust. „Was hockst du da und verdrehst die Visage zu ’nem Türklopfer, wo doch so viel zu tun is. Wo is das Geld?“

„Im Kutschkasten, Sammy, im Kutschkasten. Da, halt mal meinen Hut, Sammy!“ erwiderte Mr. Weller, sich sammelnd, gab seinem Körper einen Schwung auf die Seite und förderte vermöge einer geschickten Wendung seiner rechten Hand aus seinem Rock nach entsetzlicher Anstrengung schnaufend eine dicke Brieftasche in Großoktavformat zutage, die mit einem starken ledernen Riemen umwickelt war. Aus dieser nahm er ein paar Peitschenschnüre, drei oder vier Schnallen, eine Musterkarte und endlich ein Röllchen schmieriger Banknoten, von dem er die verlangte Summe ablöste und seinem Sohn einhändigte.

„Und nu, Sammy“, sagte der alte Herr, als Peitschenschnüre, Schnallen und Musterkarte wieder eingepackt und die Brieftasche wohlverwahrt war. „Nu, Sammy, kenne ich ’nen Herrn hier, wo den übrigen Teil von unserem Geschäft im Augenblick besorgen wird. – Ein Glied der Gesetzgebung, Sammy! Sein ganzer Körper is mit Gehirn vollgepackt – wie beim Frosch – bis in die Fingerspitzen! ’n Freund vom Lordkanzler, Sammy; dem brauchst du bloß kurz sagen, was du willst, und denn versorgt der dir fürs ganze Leben.“

„Und ich sage dir“, murrte Sam, „nichts davon!“

„Nichts wovon?“

„Na, nichts von solchen verfassungswidrigen Mitteln“, erwiderte Sam. „Sieh mal, der Hast-du-was-Corpus is nach dem Perpendikel-Mobilum eine von den segensreichsten Erfindungen, wo jemals gemacht worden sind. Ich habe sogar in den Zeitungen von gelesen.“

„Was soll das nu wieder?“ fragte Mr. Weller.

„Na“, erklärte Sam, „ich will doch eben die Erfindung begünstigen und mich auf die Art einbuchten lassen. Aber bloß kein Getuschel beim Lordkanzler; ich will das nich haben. Ich würde denn nämlich Manschetten haben, von wegen das Wiederrauskommen.“

Den Gefühlen seines Sohnes hierin beipflichtend, suchte Mr. Weller alsbald den Gelehrten Mr. Samuel Pell auf und teilte ihm seinen Wunsch mit, unverzüglich gegen einen gewissen Samuel Weller einen Verhaftungsbefehl wegen fünfundzwanzig Pfund und der Gerichtskosten ergehen zu lassen, wofür die Gebühren Mr. Samuel Pells im voraus entrichtet werden sollten.

Der Anwalt war sehr aufgeräumt, denn der zahlungsunfähige Rosselenker war durchgerutscht. Er lobte Sams Anhänglichkeit an seinen Herrn außerordentlich, erklärte, daß ihn das ganz an seine eignen Gefühle der Ergebenheit gegen seinen Freund, den Kanzler, erinnere, und führte dann Mr. Weller senior unverzüglich nach dem „Temple“, um ihn daselbst die Richtigkeit seiner Schuldforderung beschwören zu lassen, ein Akt, der auch unter Beihilfe des blauen Beutels, den der Junge nachtrug, vollzogen wurde.

Mittlerweile war Sam dem freigesprochnen Herrn und seinen Freunden in aller Form als Sprößling Mr. Wellers von Belle Savage vorgestellt und zur Feier des Anlasses, sich mit der übrigen Gesellschaft gütlich zu tun, eingeladen worden, was er natürlich ohne Zieren annahm.

Die Fröhlichkeit der Herren vom Rosselenkerberuf trägt gewöhnlich einen ernsten und ruhigen Charakter; aber der gegenwärtige Anlaß war ein zu festlicher, als daß sie diesmal nicht eine entsprechende Abweichung von diesem Prinzip hätten eintreten lassen.

Nach mehreren lautgebrüllten Toasten auf den Oberkommissär und Mr. Salomo Pell, der an diesem Tage so bewunderungswürdige Fähigkeiten entwickelt hatte, machte ein Herr mit einem buntscheckigen Gesicht und einer blauen Halsbinde den Vorschlag, es solle jemand einen Rundgesang anstimmen. Natürlich folgte auf diese Zumutung das Ersuchen, der Buntscheckige möge doch selbst singen, wenn es ihm so sehr darum zu tun sei; aber dies lehnte der Buntscheckige standhaft und einigermaßen beleidigt ab, worauf wie das in solchen Fällen nichts Ungewöhnliches ist, eine Art Wortwechsel folgte.

„Meine Herren!“ sagte endlich der Rosselenker. „Um die Eintracht des köstlichen Festes nich zu stören, wird vielleicht Mr. Samuel Weller die Gesellschaft erfreuen.“

„Na, meine Herren“, erwiderte Sam, „ich bin es eigentlich nich gewöhnt, ohne Musikbegleitung zu singen; aber nichts übern ruhiges Leben, wie der Mann sagte, als er die Wächterstelle auf ‚m Leuchtturm annahm.“

Nach diesen einleitenden Worten stimmte er unverzüglich folgende wilde und schöne Romanze an, die wir, in der Voraussetzung, daß sie nicht allgemein bekannt sein dürfte, hier wiedergeben. Wir bitten, eine besondere Aufmerksamkeit der genialen Einschaltung der Endsilben zu schenken, die es nicht nur dem Sänger ermöglicht, an dieser Stelle Atem zu schöpfen, sondern auch das Versmaß sehr unterstützt.

Romanze

Kühn Turpin einst auf der Hounslowhaid
Seine kühne Mähre ritt – hem,
Als er den Wagen des Erzbischofs
Ihm entgegenkommen sieht – hem.
Er sprengt sofort im Galopp herbei
Und steckt seinen Kopf hinein – hem.
Und der Bischof sagt: „Ist ein Ei ein Ei,
So muß das Turpin sein – hem.“

(Chor)

Und der Bischof sagt: „Ist ein Ei ein Ei,
So muß das Turpin sein – hem.“

2

Und Turpin sagt: „Da friß dein Wort
Mit dem bleiernen Kügelein“ – hem,
Setzt ihm ein Pistol an den Mund
Und jagt ihm den Schuß hinein – hem.
Der Kutscher hat das Schießen satt
Und sprengt im Galopp davon – hem.
Doch Dick jagt ihm eins ins Genick,
Da hält der Bursche schon – hem.

(Chor sarkastisch)
Doch Dick jagt ihm eins ins Genick,
Da hält der Bursche schon – hem.

„Das Lied is für den ganzen Stand ’ne Beleidigung“, fiel der Buntscheckige ein. „Ich bitte um den Namen des Kutschers.“

„Unbekannt“, erwiderte Sam. „Hatte keine Karte nich in der Tasche.“

„Ich protestiere gegen das Hereinziehen der Politik“, rief der Buntscheckige erregt. „Ich behaupte, daß das Lied ’ne politische Anspielung is, und was dasselbe is, einfach erstunken und erlogen is. Glaube es einfach nich, daß der Kutscher davonfuhr, sondern daß er im gerechten Kampfe erschossen wurde – oder auf der Jagd, wie ’n Fasan, und rate es niemand, mir zu widersprechen.“

Da der Buntscheckige mit großer Energie und Bestimmtheit sprach und die Ansichten der Gesellschaft über diesen Gegenstand voneinander abzuweichen schienen, so drohte wieder ein neuer Wortwechsel auszubrechen, als gerade im rechten Augenblick die Herren Weller und Pell erschienen.

„All right, Sammy“, sagte Mr. Weller.

„Die Verhaftung wird um vier Uhr stattfinden“, ergänzte Mr. Pell. „Ich hoffe, Sie werden während der Zeit nicht davonlaufen; nicht wahr? Haha!“

„Vielleicht läßt sich mein grausamer Papa bis dahin noch erweichen“, versetzte Sam mit breitem Grinsen.

„Ausgeschlossen“, sagte Mr. Weller senior.

„Bitte, bitte!“ bat Sam.

„Gibt’s nich“, erwiderte der unerbittliche Gläubiger.

„Ich will Monatsraten zu sechs Pence eingehen“, erbot sich Sam.

„Glatt abgelehnt“, entgegnete Mr. Weller.

„Hahaha! Sehr gut, sehr gut!“ lachte Mr. Salomo Pell und legte seine kleine Rechnung vor. „Wahrhaftig ein sehr lustiger Fall. Benjamin, schreib das ab.“ Und wieder lächelte Mr. Pell, als er Mr. Wellers Aufmerksamkeit auf den Betrag der Summe lenkte.

„Danke schöön, danke schöön“, sagte er, als er eine von den schmutzigen Banknoten in Empfang nahm, die Mr. Weller aus seiner Brieftasche hervorgezogen hatte. „Drei Zehner und ein Zehner macht fünf. Sehr verbunden, Mr. Weller. Ihr Sohn ist ein sehr verdienstvoller junger Mann; in der Tat, Sir, ein sehr schöner Charakterzug bei einem jungen Manne – wirklich, ein sehr schöner Zug“, fügte er hinzu, sah sich mit süßem Lächeln in der Gesellschaft um und steckte das Geld ein.

„’n Riesenjux, was?“ lachte Mr. Weller, „’n wahres Wunderkind.“

„Wundert sich nur ein bißchen wenig, Sir“, warf Mr. Pell ein.

„Hat nichts zu sagen, Sir“, versetzte Mr. Weller mit Würde. „Weiß, was die Glocke geschlagen hat, Sir.“

Als der Gerichtsdiener erschien, hatte sich Sam bereits so außerordentlich beliebt gemacht, daß sämtliche Herren den Entschluß faßten, ihn in corpore ins Gefängnis wandern zu sehen. Man brach auf; Kläger und Beklagter gingen Arm in Arm; der Gerichtsdiener schritt voran, und acht wohlgenährte Kutscher bildeten den Nachtrab. Am Sergeants Inn-Kaffeehause machte die ganze Gesellschaft nochmals halt, um Erfrischungen zu sich zu nehmen.

In der Fleetstreet trat durch den Eigensinn der acht Herren in der Nachhut, die durchaus zu viert nebeneinander gehen wollten, eine kleine Störung ein, und man fand es für notwendig, den Buntscheckigen zurückzulassen, der darauf bestand, sich mit einem Zettelträger zu boxen, und erst nach Ausfechtung dieses Kampfes nachkam. Außer diesen unbedeutenden Zufällen ereignete sich unterwegs nichts Denkwürdiges. Als die Herren das Fleettor erreichten, nahmen sie vom Kläger Abschied und brachten dem Beklagten drei donnernde Lebehochs.

Als Sam zum ungeheuren Erstaunen Rokers und zur augenscheinlichen Verwirrung des phlegmatischen Mr. Neddy eingeliefert worden war, schritt er unverzüglich auf das Zimmer seines Herrn zu und pochte an die Tür.

Mr. Pickwick rief: „Herein!“

Sam trat ein, nahm den Hut ab und lächelte.

„Was, du, Sam, mein guter Junge?“ rief Mr. Pickwick, sichtlich erfreut, seinen Getreuen wiederzusehen. „Es lag nicht in meiner Absicht, gestern durch meine Worte deine Gefühle zu verletzen, mein braver Junge. Lege ab, Sam, ich will mich jetzt näher erklären.“

„Muß das gleich sein, Sir?“ fragte Sam.

„Jawohl“, antwortete Mr. Pickwick. „Warum denn nicht?“

„Na, ich würde es ebend lieber später abmachen, Sir. Ich habe da noch ’n kleines Geschäft zu erledigen. Nichts Besonderes, aber ich muß mir erst mal um ein Bett für meine Person kümmern. Ich bin nämlich diesen Nachmittag wegen Schulden verhaftet worden.“

„Du, wegen Schulden verhaftet?“ rief Mr. Pickwick, in einen Stuhl sinkend.

„Ja. Wegen Schulden, Sir, und der Mann, wo mir setzen ließ, will mich nich mehr rauslassen, bis Sie gehen.“

„Gütiger Himmel! Was willst du damit sagen?“ rief Mr. Pickwick aus.

„Na, genau das, was ich gesagt habe, Sir. Und wenn es – vierzig Jahre dauert, denn bin ich ebend solange Gefangener, und es is mir sehr recht so. Und wenn sie in Newgate sitzen würden, denn würde es dasselbe sein. So, nu is es draußen, und damit Schluß; verflucht noch mal!“

Mit diesen Worten, die er mit großer Emphase und Heftigkeit hervorstieß, warf Sam Weller in einem außergewöhnlichen Zustand von Aufregung seinen Hut auf den Boden, verschränkte die Arme und sah seinen Herrn herausfordernd an.

Zweiundvierzigstes Kapitel


Zweiundvierzigstes Kapitel

Mr. Winkles geheimnisvolles Benehmen. Der Kanzleigefangene wird endlich erlöst.

Mr. Pickwick war von Sams Treue und Anhänglichkeit zu sehr gerührt, um über seinen raschen Schritt, nämlich Schuldhaft auf unbestimmte Zeit, Zorn oder Mißfallen zu äußern. Der einzige Punkt, worüber er beharrlich Aufschluß verlangte, war der Name des Gläubigers; aber gerade darin wollte sein Diener absolut nicht mit der Sprache heraus.

„Es hat ja doch keinen Zweck, Sir“, sagte Sam immer wieder von neuem. „Er ist ein niederträchtiger, gemeiner, geiziger, rachsüchtiger Kerl, mit einem Herz, das is nich zu erweichen, wie der brave Priester von dem alten wassersüchtigen Schenlemän sagte, der wo sein Geld lieber seiner Frau hinterließ, anstatt daß er eine Kapelle davon bauen ließ. Jedenfalls werde ich mir nich erniedrigen und meinen gewissenlosen Feind um den Gefallen bitten, daß er das Geld annimmt. Ich halte mir an Prinzipien. Sie machen es ja auch nich anders. Das erinnert mich übrigens an den Mann, wo sich aus Prinzip selber umbrachte; Sie werden ja sicher davon wissen, Sir.“ Hier unterbrach sich Mr. Weller und warf seinem Herrn einen eigentümlichen Blick aus den Augenwinkeln zu.

,Das ist durchaus nicht sicher, Sam“, sagte Mr. Pickwick, dem trotz seines Verdrusses über Sams Hartnäckigkeit allmählich ein Lächeln ankam. „Der Ruhm des fraglichen Herrn ist noch nicht bis zu meinen Ohren gedrungen.“

„Nicht doch, Sir!“ rief Mr. Weller. „Da staune ich ja über Sie, Sir; er war Schreiber in einem Regierungsbüro, Sir.“

„War er das?“ fragte Mr. Pickwick.

„Jawoll, war er“, fuhr Sam fort, „und außerdem ein sehr angenehmer Schenlemän. Er sparte sein Geld aus Prinzip, zog jeden Tag ein neues Hemd an, auch aus Prinzip, sprach niemals keinen von seinen Verwandten an, auch aus Prinzip, weil er Angst hatte, daß sie ihn anpumpen möchten; na jedenfalls, er war alles in allem wirklich ein angenehmer Mensch. Weil er also ein sehr orntlicher Schenlemän war, aß er jeden Tag in derselben Kneipe, wo es ein Essen für einen Schilling und neun Pence gab. Aber der aß immer die doppelte Menge, wie der Wirt oft mit Tränen in den Augen sagte, und im Winter schürte er mindestens für vier Pence Feuer an, und denn wollte er alle Zeitungen zuerst haben; na, und denn saß er nach dem Essen noch drei Stunden auf dem besten Platz und verzehrte nichts, sondern schlief. Und denn ging er ’n paar Straßen weiter und aß vier Brezeln zu ’ner Tasse Kaffee, und denn ging er schließlich nach Hause und legte sich ins Bett. Einen Abend wurde er sehr kränklich und schickte nach dem Doktor. ,Was haben Sie zuletzt gegessen?‘ fragte der Doktor. ,Brezeln‘, sagte der Patient. ,Daran liegt’s‘, sagte der Doktor, ,ich schicke Ihnen gleich ’ne Schachtel mit Pillen. Und essen Sie niemals nich keine Brezeln wieder.‘ – ,Soweit kommt das noch!‘ sagt der Patient und richtet sich im Bett auf, ,ich habe fünfzehn Jahre lang jeden Nachmittag vier Brezeln aus Prinzip gegessen. Sie sind gesund und für den Preis sättigen sie gut.‘ – ,Für Sie sind sie aber zu teuer und außerdem ungesund. Wenn Sie nicht mit den Brezeln aufhören, denn is in sechs Monaten Feierabend mit Ihnen. Dafür verbürge ich mich‘, sagt der Doktor. ,Und was glauben Sie, wieviel Brezeln auf einmal tödlich für mir wären? Vielleicht für ’ne halbe Krone?‘ fragt der Patient. ,Essen Sie für drei Schilling Brezeln, Sir, und Sie gehen auf der Stelle ein‘, sagt der Doktor und geht weg. Am andern Morgen steht doch der Patient auf und läßt für drei Schilling Brezeln holen, und denn röstet er sie, ißt sie auf und schießt sich ’ne Kugel in ’n Kopf.“

„Warum tat er denn das?“ fragte Mr. Pickwick erstaunt. „Ja, Sir, warum tat er das?“ wiederholte Sam. „Na, wegen dem Grundsatz, daß Brezeln gesund sind! Und denn wollte er zeigen, daß er sich durch keinen Menschen nich von abbringen ließ!“

Durch solche Schliche und Kniffe umging Mr. Weller die kitzlige Frage.

Mr. Pickwick mußte sich endlich von der Nutzlosigkeit aller seiner Vorstellungen überzeugen und erlauben, daß Sam sich für eine Woche bei einem kahlköpfigen Schuhflicker einlogierte, der in einem der oberen Gänge ein kleines schmales Zimmer bewohnte. In dieses ärmliche Kämmerchen schaffte Mr. Weller junior eine Matratze und ein Bett, die er von Mr. Roker mietete, und als er nachts darauf lag, fühlte er sich so heimisch, als ob er im Kerker aufgewachsen wäre und seit drei Menschenaltern samt Familie darin vegetiert hätte.

„Rauchen Sie immer, nachdem Sie zu Bett gegangen sin, alter Kauz?“ fragte er seinen Stubengenossen, als sie sich beide zur Ruhe gelegt hatten.

„Ja, allerdings, junger Grünschnabel“, versetzte der Schuhflicker.

„Gestatten Sie mir die Frage, warum schlagen Sie eigentlich Ihr Bett unter diesem tannenen Tisch auf?“

„Weil ich immer an ’n Himmelbett gewöhnt war, ehe ich hierher kam.“

Mr. Weller richtete sich aus seiner Lage ein wenig auf und schenkte daraufhin dem Äußern seines Gefährten eine weit längere Aufmerksamkeit, als er ihm bisher zuzuwenden Zeit oder Neigung gehabt hatte.

Es war ein schmutzig aussehender Mann – alle Schuhflicker sind es – und hatte einen starken struppigen Bart – alle Schuhflicker haben ihn –, und sein Gesicht war ein seltsames, gutmütiges Handwerkergesicht, mit einem Paar Augen, die einst sehr jovial dreingesehen haben mußten, denn sie glänzten noch jetzt. Die Zeit hatte den Mann auf sechzig und das Gefängnis auf der Himmel weiß wieviel Jahre gebracht. Er war klein, und da er durch den kuriosen Betthimmel in zwei Hälften erschien, sah er ungefähr gerade so groß aus, als er ohne Beine gewesen wäre. Er hatte eine große rote Tonpfeife im Mund stecken, aus der er kräftige Wolken blies, und starrte mit einem Ausdruck beneidenswerter Behaglichkeit in die brennende Kerze.

„Sin Sie schon lange hier?“ unterbrach Sam das Stillschweigen.

„Zwölf Jahre.“

„Ungehorsam gegen den Gerichtshof?“ Der Schuhflicker nickte.

„Na“, meinte Sam ernst, „warum beharren Sie auf Ihrem Starrsinn, Ihr kostbares Leben hier in diesem großartigen Pfandstall zu vergeuden? Warum kriechen Sie nich zu Kreuz?“

Der Schuhflicker schob lächelnd seine Pfeife in einen Mundwinkel, brachte sie dann wieder an ihren alten Platz zurück und schwieg.

„Warum tun Sie’s nich?“ fragte Sam eindringlich.

„Ach“, erwiderte der Schuhflicker, „das verstehen Sie nicht. Was glauben Sie wohl, hat mich zugrunde gerichtet?“

„Hm“, sagte Sam und schneuzte die Kerze, „vermutlich begann die Sache damit, daß Sie in Schulden kamen, nich wahr?“

„Bin nie einen Heller schuldig gewesen“, versetzte der Schuhflicker, „raten Sie noch mal.“

„Na, spekulierten vielleicht in Häusern, was hierzulande grade ausreicht, um wahnsinnig zu werden; oder haben gebaut, was ’n medizinischer Kunstausdruck für Unheilbarkeit is?“

Der Schuhflicker schüttelte den Kopf und sagte wieder: „Raten Sie noch mal.“

„Hoffentlich doch nich prozessiert?“ riet Sam argwöhnisch.

„In meinem Leben nie. Na also, die Sache ist die: Ich wurde durch eine Erbschaft ruiniert.“

„Ach Blech“, sagte Sam, „dummes Zeug. Ich wünschte mir ’n reichen Feind, wo mir auf diese Art zu ruinieren suchte. Ließe ihm ruhig gewähren.“ „Ich dachte mir’s gleich, Sie würden’s nicht glauben“, fuhr der Schuhflicker, ruhig seine Pfeife rauchend, fort. „An Ihrer Stelle ging’s mir ebenso; aber es ist trotzdem wahr.“

„Nanu!“ sagte Sam, schon durch den Blick, den ihm der Schuhflicker zuwarf, in seiner Zweifelsucht wankend gemacht.

„Es war so“, versetzte der Schuhflicker. „Ein alter Herr im Lande drunten, für den ich arbeitete, und von dem ich eine arme Verwandte heiratete – sie starb, Gott hab sie selig, und Dank sei ihm dafür gesagt –, wurde vom Schlag getroffen und ging heim.“

„Wohin?“ lallte Sam, schlaftrunken und von zahlreichen Eindrücken des Tages schläfrig gemacht.

„Was weiß ich, wohin er ging?“ erwiderte der Schuhflicker, im Hochgenuß seiner Pfeife durch die Nase sprechend. „Er ging zu den Toten.“

„Ach so, hm“, brummte Sam. „Gut.“

„Gut. Und hinterließ fünftausend Pfund, wovon er mir eintausend vermachte, weil ich seine Verwandte geheiratet hatte. Sie verstehen?“

„Ja, hm“, murmelte Sam.

„Und weil er ’ne Menge Nichten und Neffen hatte, die einander unaufhörlich das Vermögen mißgönnten, machte er mich zum Vollstrecker seines letzten Willens und gab mir das übrige in Verwahrung. – Na, und“, fuhr der Schuhflicker fort, „wie ich im Begriff war, einen gerichtlichen Bestätigungsschein ausfertigen zu lassen, legten die Nichten und Neffen, die sehr enttäuscht waren, daß sie nicht alles bekommen sollten, ein Caveat ein.“

„Ein was?“ fragte Sam.

„Eine gerichtliche Eingabe, die soviel sagen will wie: wir dulden’s nicht“, erklärte der Schuhflicker.

„Verstehe“, brummte Sam, „’ne Art Stiefbruder von dem hafis corpus. Gut.“

„Aber“, fuhr der Schuhflicker fort, „als sie fanden, daß sie untereinander selbst nicht einig werden und folglich auch keinen Protest gegen das Testament erheben konnten, zogen sie das Caveat wieder zurück, und ich zahlte sämtliche Vermächtnisse aus. Kaum hatte ich dies getan, als ein Neffe eine Schrift eingab, die Umstoßung des Testaments beantragte. Der Fall kam einige Monate darauf vor einen alten tauben Herrn in einem Hinterzimmer in der Gegend vom Paulskirchhof, und nachdem ihn vier Advokaten einen Tag lang schrecklich überlaufen hatten, um ihn noch künstlich zu betäuben, zog er die Sache acht bis vierzehn Tage lang in Überlegung und entlehnte seine Entscheidung aus sechs Bänden, die dahin ausfiel, daß der Erblasser im Kopf nicht recht in Ordnung gewesen sei und ich daher das ganze Geld wieder herausgeben und alle Kosten bezahlen müsse. Ich appellierte. Die Sache kam vor drei oder vier Schlafmützen, die die Verhandlung schon im ersten Gerichtshof mit angehört hatten, wo sie als Anwälte funktionierten. Das Urteil des alten Herrn wurde pflichtschuldigst bestätigt. Hierauf wanderte ich hierher und werde wohl zeitlebens hierbleiben. Meine Anwälte hatten sich schon lange vorher in den Besitz meiner ganzen tausend Pfund gesetzt, und was den Stand, wie sie es nennen, und die Kosten betrifft, so sitze ich hier für zehntausend, und werde hier sitzen, bis meine letzten Schuhe geflickt sind. Einige Herren haben davon gesprochen, die Sache dem Parlament vorzulegen, und ich glaube, sie würden es auch getan haben; aber sie hatten keine Zeit, zu mir zu kommen, und ich keine Erlaubnis, zu ihnen zu gehen, und der langen Episteln wurden sie müde, und so ließen sie die Sache fallen. Und das ist beim lebendigen Gott die Wahrheit, und kein Jota zuwenig oder zuviel, wie fünfzig Personen, sowohl innerhalb wie außerhalb dieser Mauern, ganz genau wissen.“

Der Schuhflicker schwieg, um zu sehen, welche Wirkung seine Erzählung hervorgerufen hatte; aber da Sam eingeschlummert war, klopfte er seine Pfeife aus, seufzte, legte sie beiseite, zog die Bettdecke über den Kopf und überließ sich gleichfalls dem Schlaf.

Am folgenden Morgen war Sam im Kämmerchen des Schuhflickers eifrig damit beschäftigt, seinem Herrn die Schuhe zu wichsen und die schwarzen Gamaschen auszubürsten, und Mr. Pickwick saß allein beim Frühstück, als jemand an seine Tür klopfte und, ehe er noch „Herein“ rufen konnte, ein Kopf sichtbar wurde, der, mit einem Kranz von Haar eingefaßt und mit einer Mütze von Baumwollsamt bedeckt, ohne große Schwierigkeit Mr. Smangle erkennen ließ.

„Sagen Sie, erwarten Sie nicht jemand?“ fragte der würdige Gentleman mit ein paar Dutzend Bücklingen. „Drei Herren – verteufelt nobel – haben unten nach Ihnen gefragt und auf dem Gang an jede Tür geklopft.“

„Meiner Treu, wie töricht wieder“, sagte Mr. Pickwick aufstehend. „Es sind Freunde von mir, die ich schon gestern erwartete.“

„Freunde von Ihnen?“ rief Smangle und ergriff Mr. Pickwicks Hand. „Sprechen Sie nicht weiter. Bei Gott, von diesem Augenblick an sind es auch Freunde von mir und Freunde von Mivins. Ein infernalisch scharmanter, nobler Bursche, der Mivins, nicht wahr?“

„Ich kenne den Herrn zu wenig“, wich Mr. Pickwick zögernd aus, „als daß ich …“

„Ich weiß“, unterbrach Mr. Smangle und klopfte Mr. Pickwick auf die Schulter. „Ich weiß. Aber Sie werden ihn besser kennenlernen. Sie werden entzückt sein über ihn. Dieser Mann, Sir“, fügte er geheimnisvoll hinzu, „hat Anlagen zum Komiker, die dem Drury-Lane-Theater Ehre machen würden.“

„Das sind alles äußerst merkwürdige Eigenschaften“, sagte Mr. Pickwick, „aber ich fürchte, meine Freunde werden, während wir hier miteinander plaudern, in großer Verlegenheit sein, wenn sie mich nicht finden.“

„Ich will ihnen den Weg zeigen“, erbot sich Smangle, zur Tür eilend. „Guten Tag. Ich möchte sie nicht stören, während sie hier sind, Sie verstehen. – Apropos, könnten Sie mir nicht bis gegen Ende der nächsten Woche eine halbe Krone vorstrecken?“

Mr. Pickwick konnte sich kaum eines Lächelns erwehren, zwang sich jedoch, ernst zu bleiben, legte das Geldstück in Mr. Smangles Handfläche, worauf dieser unter Zwinkern und Gebärden, die auf Geheimhaltung des großen Mysteriums hindeuten sollten, verschwand, um die drei Fremden aufzusuchen, mit denen er im nächsten Augenblick zurückkehrte, und nachdem er dreimal gehustet und ebensooft genickt hatte, um Mr. Pickwick zu verstehen zu geben, er werde nicht vergessen, das Darlehen pünktlich zurückzuzahlen, schüttelte er allen verbindlich die Hand und schraubte sich hinaus.

„Meine lieben, lieben Freunde“, sagte Mr. Pickwick, den Herren Tupman, Winkle und Snodgraß nacheinander immer wieder die Hand drückend, „ich bin entzückt, Sie zu sehen.“

Das Triumvirat war tief ergriffen. Mr. Tupman schüttelte kläglich das Haupt; Mr. Snodgraß zog fassungslos sein Taschentuch hervor, und Mr. Winkle trat ans Fenster und schluchzte laut.

„Morgen, meine Herren“, rief Sam, der in diesem Augenblick mit den Schuhen und Gamaschen eintrat, „nur weg mit die Melancholie, wie der kleine Junge sagte, als seine Schullehrerin starb. Willkommen im Kolleg, meine Herren.“

„Dieser närrische Bursche“, erklärte Mr. Pickwick freundlich, als Sam niederkniete, um ihm die Gamaschen zuzuknöpfen, „dieser närrische Bursche hat sich selbst einsperren lassen, um in meiner Nähe zu sein.“

„Was?“ riefen die drei Freunde.

„Ja, meine Herren“, sagte Sam, „ich bin – halten Sie gefälligst Ihren Fuß ruhig, Sir –, ich bin ’n Gefangener, meine Herren. Pappengeblieben, wie die Dame sagte.“

„Ein Gefangener!“ fuhr Mr. Winkle erschreckt auf.

„Hallo, Sir!“ versetzte Sam und sah auf. „Was gibt’s, Sir?“

„Und ich hatte gehofft, Sam, daß … Nichts, nichts“, stotterte Mr. Winkle verlegen. – In seinem Benehmen lag dabei etwas so Hastiges und Unentschlossenes, daß Mr. Pickwick unwillkürlich einen fragenden Blick auf seine beiden Freunde warf.

„Wir wissen nichts“, antwortete Mr. Tupman laut auf diese stumme Frage. „Er ist schon seit zwei Tagen außerordentlich aufgeregt und überhaupt wie ausgewechselt. Wir fürchteten, es könnte etwas vorgefallen sein, aber er leugnet hartnäckig.“

„Nein, nein“, beteuerte Mr. Winkle, unter Mr. Pickwicks durchdringendem Blick errötend, „es ist wirklich nichts; ich versichere Ihnen, es ist nichts, werter Freund. Ich werde wegen einer Privatangelegenheit binnen kurzem die Stadt verlassen müssen und hatte gehofft, Sie würden erlauben, daß Sam mich begleitet.“

Mr. Pickwicks Gesicht drückte noch größeres Erstaunen aus als zuvor.

„Ich glaubte“, stammelte Mr. Winkle, „Sam würde nichts dagegen haben; aber natürlich, wenn er Gefangener ist, so ist die Sache unmöglich, und ich muß eben allein reisen.“

Noch während Mr. Winkle sprach, fühlte Mr. Pickwick mit einigem Erstaunen, daß die Finger seines Dieners an den Gamaschen zitterten, als ob er überrascht oder bestürzt wäre. Sam sah auch auf Mr. Winkle, als dieser schwieg, und wenn auch der Blick, den die beiden wechselten, nur eine Sekunde dauerte, so schienen sie einander doch zu verstehen.

„Weißt du etwas von dieser Sache, Sam?“ fragte er daher mit scharfem Ton.

„Nö, nichts, Sir“, versetzte Mr. Weller, mit außerordentlicher Emsigkeit mit den Gamaschen beschäftigt.

„Bestimmt nicht, Sam?“

„Nun, Sir“, antwortete Mr. Weller, „so viel ist gewiß, daß ich bis jetzt noch nie etwas darüber gehört habe. Wenn ich auch manches errate“, fügte er mit einem Blick auf Mr. Winkle hinzu, „so bin ich nicht befugt, es zu sagen, denn ich könnte auch falsch geraten haben.“

„Und ich habe kein Recht, weiter in die Privatangelegenheiten meines Freundes zu dringen, und wenn wir auch noch so vertraut sind“, meinte Mr. Pickwick nach kurzem Stillschweigen. „Laßt mich nur noch so viel sagen, daß ich von all dem nicht das mindeste verstehe. Nun damit genug über diesen Punkt.“

Nun war aber noch so viel zu besprechen, daß der Vormittag schnell verfloß, und als Mr. Weller um drei Uhr auf dem kleinen Tisch eine Hammelkeule und eine ungeheure Fleischpastete mit verschiedenen Platten Gemüse und Flaschen Porter aufstellte, fühlte sich jeder in die Stimmung versetzt, dem Mahle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, wenn es auch die unappetitliche Küche des Gefängnisses war, in der das Fleisch gekauft und zubereitet und die Pastete gebacken worden war.

Den Nachtisch bildeten ein paar Flaschen vorzüglichen Weines, die Mr. Pickwick aus dem Kaffeehaus Hörn in Doktors Commons hatte holen lassen. Die paar Flaschen hätte man eigentlich richtiger ein halbes Dutzend nennen können, und als der Wein getrunken und der Tee vorüber war, läutete die Gefängnisglocke zum Zeichen, daß sich die Besuche zu entfernen hätten.

War nun Mr. Winkles Benehmen am Morgen unerklärlich gewesen, so wurde es jetzt geradezu unirdisch und feierlich, als er sich, von Gefühl und Anteilnahme überwältigt, wohl ein halbes dutzendmal zum Abschied anschickte.

Er blieb zurück, bis Tupman und Snodgraß verschwunden waren, und drückte Mr. Pickwick mit einem Gesicht die Hand, auf dem feste Entschlossenheit mit der Quintessenz des Grames einen furchtbaren Bund geschlossen hatte.

„Gute Nacht, lieber, lieber Freund“, murmelte er dabei Zwischen den Zähnen.

„Gott segne Sie, mein guter Junge“, rief gerührt Mr. Pickwick.

„Nun also, was ist denn?“ erscholl Mr. Tupmans Stimme im Gang.

„Jaja, gleich, gleich“, antwortete Mr. Winkle. „Gute Nacht.“

„Gute Nacht.“

Noch einmal wurde gute Nacht gesagt, und noch einmal, und nach diesem noch ein halbes dutzendmal, und immer noch hielt Mr. Winkle die Hand seines Freundes fest und sah ihm mit demselben seltsamen Ausdruck ins Gesicht.

„Ist denn wirklich nichts vorgefallen?“ fragte Mr. Pickwick, als ihm vor lauter Schütteln schon der Arm weh tat. „Nichts“, erwiderte Mr. Winkle.

„Nun denn, gute Nacht“, sagte Mr. Pickwick, bemüht, seine Hand loszumachen.

„Mein Freund, mein Wohltäter, mein verehrter Meister!“ murmelte Mr. Winkle, ihn noch am Handgelenk erwischend, „beurteilen Sie mich nicht zu hart, wenn Sie hören, daß ich, durch unüberwindliche Hindernisse dazu genötigt …“

„Wird’s bald!“ rief Mr. Tupman, sich wieder an der Tür zeigend. „Kommen Sie, oder sollen wir eingeschlossen werden?“

„Jaja, ich bin bereit“, erwiderte Mr. Winkle und riß sich mit furchtbarer Anstrengung los.

Als Mr. Pickwick den Herren mit stummem Erstaunen den Gang nachblickte, erschien Sam Weller oben an der Treppe und flüsterte einen Augenblick Mr. Winkle etwas ins Ohr.

„Gewiß, gewiß, verlassen Sie sich auf mich“, war die laute Antwort.

„Danke Ihnen, Sir; aber Sie vergessen es doch nich, Sir?“ bemerkte Sam eindringlich.

„In keinem Fall“, erwiderte Mr. Winkle.

„Na, also viel Glück, Sir“, sagte Sam und griff an seinen Hut. „Hätte mir riesig gefreut, es Ihnen gleichtun zu können, Sir, aber die Herrschaft kommt natürlich zuerst.“

„Es ist sehr brav von Ihnen, Sam, daß Sie hierbleiben“, versetzte noch Mr. Winkle, und dann ging das Kleeblatt die Treppe hinunter und verschwand.

„Höchst sonderbar“, brummte Mr. Pickwick, kehrte in sein Zimmer zurück und setzte sich nachdenklich an den Tisch. „Was kann der junge Mann nur vorhaben?“

Er hatte eine Weile nachgegrübelt, als die Summe Mr. Rokers, des Schließers, fragte, ob man eintreten dürfe. „Ich bringe Ihnen hier ein weicheres Kissen, Sir“, sagte er, „statt des einstweiligen, das Sie gestern nacht gehabt haben.“

„Danke bestens. Wollen Sie nicht ein Glas Wein trinken?“

„Sie sind sehr gütig, Sir“, erwiderte Mr. Roker. „Ihre Gesundheit, Sir.“

„Danke.“

„Ich bedaure, Ihnen Sagen zu müssen, daß es mit Ihrem Gefährten diesen Abend sehr schlecht steht, Sir“, bemerkte Roker, stellte das geleerte Glas nieder und betrachtete aufmerksam das Futter seines Hutes.

„Was? Mit dem Kanzleigefangenen?“

„Er wird nicht mehr lange Kanzleigefangener sein, Sir.“

„Das Blut gerinnt in meinen Adern“, rief Mr. Pickwick. „Was meinen Sie damit?“

„Er ist schon lange schwindsüchtig gewesen, und diesen Abend hat er außerordentlich“ Atembeschwerden bekommen. Der Arzt sagt schon seit einem halben Jahre, nur eine Luftveränderung könne ihn retten.“

„Großer Gott, so ist dieser Mann ein halbes Leben lang von der Gerechtigkeit langsam hingemordet worden?“

„Davon verstehe ich nichts, Sir“, erwiderte Roker, den Hut zwischen beiden Händen an der Krempe wägend. „Es wäre ihm vermutlich an jedem andern Orte auch so gegangen. Diesen Morgen kam er ins Krankenzimmer. Der Doktor sagte, man müsse ihm soviel wie möglich stärkende Sachen geben, und der Vorsteher schickte ihm Wein, Fleischbrühe und dergleichen aus seinem eignen Hause. Des Vorstehers Schuld ist es nicht, das wissen Sie, Sir.“

„Natürlich nicht“, erwiderte Mr. Pickwick schnell.

„Ich befürchte aber“, meinte Roker kopfschüttelnd, „es ist alles umsonst. Ich hab eben Neddy eine Wette von zwei Gläsern Schnaps gegen eins angeboten; aber er wollte nicht und hatte auch ganz recht. – Gute Nacht, Sir.“

„Halt“, rief Mr. Pickwick mit ernstem Ton. „Wo ist das Krankenzimmer?“

„Gerade über Ihrem Schlafgemach, Sir. Ich will’s Ihnen zeigen, wenn Sie mitkommen wollen.“

Mr. Pickwick nahm in Eile schweigend seinen Hut.

Der Schließer ging still voran, drückte leise eine Türklinke auf und forderte ihn auf, einzutreten. Es war ein großes, kahles, ödes Zimmer mit einer Menge eiserner Halbbettstellen, auf deren einer der Schatten eines Menschen lag – bleich und geisterhaft. Er atmete hart und schwer und ächzte vor Schmerzen, sooft sich seine Brust hob und senkte. Am Bette saß ein kleiner alter Mann in einer Schuhflickerschürze und las mit Hilfe einer Hornbrille laut in der Bibel. Es war der unglückliche Erbe.

„Öffnen Sie das Fenster“, flüsterte der Kranke.

Das Gepolter der Wagen und Karren, das Gerassel der Räder, das Geschrei der Männer und Kinder, der ganze Lärm des Lebens und Webens einer geschäftigen Menge wogte in dumpfem Gemurmel in das Zimmer. Wie fernes Summen erhob sich von Zeit zu Zeit ein schallendes Gelächter oder schlug das Bruchstück eines fröhlichen Liedes, von einem lustigen Haufen gesungen, auf einen Augenblick ans Ohr und verhallte dann im allgemeinen Lärm der Stimmen und Fußtritte – die Brandung der rastlosen See des Lebens da draußen. Es sind jederzeit melancholische Töne für einen ruhigen Zuhörer; aber wie trübselig müssen sie dem Ohre eines Menschen klingen, der an einem Sterbebette wacht.

„Es fehlt an Luft hier“, stöhnte der Kranke mit schwacher Stimme. „Der Ort verpestet sie. Sie war ringsum frisch, als ich vor Jahren hierher kam; aber sie wird schwül und drückend auf ihrem Wege durch diese Mauern. Ich kann sie nicht atmen.“

„Wir haben sie lange miteinander geatmet“, tröstete der Schuhflicker, „es wird schon wieder besser kommen.“

Es folgte eine kurze Pause, während deren die beiden Zuschauer näher an das Lager traten. Der Kranke zog die Hand seines alten Mitgefangenen an sich, drückte sie zärtlich zwischen den seinigen und hielt sie lange fest.

„Ich hoffe“, ächzte er nach einer Weile mit so schwacher Stimme, daß man scharf hinhören mußte, um die halben Laute zu vernehmen, die zitternd über die blauen Lippen des Sterbenden kamen, „ich hoffe, mein gnädiger Richter wird meiner schweren Buße auf Erden gedenken. Zwanzig Jahre, mein Freund, zwanzig Jahre in diesem scheußlichen Grab! Mein Herz brach, als mein Kind starb, und ich konnte es nicht einmal küssen in seinem kleinen Sarge! Meine Verlassenheit seitdem ist, trotz all dieses Lärmens und Tosens, wahrhaft fürchterlich gewesen. Möge mir Gott vergeben! Er hat meine Einsamkeit, meinen langsamen Tod gesehen.“

Er faltete die Hände, und noch etwas murmelnd, was man nicht verstehen konnte, fiel er in Schlaf; nur in Schlaf anfangs, denn man sah ihn lächeln.

Eine kurze Zeit flüsterten die Anwesenden miteinander; dann fuhr der Schließer, als er die Kissen ordnen wollte, schnell zurück.

„Bei Gott, er ist erlöst!“ sagte er leise.

Und er war es. Aber er hatte schon im Leben so totenähnlich ausgesehen, daß sie nicht wußten, wann er gestorben war.

Dreiundvierzigstes Kapitel


Dreiundvierzigstes Kapitel

Schildert eine rührende Zusammenkunft Mr. Samuel Weller mit seinen Verwandten. Mr. Pickwick besichtigt die kleine Welt, die er bewohnt, und faßt den Entschluß, künftighin so wenig wie möglich mit ihr zu verkehren.

Einige Tage nach seiner Festnahme ging Mr. Samuel Weller eines Morgens, nachdem er das Zimmer seines Herrn mit größter Sorgfalt aufgeräumt hatte, mit sich zu Rate, wie er die nächsten zwei Stunden am besten totschlagen könnte. Der Morgen war schön, und so kam er auf den Gedanken, daß eine Finte Porter im „Freien“ das richtigste wäre.

Er ging also in die Kantine, und nachdem er das Bier und überdies noch die vorgestrige Zeitung bekommen, begab er sich auf die Kegelbahn, setzte sich auf eine Bank und begann, sich auf eine sehr gesetzte und methodische Weise zu unterhalten.

Vor allem nahm er einen Schluck, sah dann, zu einem Fenster empor und beglückte eine junge Dame, die dort Kartoffeln schälte, mit einem platonischen Blinzeln. Dann entfaltete er die Zeitung und gab sich Mühe, die Polizeiberichte nach außen zu falten, und da dies bei dem sich in den Blättern verfangenden Winde eine anstrengende und schwierige Arbeit war, nahm er nach glücklichem Gelingen einen zweiten Schluck. Dann las er zwei Zeilen und unterbrach diese Beschäftigung, um ein paar Männern zuzusehen, die ein Tennisgame spielten, nach dessen Beendigung er beifälligerweise „Bravo“ rief und seine Augen die Runde machen ließ, um sich zu überzeugen, ob sich die Ansichten der Zuschauer mit den seinigen deckten. Dies schloß die Notwendigkeit in sich, wiederum zu dem Fenster hinaufzusehen, und da die junge Dame noch immer dort stand, so erforderte es die allgemeine Höflichkeit, ihr abermals zuzublinzeln und mit einem Schluck Bier stumm zuzutrinken. Einem Jungen, der letzteres mit weitaufgerissenen Augen mit angesehen, warf er einen furchtbaren Zornblick zu, schlug seine Beine übereinander und begann endlich, die Zeitung mit beiden Händen festhaltend, allen Ernstes zu lesen.

Kaum hatte er sich in den erforderlichen Zustand von Gedankenkonzentration versetzt, als er jemand in weiter Ferne in einem Gang seinen Namen rufen zu hören glaubte. Das war auch keine Täuschung, denn er lief alsbald von Mund zu Mund, und in wenigen Sekunden erzitterte die Luft mit lauter Wellers“.

„Hüür!“ schrie Sam mit Stentorstimme. „Was gibt’s? Wer fragt nach ihm? Is ’n Expresser gekommen, um ihm zu melden, daß sein Landhaus in Flammen steht?“

„In der Halle fragt jemand nach Ihnen“, sagte ein Mann in der Nähe.

„Geben Sie auf das Blatt und den Krug acht, alter Freund; wollen Sie?“ bat Sam. „Ich komme schon. Bei Gott, wenn sie mir vor die Schranken riefen, so könnten sie keinen größeren Lärm nich machen.“

Diese Worte mit einem sanften Schlag auf den Kopf des vorerwähnten jungen Herrn begleitend, der, die unmittelbare Nähe des Gerufenen nicht ahnend, aus Leibeskräften „Weller“ mitschrie, eilte Sam über den Hof und sprang die Treppe hinauf in die Halle. Hier war das erste, was seine Augen erblickten, sein heißgeliebter Vater, der mit dem Hute in der Hand auf der untersten Treppenstufe saß und alle Minuten aus vollem Halse „Weller“ brüllte.

„Warum grölst denn so?“ fragte Sam erregt, als der alte Herr eben wieder einen wilden Schrei ausgestoßen hatte. „Bist ja ganz rot, wie ’n irrsinniger Glasbläser! Was gibt’s denn?“

„Aha!“ rief der alte Herr, „da bist du ja. Ich bekam schon Angst, daß du womöglich ’nen Spaziergang um den Regentpark machtest, Sammy.“

„Na, hör mal!“ sagte Sam. „Man verhöhnt doch nich das Opfer des Geizes. Und dann geh mal von der Treppe da weg. Warum sitzt du überhaupt hier? Ich wohn doch nich hier.“

„Ich muß dir ’nen Spaß erzählen, Sammy“, versetzte Mr. Weller senior und erhob sich.

„Warte mal ’n Augenblick. Bist ganz weiß hinten.“

„Das is recht, Sammy, reib es weg“, versetzte Mr. Weller, als sein Sohn ihn abstaubte. „Ich möchte hier nicht den affigen Eindruck machen, daß ich was Weißes auf ‚m Leibe habe. Was, Sammy?“ Hier zeigten sich bei Mr. Weller unzweideutige Symptome eines neuerlich aufkommenden Lachkrampfes, den Sam zu verhindern suchte.

„Was hast denn nu wieder?“ fragte er, „du wirst noch mal platzen.“

„Sammy“, versetzte Mr. Weller und wischte sich über die Stirn, „ich hab Angst, dieser Tage trifft mir noch der Schlag vor lauter Lachen. Was denkst du wohl, wer mit mir hergekommen ist, Sammy?“

„Pell?“ riet Sam.

Mr. Weller schüttelte den Kopf und blies seine roten Backen vor verhaltenem Gelächter auf.

„Der Buntscheckige vielleicht?“

Mr. Weller schüttelte wieder den Kopf.

„Na also, wer denn?“

„Deine Stiefmutter“, erwiderte Mr. Weller.

Und es war ein Glück, daß er es herausbrachte, sonst wären seine Backen bei der unmäßigen Anstrengung unvermeidlich geborsten.

„Deine Stiefmutter, Sammy, und der Rotnasige, mein Junge, der Rotnasige. Hohoho!“

Und wieder bekam Mr. Weller Lachkrämpfe, während ihn Sam mit einem breiten Grinsen ansah, das sich allmählich über sein ganzes Gesicht verbreitete.

„Die sind hergekommen, um dir ins Gewissen zu reden, Samuel“, stöhnte Mr. Weller und trocknete seine Tränen. „Laß dir bloß nichts über deinen unnatürlichen Gläubiger rausholen, Sammy.“

„Was? Wissen sie nicht, wer es is?“ fragte Sam.

„Nich die Bohne.“

„Wo sind sie denn?“ fragte Sam feixend.

„Im Lauschestübchen. Denkst doch nich, der Rotnasige geht wohin, wo es nich was Gebranntes gibt; der nich, Samuel, der nich. Wir hatten diesen Morgen ’ne sehr hübsche Fahrt vom ,Marquis‘ hierher“, erklärte Mr. Weller, als er sich wieder einer artikulierten Ausdrucksweise fähig fühlte.

„Ich spannte den alten Schecken in das kleine Fuhrwerk, wo dem ersten Mann von deiner Stiefmutter gehört hatte. Und denn wurde ’n Armstuhl für den Hirten raufgepackt, und ich will verdammt sein“, fügte Mr. Weller mit einem Blick bodenloser Verachtung hinzu, „wenn sie nich noch ’ne tragbare Treppe auf die Straße schleppten, damit er leichter raufkam. Ich wünschte bloß, du hättest gesehen, wie der sich beim Aufsteigen festhielt, aus Angst, daß er runterprasseln und in tausend Fetzen auseinanderfallen könnte. Na, schließlich plumpste er rein, und wir fuhren los, und ich möchte beinahe sagen, mir kommt es so vor, Samuel, daß es ihm etwas rumpeln tat, wenn’s um die Ecken ging.“

„Nanu, denn nehme ich an, du bist an ’n paar Posten gedonnert?“ meinte Sam.

„Ich hab Angst“, versetzte Mr. Weller mit wildem Gebärdenspiel, „ich hab Angst, ich rappelte ein-, zweimal wo gegen; jedenfalls flog er nach alle Seiten aus sein Armstuhl raus.“

Ein heiseres innerliches Kollern benahm dem alten Herrn die Sprache.

„Sei unbesorgt, Sammy, sei unbesorgt“, sagte er, als er nach ungeheurer Anstrengung und verschiedentlichem konvulsivischem Stampfen auf den Boden seine Stimme wieder erlangt hatte. „Es is nur ’ne Art stilles Lachen, wo ich nich zum Ausbruch kommen lassen will, Sammy.“

„Na gut“, meinte Sam, „aber es wäre besser, du würdest es nich machen. Es sieht reichlich gefährlich aus.“

„Gefällt es dir nich, Sammy?“

„Könnte ich nich sagen“, versetzte Sam.

So weit war die Unterhaltung gediehen, als Vater und Sohn an der Tür des „Lauschestübchens“ ankamen, in das Sam alsbald hineintrat, nachdem er zuvor einen Augenblick stehengeblieben war, um über die Schulter weg einen schlauen Blick auf seinen verehrten Erzeuger zu werfen, der immer noch kicherte.

„Stiefmutter“, grüßte er dann höflich, „sehr verbunden für den gütigen Besuch. Hirte, wie befinden Sie sich?“

„Ach, Samuel!“ rief Mrs. Weller. „Das ist ja fürchterlich.“

„Ach wo, Ma’am“, versetzte Sam. „Oder doch, Hirte?“

Mr. Stiggins hob seine Hände empor und verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße, oder vielmehr das Gelbe, sichtbar war, erwiderte aber nichts.

„Ist der Herr mit ’nem schmerzhaften Leiden behaftet?“ fragte Sam mit einem forschenden Blick auf seine Stiefmutter.

„Der gute Mann ist bekümmert, dich hier zu sehen, Samuel“, erklärte Mrs. Weller.

„Ah, soso!“ sagte Sam. „Ich bekam wegen sein Benehmen schon Angst, daß er womöglich vergessen hat, die letzten Gurken, wo er gegessen hat, mit Feffer zu bestreuen. Setzen Sie sich, Sir; zur Ruhe setzen kostet nichts, wie der König bemerkte, als er seine Minister wegjagte.“

„Junger Mann“, versetzte Mr. Stiggins hochtrabend, „ich fürchte, das Gefängnis hat Sie noch nicht gedemütigt.“

„Bitte um Verzeihung, Sir“, erwiderte Sam, „was waren Sie so gütig zu bemerken?“

„Ich fürchte, junger Mann, Ihr Charakter ist durch diese Züchtigung nicht demütiger geworden“, wiederholte Stiggins mit lauter Stimme.

„Sie sin sehr gütig“, erwiderte Sam. „Ich fürchte, meine Natur gehört nich zu den demütigen. Sehr verbunden für Ihre gute Meinung, Sir.“

Unanständige, gelächterartige Laute in der Gegend des Stuhles, auf dem Mr. Weller senior saß, drohten Mrs. Weller in hysterische Krämpfe zu versetzen.

„Weller!“ rief sie. „Weller, gleich kommst du aus dem Winkel raus!“

„Sehr verbunden, meine Liebe“, versetzte Mr. Weller, „aber ich fühle mir hier sehr behaglich.“

Sofort brach Mrs. Weller in Tränen aus.

„Was fehlt Ihnen, Madame?“ fragte Sam.

„Ach, Samuel!“ jammerte Mrs. Weller. „Dein Vater macht mich ganz unglücklich; will ihm denn gar nichts frommen?“

„Hörst du das?“ rief Sam. „Madam möchte wissen, ob dir gar nichts frommen tut.“

„Ich bin Mrs. Weller für ihre höfliche Frage sehr verbun’n, Sammy“, erwiderte der alte Herr. „Ich denke, ’ne Feife würde mir sehr frommen. Laß mich mal eine stopfen, Sammy!“

Abermals vergoß Mrs. Weller einen Tränenstrom, und Mr. Stiggins schluchzte.

„Holla! Dem unglücklichen Herrn wird schon wieder übel“, rief Sam und blickte umher. „Wo fühlen Se jetzt den Schmerz, Sir?“

„Auf derselben Stelle, junger Mann“, ächzte Mr. Stiggins, „auf derselben Stelle.“

„Wo mag das nur sein, Sir?“ riet Sam, anscheinend mit großer Einfalt.

„Im Herzen, junger Mann“, entgegnete Mr. Stiggins und drückte, seinen Regenschirm an die Weste.

Das war zu ergreifend für Mrs. Weller. Sie schluchzte laut und stellte die Behauptung auf, der Mann mit der roten Nase sei ein Heiliger. „Ich fürchte, Stiefmutter, der Herr mit seinen verdrehten Gesichtszügen bekommt Durst von dem traurigen Anblick, den er vor sich hat. Was meinst du, Frau Mutter?“

Die würdige Dame sah Mr. Stiggins forschend an, der seine Augen rollen ließ und sich an die Kehle griff, wobei er die Handlung des Schlingens mimte, um anzudeuten, daß er tatsächlich Durst habe.

„Ich habe Angst, Samuel, seine Gefühle haben ihn durstig gemacht“, bemerkte Mr. Weller düster.

„Was is Ihr gewöhnliches Getränk, Sir?“ fragte Sam.

„Oh, mein lieber junger Freund!“ wehrte Mr. Stiggins ab. „Getränke sind Eitölkeitön.“

„Ach, wie wahr, wie wahr!“ schluchzte Mrs. Weller mit beifälligem Kopfnicken.

„Na“, sagte Sam, „also welche ,Eitölkeitön‘ schmecken Ihnen denn am besten, Sir?“

„Ach, main liebör jungör Freund“, erwiderte Mr. Stiggins, „ich verachtö allö. Wann ös, wann ös ains gibt, das weniger schlimm ist als ain andörös, so ist ös der Gaist, den man Rum nönnt – warm, main liebör jungör Freund, mit drai Stückchön Zuckör für das Glaaas!“

„Tut mir sehr leid, Sir“, sagte Sam, „daß Ihre Lieblingseitelkeit in diesem Etablissemang nich verkauft wird; muß Ihnen leider sagen, es is nich gestattet.“

„Oh, über die Hartherzigkeit dieser verstockten Menschen!“ rief Mr. Stiggins aus. „Ach, über die fluchwürdige Grausamkeit dieser unmenschlichen Verfolger!“ – Und wieder hob der Hirt seine Augen auf und preßte den Regenschirm an seine Brust voll gerechter Empörung. Schließlich schlug Sam eine Flasche Portwein mit warmem Wasser, Gewürz und Zucker vor, weil dieses für den Magen sehr gesund sei und weniger nach Oitelkeit schmeckte als andre Mischungen, ließ das Getränk kommen und bereitete es, während der Herr mit der roten Nase und die Stiefmutter Mr. Weller senior ansahen und schluchzten.

„Na, was reckst du denn deine Hand auf so ’ne rohe Art und Weise nach dem Glas aus?“ rief Sam schnell, als die Faust Mr. Wellers, der abermals hinter dem Hirten allerlei drohende Gestikulationen vollführt hatte, mit dem Kopf Mr. Stiggins‘ zufällig in unsanfte Berührung kam. „Unabsichtlich, Sammy“, entschuldigte sich Mr. Weller kurz und hanebüchen.

„Versuchen Sie mal „ne innerliche Wundbehandlung, Sir“, riet Sam, als der rotnasige Herr sich mit kläglicher Miene den Kopf rieb. „Was halten Sie von so einer warmen Eitelkeit, Sir?“

Mr. Stiggins antwortete nicht mit Worten, aber sein Benehmen war ausdrucksvoll. Er kostete den Inhalt des Glases, das ihm Sam in die Hand gedrückt, stieß seinen Regenschirm auf den Boden, kostete wieder, rieb sich die Magengegend behaglich, trank dann das Ganze auf einen Zug aus, schmatzte mit den Lippen und hielt das Glas hin, um es wieder füllen zu lassen.

Auch Mrs. Weller wollte nicht zurückstehen, wo es galt, der Mischung Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sie protestierte anfangs, sie könne keinen Tropfen trinken – dann trank sie einen kleinen Tropfen – dann einen großen Tropfen – und dann eine große Menge Tropfen, und da ihr weiches Naturell durch gebranntes Wasser stark angegriffen wurde, ließ sie bei jedem Tropfen Glühwein einen Tränenstrom fließen und zerging schließlich derart, daß sie eine imposante Höhe von Elend erklomm.

Mr. Weller senior gab bei Beobachtung dieser Zeichen und Vorgänge sein Mißfallen auf mannigfaltige Weise durch heftiges Gebrumm kund. Mr. Stiggins erhob sich nach einem zweiten Krug schwerfällig und erging sich in einer erbaulichen Rede, die auf das Seelenheil der Gesellschaft, insbesondere Mr. Samuels, abzielte, den er in rührenden Ausdrücken beschwor, die Sünde zu fliehen, Heuchelei und Hochmut zu meiden und in allen Stücken sich ihn zum Muster und Vorbild zu nehmen, in welchem Fall er früher oder später zu dem köstlichen inneren Bewußtsein gelangen könne, daß er, gleich ihm, ein achtbarer und tadelloser Charakter und alle seine Bekannten und Freunde rettungslos verloren und verworfen seien; ein Bewußtsein, sagte er, das ihm die größte Seligkeit bereiten wurde.

Er beschwor ihn ferner, vor allen Dingen das Laster der Trunksucht zu fliehen, das er den unflätigen Gewohnheiten der Schweine und den giftigen und verderblichen Arzneien verglich, die, durch den Mund aufgenommen, das Gedächtnis schwächten. Bei dieser Stelle seiner Rede wurde der ehrwürdige Herr besonders unzusammenhängend und mußte, im Feuer der Beredsamkeit hin und her schwankend, sich an der Stuhllehne festhalten, um das physische Gleichgewicht nicht zu verlieren.

Ganz besonders schien er seine Zuhörer vor den falschen Propheten und elenden Spöttern über die Religion warnen zu wollen, die, ohne die geistige Fähigkeit, die vornehmsten Glaubenssätze auszulegen, oder ohne das Herz, ihre Grundwahrheiten zu empfinden, gefährlichere Mitglieder der Gesellschaft seien als der gemeine Verbrecher, indem sie notwendigerweise auf die Schwächsten und am wenigsten Unterrichteten die stärkste Herrschaft ausübten, alles, was am heiligsten gehalten werden sollte, herabsetzten und verächtlich machten und ganze Klassen von tugendhaften und sittlich guten Menschen vieler vortrefflicher Sekten und Glaubensrichtungen in üblen Ruf brächten – aber da er sich eine geraume Zeit an der Stuhllehne festhielt und das eine Auge geschlossen hielt und mit dem andern ausdrucksvoll blinzelte, so läßt sich annehmen, daß er alles nur dachte, aber wohlweislich bei sich behielt.

Während der undeutlichen Predigt seufzte und weinte Mrs. Weller am Schlüsse jedes Abschnittes, während Sam mit übergeschlagenen Beinen und auf die Lehne seines Sessels gestützten Armen den Sprecher mit süßem, mildem Lächeln betrachtete und nur gelegentlich einen Blick des Einverständnisses auf den alten Herrn warf, der im Anfang entzückt war und ungefähr in der Mitte einschlief.

„Bravo! Vortrefflich!“ rief Sam, als der Mann mit der roten Nase nach Schluß der Rede seine abgetragnen Handschuhe anzog und dabei die Finger durch die durchlöcherten Enden steckte, bis die Knöchel sichtbar wurden. „Ganz vortrefflich.“

„Ich hoffe, es wird bei dir anschlagen, Samuel“, sagte Mrs. Weller feierlich.

„Ich denke ja, Stiefmutter“, nickte Sam.

„Ich wollte, es schlüge auch bei deinem Vater an“, seufzte Mrs. Weller.

„Danke dir, meine Teure“, erwiderte Mr. Weller senior. „Is dir nu leichter, meine Liebe?“

„Spötter!“ rief Mrs. Weller empört.

„Unerleuchteter Mann!“ lallte Ehrwürden Mr. Stiggins.

„Na, wenn ich kein besseres Licht nich bekommen tue als wie Ihren Mondschein“, knurrte Mr. Weller, „denn is es sehr wahrscheinlich, daß ich ständig ’ne Nachtkutsche fahren werde, bis ich mir von die Straße verabschieden tue. Aber jetzt, Mrs. Weller! Wenn der Schecke noch länger am Futtertrog steht, denn hält er es mir auf dem Heimweg nich mehr aus und schmeißt vielleicht den Armstuhl samt dem Hirten in die nächste Hecke.“

In augenscheinlicher Bestürzung ergriff Mr. Stiggins sofort Hut und Regenschirm und drang auf alsbaldige Abreise. Sam ging mit bis ans Gefängnistor und nahm dann zärtlich Abschied von seinen Gästen.

„Adio, Samuel“, sagte der alte Herr.

„Was heißt das, ,adio‘?“ fragte Sam.

„Na: Leb wohl!“

„Warum sagst das nich gleich? Na, denn leb wohl, Alter.“

„Sammy“, flüsterte Mr. Weller zum Abschied und blickte sich vorsichtig um, „meine Empfehlung an den Gouverneur, und wenn er sich auf was Besseres besinnen tut in seine Sache, denn soll er mich das wissen lassen. Ich und der Kunsttischler, wir haben ’nen Plan ausgeheckt, daß wir ihn rauskriegen, ’n Pjananino, Samuel – ’n Pjananino!“ fügte er triumphierend hinzu, schlug seinem Sohn mit der Rückseite der Hand auf den Brustkasten und trat ein paar Schritte zurück.

„Was meinst du damit?“ fragte Sam.

„’n Pjananinopforte, Samuel“, erwiderte Mr. Weller noch geheimnisvoller, „er kann es mieten; so eins, wo man gar nich drauf spielt, Sammy.“

„Er soll bloß zu meinem Freund, dem Kunsttischler, schicken und es holen lassen“, erklärte Mr. Weller. „Verstehst du jetz?“ „Nein“, antwortete Sam.

„Is gar nichts bei zu riskieren“, flüsterte Mr. Weller unbeirrt. „Er kann sich mit seinen Hut und seine Schuhe reinlegen und durch die Beine, die sind nämlich hohl, da kann er frische Luft schnappen. Wir halten ihm ’nen Schiffsplatz nach Amerika bereit. Die amerikanische Regierung gibt ihm nich wieder raus, wenn sie merkt, daß er Zaster hat, Sammy. Da soll er denn man bleiben, der Gouverneur, bis die Bardell tot is oder Dodson und Fogg am Galgen hängen, was wahrscheinlich zuerst passieren wird, Sammy. Und denn soll er zurückkommen und „n Buch über die Amerikaner schreiben. Wird ihm ’n Batzen Geld einbringen, wenn er sie bloß orntlich anstänkern tut.“

Mr. Weller flüsterte diesen kurzen Abriß eines Fluchtplanes seinem Sohne mit vielem Ungestüm ins Ohr, gab dann, als fürchte er, durch weitere Erklärungen die Wirkung seiner furchtbaren Mitteilung abzuschwächen, den freimaurerischen Kutschergruß und verschwand.

Sam hatte kaum seine gewöhnliche Ruhe wiedererlangt, die durch die geheimnisvolle Mitteilung seines verehrten Vaters gewaltig erschüttert worden war, als ihm Mr. Pickwick auf die Schulter klopfte.

„Sam!“

„Sir?“

„Ich wünsche einen Gang durch das Gefängnis zu machen, und du sollst mich dabei begleiten. Da kommt übrigens ein. Gefangener, den wir kennen, Sam“, fügte Mr. Pickwick lächelnd hinzu.

„Wer denn, Sir?“ fragte Sam. „Der Schenlemän mit dem Krauskopp oder der interessante Herr in den Strümpfen?“

„Keiner von beiden. Ein viel älterer Freund von dir, Sam.“

„Von mir, Sir?“

„Du wirst dich dieses Herrn schon noch erinnern“, sagte Mr. Pickwick. „Still jetzt! Kein Wort mehr, Sam, keine Silbe! Da ist er.“

Noch während Mr. Pickwick sprach, kam Jingle heran. Er sah weniger elend aus als das letztemal, denn er trug seine wenn auch recht abgeschabten Kleider, die er mit Mr. Pickwicks Hilfe aus der Gefangenschaft des Leihhauses erlöst hatte. Auch hatte er ein weißes Hemd an, und seine Haare waren frisch gestutzt. Gleichwohl war er sehr blaß und mager, und als er, auf einen Stock gestützt, langsam heranschlich, konnte man ihm leicht ansehen, daß er durch Krankheit und Mangel hart gelitten hatte und noch immer äußerst schwach war. Er zog den Hut, als Mr. Pickwick ihm zunickte, und schien beim Anblick Sam Wellers sehr gedemütigt und beschämt.

Dicht auf seinen Fersen erschien Hiob Trotter, in dessen Sündenregister jedenfalls Mangel an Treue und Anhänglichkeit an seinen Kameraden keinen Platz fand. Er war noch immer zerlumpt und schmutzig, sein Gesicht schien aber nicht mehr ganz so hohl zu sein wie bei seinem ersten Zusammentreffen mit Mr. Pickwick vor einigen Tagen. Als er vor dem wohlwollenden alten Herrn tief den Hut zog, murmelte er etwas von heißer Dankbarkeit und von Errettung vom Hungertode.

„Schon gut“, wehrte Mr. Pickwick ungeduldig ab. „Sie können mit Sam nachkommen. Ich wünsche Sie zu sprechen, Mr. Jingle. Können Sie gehen ohne seine Hilfe?“

„O ja, Sir – ganz zu Diensten – nicht zu schnell – Beine schlotterig – Kopf schwindelig – immer alles im Kreis herum – erdbebenartiger Zustand – ganz erdbebenartig.“

„Dann geben Sie mir Ihren Arm.“

„Nein, nein“, erwiderte Jingle hastig, „unmöglich – zuviel Güte.“

„Unsinn!“ sagte Mr. Pickwick. „Stützen Sie sich auf mich; ich will es, Sir!“

Da Mr. Pickwick sah, daß Jingle äußerst aufgeregt, verwirrt und unschlüssig war, zog er ohne Umstände den Arm des kranken Komödianten durch den seinigen und führte ihn fort, ohne ein Wort weiter zu verlieren.

Während dieser ganzen Zeit hatte Mr. Samuel Wellers Angesicht einen Ausdruck überwältigten und überschwenglichsten Erstaunens gezeigt, das sich die Einbildungskraft nur ausmalen kann. Nachdem er in tiefem Schweigen von Hiob zu Jingle und von Jingle zu Hiob geblickt, stieß er endlich leise die Worte aus: „Na, da hört sich doch ..,“ und wiederholte sie wenigstens zwanzigmal. Dann aber schien er seiner Stimme gänzlich beraubt zu sein und ließ in sprachloser Verwunderung seine Blicke aufs neue von dem einen zu dem andern wandern.

„Nun, Sam?“ fragte Mr. Pickwick über die Achsel.

„Komme schon, Sir“, erwiderte Mr. Weller, folgte seinem Herrn mechanisch und konnte noch immer kein Auge von Mr. Hiob Trotter abwenden, der schweigend an seiner Seite ging.

Hiob sah beharrlich zu Boden, und Sam, dessen Blick an Hiobs Gesicht geradezu klebte, rannte gegen alle Leute, die ihm begegneten, an, fiel über kleine Kinder, stolperte an Treppen und Geländern und schien von all dem nichts zu bemerken, bis Hiob endlich verstohlen aufblickte und fragte:

„Wie befinden Sie sich, Mr. Weller?“

„Ja, er is es!“ rief Sam, schlug sich auf das Bein und machte seinen Gefühlen mit einem langen, schrillen Pfiff Luft.

„Mit mir hat es sich sehr geändert, Sir“, sagte Hiob.

„Das seh ich“, rief Sam, mit unverhohlener Verwunderung die Lumpen seines Begleiters musternd. „Es ist aber ’n schlechter Tausch gewesen, wie der Schenlemän sagte, als er zwei verdächtige Schilling und sechs Pence in kleiner Münze für ’ne echte halbe Krone eingewechselt hatte.“ „Ja, das ist wahr“, versetzte Hiob mit Kopfschütteln. „Die Zeit des Betrügens ist jetzt vorbei, Mr. Weller. Tränen“, fügte er mit einem Anflug alter Verschmitztheit hinzu, „Tränen sind weder die einzigen Beweise von Kummer und Elend, noch die besten.“ „Wissen wir“, erwiderte Sam ausdrucksvoll.

„Man kann sie auch künstlich hervorrufen, Mr. Weller!“

„Sehr richtig bemerkt“, versetzte Sam. „Es gibt Leute, wo sie immer in Bereitschaft halten und den Stöpsel rausziehen können, wann sie wollen.“

„Jaja“, gab Hiob zu, „aber, mein lieber Mr. Weller, diese Dinge lassen sich doch nicht so leicht nachmachen, und es ist ein recht schmerzhafter Prozeß, sie künstlich hervorzurufen.“ Dabei deutete er auf seine blassen, eingesunknen Wangen, schlug seinen Rockärmel zurück und entblößte seinen Arm, der aussah, als ob man ihn ohne Mühe abbrechen könnte, so dünn und spitzig stachen die Knochen unter ihrer dünnen Fleischdecke hervor.

„Was haben Sie bloß mit sich angefangen?“ rief Sam schaudernd.

„Nichts.“

„Nichts?“

„Ich habe schon viele Wochen gar nichts getan“, sagte Hiob, „und beinahe ebensowenig gegessen und getrunken.“

Sam warf einen umfassenden Blick auf Mr. Trotters schmales Gesicht und seine ganze jammervolle Erscheinung, ergriff ihn dann beim Arm und fing an, ihn mit großer Heftigkeit mit sich fortzuziehen.

„Wohin wollen Sie, Mr. Weller?“ ächzte Hiob, vergeblich bemüht, sich dem eisernen Griff seines alten Feindes zu entwinden.

„Kommen Sie mit“, sagte Sam lakonisch, „kommen Sie mit.“

Und er würdigte Hiob keiner weiteren Erklärung, bis sie das „Lauschestübchen“ erreicht hatten, wo er einen Krug Porter kommen ließ.

„Da“, sagte er, „trinken Sie alles bis auf den letzten Tropfen, und denn kehren Sie den Krug um, damit ich sehe, ob Sie die Arznei auch eingenommen haben.“

„Aber mein bester Mr. Weller“, remonstrierte Hiob.

„Runter damit“, befahl Sam gebieterisch.

Gehorsam erhob Mr. Trotter den Krug und leerte ihn in kleinen, beinahe unmerklichen Schlucken bis auf den Grund. Einmal, aber auch nur ein einziges Mal, pausierte er, um einen langen Atemzug zu tun, ohne jedoch zu wagen, die Augen von dem Gefäß zu erheben, das er einige Augenblicke später mit ausgestrecktem Arm umgekehrt hinhielt. Nichts fiel auf den Boden als ein paar Tröpfchen Schaum, die sich langsam vom Rande losmachten und träge hinabträufelten.

„Bravo“, sagte Sam. „Na, wie fühlen Sie sich jetzt?“

„Besser, Sir, ich glaube, besser“, antwortete Hiob.

„Na, selbstredend“, sagte Sam in beweisendem Ton. „Is ja doch, als wenn Gas in einen Luftballong reingelassen wird. Ich kann es mit bloßem Auge sehen, daß Sie schon dicker werden. Was würden Sie zu ’ner zweiten Dosis sagen, ebenso kräftig wie die erste?“

„Ich möchte lieber nicht; ich bin Ihnen sehr verbunden, Sir“, erwiderte Hiob, „aber ich möchte lieber nicht.“

„Na, meinetwegen“, brummte Sam. „Aber was zwischen die Zähne; was würden Sie davon halten?“

„Dank sei Ihrem guten Herrn, Sir“, antwortete Mr. Trotter, „wir haben heute um drei viertel auf drei eine gebackene Hammelkeule mit Kartoffeln gehabt.“

„Was? Hat er für Sie gesorgt?“ fragte Sam erschüttert.

„Ja, Sir, und noch mehr als das, Mr. Weller. Da mein Herr sehr krank war, hat er ein Zimmer für uns gemietet – wir bewohnten vorher ein wahres Hundeloch – und es bezahlt, Sir; auch ist er bei Nacht zu uns gekommen, damit es niemand erfahren sollte. Ja, Mr. Weller“, fügte Hiob, diesmal mit echten Tränen in den Augen, hinzu, „diesem Herrn könnte ich dienen, bis ich tot zu seinen Füßen niedersänke.“

„Das lassen Sie lieber, mein Freund“, verwies Sam, „kein Wort mehr davon.“

Hiob Trotter sah verwundert auf.

„Kein Wort mehr darüber, junger Mann, sage ich; kein anderer dient bei ihm als wie ich. Und weil wir gerade dabei sind, will ich Ihnen noch in ein Geheimnis einweihen“, fügte Sam hinzu und bezahlte das Bier. „Ich habe niemals gehört oder in Geschichtsbücher gelesen oder auf Gemälde was gesehen von irgendein Engel in eng anliegende Hosen und Gamaschen; nich mal in Komödien, soviel ich mir erinnere – allerdings mag das aus andere Gründe unterlassen worden sein; aber merken Sie es sich, Hiob Trotter, er is trotz alledem ein voll ausgebrüteter Engel, und ich möchte den Mann sehen, wo mir wagen würde zu erzählen, daß er einen besseren kennt.“

Sie fanden Mr. Pickwick auf dem Ballspielplatz, in einem sehr ernsthaften Gespräch mit Jingle begriffen. Er würdigte die buntscheckigen, hier versammelten Gruppen keines Blickes, obschon sie es wohl verdient hätten, daß man sie wenigstens aus Neugierde etwas näher ins Auge gefaßt hätte.

„Nun gut“, sagte er, als Sam und sein Begleiter näher kamen. „Wir werden sehen, wie es mit Ihrer Gesundheit wird, und wollen die Sache inzwischen genauer überlegen. Machen Sie mir einen Überschlag, sobald Sie sich stark genug fühlen; ich will dann darüber nachdenken und weiteres mit Ihnen besprechen. Jetzt gehen Sie auf Ihr Zimmer; Sie sind müde und dürfen nicht zu lange draußen bleiben.“

Ohne ein Wort zu sprechen, ohne einen Funken von seiner alten Lebhaftigkeit oder auch nur von der trübseligen Heiterkeit, die er angenommen hatte, als Mr. Pickwick zum erstenmal in seinem Elend auf ihn gestoßen, verbeugte sich Mr. Alfred Jingle tief, winkte Hiob, ihm noch nicht zu folgen, und schlich sich langsam hinweg.

„Eine kuriose Szene das, nicht wahr, Sam?“ sagte Mr. Pickwick, vergnügt um sich blickend.

„Ja, sehr kurios, Sir“, erwiderte Sam. „Die Wunder hören ja gar nich auf“, fügte er im Selbstgespräch hinzu. „Müßte mich sehr irren, wenn dieser Jingle da sich nich‘ mit dem Wasserkarrengeschäft abgibt.“

Überall schlenderten oder saßen in allen möglichen Stellungen gedankenlosen Nichtstuns eine Menge Schuldner herum, die größtenteils im Gefängnis den Tag zu erwarten hatten, wo ihr Prozeß vor dem Insolvenzgericht verhandelt werden sollte, während andere auf verschiedene Termine verwiesen waren. Einige waren schäbig gekleidet, andre herausgeputzt, die meisten schmutzig und nur wenige reinlich; alle aber hungerten, gingen müßig und schlichen ohne Zweck und Ziel herum wie die Tiere in einer Menagerie.

Schmutzige Weibsbilder mit abgetretenen Schuhen schlapften hin und wieder nach der Küche, die sich in einem Winkel des Ballplatzes befand, Kinder schrien, balgten sich herum und spielten miteinander; das Gerassel fallender Kegel, das Geschrei der Spielenden vermischten sich unaufhörlich mit diesen und hundert andern Tönen – nichts als Getöse und Getümmel ringsumher. Stille herrschte nur in dem kleinen, elenden Schuppen wenige Schritte davon, in dem starr und fahl der Leib des in der vorigen Nacht gestorbenen Kanzleigefangenen lag und das Possenspiel einer Totenschau erwartete. – Der Leib! So lautet der gerichtlich-gesetzliche Ausdruck für die ruhelos wirbelnde Masse von Sorgen und Ängsten, Gemütsbewegungen, Hoffnungen und Kümmernissen, die den lebenden Menschen ausmachen. Dem Gesetz war sein Leib verfallen, und da lag er, ins Grabtuch gehüllt, ein schauderhafter Zeuge für zärtlich-mitleidsvolle Fürsorge.

„Möchten Sie einen Pfeif-Laden sehen, Sir?“ fragte Hiob Trotter.

„Was meinen Sie damit?“ entgegnete Mr. Pickwick.

„Na, ’nen Feifladen, Sir“, warf Mr. Weller ein.

„Was ist denn das, Sam? Eine Vogelhandlung?“ erkundigte sich Mr. Pickwick.

„Himmel! Nein, Sir“, belehrte ihn Hiob und erklärte weiter, daß es bei schwerer Strafe verboten war, Branntwein in die Schuldgefängnisse einzuführen; bei der allgemeinen Beliebtheit, deren sich dieser Herzenstrost jedoch bei den inhaftierten Damen und Herren erfreute, hätte ein weitblickender Schließer den Einfall gehabt, bestimmten Gefangenen gegen entsprechende Beweise ihrer Erkenntlichkeit zu gestatten, diese beliebte Ware zu verhökern. „Dieses Geschäftsgebaren hat sich, wie Sie sehen, Sir, nach und nach in allen Schuldgefängnissen durchgesetzt“, schloß Mr. Trotter.

„Und das is ebend der große Vorteil dabei“, bemerkte Sam, „daß die Schließer jeden am Kragen packen, der wo dieses Laster frönen tut, bloß die nich, wo bar bezahlen, und denn kommt es in die Zeitung, wie wachsam sie sind. Auf die Art klatschen sie zwei Fliegen mit einer Klappe: sie scheuchen andere Leute vom Geschäft weg und verbessern ihr eigenes Ansehen.“

„Nun ja; aber werden denn diese Räumlichkeiten niemals revidiert?“ erkundigte sich Mr. Pickwick.

„Aber natürlich werden sie, Sir“, erwiderte Sam, „aber die Bullen wissen es doch vorher, und denn geben sie den Pfeifern einen Wink, na, und denn können Sie mal nachsehen; da is denn was gepfiffen drauf.“

Unterdessen hatte Hiob an eine Tür geklopft, die von einem Herrn mit ungekämmtem Haar geöffnet und nach ihrem Eintritt verriegelt worden war. Sodann grinsten Hiob und Sam einträchtig, worauf Mr. Pickwick in der Annahme, man erwarte das auch von ihm, gleichfalls ein Lächeln aufsetzte.

Der Herr mit dem strubbligen Kopf schien mit diesem zarten geschäftlichen Hinweis völlig zufrieden zu sein, denn er praktizierte eine flache Kruke unter seiner Lagerstatt hervor und füllte drei Gläser mit Gin.

„Noch einen?“ fragte der Pfeifer.

„Keinen mehr“, antwortete Trotter.

Mr. Pickwick bezahlte, die Tür wurde wieder geöffnet, und sie traten hinaus. Im gleichen Augenblick kam zufällig Mr. Roker vorbei. Der ungekämmte Herr gönnte ihm ein wohlwollendes Kopfnicken.

Mr. Pickwick durchwanderte noch sämtliche Galerien, ging alle Treppen auf und ab und machte noch einmal die Runde um den ganzen Hofraum. Die große Masse der Bevölkerung des Gefängnisses schien dem Schlage der Mivins oder Smangle, des Kaplans, des Metzgers oder des Roßkamms anzugehören. In allen Winkeln, den besten wie den schlechtesten, derselbe Schmutz, dasselbe Getümmel und Getöse, dieselben charakteristischen Merkmale. Auf dem ganzen Platz ein ruhelos-verworrenes Treiben; die Menschen drängten und wälzten sich hin und her, gleich den Schatten in einem unbehaglichen Traum.

„Jetzt habe ich genug gesehen“, seufzte Mr. Pickwick, als er sich in seinem kleinen Zimmer in einen Stuhl warf. „Der Kopf tut mir weh von all diesen Szenen, und das Herz nicht minder. Ich will hinfort auf meinem eigenen Stübchen Gefangener bleiben.“

Und standhaft beharrte er auf diesem Beschlüsse. Drei lange Monate blieb er den ganzen Tag eingeschlossen und stahl sich bloß bei Nacht, wenn der größere Teil seiner Mitgefangenen im Bett war oder auf seinen Zimmern zechte, hinaus, um frische Luft zu schöpfen. Seine Gesundheit begann infolge dieses selbstauferlegten strengen Gewahrsams sichtbar zu leiden; allein weder die vielfach wiederholten Bitten Perkers und seiner Freunde noch die weit häufigeren Warnungen und Mahnungen Mr. Samuel Wellers konnten ihn dazu bringen, auch nur ein Jota an seinem unbeugsamen Entschluß zu ändern.

Vierundvierzigstes Kapitel


Vierundvierzigstes Kapitel

Ein erschütternder, wenn auch nicht unlustiger Vorfall, herbeigeführt durch die Umsicht der Herren Dodson und Fogg.

Es war in der letzten Woche des Monats Juli, als eine Droschke, jedoch eine umnumerierte, in raschem Trab die Goswellstreet hinauffuhr. Drei Personen waren hineingepreßt – den Kutscher nicht eingerechnet, der natürlich seinen engen kleinen Außensitz auf der Seite innehatte –, zwei kleine, kampflustig aussehende Damen, und zwischen ihnen eingezwängt, auf einen äußerst kleinen Raum beschränkt, ein Gentleman von linkischem, unterwürfigem Benehmen, der jedesmal, wenn er eine Bemerkung wagte, von einer der kampflustigen Damen barsch angelassen wurde. „An dem Haus mit der grünen Tür halten Sie an, Schwager“, rief der schüchterne Gentleman.

„Ach was, du verdrehtes Geschöpf!“ keifte die eine der streitsüchtigen Damen. „Nein, an dem Haus mit der gelben Tür, Kutscher!“

„Na, wo soll ich denn nu eigentlich anhalten?“ fragte der Rosselenker. „Machen Sie es unter sich aus. Ich frage bloß, wo?“

Als die Droschke endlich in vollem Glanz vor dem Haus mit der gelben Tür vorfuhr, wobei sie, wie eine der Damen triumphierend bemerkte, „mehr Lärm machte, als wenn einer in seinem eigenen Wagen ankommt“, und der Kutscher abgestiegen war, um den Fahrgästen herauszuhelfen, schob sich der kleine Rundkopf Master Thomas Bardells zum Fenster eines Hauses mit einer roten Tür, wenige Nummern weiter, heraus.

„Eine ärgerliche Geschichte“, sagte die letzterwähnte keifende Dame mit einem vernichtenden Blick auf den linkischen Gentleman.

„Ich bin unschuldig, liebe Frau“, beteuerte der Gentleman bekniffen.

„Schweig, Schafskopf!“ herrschte ihn die Dame an. „Das Haus mit der roten Tür, Kutscher! Wenn je eine Frau sich mit einem boshaften Taugenichts angeschmiert hat, der seinen Stolz und sein Vergnügen darin sucht, sie bei jeder möglichen Gelegenheit vor Fremden zu blamieren, so bin ich’s!“

„Sie sollten sich schämen, Raddle“, ermahnte die andre Dame, die niemand anders war als Mrs. Cluppins.

„Was hab ich denn getan?“ jammerte Mr. Raddle.

„Sprich nicht mit mir, Scheusal; ich könnte sonst mein Geschlecht vergessen und dir eine runterhauen“, tobte Mrs. Raddle.

Der Wagen hielt jetzt endgültig.

„Nun, Tommy“, wandte sich Mrs. Cluppins an Master Bardell, „wie geht’s deiner lieben, armen Mutter?“

„Oh, sehr gut“, erwiderte Master Bardell, „sie is im Vorderzimmer; alles bereit. Ich bin auch bereit.“

Dabei steckte Master Bardell die Hände in die Taschen und hüpfte auf der untersten Stufe der Vortreppe auf und nieder.

„Sonst noch jemand da, Tommy“, verhörte Mrs. Cluppins und ordnete ihren Mantel.

„Mrs. Sanders“, erwiderte Tommy. „Und ich.“

„Der Mistbub!“ sagte die kleine Mrs. Cluppins. „Er denkt an nichts als an sich selbst. Komm her, lieber Tommy!“

„Na, und“, sagte Master Bardell.

„Wer sonst noch, mein Lieber?“ fuhr Mrs. Cluppins schmeichelnd zu fragen fort.

„Mrs. Rogers auch“, gestand Master Bardell, die Augen weit aufreißend, als er mit dieser Entdeckung herausrückte.

„Wie? Die Dame, die bei euch wohnt?“

Master Bardell steckte seine Hände noch tiefer in die Taschen und nickte genau fünfunddreißigmal, um anzudeuten, daß es wirklich diese Dame und keine andre sei.

„Wahrhaftig“, rief Mrs. Cluppins, „das ist ja eine feine Gesellschaft!“

„Ja, und wenn Sie wüßten, was wir in der Speisekammer haben, dann würden Sie das erst recht sagen“, versetzte Master Bardell.

„Was denn, Tommy?“ forschte Mrs. Cluppins liebkosend „Nicht wahr, mir sagst du’s doch, Tommy?“

„Nein, nein“, erwiderte Master Bardell, schüttelte den Kopf und hüpfte wieder auf der Türschwelle auf und ab. „Die Mutter hat gesagt, ich darf nicht. Ich krieg auch was davon.“ Und voll Freude über diese Aussichten machte sich das kluge Kind lebhaft wieder an seine Tretmühle. Während dieses Verhörs mit dem Kleinen hatten Mr. und Mrs. Raddle mit dem Kutscher einen Streit wegen des Fuhrlohns, und als der Sieg sich für den letzteren entschied, wankte Mrs. Raddle die Treppe hinauf.

„Aber, Marianne! Was ist denn geschehen?“ rief Mrs. Cluppins.

„Mir zittern die Knie vor Aufregung, Betty“, stöhnte Mrs. Raddle. „Raddle ist doch gar kein Mann; alles überläßt er mir.“

Das war nicht edel an dem unglücklichen Mr. Raddle gehandelt, der doch bei Beginn des Streits von seiner sanften Ehehälfte zur Seite gestoßen worden war und den peremtorischen Befehl erhalten hatte, den Mund zu halten. Gleichwohl war ihm keine Gelegenheit vergönnt, sich zu verteidigen, denn an Mrs. Raddle zeigten sich unzweideutige Symptome einer nahenden Ohnmacht, und als Mrs. Bardell, Mrs. Sanders, die neue Mieterin, und ihre Magd vom Zimmerfenster aus dies bemerkten, stürzten sie wie die Geier hinab und führten sie ins Haus, alle zugleich auf sie einsprechend und voll rührenden Mitgefühls.

„Ach, das arme Ding!“ jammerte Mrs. Rogers. „Ich kann mir nur zu gut denken, wie es ihr zumute sein mag.“

„Das arme Ding! Ja, ich kann mir’s auch denken“, stimmte Mrs. Sanders ein.

„Aber was hat’s denn gegeben?“ fragte Mrs. Bardell.

„Ja, was hat Sie so angegriffen, Ma’am?“ fragte Mrs. Rogers.

„Ach, ich bin abscheulich mißhandelt worden“, jammerte Mrs. Raddle, und sämtliche Damen warfen entrüstete Blicke auf Mr. Raddle.

„Die Sache ist die…“, wollte der unglückliche Ehegatte erklären.

„Sie würden besser daran tun, sie ganz uns zu überlassen, Raddle“, unterbrach ihn Mrs. Cluppins. „So lange Sie da sind, wird es ihr nicht besser.“

Sämtliche Damen stimmten dieser Ansicht natürlich bei. Mr. Raddle wurde aus dem Zimmer getrieben und angewiesen, sich im hintern Hofraum zu ergehen, was er auch etwa eine Viertelstunde getan hatte, als Mrs. Bardell ihm mit ernster Miene ankündigte, er könne jetzt kommen, müsse aber im Benehmen gegen seine Frau die äußerste Rücksicht beobachten. Sie wisse, daß er es nicht böse meine, aber Marianne sei eine gar zarte Natur, und wenn er sie nicht aufs sorgsamste behandle, so könne er sie verlieren, wenn er am wenigsten daran denke.

Mr. Raddle hörte dies alles mit großer Unterwürfigkeit an und kehrte, gebändigt und fromm wie ein Lamm, sogleich ins Zimmer zurück. „Nun, Mrs. Rogers“, begann Mrs. Bardell, „Sie sind, glaube ich, noch gar nicht vorgestellt worden. – Mr. Raddle, Ma’am; Mrs. Cluppins, Ma’am; Mrs. Raddle, Ma’am.“

„Mrs. Cluppins‘ Schwester“, fügte Mrs. Sanders erläuternd hinzu.

„Freut mich“, sagte Mrs. Rogers gnädig – sie war nämlich Mieterin und durfte sich daher erlauben, herablassend zu sein. „Ah, freut mich.“

Mrs. Raddle lächelte süß, Mr. Raddle verbeugte sich, und Mrs. Cluppins sagte, sie schätze sich äußerst glücklich, die Bekanntschaft einer Dame wie Mrs. Rogers zu machen, von der sie schon soviel Vorteilhaftes gehört habe – ein Kompliment, das die Dame mit Huld entgegennahm.

„Nun, Mr. Raddle“, nahm Mrs. Bardell das Wort, „Sie werden sich gewiß hochgeehrt fühlen, daß Sie und Tommy die einzigen Herren sind, die so viele Damen auf dem Weg nach dem Spanischen Garten in Hampstead begleiten dürfen. Nicht wahr, Mrs. Rogers?“

„Oh, selbstverständlich, Ma’am“, rief Mr. Raddle, sich die Hände reibend und eine leise Neigung verratend, ein bißchen lustig zu werden. „In der Tat, um die Wahrheit zu gestehen, ich sagte, als wir in der Droschke …“

Bei Wiederholung dieses Wortes, das so viele schmerzhafte Erinnerungen wecken mußte, drückte Mrs. Raddle ihr Taschentuch aufs neue an die Augen und stieß einen halbunterdrückten Schrei aus, so daß Mrs. Bardell Mr. Raddle mit finsterem Stirnrunzeln zu erkennen gab, er würde besser tun, zu schweigen, und dem Mädchen der Mrs. Rogers einen Wink erteilte, den Wein zu bringen.

Das war das Signal zur Enthüllung der in der Speisekammer verborgenen Schätze, die aus verschiedenen Platten Apfelsinen und Biskuit bestanden, nebst einer Flasche alten Portwein – zu einem Schilling und neun Pence – und einer andern von dem berühmten ostindischen Sherry zu vierzehn Pence. Nachdem Mrs. Cluppins noch einen großen Schrecken ausgestanden hatte durch einen Versuch Tommys, auszuplaudern, wie sie ihn über den Inhalt der Speisekammer hatte ausfragen wollen – ein Versuch, der zum Glück daran scheiterte, daß der liebe Junge sich bei dem alten Portwein verschluckte und beinah erstickte.

Endlich brach die Gesellschaft auf, um einen Landauer nach Hampstead zu nehmen. Ein paar Stunden später langten alle wohlbehalten im Spanischen Teegarten an, und des unglücklichen Mr. Raddles erster Fehlgriff, der seiner Gemahlin beinahe einen Rückfall zuzog, war, sieben Portionen Tee zu bestellen, wo doch, wie die Damen alle einstimmig bemerkten, nichts leichter gewesen wäre, als Tommy aus irgendeiner andern beliebigen Tasse mittrinken zu lassen, wenn der Kellner gerade weggesehen hätte.

Indessen ließ sich die Sache nun einmal nicht mehr ändern; das Teebrett kam mit sieben Ober- und sieben Untertassen und ebenso vielen Portionen Brot und Butter. Mrs. Bardell wurde einstimmig zur Präsidentin ernannt, Mrs. Rogers goß sich zu ihrer Rechten, Mrs. Raddle zu ihrer Linken hin, und der Schmaus ging mit großer Fröhlichkeit vor sich.

„Wie herrlich es doch auf dem Lande ist!“ seufzte Mrs. Rogers. „Ich möchte das ganze Jahr da leben.“

„Das kann doch unmöglich Ihr Ernst sein, Ma’am“, fiel Mrs. Bardell schnell ein; denn aus Rücksicht auf ihre zu vermietenden Wohnräume war es durchaus nicht ratsam, solche Ansichten zu unterstützen. „Es würde Ihnen sicher nicht gefallen, Ma’am.“

„Meiner Ansicht nach“, bekräftigte die kleine Mrs. Cluppins, „sind Sie viel zu lebhaft und umworben, um gerne auf dem Lande zu wohnen, Ma’am.“

„Ja, das mag sein, Ma’am, das mag sein“, seufzte die Bewohnerin des ersten Stocks.

„Für einsame Leute, wo niemand haben, der für sie sorgt oder für den sie selbst sorgen müssen, oder die gemütskrank sind oder so“, bemerkte Mr. Raddle, mit krampfhafter Lustigkeit um sich blickend, „für solche Leute ist das Landleben ganz gut. Das Land ist für ein verwundetes Herz, pflegt man zu sagen.“

Der Unglückliche hätte alles in der Welt zur Sprache bringen können, nur gerade das nicht. Mrs. Bardell brach prompt in Tränen aus und bat, man möge sie augenblicklich vom Tisch wegführen, worauf ihr süßer Sprößling jämmerlich zu schreien begann.

„Sollte man es glauben, Ma’am“, wandte sich Mrs. Raddle ingrimmig an die Mieterin des ersten Stockes, „sollte man es glauben, daß man einen so rohen Menschen zum Mann haben kann, der imstande ist, den ganzen Tag mit den Gefühlen des weiblichen Herzens Spott zu treiben?“

„Aber, meine liebe Frau“, stammelte Mr. Raddle. „Ich habe es doch nicht bös gemeint!“

„Nicht bös gemeint!“ wiederholte Mrs. Raddle mit unaussprechlicher Verachtung. „Geh mir aus den Augen, ich kann dich nicht mehr ansehen, du Scheusal.“

„Sie dürfen sich nicht so aufregen, Marianne!“ mahnte Mrs. Cluppins. „Sie sollten wirklich auf sich selbst mehr Rücksicht nehmen. – Gehen Sie jetzt, Raddle, Sie machen der Ärmsten immer Kummer.“

„Sie hätten besser daran getan, Sir, Ihren Tee für sich allein zu trinken“, schloß sich Mrs. Rogers an, die dampfende Kanne aufs neue handhabend.

Mrs. Sanders, ihrer Gewohnheit gemäß mit dem Butterbrot beschäftigt, drückte dieselbe Ansicht aus, und Mr. Raddle zog sich demgemäß in die Einsamkeit zurück.

Es dauerte nicht lange, da kam Mrs. Bardell wieder zu sich, stellte Tommy wieder auf den Boden, wunderte sich, daß sie habe so närrisch sein können, und schenkte sich wieder Tee ein. In diesem Augenblick vernahm man das Gerassel herannahender Räder. Die Damen blickten auf und sahen eine Droschke am Gartentor halten.

„Da kommt noch mehr Gesellschaft“, rief Mrs. Sanders neugierig.

„Es ist ein Herr“, bemerkte Mrs. Raddle.

„Aber das ist doch bestimmt Mr. Jackson, der junge Schreiber von Dodson und Fogg!“ rief Mrs. Bardell. „Himmel noch mal! Sicher hat Mr. Pickwick die Entschädigung gezahlt.“

„Oder er will Sie jetzt heiraten?“ riet Mrs. Cluppins.

„Himmel, wie langsam der Herr ist!“ rief Mrs. Rogers. „Warum tummelt er sich denn nicht?“

Gerade während sie diese Worte sprach, wandte sich Mr. Jackson, nachdem er einige Bemerkungen an einen schäbig gekleideten Mann in schwarzen Hosen gerichtet hatte, der soeben mit einem dicken Eschenstab in der Hand aus dem Wagen aufgetaucht war, um und ging, die Haare unter den Rand seines Hutes streichend, direkt auf die Damen zu.

„Was gibt’s. Is was Neues vorgefallen?“ rief ihm Mrs. Bardell voll Eifer entgegen.

„Ganz und gar nichts, Ma’am“, erwiderte Mr. Jackson. „Wie befinden Sie sich, meine Damen? Ich muß um Verzeihung bitten, wenn ich ungelegen komme; aber das Geschäft, meine Damen, das Geschäft!“

Mr. Jackson lächelte, verbeugte sich und strich sein Haar abermals hinauf. Mrs. Rogers flüsterte Mrs. Raddle zu, er sei wirklich ein scharmanter junger Mann.

„Ich war in der Goswellstreet“, fuhr Jackson fort, „und da ich von dem Dienstmädchen hörte, daß Sie hier seien, nahm ich mir sogleich eine Droschke und fuhr Ihnen nach. Meine Prinzipale bedürfen Ihrer sogleich in der Stadt, Madam.“

„Um Gottes willen!“ rief Mrs. Bardell, ganz erschrocken über diese plötzliche Mitteilung.

„Jaja“, sagte Jackson und biß sich in die Lippen, „es ist eine sehr dringende Sache, die keine Umstände duldet. Dodson hat es mir ausdrücklich eingeschärft, und Fogg ebenfalls. Ich habe die Droschke eigens deswegen genommen, um Sie nach London zurückzufahren.“

„Seltsam!“ rief Mrs. Bardell.

Die Damen erklärten es ebenfalls für sehr seltsam, sprachen aber einstimmig ihre Ansicht dahin aus, die Sache müsse von großer Wichtigkeit sein, sonst würden Dodson und Fogg nicht nach ihr geschickt haben, und wegen dieser Dringlichkeit des Geschäfts solle sie sich nur unverzüglich in die Kanzlei begeben.

Es war Mrs. Bardell keineswegs unlieb, daß ihre Rechtsfreunde so erschrecklich dringend nach ihr verlangten, denn sie glaubte dadurch sowohl überhaupt als namentlich auch in den Augen der Bewohnerin ihres ersten Stocks bedeutend an Wichtigkeit zu gewinnen, ein Gedanke, der ihrer Eitelkeit nicht wenig schmeichelte. Sie zierte sich ein bißchen, stellte sich, als ob es ihr höchst unangenehm sei und sie sich nicht entschließen könne, kam aber doch zuletzt zu dem Schluß, sie glaube, gehen zu müssen.

„Aber wollen Sie nach Ihrer Fahrt nicht eine kleine Erfrischung einnehmen, Mr. Jackson?“ drängte sie.

„Danke vielmals, habe wirklich keine Zeit zu verlieren. Auch habe ich einen Freund bei mir“, erwiderte Jackson und blickte nach dem Mann mit dem Eschenstab.

„So bitten Sie doch Ihren Freund, hierherzukommen, Sir“, schlug Mrs. Bardell vor.

„Nein – wirklich – ich danke“, lehnte Mr. Jackson verlegen ab. „Er ist an Damengesellschaft nicht gewöhnt und ein bißchen blöde. Aber wollen wir nicht lieber aufbrechen?“

Mrs. Sanders und Mrs. Cluppins beschlossen sofort, Mrs. Bardell und Tommy zu begleiten und die übrigen dem Schutz Mr. Raddles zu überlassen, und verfügten sich zu dem Wagen.

„Isaak“, sagte Jackson, als Mrs. Bardell sich anschickte, einzusteigen, und blickte dabei den Mann mit dem Eschenstab eigentümlich an, der auf dem Bock saß und eine Zigarre rauchte.

„Sir?“

Dies ist Mrs. Bardell!“

„Weiß ich schon lange“, meinte der Mann.

Mrs. Bardell stieg ein, die Damen, Mr. Jackson und Tommy gleichfalls, und fort ging’s. Mrs. Bardell konnte dabei nicht umhin, sich allerhand Gedanken darüber zu machen, wer Mr. Jacksons Freund wohl sein könne.

„Eine verdrießliche Sache das mit den Prozeßkosten“, begann Jackson, als Mrs. Cluppins und Mrs. Sanders eingenickt waren. „Die Kosten für Ihren Prozeß, meine ich.“

„Ach, das ist mir ja so peinlich, daß sie nicht drankommen können“, versetzte Mrs. Bardell. „Aber wenn ihr juristischen Herren solche Sachen auf Spekulation macht, dann müßt ihr euch eben hin und wieder auch einen Verlust gefallen lassen.“

„Sie haben aber doch, soviel ich weiß, nach dem Prozeß ein Cognovit für die Kosten ausgestellt“, sagte Jackson.

„Ja, aber bloß der Form wegen.“

„Soso“, versetzte Jackson trocken, „der Form wegen! Soso!“

Sie fuhren weiter, und Mrs. Bardell nickte ebenfalls ein. Nach einiger Zeit wurde sie durch das Anhalten der Kutsche plötzlich aufgeweckt. „Heiliger Himmel!“ rief die Dame. „Sind wir denn schon da?“

„Wir fahren nicht ganz so weit“, erwiderte Jackson. „Haben Sie nur die Güte, auszusteigen.“

Mrs. Bardell gehorchte schlaftrunken. Es war ein sonderbarer Platz; eine große Mauer, mit einem Tor in der Mitte, und innen brannte ein Gaslicht.

„Nun, meine Damen“, rief der Mann mit dem Eschenstab in die Kutsche hinein und rüttelte Mrs. Sanders aus dem Schlaf, „kommen Sie!“

Mrs. Sanders weckte ihre Freundin und stieg aus. Mrs. Bardell war, an Jacksons Arm und Tommy bei der Hand führend, bereits zum Portal gegangen. Die übrigen folgten ihnen.

Der Raum, in den sie jetzt traten, sah noch weit sonderbarer aus als der Eingang. Warum standen so viele Leute herum und starrten sie so an!? „Wo sind wir denn?“ fragte Mrs. Bardell und blieb er1 staunt stehen.

„Bloß in einem unsrer öffentlichen Büros“, erwiderte Jackson, drängte sie schnell über die Schwelle und blickte zurück, ob die übrigen Damen nachfolgten.

„Geben Sie wohl acht, Isaak!“

„Machen Sie sich man keine Sorgen“, erwiderte der Mann mit dem Eschenstab. Die Türe wurde rasch zugeschlagen, und alle stiegen eine kleine Treppe hinab.

„So, jetzt wären wir da. Es ist alles nach Wunsch gegangen, Mrs. Bardell“, sagte Jackson voll Triumph.

„Was meinen Sie damit?“ fragte Mrs. Bardell ängstlich.

„Nichts Besonderes“, erwiderte Jackson und zog sie ein bißchen beiseite. „Erschrecken Sie nicht, Mrs. Bardell. Es gibt keinen zartfühlenderen Mann als Dodson und keinen billigdenkenderen als Fogg. Als Geschäftsleute hatten sie ihre Pflicht, Sie wegen der Kosten pfänden zu lassen; aber sie wollten dabei um jeden Preis Ihre Gefühle möglichst schonen. Es muß doch tröstlich für Sie sein, daß es so glatt gegangen ist! Wir sind in der Fleet, Ma’am. Wünsche Ihnen gute Nacht, Mrs. Bardell. – Gute Nacht, Tommy.“

Da Jackson jetzt in Gesellschaft des Mannes mit dem Eschenstab davoneilte, führte ein andrer Mann, mit einem Schlüssel in der Hand, der bisher untätig zugesehen, die bestürzten Damen an eine zweite kleine Treppe, die zu einem Tor führte.

Mrs. Bardell schrie laut auf, Tommy heulte, Mrs. Cluppins schauerte zusammen, und Mrs. Sanders nahm ohne weiteres Reißaus, denn vor ihnen stand – ‚der schwer beleidigte Mr. Pickwick, eben auf seinem nächtlichen Spaziergang begriffen, und neben ihm lehnte Samuel Weller und zog, als er Mrs. Bardell erblickte, mit spöttischer Ehrerbietung den Hut, während sein Gebieter ihr unwillig den Rücken kehrte.

„Vexieren Sie die Frau nicht“, verwies der Schließer Mr. Weller, „sie is eben erseht ankommen.“

„Als Gefangene?“ fragte Sam und setzte schnell den Hut wieder auf. „Wer sind die Kläger? Warum? Sprich, alter Knabe!“

„Dodson und Fogg“, brummte der Mann. „Exekution wegen Prozeßkosten.“

„He, hallo, Hiob, Hiob!“ schrie Sam und stürzte in den Gang. „Laufen Sie so schnell Sie können zu Mr. Perker. Ich muß ihm sofort sprechen. Das kann was Feines werden. Ein Kapitalspaß! Hurra! Juchhe! Wo ist der Gouverneur?“

Aber alle diese Fragen blieben unbeantwortet; denn Hiob war gleich nach Empfang seines Auftrags wie toll davongerannt.

Mrs. Bardell aber war – diesmal im Ernst – in Ohnmacht gesunken.

Siebenunddreißigstes Kapitel


Siebenunddreißigstes Kapitel

Mr. Samuel Weller wird zum Postillion d’amour ernannt und versieht sein Amt als solcher höchst gewissenhaft.

Am ganzen folgenden Tag behielt Sam Mr. Winkle scharf im Auge, und so unangenehm dieser strenge Gewahrsam für Mr. Winkle auch war, so hielt er es doch für besser, sich darein zu fügen, als sich der Gefahr auszusetzen, an Händen und Füßen gebunden nach Bath geschafft zu werden. Zum Glück trat abends um acht Uhr Mr. Pickwick in eigener Person ins Gastzimmer des „Busches“ und sagte, Sam zulächelnd, alles sei in Ordnung und er brauche jetzt nicht länger Schildwache zu stehen.

„Ich hielt es für besser, selbst zu kommen“, fügte er zu Mr. Winkle gewendet hinzu, während ihm Sam seinen Überrock und Reiseschal abnahm, „um mich, bevor ich die Verwendung Sams in dieser Sache zugebe, zu vergewissern, daß es Ihnen mit der jungen Dame auch vollkommen ernst ist.“

„So wahr ich lebe“, beteuerte Mr. Winkle voll Feuer.

„Bedenken Sie wohl“, sagte Mr. Pickwick mit strahlenden Augen, „daß wir sie im Hause unseres vortrefflichen gastlichen Freundes getroffen haben. Es wäre ein schlechter pank, wenn Sie mit der Neigung dieser jungen Dame ein leichtfertiges, unüberlegtes Spiel treiben wollten. Ich würde das nie zugeben, Sir – niemals.“

„Ich habe doch keine solche Absicht“, rief Mr. Winkle mit Wärme. »Ich habe mir die Sache schon lange wohl überlegt und fühle, daß all mein Glück in Arabella beschlossen ist.“

„Dann steckt es in ’nem sehr kleinen Behälter, Sir“, fiel Mr. Weller mit scherzhaftem Lächeln ein.

Mr. Winkle blickte, über diese Unterbrechung gelinde entrüstet, auf, und Mr. Pickwick verwies seinem Bedienten unwillig, mit einem der edelsten Gefühle des Menschenherzens Spott zu treiben.

Mr. Winkle erzählte sodann, was in bezug auf Arabella Wischen ihm und Mr. Ben Allen vorgegangen, erklärte, er Busse unbedingt mit der jungen Dame zusammenkommen, um ihr seine Leidenschaft in aller Form zu gestehen, und drückte seine auf gewisse dunkle Winke und Andeutungen des besagten Ben gegründete Überzeugung aus, sie werde jedenfalls in der Nähe der Dünen eingesperrt gehalten; das sei alles, was er wisse oder vermute.

Mit diesem schwachen Leitfaden ausgerüstet, sollte nun Mr. Weller am nächsten Morgen eine Entdeckungsreise antreten! Es wurde festgesetzt, daß Mr. Pickwick und Mr. Winkle, die kein übertriebenes Vertrauen auf ihre eigenen Kräfte besaßen, einstweilen die Stadt durchwandern und zufällig bei Mr. Bob Sawyer vorsprechen sollten, um dort vielleicht über die junge Dame etwas zu sehen oder zu hören zu bekommen.

Sam Weller ging also am nächsten Morgen auf die Suche, keineswegs eingeschüchtert durch die entmutigenden Aussichten, die vor ihm lagen. Er wandelte eine Straße hinauf und eine hinab – das heißt besser gesagt, einen Hügel hinauf und einen andern hinunter, da bekanntlich in Clifton alles Hügel ist – ohne auf irgend etwas zu stoßen, was das geringste Licht auf den Gegenstand seiner Forschungen gewerfen hätte. Mannigfaltig waren die Zwiegespräche, c];e Sam mit Bedienten einleitete, die Pferde spazierenritten, und mit Kindermädchen, die mit ihren Kindern in den Gassen herumschlenderten; allein er vermochte aus diesen beiden Arten von Menschenkindern nichts herauszulocken, was den mindesten Bezug auf seine so schlau betriebenen Nachforschungen gehabt hätte. Es gab wohl in sehr vielen Häusern sehr viele junge Damen, bei denen die männlichen und weiblichen Dienstboten scharfsichtig genug gemerkt hatten, daß sie in irgend jemand sterblich verliebt oder jedenfalls im Begriff seien, bei der nächsten besten Gelegenheit es zu werden – da aber unter diesen jungen Damen keine Miß Arabella war so blieb Sam so weise wie zuvor. Er arbeitete sich gegen einen starken Seewind die Dünen hindurch, voll Verwunderung, warum es in diesem Teile des Landes nötig sei, mit beiden Händen den Hut festzuhalten, und kam endlich in eine schattige Gegend, wo ihm mehrere kleine Landhäuser von ruhigem, abgeschlossenem Aussehen in die Augen fielen. Am Ende einer langen Sackgasse faulenzte ein Reitknecht in Halblivree, der sich offenbar einbildete, er stehe im Begriff, mit einem Spaten und einem Schiebkarren etwas zu arbeiten.

Sam dachte, er könne mit diesem Reitknecht ebensogut sprechen wie mit irgendeinem andern Menschen, zumal da er etwas müde vom Gehen war und gegenüber von dem Schiebkarren einen recht angenehmen breiten Stein zum Sitzen erblickte. Er schlenderte also das Gäßchen hinab, setzte sich und leitete mit der ihm eigentümlichen Ungezwungenheit ein Gespräch ein.

„Morgen, alter Freund“, begann er. „Nachmittag, wollen Sie wohl sagen“, erwiderte der Stallknecht.

„Sie haben recht, alter Freund“, sagte Sam, „ich wollte Nachmittag sagen. „Wie geht’s Ihnen?“

„Nicht viel besser, weil ich Sie sehe“, erwiderte übelgelaunt der Reitknecht.

„Das is höchst sonderbar“, meinte Sam, „Sie sehen doch so xmgemein lustig aus und scheinen überhaupt so ’n munterer Bursche zu sein, daß es ’ne wahre Lust ist, Ihnen anzusehen.

Der verdrießliche Groom machte ein noch verdrießlicheres Gesicht, jedoch nicht grämlich genug, um irgendeine Wirkung auf Sam hervorzubringen, der sogleich sehr angelegentlich zu fragen begann, ob sein Herr nicht Walker heiße?

„Nein“, antwortete der Groom.

„Oder Brown?“

„Nein.“

„Oder Wilson?“

„Auch nicht.“

„Gut“, erwiderte Sam, „denn habe ich mir ebend geirrt, und er hat nich die Ehre meiner Bekanntschaft; ich dachte schon vorher, daß er die nich hat. Bleiben Sie bloß nich etwa aus Höflichkeit gegen mir hier draußen“, setzte er hinzu, als der Groom den Karren hineinschob und sich anschickte, das Tor zu schließen, „’s geht nichts über die Bequemlichkeit, alter Knabe; ich entschuldige Ihnen gerne.“

„Und ich möchte Ihnen gerne für ’ne halbe Krone den Schädel einschlagen“, brummte der griesgrämige Stallknecht und schloß den eisernen Torflügel.

„Könnte es nich so billig geschehen lassen“, entgegnete Sam. „Würde Ihnen wenigstens ’ne lebenslängliche Verköstigung eintragen und wäre daher zu wohlfeil. Melden Sie im Hause meine Empfehlungen. Sagen Sie Bescheid, sie sollen nich mit dem Essen auf mich warten und auch nichts aufheben; es wird doch bloß kalt, bis ich komme.“

Der Groom schnitt ein falsches Gesicht, murmelte etwas zwischen den Zähnen und schlug ärgerlich die Tür hinter sich zu, der zärtlichen Bittf Sams, ihm wenigstens eine Locke von seinen Haaren zur Erinnerung da zu lassen, nicht die geringste Beachtung schenkend.

Sam blieb auf dem großen Stein sitzen, besann sich, was wohl jetzt am besten zu tun wäre, und wälzte eben in seinem Geist den Plan herum, fünf Meilen im Umkreis von Bristol an alle Türen anzuklopfen, indem er täglich etwa einhundertfünfzig oder zweihundert erledigte, um dadurch Miß Arabella ausfindig zu machen, als ihm der Zufall unerwartet etwas in den Weg warf, was er bei jahrelangem Sitzen auf Stein nicht hätts herausgrübeln können.

Zu beiden Seiten der Gasse, in welcher er saß, sah man mehrere Gartentore, die jeweils zu einem Hause führten. Da diese Gärten groß, lang und dicht mit Bäumen bepflanzt waren, so standen die Häuser nicht bloß ziemlich weit voneinander entfernt, sondern waren auch zum größten Teile beinahe unsichtbar. Sam betrachtete gerade geistesabwesenden Blicks das staubige Tor zunächst demjenigen, durch das der Groom verschwunden, und war in tiefes Nachsinnen über die Schwierigkeiten seines Unternehmens versunken, als das Tor sich öffnete und ein Mädchen auf die Gasse heraustrat, um einige Teppiche auszuschütteln.

Sam war so durchaus mit seinen Gedanken beschäftigt, daß er höchstwahrscheinlich weiter keine Notiz von der jungen Dame genommen, sondern vielleicht nur den Kopf aufgerichtet und bemerkt hätte, sie habe ein recht hübsches Figürchen, wäre nicht seine Galanterie gewaltig durch die Bemerkung erregt worden, daß sie keinen Gehilfen hatte und die Teppiche für ihre schwache Kraft offenbar zu schwer schienen. Mr. Weller war in seiner Art ein höchst galanter Gentleman, und kaum hatte er diesen Umstand gewahrt, als er sich schleunigst von dem breiten Stein erhob und auf die Dame zuschritt.

„Mein liebes Kind“, sagte er mit großer Ehrerbietung, auf sie zuschlendernd, „Sie schaden offenbar Ihrer über alle Maßen schönen Figur, wenn Sie die Teppiche alleine ausschütteln. Werde Ihnen helfen.“

Die junge Dame, die sich züchtig gestellt hatte, als wüßte sie nichts von der Nähe eines Gentleman, drehte sich bei dieser Anrede um – ohne Zweifel, um das Anerbieten eines ihr völlig Unbekannten abzulehnen, aber statt zu sprechen, fuhr sie zurück und stieß einen halbunterdrückten Schrei aus. Sam war nicht viel weniger verblüfft, denn in dem Angesicht der wohlgestalteten jungen Dame erkannte er die wohlbekannten Züge des hübschen Hausmädchens von Mr. Nupkins. „Hoho, Mary, mein Schatz“, rief er. „Sieh einer an, der Mr. Weller“, erwiderte Mary, „wie Sie einen erschrecken können!“

Sam erwiderte nichts, wenigstens nicht mit Worten, denn Mary sagte nach einer kurzen Pause: „Lassen Sie mich, Sie Schlimmer.“ Der Umstand, daß ihm sein Hut wenige Augenblicke zuvor vom Kopfe gefallen war, ließ darauf schließen, daß Küsse und Umarmungen vorgefallen sein mußten. „Aber wie sin Sie denn hierhergekommen?“ fragte Mary, als das Gespräch, das diese Unterbrechung erlitten, wieder seinen Anfang nahm.

„Bloß, um nach Ihnen zu sehen, mein Schätzchen“, erwiderte Mr. Weller, bei dem die Leidenschaft den Sieg über die Wahrheitsliebe davontrug. „Woher haben Sie denn gewußt, daß ich hier bin? Wer kann Ihnen bloß gesagt haben, daß ich in Ipswich zu einer anderen Herrschaft gegangen bin, die dann hierher übergesiedelt ist, Mr. Weller?“

„Das möchten Sie wohl gern wissen“, sagte Sam mit pfiffigem Blick, „das möchten Sie gerne wissen. Wer, meinen Sie wohl, hat’s mir gesagt?“ „Mr. Muzzle vielleicht?“ fragte Mary.

„Nö, nö“, erwiderte Sam mit feierlichem Kopfschütteln, „Muzzle nicht.“

„Dann muß es die Köchin gewesen sein.“

„Versteht sich.“

„So was habe ich meinen Lebtag nicht gehört“, rief Mary aus.

„Ich auch nicht“, sagte Sam. „Aber mein Schatz“ – hier wurden Sams Manieren ungemein zärtlich –, „mein Schatz, ich habe da grade ’n Geschäft, wo äußerst pressant is. Es is da einer von meines Prinzipals Freunden – Mr. Winkle –, Sie erinnern sich doch, was?“

„Der mit dem grünen Rock?“ fragte Mary. „Ja, ja, weiß schon.“

„Na“, fuhr Sam fort, „der is schauderhaft verliebt. Rappelt förmlich.“

„Jessas!“ rief Mary interessiert.

„Wäre alles recht schön, aber was hilft’s, wenn wir das junge Frauenzimmer nich auftreiben können?“ sagte Sam und stattete unter mancherlei Abschweifungen über Marys Schönheit und die unaussprechlichen Qualen, die er ausgestanden, seit er sie zum letztenmal gesehen habe, einen getreuen Bericht über Mr. Winkles derzeitige Lage ab.

„’s is nicht zu glauben“, rief Mary.

„Is es auch nich“, erwiderte Sam, „und ich laufe darum wie der ewige Jude – der Wandersportsmann, wo Se auch wohl schon von gehört haben, mein Schatz, wo immer mit der Zeit um die Wette läuft und nich sterben kann – und suche nach Miß Arabella Allen.“

„Was für eine Miß?“ fragte Mary höchst erstaunt.

„Miß Arabella Allen.“

„Jessas“, rief Mary, nach dem Gartentore deutend, das der griesgrämige Stallknecht hinter sich verschlossen hatte. „Das is ihr Haus dort, und sie is schon seit sechs Wochen hier. Die obere Hausmagd, wo zugleich das Stubenmädchen von der gnä Frau is, hat’s mir neulich zur Waschküche raus gesagt, als die Herrschaft noch geschlafen hat.“

„Sapperlot, also grade neben Ihnen?“ rief Sam.

„Freilich, freilich.“

Mr. Weller war durch diese Nachricht so überwältigt, daß er es für unumgänglich notwendig hielt, mit beiden Armen seine schöne Auskunfterteilerin zu umschlingen, und erst nach verschiedenen kleinen Liebespassagen hatte er sich wieder gehörig gesammelt, um zur Sache zurückkommen zu können.

„Donnerwetter“, sagte er endlich, „wenn das nicht über die Hutschnur geht, denn geht überhaupt nichts mehr drüber, wie der Lordmajor sagte, als der Erste Staatssekretär nach dem Essen die Gesundheit von seiner Frau ausbrachte. – Also grade neben Ihrem Haus? Na, und ich habe eine Botschaft für ihr auszurichten, mit der habe ich mir schon den ganzen Tag abgeschunden.“

„Aber die können Sie jetzt noch nicht ausrichten“, erklärte Mary, „weil sie bloß abends im Garten spazierengeht, und jedesmal bloß ganz kurze Zeit; ausgehen tut sie überhaupt nicht ohne die alte Dame.“

Sam sann einige Augenblicke nach und entwarf folgenden Operationsplan: Er wollte in der Dämmerung, zu der Zeit also, in welcher Arabella täglich ihre Spaziergänge machte, wiederkommen. Mary sollte ihn in den Garten ihrer Herrschaft einlassen, und dann wollte er, geschützt durch die überhängenden Zweige eines großen Birnbaumes, unbemerkt über die Mauer klettern, seinen Auftrag ausrichten und, wenn irgend möglich, für den folgenden Abend zur gleichen Zeit eine Zusammenkunft zwischen dem Fräulein und Mr. Winkle vereinbaren.

Nachdem er diesen Plan mit großer Eile auseinandergesetzt, half er Mary bei ihrem lange hinausgeschobenen Geschäft des Teppichausschütteins. Das Teppichausschütteln ist nicht halb so unschuldig wie es aussieht; das Schütteln selbst zwar mag etwas ganz Harmloses sein, aber das Zusammenlegen ist eine sehr verfängliche Sache. Solange das Schütteln dauert und beide Parteien auf Teppichlänge voneinander getrennt sind, ist es eine so unschuldige Ergötzlichkeit, wie man sich nur eine denken kann; wenn aber das Zusammenlegen beginnt und die Entfernung der Schüttelnden von der Hälfte der früheren Länge zu einem Viertel derselben, sodann zu einem Achtel, endlich zu einem Sechzehntel und, wenn der Teppich lang genug ist, zu einem Zweiunddreißigstel zusammenschrumpft, wird es höchst gefährlich. Wir vermögen nicht genau zu bestimmen, wie viele Teppiche im vorliegenden Falle zusammengelegt wurden, aber das können wir zu behaupten wagen, daß Sam das hübsche Mädchen so viele Male küßte, als Teppiche da waren.

Mr. Weller labte sich mit Maß und Ziel in der nächsten Kneipe, bis es dunkel zu werden anfing, und kehrte sodann in die Sackgasse zurück. Nachdem ihn Mary in den Garten gelassen und ihm mehrfache Ermahnungen in betreffs Haisund Beinbruch erteilt hatte, kletterte er auf den Birnbaum, um Miß Allen zu erwarten.

Er mußte so lange unruhig ausharren, daß er schon glaubte, sie werde nicht mehr kommen, als er auf einmal leichte Fußtritte auf dem Kies vernahm und bald darauf Arabella erblickte, wie sie nachdenklich den Garten herabkam. Als sie in die Nähe des Baumes gelangte, begann Sam, um seine Anwesenheit so zart wie möglich zu erkennen zu geben, allerhand diabolische Töne auszustoßen, wie man sie allenfalls bei jemand natürlich finden könnte, der von frühester Kindheit an fortwährend an Halsentzündung, Krupp und Keuchhusten gelitten hat.

Die junge Dame warf einen hastigen Blick nach der Stelle, von wo die furchtbaren Laute kamen, und ihr anfänglicher Schreck wurde keineswegs dadurch vermindert, daß sie einen Mann zwischen den Zweigen erblickte. Sie wäre sicherlich entflohen und hätte Lärm geschlagen, allein glücklicherweise nahm ihr die Furcht alle Kraft, sich zu rühren, und sie sank auf einen zum Glück dastehenden Gartenstuhl nieder.

„Wird die doch einfach ohnmächtig“, monologisierte Sam in großer Verlegenheit. „Is aber auch ’n dolles Ding, daß diese jungen Frauenzimmer immer mit Gewalt in Ohnmacht fallen wollen, wo es gar nicht angebracht ist. He da, Fräuleinchen, Fräulein Beinsäger, hören Sie denn nich!“

War es nun der Zauber dieses Wortes oder die Kühle der Abendluft oder eine dunkle Erinnerung an Mr. Wellers Stimme, was Arabella wieder zum Leben brachte – jedenfalls erhob sie den Kopf und fragte mit matter Stimme: „Wer ist da, und was wollen Sie?“

„Pst“, warnte Sam, schwang sich auf die Mauer und kauerte sich dort auf einen möglichst kleinen Raum zusammen, „bloß ich bin’s, mein Fräulein, bloß ich.“

„Mr. Pickwicks Bedienter?“ fragte Arabella ernst. „Aufzuwarten, mein Fräulein. Mr. Winkle is hier, und zwar gänzlich meschugge, mein Fräulein.“

„Ah“, sagte Arabella und trat näher an die Mauer. „Ja freilich“, versicherte Sam. „Wir meinten schon gestern nacht, wir müßten ihm ’ne Zwangsjacke anlegen; er rast den ganzen Tag und sagt, wenn er Sie nich vor morgen nacht zu sehen bekommt, ersäuft er sich oder stellt sonst was an.“ „Um Gottes willen!“ rief Arabella und rang die Hände. „Ja, das hat er gesagt, mein Fräulein“, setzte Sam kaltblütig hinzu. „Es is ’n Mann von Wort, und ich bin überzeugt, daß er es tut. Der Beinsäger mit der Brille hat ihm von Ihnen erzählt?“

„Mein Bruder?“ fragte Arabella, der ein Licht aufging. „Ich weiß nich recht, welcher von beiden Ihr Bruder is“, erwiderte Sam. „Is es der Schmutzigere?“

„Jaja, Mr. Weller“, erwiderte Arabella, „aber weiter, weiter; schnell, schnell.“

„Nun gut, mein Fräulein. Er hat also von ihm alles erfahren, und mein Prinzipal meint, wenn er Sie nich sobald wie möglich zu sehen kriegt, würde der Beinsäger so viel Extrablei in den Kopf bekommen, daß die Entwicklung der Organe dadurch beschädigt wird, wenn man se nachher in Spiritus legt.“

„Gott im Himmel, was kann ich denn tun, diesen schrecklichen Streit zu verhindern?“ jammerte Arabella.

„Die Vermutung, daß ’ne frühere Neigung vorliegt, is an der ganzen Geschichte schuld, ’s wäre wirklich das beste, wenn Sie ihn sehen würden, Miß.“

„Aber wie und wo?“ rief Arabella. „Ich darf das Haus nicht allein verlassen. Mein Bruder ist so unfreundlich wie unvernünftig. Ich weiß, wie auffallend Ihnen diese Sprache erscheinen muß, Mr. Weller, aber ich bin sehr, sehr unglücklich –“ und dabei fing die arme Arabella so bitterlich zu weinen an, daß es Sam ganz ritterlich ums Herz wurde.

„Mag es auffallend sein, wie es will, Miß“, rief er feurig, „aber ich kann Ihnen nur sagen, daß ich nich bloß bereit, sondern auch willens bin, alles zu tun, was die Sache zu ’nem guten Ende zu führen vermag. Und wenn man einen von den Beinsägern zum Fenster rauswerfen muß, bin ich der Mann dazu.“

Bei diesen Worten krempelte Sam, um seine Bereitwilligkeit zu bekräftigen, mit augenscheinlicher Gefahr, von der Mauer herabzufallen, seine Ärmel auf.

So schmeichelhaft diese Beweise von gutem Willen auch sein mochten, so weigerte sich doch Arabella zu Sams größter Verwunderung entschieden, davon Gebrauch zu machen. Lange sträubte sie sich mit Entschlossenheit gegen die von Sam so pathetisch verlangte Zusammenkunft mit Mr. Winkle, endlich aber, als die Unterhaltung durch die unwillkommene Ankunft einer dritten Person unterbrochen zu werden drohte, gab sie ihm unter mannigfachen Versicherungen ihrer Dankbarkeit eiligst zu verstehen, es sei doch möglich, daß sie am nächsten Abend um eine Stunde später in den Garten kommen könne. Sam begriff vollkommen, Arabella trippelte, nachdem sie ihn mit ihrem süßesten Lächeln beglückt, anmutig davon und ließ ihn, von Bewunderung ihrer körperlichen und geistigen Vorzüge erfüllt, allein.

Nachdem Mr. Weller sicher von der Mauer herabgeklettert war und nicht vergessen hatte, seinen eigenen Angelegenheiten in diesem Departement einige Augenblicke zu widmen, kehrte er so schnell wie möglich in den „Biisch“ zurück, wo seine lange Abwesenheit bereits großes Kopfzerbrechen und Unruhe erregt hatte.

„Wir müssen bedächtig zu Werke gehen“, meinte Mr. Pickwick, nachdem er Sams Bericht mit Aufmerksamkeit angehört, „nicht um unsrer selbst, sondern um der jungen Dame willen. Wir müssen sehr vorsichtig sein.“

Wir?“ sagte Mr. Winkle mit scharfer Betonung.

Mr. Pickwicks Gesicht verdüsterte sich vor Unwillen über den Ton dieser Bemerkung, nahm jedoch bald wieder den ihm eigentümlichen wohlwollenden Ausdruck an, als er erwiderte: „Allerdings, Sir, wir, denn ich werde Sie begleiten „

„Sie?“

„Allerdings, ich„, entgegnete Mr.Pickwick voll Milde. „Als die Dame Ihnen das Rendezvous bewilligte, hat sie einen vielleicht natürlichen, aber immerhin sehr unklugen Schritt getan. Wenn ich dabei bin, als Ihr beiderseitiger Freund, der alt genug ist, beider Vater sein zu können, dann kann sich die Stimme der Verleumdung später nicht gegen sie erheben.“

Mr. Pickwicks Augen funkelten von gerechtem Entzücken über seine Vorsicht, als er so sprach. Mr. Winkle war durch diesen Beweis zartsinniger Verehrung für die junge Dame tief gerührt und ergriff die Hand des Meisters mit einem Gefühl, das an Ehrfurcht grenzte.

„Ja, Sie müssen mitgehen!“ rief er.

„Natürlich gehe ich mit“, erwiderte Mr. Pickwick. „Sam, halte meinen Überrock und Schal in Bereitschaft und bestelle auf morgen abend, etwas früher als unbedingt notwendig wäre, einen Wagen, damit wir rechtzeitig an Ort und Stelle sind.“

Mr. Weller griff an seinen Hut, um seinen Gehorsam auszudrücken, und entfernte sich, um die nötigen Vorbereitungen zu treffen.

Der Wagen fuhr zur bestimmten Stunde vor, und Mr. Weller nahm, nachdem er Mr. Pickwick und Mr. Winkle pflichtgemäß hineingeholfen, seinen Sitz auf dem Bock neben dem Kutscher ein. Verabredetermaßen stiegen sie etwa eine Viertelmeile vor dem Ort des Stelldicheins ab, befahlen dem Kutscher, ihre Rückkehr zu erwarten, und machten den übrigen Weg zu Fuß.

Zu dieser Höhe war das Unternehmen gediehen,, als Mr. Pickwick unter manchem Lächeln und verschiedenen andern Anzeichen großer Befriedigung aus einer seiner Rocktaschen eine Blendlaterne hervorzog, mit der er sich ausdrücklich für den Fall versehen hatte, sie anzündete und ihre großen mechanischen Vorzüge im Weitergehen zur nicht geringen Verwunderung der paar Leute, die ihnen begegneten, Mr. Winkle erklärte. „Bei meiner letzten nächtlichen Gartenexpedition wäre mir ein solches Ding sehr zustatten gekommen, nicht wahr, Sam?“ sagte er und sah sich mit vergnügtem Lächeln nach seinem Bedienten um, der hinter ihm hertrollte.

„Sehr hübsche Dinger das, Sir, wenn man sie recht gebraucht“, erwiderte Mr. Weller, „aber wenn man nich gesehen sein will, glaube ich, daß sie nützlicher sin, wenn das Licht ausgelöscht is, als wenn es brennt.“

Mr. Pickwick schien Sams Bemerkung einzuleuchten, denn er steckte seine Laterne wieder in die Tasche und ging schweigend weiter.

„Nach da runter“, sagte Sam, „lassen Sie mich den Weg zeigen. Das is die Gasse, Sir.“

Es war bereits ziemlich dunkel, und Mr. Pickwick nahm ein- oder zweimal die Laterne heraus, die einen sehr hellen Lichtkreis, jedoch bloß von einem Fuß im Durchmesser, auf den Weg warf. Es war recht hübsch anzusehen, schien aber die Wirkung zu haben, die Gegenstände in der Umgebung noch dunkler erscheinen zu lassen.

Endlich kamen sie an den großen Stein, und hier empfahl Sam seinem Gebieter und Mr. Winkle, sich zu setzen, indes er rekognoszieren und sich vergewissern wolle, ob Mary noch Warte.

Nach einer Abwesenheit von fünf oder zehn Minuten kam er mit der Nachricht zurück, das Tor sei offen und alles ruhig. Mr. Pickwick und Mr. Winkle schlichen ihm verstohlen nach und befanden sich bald im Garten. Hier sagten alle drei gar manches Mal „Pst“, und keiner schien eine genaue Vorstellung von dem zu haben, was zunächst zu geschehen habe.

„Ist Miß Allen schon im Garten, Mary?“ fragte Mr. Winkle sehr aufgeregt.

„Ich weiß nicht, Sir“, erwiderte das hübsche Hausmädchen „Am besten würde es sein, wenn Mr. Weller Ihnen auf den Baum hilft, und Mr. Pickwick könnte inzwischen so freundlich sein, aufzupassen, ob keiner die Straße entlang kommt. Ich würde inzwischen am andern Ende vom Garten aufpassen. Aber, grundgütiger Himmel, was ist das da?“

„Die verdammte Latüchte wird uns noch alle ins Unglück stürzen“, sagte Sam ärgerlich. „Nehmen Sie sich doch in acht, Herr; Sie werfen doch „n ganz hellen Lichtschein in das Fenster vom hintern Zimmer da.“

„Weiß Gott“, sagte Mr. Pickwick und wandte sich schnell ab, „das habe ich nicht beabsichtigt.“

„Jetzt is ’s im nächsten Hause“, eiferte Sam.

„Donnerwetter“, rief Mr. Pickwick, sich abermals umwendend.

„Jetzt im Stall, und die Leute werden meinen, es brennt drin“, sagte Sam, „machen Sie doch die Klappe zu, Herr, können Sie denn nich?“ „Es ist doch die sonderbarste Laterne, die ich je in meinem Leben gesehen habe“, rief Mr. Pickwick, ganz verblüfft über die Wirkungen, die er so unabsichtlich hervorbrachte. „Ein so starker Reflektor ist mir noch nicht vorgekommen.“

„Er wird wohl zu stark für uns werden, wenn Sie ’n so weiterleuchten lassen“, erwiderte Sam, als Mr. Pickwick nach mehreren vergeblichen Versuchen den Schieber endlich zubrachte. „Da kommt die junge Dame. Also los, Mr. Winkle, schnell hoch!“

„Halt, halt!“ sagte Mr. Pickwick, „ich muß zuerst mit ihr sprechen. Hilf mir hinauf, Sam.“

„Nur sachte“, warnte Sam, seinen Kopf an die Mauer lehnend und machte aus seinem Rücken eine Plattform. „Treten Sie zuerst auf diesen Blumentopf, Sir. Jetzt schnell hinauf.“

„Ich fürchte, ich tue dir weh, Sam“, sagte Mr. Pickwick.

„Sorgen Sie sich nich um mich, Sir. Geben Sie ihm die Hand, Mr. Winkle. Nur feste, Sir; so ist’s richtig.“

Unter Anstrengungen, die bei einem Herrn von seinen Jahren und seinem Gewicht fast übernatürlich zu nennen waren, gelang es endlich Mr. Pickwick, Sams Rücken zu erklimmen; Sam richtete sich allmählich in die Höhe, und Mr. Pickwick hielt sich am Rande der Mauer fest, indes Mr. Winkle seine Beine festhielt, so daß des Meisters Brille gerade noch den Mauerrand überragte.

„Verehrtes Fräulein“, begann Mr. Pickwick, als er über die Mauer schaute und auf der andern Seite Arabella erblickte, „erschrecken Sie nicht, mein Fräulein – ich bin’s.“

„Bitte, bitte, gehen Sie doch, Mr. Pickwick“, erwiderte Arabella. „Sagen Sie ihnen, sie sollen alle fortgehen, ich bin in der tödlichsten Angst. Lieber, lieber Mr. Pickwick, bleiben Sie nicht länger. Sie werden ganz gewiß herunterfallen und nicht mehr aufstehen können.“

„Seien Sie ohne Sorgen, liebes Kind“, beschwichtigte Mr. Pickwick. „Ich versichere Ihnen, es ist nicht die geringste Gefahr vorhanden. – Steh fest, Sam“, setzte er hinzu und blickte unter sich.

„Sehr wohl, Sir“, erwiderte Mr. Weller, „bleiben Sie nur nich länger, als es gerade notwendig is. Sie sind’n bißchen schwer.“

„Nur noch einen Augenblick, Sam. – Ich wünschte Ihnen nur zu sagen, mein Kind, daß ich meinem jungen Freund nicht gestattet haben würde, Sie auf diesem heimlichen Wege zu besuchen, wenn Ihre Verhältnisse ihm einen andern Ausweg übriggelassen hätten. Damit Ihnen nun die Ungebührlichkeit dieses Schrittes keine Unruhe verursache, mein liebes Kind, mag es Ihnen zur Befriedigung dienen, zu wissen, daß ich in der Nähe bin; mehr habe ich nicht zu sagen, meine Liebe.“

„Ich bin Ihnen wirklich sehr verbunden für Ihre rücksichtsvolle Güte, Mr. Pickwick“, schluchzte Arabella, sich mit ihrem Taschentuch die Tränen trocknend.

Sie hätte wahrscheinlich noch mehr gesagt, wenn nicht Mr. Pickwick infolge eines falschen Trittes auf Sams Schulter blitzschnell verschwunden wäre. Er stand jedoch im Augenblick wieder auf, ermahnte Mr. Winkle, sich zu beeilen und die Zusammenkunft nicht zu versäumen, und rannte sofort mit dem Mut und dem Feuer eines Jünglings auf die Gasse, um Schildwache zu stehen. Mr. Winkle, hochbeglückt, war im Nu auf der Mauer, und hielt oben nur inne, um Sam zu sagen, er solle für seinen Herrn Sorge tragen.

„Unbesorgt, Sir“, erwiderte Sam. „Überlassen Sie ihn nur mir.“

„Wo ist er? Was macht er denn jetzt, Sam?“ fragte Mr. Winkle.

„Gott segne seine alten Gamaschen“, erwiderte Sam, mit einem Blick nach der Gartentür. „Dort in der Gasse steht er mit seiner Blendlaterne Schildwache, wie ’n liebenswürdiger Pulververschwörer. Hab mein Lebtag nichts Schöneres gesehen. Der Teufel soll mich holen, wenn sein Herz nicht wenigstens fünfundzwanzig Jahre nach seinem Leibe auf die Welt gekommen is.“

Mr. Winkle nahm sich nicht die Zeit, die Lobrede auf seinen Freund und Meister anzuhören, war schnell die Mauer hinabgesprungen, hatte sich vor Arabella auf die Knie geworfen und setzte ihr die Aufrichtigkeit seiner Neigung mit einer Beredtsamkeit auseinander, die Mr. Pickwicks selbst würdig gewesen wäre.

Während dies im Freien vor sich ging, saß ein ältlicher Herr von großem, wissenschaftlichem Rufe, der zwei oder drei Häuser vom Garten hinweg wohnte, in seinem Studierzimmer und schrieb eine naturwissenschaftlidle Abhandlung, wobei er von Zeit zu Zeit aus einer achtunggebietenden Flasche, die auf dem Tische stand, seine Lippen und seine Arbeit mit einem Glas Bordeaux befeuchtete. Während seiner geistigen Geburtswehen blickte der gelehrte Herr bald auf den Teppich, bald zur Decke empor, bald an die Wand, und wenn ihm weder Teppich noch Dedce, noch Wand den erforderlichen Grad von Begeisterung zu liefern vermoditen, so sah er zum Fenster hinaus.

In einer dieser Pausen starrte er gedankenschwer in d’e dichte Finsternis hinaus, als er zu seiner höchlichen Überraschung ein glänzendes Licht in geringer Entfernung über die Erde hin durch die Luft gleiten und beinahe augenblicklich wieder verschwinden sah. Nach kurzer Zeit wiederholte sich das Phänomen, nicht bloß ein oder zwei, sondern mehrere Male. Der gelehrte Herr legte seine Feder nieder und begann darüber nachzudenken, weldien natürlichen Ursachen diese Erscheinung wohl zuzuschreiben sei.

Meteore konnten es nicht sein, dazu waren sie zu niedrig. Johanniswürmer auch nicht wegen der Höhe. Es waren keine Irrlichter, keine Leuchtkäfer, es war kein Feuerwerk. Was konnte es wohl sein? Irgendein außerordentliches und wunderbares Phänomen, das noch kein Naturforscher vor ihm gesehen – eine Erscheinung, deren Entdeckung ihm allein vorbehalten war und die seinen Namen unsterblidl machen mußte, wenn er sie zu Nutz und Frommen der Nachwelt aufzeichnete. Von dieser Idee begeistert, ergriff der gelehrte Herr seine Feder wieder und brachte verschiedene Bemerkungen über diese unvergleichbare Erscheinung mit Angabe des Tages, der Stunde, der Minute und Sekunde, in der sie sichtbar gewesen, zu Papier – Stoff genug, um ein umfangreiches, von großem Forschungsgeist und tiefer Gelehrsamkeit zeugendes Werk zu schreiben, zum Erstaunen aller atmosphärischen Weisen in sämtlichen Teilen des zivilisierten Erdballes.

Er warf sich in seinen Lehnsessel zurück, ganz durchtränkt von Betrachtungen künftiger Berühmtheit. Das geheimnisvolle Lidit zeigte sich wiederum, und zwar glänzender als zuvor; allem Anschein nach tanzte es die Gasse auf und ab, kreuzte herüber und hinüber und bewegte sich in so exzentrischen Bahnen, wie ein Komet!

Der gelehrte Herr war Hagestolz, hatte daher keine Frau, die er hereinrufen konnte, damit sie sich mit ihm wundere, und läutete deshalb seinem Bedienten.

„Pruffle“, sagte er, „es ist heute abend etwas ganz Außerordentlidies in der Luft. Siehst du es dort?“ fügte er hinzu, zum Fenster hinausdeutend, als das Licht wieder sichtbar wurde.

„Ja, Sir.“

„Was denkst du davon, Pruffle?“

„Was ich davon denke?“

„Nun ja. Du bist auf dem Lande aufgewachsen. Welcher Ursache würdest du diese Lichter zuschreiben?“

Der gelehrte Herr setzte lächelnd voraus, Pruffle werde antworten, er wisse die Ursache dieser Lichter nicht anzugeben. Pruffle sann nach. „Ich denke, es sind Diebe“, sagte er endlich.

„Du bist ein Dümmkopf und kannst dich entfernen“, schrie ihn der gelehrte Herr an.

„Sehr wohl, Sir“, erwiderte Pruffle und ging.

Allein dem gelehrten Herrn ließ der Gedanke keine Ruhe, die scharfsinnige Abhandlung, die er bereits projektiert, möchte für die Welt verlorengehen, was unvermeidlich hätte der Fall sein müssen, wenn die Ansicht des scharfsinnigen Pruffle nicht im Keim erstickt wurde. Er setzte daher den Hut auf und ging schnell in den Garten hinab, entschlossen, der Sache bis auf den Grund nachzuspüren.

Kurz, ehe der gelehrte Herr kam, war Mr. Pickwick so schnell wie möglich die Gasse herabgelaufen und hatte falschen Lärm geschlagen, es komme jemand des Weges, wobei er zufällig die Laterne vor sich hinhielt, um nicht in den Graben zu fallen. Mr. Winkle kletterte flugs wieder über die Mauer, Arabella eilte ins Haus, das Gartentor wurde geschlossen, und die Abenteurer eilten, so schnell sie konnten, die Gasse hinab, als sie auf einmal durch das Erscheinen des gelehrten Herrn erschreckt wurden, der gerade sein Gartentor aufschloß.

„Halt!“ flüsterte Sam, der natürlich voranging, „machen Sie jetzt mal ’ne Sekunde Licht, Herr.“

Mr. Pickwick tat, wie ihm geheißen. Sam, der einen Kopf sehr vorsichtig, bloß ein paar Schritte von ihm entfernt, aus dem Gartentore herausblicken sah, versetzte ihm mit der geballten Faust einen kleinen Schlag, so daß er mit hohlem Klang gegen das Tor flog. Nachdem er mit großer Schnelligkeit und Gewandtheit diese Tat vollführt, nahm er Mr. Pickwick auf den Rücken und folgte Mr. Winkle die Gasse hinab mit einer bei seiner Bürde wahrhaft erstaunlichen Geschwindigkeit.

„Haben Sie sich jetzt wieder erholt, Sir?“ fragte er, als ef das Ende erreicht hatte.

„Vollkommen“, erwiderte Mr. Pickwick.

„Na, dann kommen Sie“, fuhr Sam fort und stellte seinen Herrn wieder auf die Füße. „Gehen Sie zwischen uns beiden, Sir. Wir haben keine halbe Meile mehr zu laufen. Stellen Sie sich vor, es ginge zum Schoppen, Sir. Nur munter vorwärts.“

So ermutigt, machte Mr. Pickwick den möglichst besten Gebrauch von seinen Beinen, und man kann zuversichtlich behaupten, daß nicht leicht ein Paar schwarze Gamaschen je schneller über den Boden hüpften, als die Mr. Pickwicks bei diesem denkwürdigen Anlasse.

Der Wagen wartete, die Pferde waren frisch, die Straßen glatt, der Kutscher voll guten Willens, und die ganze Gesellschaft langte sicher im „Busch“ an, ehe Mr. Pickwick verschnauft hatte.

„Schnell hinein mit Ihnen, Sir“, mahnte Sam, als er seinem Herrn heraushalf. „Nach dem Tempo dürfen Sie keine Sekunde auf der Straße bleiben. Bitte um Verzeihung, Sir“, fuhr er fort, an die Hutkrempe greifend, als Mr. Winkle ausstieg. „Hoffe, ’s war keine frühere Neigung nich vorhanden?“

„Es ist alles in Ordnung“, flüsterte ihm Mr. Winkle ins Ohr, „ganz in Ordnung, lieber Sam“, worauf Mr. Weller sich zum Zeichen des Verständnisses dreimal tüchtig an die Nase schlug, lächelte, blinzelte und mit dem Ausdruck der lebhaftesten Freude im Gesicht die Treppen hinanschritt.

Was den gelehrten Herrn betrifft, so bewies er in einer meisterhaften Abhandlung, die wundervollen Lichter seien Wirkung der Elektrizität, und bewies dies unwiderleglich durch den umständlichen Bericht, wie ihm, als er den Kopf zur Tür hinausgesteckt, ein blitzendes Leuchten vor den Augen getanzt und er gleich darauf einen Schlag erhalten, der ihn eine volle Viertelstunde seiner Sinne beraubt habe. Dieses Traktat versetzte sämtliche gelehrten Gesellschaften in grenzenlose Erregung und sicherte dem Autor als Licht und Zierde der Wissenschaft später großen Ruhm.

Achtunddreißigstes Kapitel


Achtunddreißigstes Kapitel

Führt Mr. Pickwick in eine neue und interessante Phase im großen Drama des Lebens.

Der Trinitytermin nahte heran, und nach Verlauf seiner ersten „Woche kehrte Mr. Pickwick mit seinem Freunde nach London zurück, geradenwegs in sein altes Quartier im „Georg und Geier“.

Am dritten Morgen nach der Ankunft, als sämtliche Glocken in der City, jede einzelne neun und alle zusammen neunhundert, schlugen und Sam eben im Hof frische Luft schöpfte, rasselte ein sonderbares frisch angestrichenes Vehikel vor, aus dem mit großer Behendigkeit, die Zügel einem neben ihm sitzenden vierschrötigen Mann zuwerfend, ein sonderbarer Herr heraussprang, der vortrefflich zu dem Fuhrwerk zu passen schien.

Das Fahrzeug war nämlich nicht ganz Gig und ebensowenig ein Stanhope. Es war nicht, was man in der Regel einen Cart nennt, keine Kalesche und kein Kabriolett, und doch hatte es etwas vom Charakter aller dieser Maschinen. Es war hellgelb angestrichen, die Deichsel und die Räder schwarz betupft, und der Kutscher saß in orthodoxem Jagdstile und Polstern, die etwa zwei Fuß höher waren als die Wagenleiter. Das Pferd, ein ziemlich munterer Brauner, hatte etwas Schmuckes und Bissiges an sich, das vortrefflich sowohl zu dem Wagen wie zu dem Herrn paßte.

Der Herr selbst war ungefähr Vierziger und trug schwarze Haare und einen sorgfältig gekämmten Schnurrbart; sein ganzer Anzug war auffallend und mit einer Menge Schmuck übersät, jeder Stein wenigstens dreimal so groß, als man gewöhnlich zu tragen pflegt; das Ganze krönte ein zottiger Überrock. In eine Tasche dieses Überrocks steckte der Herr beim Aussteigen seine linke Hand, während er aus der andern mit seiner rechten ein seidenes Sacktuch zog, mit dem er ein paar Staubflecken von seinen Stiefeln abwischte, es sodann in der Hand zusammendrückte und sodann weiter in den Hof vorging.

Es war Sams Aufmerksamkeit nicht entgangen, daß, als dieser Herr abstieg, ein schäbig aussehender Mann in braunem Paletot mit etlichen fehlenden Knöpfen daran, der vorher dem Wirtshaus gegenüber auf und ab gewandelt war, auf einmal herüberkam und sich zu dem Ankömmling gesellte. Da Sam hinsichtlich des Zweckes eines Besuchs seitens dieses Gentlemans so seinen Verdacht hatte, ging er ihm in den „Georg und Geier“ voran, wandte sich dann rasch um und pflanzte sich mitten auf der Haustorschwelle auf.

„Na, Bursche!“ sagte der Herr in dem zottigen Rock mit herrischem Ton und versuchte ihn zugleich wegzustoßen.

„Na, also was denn?“ entgegnete Sam, den Stoß mit reichlichen Zinsen zurückgebend.

„Komm Er mir nicht so, Mensch. Laß Er das gefälligst, ja!“ schimpfte der Eigentümer des zottigen Rocks, seine Stimme erhebend, und wurde sehr blaß. „Hierher, Smouch.“

„Na gut, wo fehlt’s denn?“ murrte der Mann im knopflasen Überzieher, der sich während dieses kurzen Zwiegesprächs allmählich durch den Hof herangeschlichen hatte.

„Bloß eine Unverschämtheit von diesem jungen Burschen“, erklärte der Prinzipal, Sam einen neuen Stoß versetzend.

„Lassen S‘ das bleiben“, murrte Smouch und gab Sam ebenfalls einen recht derben Puff.

Das hatte die Wirkung, die der erfahrene Mr. Smouch beabsichtigte; denn während ihn Sam, um das Kompliment so schnell wie möglich zurückzugeben, an den Türpfosten drückte, schlich sich der Prinzipal hinein und gelangte in die Schenkstube, wohin ihm Sam unter allerhand bezeichnenden Bemerkungen gegen Mr. Smouch alsbald nachfolgte.

„Servus, liebes Kind“, sagte der Prinzipal mit kannibalischer Ungezwungenheit und neusüdwälischer Artigkeit zu der jungen Dame in der Schenkstube. „Wo ist Mr. Pickwicks Zimmer?“

„Zeigen Sie es ihm“, befahl das Mädchen einem Kellner, ohne den sonderbaren Gast eines weiteren Blickes zu würdigen.

Der Kellner ging die Treppe hinauf, der Herr mit dem zottigen Rock folgte, und dicht hinter ihm Sam, der unterwegs, zum unaussprechlichen Ergötzen des Gesindes und anderer Zuschauer, durch allerhand Gebärden seine überschwengliche Verachtung und einen herausfordernden Trotz an den Tag legte. Mr. Smouch, der an einem trockenen Husten litt, blieb unten im Gang.

Mr. Pickwick lag in tiefem Schlummer, als sein, früher Gast, von Sam gefolgt, ins Zimmer trat. Das Geräusch, das sie machten, weckte ihn auf. „Wasser zum Rasieren, Sam!“ rief er hinter den Bettvorhängen hervor.

„Rasieren Sie sich nur gleich, Mr. Pickwick“, sagte der Gast, den obersten Bettvorhang zurückschiebend. „Ich habe auf Verlangen der Bardell einen Exekutionsbefehl gegen Sie. – Da ist er. Unterzeichnet vom Gericht. Hier meine Karte. Ich dächte, Sie gingen mit mir.“ Dabei warf er seine Karte auf die gesteppte Bettdecke und zog einen goldnen Zahnstocher aus der Westentasche.

„Namby ist mein Name, Offiziant des Sheriffs“, sagte er, als Mr. Pickwick seine Brille unter dem Kissen hervorzog und aufsetzte, um die Karte zu lesen. „Namby, Bell Alley, in der Colemansstreet.“

Hier mischte sich Sam Weller, der seine Augen fortwährend wie gebannt auf Mr. Nambys glänzenden Biberhut geheftet hatte, ins Gespräch: „Sind Sie ’n Quäker?“ fragte er.

„Wirst es mit der Zeit schon erfahren, wer ich bin“, erwiderte der entrüstete Offiziant. „Ich will dir eines schönen Tags schon Mores lehren, mein sauberer Bursche.“

„Hut ab!“ sagte Sam als Antwort und schlug Mr. Namby geschickt und kräftig den Hut vom Kopf. Vor Schrecken verschluckte der Offiziant beinahe seinen goldnen Zahnstocher.

„Sie haben es gesehen, Mr. Pickwick“, sagte er, bestürzt nach Luft schnappend, „ich bin in der Ausübung meiner Amtspflicht von Ihrem Bedienten in Ihrem Zimmer tätlich insultiert worden. Ich bin in Gefahr und rufe Sie zum Zeugen auf.“

„Bezeugen Sie nichts, Sir“, unterbrach Sam. „Machen Sie die Augen fest zu, Sir; ich werde ihn zum Fenster hinauswerfen; nur schade, daß er nich hoch fallen kann.“

„Sam!“ verwies Mr. Pickwick in ärgerlichem Tone, als sein Bedienter allerhand feindselige Vorbereitungen traf. „Wenn du noch ein Wort sprichst oder diesem Manne die geringste Beleidigung zufügst, entlasse ich dich auf der Stelle.“

„Aber Sir – „, entgegnete Sam.

„Halt deinen Mund“, versetzte Mr. Pickwick, „und hebe den Hut wieder auf.“

Letzteres verweigerte Sam auf das entschiedenste, was ihm von seinem Herrn einen strengen Verweis eintrug, und schließlich hob der Beamte, der große Eile hatte, seinen Hut selbst auf. Die Drohungen, die er dabei ausstieß, ließen Mr. Weller sehr kalt und veranlaßten ihn nur zu der Bemerkung, daß, wenn Mr. Namby sich erkühnen sollte, seinen Hut wieder aufzusetzen, er ihm diesen bis ans Ende der nächsten Woche immer wieder herunterschlagen werde. Mr. Namby der sich von einem solchen Prozeß nicht viel Ersprießliches zu versprechen schien, zog es vor, Mr. Weller nicht in Versuchung zu führen, rief nach einer Weile Smouch herein und sagte ihm, die Verhaftung sei geglückt und er solle warten, bis Mr. Pickwick sich vollends angekleidet hätte, und stolzierte dann hinaus. Schließlich mußte Sam eine Droschke holen, und das Triumvirat fuhr nach der Colemansstreet. Glücklicherweise war das nicht weit, denn Mr. Smouch, der an sich schon kein eben bezauberndes Talent für Unterhaltung besaß, war bei dem trockenen Husten, der ihn beständig quälte, in einem so engen Raum ein entschieden unangenehmer Gesellschafter.

Der Wagen fuhr in die sehr enge und düstere Straße und hielt vor einem Haus mit eisernen Gittern an sämtlichen Fenstern an; die Türpfosten schmückte die Aufschrift: „Namby, Agent der Sheriffe von London.“ Das innere Tor wurde von einem Gentleman geöffnet, anscheinend einem verwahrlosten Zwillingsbruder Mr. Smouchs, der kraft seines Amtes mit einem gewaltigen Schlüssel bewaffnet war, und Mr. Pickwick in das „Gastzimmer“ gewiesen.

Dieses Gastzimmer war eine einfache Stube, deren Hauptvorzüge in ihrem frischen Sand auf dem Fußboden und veraltetem Tabaksrauch bestanden. Mr. Pickwick verbeugte sich gegen die drei Personen, die drinnen saßen, befahl Sani, Mr. Perker zu holen, zog sich in einen dunklen Winkel zurück und betrachtete von da aus mit beträchtlicher Neugierde seine Gefährten.

Einer davon war ein Bursche von neunzehn oder zwanzig Jahren, der, obgleich es erst zehn Uhr war, bereits Wacholderbranntwein mit Wasser trank und eine Zigarre dazu rauchte – Vergnügungen, denen er, nach seinem roten Gesicht zu schließen, die letzten zwei Jahre seines Lebens so ziemlich ununterbrochen gehuldigt haben mußte. Ihm gegenüber saß, mit der Stiefelspitze in der Kohlenglut herumstochernd, ein vierschrötiger Bursche von etwa dreißig Jahren, mit bleichem Gesicht und heiserer Stimme, der offenbar seine Weltkenntnis und faszinierende Ungeniertheit in Kneipen und an ordinären Billards erworben hatte. Der dritte Bewohner des Zimmers war ein Mann in mittleren Jahren mit einem sehr abgetragnen, schwarzen Rock und so verstörtem Aussehen, als erwartete er jemand.

„Sie können diesen Morgen mein Rasiermesser haben, Mr. Ayresleigh“, sagte der Mann am Kamin zu ihm und zwinkerte dabei seinem Freund, dem jungen Burschen, zu.

„Danke bestens; ich werde es nicht brauchen. Ich hoffe, etwa in einer Stunde frei zu werden“, erwiderte der Angeredete hastig, spähte durch die Fensterscheibe und wandte sich enttäuscht und seufzend wieder ab. Als er dann das Zimmer verließ, brachen die zwei andern in ein lautes Gelächter aus.

„Ein Mordsspaß“, sagte der Gentleman, der das Rasiermesser angeboten hatte und Price zu heißen schien.

„Man möcht’s kaum glauben“, wendete er sich dann lachend an Mr. Pickwick, „eine Woche schon hat sich dieser Mensch nicht rasiert, weil er immer meint, in einer halben Stunde frei zu sein.“

„Der arme Mann!“ erwiderte Pickwick. „Hat er denn gar keine Aussicht, aus seiner schwierigen Lage loszukommen?“

„Keine Spur“, erwiderte Price. „Ich möcht hundert gegen eins wetten, daß er zehn Jahre lang auf keine Straße mehr kommt.“

Dabei schnalzte Mr. Price verächtlich mit dem Finger und schellte.

„Geben Sie mir ’n Bogen Papier, Crookey“, sagte er zu dem Wärter, der seiner Kleidung und ganzen Erscheinung nach ein Mittelding zwischen einem bankrotten Viehmäster und einem zahlungsunfähigen Pächter zu sein schien, „und ein Glas Branntwein mit Wasser. Hören Sie? Ich will meinem Vater schreiben und muß eine kleine Anregung haben, sonst kann ich dem Alten kein Loch in den Bauch reden.“

Mr. Pickwick, den diese Sprache sowie das ganze Benehmen der zwei Burschen nicht wenig anekelte, wurde auf sein Verlangen in ein Privatzimmer geführt, das mit einem Teppich, einem Tisch, mehreren Stühlen, einem Kredenztisch und Sofa möbliert und mit einem Spiegel sowie mehreren alten Bildern geschmückt war. Hier hatte er den Genuß, solange sein Frühstück bereitet wurde, unmittelbar über seinem Haupte Mrs. Namby Klavier spielen zu hören, und als endlich aufgetragen wurde, erschien auch Mr. Perker.

„Aha, mein lieber Herr“, rief der kleine Mann, „endlich in die Falle gegangen? Ich gräme mich indes nicht sehr darüber, denn jetzt werden Sie doch endlich das Törichte Ihres Vorhabens einsehen. Ich habe mir den Betrag der Prozeßkosten sowie der Entschädigungsgelder notiert, und es wäre am gescheitesten, wir machten die Sache mit einem Male und ohne Zeitverlust ab. Namby wird wohl jetzt zurückgekommen sein. Was meinen Sie, mein lieber Herr, soll ich den Scheck gleich ausfüllen?“

„Perker“, erwiderte Mr. Pickwick voll Ernst, „ich muß Sie bitten, mich nichts mehr davon hören zu lassen. Ich sehe nicht ein, warum ich noch länger hier bleiben soll, und will deswegen heute nacht noch ins Gefängnis geführt werden.“

„In die Whitecrosstreet können Sie unmöglich, mein werter Herr“, stellte ihm Perker vor. „Da sind sechzig Betten in einer Abteilung und die Riegel sechzehn Stunden täglich vorgeschoben.“

„Also dann in ein anderes Gefängnis, wenn es möglich ist. wo nicht, so muß ich mich eben doch dort bequemen, so gut es geht.“

„Sie können in die Fleet gehen, mein lieber Herr, wenn Sie überhaupt entschlossen sind, wohin zu gehen“, meinte Perker.

„Also gut“, sagte Mr. Pickwick, „gleich nach dem Frühstück.“

„So warten Sie doch noch ein wenig, mein lieber Herr; es hat doch keine so schreckliche Eile“, sagte der gutmütige kleine Anwalt. „Wir müssen erst ein Habeas corpus erwirken und bis vier Uhr nachmittags warten. Früher ist kein Richter anzutreffen.“

„Auch recht“, sagte Mr. Pickwick mit unerschütterlichem Gleichmut, „dann können wir um zwei Uhr hier noch ein Beefsteak nehmen. Bestelle es, Sam, damit es pünktlich kommt.“

Da Mr. Pickwick trotz aller Vorstellungen und Beweisgründe Perkers fest blieb, erschienen und verschwanden die Beefsteaks zur bestimmten Zeit, und gleich darauf wurde die Fahrt nach Chancery Lane angetreten.

Im Vorzimmer von Sergeants Inn waren zwei Richter, einer von der Kings Bench und einer von Common Pleas, anwesend, und es schienen gewaltig viele Geschäfte abgemacht zu werden, wenigstens nach der Menge Advokatenschreiber, die mit Aktenstößen herein- und hinauseilten, zu schließen. Als die Herren an dem niedrigen Bogengang hielten, der den Eingang in die Inn bildet, zankte sich Mr. Perker einige Minuten lang mit dem Kutscher wegen des Fahrgeldes herum und Mr. Pickwick trat zur Seite, um dem Gedränge der Hinein- und Herausströmenden auszuweichen, und blickte mit einiger Neugierde um sich.

Drei oder vier Gentlemen von schäbig elegantem Aussehen, die vor den vorbeigehenden Anwälten an die Hüte griffen und ein Geschäft zu haben schienen, dessen Art er sich vergeblich zu erraten bemühte, erregten besonders seine Aufmerksamkeit.

Es waren das höchst sonderbar aussehende Leute. Der eine war schlank und ein bißchen lahm, hatte einen schmierigen schwarzen Rock an und ein weißes Halstuch; ein andrer war untersetzt und beleibt und ebenso gekleidet wie der erste, nur daß er ein großes, schwarz-rotes Halstuch trug; ein dritter, klein von Gestalt, hatte ein finniges Gesicht und sah aus wie ein Trunkenbold. Sie alle schlenderten, die Hände auf dem Rücken, mit aufmerksamen Blicken auf und ab und flüsterten von Zeit zu Zeit einigen von den Herren, die mit den Papieren in den Saal stürzten, etwas ins Ohr. Mr. Pickwick erinnerte sich, sie schon oft unter dem Torweg, wenn er gerade vorüberging, herumlungern gesehen zu haben, und war neugierig, welche Art Beruf diese schmierigen Gentlemen wohl haben möchten.

Eben wollte er Namby der sich dicht bei ihm hielt und an einem großen goldnen Ring an seinem kleinen Finger saugte, darüber befragen, als Perker zu ihm gestürmt kam und ihm mit der Bemerkung, man habe keine Zeit zu verlieren, den Weg in den Saal wies. Als er sich anschickte ihm zu folgen, trat der Lahme zu ihm, zog höflich den Hut und hielt ihm eine beschriebene Karte hin. Mr. Pickwick, um die Gefühle des Mannes nicht durch eine Weigerung zu verletzen, nahm sie freundlich an und steckte sie in seine Westentasche.

„Hier herein, bitte“, sagte Perker und wandte sich, bevor er in die Amtsstube trat, um, ob seine Gefährten auch hinter ihm seien. „Hier herein, mein lieber Herr. Ja, was wollen denn Sie?“

Die Frage galt dem Lahmen, der sich ohne Mr. Pickwicks Wissen angeschlossen hatte. Statt der Antwort zog der Mann mit größter Höflichkeit den Hut und deutete auf Mr. Pickwick.

„Nein, nein“, wehrte Perker lächelnd ab, „wir bedürfen Ihrer ganz und gar nicht, guter Freund.“

„Bitte um Entschuldigung, Sir“, erwiderte der Lahme, „aber der Herr hat meine Karte angenommen. Ich hoffe, Sie werden Verwendung für mich haben, Sir. Der Herr hat mir zugenickt, Sir! Ich berufe mich auf den Herrn selbst. Nicht wahr, Sie haben mir zugenickt, Sir?“

„Lächerlich, Unsinn. Sie haben niemand zugenickt, Pickwick. Ein bloßes Mißverständnis“, sagte Perker.

„Der Herr hat mir seine Karte angeboten“, erklärte Mr. Pickwick und zog sie aus der Tasche. „Ich habe sie angenommen, wie der Herr zu erwarten schien; ich war in der Tat einigermaßen neugierig, sie gelegentlich näher zu betrachten – ich – „

Der kleine Advokat brach in ein lautes Gelächter aus, gab dem Lahmen die Karte zurück, sagte ihm, es sei ein Mißverständnis, und flüsterte Mr. Pickwick, als der Mann sich wutentbrannt abwandte, ins Ohr, es sei dies nur ein „Bürge“.

„Ein was?“ rief Mr. Pickwick.

„Ein Bürge“, wiederholte Perker.

„Ein Bürge?“

„Ja, mein lieber Herr; es gibt ungefähr ein halbes Dutzend solcher Leute hier. Sie verbürgen sich für jede beliebige Summe und verlangen nur eine halbe Krone. Nicht wahr, ein sonderbares Geschäft?“ fügte Perker hinzu und labte sich mit einer Prise Tabak.

„Wie?!“ rief Mr. Pickwick, ganz erschrocken über diese Entdeckung. „Verstehe ich recht? Erwerben diese Leute wirklich dadurch ihren Lebensunterhalt, daß sie hier herumlungern und vor den Richtern des Landes Meineide schwören? – Für eine halbe Krone ein Verbrechen?“

„Meineid müssen Sie es nicht gerade nennen, mein lieber Herr“, erwiderte der kleine Anwalt, „dieser Ausdruck ist ein wenig zu hart. Es ist eine Rechtsfiktion, mein lieber Herr, weiter nichts.“ Dabei zuckte Mr. Perker die Achseln, lächelte, nahm eine zweite Prise und ging voraus in die Gerichtsschreiberei.

Es war das ein Raum von ganz besonders schmutzigem Aussehen, mit sehr niedriger Decke und getäfelten Wänden, dabei so finster, daß man bei hellichtem Tag auf den Schreibtischen große Talglichter brannte. Eine Tür führte in das Privatzimmer des Richters, um die sich eine Menge von Anwälten und Schreibern drängte, die hereingerufen wurden, sobald die Reihe an sie kam. Sooft diese Tür sich öffnete, um eine Partei hinauszulassen, machte die nächstfolgende Partei jedesmal gewaltsame Versuche sich vorzudrängen, was immer nebst den lauten Zwiegesprächen zwischen den Gentlemen, die auf den Anblick des Richters harrten, und allerhand persönlichen Zwistigkeiten ein betäubendes Getöse hervorrief. In einer Loge hinter einer hölzernen Schranke am andern Ende des Zimmers stand ein Schreiber mit der Brille auf der Nase, der die Advokatenschreiber beeidigte und die Protokolle darüber haufenweise von Zeit zu Zeit dem Richter zur Unterschrift in sein Privatzimmer schickte. Dabei gab es an der Schranke des bebrillten Herrn ein Stoßen und Drängen, wie manchmal am Eingang des Theaters, wenn Ihre Majestät dasselbe mit Allerhöchst Ihrer Gegenwart beehrt. Ein andrer Held von der Feder übte seine Lunge von Zeit zu Zeit damit, daß er die Namen der Beeidigten laut ausrief, um ihnen vom Richter unterzeichnete Affidavits zurückzustellen, was natürlicherweise wieder zu mehrfachen Püffen und Stößen Veranlassung gab, und da alles dies zu gleicher Zeit geschah, so herrschte ein beispielloses Durcheinander und Getöse.

Zwischendurch hörte man den Mann mit der Brille‘ in gleichmäßigem Tonfall und ohne Unterbrechung die Eidesformel und was dazu gehörte wiederholen:

„Nehmen Sie das Buch in die rechte Hand dies ist Ihr Name und Handschrift Sie schwören daß der Inhalt Ihres Affidavits wahr ist so wahr mir Gott helfe Sie müssen einen Schilling bezahlen herausgeben kann ich nicht.“

Es währte lange genug, bis Mr. Pickwick dran kam und der Bewachung des Gerichtsdieners mit dem Bemerken, ihn dem Vorsteher des Fleetgefängnisses zu überantworten und so lange in Verwahrung zu halten, bis die Entschädigungssumme an Mrs. Bardell nebst Prozeßkosten auf Heller und Pfennig bezahlt sein würde, übergeben wurde.

„Da soll ihnen die Zeit lang werden“, sagte Mr. Pickwick lachend. „Sam, hole eine Droschke. Perker, mein werter Freund, auf Wiedersehen!“

„Ich werde mit Ihnen gehen, um mich von Ihrer glücklichen Ankunft zu überzeugen“, erwiderte Perker.

„Ich danke Ihnen vielmals“, lehnte Mr.Pickwick ab, „aber ich möchte mich nur von Sam begleiten lassen. Sobald ich mich häuslich eingerichtet habe, werde ich Ihnen schreiben und bitte dann um Ihren Besuch. Inzwischen leben Sie wohl.“

Sam setzte sich auf den Bock und sie fuhren ab.

„Ein ganz außerordentlicher Mann das“, sagte Perker und blieb stehen, um seine Handschuhe anzuziehen,

„Er hätte einen famosen Bankerottier abgegeben, Sir“ bemerkte Mr. Lowten, der in der Nähe stand. „Der würde die Kommissäre was plagen, bis sie schwarz würden.“

Inzwischen rumpelte die Kutsche in die Fleetstreet, und der Gerichtsdiener führte Mr. Pickwick und Sam ins Gefängnis. Dort wandten sie sich nach links und gelangten durch eine offene Tür in eine Vorhalle, aus der ein schweres Tor, von einem vierschrötigen Kerkermeister mit dem Schlüssel in der Hand bewacht, ins Innere des Gefängnisses führte.

Hier warteten sie, bis der Gerichtsdiener seine Papiere abgegeben hatte, und man sagte Mr. Pickwick, er habe sich so lange zu gedulden, bis er sich der dem Eingeweihten wohlbekannten Zeremonien unterworfen, das heißt, zu einem Porträt gesessen hätte.

„Zu meinem Porträt gesessen?“ fragte Mr. Pickwick.

„Ja, Sir, damit wir Ihr Konterfei haben“, erklärte der stämmige Schließer. „Wir verstehen uns aufs Abkonterfeien, brauchen nur einen Augenblick dazu und treffen immer richtig. Tun Sie ganz, als ob Sie zu Hause wären, Sir.“

Mr. Pickwick willfahrte der Aufforderung, setzte sich, und Mr. Weller, der sich hinter seinem Stuhle aufgestellt, flüsterte ihm zu, das mit dem „Porträtsitzen“ sei bloß ein andrer Ausdruck für die Beaugenscheinigung von Seiten der verschiedenen Schließer, damit diese die Gefangenen von Besuchern unterscheiden könnten.

„Gut Sam“, sagte Mr. Pickwick, „dann wünschte ich, die Künstler kämen. Es ist das ein unangenehm exponierter Platz.“

„Sie werden wohl nich lange ausbleiben“, versetzte Sam. „Da hängt ’ne hölzerne Schwarzwälderuhr.“

„Das sehe ich“, bemerkte Mr. Pickwick.

„Und ’n Vogelkäfig. Reusen in Reusen, ’n Gefängnis im Gefängnis. Nich wahr, Sir?“

Noch während Mr. Weller diese philosophische Betrachtung zum besten gab, gewahrte Mr. Pickwick, daß das „Sitzen“ bereits seinen Anfang genommen hatte, denn der stämmige Schließer hatte Platz genommen und betrachtete ihn nachlässig von Zeit zu Zeit, indes ein langer, schmächtiger Bursche, mit den Händen unter den Rockschößen, sich ihm gegenüber aufpflanzte und ihn unverwandt anstarrte. Ein dritter Gentleman von etwas grämlichem Aussehen, der offenbar beim Tee gestört worden war, denn er verfügte bei seinem Eintritt gerade über den letzten Rest seiner butter-bestrichenen Brotschnitte, stellte sich dicht daneben auf, stemmte die Hände in die Seiten und beschaute ihn so nahe wie möglich, während noch zwei andre mit aufmerksamen, gedankenschweren Gesichtern seine Züge studierten.

Mr. Pickwick rückte dabei des öftern unruhig hin und her, und die Sitzung schien ihm ganz und gar nicht zu behagen; er machte jedoch die ganze Zeit über keine Bemerkung, selbst gegen Sam nicht, der, an die Rückseite des Stuhles gelehnt, teils über die Lage seines Herrn, teils über das große Vergnügen nachdachte, das ihm ein feindlicher Angriff auf sämtliche Schließer gewähren würde, wenn er unter dem Schutz des Gesetzes und ohne Friedensbruch über einen nach dem andern herfallen dürfte.

Endlich war das Konterfei vollendet, und man bedeutete Mr. Pickwick, er könne sich jetzt ins Gefängnis verfügen.

„Wo werde ich heute nacht schlafen?“ fragte Mr. Pickwick.

„Das weiß ich selbst nicht recht“, erwiderte der vierschrötige Schließer, „aber morgen bekommen Sie ’n Schlafkameraden und können sich dann häuslich einrichten. In der ersten Nacht ist gewöhnlich noch nicht alles recht in Ordnung, aber morgen können Sie bekommen, was Sie wollen.“ Nach einigem Hin und Her erwies es sich indessen, daß einer der Schließer ein Bett zu vermieten hatte, und Mr. Pickwick war froh, es für die Nacht bekommen zu können.

„Wenn Sie mit mir kommen wollen, so will ich es Ihnen sogleich zeigen“, sagte der Mann. „Es ist zwar nicht besonders groß, aber pennen kann man herrlich drin. – Hier, Herr.“

Sie gingen durch das innere Tor, stiegen eine kurze Treppe hinab, der Schlüssel wurde hinter ihnen umgedreht, und Mr. Pickwick befand sich zum ersten Male in seinem Leben innerhalb der Mauern eines Schuldgefängnisses.

Neununddreißigstes Kapitel


Neununddreißigstes Kapitel

Wie es Mr. Pickwick in der Fleet erging, was für Schuldgefangene er daselbst antraf und wie er die Nacht zubrachte.

Mr. Tom Roker, der Gentleman, der Mr. Pickwick ins Gefängnis begleitet hatte, wandte sich unten auf der kurzen Treppe nach rechts und führte den Gelehrten durch ein offenstehendes eisernes Tor, sodann eine andre kurze Treppe hinauf in einen langen, engen, schmutzigen, niedrigen, mit Steinen bepflasterten Gang, der bloß durch ein einziges Fenster an jedem Ende ein höchst spärliches Licht erhielt.

„Dies“, sagte der Gentleman mit einem Blick über die Schulter und steckte die Hände in die Taschen, „dies ist der Weg zur Halle.“

„So“, erwiderte Mr. Pickwick, eine dunkle schmutzige Treppe hinabblickend, die zu einer Reihe dumpfer, düsterer unterirdischer Steingewölbe zu führen schien, „und dies da sind wohl die kleinen Keller, wo die Gefangenen ihre geringen Kohlenvorräte aufbewahren? Der Zugang ist recht abscheulich, aber zu diesem Zwecke mögen sie wohl brauchbar sein.“

„Na, warum sollten sie nicht brauchbar sein“, meinte der Gentleman, „es wohnen ja mehrere Leute ganz hübsch darin.“

„Mein Freund“, sagte Mr. Pickwick, „es wird Ihnen doch nicht Ernst damit sein, daß menschliche Wesen in diesen Löchern wohnen?“

„Na warum denn nicht?“ erwiderte Mr. Roker mit unwilliger Verwunderung, „Warum denn nicht?“

„Da unten leben also wirklich Menschen?“ rief Mr. Pickwick.

„Ja, sie leben da unten, und sehr oft sterben sie auch da unten“, erwiderte Mr. Roker. „Was liegt denn dran? Wer kann etwas dagegen einwenden? ’s is ’n ganz guter Platz zum Leben.“

Da Rocker bei diesen Worten sich etwas barsch gegen Mr. Pickwick umwandte und noch überdies in gereiztem Tone gewisse unfreundliche Äußerungen über seine Augen, seine Glieder und seine in den Adern zirkulierenden Flüssigkeiten vor sich hin murmelte, hielt es der treffliche Gelehrte für ratsam, das Gespräch nicht weiter zu verfolgen. Mr. Roker stieg wieder eine Treppe hinauf, die so schmutzig war wie die letzte, und die Herren Pickwick und Weller folgten ihm auf den Fersen.

„Hier“, zeigte Mr. Roker und schöpfte Atem, als sie eine andre Galerie von demselben Umfang wie die untere erreicht hatten, „hier ist der Kantinengang; es sind noch zwei darüber, und das Zimmer, wo Sie heute nacht schlafen werden, gehört dem Gefängniswärter; es ist hier; treten Sie ein.“

Nachdem Mr. Roker dies alles in einem Atem heruntergesagt, stieg er mit seinen Begleitern von neuem eine Treppe hinauf.

Diese erhielt ihr Licht von einigen niedrig angebrachten Fenstern, die auf einen mit Kies bedeckten und von einer hohen Backsteinmauer mit eisernen spanischen Reitern umgebenen offenen Raum hinabsahen. Es war das, wie aus Mr. Rokers Erklärung hervorging, der Ballspielplatz, und nach dem Bericht desselben Gentleman befand sich in dem zunächst an die Farringdonstreet stoßenden Teile des Gefängnisses ein ähnlicher, aber kleinerer Hofraum, der „gemalte Platz“ genannt, weil man an seinen Mauern früher mehrere Abbildungen von Kriegsschiffen unter vollen Segeln sowie andre Kunstleistungen hatte bewundern können, durch die sich weiland ein eingesperrter Maler in seinen Mußestunden verewigt hatte.

Nachdem Mr. Roker diese Erklärung, augenscheinlich mehr um seine Seele von einem wichtigen Geheimnis zu erleichtern, als in der spezifischen Absicht, Mr. Pickwick aufzuklären, von sich gegeben hatte, ging er mit ihm in eine andre Galerie, öffnete eine Tür und schloß ein Zimmer von keineswegs einladendem Aussehen auf, in dem acht bis neun eiserne Bettstellen standen.

„Hier“, sagte er, hielt die Tür offen und warf Mr. Pickwick einen triumphierenden Blick zu, „hier ist ein Zimmer.“

Mr. Pickwicks Gesicht verriet indes ein so geringes Maß von Zufriedenheit, daß Mr. Roker in den Mienen Samuel Wellers, der bis jetzt ein würdevolles Schweigen beobachtet hatte, nach Verständnis suchte.

„Hier ist ein Zimmer, junger Mann“, wiederholte er. „Ich sehe es“, erwiderte Sam mit freundlichem Kopfnicken. „Was meinen Sie? So ein Zimmer würden Sie im Farringdonhotel nicht finden“, sagte Mr. Roker mit selbstgefälligem Lächeln.

Statt aller Antwort drückte Mr. Weller auf eine lässige und unstudierte Weise ein Auge zu, was entweder bedeuten konnte, er denke auch so, oder er denke nicht so, oder er habe überhaupt noch nicht darüber nachgedacht, wie es sich der Beobachter eben auslegen möge. Nachdem er diese Handlung vollbracht und sein Auge wieder geöffnet hatte, fragte er Mr. Roker, welches die merkwürdige Bettstelle sei, in der es sich nach seiner reizvollen Beschreibung so herrlich schlafen lasse.

„Diese da“, bedeutete Mr. Roker, auf eine rostige Bettlade in einem Winkel zeigend. „Jedermann schläft darin ein, er mag wollen oder nicht.“ „Dann wären ja“, erwiderte Sam, mit einem Blick ausgeprägten Widerwillens auf das fragliche Möbel, „dann wären ja Mohnköpfe nichts dagegen.“ „Das ist wahr“, versetzte Mr. Roker. „Und“, fügte Sam mit einem Seitenblick auf seinen Herrn hinzu, ob er bei diesem nicht etwa Merkmale eines erschütterten Entschlusses zu erkennen vermöchte, „die andern Herren, die hier noch schlafen, sind doch hoffentlich Gentlemen?“

„Versteht sich“, sagte Mr. Roker. „Einer von ihnen trinkt Tag für Tag zwölf Kannen Ale und läßt seine Pfeife nie kalt werden, nicht mal beim Essen.“

„Muß „n Kapitalkerl sein“, meinte Sam.

„Ja, freilich, ich bin es doch selbst.“

Keineswegs eingeschüchtert durch diese Nachricht, kündigte Mr. Pickwick seinen Entschluß an, die Wunderkräfte des narkotischen Bettes für die Nacht zu erproben; Mr. Roker bedeutete ihm, er könne sich ohne weitere Umstände oder Formalitäten zu jeder beliebigen Stunde zur Ruhe begeben, und ließ ihn sodann mit Sam auf dem Gange stehen.

Es wurde dunkel, das heißt, an diesem niemals hellen Platze wurden aus Artigkeit gegen den Abend, der sich außerhalb eingestellt hatte, einige Gaslichter angezündet. Da es ziemlich heiß war, so hatten die Bewohner einiger von den zahlreichen, auf beiden Seiten auf den Gang mündenden Stuben ihre Türen mehr oder weniger weit aufgemacht, und Mr. Pickwick schaute im Vorübergehen mit großer Neugierde und vielem Interesse hinein. Im ersten saßen vier oder fünf Burschen, durch eine Wolke von Tabaksrauch beinahe unsichtbar, in lärmender Unterhaltung bei halbleeren Bierkannen und spielten mit schmierigen Karten „Alle vier“. Im nächsten Zimmer erblickte er einen einsamen Bewohner, der beim Schein eines schwachen Talglichts einen Pack beschmutzte, vergilbte und vor Alter beinahe zerfallene Papiere studierte und zum hundertsten Mal ein langes Verzeichnis seiner Beschwerden an einen bedeutenden Mann niederschrieb, dessen Augen es niemals lesen, dessen Herz nie dadurch gerührt werden sollte. In einem dritten wohnte ein Mann mit seinem Weibe und einem ganzen Haufen Kinder und bereitete für die jüngsten ein ärmliches Nachtlager auf der Erde oder auf ein paar Stühlen. Im vierten, fünften, sechsten und siebenten wiederholte sich das Geschrei, das Biertrinken, der Tabaksrauch und das Kartenspiel in verstärktem Maße.

Auf den Gängen selbst, und besonders auf den Treppen, standen eine Masse Leute herum, einige, weil ihnen ihre Zimmer zu leer und zu einsam, andre, weil sie ihnen zu voll und zu heiß waren, die meisten aber, weil sie keine Ruhe fanden, sich unbehaglich fühlten und das Geheimnis nicht besaßen, mit Bestimmtheit zu wissen, was sie mit sich selbst anfangen sollten. Es waren Leute von allen Klassen da, vom Arbeiter im blauen Kittel bis zum ruinierten Verschwender im feinen tuchenen Schlafrock mit zerrissenen Ellenbogen; aber alle hatten dieselbe Art, sich zu benehmen, eine gewisse leichtfertige Galgenvogelsorglosigkeit, ein großtuerisches, vagabundisches Wesen, das sich mit Worten schlechterdings nicht beschreiben läßt, wovon aber jeder, der Lust hat, sogleich Einsicht nehmen kann, wenn er einen Fuß in das nächste beste Schuldgefängnis setzt und die Gruppen, die er erblickt, mit genügendem Interesse betrachtet.

„Sam“, sagte Mr. Pickwick und lehnte sich an das.eiserne Geländer oben am Treppenabsatz, „es will mir scheinen als ob die Schuldhaft kaum eine Strafe genannt werden könnte.“

„Wirklich nich, Herr?“

„Du siehst doch, wie diese Burschen trinken, rauchen und schreien. Ihre Lage kann ihnen unmöglich sehr zu Herzen gehen.“

„Das is es eben, Herr“, erwiderte Sam. „Die machen sich freilich nicht viel daraus. Sie haben alle Tage blauen Montag, saufen ’n ganzen Tag Porter und kegeln; aber ’s gibt auch noch andre, wo kein Bier trinken und nich Kegel schieben können und gerne bezahlen würden, wenn sie das Geld dazu hätten, und wo ganz traurig werden. Ich will Ihnen sagen, was es is, Sir; denen, wo den ganzen Tag über in den Kneipen rumkugeln, denen schadet es nichts, aber denen, wo immer arbeiten, wenn sie Arbeit finden, denen schadet es viel zuviel. Es is gar zu ungleich, wie mein Vater zu sagen pflegte, wenn sein Grog nich gerade halb Rum und halb Wasser war; es is gar zu ungleich, und darum ist die Sache oberfaul.“ „Mir scheint, du hast recht, Sam“, sagte Mr. Pickwick nachdenklich, „du hast sogar völlig recht.“

„Vielleicht gibt es dann und wann auch ’n paar ehrliche Leute, denen es gefällt“, bemerkte Mr. Weller mit gedankenvoller Miene, „aber ich habe noch von keinem nich gehört, ausgenommen von dem kleinen Mann mit dem schmutzigen Gesicht und dem braunen Rock, und da war es die Macht der Gewohnheit.“

„Wer war denn das?“ fragte Mr. Pickwick.

„Das is doch ebend die Sache, die kein Mensch niemals nich erfahren hat“, erwiderte Sam.

„Hm, und was hat er getan?“

„Tja, dasselbe, was manche viel berühmtere Leute auch schon gemacht haben, Sir“, erwiderte Sam, „hat seine Ausgaben und seine Einnahmen nich ins Gleichgewicht bekommen.“

„Das heißt vermutlich, er hat Schulden gemacht?“

„Ganz genau, Sir. Und so kam er denn im Lauf der Zeit demzufolge hierher. Es war nich viel – Exekution wegen rund neun Pfund geradeaus, multipliziert mit fünf für Unkosten, und doch mußte er siebzehn Jahre lang hierbleiben. Wenn er Runzeln im Gesicht bekam, so wurden sie mit Schmutz verstopft, denn sowohl seine schmierige Visage wie der braune Rock waren ganz dieselben, am Ende dieser Zeit wie am Anfang. Er war ’n stilles, harmloses kleines Männchen, das sich immer was zu schaffen machte oder Ball spielte und nie gewann, bis ihm endlich die Schließer liebgewannen und ihn jeden Abend auf ihr Zimmer kommen ließen, wo er mit ihnen schwatzen und ihnen Geschichten erzählen mußte und dergleichen. Eines Abends war er wie gewöhnlich auch da, und ganz alleine mit ’nem alten Freunde, wo gerade die Schlüssel hatte, da fing er auf einmal an und sagte: ,Bill, ich habe den Markt draußen nu schon siebzehn Jahre nich mehr gesehen.‘ (Dazumal war gerade der Fleetmarkt.) ,Ich weiß wohl‘, sagte der Schließer und rauchte seine Pfeife. – ,Ich möchte ihn gar zu gerne auf eine Minute wieder sehen, Bill‘, fuhr der Kleine fort. – ,Glaub’s wohl‘, sagte der Schließer und dampfte mächtig, um sich den Anschein zu geben, als ob er den kleinen Mann nich verstünde. – ,Aber‘, sagte dieser immer dringlicher, ,ich habe es mir nu mal in den Kopf gesetzt. Laß mich die Straße noch mal vor meinem Tode sehen, und wenn midi der Schlag nich rührt, bin ich in fünf Minuten wieder da.‘ – .Aber‘, sagte der Schließer, ,wat soll aus mir werden, wenn der Schlag dich wirklich rührt?‘ – ,Na‘, erwiderte das kleine Männchen, ,wer mir findet, der wird mir schon wiederbringen, ich habe doch meine Karte in der Tasche: Nummer zwanzig Restaurationsgang.‘ Und das war wirklich so, denn wenn er mit einem Neuangekommenen Bekanntschaft machen wollte, zog er jedesmal ’ne kleine, biegsame Karte, wo sonst nichts draufstand, aus der Tasche. Drum nannten sie ’n auch nur die ,Nummer zwanzig‘. Der Schließer sah ihn scharf an und sagte zuletzt feierlich: ,Zwanzig, ich will dir trauen; du wirst deinen alten Freund nich in Verlegenheit bringen.‘ – ,Nein, mein Schatz‘, antwortete das kleine Männchen, ,ich hoffe, ’s steckt was Besseres hier unten‘, und dabei schlug er sich mit Macht auf sein kleines Westchen, und in jedem Auge stand ihm ’ne Träne, was ganz außerordentlich war, denn er galt dafür, daß niemals Wasser sein Gesicht berührte. Dann schüttelte er dem Schließer die Hand, ging raus – „

„– und kam nie wieder“, ergänzte Mr. Pickwick.

„Vollkommen danebengehauen, Sir!“ entgegnete Mr.Weller. „Denn er kam zwei Minuten vor der Zeit zurück und kochte vor Wut und sagte, beinah hätte ihn ’ne Droschke überfahren und er war so was nich gewöhnt und wenn er nich an den Bürgermeister schreiben würde, dann würde es dreizehn schlagen. Sie beschwichtigten ihn endlich, aber fünf ganze Jahre nachher noch hat er nie mehr auch nur ’n Blick zum Tor rausgeworfen.“

„Und nach Verlauf dieser Zeit ist er wohl gestorben?“ fragte Mr. Pickwick.

„Nö, auch das nich“, erwiderte Sam. „Er bekam ’n Gelüste, in dem neuen Wirtshaus über der Straße das Bier zu versuchen, und dort war ’n so hübsches Zimmer, daß er sich’s in den Kopf setzte, jeden Abend dahin zu gehen, was er lange Zeit tat und immer regelmäßig etwa ’ne Viertelstunde vor Torschluß wiederkam. Das war nun allens ganz hübsch und gut, aber dann wurde er so fidel, daß er nich an die Zeit dachte und sich gar nichts mehr daraus machte, daß es immer später und später wurde, bis er zuletzt einen Abend am Tor ankam, wie sein guter Freund eben zuschließen wollte und hatte schon den Schlüssel umgedreht. – ,He, Bill, halt!‘ rief er ihm zu. – ,Bist du denn noch nicht zu Hause, Nummer zwanzig?‘ sagte der Schließer, ,ich dachte, du bist schon lange da.‘ – ,Ach, wo werd ich denn‘, sagte der Kleine lächelnd. – ,Denn will ich dir mal was sagen, guter Freund‘, sagte der Schließer und machte das Tor langsam und bedächtig wieder auf, ,ich habe mit großem Leidwesen gesehen, daß du in letzter Zeit in schlechte Gesellschaft geraten bist. Ich will ja nicht zu hart mit dir verfahren, aber wenn du dir nich an orntliche Leute halten tust und zur regelmäßigen Stunde wiederkommen tust, denn schließe ich dir ganz und gar aus, so wahr ich hier stehe.‘ Na, und da fing der kleine Mann an, mächtig zu zittern und zu beben, und seitdem ging er nie mehr aus dem Gefängnis raus.“ Als Sam geendet, ging Mr. Pickwick langsam die Treppe wieder hinab, und nachdem er einige Male auf dem bemalten Platz, wo er, da es jetzt dunkel war, beinahe allein sein konnte, gedankenvoll auf und ab geschritten, sagte er, es scheine ihm hohe Zeit zu sein, zu Bett zu gehen; Sam solle in einem nahen Wirtshaus eine Unterkunft suchen und am andern Morgen beizeiten wiederkommen, um für die Herbeischaffung der Garderobe aus dem „Georg und Geier“ Sorge zu tragen. Mr. Weller schickte sich an, diesem Befehl mit so viel Anstand, als er aufbringen konnte, nachzukommen, legte aber nichtsdestoweniger einen bedeutenden Widerwillen an den Tag. Er ging sogar so weit, durch allerhand wirkungslose Winke anzudeuten, daß es passender wäre, wenn er sich für heute nacht auf den Kiesboden hinstreckte; da er indes Mr. Pickwick für alle solche Anspielungen hartnäckig taub fand, zog er sich endlich zurück.

Mr. Pickwick war äußerst gespannt und fühlte sich höchst unbehaglich – nicht wegen Mangels an Gesellschaft, denn das Gefängnis war sehr voll, und mit einer Flasche Wein hätte er sich ohne weiteres Einführungszeremoniell die beste Kameradschaft einiger auserwählter Geister erkaufen können –, allein er fühlte sich einsam unter dem rohen Gesindel, und der Gedanke, ohne Aussicht auf Befreiung eingekerkert zu sein, benahm ihm allen frohen Mut. Dessenungeachtet fiel es ihm aber nicht im entferntesten ein, sich damit loszumachen, daß er den Betrügereien Dodson und Foggs Vorschub leistete.

In dieser Stimmung begab er sich noch einmal in den Restaurationsgang und spazierte langsam auf und ab. Der Platz war unerträglich schmutzig und der Tabaksdampf beinahe erstickend. Die Leute warfen unaufhörlich die Türen zu, wenn sie aus und ein gingen, und das Geräusch ihrer Stimmen und Fußtritte hallte beständig durch den Gang. Eine junge Frau mit einem Kind auf den Armen, das vor Magerkeit und Elend kaum kriechen zu können schien, ging mit ihrem Manne, der keinen andern Platz hatte, um ihren Besuch zu empfangen, den Gang auf und ab. Als sie an Mr. Pickwick vorbeikamen, konnte er die Frau bitterlich schluchzen hören, und einmal brach sie in ein so heftiges Jammern aus, daß sie sich an der Wand halten mußte, indes der Mann das Kind in seine Arme nahm und sie zu beruhigen versuchte.

Mr. Pickwicks Herz war wirklich zu voll, um dies zu ertragen, er ging die Treppen hinauf und ins Bett.

Obgleich nun das Zimmer des Gefängniswärters in bezug auf Möblierung und Einrichtung durchaus unwohnlich und um mehrere hundert Grad schlechter war als das gemeinste Krankenzimmer in einem Grafschaftsgefängnis, so hatte es doch für den Augenblick den Vorzug, ganz verlassen zu sein. Mr. Pickwick setzte sich am Fuß seiner kleinen eisernen Bettstatt nieder und begann zu berechnen, wieviel der Gefängniswärter wohl jährlich aus diesem schmutzigen Zimmer lösen könne. Nachdem er auf mathematischem Wege herausgebracht, daß es vielleicht so viel eintrage, wie eine kleine Straße in den Vorstädten Londons, fing er an, sich zu wundern, welche Versuchung wohl eine trübsinnige Fliege, die auf seinen Beinkleidern herumkroch, verlockt haben möge, in ein Gefängnis zu kommen, während sie doch unter so vielen lustigen Wohnungen die Wahl habe – eine Betrachtung, die ihn zu dem unabweislichen Schluß leitete, das Insekt müsse verrückt sein. Nachdem er über diesen Punkt ins reine gekommen, fing er an, sich bewußt zu werden, daß er schläfrig sei. Er zog daher seine Nachtmütze aus der Tasche, die er morgens einzustecken die Vorsicht gebraucht hatte, kleidete sich gemächlich aus, ging ins Bett und schlummerte.

„Bravo! Fersen höher! Hoppla! Hopsa! Zephyr! Ich will mich hängen lassen, wenn nicht das Opernhaus Ihre eigentliche Hemisphäre ist. Holla ho!“ Diese und ähnliche, mit tobendem Geschrei hervorgelärmten und von lautem, schallendem Gelächter begleiteten Ausdrücke erweckten Mr. Pickwick aus einem jener gesunden Schlummer, die in Wirklichkeit nur eine halbe Stunde andauern, dem Schläfer aber drei bis vier Wochen lang gewährt zu haben scheinen.

Die Stimme hatte kaum aufgehört, als das Zimmer mit solcher Heftigkeit erschüttert wurde, daß die Fenster klirrten und die Bettladen erzitterten. Mr. Pickwick schrak auf und blieb, einige Minuten lang in stummes Erstaunen über die seinen Augen sich darstellende Szene versunken, aufrecht sitzen.

In seinem eignen Zimmer nämlich führte ein Mann in einem grobgesäumten grünen Rock, manchesternen Kniehosen und grauen wollenen Strümpfen die populärste Art eines Hornpipetanzes mit einer spitzbübisch-burlesken Karikatur von Anmut und Grazie auf, die, verbunden mit dem eigentümlichen Charakter seines Kostüms, unaussprechlich phantastisch war. Ein andrer Mann, offenbar sehr betrunken und wahrscheinlich von seinem Kameraden in ein Bett geworfen, saß zwischen den Tüchern und trillerte, soweit es ihm sein Gedächtnis gestattete, ein komisches Lied mit sentimentalem Text, indes ein dritter, gleichfalls auf einem Bette, den beiden Künstlern mit tiefer Kennermiene zujubelte und sie durch das Übermaß von Empfindung, das Mr. Pickwick bereits aus dem Schlafe gestört hatte, anfeuerte.

Dieser letzte war ein bewunderungswürdiges Muster von einer Klasse Leute, die in ihrer gänzlichen Vollkommenheit nur an solchen Orten zu sehen sind und – im unvollkommenen Zustand gelegentlich auch in der Gegend von Viehställen und in öffentlichen Häusern zu treffen sind, aber ihre volle Blume erst in diesen Mistbeeten, die von der Gesetzgebung wohlweislich einzig und allein zu ihrer Erziehung geschaffen zu sein scheinen, entfalten.

Er war ein langer Kerl von olivenbrauner Gesichtsfarbe, hatte lange, dunkle Haare und einen sehr dicken, buschigen Schnurrbart, der unter dem Kinn zusammenlief. Er trug kein Halstuch, da er den ganzen Tag Tennis gespielt hatte, und sein offner Hemdkragen enthüllte die volle Üppigkeit seines Nackens. Auf dem Kopf hatte er eine gewöhnliche französische Mütze zu achtzehn Pence sitzen, mit bunten Troddeln daran, die zu dem gemeinen Barchentrock sich sehr hübsch ausnahmen. Seine Beine, lang und dünn, schmückten ein Paar Oxforder Pumphosen, geeignet, die Symmetrie seiner Glieder ins gehörige Licht zu setzen. Da sie indes etwas nachlässig geschnallt und außerdem auch unvollständig zugeknöpft war, so fiel sie in einer Reihe nicht eben sehr anmutsvoller Falten über ein Paar Schuhe gerade so weit herab, um ein Paar schmutzige weiße Strümpfe sehen zu lassen. In dem ganzen „Wesen des Mannes sprach sich eine gewisse gaunerhafte, vagabundenmäßige Lebhaftigkeit und eine Art großtuerischen Spitzbubentums aus, die wenigstens eine Goldmine wert war.

Diese Figur war die erste, die bemerkte, daß Mr. Pickwick zuschaute; sie winkte hierauf dem „Zephyr“ zu und bat ihn mit drolliger Gravität, den Herrn nicht aufzuwecken.

„Gott segne den ehrenwerten Gentleman in Zeit und Ewigkeit“, rief der „Zephyr“ aus, drehte sich um und legte die äußerste Überraschung an den Tag. „Der Gentleman ist bereits erwacht. Heda, Shakespeare! Wie befinden Sie sich, Sir? Was machen Marie und Sara, Sir? Und die liebwerte alte Madam zu Hause, Sir? – Wollen Sie die Güte haben, dem ersten Paketchen, das Sie ihr schicken, meine Komplimente beizufügen.“

„Belästigen Sie den Gentleman nicht mit gewöhnlichen Höflichkeiten, wo Sie sehen, daß er ungemein durstig ist“, verwies der Schnurrbart in scherzhaftem Ton. „Warum fragen Sie den Gentleman nicht, was er befehle?“

„Beim Himmel, das habe ich ganz vergessen“, erwiderte der andre. „Was belieben Sie zu trinken, Sir? Wünschen Sie Portwein, Sir? Oder Xeres, Sir? Auch das Ale kann ich empfehlen, Sir, oder vielleicht ziehen Sie lieber Porter vor, Sir? Gestatten Sie, daß ich Ihre Nachtmütze aufhänge, Sir!“

Mit diesen Worten schnappte der Gentleman genanntes Bekleidungsstück von Mr. Pickwicks Kopf weg und setzte es im Nu dem Betrunkenen auf, der im festen Glauben, eine zahlreiche Versammlung zu ergötzen, fortfuhr, in möglichst melancholischen Tönen sein Lied herunterzuleiern. Jemand mit Gewalt die Nachtmütze vom Kopf reißen und einem unbekannten Schmutzfinken aufsetzen, mag an und für sich ein geistreicher Witz sein, gehört aber unstreitig in die Klasse der handgreiflichen Spaße. Auch Mr. Pickwick betrachtete die Sache von diesem Gesichtspunkt aus, sprang, ohne seine Absicht im mindesten vorher zu verkünden, wie der Blitz aus dem Bett und versetzte dem „Zephyr“ einen derben Schlag auf die Brust, riß dann seine Mütze wieder an sich und nahm kühn eine defensive Stellung an.

„Nur heran!“ rief er dabei, keuchend sowohl vor Zorn als infolge des ungewohnten Kraftaufwandes. „Nur heran, ihr beiden!“

Diese freundliche Einladung begleitete der Treffliche mit wiederholten Schwingungen seiner geballten Fäuste, um seinen Gegnern durch Entwicklung seiner Kunstfertigkeit Schrecken einzujagen.

War es Mr. Pickwicks höchst unerwartete Tapferkeit oder die verwickelte Art, wie er aus dem Bett gesprungen und unaufhaltsam den Hornpipemann überfallen hatte, was seine Gegner konsternierte – kurz und gut, konsterniert waren sie, und statt den Versuch zu machen, ihn zu erschlagen, wie Mr. Pickwick unbedingt von ihnen vorausgesetzt, wurden sie auf einmal still, starrten einander an und begannen dann aus vollem Halse zu lachen.

„Wacker! Bravo!“ rief der „Zephyr“. „Sie gefallen mir. Hüpfen Sie nur jetzt wieder ins Bett, sonst erkälten Sie sich. Sie werden doch hoffentlich nicht böse auf uns sein.“ Zugleich streckte er ihm eine Hand hin, ähnlich dem gelben Fingerklumpen, den man hier und da über dem Laden eines Handschuhmachers hängen sieht.

„Oh, gewiß nicht“, versicherte Mr. Pickwick, plötzlich sehr munter, denn jetzt, wo die Aufregung vorüber war, begann er Kälte in seinen Füßen zu verspüren.

„Gestatten Sie mir die Ehre, Sir“, sagte der Gentleman mit dem Schnurrbart und reichte ihm ebenfalls die Rechte hin.

„Mit Vergnügen, Sir“, erwiderte Mr. Pickwick und stieg nach einem langen, feierlichen Händeschütteln wieder in sein Bett.

„Mein Name ist Smangle, Sir“, stellte sich der Mann mit dem Schnurrbart vor.

„Ah, schön“, sagte Mr. Pickwick.

„Und meiner Mivins“, sagte der Mann mit den Strümpfen.

„Freut mich, es zu vernehmen“, erwiderte Mr. Pickwick.

„Hern“, hustete Mr. Smangle.

„Sagten Sie etwas, Sir“, fragte Mr. Pickwick.

„Nein, Sir.“

„Dann habe ich mich geirrt, Sir“, versetzte Mr. Pickwick.

Alles dies ließ sich sehr nett an; um aber auf einen noch freundlicheren Fuß mit dem neuen Bekannten zu gelangen, versicherte Mr. Smangle Mr. Pickwick zu wiederholten Malen, daß er eine bedeutende Hochachtung vor ihm hege.

„Kommen Sie durch den ,Hof hierher, Sir?“ fragte er dann unvermittelt.

„Durch was?“ fragte Mr. Pickwick.

„Durch den ,HoP – Portugalstreet – Sie wissen schon.“

„O nein.“

„Das Geld ausgegangen vielleicht?“ forschte Mivins.

„Ich hoffe nicht“, erwiderte Mr. Pickwick. „Ich weigere mich bloß, Schadenersatz zu bezahlen, und bin deswegen hier.“

„So, so“, sagte Mr. Smangle. „Mein Verderben war Papier.“

„So sind Sie vielleicht Buchhändler, Sir?“ fragte Mr. Pickwick unschuldig.

„Buchhändler? Gott bewahre. Nichts so Niederträchtiges. Kein Geschäftsmann. Wenn ich Papier sage, meine ich damit Wechsel.“

„Aha, jetzt verstehe ich Sie“, sagte Mr. Pickwick.

„Gott straf mich, ein Gentleman muß Unglücksfälle zu ertragen verstehen“, fuhr Smangle fort. „Was ist auch schließlich dran? Ich bin hier im Fleetgefängnis; nun gut, bm ich deswegen schlimmer dran als vorher?“

„Nein, nicht um ein Haar“, bekräftigte Mr. Mivins.

Und er hatte ganz recht. Mr. Smangle war sogar weit besser daran, zumal er sich nicht um einen Wohnort umzusehen brauchte.

„Lassen wir das jetzt“, sagte er, „das ist trockene Arbeit Spülen wir den Mund mit einem Tröpfchen Glühwein aus, der letzte Ankömmling hat zu bezahlen. Mivins wird ihn holen, und ich helfe ihn austrinken. Das ist, Gott straf mich, ehrliche Arbeitsteilung.“

Mr.Pickwick, der keine Lust hatte, sich abermaligen Handgreiflichkeiten auszusetzen, nahm den Vorschlag mit Vergnügen an und gab Mr. Mivins Geld, und dieser verlor, da es nahe an elf Uhr war, keine Zeit und eilte schnurstracks in die Kantine.

„Was haben Sie ihm denn gegeben?“ flüsterte Smangle in dem Augenblick, als sein Freund das Zimmer verlassen hatte.

„Einen halben Sovereign.“

„Ein verteufelt liebenswürdiger Gentleman, der Mivins“, lobte Mr. Smangle, „höllisch liebenswürdig. Ich kenne keinen bessern Kameraden, aber – hm …“

„Sie werden doch nicht sagen wollen, daß der Herr imstande wäre, das Geld für sich selbst zu verwenden?“

„O nein, Gott bewahre, das sage ich nicht; ich sage doch ausdrücklich, daß er ein Gentleman ist“, erwiderte Mr. Smangle. „Aber ich denke, wenn vielleicht jemand hinunterginge, um zu sehen, ob er nicht zufälligerweise seinen Schnabel in den Krug steckt oder am Ende auf der Treppe das Geld verliert, so könnte es nicht schaden. Heda, Sie, gehen Sie mal hinunter und sehen Sie nach dem Herrn.“

Diese Aufforderung galt einem kleinen, schüchtern dreinblickenden, nervenschwachen Manne, dessen ganze Erscheinung große Armut verriet, und der sich die Zeit über offenbar völlig betäubt über die Neuheit seiner Lage auf einem der Betten zusammengeduckt hatte.

„Sie wissen doch die Restauration? Laufen Sie hinunter und sagen Sie dem Herrn, Sie kämen, um ihm den Krug herauftragen zu helfen. Doch warten Sie mal – ich will Ihnen etwas sagen – ich will Ihnen sagen, wie wir ihn drankriegen werden“, fügte Smangle mit pfiffigem Blick hinzu.

„Nun, wie denn?“ fragte Mr. Pickwick.

„Lassen Sie ihm sagen, daß er für das übrige Geld Zigarren kaufen solle. Eine famose Idee! Laufen Sie schnell hinunter und melden Sie es ihm. – Sie sollen nicht zugrunde gehen, ich werde sie rauchen.“

Dieses Manöver war so ausnehmend scharfsinnig erdacht und wurde mit solch unerschütterlicher Ruhe und Kaltblütigkeit ausgeführt, daß Mr. Pickwick es nicht verhindert hätte, wenn es auch in seiner Macht gestanden wäre. In kurzer Zeit kam Mr. Mivins mit dem Sherry zurück, den Mr. Smangle in zwei kleine zersprungene, schmutzige Krüge schüttete und dabei die kluge Bemerkung machte, ein Gentleman dürfe unter solchen Umständen nicht heikel sein; –_ wenigstens er für seine Person schäme sich nicht, aus einem irdenen Kruge zu trinken. Um seine Aufrichtigkeit sogleich zu beweisen, tat er der Gesellschaft Bescheid mit einem Zuge, der seinen Krug zur Hälfte leerte.

Nachdem nun auf diese Weise ein so vortreffliches Einverständnis erzielt worden, begann Mr. Smangle seine Zuhörer mit einem Bericht von verschiedenen romantischen Abenteuern zu unterhalten, die er seinerzeit bestanden, und ließ dabei allerhand interessante Anekdoten von einem Vollblutpferde einfließen sowie von einer prachtvollen Jüdin, beide von ausnehmender Schönheit und sehr beliebt bei dem hohen und niederen Adel des Königreichs.

Lange bevor diese eleganten Auszüge aus der Biographie eines Gentlemans zu Ende waren, hatte sich Mr. Mevins ins Bett begeben und schnarchte, dem schüchternen Fremdling und Mr. Pickwick den vollen Genuß von Mr. Smangles Erlebnissen gönnend.

Übrigens wurden auch die zwei letztgenannten Herren von den ergreifenden Passagen, die man ihnen vortrug, nicht genügend erbaut. Mr. Pickwick war schon geraume Zeit in einem Zustande von Halbschlummer und hatte nur noch eine dunkle Vorstellung davon, daß der Betrunkene aufs neue mit seinem komischen Lied losbrach und von Mr. Smangle vermittels des Wasserkruges höflich bedeutet wurde, die Zuhörerschaft mit Gesang zu verschonen. Er nickte jedoch gleich wieder ein und hatte dabei noch das verschwommene Bewußtsein, daß Mr. Smangle immer noch eine lange Geschichte erzähle, die sich hauptsächlich darum drehte, daß er bei gewissen ausführlich geschilderten Gelegenheiten ein« große Zeche gemacht und, ohne sich etwas zu vergeben, nichts bezahlt habe.

Vierzigstes Kapitel


Vierzigstes Kapitel

Worin sich, wie im vorhergehenden, das alte Sprichwort bewährt, daß das Unglück den Menschen mit sonderbaren Schlafkameraden zusammenführt.

Als Mr. Pickwick am nächsten Morgen die Augen öffnete, war das erste, was er erblickte, Samuel Weller, der auf einem kleinen schwarzen Felleisen saß und offenbar gänzlich in Betrachtung der stattlichen Figur des lustigen Mr. Smangle versunken war, der seinerseits, bereits halb angekleidet auf dem Bette sitzend, mit dem verzweifelt hoffnungslosen Versuche beschäftigt war, Mr. Weller durch unverwandtes Anstarren aus der Fassung zu bringen. Hoffnungslos insofern, als Sam nach einem umfassenden Blick auf Mr. Smangles Mütze, Füße, Kopf, Gesicht, Beine und Schnurrbart unverdrossen fortfuhr, ihn mit allen Zeichen lebhafter Zufriedenheit zu mustern, ohne auf Mr. Smangles persönliche Gefühle dabei mehr Rücksicht zu nehmen als bei der Betrachtung einer hölzernen Statue oder einer Strohpuppe.

„Na, haben Sie sich jetzt endlich mein Gesicht gemerkt?“ murrte Mr. Smangle schließlich mit finsterem Stirnrunzeln.

„Seien Sie diesbezüglich ganz außer Sorge“, erwiderte Sam heiter.

„Und Sie, seien Sie nicht unverschämt gegen einen Gentleman, Sir“, sagte Mr. Smangle.

„Bin ich auch nich“, erwiderte Sam. „Wenn Sie mir sagen wollen, wann er aufwacht, so werde ich mir ganz extrafein gegen ihm benehmen.“

Da in dieser Bemerkung offenbar eine versteckte beleidigende Absicht lag, geriet Mr. Smangle in Zorn.

„Mivins!“ rief er heftig.

„Was gibt’s?“ erwiderte eine Stimme unter einer Bettdecke hervor.

„Wer zum Teufel ist dieser Bursche da?“

„Was weiß ich?“ gähnte Mr. Mivins verschlafen. „Darum muß ich Sie fragen. Hat er hier etwas zu tun?“

„Nein.“

„Dann werfen Sie ihn doch die Treppe hinunter und sagen Sie ihm, er solle sich nicht einfallen lassen, wieder heraufzukommen, sonst prügle ich ihn windelweich“, brummte Mr. Mivins und begann aufs neue einzuschlummern.

Um dem Gespräch eine versöhnlichere Wendung zu geben, hielt es Mr. Pickwick für angezeigt, sich ins Mittel zu legen.

„Sam“, sagte er.

„Sir?“

„Ist seit gestern Abend nichts Neues vorgefallen?“

„Nichts Besonderes, Sir“, erwiderte Sam, mit einem Seitenblick auf Mr. Smangles Schnurrbart. „Die dicke Atmosphäre scheint dem Wachstum von Unkraut auf ’ne beunruhigende Art günstig zu sein; sonst ist aber alles ganz ruhig.“

„Ich will aufstehen“, sagte Mr. Pickwick. „Gib mir meine Wäsche.“

Was für feindliche Absichten Mr. Smangle auch gehegt haben mochte, seine Gedanken erhielten schnell eine andre Richtung durch das Auspacken des Mantelsacks, dessen Inhalt ihn auf einmal mit einer höchst günstigen Meinung nicht bloß von Mr. Pickwick, sondern auch von Sam zu erfüllen schien, den er schnell Gelegenheit nahm, laut genug, um von diesem exzentrischen Manne gehört zu werden, für ein vollkommenes Original, und daher ganz für einen Mann nach seinem Herzen zu erklären. Was Mr. Pickwick betraf, kannte seine Zuneigung keine Grenzen mehr. „Kann ich Ihnen mit irgend etwas dienen, werter Herr?“ fragte er.

„Wüßte nicht, danke ganz ergebenst“, erwiderte Mr. Pickwick.

„Haben Sie nichts der Wäscherin zu schicken? Ich kenne eine herrliche Wäscherin, nicht weit von hier, die zweimal in der Woche zu mir kommt, und – beim Teufel, wie schön sich das trifft! – heute ist gerade ihr Tag. Soll ich etwas von Ihren Sachen zu den meinigen legen? Es macht mir durchaus keine Mühe. Der Henker soll mich holen, was müßte man von der menschlichen Natur denken, wenn nicht ein Gentleman in Bedrängnis einem andern in derselben Lage aushelfen wollte?“ Dabei rückte Mr. Smangle so nahe wie möglich an das Felleisen, und seine Blicke erstrahlten in glühendster, uneigennütziger Freundschaft. – „Oder haben Sie vielleicht etwas zum Ausbürsten für den Aufwärter?“

„Ganz und gar nicht, mein Wertester“, antwortete Sam für seinen Herrn. „Vielleicht würde es angenehmer für alle Teile sein, wenn einer von uns das Bürsten übernähme, ohne den Mann zu bemühen, wie der Schulmeister sagte, als die jungen Schenlmän sich nich vom Büttel durchprügeln lassen wollten.“

„Haben Sie denn gar nichts, was ich in meinem Köfferchen der Wäscherin schicken könnte?“ fragte Smangle und wandte sich entmutigt von Sam zu Mr. Pickwick.

„Nich das mindeste, Sir“, antwortete Sam abermals. „Ich fürchte, der kleine Koffer muß von Ihren eignen Sachen schon übervoll sein.“

Dabei warf er einen solch ausdrucksvollen Blick auf die besonderen Einzelheiten von Mr. Smangles Anzug, daß dieser sich umdrehte und wenigstens für den Augenblick alle Absichten auf Mr. Pickwicks Börse und Garderobe aufgab. Grimmig begab er sich auf den Tennisplatz, wo er als ein leichtes und gesundes Frühstück ein paar von den in der letzten Nacht gekauften Zigarren rauchte.

Mr. Mivins, der Nichtraucher war und für den kein Kaufmann mehr eine Feder, kein Wirt eine Kreide anrührte, blieb im Bett und „schlief sich eins zum Frühstück“, wie er sich ausdrückte.

Nachdem Mr. Pickwick in einem kleinen Kabinett neben der Kantine, das den imponierenden Namen „Das Lauschestübchen“ führte, und dessen jeweiliger Gast gegen eine kleine Vergütung den unaussprechlichen Vorteil genoß, die ganze Unterhaltung nebenan mithören zu können, etwas zu sich genommen und Mr. Weller mit einigen notwendigen Aufträgen fortgeschickt hatte, ging er auf sein Zimmer zurück, um sich mit Mr. Roker wegen seiner künftigen Einrichtung zu besprechen.

„Einrichtung? So, so!“ sagte der Schließer und zog ein großes Buch zu Rate. „Einrichtung und Bequemlichkeiten genug, Mr. Pickwick. Ihre gemeinsame Zelle trägt Nummer siebenundzwanzig im dritten Stock.“

„Wie? Was sagen Sie?“ fragte Mr. Pickwick.

„Ihre gemeinsame Zelle“, wiederholte Mr. Roker. „Verstehen Sie mich nicht?“

„Nicht ganz“, erwiderte Mr. Pickwick lächelnd.

„’s ist doch so klar wie dicke Tinte“, erklärte Mr. Roker. „Sie haben ’ne gemeinsame Zelle auf Nummer siebenundzwanzig im dritten Stock mit ein paar andern.“

„Sind es viele?“ fragte Mr. Pickwick bedenklich.

„Drei.“

Mr. Pickwick hustete.

„Der eine is ’n Pfarrer“, sagte Mr. Roker und füllte dabei eine Rubrik aus, „der andre ein Metzger.“

„Was?“

„Ein Metzger“, wiederholte Mr. Roker, mit dem Kiel seiner Feder an das Pult schlagend, damit sie besser Tinte lassen sollte. „Und was der für ein reicher vornehmer Mann war! Sie erinnern sich doch noch an Tom Martin, was, Neddy?“ fragte er einen andern Mann in der Stube, der soeben mit einem fünfundzwanzigklingigen Taschenmesser den Schmutz von seinen Schuhen abschabte.

„Und ob“, erwiderte der Angeredete triumphierend.

„So wahr ein Gott lebt“, fuhr Mr. Roker langsam den Kopf hin und her wiegend fort, als wolle er sich irgendeine friedliche Szene aus seiner früheren Jugend vergegenwärtigen, „’s is mir noch, als wäre es erst gestern gewesen, wie er bei Foggs under the Hill die Werft hinunterkarriolte. Ich seh ihn noch, wie er zwischen zwei Polizisten den Strand heraufkommt, ein wenig nüchtern gemacht durch den Sturz, mit einem Essigumschlag und einem braunen Pflaster über seinem rechten Augenlid.“

Der Gentleman, an den diese Worte gerichtet waren, schien schweigsamer und gedankenvoller Natur zu sein, denn er beschränkte sich darauf, bloß die Fragen nachzusprechen. Mr. Roker schüttelte die poetische schwermütige Gedankenrichtung, in die er sich hatte drängen lassen, ab, ließ sich zu den gewöhnlichen Geschäften des Lebens hernieder und nahm seine Feder aufs neue zur Hand.

„Wissen Sie auch, wer der dritte Gentleman ist?“ fragte Mr. Pickwick, nicht sehr Befriedigt durch diese Schilderung seines künftigen Zellengenossen.

„Was ist dieser Simpson eigentlich, Neddy?“ fragte Mr. Roker seinen Kollegen.

„Was für ’n Simpson?“

„No, der in Numero siebenundzwanzig im dritten Stock?“

„Mhm, der“, erwiderte Neddy, „der ist eigentlich nichts. War früher Roßkamm, jetzt aber haben sie ihm das Handwerk gelegt.“

„Aha, dachte mir’s gleich“, versetzte Mr. Roker, schloß das Buch und gab Mr. Pickwick einen Streifen Papier in die Hand, „hier ist das Billett, Sir.“

Sehr verblüfft durch das summarische Verfahren ging Mr. Pickwick in das Gefängnis zurück und überlegte, was er tun sollte. Da er ,es immerhin für ratsam hielt, bevor er weitere Schritte einleitete, mit den drei Gentlemen, denen er als Stubengenosse zugewiesen war, in persönlichen Verkehr zu treten, begab er sich schnell in den dritten Stock.

Nachdem er einige Zeit im Gang herumgetappt und bei der schwachen Beleuchtung vergebens die verschiedenen Zellennummern zu entziffern versucht hatte, wandte er sich endlich an einen Bierjungen, der gerade seiner gewöhnlichen Morgenbeschäftigung nachging, die zinnernen Kannen wieder zusammenzuholen.

„Wo ist Nummer siebenundzwanzig, Kleiner?“

„Fünf Türen weiter unten“, erwiderte der Junge. „Außen an die Türe is mit Kreide ’n Galgen angemalt, wo einer dran hängt und dabei Pfeife raucht.“

Mr. Pickwick ging langsam den Gang hinab, bis er an das oben beschriebene Porträt eines Gentleman gelangte, auf dessen Gesicht er mit dem Knöchel seines Zeigefingers das erste Mal ganz sachte, dann aber etwas vernehmlicher anklopfte. Nachdem er diesen Prozeß mehrere Male vergeblich wiederholt, wagte er es, die Tür zu öffnen und hineinzublicken.

Es war bloß ein einziger Bewohner anwesend, der sich, soweit er es ohne Gefahr, das Gleichgewicht zu verlieren, tun konnte, zum Fenster hinauslehnte und mit großer Beharrlichkeit bemüht war, auf den Hut eines seiner Freunde im unteren Stockwerk hinabzuspucken. Da weder Sprechen, Husten, Niesen, Klopfen, noch irgendeine andere übliche Art, die Aufmerksamkeit eines Menschen zu erregen, von. Erfolg begleitet war, schritt Mr. Pickwick nach einer Weile zürn Fenster und zupfte den Gentleman sachte am Rockflügel. Dieser zog Kopf und Schultern mit großer Schnelligkeit zurück, musterte Mr. Pickwick von oben bis unten und fragte ihn. in grämlichem Tone, was er zum Henker denn wolle. „Wenn ich nicht irre“, sagte Mr. Pickwick und zeigte sein Billett, „so ist dies Nummer siebenundzwanzig im dritten Stock.“

„Na, und?“

„Ich bin hierher gekommen, weil man. mir dies Papier gegeben hat.“

„Zeigen Sie’s her!“ brummte der Gentleman.

„Roker hätte Sie auch anderswo unterbringen können“, meinte dann Mr. Simpson – denn dieser war es – nach einer peinlichen Pause.

Mr. Pickwick dachte auch so, hielt es jedoch unter allen Umständen für eine Forderung gesunder Politik, zu schweigen.

Mr. Simpson sann einige Augenblicke nach, steckte dann den Kopf wieder zum Fenster hinaus, tat einen gellenden Pfiff und rief mehrmals ein Wort. Was dieses bedeuten sollte, konnte Mr. Pickwick nicht erraten, doch schien es ihm ein Spitzname auf Mr. Martin zu sein, da eine Menge Gentlemen unten sogleich anfingen, „Metzger“ zu schreien und dabei den quiekenden Ton nachzumachen, der dieser nützlichen Klasse der menschlichen Gesellschaft geläufig zu sein pflegt.

Mr. Pickwick fand seine Mutmaßung alsbald bestätigt, denn wenige Sekunden später stürzte beinahe atemlos ein für seine Jahre übermäßig dicker Gentleman in einem zunftmäßigen blauen Frack und mit Stulpenstiefeln und zirkelrundem Zehenleder ins Zimmer, und hinter ihm ein anderer Herr, in abgeschabtes Schwarz gekleidet, eine Mütze von Seehundsfell auf dem Kopf und den Rock abwechselnd vermittels einer Nadel und eines Knopfes bis ans Kinn geschlossen. Seinem plumpen roten Gesicht nach zu schließen, war er ein trunksüchtiger Kaplan.

Nachdem die beiden Herren, einer nach dem andern, Mr. Pickwicks Billett gelesen hatten, drückte der eine seine Meinung dahin aus, es sei ein verdammter Streich, und der gjidre erklärte, er werde das nicht zulassen, und dann sahen sie gemeinsam Mr. Pickwick mit unhöflichem Schweigen an.

„Lästige Sache das, gerade wo wir so hübsche Betten haben“, murrte der Kaplan, mit einem Blick auf drei schmutzige Matratzen, die in weißwollene Decken gewickelt waren und den Tag über in einer Ecke des Zimmers neben einem Tisch lagen, auf dem ein altes zerbrochenes Waschbecken, eine Gießkanne und ein Seifenschälchen von gemeiner gelber Töpferarbeit, mit einer blauen Blume darauf, stand. „Verdammt lästig.“

Mr. Martin erging sich in noch stärkeren Ausdrücken, und Mr. Simpson schlug, nachdem er eine Menge ausfüllender Adjektive ohne die begleitenden Substantiva über die Gesellschaft losgelassen, seine Ärmel zurück und begann, das Gemüse für das Mittagessen zu waschen. „Ich dächte, es ließe sich doch noch helfen“, meinte der Metzger nach einer längeren bangen Pause. „Was verlangen Sie dafür, daß Sie sich packen?“

„Bitte um Verzeilning“, erwiderte Mr. Pickwick. „Wie sagten Sie? Ich verstehe nicht recht.“

„Wie wir Sie ausbezahlen sollen?“ erklärte der Metzger. „Die gewöhnliche Taxe ist zwei Schillinge und sechs Pence. Wir wollen Ihnen drei geben.“

„Und einen Spanner“, fügte der geistliche Herr hinzu.

„Also gut, wir bezahlen Ihnen wöchentlich drei Schilling und sechs Pence, wenn Sie uns allein lassen“, resümierte Mr. Martin, „damit werden Sie denn doch wohl zufrieden sein?“

„Und obendrein noch ein Maß Bier, hier zu trinken“, stimmte Mr. Simpson ein.

„Ja, und zwar gleich jetzt“, rief der Kaplan.

„Ich bin wirklich mit den Regeln dieses Hauses noch so vollkommen unbekannt“, entschuldigte sich Mr. Pickwick, »daß ich Sie immer noch nicht recht verstehe. Kann ich denn eine andre Wohnung bekommen? Ich glaubte, das ginge nicht.“

Bei dieser Frage blickte Mr. Martin seine zwei Freunde höchst verwundert an, und dann deutete jeder der Gentlemen mit seinem rechten Daumen über seine linke Schulter. Dieses Freimaurerzeichen, das sich in Worten mit dem schwachen Ausdruck „links“ nur höchst unvollkommen bezeichnen läßt, hat, wenn es von einer Anzahl Damen oder Herren, die miteinander im Einverständnis sind, vollzogen wird, eine sehr anmutige und lustige Wirkung; ihr Ausdruck ist der eines munteren mutwilligen Sarkasmus.

„Ob Sie können?“ wiederholte Mr. Martin mit einem mitleidigen Lächeln.

„Wenn ich mich so wenig aufs Leben verstünde, würde ich meinen Hut fressen und die Schnalle hinunterschlucken“, rief der geistliche Herr. „Ich auch“, fügte der Metzger feierlich hinzu.

Nach dieser einleitenden Vorrede erklärten die drei Zellengenossen Mr. Pickwick in einem Atem, Geld vermöge in der Fleet genau dasselbe wie außerhalb dieser Anstalt; er könne sich damit alles, was er wünsche, sogleich beschaffen, und wenn er zahlen könne und wolle, brauche er nur einen Wunsch auszudrücken, um binnen einer halben Stunde ein wohleingerichtetes und möbliertes Zimmer für sich allein zu beziehen. Hierauf trennten sich beide Parteien mit großer Befriedigung. Mr. Pickwick verfügte sich abermals ins Zimmer des Aufwärters, und die drei Kameraden begaben sich in die Kantine, um daselbst die fünf Schilling zu verzehren, um die ihn der geistliche Herr zu diesem Zweck mit bewunderungswürdiger Geistesgegenwart angepumpt hatte.

„Wußte ich’s doch“, sagte Mr. Roker, aus vollem Halse lachend, als Mr. Pickwick ihm seinen Wunsch vortrug. „Habe ich’s nicht gesagt, Neddy?“ Der philosophische Eigner des universellen Federmessers knurrte bejahend.

„Habe mir’s doch gleich gedacht, daß Sie ein eigenes Zimmer verlangen würden. Sie wünschen doch anständige Möbel? Sie möchten ohne Zweifel das meinige mieten? Es ist eine feine Wohnung?“

„Mit großem Vergnügen“, erwiderte Mr. Pickwick.

„Auf dem Gang zur Kantine liegt ein vortreffliches Zimmer, das einem Kanzleigefangenen gehört. Ich will es Ihnen gegen ein Pfund wöchentlich ablassen. Sie finden das hoffentlich nicht teuer?“

„Durchaus nicht“, erwiderte Mr. Pickwick.

„Na, dann kommen Sie mal mit“, sagte Mr. Roker fröhlich, seinen Hut aufsetzend, „die Sache ist in fünf Minuten im reinen. Warum haben Sie’s denn nicht gleich gesagt, daß Sie was Hübsches verlangen?“

Die Angelegenheit war, wie der Schließer vorhergesagt, bald abgemacht. Der Kanzleigefangene hatte lange genug hier verweilt, um Freunde und Vermögen, Heimat und Glück zu verlieren und das Recht auf ein eigenes Zimmer einzubüßen. Da er außerdem an dem kleinen Ungemach litt, oft nichts zu beißen zu haben, nahm er Mr. Pickwicks Vorschlag, ihm das Zimmer abzutreten, mit Vergnügen an und überließ ihm gerne den ungestörten Besitz desselben gegen eine Vergütung von zwanzig Schilling in der Woche, mit welcher Summe er sich anheischig machte, alle Personen auszukaufen, die man in das Zimmer verweisen würde.

Als der Handel abgemacht war, betrachtete Mr. Pickwick den Mann mit schmerzlicher Teilnahme. Dieser trug einen alten Schlafrock und Pantoffeln und war ein langer hagerer Geselle von leichenhafter Gesichtsfarbe, mit eingesunkenen Wangen und lebhaften, unruhigen Augen. Seine Lippen waren blutlos und die Backenknochen standen stark hervor. Gott helfe ihm! Der Eisenzahn des Gefängnisses und der Entbehrung hatte ihn seit zwanzig Jahren langsam zernagt und zerfeilt.

„Aber wo werden Sie dann wohnen, Sir?“ fragte Mr. Pickwick, als er das Geld für die erste Woche im voraus auf den wackeligen Tisch legte. Der Mann raffte mit zitternder Faust das Geld zusammen und erwiderte, er wisse es noch nicht; er müsse sich eben umsehen, wo er sein Bett aufschlagen könne.

„Ich fürchte, Sir“, sagte Mr. Pickwick und faßte den Unglücklichen freundlich und mitleidsvoll am Arme, „ich fürchte, Sie kommen an irgendeinen lärm- und geräuschvollen Ort. Bitte, betrachten Sie dies Zimmer als Ihr eigenes so oft Sie der Ruhe bedürfen, oder wenn Ihre Freunde Sie besuchen.“

„Freunde?“ wiederholte der Mann mit röchelnder Stimme. „Wenn ich tot in der Tiefe des dunkelsten Schachtes oder im engen Sarge eingeschlossen läge, oder in dem finstern garstigen Graben verfaulte, dessen Schlamm die Grundmauern dieses Gefängnisses umgibt, ich könnte nicht vergessener und unbeachteter sein als jetzt. Ich bin ein Toter – tot für die Gesellschaft, doch ohne daß mir das Mitleid zuteil wird, das man denen schenkt, deren Seelen bereits vor den ewigen Richterstuhl berufen sind. Besuche von Freunden? Mein Gott! Ich bin an diesem Orte hier von der Blüte meines Lebens zum schwachen Greis verwelkt und niemand wird seine Hand auf mein Bett legen, wenn ich tot darin liege, und sprechen: ,Es ist ein Gottessegen, daß er dahingegangen ist!'“

Die Aufregung, die ein ungewohntes Licht über das Gesicht des Unglücklichen verbreitet hatte, solange er sprach, legte sich wieder, er schlug verstört und hastig seine abgezehrten Hände zusammen und verließ schnell das Zimmer.

„Der Mann ist etwas mürrisch“, entschuldigte Mr. Roker lächelnd, „sie sind hier wie die Elefanten; sie fühlen’s dann und wann, und das macht sie wild.“

Nach dieser tiefsinnigen Sentenz traf Mr. Roker seine Anordnungen mit solcher Schnelligkeit, daß das Zimmer binnen kurzem mit einem Teppich, sechs Stühlen, einem Tisch, einem Sofabett, einem Teekessel und verschiedenen Kleinigkeiten ausstaffiert war, für die der äußerst billige Preis von siebenundzwanzig Schilling und sechs Pence in der Woche zu bezahlen war.

„Kann ich sonst noch mit was dienen, Sir?“ fragte er dann, zufrieden um sich blickend und voll Vergnügen mit dem ersten Wochenzins in der Tasche klimpernd.

„Ja“, sagte Mr. Pickwick nach tiefem Nachsinnen. „Gibt es wohl Leute hier, die mir meine Aufträge in der Stadt oder sonst meine Angelegenheiten besorgen könnten?“

„Also keine Gefangenen?“

„Nein, sie müssen auch in die Stadt gehen können.“ „Verstehe“, sagte Mr. Roker. „Da ist zum Beispiel ein armer Teufel, der einen Freund auf der Armenseite hat und froh sein würde, einen solchen Dienst zu bekommen. Er arbeitet schon seit zwei Monaten dort in der Fron. Soll ich nach ihm schicken?“

„Ja, wenn Sie die Güte haben wollen“, erwiderte Mr. Pickwick. „Doch halt. – Die Armenseite, sagten Sie? Ich möchte sie gerne in Augenschein nehmen. – Ich will selbst zu ihm gehen.“

Die Armenseite in einem Schuldgefängnis ist, wie schon der Name besagt, der Wohnort für die armseligste und dürftigste Klasse von Schuldnern. Ein Gefangener dort bezahlt weder Wohnung noch Kost, bekommt ein schmales Essen, das aus einigen kleinen Legaten bestritten wird. Bis vor einigen wenigen Jahren war in der Mauer des Fleetgefängnisses eine Art eiserner Käfig angebracht, in das«in Mensch von verhungertem Aussehen gesteckt wurde, der von Zeit zu Zeit mit einer Geldbüchse rasselte und in kläglichem Tone rief: „Erbarmet euch der armen Schuldner! Erbarmet euch der armen Schuldner!“ Was in die Kasse einging, wurde unter die armen Gefangenen geteilt, die einander bei diesem erniedrigenden Geschäft ablösten.

Diese Gewohnheit ist nun abgeschafft und der Käfig entfernt. Man gestattet es den Schuldnern nicht mehr, einfach am Gefängnistor die Passanten um Unterstützung anzubetteln. Vielmehr ist es jetzt von Gesetzes wegen so geregelt, daß die handfesten, ruchlosen Verbrecher Kleidung und Nahrung erhalten, während die mittellosen Schuldner wahlweise verhungern oder erfrieren dürfen. – Der Respekt und die Bewunderung kommender Geschlechter sind uns deswegen sicher.

Mit diesen Betrachtungen stieg Mr. Pickwick die enge Treppe hinan, an deren Fuß Roker ihq verlassen hatte, und arbeitete sich allmählich hinauf; er war indes so aufgeregt, daß er in das Zimmer, in das man ihn gewiesen, hineinstürmte, ehe er noch eine deutliche Vorstellung von dem Platz, wo er war, oder von dem Zweck seines Besuches hatte.

Der allgemeine Anblick der Stube rief ihn auf einmal wieder zu sich; doch hatte er kaum seinen Blick auf einen Mann geworfen, der vor dem staubigen Kamin kauerte, als ihm der Hut entsank und er starr und regungslos vor Staunen dastand.

In zerlumpten Fetzen, ohne Rock, das grobe Hemd gelb und zerrissen, die Haare über die Stirn herabhängend, das Gesicht von Leiden entstellt und vor Hunger eingefallen, saß Mr. Alfred Jingle da; den Kopf hatte er auf die Hand gestützt, die Augen starr aufs Feuer geheftet, und seine ganze Erscheinung verriet Jammer und Elend in seiner schauderhaftesten Gestalt.

Nicht weit von ihm stand nachlässig an die Wand gelehnt ein kräftiger Landmann und flickte mit den Riemen einer abgenutzten Jagdpeitsche den Stulpenstiefel, der seinen rechten Fuß zierte – den linken hatte er in einen Pantoffel gestellt. Pferde, Hunde und Saufgelage hatten den Mann soweit gebracht. An dem einzelnen Stiefel trug er einen verrosteten Sporn, den er gelegentlich in die leere Luft stieß, während er dabei mit der Reitgerte auf den Stiefel schlug und Ausdrücke murmelte, wie sie der Jäger braucht, um sein Pferd aufzumuntern. Er bildete sich in diesem Augenblick offenbar ein, auf irgendeinem verzweifelten Kirchturmrennen zu sein. Der arme Teufel! Er war einst bei keinem Wettrennen auf dem flinksten Pferde seines teuren Rennstalles nur halb so geschwind über die Erde dahingeflogen, wie er die Laufbahn durchgemacht hatte, die jetzt in der Fleet endete.

In der entgegengesetzten Ecke des Zimmers saß ein alter Mann auf einem kleinen Holzbock. Er hatte seine Augen auf den Boden geheftet und in seinem Gesicht lag ein Ausdruck der tiefsten, hoffnungslosesten Verzweiflung. Ein junges Mädchen, seine kleine Enkelin, bemühte sich mit tausend kindlichen Kunstgriffen, seine Aufmerksamkeit zu erregen, allein er sah und hörte sie nicht. Die Stimme, die einst Musik für sein Ohr, und die Augen, die einst sein Licht gewesen, ließen ihn jetzt ungerührt. Seine Glieder schlotterten krankhaft, und sein Geist war wie gelähmt.

Noch zwei oder drei andre Männer standen in einer Gruppe zusammen und schwatzten laut miteinander. Eine hagere, bleiche Frau – die Gattin eines Gefangenen – begoß mit großer Sorgfalt den elenden Stumpf einer verwelkten Pflanze, die offenbar nie wieder einen grünen Schößling treiben konnte.

Das war der Anblick, der sich Mr. Pickwick darbot, als er voll Erstaunen um sich schaute. Ein Geräusch an der Tür weckte ihn wieder. Er wandte sich um und erkannte in dem neuen Ankömmling trotz aller seiner Lumpen, all seines Schmutzes und Elends die Züge Mr. Hiob Trotters.

„Mr. Pickwick!“ rief Hiob laut.

„Was!?“ fuhr Jingle in die Höhe. „Sir! Ja, wahrhaftig – kurioser Ort – sonderbare Dinge – mir ganz recht geschehen – ganz recht.“

Mit diesen Worten steckte Mr. Jingle seine Hände an den Ort, wo früher seine Hosentasche gewesen war, ließ dann den Kopf auf die Brust sinken und fiel in seinen Stuhl zurück.

Mr. Pickwick war im Innersten ergriffen, die zwei Leute sahen so unglaublich elend aus. Der heißhungrige Blick Jingles auf ein Stück rohes Hammelfleisch, das Hiob mitgebracht hatte, verriet mehr über ihre Lage, als eine zweistündige Auseinandersetzung vermocht hätte.

Mr. Pickwick sah Jingle freundlich an und sagte: „Ich möchte Sie gerne allein sprechen. Wollen Sie einen Augenblick mit mir herauskommen?“ „Sehr gern“, erwiderte Jingle und stand hastig auf. „Kann nicht weit gehen – keine Gefahr, daß man sich hier überläuft – dichtes Gehege – schöner Boden – romantisch, aber nicht ausgedehnt – offen für allgemeine Besichtigung – die Familie immer in der Stadt – der Hausvogt verzweifelt vorsichtig.“

„Sie haben Ihren Rock vergessen“, sagte Mr. Pickwick, als sie auf die Treppe hinauskamen, und schloß die Tür hinter sich zu.

„Ach nein“, sagte Jingle. „Teures Leben – Onkel Tom – konnte mir nicht helfen – mußte essen, Sie wissen ja. Naturbedürfnisse – das ist’s.“ „Was meinen Sie damit?“

„Alles fort, werter Herr – der letzte Rock – konnt’s nicht ändern – lebte von ein Paar Stiefeln – ganze vierzehn Tage. Seidener Regenschirm – elfenbeinener Griff – letzte Woche – vorbei – auf Ehre. Fragen Sie Hiob – weiß es.“

„Drei Wochen von einem Paar Stiefeln und einem seidenen Regenschirm gelebt?“ rief Mr. Pickwick, der von solchen Dingen nur bei Schiffbrüchen gehört oder in Constables Miscellany gelesen hatte.

„Freilich“, nickte Jingle. „Pfandleiher – bloß das halbe Geld – elende Summen – soviel wie nichts – lauter Spitzbuben.“

„So“, sagte Mr. Pickwick, dem bei dieser Erklärung leichter ums Herz wurde, „Sie haben also Ihre Garderobe bloß versetzt?“

„Ja, alles – Hiob ebenfalls – alle Hemden fort – tut nichts – erspart den Wäscherlohn – bald alles vorbei – auf der Bahre liegen – verhungern – sterben – Untersuchung – Anatomie – armer Gefangener – die einfachsten Bedürfnisse – fort mit ihm – die Herren von der Jury – Gefängnisarbeit – ganz in Ordnung – natürlicher Tod – Leichenbeschauer –Armenhausbegräbnis – recht geschehen – alles vorbei – Vorhang herunter.“

Jingle erledigte dieses sonderbare Summarium seiner Lebensaussichten mit seiner gewohnten Zungenfertigkeit und mit verschiedenen Gesichtsverzerrungen, um ein Lächeln zu erzwingen; Mr. Pickwick bemerkte indes deutlich, daß ihm seine Sorglosigkeit nichts weniger als von Herzen kam. Er sah ihm voll, aber nicht unfreundlich ins Gesicht und gewahrte, daß dem Komödianten die Augen voll Tränen standen.

„Guter Mensch“, sagte Jingle und faßte seine Hand mit abgewandtem Gesicht. „Undankbarer Schurke – kindisch zu jammern – kann’s nicht lassen – böses Fieber – schwach – krank – hungrig. Alles wohl verdient, aber viel gelitten – sehr viel.“

Ganz unfähig, den Schein länger zu wahren, und durch die ungewohnte Aufregung schwindelig, setzte sich der arme Vagabund auf die Treppe nieder, bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen und schluchzte wie ein Kind.

„Kommen Sie, kommen Sie“, sagte Mr. Pickwick tiefgerührt, „wir wollen sehen, was sich machen läßt. Heda, Hiob; wo steckt er?“

„Hier, Sir“, meldete sich Mr. Trotter und trat vor. – Er hatte schon in seinen besten Zeiten tief eingesunkene Augen, jetzt aber sah er aus, als ob dieser Teil seines Gesichts gänzlich verschwunden sei. – „Hier, Sir.“

„Kommen Sie her“, sagte Mr. Pickwick, bemüht, streng dreinzusehen, wiewohl ihm vier große Tränen auf die Weste träufelten. „Nehmen Sie das, Sir!“

„Was nehmen?“ – Unter den obwaltenden Umständen hätte man bei diesen Worten an einen Hiob oder wenigstens, wie einmal die Menschen sind, an einen derben, tüchtigen Puff denken sollen; denn Mr. Pickwick war von dem Elenden, der jetzt gänzlich in seiner Hand war, hinters Licht geführt, betrogen und blamiert worden. Aber es war etwas Klingendes, das jetzt in Hiobs Hand fiel, und dessen Hingabe aus irgendeinem Grund das Auge des guten alten Herrn funkeln und sein Herz schwellen machte, als er hinwegeilte.

Auf seinem Zimmer angelangt, traf Mr. Pickwick Sam an, der die komfortablen Einrichtungen des Zimmers mit einer Art grimmigen Vergnügens, das sehr lustig anzusehen war, in Augenschein nahm. Da‘ Mr. Weller eine entschiedene Abneigung gegen das Verbleiben seines Herrn an einem solchen Orte hegte, schien er es für eine hohe moralische Pflicht zu halten, nichts, was hier getan, gesagt, geraten oder vorgeschlagen wurde, mit allzu großem Beifall zu beehren.

„Schön, nicht wahr, Sam?“ sagte Mr. Pickwick.

„Na, macht sich“, erwiderte Mr. Weller.

„Und recht behaglich, Sam?“

„Ja, so ziemlich, Sir“, erwiderte Sam, geringschätzig umherblickend.

„Hast du Mr. Tupman und unsre andern Freunde gesehen?“

„Jawoll. Habe sie gesehen, Herr, und sie wollen morgen kommen. Wundert mich sehr, daß sie nich heute schon da waren.“

„Hast du die Sachen gebracht, die ich verlangt habe?“

Mr. Weller deutete stumm auf verschiedene Pakete, die er so hübsch wie möglich in eine Ecke der Stube gelegt hatte.

„Sehr gut, Sam“, sagte Mr. Pickwick zögernd, „höre jetzt, was ich dir zu sagen habe, Sam.“

„Aber klar“, erwiderte Mr. „Weller, „schießen Sie los.“ „Ich habe vom ersten Augenblick an gefühlt, Sam“, begann Mr. Pickwick sehr umständlich, „daß dies kein Platz für einen jungen Menschen ist.“

„Für ’nen Alten aber auch nich, Sir.“

„Da hast du ganz recht, Sam, aber alte Leute können durch ihre eigne Unbedachtsamkeit und ein allzu großes Vertrauen auf andre hierher gebracht werden, und junge durch die Selbstsucht derer, denen sie dienen. Jedenfalls ist es für einen jungen Menschen viel besser, nicht hierzubleiben. Verstehst du mich, Sam?“

„Ich? Nö“, versetzte Sam, sich dumm stellend.

„So überlege dir’s.“

„Jawoll“, erwiderte Sam nach einer kurzen Pause. „Ich glaube zu merken, wo Sie hinaus wollen, und wenn ich hierbei wirklich auf dem rechten Wege bin, so muß ich meine Meinung dahin aussprechen, daß Sie mir zu dicke kommen, wie der Kutscher zu dem Schneegestöber sagte, wo ihm auf seiner Fahrt beunruhigte.“

„Ich sehe, du verstehst, Sam. Abgesehen von meinem Wunsche, dich in den nächsten Jahren nicht an einem Orte wie diesem müßig herumlungern zu sehen, fühle ich auch, daß es eine ungeheure Abgeschmacktheit wäre, wenn ein Schuldner im Fleetgefängnis einen eignen Bedienten halten wollte. – Sam, wir müssen uns für eine Zeitlang trennen.“

„Hm, für ’ne Zeitlang, meinen Sie?“ versetzte Mr. Weller etwas sarkastisch.

„Ja; für die Dauer meines hiesigen Aufenthalts. Deinen Lohn zahle ich dir fort. Einer von meinen drei Freunden wird dich gern aufnehmen, wäre es auch nur aus Achtung gegen mich. Und wenn ich je diesen Ort wieder verlasse“, fuhr Mr. Pickwick mit erkünstelter Heiterkeit fort, „wenn es je der Fall ist, so hast du mein Wort, daß du augenblicklich wieder in meine Dienste treten kannst.“

„Ich will Ihnen mal meine Ansicht von der Sache sagen, Sir“, erwiderte Mr. „Weller ernst und feierlich. „Es geht nich, und deshalb lassen Sie mich gefälligst nichts mehr davon hören.“

„Es ist mein fester, unabänderlicher Wille, Sam“, erklärte Mr. Pickwick.

„So? Soso! Ist das so, Sir?“ fragte Sam streng. „Na, sehr schön; denn geht es mir genauso.“

Mit diesen Worten stülpte sich Mr. Weller mit großer Entschiedenheit seinen Hut auf den Kopf und verließ das Zimmer.

„Sam!“ rief ihm Mr. Pickwick nach. „Sam! Komm noch einmal her.“

Aber die sich entfernenden Schritte verhallten in dem langen Gange. Sam Weller war fort.

Fünftes Kapitel


Fünftes Kapitel

Ein Tag im Freien. Neue Freunde. Eine Einladung aufs Land.

Viele Schriftsteller haben eine ebenso törichte wie unredliche Abneigung gegen die Angabe der Quellen, aus denen sie manch schätzbare Nachricht schöpfen. Uns liegt das fern. Unser einziges Bestreben geht dahin, unsern Pflichten als Berichterstatter gewissenhaft nachzukommen, und wie verlockend es auch sein mag, auf das Verdienst der Erfindung dieser Begebenheiten Anspruch zu machen, so verbietet uns doch die Wahrheitsliebe, mehr als das Verdienst einer zweckmäßigen Zusammenstellung und unparteiischen Erzählung in Anspruch zu nehmen. Die Pickwick-Protokolle sind unsre Quellen, und wir, sozusagen, die Wasserleitungsaktiengesellschaft. Die Arbeiten andrer haben uns mit einer ungeheuren Menge Material versehen, und wir übergeben sie der nach der Bekanntschaft mit den Pickwickiern dürstenden öffentlichkeit wahrheitsgetreu und unverfälscht.

In diesem Sinne, und uns streng an die Überlieferung haltend, gestehen wir offen, daß wir die Einzelheiten dieses und des folgenden Kapitels dem Tagebuch des Mr. Snodgraß verdanken – Einzelheiten, die wir nun, da unser Gewissen entlastet ist, der Welt ohne weiteren Kommentar vorlegen wollen.

Die ganze Bevölkerung von Rochester und den umliegenden Ortschaften erhob sich am folgenden Morgen bei Tagesgrauen in einem Zustande der höchsten Unruhe und Aufregung von ihren Betten. Eine große Truppenschau sollte stattfinden und das Falkenauge des Kommandeurs die Manöver von einem halben Dutzend Regimentern inspizieren: Festungswerke waren errichtet, die Zitadelle sollte angegriffen und genommen und eine Mine gesprengt werden.

Mr. Pickwick war, wie unsre Leser wohl bereits aus dem kurzen Auszug aus seiner Beschreibung von Chatham ersehen haben werden, ein enthusiastischer Bewunderer der Armee. Nichts konnte ihn mehr in Entzücken versetzen, nichts mit den besonderen Gefühlen eines jeden seiner Gefährten so sehr übereinstimmen als ein solcher Anblick. Bald waren sie auf den Beinen und wanderten dem Schauplatze der Handlung zu, nach dem bereits von allen Seiten her eine ungeheure Menschenmenge strömte.

Alles deutete darauf hin, daß etwas höchst Wichtiges und Bedeutungsvolles vor sich gehen sollte. Wachposten waren ausgestellt, um den Exerzierplatz für die Truppen frei zu halten, Offiziersburschen schafften auf den Batterien Platz für die Damen, Sergeanten rannten mit Pergamentbänden umher, und Oberst Bulder galoppierte in feldmarschmäßiger Adjustierung auf und nieder, ließ sein Pferd kurbettieren und steigen und schrie sich ohne besonderen Grund heiser und blau. Offiziere flogen hin und her, sprachen mit dem Oberst, erteilten ihren Sergeanten Befehle und eilten von hinnen; sogar die Gemeinen sahen hinter ihren blanken Gewehrläufen so wichtig und geheimnisvoll aus, daß man über die hohe Bedeutung der Vorgänge keinen Augenblick in Zweifel sein konnte.

Mr. Pickwick und seine drei Gefährten stellten sich in die vordersten Reihen und harrten geduldig der Dinge, die da kommen sollten. Das Gedränge wuchs von Sekunde zu Sekunde, und die Anstrengungen, die sie machen mußten, um sich auf ihren Plätzen zu behaupten, nahmen in den zwei folgenden Stunden ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Bald drängte plötzlich alles von hinten nach vorn, wodurch Mr. Pickwick einige Ellen weit vorwärts geschleudert wurde und dabei eine Hast und Elastizität entwickelte, die mit dem würdevollen Ernst, den man an ihm gewohnt war, in grellem Widerspruch stand. Bald ertönte ein gebieterisches „Zurück!“, und das Ende eines Gewehrkolbens fiel entweder auf Mr. Pickwicks Zehe nieder, um ihm den Wink verständlicher zu machen, oder stemmte sich gegen seine Brust, um dem Befehle größeren Nachdruck zu verleihen. Dann wieder machten sich Spaßvögel das Vergnügen, mit Aufgebot ihrer ganzen Kraft gegen Mr. Snodgraß anzudrängen und ihn zu ersuchen, das Drücken doch gefälligst sein zu lassen, und einmal, als Mr. Winkle als Zeuge solcher Ungebührlichkeit seine höchste Entrüstung aussprach, schlug ihm ein Schalk von hinten den Hut über die Augen und forderte ihn auf, seinen Kopf in die Tasche zu stecken. Diese und andre handgreifliche Witze, verbunden mit der unerklärlichen Abwesenheit Mr. Tupmans, der plötzlich spurlos verschwunden war, machten ihre Lage im ganzen eher unbehaglich als angenehm und beneidenswert.

Endlich durchlief das Gemurmel die Menge, das in solchen Fällen gewöhnlich die höchste Spannung verrät. Alle Augen richteten sich nach dem Ausfalltor. Sekunden atemloser Erwartung; Fahnen flatterten lustig im Wind; Waffen glänzten in der Sonne, und Kolonne um Kolonne rückte in die Ebene vor. Die Truppen machten halt und formierten sich in Reih und Glied, Kommandoworte liefen durch die Reihen; allgemeines Präsentieren und Klirren von Gewehren, und der Kommandant, gefolgt von Oberst Bulder und zahlreichen Offizieren, galoppierte die Front auf und nieder. Die Trompeten schmetterten, die Pferde bäumten sich und wedelten mit den Schweifen; die Hunde heulten, die Menge schrie, die Truppen sammelten sich, und soweit das Auge reichte, sah man auf beiden Seiten nur eine endlose Reihe von roten Röcken und weißen Hosen, starr und regungslos.

Mr. Pickwick hatte so viel Mühe, in dem wogenden Gedränge seine Stellung zu behaupten und, wie durch ein Wunder, den Hufen der Pferde zu entgehen, daß er unmöglich Zeit fand, zu beobachten, was sich vor seinen Augen abspielte, bis die Evolutionen soweit gediehen waren. Als er aber schließlich wieder fest auf den Beinen stand, kannten seine Freude und sein Entzücken keine Grenzen.

„Kann es etwas Schöneres, etwas Herrlicheres geben?“ fragte er Mr. Winkle.

„Nein“, erwiderte der Angeredete, dem schon seit einer Viertelstunde ein untersetzter Mann auf den Zehen stand.

„In der Tat, ein großartiger, ein überwältigender Anblick“, rief Mr. Snodgraß, in dessen Brust plötzlich das Feuer der Dichtkunst aufloderte. „Die tapfern Verteidiger des Vaterlandes im Strahlenglanz vor den friedlichen Bürgern zu sehen, die Gesichter glühend – nicht von kriegerischer Wildheit, nein, von gesitteter Disziplin –, die Augen flammend, nicht von dem rohen Feuer der Raublust oder der Rachgier, nein, von dem sanften Lichte der Humanität und Intelligenz.“

Mr. Pickwick ging vollkommen in den Geist dieser Lobrede ein, konnte ihr jedoch nicht buchstäblich beipflichten, denn das sanfte Licht der Intelligenz brannte doch ziemlich schwach in den Augen der Krieger – als der Ruf ertönte: „Augen grrad aus!“, und die Zuschauer einige Tausend Sehorgane vor sich hatten, die ohne allen Ausdruck gerade vor sich hin starrten.

„Wir haben uns hier trefflich postiert“, sagte Mr. Pickwick, sich nach allen Seiten umschauend. Die Menge hatte sich nämlich nach und nach verlaufen, und die Herren waren beinahe allein.

„Vortrefflich“, bestätigten Mr. Snodgraß und Mr. Winkle.

„Was geschieht jetzt?“ fragte Mr. Pickwick und setzte seine Brille auf.

„Ich – ich – glaube fast“, sagte Mr. Winkle und wurde blaß, „ich glaube fast, sie wollen schießen.“

„Unsinn“, versetzte Mr. Pickwick hastig.

„Ich – ich – glaube wirklich, es ist so“, bestätigte Mr. Snodgraß etwas unruhig.

„Unmöglich“, widersprach Mr. Pickwick. Aber kaum war das Wort seinem Munde entflohen, da legte das ganze halbe Dutzend Regimenter die Gewehre an, als hätten sie alle ein und dasselbe Ziel, nämlich die Pickwickier, und gaben die fürchterlichste Salve ab, die je die Erde erschütterte oder einen ältlichen Herrn aus der Fassung brachte.

In dieser schreckensvollen Lage, auf der einen Seite dem verderblichen Feuer blanker Gewehrläufe ausgesetzt und auf der ändern von den anrückenden Truppen bedrängt, zeigte Mr. Pickwick die ganze Kaltblütigkeit und Selbstbeherrschung, die von einem großen Geiste unzertrennlich sind. Er faßte Mr. Winkles Arm, drängte sich zwischen ihn und Mr. Snodgraß und bat die Herren ernstlich, zu bedenken, daß, außer der Möglichkeit, durch den Lärm des Gehörs beraubt zu werden, vom Schießen unmittelbar keine Gefahr zu gewärtigen sei.

„Aber – aber – angenommen, einer von den Soldaten würde sich zufälligerweise vergreifen und scharf laden?“ stellte ihm Mr. Winkle vor, schon bei dem bloßen Gedanken erbleichend. „Ich habe ein Zischen gehört – ssswt – hart an meinen Ohren vorbei.“

„Sollten wir uns nicht lieber flach auf den Boden werfen?“ fragte Mr. Snodgraß.

„Nein, nein, es ist schon vorüber“, antwortete Mr. Pickwick. Seine Lippen bebten, und seine Wangen erbleichten, aber kein Wort der Furcht oder Bestürzung entfloh den Lippen des unsterblichen Mannes.

Mr. Pickwick hatte recht; das Feuer wurde eingestellt, aber kaum blieb ihm Zeit, sich wegen der Richtigkeit seiner Meinung Glück zu wünschen, als Leben in die Reihen der Krieger kam. Der heisere Ruf des Kommandos lief die Front entlang, und ehe sich noch einer der Herren in Mutmaßungen über das neue Manöver ergehen konnte, rückte das ganze halbe Dutzend Regimenter mit gefälltem Bajonett im Sturmschritt auf die Stelle zu, die Mr. Pickwick und seine Freunde einnahmen.

Der Mensch ist sterblich, und es gibt einen gewissen Punkt, über den Mannesmut nicht hinaus kann. Einen Augenblick starrte Mr. Pickwick die anrückenden Truppen durch seine Brille an, drehte ihnen dann den Rücken – um den Ausdruck, er floh, erstens als ungebührlich zu vermeiden, und zweitens, weil die Figur des Gelehrten sich durchaus nicht zu dieser Art von Rückzug eignete – und trabte von dannen, immerhin jedoch so schnell, wie es die Beschaffenheit seiner Beine erlaubte. Ja, er beeilte sich so sehr, daß er das Fürchterliche seiner Lage in seinem ganzen Umfange nicht eher erfaßte, als bis es zu spät war.

Die Truppen, die Mr. Pickwick vor wenigen Sekunden durch ihren Anmarsch außer Fassung gebracht hatten, rückten vorwärts, um den Scheinangriff der Belagerer der Zitadelle zu erwidern, und die Folge davon war, daß der Meister und seine beiden Jünger sich plötzlich zwischen zwei Linien von unabsehbarer Ausdehnung eingeschlossen sahen. Die eine rückte im Sturmschritt vor, und die andere erwartete mutig den Angriff.

„Hoi!“ schrien die Offiziere der Sturmkolonnen.

„Weg da!“ riefen die Offiziere der Verteidigungslinie.

„Wohin denn?“ kreischten die bestürzten Pickwickier.

„Hoi! Hoi! Hoi!“ war die ganze Antwort.

Es war ein Augenblick grauenvoller Verwirrung; die Erde bebte unter den Tritten der stürmenden Truppen. Ein ersticktes Gelächter; das halbe Dutzend Regimenter war nur noch ein halbes Tausend Meter entfernt, und die Sohlen von Mr. Pickwicks Stiefeln schwebten in den Lüften.

Mr. Snodgraß und Mr. Winkle hatten jeder mit bewunderungswürdiger Gewandtheit einen unfreiwilligen Purzelbaum geschlagen, und das erste, was sie sahen, war ihr hochverehrter Meister, der in einiger Entfernung seinem in lustigen Sätzen dahinrollenden Hute nachlief.

Es gibt wenige Augenblicke im menschlichen Leben, in denen man mit seinem Mißgeschick so wenig auf Verständnis oder Mitleid stößt, als wenn man seinem Hut nachläuft. Es gehört keine geringe Kaltblütigkeit und ein hoher Grad von Beurteilungskraft dazu, einen fortrollenden Hut wieder einzufangen. Eile ist unangebracht: man überrennt ihn; verfällt man in das entgegengesetzte Extrem, verliert man ihn. Da heißt es, den Flüchtling genau im Auge behalten, behutsam und vorsichtig sein, die Gelegenheit scharf abpassen, ihm allmählich vorkommen, dann plötzlich die Hand ausstrecken, ihn bei der Krempe packen und fest auf das Haupt stülpen. Und dabei nur ja freundlich lächeln, als mache einem der Vorfall genausoviel Spaß wie dem lieben Zuschauer!

Eine zarte Brise wehte, und Mr. Pickwicks Hut rollte spielend dahin. Der Wind blies stärker und Mr. Pickwick desgleichen, und lustig schoß der Hut dahin, wie das Fischlein in der klaren Flut, und wäre wohl außer seines Herrn Bereich gerollt, hätte nicht in dem Augenblick, als Mr. Pickwick eben im Begriffe stand, ihn seinem Schicksale zu überlassen, eine höhere Hand eingegriffen.

Mr. Pickwick war nämlich völlig erschöpft und, wie gesagt, eben im Begriff, die Jagd aufzugeben, als der Hut mit einiger Heftigkeit an das Rad eines Wagens getrieben wurde, der neben einem halben Dutzend andrer Fuhrwerke stand, und zwar an der Stelle, auf die der Gelehrte zusteuerte. Seinen Vorteil wahrnehmend, sprang Mr. Pickwick rasch vor, versicherte sich seines Eigentums, stülpte es auf seinen Kopf und hielt inne, um Atem zu schöpfen. Noch keine halbe Minute hatte er so dagestanden, da hörte er sich laut beim Namen rufen und erkannte mit einem Male die Stimme Mr. Tupmans. Er blickte auf und sah ein Bild, das ihn mit Verwunderung und Freude erfüllte.

In einer offnen Halbchaise, deren Pferde ausgespannt waren, um mehr Platz auf dem engen Raum zu schaffen, saß ein stattlicher alter Gentleman in einem blauen Rock mit Wanken Knöpfen, Manchesterbeinkleidern und Stulpenstiefeln, zwei junge Damen mit Schleier und Federhüten, ein junger Herr, der in eine der beiden jungen Damen mit Schleier und Federhüten verliebt zu sein schien, eine Dame von schwer abzuschätzendem Alter – wahrscheinlich die Tante der Vorerwähnten – und Mr. Tupman, so behaglich und ungeniert, als ob er von jeher zur Familie gehört hätte. Hinten auf der Chaise war ein Korb von ansehnlicher Größe aufgepackt – einer von jenen Körben, die in einem kontemplativen Geiste Vorstellungen von kaltem Geflügel, Zungen und Weinflaschen erwecken –, und auf dem Bock saß in einem Zustand von Schlaftrunkenheit ein fetter rotbackiger Junge, den kein spekulativer Beobachter einen Augenblick betrachten konnte, ohne in ihm nicht mit Sicherheit eine Person zu erkennen, die dazu berufen sein mußte, den Inhalt des vorerwähnten Korbes zur geneigten Zeit zutage zu fördern.

Mr. Pickwick hatte kaum einen hastigen Blick auf diese anziehenden Gegenstände geworfen, als er abermals von seinem treuen Schüler begrüßt wurde.

„Pickwick, Pickwick“, rief Mr.Tupman, „geschwind, kommen Sie herauf.“

„Kommen Sie, mein Herr. Bitte, kommen Sie doch“, sagte auch der stattliche Gentleman. „Joe! – Der verdammte Junge, jetzt schläft er wieder – Joe, laß den Tritt hinunter.“

Der fette Junge schob sich langsam vom Bock, ließ den Tritt nieder und hielt einladend den Wagenschlag offen. In diesem Augenblicke erschienen Mr. Snodgraß und Mr. Winkle.

„Platz genug für alle, meine Herren. Zwei innen; einer außen. Joe, mach Platz auf dem Bock. Nun, Sir, kommen Sie!“ – Der stattliche Gentleman streckte seinen Arm aus und half zuerst Mr. Pickwick und dann Mr. Snodgraß in den Wagen. Mr. Winkle stieg auf den Bock, der Junge setzte sich daneben und versank sofort in Schlummer.

„Meine Herren“, sagte der stattliche Gentleman, „außerordentliches Vergnügen. Kenne Sie sehr gut, meine Herren, wenn Sie sich auch vielleicht meiner nicht mehr erinnern, Brachte letzten Winter mehrere Abende in Ihrem Klub zu – traf diesen Morgen unvermutet meinen Freund Mr. Tupman und war sehr erfreut, ihn zu sehen. Nun, Sir, und wie befinden Sie sich? Sehen vortrefflich aus – auf Ehre!“

Mr. Pickwick dankte für das Kompliment und schüttelte dem freundlichen Herrn mit den Stulpenstiefeln herzlich die Hand.

„Nun, und wie geht es Ihnen, Sir?“ fragte der stattliche Gentleman und wandte sich mit väterlicher Teilnahme an Mr. Snodgraß. „Vortrefflich? – Nun, das ist schön – das ist schön. Und wie geht es Ihnen, Mr. Winkle. Gut? Freut mich zu hören. Freut mich wirklich ungemein. Meine Töchter, meine Herren – meine Deerns, und dies ist meine Schwester, Miß Rachel Wardle. Sie ist immer noch Fräulein, so leid es ihr auch tut. Fräulein! – Sie verstehen. Ha?“ Der stattliche Gentleman stieß Mr. Pickwick vertraulich mit dem Ellenbogen in die Rippen und lachte herzlich.

„Aber Bruder!“ flötete Miß Wardle mit einem bittenden Blick.

„Freilich, freilich“, erwiderte der stattliche Gentleman. „Stimmt doch, oder nicht? Pardon, meine Herren, hier mein Freund Mr. Trundle. So, und jetzt kennen sich die Herrschaften, und da können wir’s uns ja bequem machen und sehen, was da drüben alles vorgeht; dächte ich jedenfalls!“

Der stattliche Gentleman setzte seine Brille auf, Mr. Pickwick nahm sein Fernglas, und alles stand aufrecht im Wagen und sah über die Schulter des Vordermannes den Evolutionen der Truppen zu.

Das Manöver war in vollem Gang. Man sah eine Reihe Soldaten über die Köpfe einer andern wegfeuern und davonrennen, Karrees bilden und die Offiziere in die Mitte nehmen. Dann wurde an Strickleitern auf der einen Seite der Schanze hinab- und auf der ändern wieder hinaufgeklettert, man riß Barrikaden von Schanzkörben nieder, kurz, benahm sich so tapfer wie nur irgend möglich. Ungeheure Kanonen wurden mit Instrumenten, die wie riesige Schornsteinfegerwische aussahen, geladen, und die Vorbereitungen, bis sie losgeschossen wurden, und endlich gar das Abbrennen selbst waren mit einem so entsetzlichen Lärm verbunden, daß die Lüfte vom Angstgeschrei der Damen widerhallten. Die jungen Misses Wardle waren so erschrocken, daß Mr. Trundle eine von ihnen stützen mußte, während Mr. Snodgraß der ändern seine Schulter lieh und Mr. Wardles Schwester einen solchen Nervenschock bekam, daß es Mr. Tupman für unumgänglich notwendig hielt, seinen Arm um ihre Taille zu legen, um sie aufrecht zu halten. Alles war in der größten Aufregung, nur der fette Junge nicht, der so sanft fortschlief, als wäre der Kanonendonner ein Wiegenlied.

„Joe, Joe!“ rief der stattliche Gentleman, als die Zitadelle genommen war und Belagerer und Belagerte sich zum Essen lagerten. „Verdammter Junge, schläft er schon wieder. Bitte, möchten Sie ihn nicht ein bißchen in die Waden zwicken, Sir, anders ist er nicht zu erwecken. So, besten Dank, Sir. Den Korb ausgepackt, Joe!“

Der fette Junge rutschte vom Bock herunter und begann den Korb auszuleeren, wobei er einen größeren Eifer entfaltete, als man bei seiner Trägheit von ihm hätte erwarten können.

„Jetzt müßten wir allerdings zusammenrücken“, sagte der stattliche Gentleman.

Darauf wurden zunächst viele Witze über die weiten ärmel der Damen gemacht, die jetzt wohl sehr zerdrückt werden würden, und die Damen erröteten ausgiebig über die scherzhaften Einladungen, sie möchten sich doch den Herren auf den Schoß setzen, bis endlich die ganze Gesellschaft richtig Platz in dem Wagen gefunden hatte und der stattliche Gentleman den Inhalt des Korbes aus den Händen des fetten Jungen entgegennahm, der zu diesem Zweck hinten auf die Achse gestiegen war.

„Jetzt, Joe, Messer und Gabeln!“

Die Messer und Gabeln wurden übergeben und die Damen und Herren im Wagen und Mr. Winkle außen auf dem Bock mit diesen nützlichen Werkzeugen versehen.

„Teller, Joe, Teller!“

Die Teller wurden auf gleiche Weise verteilt.

„Jetzt, Joe, das Geflügel. Verdammter Junge, schläft er schon wieder. Joe, Joe!“ – Einige Winke mit einem Stock auf den Kopf, und der fette Junge erwachte langsam aus seiner Schlaftrunkenheit. – „Geschwind, gib die Eßwaren her!“

Es lag etwas in dem Klange der letzten Worte, was den Schmalz Jüngling lebendig machte. Er sprang auf und starrte mit schwerem Auge, aus den dicken Pausbacken hervorblinzelnd, heiß und gierig auf die Speisen, die er dem Korbe entnahm.

„Nun, mach fix!“ rief Mr. Wardle, denn der fette Junge warf äußerst verliebte Blicke auf einen Kapaun, von dem er sich kaum trennen zu können schien. Mit einem tiefen Seufzer und einem glühenden Blick auf den wohlgemästeten Vogel übergab er ihn endlich mit widerstrebender Hand seinem Herrn.

„So ist’s recht – sieh genau nach. Jetzt die Zunge – die Taubenpastete. Den Kalbsbraten und den Schinken nicht vergessen – und die Hummern. Nimm den Salat aus dem Tuche, so, und die Servietten.“ Dies waren die hastigen Befehle, die Mr. Wardles Lippen entströmten, während er die genannten Gegenstände in Empfang nahm und jedem eine Menge Teller in die Hand gab oder auf die Knie setzte.

„Na, ist das nicht fein?“ fragte der heitere Mann, als das Werk der Zerstörung begonnen hatte.

„Fein!“ sagte Mr. Winkle und zerlegte sein Huhn auf dem Bock.

„Glas Wein gefällig?“

„Wenn ich bitten darf.“

„Ich will Ihnen lieber eine Flasche hinaufreichen, oder?“

„Sie sind sehr gütig.“

„Joe!“

„Ja, Sir?“ Joe schlief diesmal nicht, weil er soeben ein Kalbfleischpastetchen stibitzt hatte.

„Flasche Wein dem Herrn auf dem Bock. Wohl bekomm’s, Sir.“

„Danke.“

Mr. Winkle leerte sein Glas und stellte die Flasche neben sich.

„Darf ich mir gestatten, mein Herr?“ sagte Mr. Trundle zu Mr. Winkle.

„Prosit!“ antwortete Mr. Winkle. Die beiden Herren stießen miteinander an, und die ganze Gesellschaft beteiligte sich.

„Wie die liebe Familie mit dem fremden Herrn kokettiert!“ flüsterte Miß Wardle, die Tante, mit echtem Altjungfernneid ihrem Bruder zu.

„Wüßte nicht“, sagte aufgeräumt der alte Herr. „Finde es ganz natürlich; sozusagen – nichts Außergewöhnliches. Mr. Pickwick, etwas Wein gefällig?“

Mr. Pickwick, inzwischen tief in den Bauch einer Taubenpastete eingedrungen, nahm dankend an.

„Liebe Emilie“, verwies die Jungfer Tante mit Gouvernantenmiene, „sprich doch nicht so laut, Kind.“

„Aber Tante!“

„Die Tante und der kleine alte Herr wollen, glaube ich, allein das Recht haben zu reden“, flüsterte Miß Isabella Wardle ihrer Schwester Emilie zu. Die jungen Damen lachten herzlich, und die alte bemühte sich, liebenswürdig auszusehen, konnte es aber nicht zuwege bringen.

„Junge Mädchen sind so lebhaft“, sagte sie zu Mr. Tupman mit einer Miene des Bedauerns, als ob Lebhaftigkeit Konterbande und, ohne höhere Erlaubnis, sündhaft und verbrecherisch wäre.

„Gewiß, wohl“, entgegnete Mr. Tupman in einem Ton, der der erwarteten Antwort nicht ganz entsprach. „Es ist entzückend.“

„Hm!“ erwiderte die jungfräuliche Tante etwas verstimmt.

„Darf ich mir erlauben?“ fragte Mr. Tupman säuselnd, berührte Tante Rachels reizendes Händchen und hielt die Flasche empor. „Darf ich mir erlauben?“

„Ach, mein Herr!“

Mr.Tupmans Augen leuchteten vielsagend, und Miß Rachel drückte Besorgnis aus, man könnte schon wieder Kanonen losschießen, in welchem Falle sie natürlich abermals auf den Beistand des Herrn rechnen würde.

„Halten Sie meine Nichten für hübsch?“ flüsterte sie zärtlich.

„Ausnehmend, wenn ihre Tante nicht hier wäre“, versetzte der gewandte Pickwickier mit einem Glutblick.

„Oh, Sie Schlimmer! – Aber wirklich, wenn ihr Teint ein wenig lebhafter wäre, glauben Sie nicht, sie würden nicht übel aussehen? – Bei künstlichem Licht, meine ich.“

„Sicherlich“, erwiderte Mr. Tupman zerstreut.

„Oh, Sie Spötter – ich weiß, worauf Sie anspielen.“

„Worauf denn?“ fragte Mr. Tupman, der sich einen Augenblick gar nichts gedacht hatte.

„Sie wollten sagen, Isabella hält sich, schlecht – ihr Männer seid so scharfe Beobachter. Ja, ja, es ist so; man kann es nicht leugnen, und gewiß, wenn es etwas gibt, was ein Mädchen entstellt, so ist es eine schlechte Haltung. Wie oft habe ich ihr gesagt, wenn sie nur ein bißchen älter sein wird, wird es sie geradezu verunstalten. Ja, ja, Sie sind ein Spötter!“

Mr. Tupman hatte nichts dagegen, so wohlfeil zum Rufe eines Frauenkenners zu kommen. Er setzte eine schlaue Miene auf und lächelte geheimnisvoll.

„Welch ein sarkastisches Lächeln!“ sagte Miß Rachel im Tone der Bewunderung. „Ich versichere Ihnen, ich fürchte mich vor Ihnen.“

„Sie fürchten sich vor mir!?“

„Oh, Sie können mir nichts verbergen; ich weiß, was dieses Lächeln zu bedeuten hat. – Oh, wie gut!“

„Was denn?“ fragte Mr.Tupman, der selbst nicht den mindesten Begriff davon hatte.

„Sie meinen“, flüsterte die liebenswürdige Tante, „Sie meinen, Isabellas schlechte Haltung ist ebenso schlimm wie Emiliens Dreistigkeit. Ja, ja, sie ist sehr vorlaut! Sie können sich nicht denken, was mir das zuweilen für Sorgen macht – ich weine oft stundenlang deswegen. – Mein lieber Bruder ist so gut, so arglos, daß er es gar nicht sieht. Ach, wenn er es gewahr würde, es müßte ihm sicher das Herz brechen. Ich wollte, ich könnte mir einreden, es wäre nur eine schlechte Angewohnheit. Ach, wenn es so wäre!“ – Die zärtliche Verwandte stieß einen tiefen Seufzer aus und schüttelte hoffnungslos den Kopf.

„Ich möchte wetten, die Tante spricht von uns“, flüsterte Miß Emilie Wardle ihrer Schwester zu. „Sie sieht so boshaft aus.“

„Glaubst du?“ fragte Isabella. „Hm! Tante, liebe Tante!“

„Was, mein Liebling?“

„Ich fürchte so, du wirst dich erkälten, Tante. Binde dir doch ein seidenes Tuch um dein liebes altes Gesicht. Du mußt dich in acht nehmen, denk an deine Jahre!“

So wohlverdient diese kleine Züchtigung auch sein mochte, soviel Rachsucht klang aus ihr. Auf welche Weise sich die Entrüstung der Tante wieder Luft gemacht haben würde, ist schwer zu erraten, aber zum Glück gab Mr.Wardle unabsichtlich der Aufmerksamkeit der Gesellschaft eine andre Richtung, indem er laut nach Joe rief.

„Verdammter Junge, schläft er schon wieder.“

„Ein höchst seltsamer Knabe das“, bemerkte Mr. Pickwick, „ist er immer so schläfrig?“

„Schläfrig?!“ sagte der alte Herr. „Er schläft den ganzen Tag. Er schläft beim Gehen ein und schnarcht, wenn er bei Tisch serviert.“

„Sehr seltsam“, bemerkte Mr. Pickwick.

„Ja, in der Tat, seltsam“, versetzte der alte Herr. „Ich bin stolz auf den Jungen – ich würde mich unter keiner Bedingung von ihm trennen, wahrhaftig; es ist ein Naturspiel! He, Joe – Joe, räum die Sachen ab und mach eine neue Flasche auf – hörst du?“

Der fette Junge erwachte, öffnete die Augen, würgte das ungeheure Stück Taubenpastete hinunter, an dem er gerade gekaut hatte, als ihn der Schlaf übermannt, und kam langsam dem Befehl seines Herrn, auf die Überbleibsel des Mahles schielend, nach und räumte das Geschirr in den Korb. Eine frische Flasche erschien und wurde alsbald geleert; der Korb kam wieder auf seinen alten Platz, der fette Junge stieg auf den Bock, die Brillen und Ferngläser wurden abermals hervorgenommen, und die Manöver der Armee begannen aufs neue. Die Geschütze brüllten, die Damen kreischten, eine Mine flog zur allgemeinen Befriedigung auf, und Militär und Gesellschaft traten den Heimweg an.

„Ich hoffe“, sagte der alte Herr beim gemeinsamen Händen schütteln, als das Schauspiel zu Ende war, „ich hoffe, wir sehen uns also morgen.“

„Ganz bestimmt“, erwiderte Mr. Pickwick.

„Sie haben doch meine Adresse?“

„Manor Farm, Dingley Dell“, sagte Mr. Pickwick, sein Taschenbuch zu Rate ziehend.

„Stimmt“, versetzte der alte Herr, „und ich gedenke, Sie vor einer Woche nicht fortzulassen. Sie müssen alles besichtigen, was irgend sehenswert ist. Wenn Ihnen am Landleben etwas liegt, so kommen Sie nur zu mir, dort finden Sie es in Hülle und Fülle. Joe – verdammter Junge, schläft er schon wieder – Joe, hilf Tom einspannen.“

Die Pferde wurden eingespannt, der Kutscher bestieg seinen Bock, der fette Junge rutschte an seine Seite, man verabschiedete sich allerseits, und der Wagen rollte von dannen. Als die Pickwickier sich umwandten, um einen letzten Blick auf die Scheidenden zu werfen, fielen die Strahlen der untergehenden Sonne eben auf deren Gesichter und beleuchteten die Gestalt des fetten Jungen. Sein Kopf war ihm auf die Brust gesunken, und er schlummerte fest.