Neunundzwanzigstes Kapitel


Neunundzwanzigstes Kapitel

Wie die Pickwickier die Bekanntschaft zweier feiner junger Herren machten, und wie sie sich auf dem Eise belustigten.

„Nun, Sam“, fragte Mr. Pickwick, als Mr. Weller am Weihnachtsmorgen mit warmem Wasser im Schlafzimmer erschien, „friert es immer noch?“

„Das Wasser im Waschbecken hat ’ne Eismaske aufgesetzt, Sir“, antwortete Sam. „’n prächtiges Wetter, wenn man gut eingewickelt is, wie der Eisbär zu sich selbst sagte, als er Schlittschuh laufen ging.“

„Ich werde in einer Viertelstunde unten sein, Sam“, sagte Mr. Pickwick und knüpfte seine Nachtmütze auf.

„Sehr wohl, Sir“, erwiderte Sam, „es sin ’n paar Beinsäger angekommen.“

„Ein paar was?“ rief Mr. Pickwick und richtete sich im Bette auf.

„’n paar Beinsäger.“

„Was ist denn das, ein Beinsäger?“ fragte Mr. Pickwick, im Zweifel, ob es ein Tier oder etwas zu essen wäre.

„Sie wissen nich, was ’n Beinsäger is, Sir?“ rief Mr. Weller verwundert. „Doch natürlich ’n Feldscher.“

„Oh, ein Chirurg also?“ sagte Mr. Pickwick lächelnd.

„Ganz richtig, Sir. Die unten sind noch keine regelrecht ausgebrüteten Beinsäger, sondern bloß Lehrlinge.“

„Mit andern Worten, es sind Studenten der Medizin, vermutlich?“

Sam Weller nickte bejahend.

„Das freut mich“, sagte Mr. Pickwick und warf seine Nachtmütze mit einem kräftigen Schwung auf die Bettdecke. „Mediziner sind famose, treffliche junge Leute mit durch Beobachtung und Nachdenken gereiftem Urteil und einem durch Lektüre und Studium verfeinerten Geschmack.“

„Sie rauchen Zigarren beim Küchenfeuer“, sagte Sam.

„Aha“, bemerkte Mr. Pickwick und rieb sich die Hände. „Überschuß an jugendlichem Feuer.“

„Und einer davon“, fuhr Sam fort, ohne die Bemerkung Mr. Pickwicks zu beachten, „einer davon hat die Beine auf den Tisch gepackt und trinkt Branntwein unverdünnt; währenddem hat der andre – der Brillenaugust – ’n Fäßchen Austern zwischen den Knien und knackt die Schalen auf wie die Nüsse, und denn lutscht er sie aus, und denn schmeißt er die Schalen nach dem jungen fetten Siebenschläfer, wo in der Kaminecke schläft.“ „Exzentrizitäten des Genies, Sam“, sagte Mr. Pickwick. „Aber du kannst jetzt gehen.“

Sam entfernte sich, und Mr. Pickwick ging nach Verlauf einer Viertelstunde zum Frühstück hinunter.

„Da ist er endlich“, rief ihm der alte Wardle entgegen. „Pickwick, erlaube, daß ich dir Miß Allens Bruder, Mr. Benjamin Allen – Ben, wie wir ihn nennen –, vorstelle. Dieser Herr ist sein spezieller Freund, Mr. Bob Sawyer.“

Mr. Pickwick verbeugte sich, und Bob Sawyer desgleichen, und dann machten sich die beiden jungen Herren mit großem Eifer über das Frühstück her, wobei Mr. Pickwick Gelegenheit hatte, sie genauer zu betrachten.

Mr. Benjamin Allen war ein kräftiger, derbgliedriger, untersetzter junger Mann mit schwarzem kurzgeschnittnem Haar und einem blassen, etwas langen Gesicht. Er trug eine Brille und ein weißes Halstuch. Unter seinem einreihigen schwarzen Oberrock, der bis ans Kinn zugeknöpft war, erschien die übliche Zahl pfeffer- und salzfarbiger Beine, mit ein Paar mangelhaft geputzten Stiefeln an den unteren Enden. Obwohl die Ärmel seines Rockes kurz waren, so zeigte sich doch keine Spur von Manschetten, wie auch sein Gesicht, wenn auch lang genug, um eine Verkürzung durch Vatermörder recht gut zu vertragen, einer solchen Zierde entbehrte. Überhaupt schien das ganze Äußere des Jünglings vom Meltau heimgesucht zu sein, während es zugleich intensiv nach den Wohlgerüchen Kubas duftete.

Mr. Bob Sawyer, in einen groben blauen Rock, ein Mittelding zwischen Gehrock und Überzieher, gekleidet, besaß die nachlässige, windbeutelhafte Art, die gewissen jungen Herren, die bei Tage auf der Straße rauchen, bei Nacht toben und lärmen, die Kellner bei ihren Taufnamen rufen und sich durch ähnliche ungezwungne Handlungen auszeichnen, eigen ist. Er trug ein Paar gestreifte Beinkleider, eine zottige geschloßne Weste mit zwei Reihen Knöpfen und beim Ausgehen einen dicken Stock mit einem großen Knopf. Handschuhe vermied er geflissentlich, und im großen und ganzen sah er wie ein liederlicher Robinson Crusoe aus.

Das waren die zwei Gentlemen, denen Mr. Pickwick vorgestellt wurde, als er am Christtag seinen Sitz am Frühstückstisch ein nahm.

„Ein herrlicher Morgen, meine Herren“, begann er liebenswürdig die Unterhaltung.

Mr. Bob Sawyer nickte beifällig und bat Benjamin Allen tun den Senf.

„Kommen Sie von weither, meine Herren?“

„Vom ,Blauen Löwen‘ zu Muggleton“, antwortete Mr. Allen kurz.

„Sie hätten gestern abend bei uns sein sollen“, sagte Mr. Pickwick.

„Ja, hätten sollen“, erwiderte Bob Sawyer. „Aber der Brandy war zu gut, als daß man so schnell hätte abkommen können. Nicht wahr, Ben?“

„Gewiß“, bestätigte Mr. Benjamin Allen. „Auch die Zigarren waren nicht übel und der Schweinebraten ebenfalls nicht. Was, Bob?“

„Allerdings“, entgegnete Bob. Und die Busenfreunde erneuerten ihren Angriff auf das Frühstück mit größerem Eifer als zuvor. Die Erinnerung an die gestrige Abendmahlzeit schien ihre Eßlust aufs neue gereizt zu haben.

„Säbel noch eins herunter, Bob“, ermunterte Mr. Allen seinen Gefährten.

„Machen wir“, erwiderte Bob Sawyer verständnisvoll.

„Geht nichts übers Sezieren. Das macht Appetit“, sagte er dabei und ließ seine Blicke über die Gesellschaft schweifen.

Mr. Pickwick überlief ein leichter Schauder.

„Apropos, Bob“, sagte Mr. Allen, „bist du bald zu Ende mit deinem Fuß?“

„Fast“, erwiderte Sawyer und bediente sich mit einem halben Huhn. „Er ist sehr muskulös für einen Kinderfuß.“

„So?“ versetzte Mr. Allen nachlässig.

„Hm, ja“, entgegnete Bob Sawyer, mit vollem Munde kauend.

„Ich habe auf einen Arm subskribiert“, sagte Mr. Allen. „Wir legen für eine ganze Leiche zusammen. Die Liste ist bald voll, nur haben wir noch niemand bekommen können, der einen Kopf braucht. Kannst du nicht einen brauchen?“

„Nein“, erwiderte Bob Sawyer, „meine Mittel erlauben mir das nicht.“

„Lächerlich!“ meinte Allen.

„Nein, nein. Wirklich nicht“, entgegnete Bob Sawyer. „Ein Gehirn ließe ich mir noch gefallen, aber für einen ganzen Kopf langt’s nicht.“

„St, st, meine Herren, bitte“, warnte Mr. Pickwick, „ich höre die Damen.“ Und schon traten die Damen, galant geleitet von den Herren Snodgraß, Winkle und Tupman, heimgekehrt von einem Morgenspaziergang, ins Zimmer.

„Um Gottes willen, du, Ben?“ rief Arabella in einem Ton, der mehr Erstaunen als Vergnügen beim Anblick ihres Bruders ausdrückte.

„Bin gekommen, dich morgen nach Hause zu bringen“, erwiderte Benjamin.

Mr. Winkle erblaßte und wandte sich ab.

„Aber siehst du denn Bob Sawyer nicht, Arabella?“ fügte Ben vorwurfsvoll hinzu.

Arabella reichte Bob Sawyer anmutig die Hand, und Ingrimm erfüllte Mr. Winkles Herz, als Bob Sawyer dieselbe augenscheinlich mit großem Eifer ergriff und tüchtig drückte.

„Lieber Ben“, sagte Arabella errötend, „bist du – bist du Mr. Winkle schon vorgestellt worden?“

„Bis jetzt nicht. Wird mir aber ein Vergnügen sein, Arabella“, erwiderte Mr. Ben Allen mit Zurückhaltung und verbeugte sich kühl gegen Mr. Winkle, während dieser und Mr. Bob Sawyer mißtrauische Blicke miteinander wechselten.

Die Ankunft der zwei neuen Gäste und die daraus resultierende gezwungene Stimmung zwischen Mr. Winkle und der jungen Dame mit den Pelzstiefeln würden wahrscheinlich eine sehr unangenehme Unterbrechung in der allgemeinen Heiterkeit hervorgebracht haben, hätten nicht der fröhliche Sinn Mr. Pickwicks und der gute Humor Mr. Wardles befreiend gewirkt. Mr. Winkle setzte sich allmählich in Gunst bei Benjamin Allen und knüpfte sogar eine Unterhaltung mit Bob Sawyer an, der, durch Brandy, Frühstück und Gespräch belebt, nach und nach sehr aufgeräumt wurde und mit großem Behagen eine Geschichte von einer Kopfgeschwulstoperation erzählte, die er an Hand eines Austernmessers und eines Laibes Brot zur Erbauung der versammelten Gesellschaft genau demonstrierte. Dann begab sich alles in die Kirche, wo Mr. Benjamin Allen fest einschlief, während Mr. Bob Sawyer seine Gedanken von weltlichen Dingen dadurch ablenkte, daß er seinen Namen mit vier Zoll langen Buchstaben in den Kirchenstuhl einschnitt.

„Nun“, sagte Mr. Wardle nach einem sehr ausgiebigen Lunch mit den entsprechenden Mengen Doppelbier und Kirschgeist. „Was meinen Sie zu einer Stunde auf dem Eis? Wir haben noch massenhaft Zeit.“

„Kapital!“ sagte Mr. Allen.

„Fein!“ rief Mr. Bob Sawyer.

„Sie laufen doch Schlittschuh, Winkle?“ fragte Mr. Wardle.

„Ja. Hm, ja. Natürlich“, erwiderte Mr. Winkle. „Ich – ich – bin nur ein wenig aus der Übung.“

„Ach ja, bitte, laufen Sie Schlittschuh, Mr. Winkle“, rief Arabella. „Ich sehe es so gern.“

„Es ist so graziös“, fiel eine andre junge Dame ein, und eine dritte meinte, es wäre elegant, und eine vierte drückte ihre Ansicht dahin aus, daß es „schwanengleich“ wäre.

„Ich würde es mit Vergnügen tun“, sagte Mr. Winkle, und wurde rot, „aber ich habe keine Schlittschuhe.“

Dieser Einwurf war alsbald beseitigt, Trundle besaß ein Paar, und der feiste Junge erklärte, unten sei noch ein halbes Dutzend, worüber Mr. Winkle, wenn auch mit sehr betretenem Gesicht, große Freude bezeigte.

So führte denn der alte Mr. Wardle die Gesellschaft zu der Eisbahn, und der feiste Junge und Mr. Weller schaufelten und kehrten den Schnee weg, der über Nacht gefallen war. Bob Sawyer schnallte sogleich seine Schlittschuhe mit einer Gewandtheit an, die Mr. Winkle wahrhaft wunderbar vorkam, beschrieb abwechselnd mit dem linken und rechten Bein einen Achter und führte unermüdlich noch viele andre erstaunliche Künste auf dem Eise aus, alles zum unsäglichen Vergnügen Mr. Pickwicks, Mr. Tupmans und der jungen Damen, deren Entzücken seinen Höhepunkt erreichte, als der alte Mr. Wardle und Benjamin Allen, assistiert durch Bob Sawyer, allerlei mystische Evolutionen, die sie einen Eistanz nannten, zum besten gaben.

Unterdessen hatte Mr. Winkle, blau vor Kälte an Gesicht und Händen, ein Loch in seine Schuhsohlen gebohrt, seine Schlittschuhe verkehrt angezogen und die Riemen in einen gordischen Knoten geschürzt, unterstützt von Mr. Snodgraß, der noch weniger Kenntnis vom Eissport hatte als ein Hindu. Endlich waren mit Hilfe Mr. Wellers die unheilvollen Eisen befestigt, und Mr. Winkle stellte sich auf die Füße.

„Also los, Sir!“ ermutigte Sam. „Los! Und zeigen Sie, was Sie können.“

„Halt, Sam, halt“, rief Mr. Winkle und erhaschte heftig zitternd Sams Arm, wie ein Ertrinkender. „Es ist furchtbar glatt hier.“

„Kunststück! Auf ‚m Eis!“ erwiderte Mr. Weller. „Hö, hö, Sir!“

Der letzte Ausruf Mr. Wellers bezog sich auf eine Demonstration Mr. Winkles, die ganz so aussah, als wolle er nach Art eines Parterreakrobaten die Beine in die Luft werfen und einen Salto nach rückwärts vollführen.

„Das – das – sind ja entsetzliche Schlittschuhe. Nicht wahr, Sam?“ stammelte Mr. Winkle und griff in der Luft herum.

„Also, was ist denn, Winkle, kommen Sie doch; die Damen warten schon“, rief Mr. Pickwick, ahnungslos, wie die Sache stand.

„Jaja“, erwiderte Mr. Winkle mit krampfhaftem Lächeln. „Ich komme schon.“

„Er kommt schon“, sagte Sam und trachtete sich loszumachen. „Also, Sir, los jetzt!“

„Nur noch einen Augenblick, Sam“, keuchte Mr. Winkle, sich fest an Mr. Weller klammernd. „Es fällt mir gerade ein, ich habe ein paar Röcke zu Hause, die ich nicht brauche, Sam. Ich schenke sie Ihnen, Sam.“

„Danke schönstens, Sir“, erwiderte Mr. Weller.

„Sie brauchen nicht an den Hut zu greifen, Sam“, sagte hastig Mr. Winkle. „Halten Sie mich lieber fest. Ich wollte Ihnen heute morgen fünf Schilling zu Weihnachten schenken, Sam. Ich werde sie Ihnen nachmittags geben, Sam.“

„Sie sin sehr gütig, Sir“, erwiderte Mr. Weller.

„Halten Sie mich noch ein wenig, Sam. Wollen Sie? So, so ist’s recht. Ich werde bald v/wieder hineinkommen, Sam. Nur nicht zu schnell, Sam, nicht zu schnell.“ Und Mr. Winkle segelte, den Oberkörper vorgebeugt, unter Beihilfe Mr. Wellers, auf nichts weniger als schwanengleiche Weise dahin, als Mr. Pickwick in seiner Unschuld von drüben herüberrief:

„Sam!“

„Sir?“ rief Mr. Weller zurück.

„Komm mal her. Ich brauche dich.“

„Lassen Sie los, Sir!“ sagte Sam. „Hören Sie nicht, mein Herr ruft mir? Lassen Sie los, Sir.“

Mit einer gewaltsamen Anstrengung befreite sich Mr. Weller von dem Griff des tödlich erschrockenen Mr. Winkle und gab ihm dabei einen kräftigen Schwung. Mit einer Genauigkeit, wie es weder Gewandtheit noch große Übung besser hätten bewirken können, sauste der unglückliche Gentleman mitten in den Eistanz hinein, gerade als Mr. Bob Sawyer einen Bogen von unvergleichlicher Schönheit beschrieb. Mit lautem Krach taten beide einen schweren Fall. Im Augenblick war Mr. Pickwick zur Stelle. Bob Sawyer stand bereits wieder auf den Beinen, aber Mr. Winkle war viel zu klug, ihm so etwas auf Schlittschuhen nachzumachen. Er blieb vielmehr auf dem Eise sitzen und machte krampfhafte Versuche zu lächeln, doch die Angst malte sich nur zu deutlich in seinen Zügen.

„Haben Sie sich verletzt?“ fragte Mr. Benjamin Allen voll Eifer.

„Nicht besonders“, sagte Mr. Winkle und rieb sich den Rücken.

„Wenn Sie wollen, lasse ich Sie zur Ader“, erbot sich Mr. Benjamin Allen freudig.

Nein, nein, ich danke Ihnen“, lehnte Mr. Winkle hastig ab.

„Ohne Spaß, Sie täten besser daran.“

„Nein, nein, ich danke“, erwiderte Mr. Winkle. „Wirklich nicht.“

„Was meinen Sie, Mr. Pickwick?“ mischte sich Bob Sawyer ein.

Mr. Pickwick war aufgebracht und unwillig. Er winkte Mr. Weller und sagte mit fester Stimme:

„Nimm ihm seine Schlittschuhe ab.“

„Aber ich habe doch eben erst angefangen“, wandte Mr. Winkle ein.

„Nimm ihm seine Schlittschuhe ab!“ wiederholte Mr. Pickwick streng.

Dagegen gab es keinen Widerspruch, und Mr. Winkle ließ sich stillschweigend die Eisen abschnallen.

„Hilf ihm auf“, befahl Mr. Pickwick. Dann entfernte er sich einige Schritte von den Umstehenden, winkte seinem Jünger, heftete einen durchbohrenden Blick auf ihn und sprach in leisem, aber vernehmlichem Tone die inhaltsschweren Worte:

„Sie sind ein Aufschneider, Sir!“

„Was bin ich?“ fuhr Mr. Winkle auf.

„Ein Aufschneider, Sir! Ich will deutlicher sprechen, wenn Sie es wünschen. Ein Schwindler, Sir!“

Mit diesen Worten drehte sich Mr. Pickwick auf dem Absatz um und ging zu seinen Freunden zurück.

Mittlerweile hatten Mr. Weller und der feiste Junge mit vereinten Kräften eine Schlitterbahn zurechtgemacht und glitten meisterhaft und mit Glanz dahin. Sam Weller insbesondere produzierte die kunstvolle Art des Schlitterns, die unter der Bezeichnung „an des Schuhflickers Tür anklopfen“ bekannt ist und darin besteht, daß man den einen Fuß aufhebt und mit ihm gelegentlich einen Doppelschlag auf das Eis gibt, wie ein Briefträger. Es war eine gute, lange Bahn, und die Bewegung hatte für Mr. Pickwick, der vom Stillstehen tüchtig durchfroren war, etwas Verlockendes.

„Allem Anschein nach eine treffliche Art, um sich warm zu machen, nicht wahr?“ sagte er zu Mr. Wardle, der infolge seiner unablässigen Anstrengungen, komplizierte Figuren m das Eis zu ritzen, schon ganz außer Atem war.

„Ja, das ist es“, erwiderte Wardle. „Schlitterst du?“

„Ich pflegte wohl in Gossen zu schlittern, als ich noch ein Knabe war“, erwiderte Mr. Pickwick.

„Na, dann versuch’s doch mal“, riet Wardle.

„Ach ja, ja, bitte, Mr. Pickwick“, riefen sämtliche jungen Damen.

„Ich würde mich sehr glücklich schätzen, zu Ihrer Erheiterung etwas beizutragen“, erwiderte Mr. Pickwick, „aber wirklich, ich habe es seit dreißig Jahren nicht mehr probiert.“

„Lächerlich! Unsinn!“ sagte Wardle und legte seine Schlittschuhe mit jenem Ungestüm ab, das alle seine Handlungen charakterisierte. „Komm nur! Ich mache auch mit.“ Und der muntere alte Knabe sauste die Bahn hinunter, mit einer Geschwindigkeit, daß er fast Mr. Weller über den Haufen rannte und der Ruhm des feisten Jungen zu nichts verblaßte.

Mr. Pickwick besann sich eine Weile, zog seine Handschuhe aus, warf sie in seinen Hut, nahm zwei oder drei kurze Anläufe, hielt ebensooft wieder an und glitt endlich unter dem Beifallsgeschrei aller Zuschauer langsam und gravitätisch dahin, die Füße ungefähr anderthalb Ellen auseinandergespreizt.

„Halten Sie den Topf im Kochen, Sir. Nur so weiter“, rief Sam, und Wardle nahm einen zweiten Anlauf, und dann Mr. Pickwick, und dann Sam und Mr. Winkle und Bob Sawyer, der feiste Junge und Mr. Snodgraß, einer hinter dem andern, alle mit einem Eifer, als ob ihr künftiges Lebensglück davon abhinge.

Unendlich fesselnd war der Anblick, wie Mr. Pickwick seiner Aufgabe nachkam, die Seelenangst, mit der er auf seinen Hintermann blickte und ihn immer näher kommen sah, wie er sich langsam auf der Bahn umdrehte, mit dem Gesicht gegen den Punkt, von dem er ausgegangen, wenn seine Anfangsgeschwindigkeit nachließ, das heitere Lächeln zu betrachten, das sich über sein Antlitz verbreitete, wenn er am Ende der Bahn war, und die Geschwindigkeit, mit der er wieder einlenkte und seinem Vorgänger nachrannte, mit den schwarzen Gamaschen fröhlich durch den Schnee stampfend, die Augen blitzend vor Frohsinn und Heiterkeit hinter seinen Brillengläsern. Und wenn er niedergeworfen wurde, was sich im Durchschnitt jedes dritte Mal zutrug, so war es das entzückendste, was man sich denken konnte, ihm zuzusehen, wie er mit glühendem Antlitz Hut, Handschuhe und Sackruch aufhob und seine Stelle in der Reihe mit einem Feuereifer wieder einnahm, den nichts zu hemmen vermochte. Das Schlittern war in vollem Gange, der Jubel wurde immer lauter, da ertönte plötzlich ein heftiges Krachen. Alles rannte dem Ufer zu, die Damen schrien, und Mr. Tupman rief um Hilfe. Eine grolle Eismasse war eingebrochen, das Wasser wogte darüber her, und Mr. Pickwicks Hut, Handschuhe und Taschentuch schwammen auf der Oberfläche. Das war alles, was man von dem Gelehrten sehen konnte.

Schrecken und Angst malten sich auf jedem Gesicht, die Herren wurden blaß und die Damen ohnmächtig. Mr. Snodgraß und Mr. Winkle hielten einander an der Hand und starrten entsetzten Blickes nach der Stelle, wo der Meister verschwunden war, während Mr. Tupman, um schleunigst Hilfe zu scharfen und zugleich allen, die sich im Hörbereich befanden, die möglichst deutliche Vorstellung von dem Unfall zu geben, querfeldein rannte und aus Leibeskräften „Feurio!“ schrie.

Fast im selben Augenblick, als der alte Mr. Wardle und Sam Weller sich dem Eisloch vorsichtig näherten und Mr. Benjamin Allen eiligst mit Mr. Bob Sawyer sich über die Zweckmäßigkeit beriet, die ganze Gesellschaft zur Ader zu lassen, um sich ein wenig in ihrer Praxis zu üben – im selben Augenblick tauchte ein Kopf bis zu den Schultern aus dem Wasser auf und zeigte das Antlitz und die Brille Mr. Pickwicks.

„Halten Sie sich einen Augenblick, nur einen einzigen Augenblick!“ kreischte Mr. Snodgraß.

„Ja, tun Sie es! Ich beschwöre Sie, um meinetwillen!“ schrie fassungslos Mr. Winkle.

Die Beschwörung war eigentlich unnötig; denn selbst für den Fall, daß es Mr. Pickwick abgelehnt hätte, sich um eines andern willen über Wasser zu halten, würde er es doch wahrscheinlich um seiner selbst willen getan haben.

„Hast du Grund, alter Freund?“ fragte Wardle.

„Ja, gewiß“, keuchte Mr. Pickwick, sich das Wasser von £0pf und Gesicht schüttelnd und nach Luft schnappend. „Ich bin auf den Rücken gefallen. Ich konnte nicht gleich festen Fuß fassen.“

Der Schlamm auf Mr. Pickwicks Rock – soweit dieser noch sichtbar war – bezeugte die Richtigkeit seiner Aussage; überdies minderten sich die Besorgnisse der Zuschauer, als der feiste Junge sich plötzlich erinnerte, daß die Wassertiefe nirgends über fünf Fuß betrug. Nun wurden allenthalben Anstrengungen gemacht, den Gelehrten herauszuziehen. Unter vielem Planschen und Krachen und Strampeln gelang es auch, Mr. Pickwick aus seiner unbehaglichen Lage zu befreien, so daß er plötzlich wieder auf festem Boden stand.

„Ach, er wird sich den Tod holen in der Kälte“, jammerte Emilie.

„Der liebe alte Herr!“ sagte Arabella. „Darf ich Sie in meinen Schal wickeln, Mr. Pickwick?“

„Ja, das ist das beste, was du tun kannst“, sagte Wardle, „und wenn du eingewickelt bist, dann lauf nach Hause, so schnell deine Beine dich tragen, und hopse gleich ins Bett.“

Im Nu war ein Dutzend Schale zur Hand, worunter die drei oder vier dicksten ausgesucht und um Mr. Pickwick geschlungen wurden, der sich dann unter Führung von Mr. Weller in Bewegung setzte. Er bot nun einen einzigartigen Anblick: ein älterer, triefender Herr ohne Hut, die Arme seitlich an den Körper gebunden, der ohne ersichtlichen Grund mit einer Geschwindigkeit von sechs englischen Meilen pro Stunde durch die Gegend hetzte.

Natürlich dachte Mr. Pickwick in einem so ernsten Fall nicht an den äußeren Schein. Fortgezogen von Sam Weller, eilte er, was er nur konnte, bis er Manor Farm erreicht hatte, wo Mr. Tupman bereits fünf Minuten zuvor angekommen war und die alte Mrs. Wardle bis zum Herzklopfen erschreckt hatte, indem er ihre fixe Idee, es brenne im Kamin – ein Unglück, das sich ihrem Geiste stets in glühenden Farben darstellte, so oft jemand in ihrer Nähe die geringste Unruhe zeigte –, durch sein Benehmen wieder geweckt hatte.

Als Mr. Pickwick wohlverwahrt im Bett lag, fachte Weller ein helloderndes Feuer an und trug das Mittagessen auf. Der alte Wardle wollte nichts von Aufstehen hören braute eine Bowle Punsch und arrangierte zur Feier der glücklichen Rettung ein großes Trinkgelage, bei dem Mr. Pickwick im Bett den Vorsitz führte. Als er am nächsten Morgen erwachte, war kein Symptom von Erkältung an ihm zu bemerken, ein Beweis, wie Mr. Bob Sawyer ganz richtig bemerkte, daß in solchen Fällen nichts über den Punsch geht, wenn nicht der Patient in den gewöhnlichen Fehler verfällt, zuwenig davon zu trinken.

Die fröhliche Gesellschaft trennte sich am nächsten Morgen. Mr. Pickwick und seine Freunde nahmen ihre Sitze oben auf der Muggletonkutsche wieder ein, und Arabella Allen reiste unter dem Schutz ihres Bruders Benjamin und seines intimen Busenfreundes, Mr. Bob Sawyers, nach ihrem Bestimmungsort ab. Wo dieser sein mochte, war Mr. Winkle wohlbekannt. Wir haben uns vergeblich bemüht, ihn zu eruieren.

Ehe sie schieden, nahmen Mr. Bob Sawyer und Mr. Benjamin Allen mit geheimnisvollen Mienen Mr. Pickwick beiseite. Mr. Bob Sawyer legte seinen Zeigefinger zwischen zwei Rippen Mr. Pickwicks, um den Mediziner herauszukehren, und fragte burschikos:

„Alter Knabe, wo hausen Sie eigentlich?“

Mr. Pickwick erwiderte, daß er gegenwärtig sein Quartier im „Georg und Geier“ aufgeschlagen habe.

„Da könnten Sie mich mal besuchen kommen“, meinte Bob Sawyer.

„Nichts würde mir ein größeres Vergnügen machen.“

„Meine Wohnung ist“, sagte Mr. Bob Sawyer und zog eine Visitenkarte hervor, „Landstreet, Borough, nahe bei Guys und deshalb bequem für mich. Wenn Sie an der St.-Georgen-Kirche vorbei sind, führt der Weg ein klein wenig rechter Hand von Highstreet ab.“

„Ich werde es schon finden“, meinte Mr. Pickwick, und dann schüttelten sie sich die Hände und verabschiedeten sich.

Mr. Winkle und Mr. Snodgraß hatten sich währenddessen angelegentlichst mit Arabella Allen beziehungsweise mit Emilie Wardle im Flüsterton unterhalten. Um so schweigsamer waren sie später auf der Reise. Zu Mr. Pickwick oder Mr. Tupman sprachen sie volle achtundzwanzig Meilen auch nicht ein Wort, seufzten sehr oft, verschmähten Ale und Brandy und sahen düster darein. Der Grund dazu entzieht sich vollständig unsrer Beurteilung.

Dreißigstes Kapitel


Dreißigstes Kapitel

Handelt lediglich von Gerichtspraxis und verschiedenen bedeutenden Rechtsgelehrten.

Verstreut in den vielen Trakten und Winkeln des „Tempels“ liegen gewisse düstere und schmutzige Zimmer, in denen selbst während der Gerichtsferien den ganzen Vormittag über und während der Sitzungsperiode auch noch den ganzen Nachmittag lang bis in den halben Abend hinein ein fast ununterbrochenes Kommen und Gehen von Menschen herrscht, die Aktenbündel unter den Arm geklemmt oder aus den Taschen heraushängen haben: es sind die Advokatenschreiber.

Es gibt bekanntlich verschiedene Klassen von Advokatenschreibern. Da ist vor allem der Volontär, der bezahlt hat und ein Rechtsanwalt in spe ist. Er hat Jahresrechnung beim Schneider, verkehrt in Gesellschaften, kennt eine Familie in Gowerstreet und eine andre in Tavistocksquare, besucht in den Ferien seinen Vater, der eine Unzahl Pferde hält – kurz, er ist der Aristokrat unter den Schreibern. Dann kommt im Rang der salarierte Schreiber, der den größten Teil seines Wochengehaltes von dreißig Schilling auf sein Vergnügen und seine Garderobe verwendet, wenigstens dreimal wöchentlich zu halbem Preis ins Adelphitheater geht, darauf in den Mostkellern eine Orgie feiert und eine Art schäbige Karikatur der vorletzten Mode ist. Dann gibt es noch den Kopisten, den Mann in mittleren Jahren, mit einer großen Familie, immer abgeschabt gekleidet und öfters betrunken, und endlich die kleinen Praktikanten in ihren ersten Überröcken, die auf die Schuljugend mit Verachtung herabsehen und, wenn sie abends die Schreibstube verlassen und in die Kneipe rennen, denken: Es geht doch nichts über das „Leben“.

Diese abgelegenen Winkel sind die Werkstätten des Gesetzes, wo Vorladungen ausgefertigt, Gutachten unterzeichnet, Klagen eingeleitet und eine Menge andrer sinnreicher Maschinerien in Bewegung gesetzt werden, die zur Marter der getreuen Untertanen Seiner Majestät und zu Nutz und Frommen der Juristen erfunden sind. Die meisten dieser Stuben sind niedrige, dumpfe Gemächer, in denen zahllose Pergamentrollen, modrig schon seit einem Jahrhundert, ihren angenehmen Geruch tagsüber mit dem Aroma der Trockenfäule und abends mit den verschiedenen Ausdünstungen nasser, dampfender Mäntel, triefender Regenschirme und schlechtester Talglichter vermischen.

Eines Abends, ungefähr zehn bis vierzehn Tage nach der Rückkehr Mr. Pickwicks und seiner Freunde, erschien gegen halb acht Uhr in einer dieser Gerichtsstuben in großer Eile ein junger Mensch in einem braunen Überrock mit messingenen Knöpfen, das lange Haar unter dem Rand des abgetragenen Hutes sorgfältig gescheitelt und die beschmutzte grobe Hose so straff über die Blücherstiefel gezogen, daß die Knie jeden Augenblick aus ihrer Verhüllung hervorzubrechen drohten, und zog aus seiner Rocktasche einen langen, schmalen Pergamentstreifen, auf den der diensthabende Schreiber einen unleserlichen schwarzen Stempel drückte. Dann legte er vier Papierschnitzel von ähnlichen Dimensionen vor, deren jeder eine gedruckte Abschrift des Pergamentstreifens enthielt – mit einem freien Raum darunter für einen Namen –, ließ die freien Räume ausfüllen, steckte die fünf Dokumente wieder in die Tasche und enteilte.

Der Mann mit dem braunen Rock und den geheimnisvollen Dokumenten war Mr. Jackson von Dodson und Fogg, Freemans Court, Cornhill. Statt aber in die Schreibstube zurückzukehren, aus der er gekommen war, lenkte er seine Schritte gerade auf Sun Court zu und ging in den „Georg und Geier , wo er nach Mr. Pickwick verlangte.

„Wie ist Ihr Name, Sir?“ fragte der Kellner.

„Jackson.“

Der Kellner eilte die Treppe hinauf, um Mr. Jackson zu melden, aber dieser überhob ihn der Mühe, folgte ihm auf dem Fuße nach und trat ins Zimmer, ehe jener noch eine Silbe hervorzubringen vermochte. Mr. Pickwick hatte seine drei Freunde zu Tisch geladen, und die Herren saßen vor dem Kamin gerade beim Wein.

„Wie geht’s, Sir?“ fragte Mr. Jackson und nickte Mr. Pickwick zu.

Der leutselige Gelehrte verbeugte sich und sah etwas verblüfft drein, denn Mr. Jacksons Züge waren seinem Gedächtnis nicht mehr gegenwärtig. „Ich komme von Dodson und Fogg“, bemerkte Mr. Jackson erklärend.

Mr. Pickwick erhob sich empört.

„Ich verweise Sie an meinen Anwalt, Sir, Mr. Perker in Grays Inn“, sagte er. „Kellner, begleiten Sie den Herrn wieder hinaus.“

„Bitte um Entschuldigung, Mr. Pickwick“, fiel Jackson ein, legte ungeniert seinen Hut ab und zog den Pergamentstreifen aus der Tasche, „es handelt sich um persönliche Einhändigung. Sie verstehen, Mr. Pickwick, in solchen Fällen geht nichts über Vorsicht – wie?“

Dabei warf Mr. Jackson einen Blick auf das Pergament, stützte sich mit den Händen auf den Tisch, sah sich mit gewinnendem und beredtem Lächeln ringsum und fuhr ungeniert fort:

„Also zur Sache. Welcher von den Herren nennt sich Snodgraß?“

Bei dieser Frage machte Mr. Snodgraß eine so unzweideutige und lebhafte Bewegung, daß es keiner weiteren Erklärung bedurfte.

„Habe mir’s gleich gedacht“, sagte Mr. Jackson noch freundlicher als zuvor. „Ich habe hier eine Kleinigkeit, womit ich Sie belästigen muß, Sir.“

„Mich?“ rief Mr. Snodgraß.

„Es ist nur eine Zeugenvorladung in Sachen Bardell kontra Pickwick“, erwiderte Jackson, suchte unter den Papierstreifen einen heraus und zog einen Schilling aus der Westentasche. „Der Termin ist auf den vierzehnten Februar anberaumt; wir haben eine Vorverhandlung beantragt. Da ist Ihre Vorladung, Mr. Snodgraß.“

Mit diesen Worten drückte Jackson Mr. Snodgraß das Papier und den Schilling in die Hand und wiederholte das Manöver mit Lebendigkeit bei Mr. Tupman und Mr. Winkle.

„Sie werden mich vielleicht für aufdringlich halten“, fuhr er fort, „aber ich muß noch nach jemand fragen. Ich habe hier noch den Namen Samuel Weller stehen, Mr. Pickwick.“

„Schicken Sie nach meinem Diener, Kellner“, befahl Mr. Pickwick. Der Kellner entfernte sich äußerst erstaunt, und Mr. Pickwick bot Mr. Jackson einen Stuhl an.

Nach einer längern Pause peinlichen Stillschweigens sagte der Gelehrte mit steigendem Unwillen:

„Ich vermute, Sir, Ihre Prinzipale haben die Absicht, durch das Zeugnis meiner eigenen Freunde Beweismaterial für meine angebliche Schuld gegen mich zu sammeln?“

Mr. Jackson legte seinen Zeigefinger an die Nase, um dadurch anzudeuten, daß er nicht aus der Schule schwatzen dürfe.

„Wozu werden denn meine Freunde vorgeladen, wenn nicht aus diesem Grunde?“

„Eine verfängliche Frage, Mr. Pickwick“, erwiderte Jackson kopfschüttelnd. „Kann wirklich nicht dienen. Nützt alles nichts. Aus mir werden Sie nichts herausbringen. Nein, nein, Mr. Pickwick“, setzte er hinzu. „Perkers Leute müssen den Zweck dieser Vorladungen schon selbst erraten. Wenn’s ihnen nicht gelingt, so müssen sie eben warten, bis die Sache verhandelt wird.“

Mr. Pickwick warf einen Blick höchsten Widerwillens auf seinen unwillkommenen Gast und würde wahrscheinlich Fluch und Verdammnis auf die Häupter der Herren Dodson und Fogg herabgerufen haben, hätte ihn nicht in diesem Augenblick Sams Eintritt unterbrochen. „Samuel Weller?“ fragte Mr. Jackson.

„Das is eins von den wahrhaftigsten Worten, wo Sie seit vielen Jahren gesagt haben“, versetzte Sam gelassen.

„Hier ist eine sub poena für Sie, Mr. Weller“, sagte Jackson.

„Was heißt das in unserer Muttersprache?“ fragte Sam.

„Hier ist das Original“, fuhr Jackson fort, ohne sich auf verlangte Erklärung einzulassen.

„Welches?“

„Dieses hier“, erwiderte Jackson und hielt das Pergament hin.

„So, so, das ist also das Original“, sagte Sam. „Na, das freut mich aber. Da fällt mir richtiggehend ’n Stein vom Herzen.“

„Und hier ist der Schilling“, fuhr Jackson fort. „Von Dodson und Fogg.“

„Ach, das is ja ungemein hübsch von Dodson und Fogg, wo die mir doch so wenig kennen, daß sie mir ’n Präsent schicken“, sagte Sam. „Ich empfinde es als ein großes Kompliment, Sir, und es macht denen sehr viel Ehre, daß sie Verdienste belohnen, wo sie welche finden. Es schlägt einem direkt aufs Gemüt.“

Bei diesen Worten rieb sich Mr. Weller theatralisch mit dem Rockärmel das rechte Augenlid.

Mr. Jackson schien durch Sams Benehmen ein wenig aus der Fassung gebracht, aber da er sich seiner Vorladungen entledigt hatte und nichts weiter zu sagen wußte, machte er eine Bewegung, als wenn er den einzigen Handschuh, den er des guten Eindrucks wegen immer in der Hand trug, anziehen wollte, und kehrte in seine Kanzlei zurück, um Rapport zu erstatten.

Mr. Pickwick schlief in dieser Nacht wenig; man hatte seinem Gedächtnis einen reichlich unangenehmen Denkzettel wegen der Bardellschen Klage verabfolgt.

Er frühstückte am folgenden Morgen beizeiten und machte sich in Sams Begleitung nach dem Grays-Inn-Viertel auf den Weg.

„Sam!“ sagte er, als sie das Ende von Cheapside erreicht hatten, sah einige Sekunden lang seinem Diener mit einem leeren Blick ins Gesicht und stieß einen schweren Seufzer aus.

„Was is Ihnen, Herr?“ fragte Sam.

„Also am Vierzehnten nächsten Monats soll die Sache zur Verhandlung kommen.“

„Ein merkwürdiges Zusammentreffen das, Sir“, versetzte Sam.

„Wieso, merkwürdig, Sam?“

„’s is gerade Valentinstag, Sir“, erwiderte Sam scherzend „’n sehr geeigneter Tag zu ’ner Gerichtsverhandlung wegen Bruchs eines Eheversprechens.“

Mr. Wellers Anspielung rief nicht das geringste Lächeln auf seines Herrn Gesicht hervor. Mr. Pickwick wandte sich um und nahm schweigend seinen Weg wieder auf.

Sie waren eine Strecke weit gegangen – Mr. Pickwick in tiefes Nachdenken versunken voraus –, als Sam, entschlossen, seinen Herrn aufzuheitern, seine Schritte beschleunigte, bis er hart hinter ihm stand, und auf ein Haus deutend, an dem sie vorüberkamen, sagte:

„Ein sehr hübscher Fleischladen das, Sir.“

„Ja, es scheint“, erwiderte Mr. Pickwick.

„Berühmte Wurstfabrik.“

„Wirklich?“

„Ja, wirklich“, wiederholte Sam mit wichtiger Miene; „das will ich meinen. Gott segne Ihre unschuldigen Augenbrauen; das is doch dasselbe Haus, wo vor ’n paar Jahren ’n achtbarer Handelsmann auf geheimnisvolle Weise verschwand.“

„Er wurde doch nicht ermordet, Sam?“ fragte Mr. Pickwick, sich hastig umsehend.

„Nö nich gerade ermordet, Sir“, erwiderte Mr. Weller, „ich wollte, ’s wäre so, denn es ging ihm noch viel schlimmer. Der Laden gehörte ihm und er war der Erfinder von „ne Patentwurstdampfmaschine, wo „n Flasterstein so leicht zu Mettwurst zerreiben kann wie „n kleines Kind. War natürlich mächtig stolz auf diese Maschine und stand immer im Keller und sah ihr zu, wenn sie so richtig in Schwung war, bis er vor Freude ganz melancholisch wurde. Er hätte ’n sehr glücklicher Mann sein können, mit seiner Maschine und den zwei netten Kindern, die er hatte, wenn seine Frau nich gewesen wäre. Das war ’ne böse Sieben. Immer war sie hinter ihm her und lag ihm in den Ohren, bis er es schließlich nich mehr aushaken konnte. ,Ich will dir mal was sagen, mein Schatz‘, sagte er, ,ich will verdammt sein, wenn ich nich nach Amerika abhaue, und damit Punktum.‘ – ,Du bist ’n Taugenichts‘, sagte sie, ,und ich wünsche den Amerikanern Glück zu dem Fang.‘ Und denn keifte sie noch ’ne halbe Stunde lang und lief in das Ladenstübchen und fing an zu schreien, daß er noch ihr Tod sein würde, und denn bekam sie ’n Anfall und schlug mit Händen und Füßen um sich; drei ganze Stunden lang. Na, und am andern Morgen wurde der Mann vermißt. Er hatte nichts aus der Kasse genommen, nich mal seinen großen Überrock angezogen; es war also klar, daß er nich nach Amerika gegangen war. Kam am andern Tag nich, kam in der andern Woche nich; die Frau ließ veröffentlichen, daß ihm alles vergeben sein sollte, wenn er zurückkommen würde – Kunststück, wo er gar nichts gemacht hatte. – Alle Kanäle wurden abgefischt, und wenn sie in den nächsten zwei Monaten irgendwo ’ne Leiche fanden, denn wurde die in den Wurstladen gebracht, als ob es ganz selbstverständlich war. Aber – er wurde auch so nich gefunden, und da hieß es denn, er wäre abgehauen, und sie machte denn mit dem Geschäft weiter. Einen Samstag gegen Abend kam ’n kleiner dürrer alter Herr ganz aufgeregt in den Laden und sagte: ,Gehört Ihnen dieser Laden?‘ – ,Allerdings gehört er mir‘, sagte sie. – ,Na gut, Ma’am‘, schreit er, ,denn muß ich Sie sagen, daß ich mitsamt meine Familie für nichts und gar nichts beinahe erstickt wäre. Wenn Sie schon nich das beste Fleisch für ihre Wurstmachern nehmen, denn nehme ich doch an, daß Sie aber wenigstens die Hosenknöpfe weglassen könnten.‘ – ,Hosenknöpfe, Sir?‘ sagte sie. Ja, Hosenknöpfe, Madam!‘ sagte der kleine alte Herr, wickelt ’n Papier aus und zeigt ihr zwanzig bis dreißig halbe Knöpfe. ,Das sind die Knöpfe von meinem Mann‘, sagt die Witwe und wird beinahe ohnmächtig. ,Was?‘ schreit der kleine alte Herr und wird ganz blaß. Jetzt ist mir alles klar‘, sagte die Witwe, ,er hat sich selbst in einem Anfall von Wahnsinn Hals über Kopf in Wurst verwandeln lassen!‘ – Und so war es denn auch“, schloß Mr. Weller und blickte Mr. Pickwick ruhevoll in das schreckensbleiche Antlitz, „oder is er vielleicht zufällig zu nahe an die Maschine gekommen – aber wie es nu auch war, der kleine alte Herr, wo von Kindheit an so gerne Wurst gegessen hatte, raste aus dem Laden raus und ließ nie wieder was von sich hören.“

Herr und Diener waren während der rührenden Erzählung dieses ergreifenden Begebnisses aus dem Privatleben in der Wohnung Mr. Perkers angekommen. Mr. Lowten unterhielt sich gerade zwischen Tür und Angel mit einem schlecht gekleideten, erbärmlich aussehenden Klienten in Stiefeln, aus denen die Zehen hervorguckten, und Handschuhen ohne Fingerspitzen. Das eingefallene und abgehärmte Gesicht des Mannes trug die Spuren der Entbehrung und des Leidens, ja, beinahe der Verzweiflung; er war sich seiner Armut offenbar sehr bewußt, denn er trat bei Mr. Pickwicks Kommen in den Schatten der Treppe zurück.

„Das ist sehr, sehr mißlich“, hörte ihn Mr. Pickwick seufzen.

„Ja, sehr“, erwiderte Lowten, seinen Namen an den Türpfosten kritzelnd und mit der Fahne der Feder wieder auswischend. „Soll ich ihm etwas ausrichten?“

„Wann glauben Sie wohl, daß er zurückkommen wird?“ fragte der Fremde.

„Ganz unbestimmt“, erwiderte Lowten, Mr. Pickwick zuzwinkernd, als der Fremde gerade zur Seite sah.

„Glauben Sie nicht, daß es gut wäre, wenn ich ihn hier erwarten würde?“ fragte der Fremde mit einem sehnsüchtigen Blick in die Schreibstube. „O nein, gewiß nicht“, erwiderte Mr. Lowten und stellte sich mehr in die Mitte der Tür. „In dieser Woche kommt er nicht mehr zurück, und ob in der nächsten, ist fraglich; wenn Perker einmal verreist ist, so beeilt er sich mit seiner Rückkehr nie besonders.“

„Er ist verreist?“ fragte Mr. Pickwick. „Ach Gott, wie ärgerlich!“

„Bleiben Sie nur, Mr. Pickwick“, sagte Lowten, „ich habe einen Brief an Sie.“

Der Fremde schien unschlüssig und blickte abermals zu Boden. Der Schreiber warf Mr. Pickwick einen schlauen Blick zu.

„Treten Sie doch ein, Mr. Pickwick“, drängte er. „Also, soll ich etwas ausrichten, Mr. Watty, oder wollen Sie wieder vorsprechen?“

Bitten Sie Mr. Perker, er möge so liebenswürdig sein zu hinterlassen, was in meiner Sache geschehen sei“, sagte der Mann „Aber ich bitte Sie um Gottes willen, vergessen Sie es nicht“ Mr. Lowten!“

Nein, nein, werde es nicht vergessen , erwiderte der Schreiber. „Treten Sie ein, Mr. Pickwick. – Guten Morgen, Mr. Watty. – Ein schöner Tag zum Spazierengehen, nicht wahr?“

Als er sah, daß der Fremde immer noch zögerte, winkte er Sam Weller und seinem Herrn, einzutreten, und schlug dem Klienten die Tür vor der Nase zu.

„Einen solchen lästigen Bankerottierer hat es, glaube ich, seit Erschaffung der Welt nicht gegeben“, rief er dann und warf seine Feder mit der Miene eines schwer gekränkten Mannes auf den Tisch. „Seine Sachen liegen noch nicht volle vier Jahre bei Gericht, und ich will verdammt sein, wenn er uns nicht jede Woche zweimal mit Mahnungen quält. Bitte, hier herein, Mr. Pickwick! Perker ist selbstverständlich zu Hause und wird Sie gleich empfangen. Aasig kalt“, setzte er verdrießlich hinzu. „Unter der Tür stehen und sich von solchen lumpigen Vagabunden um seine Zeit bringen lassen zu müssen!“

Nachdem er noch schnell und in großer Aufregung mit einem winzigen Schüreisen ein Riesenfeuer angefacht, ging er in das Arbeitszimmer seines Prinzipals und meldete Mr. Pickwick an.

„Ach, mein lieber Herr“, rief der kleine Mr. Perker und sprang von seinem Stuhl auf. „Was gibt es denn Neues in unsrer Angelegenheit? Wieder etwas von unsern Freunden in Freemans Court? Sie haben diese Zeit über nicht geschlafen, kann es mir denken. Oh, es sind rührige Leute – sehr rührig, ich versichere Ihnen!“ Und der kleine Mann nahm mit wichtiger Miene eine Prise Tabak, um dadurch der Rührigkeit der Herren Dodson und Fogg seine Huldigung darzubringen.

„Große Spitzbuben sind es“, sagte Mr. Pickwick.

„Nun, nun“, begütigte der kleine Mann, „wie man’s nimmt. Wir wollen nicht über Worte streiten, denn natürlich kann man von Ihnen nicht erwarten, daß Sie die Sache mit den Augen des Fachmanns ansehen. Aber wir haben auch alles getan, was zu tun war. Ich habe den Prokurator Snubbin gewonnen.“

„Ist der so gut?“ fragte Mr. Pickwick.

„Gut?! Beim Himmel, mein lieber Herr, Snubbin ist einer der renommiertesten Sachwalter! Hat dreimal mehr zu tun als irgendein Advokat; ist bei allen Gerichtssachen beteiligt. Unter uns gesagt, bei uns Leuten vom Fach heißt es immer, der Prokurator Snubbin führe den Gerichtshof an der Nase herum.“

„Dodson und Fogg haben meine drei Freunde als Zeugen vorgeladen“, erzählte Mr. Pickwick.

„Das war nicht anders zu erwarten“, meinte Perker. „“Wichtige Zeugen! Haben Sie in einer delikaten Situation gesehen.“

„Aber sie fiel doch absichtlich in Ohnmacht“, warf Mr. Pickwick ein, „sie fiel mir absichtlich in die Arme.“

„Sehr wahrscheinlich, mein lieber Herr“, versetzte Perker, „sehr wahrscheinlich und sehr natürlich. Nichts natürlicher, mein lieber Herr; aber wie das beweisen?“

„Sie haben auch meinen Diener vorgeladen“, ließ Mr. Pickwick das Thema fallen, durch Perkers Frage ein wenig aus der Fassung gebracht.

„Mr. Sam?“

Mr. Pickwick bejahte.

„War auch zu erwarten, mein lieber Herr, auch zu erwarten. Sie mußten das tun; ich hätte Ihnen das schon vor einem Monat sagen können. Das kommt davon, mein lieber Herr, wenn Sie selbst noch Schritte tun, nachdem Sie Ihre Sache bereits Ihrem Anwalt übergeben haben. Dann müssen Sie eben die Folgen tragen.“

Und Mr. Perker richtete sich im Bewußtsein seiner Würde auf und schnippte einige verirrte Schnupftabakskörner von seiner Hemdkrause.

„Und was wollen sie denn mit ihm beweisen?“ fragte Mr. Pickwick nach einer Pause von ein paar Minuten.

„Daß Sie ihn zu der Klägerin geschickt haben, um ihr einen Vergleich anzubieten, vermute ich“, erwiderte Perker.

„Es hat aber nicht viel auf sich, denn ich glaube, aus ihm werden sie wenig herausbringen.“

„Dieser Ansicht bin ich auch“, bemerkte Mr. Pickwick, trotz seiner Verstimmung bei dem Gedanken an ein Auftreten Sams vor Gericht lächelnd. „Was sollen wir aber anfangen?“

„Es steht uns nur ein Weg offen, mein lieber Herr“, erwiderte Perker, „nämlich die Zeugen mit Querfragen zu verwirren, Snubbins Beredsamkeit zu vertrauen, dem Richter Sand in die Augen zu streuen und auf die Geschworenen zu bauen.“

„Und gesetzt, der Spruch fiele gegen mich aus?“

Mr. Perker lächelte, nahm gemächlich wieder eine Prise, schürte das Feuer, zuckte die Achseln und beobachtete ein bedeutungsvolles Stillschweigen.

„Sie glauben, daß ich in diesem Falle die Entschädigung zahlen müßte?“ fragte Mr. Pickwick, der alle diese stummen telegrafischen Antworten mit steigender Erregung beobachtet hatte.

Perker gab dem Brennstoff noch einen höchst unnötigen Stoß und sagte:

„Ich fürchte, ja.“

„Dann gestatte ich mir, Ihnen meinen unabänderlichen Entschluß kundzutun, daß ich durchaus keine Entschädigung zu zahlen gedenke“, sagte Mr. Pickwick mit großem Nachdruck. „Durchaus keine, Perker! Nicht ein Pfund, nicht ein Penny von meinem Geld soll den Weg in Dodson und Foggs Taschen finden. Das ist mein wohlüberlegter und unwiderruflicher Entschluß.“ – Und zur Bestätigung der Unwiderruflichkeit seiner Absicht schlug Mr. Pickwick heftig auf den Tisch.

„Ganz recht, mein lieber Herr, ganz recht“, sagte Mr. Perker, „Sie müssen das natürlich am besten wissen.“

„Natürlich“, erwiderte Mr. Pickwick hastig. „Wo wohnt Prokurator Snubbin?“

„In Lincolns Inn, Old Square.“ „Ich möchte ihn sogleich sprechen.“

„Prokurator Snubbin sprechen, mein lieber Herr!?“ fiel Perker im Tone des höchsten Erstaunens ein. „Aber mein lieber Herr, das ist doch unmöglich. Prokurator Snubbin sprechen! Wo denken Sie hin! So was ist noch nie vorgekommen, ohne daß die Konsultationsgebühr vorher entrichtet und die Audienz anberaumt wurde. Es geht durchaus nicht, mein lieber Herr, geht durchaus nicht.“

Aber Mr. Pickwick hatte es sich nun einmal in den Kopf gesetzt, daß es nicht nur gehen könne, sondern daß es sogar gehen müsse; und die Folge davon war, daß er zehn Minuten, nachdem er die Versicherung erhalten, es könne keinesfalls sein, von seinem Sachwalter in das Vorzimmer des großen Prokurators Snubbin geführt wurde.

Es war dies ein ziemlich geräumiges Gemach, das durch Abwesenheit von Bodenteppichen glänzte. Vor dem Feuer stand ein großer Schreibtisch, dessen wollener Überzug längst seine Ansprüche auf sein ursprüngliches Grün aufgegeben hatte und mit Ausnahme der Stellen, deren natürliche Farbe durch Tintenflecken verwischt war, vom Staub und Alter allmählich grau geworden war. Hinter einer Menge kleiner Aktenbündel, die mit rotem Zwirn zusammengebunden waren, saß ein ältlicher Schreiber, dessen stattliches Äußere und schwere goldene Uhrkette den imponierenden Beweis von der ausgedehnten und einträglichen Praxis des Herrn Prokurator Snubbin ablegte.

„Ist der Prokurator auf seinem Zimmer, Mr. Mallard?“ fragte Perker und hielt mit ausgesuchtester Höflichkeit dem Schreiber seine Dose hin. „Ja“, war die Antwort, „hat aber vollauf zu tun. Sehen. Sie hier, alle diese Sachen warten noch auf ein Gutachten, trotzdem die Gebühren bereits bezahlt sind.“

„Das nenne ich mir eine Praxis“, rief Perker.

„Ja, und das beste dabei ist“, schmunzelte der Schreiber, „daß niemand des Prokurators Handschrift lesen kann als ich, und die Leute also, nachdem die Gutachten schon ausgestellt sind, warten müssen, bis ich sie abgeschrieben habe – hahaha!“

„Was außer dem Prokurator noch einem gewissen Jemand zugute kommt, der aus den Klienten noch etwas mehr herauszieht, nicht wahr?“ sagte Perker. „Hahaha!“

Wiederum lachte der Schreiber des Prokurators, aber diesmal nicht laut, sondern ganz still und innerlich, was Mr. Pickwick gar nicht gefiel. Wenn jemand innerlich blutet, so ist es gefährlich für ihn selbst; aber wenn er innerlich lacht, so bedeutet es für andere Leute nichts Gutes.

„Haben Sie mir die Gebühren noch nicht herausgeschrieben, die ich Ihnen schulde?“ fragte Mr. Perker.

„Nein, ich bin noch nicht dazu gekommen“, erwiderte der Schreiber.

„Es wäre mir lieb, wenn Sie’s täten. Stellen Sie mir die Rechnung zu, und ich werde Ihnen einen Scheck schicken. Sie haben natürlich zuviel mit dem laufenden Inkasso zu tun, als daß Sie an Ihre Außenstände denken könnten – nicht wahr? Hahaha!“

Dieser Witz schien den Schreiber ordentlich zu kitzeln, denn er lachte wieder geräuschlos und innerlich.

„Aber Mr. Mallard, lieber Freund“, sagte Perker, wurde plötzlich wieder ernst und zog den großen Gehilfen des großen Anwaltes am Rockzipfel in eine Ecke, „Sie müssen den Prokurator dazu bewegen, mich und meinen Klienten vorzulassen.“

„Aber ich bitte Sie!“ ereiferte sich der Schreiber; „ich bitte Sie! – Den Prokurator sprechen! Gehen Sie, das ist doch zu absurd.“ Ungeachtet der Absurdität des Vorschlages hörte er jedoch Mr. Perker noch weiter freundlich zu und nach einem kurzen im Flüsterton geführten Gespräch ging er leise einen schmalen dunklen Gang hinab und verschwand in dem Allerheiligsten, aus dem er bald nachher auf den Zehen wieder hervorkam und Mr. Perker und Mr. Pickwick eröffnete, der Prokurator sei dazu überredet worden, sie gegen alle hergebrachte Ordnung und Norm sogleich vorzulassen.

Der Herr Prokurator Snubbin war ein Mann in den Fünfzigern mit einem eingefallenen, erdfahlen Gesicht. Sein Auge hatte den glanzlosen, erloschenen Blick, den man so oft bei Leuten sieht, die sich eine Reihe von Jahren hindurch einem langwierigen und mühevollen Studium gewidmet haben und machte auch ohne die Lorgnette, die an einem breiten schwarzen Bande herabhing, den Eindruck der Kurzsichtigkeit. Sein Haar war dünn und spärlich, was teils dem Mangel an Zeit für seine Toilette, teils einer neben ihm hängenden Juristenperücke, die er fünfundzwanzig Jahre lang getragen, zuzuschreiben war. Die Puderspuren auf seinem Rockkragen und das unsaubere und verschobene weiße Halstuch deuteten darauf hin, daß er seit seiner Rückkehr vom Gerichtssaal noch keine Zeit gefunden hatte, eine Änderung in seinem Anzug vorzunehmen, wobei die sonstige Nachlässigkeit in seinem Äußeren die Vermutung begründet erscheinen ließ, seine Person würde wenig dabei gewonnen haben, wenn es auch der Fall gewesen wäre. Bücher über Gerichtswesen, Stöße von Akten und offene Briefe waren ohne alle Rücksicht auf Ordnung oder Symmetrie auf dem Tisch zerstreut; das Meublement des Zimmers war alt und schadhaft, die Türen des Bücherschrankes rosteten in ihren Angeln, bei jedem Schritt flog der Staub in kleinen Wolken von dem Laufteppich empor, die Vorhänge waren vom Alter verblichen, und alles im Zimmer wies unzweideutig darauf hin, daß der Herr Prokurator Snubbin viel zuviel mit seinen Berufsgeschäften zu tun hatte, als daß er seiner Person große Aufmerksamkeit hätte schenken können.

Er schrieb gerade, als seine Klienten eintraten, verbeugte sich kurz, als Mr. Pickwick durch seinen Sachwalter vorgestellt wurde, ersuchte dann die Herren, Platz zu nehmen, steckte seine Feder sorgfältig in das Tintenzeug, streichelte sein linkes Bein und erwartete, daß man ihm die Sache vortrage.

„Mr. Pickwick ist der Beklagte in Sachen Bardell kontra Pickwick, Prokurator Snubbin“, begann Perker.

„Bin ich dabei engagiert?“ fragte der Prokurator.

„Gewiß, Sir.“

Der Prokurator nickte mit dem Kopf und wartete, was weiter folgen werde.

„Mr. Pickwick wünschte mit Ihnen zu sprechen, Prokurator Snubbin“, fuhr Perker fort, „um Ihnen zu versichern, daß er ausdrücklich in Abrede stellt, der gegnerischen Partei den geringsten Anlaß zur Klageführung gegeben zu haben, und daß er gar nicht vor Gericht aufträte, wenn er es nicht mit reinem Gewissen und mit der festen Überzeugung tun könne, auch nicht das mindeste verschuldet zu haben. Ich erlaube, Ihrer Ansicht richtig Ausdruck verliehen zu haben, nicht wahr, mein lieber Herr?“ wendete sich der kleine Mann an Mr. Pickwick.

„Ganz richtig.“

Der Herr Prokurator Snubbin nahm seine Lorgnette, betrachtete Mr. Pickwick einige Sekunden lang mit großer Aufmerksamkeit, wandte sich dann an Mr. Perker und fragte mit leichtem Lächeln:

„Hat Mr. Pickwick eine sichere Sache?“

Der Anwalt zuckte die Achseln.

„Stellen Sie Zeugen?“

„Nein.“

Das Lächeln auf dem Gesicht des Prokurators nahm einen bestimmteren Ausdruck an; er wiegte sein Bein stärker, lehnte sich in seinem Armstuhl zurück und hustete zweideutig.

So unmerklich diese Andeutungen die Gedanken des Prokurators über den Fall verrieten, sie entgingen der Aufmerksamkeit Mr. Pickwicks keineswegs. Er setzte daher die Brille fester auf die Nase und sagte, ohne auf Mr. Perkers Winke und Stirnrunzeln Rücksicht zu nehmen, mit großem Nachdruck:

„Mein Wunsch, Sie lediglich aus einem Grunde wie diesem um Audienz zu bitten, Sir, erscheint Ihnen, wo Sie notwendigerweise so viel mit solchen Dingen zu tun haben müssen, ohne Zweifel wohl höchst sonderbar?“

Der Prokurator machte den Versuch, mit ernster Miene ins Feuer zu sehen, konnte jedoch ein Lächeln nicht unterdrücken.

„Herren von Ihrem Fach, Sir“, fuhr Mr. Pickwick fort, „sehen immer nur die schlechteste Seite der menschlichen Natur – alle ihre Streitsucht, alle ihre Böswilligkeit und Gehässigkeit entschleiert sich vor Ihnen. Sie wissen aus Erfahrung, wieviel es bei den Geschworenengerichten auf den Effekt ankommt – ich will damit weder Ihnen, noch diesen Institutionen zu nahe treten – und sind daher geneigt, bei andern die Absicht vorauszusetzen, die Mittel, die Sie aus den reinsten, ehrenvollsten Gründen und in dem löblichen Bestreben, Ihren Klienten soviel wie möglich zu nützen, stets in Anwendung zu bringen und durch den Gebrauch nach ihrem vollen Werte zu schätzen gelernt haben – Sie sind geneigt, sage ich, bei andern die Neigung vorauszusetzen, diese Mittel zu Betrug und selbstsüchtigen Zwecken zu mißbrauchen. Ich glaube in der Tat, daß dieser Umstand die niedrige, aber sehr verbreitete Ansicht hervorgerufen hat, nach der Ihr Stand als argwöhnisch, mißtrauisch und allzu vorsichtig gilt. Ich bin mir zwar bewußt, Sir, daß mir unter den gegebenen Verhältnissen eine solche Erörterung Ihnen gegenüber nur schaden kann, aber ich bin dennoch hierhergekommen in dem Wunsche, Ihnen verständlich zu machen, was schon mein Freund Mr. Perker gesagt hat, daß ich nämlich an der Treulosigkeit, die mir zur Last gelegt wird, gänzlich unschuldig bin; und wenn ich auch von dem unschätzbaren Wert Ihres Beistandes überzeugt bin, Sir, so wollen Sie mir doch gestatten, noch hinzuzufügen, daß, im Fall Sie mir nicht unbedingt Glauben schenken sollten, ich jede Unterstützung seitens Ihrer Talente lieber missen möchte.“

Lange bevor Mr. Pickwick diese Rede, die im Verhältnis zu seiner ganzen Denkungsweise sehr prosaisch war, geschlossen hatte, war der Prokurator in tiefes Nachdenken versunken. Erst nach einigen Minuten, während deren er mit seiner Feder gespielt hatte, schien er sich der Anwesenheit seiner Klienten wieder zu erinnern. Er blickte auf und fragte ein wenig unvermittelt:

„Wer ist mein Assistent in dieser Sache?“

„Mr. Phunky, Sir“, erwiderte der Anwalt.

„Phunky – Phunky“, wiederholte der Prokurator, „hm, diesen Namen habe ich noch nie gehört. Er muß ein sehr junger Mann sein?“

„Allerdings, er ist ein sehr junger Mann“, versetzte der Anwalt. „Er ist erst – ja, ganz richtig, er ist erst seit acht Jahren zu den Schranken zugelassen.“

„Hm, habe ich mir gedacht“, sagte der Prokurator mit dem mitleidigen Tone, in dem man gewöhnlich von kleinen hilflosen Kindern spricht. „Mr. Mallard, schicken Sie nach Herrn – Herrn –“

„Phunky – Holborn Court, Grays Inn“, half Perker aus. Mr. Phunky. Und lassen Sie ihm sagen, es würde mich freuen, wenn er .sich auf einen Augenblick hierherbemühen wollte.“

Mr. Mallard entfernte sich, um seinen Auftrag auszurichten, und Prokurator Snubbin versank wieder in tiefes Nachdenken, bis Mr. Phunky erschien.

Obgleich als Sachwalter noch in den Kinderschuhen, war Mr. Phunky doch ein völlig ausgewachsener Mann. Er benahm sich außerordentlich schüchtern und sprach immer mit zitterndem Tone, was jedoch nicht von einem Gebrechen, sondern vielmehr von einer gewissen Befangenheit und dem Bewußtsein herrührte, daß er durch den Mangel an Gold oder Gönnern, Konnexionen oder Unverschämtheit „niedergehalten“ wurde. Er sah mit Ehrfurcht an dem Prokurator empor und machte dem Anwalt eine tiefe Verbeugung.

„Ich habe bisher noch nicht das Vergnügen gehabt, Sie zu sehen. Mr. Phunky“, begann Prokurator Snubbin mit vornehmer Herablassung. Mr. Phunky verbeugte sich. Er hatte das Vergnügen gehabt, den Prokurator zu sehen und ihn auch mit dem ganzen Neid des armen Mannes schon achtundeinviertel Jahr lang beneidet.

„Wie ich höre, sollen Sie in dieser Sache mein Assistent sein?“

Wäre Mr. Phunky ein reicher Mann gewesen, so hätte er augenblicklich nach seinem Schreiber geschickt, um seinem Gedächtnis nachhelfen zu lassen. Wäre er ein kluger Mann gewesen, so hätte er den Zeigefinger an die Stirn gelegt und sich zu erinnern versucht, ob er bei der großen Menge seiner Geschäfte auch dieses übernommen habe; so aber war er weder reich noch klug – wenigstens nicht in diesem Sinne –, errötete demnach und verbeugte sich zustimmend.

„Haben Sie die Akten gelesen, Mr. Phunky?“ fragte der Prokurator.

Hier hätte Mr. Phunky selbstverständlich die Bemerkung hinwerfen sollen, er habe die Sache augenblicklich nicht im Kopf, aber da er die Akten, die ihm inzwischen vorgelegt worden waren, gelesen und seit den zwei Monaten, während deren er zu des Herrn Prokurator Snubbins Assistenten erhoben worden war, Tag und Nacht an nichts anderes mehr gedacht hatte, errötete er noch tiefer und machte abermals eine tiefe Verbeugung.

„Dies ist Mr. Pickwick“, stellte der Prokurator vor und deutete mit seiner Feder auf den Beklagten.

Mr. Phunky machte Mr. Pickwick mit der Ehrerbietung, die ein erster Klient stets erweckt, eine Verbeugung und verneigte sich dann wieder gegen den Prokurator.

„Sie gehen vielleicht mit Mr. Pickwick“, sagte dieser, „und – und – hören, was er Ihnen mitzuteilen hat. „Wir werden natürlich eine Konferenz darüber halten.“

Mit dieser Andeutung, daß er jetzt lange genug aufgehalten worden sei, hielt der Herr Prokurator Snubbin, der nach und nach immer gedankenvoller geworden war, für einen Augenblick seine Lorgnette ans Auge, machte nach allen Seiten eine leichte Verbeugung und vertiefte sich wieder in die vor ihm liegenden Akten eines endlosen Prozesses, bei dem es sich um die Sperrung eines unbegangenen Fußpfades handelte. Draußen auf dem Square gingen die Herren Phunky, Pickwick und Perker noch auf und ab und hielten eine lange Besprechung mit dem Ergebnis, daß es sehr schwer zu bestimmen sei, wie der Spruch ausfallen werde, und daß es ein sehr großes Glück bedeute, der Gegenpartei in bezug auf die Akquisition Mr. Snubbins zuvorgekommen zu sein, und was dergleichen Trostgründe mehr waren.

Hierauf weckte Mr. Pickwick Mr. Weller aus süßem Schlummer, der eine Stunde gedauert hatte, verabschiedete sich von Mr. Lowten und kehrte nach der City zurück.

Viertes Kapitel


Viertes Kapitel

Die Erzählung des wandernden Schauspielers.

„Es ist nichts Außerordentliches, Ja, nicht einmal etwas Ungewöhnliches an dem, was ich jetzt erzählen will“, begann der Trübsinnige. „Entbehrungen und Krankheit sind in manchen Lebenslagen etwas zu Alltägliches, um mehr Aufmerksamkeit zu verdienen, als den gewöhnlichsten Wechselfällen des menschlichen Lebens zuteil wird. Ich habe die folgenden kurzen Notizen gesammelt, weil ich den Mann, von dem ich rede, vor einigen Jahren sehr gut kannte. Ich war Augenzeuge, wie er immer tiefer und tiefer sank, bis er zuletzt jenen Abgrund von Elend erreichte, aus dem er sich nicht wieder erhob.

Der Mann, von dem ich erzähle, war ein kleiner Pantomimenschauspieler und, wie so viele seines Berufes, ein Gewohnheitstrinker. In seinen besseren Tagen, als er noch nicht durch Ausschweifungen herabgekommen und durch Krankheit geschwächt war, bezog er ein gutes Einkommen, das er bei einem geordneten Lebenswandel noch mehrere Jahre lang hätte beziehen können – wenn auch nicht viele –, denn solche Leute sterben entweder frühzeitig oder verlieren durch übermäßige Anstrengung die körperlichen Fähigkeiten bald, von denen allein ihr Erwerb abhängt. Seine Leidenschaft beherrschte ihn in einem Grade, daß er in kurzer Zeit fü die Rollen, in denen er etwas leisten konnte, unfähig wurde. Die Schenke übte einen Zauber auf ihn aus, dem er nicht widerstehen konnte. Vernachlässigte Krankheit. und hoffnungslose Armut mußten so sicher sein Los werden wie der Tod, wenn er bei seinem Laster beharrte Dennoch ließ er nicht davon, und die Folgen sind leicht zu erraten. Er konnte kein Engagement mehr finden und wurde brotlos.

Jeder, der nur einigermaßen mit dem Theaterleben bekannt ist, weiß, welche Menge armer Schlucker sich gewöhnlich im Troß einer größeren Bühne befindet – keine ordnungsgemäß angestellten Schauspieler, sondern Ballettvolk, Statisten, Hanswüste und so weiter, die fü eine bestimmte Pantomime oder Lokalposse, die gerade im Schwange ist, angenommen und dann wieder entlassen werden, bis wieder irgendein Zugstück gegeben wird, bei dem man ihrer Dienste aufs neue bedarf. Zu solchem Leben mußte der Mann seine Zuflucht nehmen. Er besorgte in kleinen Theatern das Stühlehinaustragen und erwarb sich dadurch einige Schillinge wöchentlich, die er seiner alten Leidenschaft opferte. Aber auch diese Erwerbsquelle versiegte bald. Seine Ausschweifungen verschlangen zuviel von seinen Einnahmen, um auch nur fü die geringsten Bedüfnisse etwas übrigzulassen, und er war nahe daran, zu verhungern. Er borgte bisweilen einem alten Bekannten eine Kleinigkeit ab oder trat auf irgendeinem Winkeltheater letzter Sorte auf; aber was er auch verdiente, wanderte denselben Weg.

So hatte er sich länger als ein Jahr herumgetrieben und durchgeschlagen, ohne daß man wußte, wie, als ich ihn auf einem der Theater an der Surreyseite des Flusses, wo ich gerade ein kurzes Engagement hatte, plötzlich wieder zu Gesicht bekam. Ich hatte ihn fü einige Zeit aus den Augen verloren, denn ich durchreiste das Land, während er sich in den Winkeln Londons herumtrieb. Er klopfte mir eines Abends auf die Schulter, als ich eben im Begriff war, das Theater zu verlassen, und über die Bühne ging. Nie werde ich den abschreckenden Anblick vergessen, der sich meinen Augen darbot, als ich mich umwandte. Er spielte eine kleine Rolle in einer Pantomime und stand in der ganzen Abgeschmacktheit eines Hanswurstanzuges vor mir. Die Gespenster im Totentanz, die grauenhaftesten Gestalten, die jemals der Pinsel des geschicktesten Malers auf die Leinwand zaubern könnte, waren nicht halb so entsetzlich anzusehen. Sein aufgedunsener Leib und seine hageren Beine, deren Mißgestalt durch die Narrenkleidung erst recht hervorgehoben wurde, die gläsernen Augen, die gegen das dick aufgetragene Weiß, womit sein Gesicht beschmiert war, füchterlich abstachen, der grotesk aufgeputzte, paralytisch zitternde Kopf und die langen, mit Kreide bemalten, fleischlosen Hände – alles gab ihm ein gräßliches, unnatüliches Aussehen, von dem man sich keine Vorstellung machen kann und an das ich mich bis auf diesen Tag nur mit Schaudern erinnere. Seine Stimme war hohl und bebte, als er mich beiseite nahm, mir in abgerißnen Worten ein langes und breites von Krankheit und Entbehrungen vorschwatzte und dann, wie gewöhnlich, mit der flehentlichen Bitte schloß, ihm eine Kleinigkeit vorzustrecken. Ich drückte ihm ein paar Schillinge in die Hand, und als ich mich umdrehte, hörte ich das schallende Gelächter, das sein Auftreten auf den Brettern hervorrief.

Wenige Tage später drückte mir abends ein Junge einen schmutzigen Papierfetzen in die Hand; darauf waren mit Bleistift einige Worte gekritzelt, aus denen hervorging, daß der Mann schwerkrank war und mich bat, ihn nach der Vorstellung in seiner Behausung aufzusuchen, die irgendwo in der Nähe des Theaters lag; mir fällt im Augenblick nicht der Straßenname ein. Jedenfalls versprach ich, sobald wie möglich zu kommen, und sobald der Vorhang unten war, trat ich meinen traurigen Weg an.

Es war spät, denn ich hatte im letzten Akt gespielt, und da es eine Benefiz gewesen, dauerte die Vorstellung ungewöhnlich lange. Es war eine finstere, traurige Nacht; ein naßkalter Wind trieb den Regen heftig gegen Fenster und Haustüen. Das Wasser hatte sich in den schmalen, wenig besuchten Gäßchen zu Pfützen angesammelt, und da das Ungestüm des Windes die wenigen Lampen, die hin und wieder angebracht waren, ausgelöscht hatte, war der Weg nicht nur sehr mühsam, sondern auch höchst unsicher. Doch hatte ich glücklicherweise die richtige Gasse gewählt und fand endlich nicht ohne Schwierigkeit das bezeichnete Haus – ein Kohlenmagazin, mit einem Stockwerk darüber, in dessen Hinterzimmer der Mann lag, dem mein Besuch galt.

Ein abgezehrt aussehendes Weib, die Frau des Unglücklichen, empfing mich auf der Treppe, führte mich mit den Worten, ihr Mann sei eben in eine Art Schlummer gefallen, leise in die Stube und stellte mir einen Stuhl vor das Bett. Der Kranke hatte das Gesicht gegen die Wand gekehrt, und da er meinen Eintritt nicht gewahr wurde, so blieb mir Muße, das Zimmer zu betrachten, in dem ich mich befand.

Er lag in einem alten Bettgestell, das den Tag über zusammengeklappt werden konnte. Die zerlumpten Überreste eines buntscheckigen Vorhanges umschlossen den oberen Teil des Bettes, um den Wind abzuhalten, der das unbehagliche Gemach frei durchstrich, indem er durch die zahlreichen Spalten der Tü eindrang und die Lappen fortwährend hin und her bewegte. In einem rostigen, freistehenden Becken glomm ein mattes Kohlenfeuer, und davor stand ein alter, dreieckiger, schmieriger Tisch mit Arzneifläschchen, einem zerbrochenen Glas und einigen andern Gegenständen. In einem Bett auf dem Boden schlief ein kleines Kind, und neben ihm saß die Frau auf einem Stuhl. Auf zwei Simsbrettern an der Wand standen einige Schüsseln, Teller und Tassen, und darunter hingen ein Paar Bühnenschuhe und zwei Rapiere. Außer einigen Bündeln alter Lumpen, die unordentlich in den Winkeln lagen, war nichts im Zimmer zu erblicken.

Ich hatte Zeit gehabt, dies alles mit den Blicken zu überfliegen und die schweren Atemzüge und fieberischen Zuckungen des Kranken zu beobachten, ehe dieser meine Gegenwart gewahr wurde. Bei den unaufhörlichen Versuchen, seinen Kopf in eine bessere Lage zu bringen, streckte er seine Hand aus dem Bett und bekam die meinige zu fassen. Er schrak empor und starrte mir ins Gesicht.

,Mr. Hutley, John‘, sagte sein Weib, ,Mr. Hutley, nach dem du diesen Abend geschickt hast – du weißt.‘

,Ah!‘ rief der Kranke und fuhr sich mit der Hand über die Stirne. ,Hutley – Hutley – wart einmal.‘ Er schien seine Gedanken sammeln zu wollen, dann faßte er mich heftig beim Handgelenk und sagte: ,Verlaß mich nicht, verlaß mich nicht, alter Freund. Sie will mich ermorden, ich weiß, sie will mich umbringen.‘

,Liegt er schon lange so da?‘, fragte ich sein weinendes Weib.

,Seit gestern abend‘, antwortete sie. ,John, John, kennst du mich denn nicht?‘

,Laß sie nicht zu mir‘, sagte der Mann mit einem Schauder, als sie sich über ihn beugte. Jag sie fort! Ich kann ihre Nähe nicht vertragen.‘ Er starrte sie wild und mit einem Blicke voll Todesangst an und flüsterte mir dann ins Ohr: ,Ich hab sie geschlagen, Jem, ja, ich hab sie geschlagen, gestern, und so manches Mal. Ich hab sie dem Hungertode preisgegeben, und das Kind auch, und jetzt, wo ich schwach und hilflos bin, will sie mich dafü ermorden; ich weiß es. Hättest du ihr Jammergeschrei gehört wie ich, du wüßtest es auch. Halte sie fern.‘ Er ließ meine Hand los und sank erschöpft auf das Kissen zurück.

Ich verstand nur zu gut, was das alles zu bedeuten hatte, Hätte ich einen Augenblick im Zweifel sein können, so wüde mich ein Blick auf. das blasse Gesicht und die abgezehrte Gestalt des Weibes hinlänglich von der Sachlage unterrichtet haben. ,Ziehen Sie sich lieber zurück‘, sagte ich zu der ärmsten. ,Sie können doch nichts fü ihn tun. Vielleicht wird er ruhiger werden, wenn er Sie nicht mehr sieht.‘ Sie ging ihrem Manne aus den Augen. Er öffnete nach wenigen Sekunden seine Lider und sah sich ängstlich um.

,Ist sie fort?‘

,Ja, ja‘, antwortete ich. ,Sie wird dir nichts zuleide tun.‘

,Ich will dir was sagen, Jem‘, flüsterte er voll Furcht, ,sie trachtet mir nach dem Leben. Etwas in ihren Augen bringt eine so füchterliche Angst in mir hervor, daß es mich wahnsinnig macht. Die ganze Nacht über habe ich ihre großen stieren Augen und ihr bleiches Gesicht dicht über mir gesehen. Wohin ich mich wandte, da waren sie, und so oft ich aus dem Schlafe auffuhr, stand sie neben meinem Bette und starrte mich an.‘ Er zog mich näher zu sich und flüsterte aufgeregt und bebend vor Todesangst: ,Jem, sie muß ein böser Geist sein, ein Teufel! Hu! Ich weiß es, sie ist’s. Wäre sie ein Weib, so müßte sie schon lange tot sein. Ein Weib kann nicht tragen, was sie getragen hat.‘

Ich schauderte bei dem Gedanken an die lange Reihe von Grausamkeiten und Mißhandlungen, die dem allem vorhergegangen sein mußten, um bei einem Menschen wie er einen solchen Eindruck zu hinterlassen. Ich wußte nichts zu erwidern, denn wer konnte dem Verworfenen, den ich vor mir hatte, Hoffnung oder Trost geben?

Ich saß über zwei Stunden bei ihm, während er, vor Schmerzen und Ungeduld ächzend, ruhelos seine Arme hin und her warf und sich immer wieder von einer Seite auf die andre wälzte. Endlich verfiel er in die Art bewußtlosen Halbschlummers, in dem der Geist unruhig von Vorstellung zu Vorstellung, von Ort zu Ort wandert, ohne die leitende Hand der Vernunft und ohne die Fähigkeit, sich von einem unbeschreiblichen Gefühle vorhandenen Leidens loszumachen. Da ich aus seinen Delirien entnahm, daß dies bei ihm der Fall und alle Wahrscheinlichkeit vorhanden war, das Fieber werde sich vorderhand nicht mehr steigern, so entfernte ich mich und versprach dem bedauernswerten Weibe, am nächsten Abend meinen Besuch zu wiederholen und nötigenfalls die Nacht über bei dem Kranken zu wachen.

Ich hielt mein Versprechen. Die letzten vierundzwanzig Stunden hatten eine furchtbare Veränderung in dem Trunkenbold hervorgebracht. Seine Augen, obgleich tief eingefallen und schwer, leuchteten in einem schrecklichen Glanze. Die Lippen waren wie Pergament und an manchen Stellen aufgesprungen; die trockne, harte Haut fühlte sich glühend heiß an, und in seinem Gesicht lag ein beinahe unirdischer Ausdruck wilder Angst, der die Verheerungen der Krankheit noch stärker hervorhob. Das Fieber hatte seinen höchsten Grad erreicht.

Ich setzte mich wie am verflossenen Abend an sein Bett, und hier vernahm ich stundenlang Töne, die das gefühlloseste Herz tief hätten ergreifen müssen – die furchtbaren Phantasien eines Sterbenden. Wie ich vom Arzte vernommen, war keine Hoffnung mehr vorhanden. Ich saß an einem Sterbebette. Ich sah die abgezehrten Glieder, die er noch kurz zuvor zur Belustigung eines rohen Haufens verdreht, sich unter den Martern der Fieberglut krümmen – ich hörte das schrille Gelächter des Harlekins, gemischt mit dem leisen Röcheln des Sterbenden.

Es ist ergreifend, den Geist zu den gewöhnlichen Beschäftigungen der Tage der Gesundheit zurückwandern zu sehen, während der Körper schwach und hilflos daliegt; aber wenn diese Beschäftigungen der Art sind, daß sie Zuständen, die eine ernste und feierliche Stimmung in uns hervorrufen»geradezu entgegenlaufen, so geht dieser Eindruck noch unendlich tiefer.

Die Bühne und die Schenke waren die Hauptschauplätze, auf denen sich die Phantasie des irren Elenden erging. Es war gegen Abend, bildete er sich ein. Er mußte auftreten. Es war spät, und er durfte keinen Augenblick mehr säumen, Warum hielten sie ihn zurück und ließen ihn nicht gehen? – Seine Einnahme stand auf dem Spiel. – Er mußte gehen. Nein! Sie wollten ihn nicht fortlassen. Er barg sein Gesicht in seine glühenden Hände und beklagte seine Schwäche und die Grausamkeit seiner Widersacher. Eine kurze Pause. Dann keuchte er einige elende Reimereien hervor, die letzten, die er auswendig gelernt hatte. Er richtete sich im Bett auf, streckte seine abgezehrten Hände in die Höhe und wand sich in seltsamen Krümmungen hin und her: er spielte. – Er war auf der Bühne. Ein minutenlanges Stillschweigen, und er murmelte den Schlußreim eines Trinkliedes. Endlich war er wieder zu Hause: wie heiß war es im Zimmer! Er war krank gewesen, sehr krank, aber jetzt fühlte er sich wieder wohl und glücklich. – Einschenken! Einschenken! Wer schlägt ihm da das Glas vom Munde weg? Derselbe Feind, der ihn vorhin verfolgte. – Er fiel auf sein Kissen zurück und jammerte laut. Eine kurze Pause der Vergessenheit, und er wanderte durch ein nimmer endendes Labyrinth niederer, gewölbter Zimmer – so nieder bisweilen, daß er auf allen vieren fortkriechen mußte; es war eng und dunkel, und mit jeder Wendung des Weges stieß ihm ein neues Hindernis auf. Er sah Insekten, häßliches Gewüm, mit Augen, die ihn anstierten und den ganzen Raum anfüllten – füchterlich schimmernd durch die dichte Finsternis. Wände und Decke wimmelten von Ungeziefer, das Gewölbe dehnte sich ins ungeheure – füchterliche Gestalten schwebten auf und nieder, und unter ihnen bekannte Gesichter, gräßlich verzerrt. Sie brannten ihn mit glühenden Eisen und umschnüten seinen Kopf mit Stricken, bis das Blut herausspritzte.

Nach einem solchen Anfall, währenddessen ich ihn mit großer Mühe im Bett festhielt, sank er in eine Art von Schlummer. Von langem Wachen und von der Anstrengung überwältigt, waren mir fü einige Minuten die Augen zugefallen, als ich durch einen heftigen Schlag auf meine Schulter erwachte. Er hatte sich aufgerichtet und saß im Bett. – Eine füchterliche Veränderung war auf seinem Gesicht vorgegangen, aber das Bewußtsein war zurückgekehrt, denn er kannte mich augenscheinlich. Das Kind, das durch sein Irrereden lange Zeit eingeschüchtert gewesen, stand von seinem Bettchen auf und lief weinend zu seinem Vater. Die Mutter nahm es eilends auf den Arm, damit er ihm in der Raserei kein Leid zufüge, aber durch die Veränderung seiner Züge erschreckt, blieb sie regungslos stehen. Er krallte sich krampfhaft in meine Schulter ein und machte einen verzweifelten Versuch zu sprechen, während er sich mit der andern Hand vor die Brust schlug. Es war vergeblich. Er streckte die Hände gegen die Seinen aus und machte einen zweiten gewaltsamen Versuch zu sprechen. Noch ein Röcheln in der Kehle, ein Blitzen im Auge, ein kurzes ersticktes Stöhnen – und tot sank der Unglückliche auf das Kissen zurück. Vorbei.“

Herr Pickwick hatte sein Glas niedergesetzt, das er während des letzten Abschnittes der Erzählung in der Hand gehalten, und war eben im Begriffe, zu sprechen – hatte bereits, wie Mr. Snodgraß‘ Notizbuch besagt, den Mund geöffnet –, als der Kellner eintrat und „Einige Herren“ anmeldete.

Vermutlich stand Mr. Pickwick gerade im Begriff, einige Bemerkungen, die, wenn auch nicht das Themsegebiet, so doch die übrige Welt erleuchtet haben wüden, zum besten zu geben, als er auf diese Art unterbrochen wurde. Er starrte dem Kellner ins Gesicht und ließ dann seine Blicke fragend die Runde in der Gesellschaft machen, als wünschte er nähere Aufklärung, was das zu bedeuten habe.

„Oh!“ sagte Mr. Winkle aufstehend. „Einige Freunde von mir. Führen Sie die Herren herein. Sehr angenehme Leute“, fügte er hinzu, nachdem sich der Kellner entfernt hatte. „Offiziere, vom siebenundneunzigsten Regiment, deren Bekanntschaft ich diesen Morgen auf eine etwas seltsame Weise gemacht habe. Sie werden Ihnen sehr gefallen.“

Mr. Pickwicks Gleichmut war sofort wiederhergestellt. Der Kellner kehrte zurück und führte drei Herren ins Zimmer.

„Leutnant Tappleton“, stellte Mr. Winkle vor. „Leutnant Tappleton, Mr. Pickwick – Dr. Payne, Mr. Pickwick – Mr. Snodgraß, den Sie bereits kennen, mein Freund Mr. Tupman, Dr. Payne – Dr. Slammer, Mr. Pickwick – Mr. Tupman, Dr. Slam …“

Mr. Winkle hielt plötzlich inne, denn in den Mienen Mr. Tupmans und des Doktors malte sich eine seltsame Bewegung.

„Ich habe diesen Herrn schon einmal getroffen“, sagte der Doktor mit starker Betonung.

„Wirklich?“ versetzte Mr. Winkle.

„Und – und diesen Menschen auch, wenn ich mich nicht irre“, sagte der Doktor, einen prüfenden Blick auf den grüngekleideten Fremden werfend. „Ich glaube, ich ließ an ihn gestern abend eine dringende Einladung ergehen, die er jedoch ablehnen zu müssen vermeinte.“

Bei diesen Worten warf der Doktor einen verächtlichen Blick auf den Fremden und flüsterte seinem Freund Leutnant Tappleton etwas ins Ohr.

„Wahrhaftig?“ fragte dieser, nachdem er das Geflüster endlich verstanden.

„Wahrhaftig“, versicherte Dr. Slammer.

„Sie müssen ihm auf der Stelle einen Fußtritt geben“, murmelte der Eigentümer des Feldstuhles mit großer Wichtigkeit.

„Seien Sie ruhig, Payne“, vermittelte der Leutnant. „Erlauben Sie mir gütigst die Frage, mein Herr“, sagte er, sich an Mr. Pickwick wendend, der ob dieses höchst unhöflichen Zwischenspiels äußerst indigniert dreinsah, „wollen Sie mir gütigst die Frage erlauben, mein Herr, ob dieser Mensch zu Ihrer Gesellschaft gehört?“

„Nein, Sir“, erwiderte Mr. Pickwick. „Er ist unser Gast.“

„Er ist ein Mitglied Ihres Klubs, oder irre ich mich?“

„Nein, gewiß nicht“, antwortete Mr. Pickwick.

„Und trägt er nie Ihre Klubknöpfe?“ fragte der Leutnant weiter.

„Nein – nie!“ entgegnete erstaunt Mr. Pickwick.

Leutnant Tappleton wandte sich zu Dr. Slammer mit einem kaum merklichen Achselzucken, als käme ihm die Erinnerungsfähigkeit seines Freundes bedenklich vor. Der Doktor sah zornig, aber verwirrt aus, und Mr. Payne starrte wild in das staunende Gesicht des ahnungslosen Pickwick.

„Mein Herr“, begann der Doktor, sich plötzlich an Mr. Tupman wendend, in einem Tone, der diesen Gentleman ebensosehr erschreckte, als hätte ihn plötzlich eine Natter in die Ferse gestochen. „Sie waren gestern abend auf dem Ball?“

Mr. Tupman hauchte ein schwaches Ja, fortwährend auf Mr. Pickwick blickend.

„Dieser Mensch war Ihr Begleiter?“ fragte der Doktor weiter, auf den Fremden deutend, der keine Miene verzog.

Mr. Tupman gab es zu.

„Nun, mein Herr“, sagte der Doktor zu dem Fremden, „Ich frage Sie noch einmal in Gegenwart aller Anwesenden, ob Sie mir Ihre Karte geben und als Mann von Ehre behandelt sein oder mich in die Notwendigkeit versetzen wollen, Sie auf der Stelle persönlich zu züchtigen?“

„Halten Sie ein, mein Herr“, rief Mr. Pickwick. „Ich kann wirklich nicht dulden, daß die Sache weitergetrieben wird, ehe ich nicht weiß, um was es sich handelt. Tupman, erzählen Sie den Vorfall!“

So feierlich aufgefordert, berichtete Mr. Tupman die Sache mit fliegenden Worten. Das Entlehnen des Frackes berührte er nur leicht. Großen Nachdruck legte er darauf, daß es „nach dem Diner“ stattgefunden hätte, ließ flüchtig ein gelindes Reuegefühl über sein eigenes Betragen durchblicken und überließ es dem Fremden, sich zu rechtfertigen, so gut er könne.

Dieser war eben im Begriff, es zu tun, als ihn Leutnant Tappleton, der ihn bis dahin mit Aufmerksamkeit betrachtet hatte, mit großer Geringschätzung fragte:

»Habe ich Sie nicht schon auf dem Theater gesehen, Sir?“

„Vermutlich“, erwiderte der Fremde unbefangen.

„Er ist ein wandernder Schauspieler“, sagte der Leutnant verächtlich und wandte sich an Dr. Slammer. „Er tritt in dem Stück auf, das morgen das Offizierskasino des zweiundfünfzigsten Regiments in Rochester aufführen läßt. Sie können in der Sache nicht weitergehen, Slammer, unmöglich!“

„Nein, unmöglich!“ bestätigte Payne pathetisch.

„Bedaure, Sie in diese unangenehme Lage versetzt zu haben“, fuhr Leutnant Tappleton fort, sich an Mr. Pickwick wendend. „Erlauben Sie mir übrigens, Ihnen zu bemerken, daß der sicherste Weg, in Zukunft dergleichen Auftritte zu vermeiden, größere Vorsicht in der Wahl Ihrer Gesellschaft sein wird. Guten Abend, mein Herr!“ – Und rasch verließ er das Zimmer.

„Und mir erlauben Sie, Ihnen zu bemerken, mein Herr“, fügte der rauflustige Dr. Payne hinzu, „daß ich, wenn ich Tappleton oder Slammer gewesen wäre, Ihnen und den sämtlichen Mitgliedern dieser Gesellschaft die Nase eingedroschen hätte. Ja, das hätte ich. Allen miteinander. Mein Name ist Payne, mein Herr, Dr. Payne vom Dreiundvierzigsten. Guten Abend, mein Herr.“

Die vier letzten Worte sprach er laut und mit großem Nachdruck und schritt sodann majestätisch aus dem Zimmer. Ihm folgte Dr. Slammer, schweigend und mit einem Blick voll Verachtung auf die ganze Gesellschaft.

Zorn und höchste Entrüstung über die Brüskierung hätten Mr. Pickwicks edle Brust beinahe bis zum Zerspringen seiner Weste geschwellt. Wie angewurzelt, ins Leere starrend, stand er da, und erst das Knarren der Tüe brachte ihn wieder zu sich selbst. Mit wutentbrannten Blicken und funkelnden Augen wollte er dem Beleidiger nachstüzen. Seine Hand hatte die Tüklinke gefaßt, und im nächsten Augenblick wüde sie den Dr. Payne, von Dreiundvierzig, an der Kehle gepackt haben, hätte ihn nicht. Mr. Snodgraß am Rockschoße ergriffen und zurückgezogen.

„Haltet ihn“, rief Mr. Snodgraß. „Winkle, Tupman! – Er darf sein kostbares Leben nicht in einer solchen Angelegenheit aufs Spiel setzen.“

„Lassen Sie mich“, rief Mr. Pickwick.

„Haltet ihn fest“, schrie Mr. Snodgraß wieder. Und den vereinten Kräften der sämtlichen Anwesenden gelang es schließlich, Mr. Pickwick in einen Lehnstuhl zu drängen.

„Allein lassen“, riet der grüngekleidete Fremde. „Brandy und Wasser – feuriger alter Herr – einen Schluck – einmal kosten – ah! – Kapitalstoff!“

Nachdem der Fremde den Inhalt eines vollen, von dem Trübsinnigen gemischten Glases gekostet, führte er es an Mr. Pickwicks Lippen, der es im nächsten Augenblick bis auf die Neige leerte.

Es trat eine kurze Pause ein. Das Getränk hatte indessen seine Wirkung getan, und das freundliche Gesicht Mr. Pickwicks nahm schnell den gewohnten Ausdruck wieder an.

„Diese Menschen verdienen nicht, daß Sie Notiz von ihnen nehmen, Sir“, sagte der Trübsinn-Jemmy.

„Sie haben recht, Sir“, versetzte Mr. Pickwick. „Sie verdienen es nicht. Ich schäme mich, daß ich mich so habe hinreißen lassen. Ziehen Sie Ihren Stuhl näher heran, Sir.“

Der Trübsinnige tat es; der Kreis versammelte sich um den Tisch, und die frühere Eintracht war wiederhergestellt. In Mr. Winkles Brust schien noch eine Spur heimlichen Unmutes zurückgeblieben zu sein – in bezug auf die temporäre Entwendung seines Frackes –, aber es ist kaum denkbar, daß ein so geringfügiger Umstand auch nur ein vorübergehendes Gefühl des Mißbehagens in der Seele eines Pickwickiers sollte hervorgerufen haben. Abgesehen davon war übrigens die Heiterkeit wieder völlig hergestellt, und der Abend endete auf dieselbe trauliche Weise, wie er begonnen hatte.

Einunddreißigstes Kapitel


Einunddreißigstes Kapitel

Mr. Bob Sawyer gibt eine lustige Abendgesellschaft in seiner Wohnung im Borough.

In der Gegend von Landstreet herrscht gewöhnlich eine Ruhe, die die Seele melancholisch stimmt. Immer sind in ihr eine Menge Häuser zu vermieten, und wer sich von der Welt zurückzuziehen wünscht und der Möglichkeit einer Versuchung entgehen will, zum Fenster hinauszusehen, dem kann nur angelegentlichst geraten werden, eine Wohnung in Landstreet zu beziehen.

Die Mehrzahl der Bewohner wendet ihre Tätigkeit unmittelbar der Vermietung möblierter Zimmer zu oder widmet sich dem gesunden und muskelstärkenden Geschäfte des Wäschemangelns. Die Hauptformen der unbelebten Natur in. dieser Straße sind grüne Fensterläden, Mietzettel, messingene Türplatten und Glockenzüge; die Hauptarten der belebten sind der Küchenjunge, der Semmelbursche und der Kartoffelmann. Die Mieter sind eine Art von Zugvögeln; sie verschwinden gewöhnlich am Ende des Quartals und meistens zur Nachtzeit. Die Einkünfte Seiner Majestät werden in diesem Paradiese nur selten eingesammelt, die Zinse sind unsicher, und die Trinkwasserleitungen werden sehr häufig gesetzlich gesperrt.

An dem Abend, zu dem Mr. Pickwick eingeladen worden war, saßen Mr. Bob Sawyer und Mr. Ben Allen im Vorderzimmer des Erdgeschosses am Kamin, einander gegenüber. Die Vorbereitungen zum Empfang der Gäste schienen bereits vollendet. Der Regenschirmständer im Hausflur war in der kleinen Ecke vor der Stubentür untergebracht, die Haube und der Schal des Dienstmädchens vom Treppengeländer entfernt, ein Paar Überschuhe standen auf der Strohmatte am Haustor, und auf dem Gesims des Treppenfensters brannte ein munteres Küchenlicht mit einer sehr langen Schnuppe. Mr. Bob Sawyer hatte die Getränke in einem Weingewölbe in der Highstreet eigenhändig eingekauft und den Träger derselben begleitet, um der Möglichkeit der Ablieferung in einem unrechten Hause vorzubeugen. Der Punsch wartete in einem roten Krug im Schlafgemach, ein mit grünem Tuch überzogenes Tischchen war von einem Mitbewohner des Hauses geborgt worden, um als Spieltisch verwendet zu werden, und die Gläser des Etablissements samt denen, die man aus einem Wirtshaus entlehnt, standen auf einem stummen Diener auf dem Treppenabsatz vor der Tür. Trotz dieser höchst befriedigenden Anordnungen lag eine Wolke auf Mr. Bob Sawyers Mienen, als er am Fenster saß und auch die Züge Mr. Ben Allens trugen das gleiche Gepräge, während er aufmerksam auf die Kohlen starrte, und seine Stimme hatte etwas Melancholisches, als er nach einer langen Pause das Stillschweigen brach:

„Es ist wirklich ärgerlich, daß sie es sich in den Kopf gesetzt hat, gerade bei dieser Gelegenheit auf die Pauke zu hauen. Sie hätte wenigstens bis morgen warten können.“

„Aus purer Bosheit“, brach Mr. Bob Sawyer los. „Sie sagt, wenn ich Gesellschaften geben könne, müsse ich auch imstande sein, ihre verdammte ,kleine Rechnung‘ zu bezahlen.“

„Wie lange läuft sie denn jetzt?“ fragte Mr. Ben Allen.

Eine Rechnung ist, beiläufig gesagt, das merkwürdigste Perpetuum mobile, das der menschliche Scharfsinn je ausgedacht hat. Sie würde das längste Menschenleben lang laufen, ohne je aus eigenem Antrieb stehenzubleiben.

„Bloß ein Vierteljahr und einen Monat oder so was“, erwiderte Mr. Bob Sawyer.

Ben Allen hustete hoffnungslos und richtete einen forschenden Blick auf die beiden Stangen am Ofen.

„Es wäre doch eine verdammte Geschichte, wenn sie sich in den Kopf setzen würde, vor der Gesellschaft hier aufzubegehren, was?“ sagte er endlich.

„Schauderhaft“, versetzte Bob Sawyer, „schauderhaft.“

Ein leises Pochen ließ sich in diesem Moment an der Zimmertür hören. Bob Sawyer warf seinem Freund einen bedeutsamen Blick zu, rief: „Herein!“, und ein schmutziges, schlampiges Mädchen in schwarzen Baumwollstrümpfen, die ganz gut für die verwahrloste Tochter eines dienstunfähigen Straßenkehrers in reduzierten Umständen hätte gelten können, steckte den Kopf herein und sagte:

„Mit Verlaub, Mr. Sawyer, Mrs. Raddle wünscht Sie zu sprechen.“

Ehe aber noch Mr. Bob Sawyer etwas erwidern konnte, verschwand das Mädchen plötzlich mit einem gellenden Schrei, wie wenn ihr jemand von hinten einen heftigen Stoß versetzt hätte, und unmittelbar nach diesem geheimnisvollen Verschwinden erfolgte ein abermaliges Klopfen – ein kurzes entschiedenes Klopfen, das zu sagen schien: „Hier bin ich und lasse mich nicht abweisen.“

Bob Sawyer starrte seinen Freund mit einem Blick hoffnungsloser Angst an und rief abermals:

„Herein!“

Die Erlaubnis wäre indes nicht notwendig gewesen, denn ehe er das Wort ausgesprochen, stürzte eine grimmerfüllte kleine Person ins Zimmer, an allen Gliedern zitternd vor Zorn und ganz bleich vor Wut.

„Na, Mr. Sawyer“, keuchte sie, bemüht, möglichst ruhig zu erscheinen, „wenn Sie die Güte haben wollen, meine kleine Rechnung da zu berichtigen, so werde ich Ihnen sehr dankbar sein, denn ich muß heute mittag ebenfalls meine Miete bezahlen, und der Hausbesitzer wartet unten.“ Dabei rieb sie sich die Hände und blickte unverwandt über Mr. Sawyers Kopf auf die Wand.

„Es tut mir sehr leid, wenn ich Sie in Ungelegenheiten bringe, Mrs. Raddle“, stotterte Bob Sawyer demütig, „aber …“

„Oh, von Ungelegenheiten ist nicht die Rede“, entgegnete die kleine Frau mit schrillem Ton. „Ich habe es bis jetzt noch nicht gebraucht, und da war’s mir gleichgültig, ob Sie es hatten oder ich, wo ich’s sowieso dem Hausherrn geben muß. Sie haben mir’s zu heute nachmittag versprochen, Mr. Sawyer, und jeder Gentleman, wo hier gewohnt hat, hat sein Wort gehalten, wie das auch natürlicherweise von jedem erwartet werden muß, wo sich für einen Gentleman ausgeben tut.“

Und Mrs. Raddle schüttelte ihr Haupt, biß sich in die Lippen, rieb ihre Hände noch stärker und blickte noch starrer nach der Wand. Man konnte deutlich sehen, wie Mr. Allen bei einer späteren Gelegenheit in orientalisch-allegorischem Stil bemerkte, daß sie zu „dampfen“ anfing. „Es tut mir sehr leid, Mrs. Raddle“, sagte Bob Sawyer mit aller erdenklichen Demut; „aber das Geld, das man mir heute in der City versprochen hat, ist ausgeblieben. Es ist wirklich ein Pech, der Geldgeber hat es mir als ganz sicher zugesagt.“

„Ganz gut, Mr. Sawyer“, schrillte Mrs. Raddle und pflanzte sich entschlossen auf eine in den Kidderminsterteppich gewebte purpurfarbene Blume, „aber was geht das mich an, Sir?“

„Ich – ich – zweifle nicht, Mrs. Raddle“, erwiderte Mr. Sawyer, die letzte Frage scheinbar überhörend, „daß wir noch vor Mitte der nächsten Woche miteinander abrechnen können, und dann soll es künftighin besser gehen.“

Mehr verlangte Mrs. Raddle nicht. Sie war mit so bestimmter Absicht, einen Skandal zu machen, in des unglücklichen Bob Sawyers Zimmer gestürzt, daß sie sich aller Wahrscheinlichkeit nach auch bei sofortiger Bezahlung kaum zufriedengegeben hätte, und war in der vorzüglichsten Stimmung zu einem kleinen Herzenserguß, zumal da sie soeben in der Küche mit Mr. Raddle eine Art Generalprobe zu dem Zweck abgehalten hatte. „Nehmen Sie etwa an, Mr. Sawyer“, begann sie und erhob dabei ihre Stimme, um der Nachbarschaft das Verständnis zu erleichtern, „nehmen Sie etwa an, ich lasse Tag für Tag einen Burschen bei mir wohnen, wo nie daran denkt, seine Miete zu bezahlen – noch nich mal die baren Auslagen für frische Butter, Zucker und Milch, wo ich ihm zum Frühstück besorge? – Nehmen Sie etwa an, eine fleißige Frau, wo schwer arbeiten tut und schon zwanzig Jahre in diese Straße gewohnt hat – zehn Jahre auf die andre Seite und neundreiviertel Jahr in dies Haus hier –, hat weiter nichts zu tun, als sich für Tagediebe totzurackern, wo dauernd bloß rauchen und saufen und Maulaffen feilhalten, anstatt sich ’ne Beschäftigung zu suchen, damit sie ihre Rechnungen bezahlen können? Nehmen Sie etwa …“

„Aber liebe Frau“, unterbrach Mr. Benjamin Allen begütigend.

„Sind Sie so gut und behalten Sie Ihre Bemerkungen für sich, ja“, rief Mrs. Raddle, bremste plötzlich den mitreißenden Schwung ihrer Rede ab und wandte sich mit eindrucksvoller Gemessenheit und Feierlichkeit an den Sprecher. „Ich bin mir gar nicht die Sache bewußt, Sir, daß Sie irgendwie berechtigt sind, eine Anrede an mir zu richten. Soviel ich weiß, habe ich das Zimmer nicht an Ihnen vermietet, Sir.“

„Nein, das haben Sie freilich nicht“, gab Mr. Benjamin Allen zu.

„Na also“, erwiderte Mrs. Raddle voll stolzer Höflichkeit, „dann begnügen Sie sich vielleicht am besten damit, den armen Leuten in den Spitälern Arme und Beine zu knacken und den Dreck vor Ihre eigene Tür wegzufegen, sonst könnten sich Leute finden, wo Ihnen daran erinnern möchten.“

„Sie sind aber wirklich sehr unvernünftig“, wandte Mr. Benjamin Allen ein.

„Gestatten Sie mal, junger Mann“, sagte Mrs. Raddle noch lauter und nachdrücklicher, „war die Bemerkung etwa auf meine Person gerichtet?“ „Sie war; na und?“ sagte Mr. Benjamin Allen.

„Haben Sie das auf mir gemeint, frage ich Ihnen, Sir?“ schrie Mrs. Raddle, deren Zorn nun. in Weißglut geraten war, und riß die Tür weit auf. „Aber ja, natürlich“, erwiderte Mr. Benjamin Allen.

„Ja, natürlich!“ schrie Mrs. Raddle so laut wie möglich, damit Mr. Raddle in der Küche alles hören konnte. „Ja, natürlich haben Sie das getan! Es weiß ja auch jeder, daß man mich in meinem eigenen Hause ungestraft beleidigen tut, weil mein Mann ganz ruhig unten schnarcht und sich nich mehr um mir kümmern tut wie um ein‘ Straßenköter. Er sollte sich was schämen“, schluchzte Mrs. Raddle, „daß er seine Frau so behandeln läßt, und dazu noch von ein paar junge Menschen, wo die Leute lebendig zerschneiden und zermetzgern tun und bloß Schimpf und Schande für das Haus sind. So ein niederträchtiger, lumpiger, feiger Kerl! Traut sich nicht, raufzukommen und die unverschämten Burschen zu zeigen … Traut sich nicht … Traut sich nicht zu kommen!“

Einen Augenblick hielt Mrs. Raddle inne, um zu horchen, ob die Wiederholung dieser Aufforderung ihre stärkere Hälfte aufgestachelt habe; als sie aber sah, daß sie erfolglos blieb, ging sie unter zahllosem Schluchzen und Seufzen die Treppe hinab, wo man jetzt ein lautes wiederholtes Klopfen am Haustor vernahm. Dann brach sie in ein hysterisches Weinen und jammervolles Geächze und Gewimmer aus, warf in „Ja“, sagte das Mädchen. „Im ersten Stock; die erste Tür, wenn Sie die Treppe raufkommen.“

Dann verschwand das Mädchen, das unter den Ureinwohnern Southwarks aufgewachsen war, mit dem Licht in der Hand nach der Küche hin, vollkommen mit sich selbst zufrieden, da sie alles getan zu haben glaubte, was unter diesen Umständen von ihr verlangt werden konnte.

Mr. Snodgraß, der zuletzt eintrat, verschloß die Tür nach mehreren vergeblichen Versuchen durch Vorziehen der Kette und stolperte mit Mr. Pickwick die Treppe hinauf, wo sie von Mr. Bob Sawyer empfangen wurden, der sich aus Angst, Mrs. Raddle möchte ihm den Weg verlegen, nicht heruntergewagt hatte.

„Wie geht es Ihnen?“ fragte der Student ein wenig verstört. „Sehr erfreut, Sie zu sehen – Achtung, Gläser!“

Die Warnung galt Mr. Pickwick, der seinen Hut auf den Tisch gestellt hatte.

„Ah, Pardon“, entschuldigte sich Mr. Pickwick.

„Hat nichts zu sagen“, erwiderte Bob Sawyer. „Ich bin im Räume etwas beschränkt; aber man muß überall Nachsicht haben, wenn man zu einem Junggesellen kommt. Bitte, treten Sie ein. Diesen Herrn da kennen Sie wohl schon?“

Mr. Pickwick drückte Mr. Benjamin Allen die Hand und seine Freunde folgten seinem Beispiel. Sie hatten sich kaum gesetzt, als man abermals ein Doppelklopfen vernahm.

„Das wird hoffentlich Jack Hopkins sein“, sagte Bob Sawyer. „Ja, er ist’s. Nur herauf, Jack, herauf!“

Man hörte schwere Fußtritte auf der Treppe, und Jack Hopkins trat ein. Er trug eine schwarze Samtweste mit Donner-und-Blitz-Knöpfen und ein blaugestreiftes Hemd mit einem falschen weißen Kragen.

„Warum so spät, Jack?“ fragte Benjamin Allen.

„Wurde im Spital aufgehalten“, erwiderte Hopkins.

„Was gibt’s Neues?“

„Nichts von Belang; aber es war ein ganz eigentümlicher Fall.“

„Darf man Näheres wissen, Sir?“ fragte Mr. Pickwick.

„Es ist ein Mann vom vierten Stockwerk aus dem Fenster gestürzt; aber es ist ein schöner Fall, wirklich ein sehr schöner Fall.“

„Meinen Sie damit, daß der Kranke Hoffnung habe, wieder aufzukommen?“

„Nein“, entgegnete Hopkins gleichgültig, „im Gegenteil, ich bezweifle es sehr. Aber morgen muß eine glänzende Operation stattfinden, ein famoser Anblick, wenn Slasher sie vornimmt.“

„Sie halten also Mr. Slasher für einen geschickten Operateur?“ fragte Mr. Pickwick.

„Es lebt kein besserer auf Erden. In der letzten Woche hat er einem Knaben das Bein abgenommen, der dabei fünf Äpfel und einen Pfefferkuchen aß. Und zwei Minuten, nachdem alles vorüber war, sagte der Junge, er liege nicht da, um sich zum Narren halten zu lassen, und wenn sie nicht bald anfingen, so werde er es seiner Mutter sagen.“

„Wirklich?“ staunte Mr. Pickwick.

„Oh, das ist noch gar nichts“, versetzte Jack Hopkins. „Was, Bob?“

„Ganz und gar nichts“, bekräftigte Mr. Bob Sawyer.

„Beiläufig gesagt“, fuhr Hopkins mit einem kaum bemerkbaren Seitenblick auf Mr. Pickwicks aufmerksames Gesicht fort, „gestern abend wurde ein Kind gebracht, das eine Halskette verschluckt hatte.“

„Was verschluckt, Sir?“ unterbrach Mr. Pickwick.

„Eine Halskette. Es versteht sich: nicht auf einmal, denn das wäre zuviel gewesen – Sie selbst könnten keine verschlucken, viel weniger ein Kind. – Habe ich nicht recht, Mr. Pickwick? Haha!“ – Mr. Hopkins schien an seinem Witz großen Gefallen zu finden und fuhr fort:

„Die Sache war so. Die Eltern des Kindes sind arme Leute und wohnen auf einem Hof. Das älteste Mädchen kaufte sich eine Halskette – eine gewöhnliche Halskette mit großen schwarzen Holzperlen. Das Kind hat seine Freude daran, versteckt die Halskette, spielt damit, zerreißt die Schnur und verschluckt eine Perle. Das machte ihm einen Hauptspaß; es macht sich am folgenden Tage wieder daran und verschluckt eine zweite Perle.“

„Meiner Seel“, rief Mr. Pickwick, „das ist ja etwas Erschreckliches. Doch entschuldigen Sie meine Unterbrechung, Sir, und erzählen Sie uns weiter.“

„Am Tage darauf verschluckte das Kind zwei Perlen, am vierten drei und so fort, bis es in einer Woche das ganze Halsband, bestehend aus fünfundzwanzig Perlen, im Leibe hatte. Die Schwester, ein fleißiges Mädchen, die sich nur selten ein bißchen Putz anschaffte, weinte sich fast die Augen aus über den Verlust der Kette und durchsuchte das Haus von oben bis unten; aber ich brauche wohl nicht zusagen, daß sie sie nicht fand. Einige Tage darauf sitzt die Familie beim Mittagessen um eine gebackne Hammelkeule mit Kartoffeln herum, und das Kind spielt im Zimmer. Auf einmal hört man einen verteufelten Lärm, wie einen kleinen Hagelsturm. ,Lärm doch nicht so, Junge‘, sagte der Vater. ,Ich tue ja nichts‘, antwortete das Kind. ,Nun gut, bleib nur ruhig‘, ermahnte der Vater. – Einige Zeit war alles still, aber auf einmal begann der Lärm aufs neue, ärger als zuvor. ,Wenn du nicht folgst, Junge‘, sagte der Vater, ,mußt du augenblicklich ins Bett.‘ Dabei schüttelte er das Kind, und nun erfolgte ein Gerassel, wie noch nie jemand eins gehört hatte. ,Gott straf mich‘, sagte der Vater, ,mit dem Jungen, ist etwas los; es muß ihm das Kreuz locker geworden sein.‘ – ,Ach nein, Vater‘, schluchzte das Kind und fing an zu weinen, ,ich hab doch die Kette verschluckt.‘ Natürlich nahm der Vater schnell das Kleine und rannte damit ins Spital; die Perlen in seinem Magen rasselten bei der schnellen Bewegung dermaßen, daß die Leute bald in die Luft hinauf-, bald in die Keller hinabsahen, um diesem ungewöhnlichen Geräusch auf die Spur zu kommen. – Das Kind ist noch im Spital“, fügte Jack Hopkins hinzu, „und macht beim Gehen einen so teufelsmäßigen Lärm, daß man es in einen großen Mantel wickeln mußte, damit die übrigen Patienten nicht aus dem Schlaf geweckt würden.“

„Das ist wahrhaftig der außerordentlichste Fall, von dem ich ja gehört habe“, rief Mr. Pickwick mit einem Schlag auf den Tisch.

„Ach Gott“, erwiderte Jack Hopkins, „das will weiter noch nicht viel heißen, was, Bob?“

„Allerdings nicht“, bekräftigte Mr. Bob Sawyer. „Bei unserm Geschäft kommen höchst seltsame Dinge vor, das kann ich Ihnen versichern.“ „Das glaube ich recht gern“, erwiderte Mr. Pickwick.

Ein neues Klopfen an die Tür verkündete das Kommen eines dickköpfigen jungen Mannes mit einem schwarzen Haarwust in Begleitung eines hagern, mit Skorbut behafteten Jünglings. Der nächste Gast war ein Herr, der ein mit kleinen goldnen Ankern geschmücktes Hemd trug, und unmittelbar auf diesen folgte ein blasser Jüngling mit einer plattierten Uhrkette. Die Ankunft eines geckenhaften Burschen mit auffallend saubrer Wäsche und Tuchstiefeln machte die Gesellschaft vollzählig. Der kleine grüne Spieltisch wurde auseinandergezogen, die erste Punschauflage in einem gewaltigen Humpen herbeigebracht und die ersten drei Stunden dem edlen „Siebzehn und vier“, das Dutzend Marken zu sechs Pence, gewidmet – nur ein einziges Mal unterbrochen durch einen kleinen Streit zwischen dem skorbutischen Jüngling und dem Herrn mit den vergoldeten Ankern, wobei der skorbutische Jüngling das glühende Verlangen ausdrückte, dem Herrn mit den Sinnbildern der Hoffnung die Nase einzuschlagen, dieser aber mit großer Entschiedenheit 2u verstehen gab, er lasse sich unter keinen Umständen etwas gefallen, weder von dem zornigen jungen Herrlein mit dem skorbutischen Gesicht noch von sonst irgendeinem Menschen, der einen Kopf auf den Schultern habe.

Als die letzte Runde gemacht und Gewinn und Verlust zur allgemeinen Zufriedenheit festgestellt waren, klingelte Mr. Bob Sawyer nach dem Abendessen, und seine Gäste drückten sich in die verschiedenen Stubenecken, bis es aufgetragen sein würde.

Dies ging indes nicht so schnell, wie man hätte glauben sollen. Vor allem mußte man das Dienstmädchen wecken, das, mit dem Kopf auf dem Küchentisch liegend, eingeschlafen war. Dadurch ging schon einige Zeit verloren, und selbst als sie endlich auf das wiederholte Klingeln erschien, wurde noch eine Viertelstunde mit fruchtlosen Bemühungen zugebracht, ihr einen schwachen Begriff von ihrer Pflicht beizubringen. Dem Mann, bei dem man die Austern bestellt, hatte man nicht gesagt, daß er sie auch öffnen solle; und da es sehr schwer ist, eine Auster mit einem schwachen Messer oder einer zweizinkigen Gabel zu öffnen, so ging die Sache hart und langsam. Das Ochsenfleisch war auch nicht zum besten ausgefallen, und die Hammelkeule, aus dem deutschen Wurstladen an der Ecke geholt, verdiente gleichfalls kein sonderliches Lob. Dagegen war in einer zinnernen Kanne eine Menge Porter vorhanden, und der Käse fand großen Beifall, da er sehr pikant war. So war denn das Essen im großen und ganzen vielleicht gerade so gut, wie es in solchen Fällen überhaupt zu sein pflegt.

Nach Tisch wurde abermals Punsch nebst mehreren andern Flaschen mit geistigen Getränken und ein Teller mit Zigarren hereingebracht. Der Anblick der Gläser erhob Bob Sawyer wieder auf einen Grad von Zuversicht, den er seit seiner Unterhaltung mit der Hausfrau nicht besessen hatte. Sein Gesicht heiterte sich auf, und es wurde ihm wieder ganz wirtshäuslich zumute.

„Jetzt, Betsy“, sagte er sehr freundlich und verteilte den‘ ungeordneten Haufen Gläser, den das Mädchen mitten auf dem Tisch abgeladen hatte, „jetzt, Betsy, bring das warme Wasser und tummle dich ein wenig, liebes Kind.“

„Sie können kein warmes Wasser haben“, erklärte Betsy.

„Kein warmes Wasser?“ rief Mr. Bob Sawyer.

„Nein“, sagte das Mädchen mit einem Kopfschütteln, das den höchsten Grad der Verneinung ausdrückte, „Mrs. Raddle hat gesagt, Sie dürfen keins nich kriegen.“

Das Erstaunen, das sich auf den Gesichtern seiner Gäste abzeichnete, flößte Bob Sawyer Mut ein.

„Bring sofort das warme Wasser! – Sofort!“ befahl er mit verzweifelter Strenge.

„Nein. Kann ich nicht“, erwiderte das Mädchen. „Mrs. Raddle hat das Feuer in der Küche ausgelöscht, bevor sie ins Bett ging, und den Kessel eingeschlossen.“

„Tut nichts, tut nichts. Beunruhigen Sie sich doch nicht wegen einer solchen Kleinigkeit“, tröstete Mr. Pickwick, der den Konflikt der auf Bob Sawyers Angesicht sich spiegelnden Leidenschaften wohl bemerkte, „kaltes Wasser ist auch sehr gut.“

„Gewiß ja“, fügte Mr. Benjamin Allen hinzu.

„Meine Hausfrau hat zuweilen Anfälle von Geistesabwesenheit“, entschuldigte sich Bob Sawyer mit einem gezwungenen Lächeln. „Ich fürchte, ich muß ihr die Wohnung aufkündigen.“

„Tu das lieber nicht“, riet Ben Allen.

„Ich werde wohl müssen“, erwiderte Bob mit heroischer Festigkeit. „Ich will ihr morgen meine Rechnung bezahlen und auf übermorgen aufkündigen.“

Der arme Bursche. Wie sehnlich wünschte er, es nur wirklich auch ausführen zu können.

Mr. Bob Sawyers herzzerbrechende Bemühungen, sich von diesem Schlage zu erholen, übten einen entmutigenden Einfluß auf die Gesellschaft, und der größere Teil suchte seine Heiterkeit dadurch wiederzugewinnen, daß er dem kalten Branntwein mit Wasser so fleißig wie möglich zusprach. Die ersten sichtbaren Wirkungen davon zeigten sich in einer Erneuerung der Feindseligkeiten zwischen dem skorbutischen Jüngling und dem Herrn mit den vergoldeten Ankern. Die beiden kriegführenden Parteien machten ihren Gefühlen gegenseitiger Verachtung eine Zeitlang durch provozierendes Stirnrunzeln und höhnisches Naserümpfen Luft, bis zuletzt der skorbutische Jüngling es für nötig fand, sich deutlicher zu erklären, worauf denn folgende unzweideutige Auseinandersetzung stattfand.

„Sawyer!“ rief der skorbutische Jüngling mit lauter Stimme.

„Was gibt’s, Noddy?“ fragte Bob Sawyer.

„Es tut mir sehr leid, Sawyer, am Tisch eines Freundes, und besonders an dem deinigen, Sawyer, eine Störung zu veranlassen, allein ich muß diese Gelegenheit ergreifen, um Mr. Gunter zu sagen, daß er kein Gentleman ist.“

„Und mir“, fiel Mr. Gunter ein, „mir würde es sehr leid tun, Sawyer, in deiner Straße eine Störung zu verursachen; allein ich fürchte, ich werde mich in die Notwendigkeit versetzt sehen, die Nachbarschaft zu beunruhigen, indem ich den Menschen, der soeben gesprochen hat, zum Fenster hinauswerfe.“

„Was meinen Sie damit, Sir?“ fragte Mr. Noddy.

„Nichts andres, als was ich gesagt habe.“

„Dann möchte ich doch sehen, wie Sie es anstellen, Sir“, höhnte Mr. Noddy.

„Sie werden es in einer halben Minute fühlen, Sir!“

„Ich bitte um Ihre Karte“, sagte Mr. Noddy.

„Gebe ich Ihnen nicht, mein Herr.“

„Warum nicht, Sir?“

„Weil Sie sie an Ihren Spiegel stecken und dadurch Leute, die Sie besuchen, auf den falschen Glauben bringen würden, es sei ein Gentleman bei Ihnen gewesen, Sir.“

„Sir, ich werde morgen früh einen meiner Freunde zu Ihnen schicken“, sagte Mr. Noddy.

„Ich bin Ihnen für diese Mitteilung sehr verbunden, Sir. Ich werde meinem Dienstmädchen jedenfalls einschärfen, die Löffel einzuschließen“, erwiderte Mr. Gunter.

Jetzt legten sich die übrigen Gäste ins Mittel und machten beide Teile auf die Unziemlichkeit ihres Benehmens aufmerksam, worauf schließlich Mr. Noddy um Erlaubnis bat, versichern zu dürfen, daß sein Vater ein ebenso ehrenwerter Mann gewesen sei wie Mr. Gunters Vater, und Mr. Gunter erwiderte, sein Vater sei in jeder Beziehung so respektabel gewesen wie Mr. Noddys Vater, und seines Vaters Sohn sei alle sieben Tage in der Woche ein ebenso rechtschaffener Mensch wie Mr. Noddy. Da diese Äußerungen als Vorspiel zur Erneuerung der Feindseligkeiten betrachtet wurden, mischte sich die Gesellschaft zum zweiten Male ein, und nun entstand ein heftiges Hinundherreden und Gelärme, in dessen Verlauf Mr. Noddy sich allmählich von seinen Gefühlen überwältigen ließ und laut bekannte, er habe von jeher aufrichtige Neigung für Mr. Gunter gehegt. Mr. Gunter erwiderte, Mr. Noddy sei ihm lieber als der eigne Bruder, und als Mr. Noddy dies Geständnis vernahm, stand er großmütig von seinem Sitz auf und bot seinem Widersacher die Hand. Mr. Gunter ergriff sie mit liebevoller Wärme, und alle waren einstimmig der Meinung, der Streit sei auf eine Art geführt worden, die beiden Teilen zu hoher Ehre gereiche.

„Um aber jetzt wieder recht ins Geleise zu kommen, Bob“, schlug Jack Hopkins vor, „so dächte ich, wir singen ein Liedchen.“ Und unter stürmischem Applaus stimmte er das „Gott erhalte unsern König“ an, so laut er konnte zwar, aber nach einer ganz neuen und nicht recht darauf passenden Melodie. Der Chor war geradezu hervorragend, und da jeder der Herren nach der ihm geläufigsten Melodie sang, war die Wirkung hinreißend.

Nach der ersten Strophe erhob Mr. Pickwick lauschend die Hand und sagte: „Ich bitte um Entschuldigung, aber ich glaube, es hat unten jemand gerufen.“

Sofort trat allgemeine Stille ein, und Mr. Bob Sawyer erbleichte sichtlich.

„Ich glaube, ich höre es wieder. Haben Sie doch die Güte, die Tür zu öffnen.“

„Mr. Sawyer! Mr. Sawyer!“ kreischte jetzt deutlich eine Stimme von unten herauf.

„Es ist meine Hausfrau“, erklärte Bob Sawyer, in großer Verlegenheit um sich blickend. „Ja, Mrs. Raddle?“

„Was soll das heißen, Mr. Sawyer?!“ zeterte die gellende Stimme. „Ist es nicht genug, daß man um seinen Hauszins und um die baren Auslagen geprellt und von Ihren Freunden, wo doch Männer von Bildung sein wollen, beschimpft und mißbraucht wird? Mir scheint, Sie wollen auch noch das Haus einreißen und machen um zwei Uhr früh ein‘ Spektakel, daß man mit der Feuerspritze angefahren kommen möchte. – Augenblicklich schicken Sie mir die sauberen Brüder weg!“

„Sie sollten sich vor Ihnen selbst schämen“, erschallte jetzt aus weiter Ferne auch die Stimme Mr. Raddles – wie es schien, unter einer Bettdecke hervor.

„Nein, du sollst dich was schämen“, schrie Mrs. Raddle, „was gehst du nicht rauf und schmeißt sie alle mitsamt die Treppe runter? Wenn du ’n Kerl wärest, würdest du es machen.“

„Ja, wenn ich noch ein Dutzend bei mir hätte, mein Schatz“, erwiderte Mr. Raddle friedfertig, „aber so sind sie mir zahlenmäßig überlegen.“

„Pfui, du Memme“, hörte man Mrs. Raddle mit abgründiger Verachtung sagen. „Wollen Sie das Pack jetzt wegjagen oder nicht, Mr. Sawyer?“

„Die Herren gehen ja schon, Mrs. Raddle“, besänftigte der erbarmungswürdige Bob und wandte sich an seine Freunde: „Ich dächte, es wäre am besten, Sie gingen jetzt. Ich dachte mir gleich, daß Sie zuviel Lärm gemacht haben.“

„Trauriger Fall“, sagte der Geck. „Es wurde doch grade so ’n bißchen gemütlich. Man sollte sich das nicht gefallen lassen. Es ist eigentlich allerhand.“

„Ja, allerhand“, stimmte Jack Hopkins ein, „wir wollen wenigstens noch eine Strophe singen, Bob. Los, feste!“

„Nein, nein, Jack“, fiel Bob Sawyer ängstlich ein. „Das Lied ist zwar wundervoll, aber ich fürchte, es wäre wirklich besser, wenn wir den nächsten Vers nicht singen würden. Die Leute im Hause sind schrecklich grob.“

„Soll ich vielleicht mal die Treppe runtergehen und den Hauswirt in die Mache nehmen?“ erkundigte sich Hopkins, „oder „n bißchen Klingelkonzert machen oder auch ’n bißchen Skandal auf der Treppe? Du brauchst nur zu befehlen, Bob.“

„Ich bin dir von Herzen verbunden für deine Freundschaft und Gutmütigkeit, Hopkins“, sagte der arme Mr. Bob Sawyer, „aber ich denke, wir vermeiden allen weiteren Krach am besten, wenn wir sofort Schluß machen.“

„Na, Mr. Sawyer!“ keifte Mrs. Raddles gellende Stimme wieder, „wann geht denn die Bande endlich?“

„Sie suchen doch bloß noch ihre Hüte, Mrs. Raddle“, besänftigte Bob, „sie gehen ja schon.“

„Gehen schon?“ sagte Mrs. Raddle und erschien im Schmuck einer Nachtmütze, als Mr. Pickwick, gefolgt von Mr. Tupman, eben das Zimmer verließ. „Gehen schon? Was haben die überhaupt hier zu tun gehabt?“

„Meine teure Madam“, begütigte Mr. Pickwick und blickte auf.

„Machen Sie, daß Sie rauskommen, Sie alter Saufbruder“ erwiderte Mrs. Raddle und zupfte ihre Nachthaube schnell wieder herunter. „Sie sind ja alt genug, um der Großvater V0n der Bande zu sein, Sie sind der Schlimmste von allen.“

Mr. Pickwick hielt es für vergebliche Mühe, seine Unschuld zu beteuern, und rannte die Treppe hinab auf die Straße, wohin ihm die Herren Tupman, Winkle und Snodgraß auf dem Fuße nachfolgten. Mr. Ben Allen, den das Trinkgelage und die verschiedenen Auftritte gewaltig angegriffen hatten, begleitete sie bis zur Londoner Brücke und vertraute unterwegs Mr. Winkle als einem Mann von anerkannter Verschwiegenheit an, daß er entschlossen sei, außer Bob Sawyer jeden, der es wagen würde, sich um die Neigung seiner Schwester Arabella zu bewerben, die Kehle durchzuschneiden. Nachdem er seine Entschlossenheit, diese peinliche Bruderpflicht zu erfüllen, noch auf angemessene Weise bekräftigt hatte, brach er in Tränen aus, stülpte sich den Hut bis über die Augen herab, klopfte zu wiederholten Malen an verschiedenen Haustoren von Borough Market an und schlummerte abwechselnd hie und da auf den Treppen bis Tagesanbruch, in der festen Meinung, er wohne hier und habe nur seine Schlüssel vergessen.

Als sich so die Gäste auf die dringende Aufforderung Mrs. Raddles alle entfernt hatten, blieb der unglückliche Bob Sawyer allein zurück und dachte noch lange nach über die wahrscheinlichen Ereignisse des morgigen Tages sowie über die Vergnügungen des Abends.

Zweiunddreißigstes Kapitel


Zweiunddreißigstes Kapitel

Mr. Weller senior macht einige kritische Bemerkungen über Briefstellerei und Poesie und übt mit Hilfe seines Sohnes Samuel eine kleine Wiedervergeltung an dem hochwürdigen Herrn mit der roten Nase.

Am Morgen des dreizehnten Februar, der dem Tag, an dem der Prozeß Mrs. Bardells verhandelt werden sollte, vorausging, hatte Mr. Samuel Weller alle Hände voll zu tun, denn er mußte unaufhörlich von morgens neun Uhr bis mit tags um zwei von dem „Georg und Geier“ nach der Wohnung Mr. Perkers und wieder zurück gehen und kleine Briefe abgeben, in denen Mr. Pickwick, außer sich vor Unruhe seinem Anwalt unaufhörlich die Frage schrieb: „Lieber Perker, steht alles gut?“ Prompt antwortete Mr. Perker jedesmal: „Lieber Pickwick, den Umständen angemessen“, denn es ließ sich nicht gut etwas anderes berichten, ehe nicht die Sitzung des Gerichtshofes am folgenden Morgen vorüber war.

Sam hatte sich mittags mit einem sehr angenehmen kleinen Mahl erquickt und wartete in der Schenkstube auf das warme Getränk, mit dem er sich Mr. Pickwicks Weisung gemäß nach den Mühseligkeiten seiner Morgenwanderung stärken sollte, als ein junger Bursche von etwa drei Fuß Höhe, dessen Fellmütze und Barchent-Überhosen, ebenso wie seine ganze übrige Kleidung den lobenswerten Ehrgeiz verrieten, sich mit der Zeit zur Würde eines Stallknechts aufzuschwingen, in dem Hausflur des „Georg und Geier“ nach ihm verlangte.

„Was, ’n alter Herr hat nach mir gefragt?“ knurrte Sam mit tiefer Verachtung.

„Der Herr, wo die Postkutsche nach Ipswich fährt und bei uns absteigt“, erwiderte der Junge. „Er sagte gestern morgen zu mir, ich soll heute mittag in den ,Georg und Geier‘ gehen und nach Sam fragen.“

„Das is mein Vater, Schätzchen“, erklärte Mr. Weller mit einem erläuternden Blick der jungen Dame in der Schenkstube, „ich glaube wahrhaftig, er weiß meinen Familiennamen nich mehr. Na, und was will er denn von mir, du junger Frechdachs?“

„Na“, erwiderte der Junge, „Sie sollen heute abend um sechs in unser Haus kommen; er will Sie da treffen – ,Blauer Eber‘ auf dem Leadenhall Market. Soll ich ihm sagen, daß Sie kommen?“

„Ja, Sie können das melden, Sir“, erwiderte Sam, und der junge Gentleman entfernte sich, indem er sämtliche Echos in George Yard durch verschiedene diskrete und äußerst korrekte Nachahmungen von Kutscherliedern aufweckte, die er mit klangvollem Tone pfiff.

Nachdem Sam Weller Urlaub von Mr. Pickwick erhalten hatte, der in seinem Zustand von Aufregung und Angst gerne allein blieb, machte er sich lange vor der bestimmten Stunde auf den Weg, und da er noch über hinreichend Zeit zu verfügen hatte, schlenderte er nach Mansion House, wo er haltmachte und mit der Ruhe eines Philosophen die zahllosen Kutschen betrachtete, die sich zum großen Schrecken und zur Beunruhigung der vielen alten Damen dieses Viertels an diesem berühmten Sammelplatz einzustellen pflegten. Allda verweilte er etwa ein halbes Stündchen, kehrte dann um und begann durch eine Reihe von Nebenstraßen den Weg nach dem Leadenhall Market einzuschlagen. Da er seine überflüssige Zeit darauf verwandte, bei allen Gegenständen, die sich seinen Blicken darboten, stehenzubleiben und sie zu betrachten, so darf es nicht wundernehmen, daß er auch vor dem Fenster eines kleinen Buch- und Bilderhändlers haltmachte. Auffallend jedoch war, daß er beim Anblick der diversen zum Verkauf ausgesetzten Bilder plötzlich zusammenfuhr, mit dem rechten Fuß heftig auf den Boden stampfte und lebhaft ausrief: „Wahrhaftig, jetzt hätte ich beinahe die ganze Geschichte vergessen. Und denn nachher wäre es zu spät gewesen.“

Das Bild, an dem Sam Wellers Augen hingen, war ein mit starken Farben aufgetragenes Gemälde zweier durch einen Pfeil verbundener Menschenherzen, die auf einem lustigen Feuer gebraten wurden, während ein Kannibale und eine Kannibalin, beide modern gekleidet, der Herr in einem blauen Frack und weißen Beinkleidern, die Dame in einem dunkelroten Schal mit ditofarbigem Sonnenschirm, sich auf einem mit Kies bestreuten Schlangenpfad mit hungrigen Augen dem Mahl näherten. Ein entschieden unanständig mit ein paar Flügeln und sonst weiter nichts bekleideter junger Herr besorgte das Kochen. In einiger Entfernung erblickte man den Kirchturm von Langham Place, und das Ganze stellte einen Liebesbriefsteller vor, wovon, laut der geschriebenen Ankündigung im Fenster, hier ein großes Lager vorrätig war, das der Buchhändler an seine Landsleute stückweise zu dem herabgesetzten Preis von einem Schilling und sechs Pence zu verkaufen sich anheischig machte.

„Ich hätte es vergessen, wahrhaftig, ich hätte es vergessen“ murmelte Sam, ging sogleich in den Laden und verlangte einen Bogen feines Briefpapier mit goldenem Rand nebst einer hartgeschnittenen Feder, die aber nicht spritzen dürfe, und ging, nachdem er diese Artikel schnell erhalten, beschwingten Schrittes nach dem Leadenhall Market. Hier sah er sich um und erblickte ein Schild, auf dem die Kunst des Malers etwas dargestellt hatte, was eine entfernte Ähnlichkeit mit einem himmelblauen Elefanten darbot, der statt des Rüssels eine Adlernase besaß. Da er daraus mit Recht schloß, dies sei der „Blaue Eber“, trat er in das Haus und fragte nach seinem Vater.

„Er wird erst in drei viertel Stunden oder noch später kommen“, sagte die junge Dame, die den häuslichen Geschäften des „Blauen Ebers“ vorstand.

„Sehr wohl, mein Schätzchen“, erwiderte Sam. „Haben Sie inzwischen die Güte, mir für neun Pence Brandy mit Wasser und zugleich das Schreibzeug zu geben.“

Das Verlangte wurde sogleich in das kleine Gastzimmer gebracht, und nachdem die junge Dame die Kohlen sorgfältig zusammengedrückt hatte, damit sie nicht zu hell lodern sollten, nahm sie das Schüreisen mit, um der Möglichkeit vorzubeugen, daß ohne vorher eingeholte Mitwisserschaft und Erlaubnis des „Blauen Ebers“ das Feuer wieder mehr angefacht würde. Sam Weller setzte sich an einen Tisch nahe am Kamin, zog sein goldgerändertes Briefpapier nebst der hartgeschnittenen Feder aus der Tasche, betrachtete sie sorgfältig, ob sie nicht vielleicht ein Haar in der Spalte habe, blies den Tisch ab, um keine Brotkrumen unter das Papier zu bekommen, schlug seine Rockärmel zurück, legte seine Ellenbogen auf und schickte sich an zu schreiben.

Für die Damen und Herren, die sich in der Wissenschaft der Federführung keine praktischen Kenntnisse erworben haben, ist das Briefschreiben keineswegs eine leichte Aufgabe. Sie halten es in solchen Fällen für unumgänglich notwendig, den Kopf auf den linken Ami niederzubeugen, so daß die Augen möglichst in gleicher Höhe mit dem Papier liegen, und, während Seitenblicke auf die eben entstehenden Buchstaben fallen, die Zunge die entsprechenden Laute nachsprechen zu lassen. So zweckmäßig und förderlich diese Maßnahmen auch unbestreitbar für originelle Kompositionen sein mögen, so verzögern sie doch die Geschwindigkeit beim Schreiben einigermaßen, und Sam hatte, ohne es zu merken, schon volle anderthalb Stunden geschrieben, wobei er häufig mißratene Buchstaben mit seinem kleinen Finger auslöschte und neue an ihre Stelle setzte, wobei oft große Nachhilfe nötig war, um sie durch die alten Flecken hindurch sichtbar zu machen, als er auf einmal durch das Aufgehen der Tür und den Eintritt seines Vaters unterbrochen wurde.

„Na, Sammy!“ rief Mr. Weller senior.

„Na, alte biedere Haut!“ antwortete der Sohn und legte die Feder weg. „Wie is es mit der Stiefmutter? Wie lautet die neueste Bekanntmachung?“ „Mrs. Weller verbrachte ’ne recht gute Nacht; aber sie is heute morgen vollkommen verdreht und launisch; unterzeichnet: S- Weller, Hochwohlgeboren senior. Das is die letzte Nachricht, wo ausgegeben wurde, Sammy“, antwortete Mr. Weller und knotete sein Halstuch auf.

„Also noch nich besser?“ forschte Sam.

„Ach was, alle Anzeichen haben sich verschlimmert“, entgegnete Mr. Weller kopfschüttelnd. „Aber was treibst du da? Womöglich wissenschaftliche Beschäftigung unter erschwerende Umstände, Sammy?“

„Ich bin schon fertig“, sagte Sam etwas verlegen, „hab da bloß was geschrieben.“

„Das sehe ich“, erwiderte Mr. Weller, „aber doch nich etwa an ’n junges Frauenzimmer, Sammy, will ich doch hoffen?“

„Warum soll ich es nich sagen?“ versetzte Sam. „Es is ’n Liebesbrief.“

„Was is es?“ rief Mr. Weller, offensichtlich starr vor Entsetzen über dieses Wort.

„’n Liebesbrief“, wiederholte Sam.

„Samuel, Samuel!“ sagte Mr. Weller in vorwurfsvollem Ton, „das hätte ich nicht von dir erwartet. Wo dir doch die lästerliche Neigung deines Vaters hätte warnen müssen, wo ich dir so viel über diese Sache gesagt habe, wo du sogar selber deine Stiefmutter gesehen hast und mit ihr zusammen gewesen bist, da würde ich doch annehmen, das mußte dir eine moralische Lehre sein, wo niemand vergessen kann. Bis zu seinem letzten Tage nich! Das hätte ich nicht erwartet Sammy, das hätte ich nicht erwartet, daß du so was machen würdest!“ Der gute alte Mann wurde von seinen eigenen Betrachtungen überwältigt; er führte Sams Krug an seine Lippen und trank ihn aus.

„Na, was is denn dabei?“ sagte Sam.

„Jedenfalls, Sammy“, erwiderte Mr. Weller, „wird es mir auf meine alten Tage ein schwerer Kummer sein. Aber ich bin ja zum Glück schon ziemlich zähe geworden, und das ist mein Trost, wie der alte Puter sagte, als der Pächter meinte, er wollte ihn für den Markt schlachten.“

„Was wird dir Kummer machen?“ erkundigte sich Sam.

„Wenn ich dir verheiratet sehen werde, Sammy, wenn ich dir als betörtes Schlachtopfer erblicken muß“, erwiderte Mr. Weller, „wo obendrein noch in seiner unschuldigen Dummheit glaubt, daß es glücklich wird. Ach, Sammy, das is ’n schrecklicher Kummer für ’n Vaterherz.“ „Unsinn!“ sagte Sam. „Ich will mir doch gar nich verheiraten. Mach dir keine Sorgen deswegen; ich weiß doch, daß du in solchen Sachen orntlich beschlagen bist. Steck dir ’ne Feife ins Gesicht, und ich will dir den Brief vorlesen.“

Ob es nun die Aussicht auf die Pfeife oder der tröstliche Gedanke war, daß ein Heiratstrieb unwiderstehlich im Blut der Familie stecke, was Mr. Wellers Unruhe beschwichtigte und seinen Kummer verscheuchte, jedenfalls klingelte er, um sich Tabak bringen zu lassen, zog seinen Überrock aus, nahm die Pfeife, stellte sich mit dem Rücken gegen den Kamin, so daß er dessen volle Hitze empfing und sich zugleich an das Kaminsims anlehnen konnte, wandte sich zu Sam und bat ihn mit einer durch den besänftigenden Eindruck des Tabaks um ein Erkleckliches aufgeheiterten Miene um Feuer.

Sam tauchte seine Feder ein, um sich zu allen nötigen Verbesserungen bereit zu halten, und begann mit theatralischem Pathos: “ ,Liebliches …'“

„Halt!“ unterbrach Mr. Weller und klingelte wieder, „’n Doppelglas von dem Bewußten, liebes Kind!“

„Ganz recht, Sir“, erwiderte das Mädchen, das mit großer Schnelligkeit erschien, verschwand, wieder erschien und wieder verschwand.

„Sie scheinen deinen Geschmack hier schon zu kennen“, bemerkte Sam. „Also: ,Liebliches Wesen …'“

„Stürzt du dir etwa in Verse?“ unterbrach der Vater.

„Nein, nein!“ versicherte Sam.

„Das freut mich zu hören. Verse sind was ganz Unnatürliches, kein Mensch redet in Verse, außer den Büttel an Boxtage oder die, wo Warrens Schuhwichse oder Makassaröl ausschreien und anderes Lumpengesindel von der Sorte. Du darfst also nie im Leben so weit runterkommen, mein Sohn, daß du in Verse sprichst.“ – Mr. Weller führte mit kritischer Feierlichkeit seine Pfeife wieder an den Mund, und Sam begann abermals: “ ,Liebliches Wesen, ich fühle mir ganz beschmiert…'“

„Is kein schicklicher Ausdruck“, verwies Mr. Weller und nahm die Pfeife aus dem Mund.

„Ach nein, heißt auch nicht ,beschmiert'“, wandte Sam ein und hielt den Brief ans Licht, „es heißt ,beschämt‘, es is ’n Tintenklecks da – ,ich fühle mir beschämt!‘ „

„Na gut“, brummte Mr. Weller, „weiter!“

“ ,Fühle mir beschämt und gänzlich ver…‘ Da weiß ich schon wieder nich, wie das Wort heißt“, murmelte Sam und kratzte sich in vergeblichen Bemühungen, die Buchstaben zu entziffern, mit der Feder am Kopf.

„Warum liest du nich?“ forschte Mr. Weller.

„Ich lese doch“, antwortete Sam, „aber da is schon wieder so ’n Tintenklecks; ich erkenne bloß ’n v und ’n e.“

„Verloren vielleicht?“ riet Mr. Weller.

„Nö, is es nich. Verzaubert. Das is es!“

„Is aber kein so gutes Wort wie ,verloren‘, Sammy“, wendete Mr. Weller ernsthaft ein.

„Meinst du nich?“

„Mag vielleicht zärtlicher sein“, gab Mr. Weller nach einigem Nachdenken zu. „Lies weiter, Sammy!“

“ ,Fühle mir beschämt und vollständig verzaubert, indem daß ich an Ihnen schreibe, denn Sie sind so ein hübsches Mädchen, wie keine andere nicht.‘ „

„Sehr hübsch gesagt“, meinte Mr. Weller senior und nahm die Pfeife aus dem Mund, um seiner Bemerkung Platz zu machen.

„Ja, ich denke, es is nich übel“, gab Sam zu und fühlte sich höchlichst geschmeichelt.

„Was mir an diese Art Schreibweise besonders gefallen tut“, sagte Mr. Weller senior, „is, daß da keine solche fremden Namen drin vorkommen, keine Venüsse und so was; was kommt dabei raus, Sammy, daß man ein junges Weibsbild Venus oder Engel nennt?“

„Da hast du ganz recht“, erwiderte Sam.

„Ebensogut könntest du sie Vogel Greif oder Einhorn nennen, was doch bekanntlich auch bloß fabelhafte Tiere sind, was?“

„Ganz richtig. – Also: ,Bevor ich Ihnen zu Gesicht bekam, dachte ich, alle Frauenzimmer sind egal…'“

„Das sind sie aber auch“, warf Mr. Weller senior in Parenthese hin.

„, … aber jetzt merke ich erst, was für ein Hornochse ich gewesen bin, denn es gibt kein Frauenzimmer, wo Ihnen gleichen tut, und ich liebe Ihnen mehr, als wie alle andern zusammen.‘ – Ich dachte, es haut am besten hin, wenn ich’s ’n bißchen wuchtig mache“, erklärte Sam aufschauend.

Mr. Weller nickte beifällig.

„,Ich bediene mir also, Mary, mein Schatz, mit dem Prifilegium dieses Tages – wie der verschuldete Schenlmän, als er am Sonntag ausging – um Ihnen zu sagen, daß Ihr Bild sich das erste und einzige Mal, als ich Ihnen sah, schneller und in glänzendere Farben in mein Herzen eindrückte, als wie jemals ein Bild von der Silhouttiermaschine aufgefaßt wurde (Sie haben vielleicht auch schon von gehört, liebste Mary), obgleich dieselbe ein Portreh nebst Rahmen, Glas und Haken zum Aufhängen innerhalb von zweiundeineviertel Minute fix und fertig macht.'“ „Ich habe Sorge, Sammy, das streift schon wieder ans Poetische“, meinte Mr. Weller unschlüssig.

„Ganz und gar nicht“, erwiderte Sam und las schnell weiter, um weitere Erörterungen über diesen Punkt zu vermeiden. „,Nehmen Sie mir als Ihren Fallentin an, schönste, und überlegen Sie, was ich gesagt habe. – Meine teuerste Mary, jetzt will ich schließen.‘ – Das is alles“, setzte er hinzu.

„’n bißchen plötzlich angehalten, Sammy“, meinte Mr. Weller.

„Ach wo“, erklärte Sam. „Sie wird eben wünschen, daß noch mehr kommt, und das is eben die große Kunst beim Briefschreiben.“

„Na gut. Auch nich ohne. Ich wünschte bloß, daß deine Stiefmutter sich in ihre Unterhaltungen nach dasselbe Prinzip richten würde. Aber willst du nich mit Namen unterzeichnen?“

„Das ist doch die Schwierigkeit“, meinte Sam, „ich weiß nich, wie ich unterzeichnen soll.“

„Unterzeichne doch .Weller'“, riet der älteste noch lebende Träger dieses Namens.

„Nicht doch“, sagte Sam, „als Fallentin darf man doch nicht mit dem eigenen Namen unterzeichnen.“

„Na, denn schreib ,Pickwick‘. ’s is ’n sehr hübscher Name und läßt sich auch leicht buchstabieren.“

„Da hast du recht“, sagte Sam. „Da könnte ich auch mit ’nem Vers schließen. Was hältst du davon?“

„Will mir nich recht gefallen, Sam. Habe noch nie ’n ehrenwerten Kutscher kennengelernt, wo in Verse schreiben tat, außer einen einzigen, und der wurde in der Nacht darauf wegen Straßenraubs gehängt, ’s war aber bloß einer aus Camberwell und muß also als Ausnahme angesehen werden.“ Sam ließ sich jedoch von seiner poetischen Idee, die sich in seinem Kopf festgesetzt hatte, nicht mehr abbringen und schrieb unter den Brief:

„Von Liebe krank den Brief ich schick

Ihr guter Freund Pickwick.“

Sodann faltete er das Schreiben auf eine höchst verwickelte Art zusammen und verfertigte in einem schiefen Winkel die Adresse: „An Mary, Dienstmädchen bei Mayor Nupkins, Ipswich, Suffolk“, versiegelte es und steckte es in seine Tasche, um es selbst auf die Post zu tragen. Nachdem dieses ‚Wichtige Geschäft beendet war, brachte Mr. Weller senior die Angelegenheit, deretwegen er seinen Sohn hatte rufen lassen zur Sprache.

„Vor allem, Sammy“, sagte er, „wollen wir von deinem Herrn sprechen. Wird nich sein Prozeß morgen verhandelt werden?“

„Allerdings.“

„Na gut. Ich habe mir nun gedacht, er wird vielleicht ’n paar Zeugen brauchen, damit daß er seinen guten Ruf nachweisen tut, oder vielleicht auch seinen Alibi. Die ganze Geschichte is mir lange im Kopf rumgegangen, aber jetzt kann er ohne Sorgen sein, Sammy. Ich habe ’n paar Freunde parat, die werden beides für ihn beschwören; ich habe bloß noch den Rat für ihn, daß er nich so sehr fest auf seinem guten Ruf bestehen soll, lieber soll er sich mit den Alibi begnügen. Ich versichere dir, Sammy, es geht nichts über einen Alibi.“

Mr. Weller blickte sehr gelehrt drein, als er dieses Rechtsgutachten abgab, begrub seine Nase in dem Humpen und blinzelte über den Rand hinüber seinem erstaunten Sohne zu.

„Was meinst du damit?“ fragte Sam. „Glaubst du vielleicht, sein Prozeß wird in Old Bailey verhandelt?“

„Kommt hier weiter nich in Betracht, Sammy. Die Sache mag abgehandelt werden, wo sie will, ’n Alibi muß seine Freisprechung bewirken. Wir haben Tom Wildpark, der auf Totschlag angeklagt war, mit ’nem Alibi losgekriegt, als alle die gelehrten Perücken, dachten, ihn kann nichts mehr retten. Wenn dein Herr keinen Alibi nich nachweisen kann, denn is er unten durch, wie die Italiener sagen.“

Da Mr. Weller der festen und unabänderlichen Überzeugung war, Old Bailey sei der oberste Gerichtshof des Landes und nach seinen Normen müßten sich alle übrigen richten, so achtete er sehr wenig auf die Versicherungen und Beweisgründe seines Sohnes, der ihm auseinandersetzen wollte, daß ein Alibi hier unzulässig sei, und behauptete mit großer Heftigkeit, in diesem Fall werde Mr. Pickwick „ein Schlachtopfer“. Als Sam sich endlich überzeugt hatte, daß ein weiteres Streiten über diesen Gegenstand doch zu nichts führen würde, brach er davon ab und fragte nach dem zweiten Punkt, über den sein verehrter Vater sich mit ihm zu beraten wünschte.

„Es betrifft die häuslichen Angelegenheiten, Sammy“, sagte Mr. Weller. „Dieser Stiggins da …“

„Der Rotnasige?“

„Ja, derselbe. Dieser rotnasige Schlingel besucht deine Stiefmutter mit ’ner Freundlichkeit und Beharrlichkeit, wo ihresgleichen sucht. Er is ’n solcher Freund unsrer Familie, Sammy, daß es ihm außerhalb unsres Hauses nirgends wohl ist, wofern er nich irgend ’n Andenken an uns hat.“ „An deiner Stelle“, meinte Sam, „würde ich ihm ’n Denkzettel auf ’n Rücken schreiben, den er die nächsten zehn Jahre nich vergessen sollte.“

„Nur nichts übereilen“, wandte Mr. Weller ein, „ich wollte gerade sagen, er bringt jedesmal ’ne Flasche mit, wo so ihre anderthalb Maß enthält, und ehe er geht, füllt er sie mit Ananasgrog.“

„Und wahrscheinlich leert er sie jedesmal, bevor er wiederkommt?“

„Bis auf den letzten Tropfen! Er läßt nich mehr übrig als den Korken und den Geruch. Und diese Halunken wollen heute nacht an der Monatsversammlung von der Bricklane-Abteilung, von den vereinigten großen Ebenezer-Mäßigkeitsvereinen dran teilnehmen. Deine Stiefmutter wollte auch hingehen, Sammy, aber sie hat sich verkühlt und kann nich; na, und da habe ich die beide Einlaßkarten eingesteckt, wo sie ihr geschickt haben.“

Mr. Weller brachte dieses Geheimnis mit großer Fröhlichkeit vor und blinzelte dabei so unermüdlich, daß Sam schon glaubte, er habe einen Krampf im rechten Augenlid.

„Na und?“

„Na und“, fuhr Sams Erzeuger fort und blickte vorsichtig umher, „wir beide wollen heute abend frühzeitig hingehen, und der Vizehirt will nich, Sammy, der Vizehirt will nich.“

Wie von einem Paroxismus ergriffen, fing Mr. Weller aus vollem Halse zu lachen, an und lachte so lange, als es ein ältlicher Herr nur wagen kann, wenn er nicht geradezu ersticken will.

„Sammy“, flüsterte er dann und blickte mit noch größerer Vorsicht um sich, „ich muß dir was erzählen. Zwei von meine Freunde, was auf der Oxfordstreet fahren tun und gerne mal ’n Spaß haben, die haben den Vizehirten ins Schlepptau genommen, und wenn er in den Ebenezer-Verein kommt, denn wird er so voll Grog sein, wie er jemals im ,Marquis von Granby‘ gewesen is, und das will bestimmt allerhand heißen.“

Bei diesen Worten schlug Mr. Weller senior abermals ein unmäßiges Gelächter an und verfiel aufs neue in einen Zustand unvollständiger Erstickung.

Nichts hätte mit Sam „Wellers Gefühlen und Wünschen mehr übereinstimmen können als dieser Plan zur Entlarvung des rotnasigen Heuchlers, und da die Zeit zur Versammlung herannahte, machte er sich mit seinem Vater auf den Weg nach Bricklane; dabei vergaß er natürlich nicht, seinen Brief gelegentlich auf einem Postbüro abzugeben.

Die monatlichen Versammlungen der Bricklane-Abteilung des Vereinigten großen Ebenezer Mäßigkeitsvereins wurden in einem großen freundlich und luftig gelegenen Saal gehalten, in den man vermittels einer sichern und bequemen Leiter leicht gelangen konnte. Präsident war ein gewisser Mr. Anthony Humm, ein bekehrter Spritzenmann, derzeit Schulmeister und gelegentlich Wanderprediger. Das Sekretariat bekleidete Mr. Jonas Mudge, Inhaber eines Kramladens, ein enthusiastisches, uneigennütziges Mitglied, das an die Gesellschaft den Tee verkaufte, denn vor Beginn der Geschäfte pflegten die Damen, auf Bänken sitzend, so lange Tee zu trinken, bis sie nicht mehr konnten, während auf dem mit einem grünen Tuch überzogenen Amtstisch, jedermann weithin sichtbar, eine große hölzerne Geldbüchse stand und hinter ihr der Sekretär, um jeden neuen Zuwachs der darin verborgenen Kupfermünzensammlung mit holdseligem Lächeln zu quittieren.

Dieses Mal tranken die Damen wirklich unglaublich viel Tee, zum großen Abscheu Mr. Wellers senior, der trotz aller warnenden Winke Sams mit dem unverstelltesten Erstaunen nach allen Richtungen umherstarrte.

„Sammy“, flüsterte er, „wenn morgen früh nich mehrere von die Weiber abgezapft werden müssen, denn bin ich nich dein Vater, und damit Punktum. Sieh bloß, die Alte da neben mir ersäuft noch im Tee.“

„Kannst du denn gar nich ruhig sein?“ brummte Sam.

„Sammy“, flüsterte Mr. Weller einen Augenblick später im Ton tiefster Bewegung, „merke dir, was ich jetzt sagen tue: Wenn der Sekretär da bloß noch fünf Minuten so weitermacht, denn muß er vor lauter Butterbrot und Wasser auseinanderplatzen.“

„Na, laß ihn doch, wenn es ihm Spaß macht“, erwiderte Sam, „es geht dir doch nichts an.“

„Wenn das so weitergeht, Sammy“, flüsterte Mr. Weller, der sich gar nicht beruhigen konnte, „denn halte ich es für meine Menschenpflicht, aufzustehen und mir an den Präsidenten zu wenden. Dort auf der dritten Bank, da sitzt ’n junges Frauenzimmer, die hat schon neuneinhalb große Tassen getrunken; die schwillt richtig an, ich seh es ganz deutlich.“

Ohne allen Zweifel hätte Mr. Weller seine wohlwollende Absicht sofort ausgeführt, hätte ihn nicht zum Glück ein großes Geräusch, das durch Abräumen der Tassen und Kannen entstand, daran erinnert, daß die Teezeit vorüber war. Nach Entfernung des Geschirrs wurde der grüne Tisch mitten in den Saal gestellt, und ein sehr lebhafter kleiner Mann mit einem Kahlkopf und lichtbraunen Kniehosen, der hurtig und mit augenscheinlicher Gefahr, seine zwei in besagte lichtbraune Hosen eingeschlossene Schenkelchen zu verlieren, die Leiter erkletterte, eröffnete die Sitzung mit der Ansprache:

„Meine Herren und Damen, ich mache den Vorschlag, daß unser vortrefflicher Bruder, Mr. Anthony Humm, den Präsidentenstuhl einnehme.“

Die Damen ließen auf diesen Vorschlag eine auserlesene Sammlung von Taschentüchern wehen, und der ungestüme kleine Mann beförderte Mr. Humm im buchstäblichen Sinn des Wortes in den Präsidentenstuhl, indem er ihn an den Schultern nahm und in einen alten Mahagonisessel warf.

Mr. Humm, ein Mann mit blassem Gesicht, der sich beständig in Transpiration befand, verbeugte sich holdselig zum großen Entzücken der Damen und waltete sofort mit würdevoller Feierlichkeit seines Amtes. Der kleine Mann in den lichtbraunen Hosen gebot Stillschweigen und las folgendes Dokument vor:

„BERICHT
DES KOMITEES DER BRICKLANE-ABTEILUNG
DES VEREINIGTEN GROSSEN EBENEZER
MÄSSIGKEITSVEREINS

Das Komitee hat im verflossenen Monat seine dankbaren Arbeiten fortgesetzt und kann mit unaussprechlichem Vergnügen folgende neue Bekehrungen zur Mäßigkeit mitteilen:

I. Mr. Walker, Schneider, nebst Frau und zwei Kindern.

Er bekennt, in bessern Umständen täglich Ale und Bier getrunken zu haben, und weiß nicht mit Bestimmtheit anzugeben, ob er nicht seit zwanzig Jahren wöchentlich zweimal ,Hundsnase‘ genossen hat, ein Getränk, das den Nachforschungen unseres Komitees zufolge aus warmem Porter, Farinzucker, Wacholderbranntwein und Muskatnuß gebraut wird. (Stöhnen und Zustimmung im Publikum.) Gegenwärtig ist er ohne Arbeit und ohne Geld und der Ansicht, daß daran der Porter (Beifall) oder der Umstand schuld ist, daß er seine rechte Hand nicht mehr gebrauchen kann. Er ist zwar noch im Zweifel darüber, hält es aber für sehr wahrscheinlich, daß, wenn er in seinem ganzen Leben nichts als Wasser getrunken hätte, sein Geselle ihn nicht mit einer verrosteten Nadel gestochen und dadurch sein Unglück herbeigeführt haben würde. (Stürmischer Beifall.) Er trinkt jetzt lediglich kaltes Wasser und fühlt sich nicht mehr so durstig wie zuvor. (Lauter Beifall.)

II. Betsy Martin, Witwe mit einem Kind und einem Auge – Sie wäscht um Tagelohn, hat nie mehr als ein Auge besessen, weiß aber, daß ihre Mutter starkes Doppelbier trank, und würde sich nicht wundern, wenn ihr Unglück davon herrührte. Sie hält es nicht für ausgeschlossen, daß sie, wenn sie sich stets geistiger Getränke enthalten hätte, dadurch den Gebrauch ihres andern Auges auch erlangt haben würde.

(Stürmischer Zuruf.) Sie erhielt gewöhnlich an jedem Ort, wohin sie ging, täglich achtzehn Pence, eine Maß Porter und ein Glas Brandy, hat aber, seitdem sie Mitglied der Bricklane-Abteilung geworden, statt dessen immer drei Schilling und sechs Pence verlangt. (Die Verkündigung dieses höchst interessanten Falles wurde mit Enthusiasmus aufgenommen.)

III. Henry Beller – war viele Jahre hindurch Toastausbringer bei den Diners mehrerer Korporationen und hat in dieser Zeit eine Menge ausländische Weine getrunken, mag auch zuweilen eine Flasche oder zwei mit nach Hause genommen haben – weiß dies zwar nicht ganz gewiß, ist aber überzeugt, daß er, wenn er es tat, sie auch ausgetrunken hat. Er fühlt sich sehr niedergeschlagen, hat oft Fieber, leidet an beständigem Durst und glaubt, dies seinem früheren Weintrinken zuschreiben zu müssen. (Beifall.) Ist gegenwärtig ohne Beschäftigung und rührt unter keinen Umständen mehr einen Tropfen fremden Wein an. (Schallender Zuruf.)

IV. Thomas Burton – versorgt den Lordmajor, die Sheriffs und mehrere Mitglieder des Geheimrats mit Katzenfleisch (atemlose Aufmerksamkeit, als der Name dieses Gentleman genannt wird), hat ein hölzernes Bein, findet es kostspielig, damit über das Pflaster zu gehen, pflegte sich alte gebrauchte hölzerne Beine zu kaufen und jeden Abend ein Glas heißen Wacholderbranntwein mit Wasser zu trinken – manchmal auch zwei. (Tiefe Seufzer.) Fand, daß die alten, schon gebrauchten hölzernen Beine sehr schnell zersplitterten und faulten, und ist fest überzeugt, daß ihre Beschaffenheit durch den Genuß von Wacholderbranntwein mit Wasser untergraben wurde. (Anhaltender Beifall.) Kaufte sich kürzlich neue hölzerne Beine und trinkt nichts als Wasser und schwachen Tee. Die neuen Beine halten zweimal so lange als die andern, und er schreibt dies einzig und allein seiner gegenwärtigen Mäßigkeit zu.“ (Triumphgeschrei.)

Anthony Humm machte sodann den Vorschlag, ein Lied zu singen. Mit besonderer Rücksicht auf die geistlich-sittlichen Genüsse der Versammelten habe Bruder Mordlin die schönen Verse: „Wer kennt ihn nicht, den lustigen Matrosen“ und so weiter, einer alten wohlbekannten Volksmelodie angepaßt und bitte nun, ihn bei diesem Liede zu akkompagnieren. (Großer Beifall.) Zugleich nähme er Gelegenheit, seine feste Überzeugung auszusprechen, daß der selige Mr. Dibdin der Komponist, nachdem er die Irrtümer seines früheren Lebenswandels eingesehen, dieses Lied geschrieben habe, um die Vorteile der Enthaltsamkeit darzutun. „Es ist“, sagte Mr. Humm, „ein Temperenzlerlied.“ (Wirbelwind von Beifall.) „Der schmucke Anzug des interessanten jungen Mannes im Liede, die Gewandtheit seiner Bewegungen, der beneidenswerte Gemütszustand, kraft dessen er, um mit den schönen Worten des Dichters zu sprechen, ,Dahingerudert aller Sorgen bar‘ und so weiter, alles dies vereinigt sich zu dem Beweise, daß er ein Wassertrinker gewesen sein muß. (Beifall.) O welch ein Zustand tugendhafter Fröhlichkeit!“ (Entzückter Beifall.) Während des Gesangs verschwand das kleine Männlein mit den lichtbraunen Hosen, kehrte aber nach Beendigung desselben schnell zurück und flüsterte mit überaus wichtiger Miene dem Präsidenten etwas ins Ohr.

„Meine Freunde und Freundinnen“, sprach Mr. Humm, indem er, um Ruhe bittend, seine Hand emporhob, um diejenigen von den alten Damen, die noch um ein paar Takte zurück waren, zum Schweigen zu bringen, „meine Freunde und Freundinnen, ein Abgesandter der Dorkinger-Abteilung unserer Gesellschaft, Bruder Stiggins, wartet unten, erfahre ich soeben.“

Aufs neue flogen die Taschentücher heraus und wehten stärker als je, denn Mr. Stiggins war bei den weiblichen Mitgliedern von Bricklane außerordentlich beliebt.

„Also soll er kommen, dächte ich“, sagte Mr. Humm, mit einem fetten Lächeln um sich blickend. „Bruder Tadger, führen Sie ihn herauf.“

„Er kommt, Sammy“, flüsterte Mr. Weller und wurde vor unterdrücktem Lachen purpurrot im ganzen Gesicht.

„Sprich jetzt nicht“,, mahnte Sam, „ich kann mir sonst nich halten. Er is dicht vor der Tür. Ich höre, wie er mit dem Kopp an die Latten und an die Wand anschlägt.“

Gleich darauf flog die kleine Tür auf und herein trat Bruder Tadger, gefolgt von dem ehrwürdigen Mr. Stiggins, dessen Anblick mit gewaltigem Applaus, Füßegetrampel und Taschentücherwehen begrüßt wurde – Freudenbezeigungen, die er nur dadurch erwiderte, daß er mit stieren Augen und einem dummen Lächeln in das Licht auf dem Tisch glotzte, wobei er höchst unsicher hin und her schwankte.

„Sind Sie unwohl, Bruder Stiggins?“ fragte Mr. Anthony Humm flüsternd.

„Ach was, mir ist ganz gut, Sir“, erwiderte Mr. Stiggins heftig, aber mit schwerer Zunge. „G – ganz g – gut, Sir.“

„Oh, bitte sehr“, entschuldigte sich Mr. Anthony Humm und wich ein paar Schritte zurück.

„Ich hoffe, daß sich hier niemand unterstehen wird, zu sagen, es sei mir nicht g – ganz g – gut, Sir!“ schrie Mr. Stiggins. „Oh, gewiß nicht“, erwiderte Mr. Humm.

„Hätt es auch niemand geraten, Sir; h – hätt es niemand ge – geraten“, lallte Mr. Stiggins.

Inzwischen war die ganze Versammlung mäuschenstill geworden und sah mit Bangigkeit dem weitern Verlauf der Dinge entgegen.

„Wollen Sie vielleicht eine Rede an die Versammlung halten?“ fragte Mr. Humm mit einem einladenden Lächeln.

„Nein, Sir“, erwiderte Mr. Stiggins, „nein Sir; ich will nicht, Sir.“

Die Versammelten blickten einander mit großen Augen an und ein Murmeln der Verwunderung lief durch den Saal.

„Meine Meinung, Sir, ist – „, begann Mr. Stiggins mit sehr lauter Stimme und knöpfte seinen Rock auf, „m – meine M – Meinung, Sir, ist – d – daß diese Versammlung b – betrunken ist, Sir. Bruder Tadger“, fuhr er fort, wurde immer aufgeregter und drehte sich barsch nach dem kleinen Männchen in den lichtbraunen Hosen um, “ Sie sind betrunken, Sir.“

Da naturgemäß Mr. Stiggins den Wunsch hegte, die Nüchternheit der Versammlung zu fördern und deswegen alle ungeeigneten Charaktere auszuschließen, so schlug er nach Bruder Tadger und traf seine Nasenspitze mit solcher Sicherheit, daß die lichtbraunen Höslein wie ein Blitz verschwanden. – Bruder Tadger war kopfüber die Leiter hinabgestürtzt.

Sofort erhoben die Damen ein lautes Jammergeschrei stellten sich gruppenweise vor ihren Lieblingsbrüdern auf und schlangen die Arme um sie, um sie vor Gefahren zu schützen. Dieser Beweis von Zärtlichkeit wäre Mr. Humm beinahe schlecht bekommen, denn da er ungemein beliebt war, so warfen sich ihm so viele fromme Schöne an den Hals und hingen sich so fest an ihn, daß er beinahe erstickt wäre. Der größere Teil der Lichter wurde ausgelöscht, und von allen Seiten hörte man nichts als Geschrei und wildes Lärmen.

„Jetzt, Sammy“, sagte Mr. Weller und entledigte sich mit großer Kaltblütigkeit seines Überziehers, „jetzt geh raus und hole ’n Konstabler.“ „Und was willst du einstweilen unternehmen?“ fragte Sam.

„Laß mich nur machen, Sammy. Ich will inzwischen mit diesem Stiggins ’n bißchen abrechnen.“

Und ehe noch Sam es verhindern konnte, war sein heroischer Vater in einen entfernten Winkel des Saales gedrungen, wo er Ehrwürden Mr. Stiggins mit ungemeiner Geschicklichkeit angriff.

„Komm mit!“ rief ihm Sam zu.

„Nur ran, du Halunke!“ schrie Mr. Weller seinem Gegner zu. Und ohne weitere Aufforderung versetzte er Ehrwürden Mr. Stiggins einen gewaltigen Faustschlag auf den Kopf und tanzte, während er ihn bearbeitete, so flink und lustig um ihn herum, wie man es von einem Herrn in seinem Alter gar nicht erwartet hätte.

Da Sam sah, daß alle seine Vorstellungen vergeblich waren, drückte er seinen Hut fest auf den Kopf, warf seines Vaters Überrock über die Schultern, faßte den alten Herrn fest um den Leib und zog ihn mit Gewalt die Leiter hinab und auf die Straße; ja, er ließ ihn nicht eher los, bis sie die Ecke erreicht hatten.

Von dort noch konnten sie das Geschrei der versammelten Volksmenge, die Zeuge der Abführung Ehrwürden Stiggins in ein wohlverwahrtes Nachtquartier war, und den Lärm vernehmen, unter dem sich die Mitglieder der Bricklane-Abteilung des Vereinigten großen Ebenezer Mäßigkeitsvereins nach allen Richtungen zerstreuten.

Dreiunddreißigstes Kapitel


Dreiunddreißigstes Kapitel

Das einzig und allein einem ausführlichen und wahrheitsgetreuen Bericht über die denkwürdige Gerichtsverhandlung in Sachen Bardell kontra Pickwick gewidmet ist.

„Ich möchte nur wissen, was der Obmann der Geschworenen heute gefrühstückt hat“, sagte Mr. Snodgraß an dem verhängnisvollen Morgen des vierzehnten Februar, um ein Gespräch anzuknüpfen.

„Hoffentlich etwas Gutes“, meinte Perker. „Das ist nämlich sehr wichtig, mein lieber Mr. Pickwick, sehr wichtig. Nur von einem wohlgesättigten zufriedenen Geschwornen läßt sich etwas Tüchtiges erwarten. Mißvergnügte oder hungrige Geschworne aber, mein lieber Herr, sind schon im voraus für den Kläger eingenommen. Aber es ist zehn Minuten über neun“, fügte der kleine Mann, auf seine Uhr sehend, hinzu. „Es ist Zeit, aufzubrechen, mein lieber Herr; ein gebrochenes Eheversprechen – bei solchen Fällen ist der Gerichtssaal gewöhnlich überfüllt. Sie sollten nach einem Wagen schicken, mein lieber Herr, sonst kommen wir zu spät.“

Mr. Pickwick klingelte; der Wagen kam, die drei Jünger und Mr. Perker schlüpften hinein und fuhren nach Guildhall; Sam Weller, Mr. Lowten und der blaue Aktenbeutel folgten in einem Cab.

„Lowten“, sagte Perker, als sie in die Vorhalle des Gerichtshofs traten, „führen Sie Mr. Pickwicks Freunde in die Studentenloge; Mr. Pickwick selbst bleibt besser bei mir. Hierher, wenn ich bitten darf, mein lieber Herr, hierher.“ Dabei faßte der kleine Mann Mr. Pickwick am Rockärmel und führte ihn zu einer niedrigen Bank gerade unter dem Pult des königlichen Prokurators, das zur Bequemlichkeit der Advokaten angebracht ist, damit sie von hier aus dem Hauptanwalt ins Ohr flüstern können, wenn sie während der Verhandlung noch einige Instruktionen für nötig erachten. Der großen Menge der Zuschauer sind die hier Sitzenden unsichtbar, da die Bank viel niedriger ist als der Platz für die Anwälte oder für das Publikum.

„Dies ist wohl die Zeugenlose?“ fragte Mr. Pickwick, und zeigte auf eine Art Katheder mit messingenem Geländer.

„Ja, mein lieber Herr“, erwiderte Perker und zog eine Menge Dokumente aus dem blauen Beutel hervor, den Lowten soeben zu seinen Füßen niedergelegt hatte.

„Und dort sitzen wohl die Geschworenen?“

„Erraten, mein lieber Herr“, erwiderte Perker, auf den Deckel seiner Schnupftabakdose klopfend.

Mr. Pickwick stand in großer Unruhe auf und überschaute den ganzen Saal. Es hatten sich bereits eine bunte Schar von Zuschauern auf der Galerie und zahlreiche Exemplare von Herren mit Perücken auf der Anwaltsbank eingefunden, die, als Körperschaft betrachtet, jene lustige und reiche Mannigfaltigkeit an Backenbärten und Nasen darboten, durch die der englische Advokatenstand mit Recht so berühmt ist. Diejenigen von den Herren, die einen Prozeß zu führen hatten, trugen die Aktenstücke so ostentativ wie möglich zur Schau und kratzten sich gelegentlich die Nasen damit, um auf die beobachtenden Blicke der Zuschauer den Eindruck nach Möglichkeit zu verstärken. Andere, die nicht mit Prozeßvollmachten versehen waren, trugen gewaltige Bände unter dem Arm, die unter dem technischen Namen „Juristen-Kalbsleder“ bekannt sind. Die, die weder Akten noch Bücher bei sich hatten, steckten die Hände in die Taschen und blickten möglichst weise um sich oder liefen mit großer Unruhe und unendlicher Wichtigtuerei hin und her, zufrieden, die Bewunderung und das Erstaunen des Laien zu erregen. Zu Mr. Pickwicks großem Befremden hatte sich die ganze Zunft in kleine Gruppen zerteilt, in denen man so gleichgültig wie möglich über die Tagesneuigkeiten plauderte, als wenn gar kein Rechtsstreit verhandelt werden sollte.

Eine Verbeugung Mr. Phunkys, als dieser eintrat und sich hinter die für den königlichen Anwalt bestimmte Bank setzte, zog Mr. Pickwicks Aufmerksamkeit auf sich, und er hatte sie kaum erwidert, als Prokurator Snubbin erschien, gefolgt von Mr. Mallard, der einen gewaltigen karmesinroten Beutel auf den Tisch legte und, nachdem er Perker die Hand gedrückt, sich entfernte. Es kamen dann noch zwei der drei Prokuratoren herein und unter ihnen einer mit einem dicken Bauch und einem roten Gesicht, der Sergeant Snubbin freundlich zunickte und zu ihm sagte: „Ein schöner Morgen heute.“

Wer ist der Herr mit dem roten Gesicht, der unserm Anwalt zunickte und sagte, es sei ein schöner Morgen?“ flüsterte Mr. Pickwick.

„Das ist der Herr Prokurator Buzfuz“, erwiderte Perker, „der erste Sachverwalter der Gegenpartei. Der Herr hinter ihm heißt Skimpin und ist sein Assistent.“

Mr. Pickwick war eben im Begriff, mit großer Empörung zu fragen, wie Prokurator Buzfuz, der gegnerische Anwalt, die Unverschämtheit haben könne, zu Prokurator Snubbin, seinem eigenen Sachwalter, zu sagen, es sei ein schöner Morgen, als er durch ein allgemeines Aufstehen der Anwälte und eine laute Aufforderung zum Schweigen von Seiten der Gerichtsdiener daran verhindert wurde. Er sah sich um und bemerkte, daß soeben der Richter eingetreten war.

Mr. Stareleigh, der an diesem Tage die Stelle des wegen Krankheit abwesenden Lord-Oberrichters einnahm, war ein auffallend kurz geratener Mann und dabei so kugelrund, daß man nichts als Gesicht und Bauch zu sehen glaubte. Er watschelte auf zwei kleinen krummen Beinen herein, und nachdem er sich gravitätisch gegen die Advokaten und die Advokaten sich gegen ihn verbeugt hatten, steckte er die kurzen Beine unter das Pult und legte seinen kleinen dreispitzigen Hut auf die Tischplatte, so daß man nichts mehr von ihm sehen konnte, als zwei wässerige Äuglein und ein breites rosenfarbiges Gesicht, das zur Hälfte unter einer großen, höchst possierlichen Perücke hervorblickte.

Kaum hatte er seinen Sitz eingenommen, als die Gerichtsdiener mit gebieterischem Ton im Saale und auf der Galerie Schweigen geboten. Als dies geschehen war, rief ein schwarz gekleideter, etwas niedriger als der Richter sitzender Gentleman die Namen der Geschworenen auf, und nach langem Geschrei, daß nur zehn Mitglieder der Spezial-Jury zugegen seien, beantragte der Prokurator Buzfuz die Wahl von Ersatzmännern. Der schwarz gekleidete Herr preßte daraufhin kurzerhand zwei Mitglieder der allgemeinen Jury in das Spezial-Geschworenengericht und bestimmte einen Gewürzkrämer und einen Apotheker.

„Geben Sie Antwort auf den Namensaufruf, meine Herren, damit man Sie vereidigen kann“, sagte er. „Richard Upwitch!“

„Hier!“ meldete sich der Gewürzkrämer.

„Thomas Groffin!“

„Hier!“ erwiderte der Apotheker.

„Nehmen Sie das Buch, meine Herren. Sie sollen also treulich und gewissenhaft untersuchen …“

„Ich bitte den Gerichtshof um Nachsicht“, unterbrach der Apotheker, ein langer hagerer Mann von gelber Gesichtsfarbe, „aber ich hoffe, der Gerichtshof wird mich für diesmal entschuldigen.“

„Aus was für Gründen, Sir?“ fragte der Richter Stareleigh.

„Ich habe keinen Gehilfen im Geschäft, Mylord.“

„Da kann ich Ihnen nicht helfen, Sir“, erwiderte Mr. Stareleigh. „Sie sollten sich einen anschaffen.“

„Ich kann die Kosten nicht erschwingen, Mylord.“

„Dann sollten Sie sich eben Mühe geben, sie erschwingen zu können, Sir!“ sagte der Richter und wurde feuerrot, denn er war äußerst reizbarer Natur und konnte keinen Widersprach ertragen.

„Ich würde es auch können, wenn es mir nach Verdienst erginge; aber das ist leider nicht der Fall, Mylord“, antwortete der Apotheker. „Vereidigen Sie den Herrn!“ befahl der Richter gebieterisch.

Der Beamte kam mit der Verlesung der Eidesformel nicht weiter als vorhin, denn der Apotheker unterbrach ihn aufs neue. „Ich soll also vereidigt werden, Mylord?“ fragte er.

„Allerdings, Sir“, erwiderte der eigensinnige kleine Richter.

„Nun gut, Mylord“, sagte der Apotheker ergeben. „Dann wird es noch vor Ende der Sitzung einen Unfall mit tödlichem Ausgang geben. Bitte vereidigen Sie mich nur, Sir, wenn’s gefällig ist.“

„Ich wollte nur noch bemerken, Mylord“, sagte er, als er unter Eid genommen worden und mit großer Fassung seinen Sitz einnahm, „daß ich niemand als einen Laufburschen in meinem Laden zurückgelassen habe. Es ist ein recht wackerer Junge, Mylord, der sich aber auf die Arzneimittel noch nicht ganz versteht und mit Vorliebe Oxalsäure mit Epsomsalz und Laudanum mit Sennesblättersirup verwechselt.“

Mit diesen Worten setzte sich der lange Apotheker behaglich zurecht, nahm eine zufriedene Miene an und schien auf das Schlimmste gefaßt zu sein.

Mr. Pickwick betrachtete ihn eben mit Gefühlen des tiefsten Abscheus, als im Hintergrund des Saales eine Bewegung entstand, und unmittelbar darauf wurde Mrs. Bardell, gestützt auf Mrs. Cluppins, in schmachtendem Zustande hereingeführt, und ihr am andern Ende derselben Bank, auf der Mr. Pickwick saß, ein Platz angewiesen. Mr. Dodson trug ihr einen Schirm von ungewöhnlicher Größe, Mr. Fogg ein Paar Überschuhe nach, und beide Herren hatten für die Sitzung höchst mitleidsvolle und melancholische Gesichter aufgesetzt. Sodann erschien Mrs. Sanders und führte den jungen Master Bardell herein. Beim Anblick ihres Kindes fuhr Mrs. Bardell auf, faßte sich aber schnell wieder und küßte es wie wahnsinnig. Sofort versank sie dann aufs neue in einen Zustand hysterischen Traumwachens und fragte, wo sie denn eigentlich sei? Statt aller Antwort wandten Mrs. Cluppins und Mrs. Sanders die Köpfe von ihr ab und weinten, indes die Herren Dodson und Fogg die Klägerin baten, sie möge sich doch beruhigen. Prokurator Buzfuz rieb sich mit einem großen weißen Sacktuch die Augen beinahe wund und warf einen appellierenden Blick auf die Geschworenen; der Richter schien sichtlich ergriffen zu sein und mehrere der Zuschauer husteten laut, um ihre Rührung zu verbergen.

„Ein fein ausgedachter Plan“, flüsterte Perker Mr. Pickwick zu. „Kapitalburschen das, diese Dodson und Fogg; wirklich, eine vortreffliche Effektberechnung, mein lieber Herr.“

Allmählich begann Mrs. Bardell wieder zu sich zu kommen, indes Mrs. Cluppins den jungen Master Bardell nach sorgfältiger Musterung, ob seine Knöpfe auch nicht schief geknöpft seien, gerade vor seine Mutter stellte, so daß er nicht verfehlen konnte, das volle Erbarmen und Mitgefühl sowohl des Richters als der Geschworenen zu erwecken. Es ging dies freilich nicht ohne beträchtliche Widersetzlichkeiten und eine Menge Tränen von seiten des jungen Herrn vonstatten, der offenbar fürchtete, seine Zurschaustellung vor den Augen der Richter sei bloß ein formelles Vorspiel zu einer alsbaldigen Hinrichtung oder zumindest Deportation über das Meer für Lebenszeit.

„Bardell kontra Pickwick!“ las der schwarz gekleidete Gentleman laut von der Liste ab.

„Ich vertrete die Klägerin, Mylord“, meldete sich der Prokurator Buzfuz.

„Wer assistiert Ihnen, Kollega Buzfuz?“ fragte der Richter.

Mr. Skimpin verbeugte sich, zum Zeichen, daß er es sei.

„Ich bin für den Beklagten erschienen, Mylord“, sagte Prokurator Snubbin.

„Und wer ist Ihr Assistent, Kollega Snubbin?“

„Mr. Phunky, Mylord.“

„Prokurator Buzfuz und Mr. Skimpin für die Klägerin“, diktierte der Richter und schrieb sich die Namen in sein Notizbuch, „für den Beklagten Prokurator Snubbin und Mr. – Monkey.“

„Bitte um Verzeihung, Mylord: – Phunky.“

„Ah, sehr gut“, sagte der Richter, „ich hatte noch nie das Vergnügen, den Namen des Herrn zu hören.“

Mr. Phunky verbeugte sich und lächelte, der Richter verbeugte sich ebenfalls und lächelte, und Mr. Phunky, rot bis in das Weiße seiner Augen, suchte sich das Ansehen zu geben, als wisse er nicht, daß alle Augen auf ihn gerichtet seien.

„Also beginnen wir“, sagte der Richter.

Die Gerichtsdiener geboten abermals Stillschweigen, und Mr. Skimpin schritt zur Darstellung der Vorgeschichte, die aber sehr wenig Redestoff zu bieten schien, denn er behielt die ihm bekannten besonderen Umstände gänzlich für sich, setzte sich nach drei Minuten wieder und ließ die Geschworenen ganz auf derselben hohen Stufe der Erleuchtung wie zuvor.

Prokurator Buzfuz erhob sich gleich nach ihm mit all der Majestät und Würde, die die ernste Natur der Verhandlung erheischte, und nachdem er Dodson einige Worte zugeflüstert und auch mit Fogg ein wenig konferiert hatte, zupfte er seinen Mantel und seine Perücke zurecht und begann seine Rede an die Geschworenen.

Es fing mit der Erklärung an, daß ihm während seiner ganzen Praxis, ja, vom ersten Augenblick an, als er sich auf das Studium und die Ausübung des Rechtes verlegt, noch nie ein Fall vorgekommen sei, der ihn so im Innersten ergriffen oder mit einem solch klaren Bewußtsein der auf ihm lastenden Verantwortlichkeit erfüllt habe – einer Verantwortlichkeit, unter deren Gewicht er erlegen wäre, hätte ihn nicht die feste, ja einer positiven Gewißheit gleichkommende Überzeugung aufrechterhalten, daß die Sache der Wahrheit und Gerechtigkeit, oder mit andern Worten, die Sache seiner schwer verletzten und auf eine schmähliche Art getäuschten Klientin bei den edelgesinnten und einsichtsvollen zwölf Herren, die er vor sich sehe, obsiegen müssen.

Sogleich begannen denn auch mehrere Geschworene mit dem größten Eifer, sich lange Notizen zu machen.

„Sie haben von meinem gelehrten Kollegen vernommen“, fuhr Prokurator Buzfuz fort, sich gar wohl bewußt, daß die Herren von der Jury von seinem gelehrten Kollegen soviel wie nichts vernommen hatten, „Sie haben von meinem gelehrten Kollegen vernommen, meine Herren, daß es sich hier um den Bruch eines Eheversprechens handelt und ein Schadenersatz von fünfzehnhundert Pfund beansprucht wird, aber die näheren Tatsachen und Umstände haben Sie von feinem gelehrten Kollegen nicht vernommen, wie es meinem gelehrten Kollegen auch nicht zukam, sie Ihnen mitzuteilen. Diese Tatsachen und Umstände, meine Herren, Werde ich Ihnen nunmehr ausführlich auseinandersetzen und Ihnen eine einwandfreie Zeugin vorführen, die sie beweisen wird.“

Um dem Wort „beweisen“ einen kraftvollen Nachdruck zu geben, schlug Prokurator Buzfuz auf den Tisch und blickte die Herren Dodson und Fogg an, die ihm voll Bewunderung ob seiner Rednergabe zuzwinkerten.

„Die Klägerin, meine Herren“, fuhr Prokurator Buzfuz mit sanfter, melancholischer Stimme fort, „die Klägerin ist Witwe. Ja, meine Herren, Witwe. Der selige Mr. Bardell schlummerte, nachdem er sich viele Jahre lang als Wächter der königlichen Einkünfte der Achtung und des Vertrauens seines Souveräns erfreut, sanft in eine andere Welt hinüber, um sich im Jenseits die Ruhe und den Frieden zu suchen, die ein Zollhaus hinieden nimmermehr gewähren kann.“

Bei dieser pathetischen Beschreibung vom Hinscheiden Mr. Bardells, der in einem Wirtshauskeller mit einer Bierkanne erschlagen worden war, bebte die Stimme des Anwalts.

„Kurze Zeit vor seinem Tode erblickte er noch sein Ebenbild in einem Söhnlein, und mit diesem Söhnlein, dem einzigen Liebespfand von ihrem entschlafenen Gatten, zog sich Mrs. Bardell von der Welt zurück, suchte die Abgeschiedenheit und Ruhe der Goswellstreet und hängte dort an ihrem Fenster eine Anzeige aus des Inhalts: ,Möblierte Zimmer für einen ledigen Herrn zu vermieten. Zu erfragen im Hause.'“

Prokurator Buzfuz hielt hier inne, indes mehrere Herren von der Jury sich diese wichtige Tatsache notierten.

„Hatte die Anzeige kein Datum?“ fragte einer der Geschworenen.

„Nein, Sir“, erwiderte Prokurator Buzfuz, „aber ich bin ermächtigt zu sagen, daß sie gerade vor drei Jahren ans Fenster der Klägerin gesteckt wurde. Ich muß die Aufmerksamkeit der Herren Geschworenen auf die wörtliche Abfassung dieses Dokuments lenken: ,Möblierte Zimmer für einen ledigen Herrn zu vermieten.‘ Mrs. Bardells Ansichten über das andre Geschlecht gründeten sich auf eine lange Beobachtung der unschätzbaren Eigenschaften ihres verstorbenen Gatten. Sie war frei von Mißtrauen – hegte keinen Verdacht – kurz, war voll argloser Zuversicht. ,Mr. Bardell‘, sagte sich die Witwe, ,Mr. Bardell war ein Mann von Ehre – Mr. Barde!! war ein Mann von Wort – Mr. Bardell war kein Betrüger – Mr. Bardell war auch einst ein lediger Herr und bei ledigen Herren will ich daher Schutz, Beistand, Hilfe und Trost suchen – in ledigen Herren werde ich beständig etwas sehen, was mich daran erinnert, wie Mr. Bardell war, als er das erste Mal die Neigung meines jungen, unerfahrenen Herzens gewann. An einen ledigen Herrn will ich also meine Wohnung vermieten.‘ Beseelt von diesem schönen rührenden Beweggrund – einer der besten Beweggründe unsrer unvollkommnen Natur – trocknete die einsame verlassene Witwe ihre Tränen, möblierte ihren untern Stock, drückte ihren unschuldigen Knaben an den mütterlichen Busen und hängte die Anzeige an das Fenster. Blieb sie lange dort? frage ich. Nein. Die Schlange lag bereits auf der Lauer, die Zündschnur war gelegt, die Mine gegraben, der Sappeur und der Mineur waren in voller Tätigkeit. Kaum hing die Anzeige drei Tage am Fenster – drei Tage, meine Herren –, als ein Individuum, das ganz die äußre Gestalt eines Mannes, nicht etwa die eines Ungeheuers hatte, an Mrs. Bardells Haustür anklopfte. Er erkundigte sich, mietete die Wohnung und nahm am nächstfolgenden Tage Besitz davon. Dieser Mann war Pickwick – Pickwick, der Beklagte.“

Prokurator Buzfuz hatte mit solcher Zungenfertigkeit gesprochen, daß sein Gesicht ganz blaurot geworden war und er innehalten mußte, um Atem zu schöpfen. Sein Schweigen erweckte den Richter Stareleigh, der sogleich mit einer uneingetunkten Feder etwas schrieb und ganz außerordentlich vertieft aussah, um die Geschworenen glauben zu machen, er habe mit geschlossenen Augen der Sache bis in ihre heimlichsten Tiefen nachgeforscht. Prokurator Buzfuz fuhr fort: „Von diesem Pickwick werde ich nicht viel sagen; das Thema bietet nicht sehr viel Anziehendes, und ich, meine Herren, bin nicht der Mann, sowenig wie Sie, meine Herren, bei der Betrachtung empörender Herzlosigkeit und systematischer Verworfenheit mit Lust zu verweilen.“

Hier fuhr Mr. Pickwick, der sich seit einiger Zeit ruhig Notizen aufgeschrieben hatte, heftig auf, wie wenn sich ihm er Wunsch aufgedrängt hätte, in Gegenwart des versammelten hohen Gerichtshofs dem Prokurator Buzfuz zu Leibe zu gehen. Eine abratende Gebärde von Perker hielt ihn jedoch zurück, und er hörte den ferneren Vortrag des gelehrten Herrn mit einer Entrüstung an, die den stärksten Gegensatz zu den von Bewunderung strahlenden Gesichtern der Damen Cluppins und Sanders bildete.

„Ich sage systematische Verworfenheit‘, meine Herren“, fuhr Prokurator Buzfuz fort und schien Mr. Pickwick mit seinen Blicken durchbohren zu wollen, „und wenn ich ,systematische Verworfenheit‘ sage, so lassen Sie mich dem beklagten Pickwick, wenn er sich, wie ich gehört habe, im Saale befindet, erklären, daß es weit anständiger und schicklicher, weit gescheiter und vernünftiger gewesen wäre, er wäre hier fern geblieben. Lassen Sie mich ihm sagen, meine Herren, daß alle Zeichen von Meinungsverschiedenheit oder Mißbilligung, die er sich im Gerichtssaale erlauben könnte, bei Ihnen nichts fruchten werden und daß Sie sich sie wohl zu deuten wissen werden. Lassen Sie mich ihm ferner sagen, wie Seine Lordschaft Ihnen, meine Herren, bestätigen wird, daß ein Anwalt in Erfüllung seiner Pflichten gegen seinen Klienten sich weder einschüchtern noch beirren oder zum Schweigen bringen läßt und daß jeder Versuch, das eine oder das andere, das erste oder das letztere zu tun, auf das Haupt dessen zurückfällt, der den Versuch wagt, sei er nun Kläger oder Beklagter, möge er nun Pickwick oder Noakes, Stoakes oder Stiles, Brown oder Thompson heißen.“

Diese kleine Abschweifung von der Sache konnte die beabsichtigte Wirkung nicht verfehlen, aller Augen auf Mr. Pickwick zu lenken. Nachdem Prokurator Buzfuz der moralischen Entrüstung, zu der er sich hatte hinreißen lassen, wieder einigermaßen Meister geworden, fuhr er fort: „Ich werde Ihnen nachweisen, meine Herren, daß Pickwick zwei Jahre lang fortwährend ohne Unterbrechung im Hause Mrs. Bardells gewohnt hat. Ich werde Ihnen nachweisen, daß ihn Mrs. Bardell diese ganze Zeit über bediente, auf jede Art für seine Behaglichkeit sorgte, für ihn kochte, sein Weiß“ zeug zur Wäscherin schickte, es flickte, in Ordnung hielt und wieder instand setzte, mit einem Wort, daß sie sich seines vollkommensten Vertrauens erfreute. Ich werde Ihnen nachweisen, daß er ihrem kleinen Knaben manchmal einen halben Penny, einige Male sogar sechs Pence schenkte, und ich werde Ihnen durch eine Zeugin, deren Aussagen mein gelehrter Herr Kollega weder zu entkräften noch zu bestreiten imstande sein wird, dartun, daß er einmal den Knaben auf den Kopf tätschelte, und, nachdem er ihn gefragt, ob er viele Murmeln – wie ich höre, eine besondere Art von Steinkugeln, die von der Jugend unsrer Stadt sehr geschätzt wird – gewonnen habe, sich der bemerkenswerten Äußerung bediente: ,Würde es dich freuen, wenn du wieder einen Vater bekämest?‘ Ich werde Ihnen ferner nachweisen, meine Herren, daß Pickwick zwar vor etwa einem Jahre plötzlich mehrere Male auf längere Zeit verreiste, wie wenn er im Sinn gehabt hätte, allmählich mit meiner Klientin zu brechen; aber ich werde Ihnen auch dartun, daß er sich in seinem Entschluß damals noch nicht gehörig befestigt hatte oder daß seine besseren Gefühle, wenn er überhaupt deren fähig ist, obsiegten oder daß die Reize und Vorzüge meiner Klientin seinen unwürdigen Plan über den Haufen warfen. Ich werde Ihnen schließlich beweisen, daß er eines Tages, als er vom Lande zurückkehrte, ihr in nicht mißzuverstehenden Worten und Ausdrücken einen Heiratsantrag machte, wobei er freilich die besondre Vorsicht gebraucht hatte, bei dem feierlichen Versprechen Zeugen auszuschließen. Ja, ich bin imstande, durch das Zeugnis von dreien seiner eignen Freunde – höchst unfreiwillige Zeugen, meine Herren, höchst unfreiwillige Zeugen – zu erhärten, daß man ihn an demselben Morgen antraf, wie er eben die Klägerin in seinen Armen hielt und ihre Aufregung durch Schmeicheleien und Liebkosungen zu beschwichtigen suchte.“

Besonders der letzte Teil der Rede brachte einen sichtlichen Eindruck auf das Publikum hervor. Der Prokurator zog zwei schmale Papierstreifen aus der Tasche und fuhr fort:

„Und nun, meine Herren, nur noch ein Wort: Es sind zwischen den Parteien zwei Briefe gewechselt worden, Briefe, deren Handschrift der Beklagte als die seinige anerkennen muß und deren Inhalt von höchster Wichtigkeit ist. Diese Briefe werfen ein helles Licht auf den Charakter des Mannes. Es sind nicht etwa offene, feurige, beredte Episteln, die die Sprache leidenschaftlicher Liebe atmen; nein, es sind versteckte, schlaue zweideutige Mitteilungen, die aber glücklicherweise mehr Aufschlüsse geben, als wären sie in der glühendsten Sprache und in den poetischsten Bildern abgefaßt – Briefe, die man mit vorsichtig argwöhnischem Au“e betrachten muß – Briefe, durch die Pickwick offenbar etwaige dritte Personen, denen sie vielleicht in die Hände hätten geraten können, hinters Licht zu führen und auf eine falsche Spur zu leiten beabsichtigte. Lassen Sie mich den ersten vorlesen:

,Garraway, um 12 Uhr.

Liebe Frau B.!
Kotelettes und Tomatensauce.

Ihr
Pickwick.‘

Was soll man davon denken, meine Herren? Kotelettes und Tomatensauce. Ihr Pickwick!‘ – Kotelettes! Gütiger Gott! Und Tomatensauce! Meine Herren, darf das Glück einer gefühlvollen und arglosen Frau durch so elende Chiffrierkunststücke mit Füßen getreten werden? – Das zweite Billett hat gar kein Datum, wodurch es schon von vornherein verdächtig wird:

,Liebe Frau B. Ich werde erst morgen nach Hause kommen. Eile mit Weile.‘ Und dann folgt noch der sehr bemerkenswerte Zusatz: ,Machen Sie sich keine Sorgen wegen der Wärmflasche.‘ – Die Wärmflasche! Wie, meine Herren? Wer macht sich denn Sorgen wegen einer Wärmflasche? Wann wurde je der Seelenfrieden eines Mannes oder einer Frau durch eine Wärmflasche gestört oder vernichtet, die an sich selbst ein harmloses nützliches, und, meine Herren, ich möchte noch hinzufügen, ein komfortables Hausgerät ist? Warum wird Mrs. Bardell so angelegentlich ersucht, sich wegen der Wärmflasche keine Sorgen zu machen, wenn diese nicht (wie es hier offenbar der Fall ist) ein heimliches Liebesfeuer bedeuten soll – wenn sie nicht bloß die Stelle eines zärtlichen Wortes oder Versprechens vertritt, gemäß einem verabredeten Korrespondenzsystem, das Pickwick behufs langst beabsichtigter Treulosigkeit mit Vorbedacht ausgeheckt hat und das ich nicht näher erklären kann? Und was soll diese Anspielung: ,Eile mit Weile‘ bedeuten? Soweit ich die Sache zu durchschallen vermag, bezieht es sich auf Pickwick selbst, der in der Tat während dieses ganzen Verhältnisses sehr ,Eile mit Weile‘ hat walten lassen. Na, vielleicht wird er sich künftig, wie er auf seine Kosten erfahren wird, von Ihnen zu größrer Eile anspornen lassen.“

Prokurator Buzfuz machte eine Pause, um zu sehen, ob die Geschworenen zu seinem Witz lächelten; da dies aber niemand tat als der Gewürzkrämer, dessen Empfänglichkeit dafür höchstwahrscheinlich dadurch hervorgerufen wurde, daß er erst diesen Morgen noch hatte eine Droschke nehmen müssen, um nicht zu spät zu Gericht zu kommen, so hielt es der gelehrte Redner für ratsam, vor Schluß seines Vortrags noch ein wenig auf die Rührung der Geschworenen einzuwirken.

„Doch genug hiervon, meine Herren“, lenkte er ein, „es ist schwer, mit blutendem Herzen zu lächeln, es scherzt sich nicht leicht, wenn unser tiefstes Mitgefühl erregt ist. Alle Hoffnungen und Aussichten meiner Klientin sind vernichtet, und es ist keine bloße Redewendung, wenn ich sage, daß es um ihr Fortkommen geschehen ist. Die Anzeige hängt nicht mehr am Fenster, und noch wohnt kein Herr im Hause. Es kommen ledige Herren, unter denen man auswählen könnte, genug am Hause vorüber – aber es ist keine Aufforderung mehr da, einzuziehen. Düsteres Schweigen herrscht jetzt in dieser Wohnung; selbst die Stimme des Knaben ist verhallt; seine kindlichen Spiele machen ihm kein Vergnügen mehr, da seine Mutter beständig weint; seine Murmeln sind ihm gleichgültig geworden; er überhört die Aufforderung seiner Kameraden zum ,schwarzen Mann‘, und wollen sie ,Grad oder ungrad‘ mit ihm spielen, so rührt er keine Hand. Aber Pickwick, meine Herren, Pickwick, der mitleidslose Zerstörer dieser häuslichen Oase in der Wüste der Goswellstreet – Pickwick, der die Quelle versiegen gewacht und auf den grünen Rasen Asche gestreut hat – Pickwick, der mit seiner herzlosen Tomatensauce und seiner Wärmflasche heute vor Ihnen erscheint – Pickwick erhebt noch immer mit frecher Schamlosigkeit sein Haupt und blickt ohne Reue auf die Verwüstung hin, die er angerichtet hat. Eine Geldentschädigung, meine Herren, eine bedeutende Geldentschädigung ist die einzige Strafe, womit Sie ihn belegen, der einzige Ersatz, den Sie meiner Klientin gewähren können. Um diese Geldentschädigung nun wende ich mich hiermit an eine erleuchtete, großherzige, gewissenhafte, leidenschaftslose, mitfühlende und einsichtsvolle Jury von gebildeten Mitbürgern.“

Mit dieser schönen Wendung setzte sich Prokurator Buzfuz nieder, und Richter Stareleigh erwachte zum zweiten Male. Nach einer Minute erhob sich Prokurator Buzfuz wieder mit frischer Kraft und verlangte, daß Elisabeth Cluppins vorgerufen werde.

Der zunächststehende Gerichtsdiener rief Elisabeth Tuppkins, ein andrer in einiger Entfernung fragte nach Elisabeth Juppkins und ein dritter rannte atemlos in die Kingstreet und schrie sich heiser nach einer Elisabeth Muffins.

Mittlerweile wurde Mrs. Cluppins durch die vereinigte Hilfe der Damen Bardell und Sanders sowie der Herren Dodson und Fogg in die Zeugenloge gebracht, und als sie die oberste Stufe erklommen, stellte sich Mrs. Bardell an die unterste, mit dem Taschentuch und den Überschuhen in der einen und einer Flasche, die ungefähr eine Viertelpinte Riechsalz enthalten mochte, in der andern Hand, um für alle Fälle gewappnet zu sein. Mrs. Sanders, deren Augen unverwandt am Gesicht des Richters hingen, pflanzte sich mit dem großen Regenschirm dicht neben ihr auf und hielt mit ernster Miene ihren rechten Daumen an das Schloß ihrer Tasche gedrückt, um nötigenfalls sogleich ein Stärkungsmittel hervorholen zu können.

„Mrs. Cluppins“, redete Prokurator Buzfuz ihr zu, „ich bitte Sie, beruhigen Sie sich, Madam.“

Die Erinnerung daran war keineswegs unnötig, denn Mrs. Cluppins schluchzte und seufzte, daß es einen Stein hätte erweichen können; ja, es stellten sich sogar beunruhigende Symptome einer herannahenden Ohnmacht ein, denn sie konnte, wie sie später sagte, ihre Gefühle kaum bewältigen.

„Erinnern Sie sich, Mrs. Cluppins“, fragte Prokurator Buzfuz nach einigen unwichtigen Präliminarien, „erinnern Sie sich, an einem gewissen Morgen des vergangenen Juli in einem Hinterstübchen Mrs. Bardells gewesen zu sein, als sie eben das Zimmer Mr. Pickwicks abstaubte?“

„Ja, Mylord und meine Herren Geschworenen, ich erinnere mich“, erwiderte Mrs. Cluppins.

„Aber Mr. Pickwicks Wohnzimmer war doch, wie ich glaube, im ersten Stock und liegt nach der Straße hinaus?“

„Allerdings, Sir.“

„Was hatten Sie denn im Hinterstübchen zu schaffen, Ma’am?“ fragte der kleine Richter.

„Mylord und meine Herren Geschworenen“, begann Mrs. Cluppins in rührender Aufregung, „ich will Ihnen nicht täuschen …“

„Sie würden auch nicht gut daran tun“, bemerkte der kleine Richter.

„Ich war dorten“, erzählte Mrs. Cluppins, „ohne daß Mrs. Bardell es gewußt hat. Ich war gerade mit ein’m klein’n Korb ausgegangen, meine Herren, um drei Pfund rote Kartoffeln einzuholen, was im ganzen dritthalb Pence ausmacht, als ich die Haustür von der Mrs. Bardell halb offen gesehen habe, und da bin ich also reingegangen, meine Herren, um ihr einen guten Morgen zu wünschen, aber ich bin in Gedanken die Treppe rauf und in das Hinterzimmer gegangen. Meine Herren, da habe ich im Vorderzimmer mehrere Stimmen gehört, und …“

„Sie haben also gehorcht, Mrs. Cluppins?“ unterbrach Prokurator Buzfuz.

„Bitt um Verzeihung, Sir“, erwiderte Mrs. Cluppins in majestätischem Toni, „so was tu ich niemals nicht. Ich nicht, bitte! Die Stimmen sind sehr laut gewesen und haben sich mir mit Gewalt aufgedrängt.“

„Nun gut, Mrs. Cluppins, Sie horchten also nicht, hörten aber dennoch die Stimmen. War eine derselben die Mr. Pickwicks?“

„Ja, Sir.“ Und Mrs. Cluppins trug jetzt, nachdem sie aufs bestimmteste angegeben, daß Mr. Pickwick mit Mrs. Bardell gesprochen habe, langsam und mit vielen Umschweifen die damalige verhängnisvolle Unterhaltung vor.

Die Geschworenen sahen bedenklich drein, und Prokurator Buzfuz setzte sich lächelnd nieder. Noch düsterer wurden aber die Mienen, als Prokurator Snubbin erklärte, er habe die Zeugin weiter nichts zu fragen, da Mr. Pickwick zugebe daß ihre Aussagen im wesentlichen .richtig seien.

Da nun Mrs. Cluppins einmal im Zuge war, hielt sie die Gelegenheit für günstig, sich auf eine kurze Darstellung ihrer eigenen häuslichen Verhältnisse einzulassen. Sie klärte daher den Gerichtshof auf, daß sie gegenwärtig Mutter von acht Kindern sei und die zuversichtliche Hoffnung nähren dürfe, nach etwa sechs Monaten Mr. Cluppins mit einem neunten zu beschenken. Bei dieser interessanten Mitteilung legte sich der kleine Richter voll Zorn ins Mittel, und die Folge davon war, daß sowohl die würdige Dame, als auch Mrs. Sanders unter Begleitung Mr. Jacksons kurzerhand aus dem Gerichtssaal geführt wurden.

„Nathaniel Winkle!“ rief sodann Mr. Skimpin. „Hier!“ meldete sich eine schüchterne Stimme, und Mr. Winkle trat in die Zeugenloge und verbeugte sich, nachdem er den vorgeschriebenen Eid geleistet, ehrfurchtsvollst gegen das Richterpult.

„Sehen Sie nicht mich an, Sir“, verwies Mr. Stareleigh, statt für den Gruß zu danken, in strengem Tone, „sehen Sie nur auf die Geschworenen!“ Mr. Winkle gehorchte, sah nach dem Platze, wo seiner Wahrscheinhchkeitsberechnung nach die Geschworenen sitzen mußten, denn in seinem verwirrten Geisteszustand war es ihm schlechterdings unmöglich, etwas genau zu erkennen, und wurde sofort von Mr. Skimpin, einem vielversprechenden jungen Manne von zweiundvierzig bis dreiundvierzig Jahren, verhört, dem natürlich alles daran gelegen sein mußte, einen bekanntermaßen für die Gegenpartei eingenommenen Zeugen möglichst aus dem Konzept zu bringen. „Nun, Sir“, begann Mr. Skimpin, „haben Sie die Güte, Seine Lordschaft und die Jury Ihren Namen wissen zu lassen“ – dabei warf er den Geschworenen einen Seitenblick zu, der deutlich genug sagte, bei Mr. Winkles natürlichem Hange zur Lüge könne man von ihm auch die Angabe eines falschen Namens gewärtigen.

„Winkle“, antwortete der Zeuge.

„Ihr Taufname, Sir?“ fragte der kleine Richter ärgerlich.

„Nathaniel, Sir.“

„Daniel. – Vielleicht noch andre Taufnamen?“

„Nathaniel, Sir – Mylord, wollte ich sagen.“

„Nathaniel Daniel oder Daniel Nathaniel?“

„Nein, Mylord, bloß Nathaniel, nicht Daniel.“

„Warum sagten Sie denn vorhin, Sie hießen Daniel, Sir?“ fragte der Richter.

„Das habe ich nicht gesagt, Mylord“, rechtfertigte sich Mr. Winkle.

„Freilich haben Sie es gesagt, Sir“, erwiderte der Richter mit strengem Stirnrunzeln, „wie hätte ich denn Daniel aufschreiben können, wenn Sie es nicht gesagt hätten, Sir?“

Gegen diesen Beweisgrund ließ sich natürlich nichts erwidern.

„Mr. Winkle hat ein kurzes Gedächtnis, Mylord“, fiel Mr. Skimpin mit einem abermaligen bedeutsamen Blick nach den Geschworenen ein, „ich denke aber, wir werden Mittel finden, es aufzufrischen.“

„Also nehmen Sie sich in acht, Sir!“ warnte der kleine Richter mit einem finstern Blick.

Der arme Mr. Winkle verneigte sich und gab sich alle Mühe, unbefangen zu erscheinen, gewann aber in seiner Verlegenheit weit eher das Aussehen eines in flagranti ertappten Taschendiebes.

„Jetzt, Mr. Winkle“, fing Mr. Skimpin wieder an, „geben Sie gefälligst auf meine Fragen acht, Sir, und folgen Sie um Ihrer selbst willen meinem Rat, der Ermahnungen Seiner Lordschaft eingedenk zu sein. Soviel ich weiß, sind Sie ein vertrauter Freund Mr. Pickwicks, des Angeklagten, nicht wahr?“

„Wenn ich mich in diesem Augenblick recht erinnere, so kenne ich Mr. Pickwick beinahe …“

„Ich muß bitten, Mr. Winkle, daß Sie keine ausweichende Antworten geben. Sind Sie wirklich ein vertrauter Freund des Angeklagten, oder sind Sie es nicht?“

„Ich wollte soeben sagen, daß …“

„Wollen Sie meine Frage beantworten, Sir, oder nicht?“

„Wenn Sie nicht antworten, so laß ich Sie einsperren Sir“, fiel der kleine Richter ein mit einem Blick über sein Notizenbuch herüber.

„Nun also, Sir? Ja oder nein.“

„Ja, ich bin’s“, antwortete Mr. Winkle.

„Natürlich sind Sie es! Warum haben Sie es nicht gleich gesagt, Sir? Vielleicht kennen Sie auch die Klägerin? – Wie, Mr. Winkle?“

„Nein, ich kenne Sie nicht; das heißt, gesehen habe ich sie schon.“

„So, Sie kennen sie nicht, haben sie aber gesehen? Nun, so haben Sie die Güte, den Herren Geschworenen zu erklären, was Sie damit meinen, Mr. Winkle.“

„Ich meine damit, daß ich nicht genauer mit ihr bekannt bin, sie aber gesehen habe, wenn ich Mr. Pickwick in der Goswellstreet besuchte.“

„Wie oft haben Sie sie gesehen, Sir?“

„Wie oft?“

„Ja, Mr. Winkle, wie oft? Ich will Ihnen die Frage ein dutzendmal wiederholen, Sir, wenn Sie es wünschen, Sir.“ – Dabei stemmte der gelehrte Mr. Skimpin mit Stirnrunzeln die Hände in die Seite und lächelte den Geschworenen verdächtig zu.

Diese Frage zog das erbauliche Geschraube nach sich, das bei solchen Gelegenheiten üblich ist. Zuvörderst gab Mr. Winkle an, es sei ihm rein unmöglich zu sagen, wie oft er Mrs. Bardell gesehen habe. Dann fragte man ihn, ob er sie vielleicht zwanzigmal gesehen, und auf seine Antwort: „Gewiß – auch noch öfter“, wollte man genau wissen, ob er sie hundertmal gesehen – ob er nicht schwören könne, daß er sie mehr als fünfzigmal gesehen – ob er nicht angeben könne, daß er sie mehr als fünfundsiebzigmal gesehen, und so fort, bis man endlich zu dem befriedigenden Schlüsse gelangte, ihn nochmals zu ermahnen, er solle sich wohl in acht nehmen und bedenken, was er aussage. Nachdem er auf diese Art so verwirrt geworden, daß er kaum mehr wußte, wo ihm der Kopf stand, wurde das Verhör folgendermaßen fortgesetzt:

„Erinnern Sie sich, Mr. Winkle, an einem gewissen Morgen im vergangenen Juli den Beklagten Pickwick in seiner Wohnung bei der Klägerin in der Goswellstreet besucht zu haben?“

„Ja, ich erinnere mich.“

„Hatten Sie damals einen Freund namens Tupman und einen andern namens Snodgraß bei sich?“

„Ja.“

„Sind sie hier?“

„Ja“, erwiderte Mr. Winkle, sehr angelegentlich nach dem Platze blickend, wo seine Freunde saßen.

„Sehen Sie gefälligst mich an, Mr. Winkle, und nicht Ihre Freunde“, ermahnte Mr. Skimpin mit neuerlichem ausdrucksvollem Lächeln auf die Jury. „Die Herren müssen ihre Aussagen ohne vorherige Beratung mit Ihnen ablegen, falls solche etwa nicht schon stattgefunden hat (abermals ein Blick auf die Jury). Nun, Sir, sagen Sie jetzt den Herren Geschworenen, was Sie am selbigen Morgen beim Eintritt ins Zimmer des Beklagten gesehen haben? Nur heraus damit, Sir, wir müssen es früher oder später doch erfahren.“

„Der Beklagte, Mr. Pickwick, hielt die Klägerin in seinen Armen und hatte ihren Leib umschlungen“, erwiderte Mr. Winkle mit begreiflichem Zögern, „und die Klägerin schien in Ohnmacht gefallen zu sein.“

„Hörten Sie den Beklagten etwas sprechen?“

„Ja, ich hörte, daß er Mrs. Bardell ,liebe Frau‘ nannte und sie bat, sich zu beruhigen; dann, was man denn glauben müßte, wenn jemand käme, und ähnliche Redensarten.“

„Jetzt, Mr. Winkle, habe ich nur noch eine einzige Frage an Sie zu richten, und ich bitte Sie, hierbei der Ermahnung Seiner Lordschaft wohl eingedenk zu sein. – Wollen Sie beschwören, daß beklagter Pickwick bei dieser Gelegenheit nicht gesagt hat: ,Meine gute Bardell, Sie sind eine liebe Frau; beruhigen Sie sich, es wird schon noch dazu kommen‘, oder dem ähnliche Redensarten?“

„Ich – ich habe es wahrhaftig nicht so verstanden“, sagte Mr. Winkle, erstaunt über die listige Verdrehung der wenigen Worte, die er angegeben. „Ich war noch auf der Treppe und konnte es nicht deutlich hören; aber der Eindruck, den es auf mich machte, ist …“

„Die Herren Geschworenen wollen nichts von den auf Sie gemachten Eindrücken wissen, Mr. Winkle, die, fürchte ich ohnehin ehrlichen und rechtschaffenen Leuten wenig nützen würden“, unterbrach ihn Mr. Skimpin. „Sie waren also auf der Treppe und hörten es nicht deutlich, wollen aber nicht beschwören, daß Pickwick sich der von mir erwähnten Ausdrücke nicht bedient hat? Habe ich es so zu verstehen?“

„Nein, ich will es nicht beschwören“, erwiderte Mr. Winkle, und Mr. Skimpin setzte sich mit triumphierender Miene.

Mr. Pickwicks Sache hatte bis jetzt keinen so überaus günstigen Verlauf genommen, daß sie noch neue Verdachtsgründe hätte ertragen können. Da sie jedoch möglicherweise noch in ein besseres Licht zu stellen war, so erhob sich Mr. Phunky, um seinerseits Mr. Winkle noch einige wichtige Aufschlüsse zu entlocken.

„Ich glaube, Mr. Winkle“, begann er, „Mr. Pickwick ist kein junger Mann mehr?“

„O nein“, erwiderte Mr. Winkle, „er könnte mein Vater sein.“

„Sie haben meinem wertgeschätzten Kollegen gesagt, Sie kennen Mr. Pickwick schon lange. Hatten Sie jemals Grund zu vermuten oder zu glauben, er beabsichtige, sich zu verheiraten?“

„Nein, niemals“, antwortete Mr. Winkle mit solchem Eifer, daß ihn Mr. Phunky am liebsten so schnell wie möglich aus der Zeugenloge entfernt hätte. In den Augen der Rechtsgelehrten gibt es zwei Arten besonders schlechter Zeugen; solche, die gar nichts, und solche, die zuviel aussagen. Das Schicksal wollte, daß Mr. Winkle beide Arten trefflich in sich vereinigte.

„Ich will sogar noch weitergehen, Mr. Winkle“, fuhr Phunky mit freundlichem und einschmeichelndem Tone fort. „Bemerkten Sie in Mr. Pickwicks Benehmen gegen das andere Geschlecht je etwas, das Sie hätte auf den Glauben bringen können, er hege in den letzten Jahren überhaupt Heiratsgedanken?“

„O nein, nicht das mindeste“, versicherte Mr. Winkle.

„War sein Benehmen in Gesellschaft von Damen nicht das eines Mannes, der, an Jahren schon ziemlich vorgerückt, nur noch an seine Geschäfte oder Vergnügungen denkt und sie bloß behandelt wie ein Vater seine Töchter?“

„Daran ist kein Zweifel“, antwortete Mr. Winkle in der Fülle seines Herzens. „Das heißt – ja – hm, o ja –“

„Sie haben also in seinem Benehmen gegen Mrs. Bardell oder sonst gegen eine Frau nie etwas auch nur im mindesten Verdächtiges wahrgenommen?“ fragte Mr. Phunky und wollte sich niedersetzen, denn Prokurator Snubbin hatte ihm einen Wink gegeben.

„Nein, nein“, erwiderte Mr. Winkle, „außer in einem einzigen unbedeutenden Fall, der sich aber, wie ich nicht bezweifle, leicht wird aufklären lassen.“

Hätte sich der unglückliche Mr. Phunky sofort gesetzt, als Prokurator Snubbin ihm zuzwinkerte, oder wäre Prokurator Buzfuz gleich im Anfang gegen dieses unstatthafte Zeugenverhör aufgetreten (er hatte sich gehütet, es zu tun, da er Mr. Winkles Ängstlichkeit bemerkte und Hoffnung hatte, dieselbe zu seinem Vorteil ausbeuten zu können), so wäre ‚dieses unglückselige Geständnis Mr. Winkle nicht entschlüpft. Kaum aber waren die Worte seinen Lippen entflohen, so setzte sich Phunky, und Prokurator Snubbin rief Mr. Winkle im größten Eifer zu, er solle die Zeugenloge verlassen, wozu er sich auch mit aller Bereitwilligkeit anschickte, als Prokurator Buzfuz es mit dem Ruf verhinderte:

„Bleiben Sie, Mr. Winkle. Bleiben Sie. Wollen Euer Lordschaft die Güte haben, den Zeugen zu fragen, worin der einzige Fall bestand, wo ihm das Benehmen dieses Herrn, der sein Vater sein könnte, gegen Frauen verdächtig vorkam?“

„Sie hören, was der Herr Anwalt sagt“, nahm der Richter das Wort, sich an den unglücklichen, von neuem Schreck ergriffenen Mr. Winkle wendend. „Erklären Sie sich näher über den Fall, den Sie angedeutet haben.“

„Mylord“, stotterte Mr. Winkle zitternd vor Verlegenheit, „ich – ich möchte es lieber nicht sagen.“

„Das ist wohl möglich“, knurrte der kleine Richter, „aber Sie müssen.“

Und unter dem tiefsten Stillschweigen der ganzen Versammlung erklärte Mr. Winkle mit stockender Stimme; Der einzige unbedeutende Vorfall, der Verdacht erregen könne, sei, daß man Mr. Pickwick einmal um Mitternacht im Schlafzimmer einer Dame gefunden habe, und soviel er wisse, sei infolge dieser Entdeckung die projektierte Heirat besagter Dame rückgängig gemacht worden. Auch wisse er bestimmt, daß damals alle dabei Beteiligten mit Gewalt vor George Nupkins, Esquire, den Friedensrichter und Bürgermeister von Ipswich, geführt worden seien.

„Jetzt können Sie die Zeugenloge verlassen, Sir“, sagte Prokurator Snubbin.

Mr. Winkle tat es und rannte wie besessen nach dem „Georg und Geier“, allwo der Kellner ihn einige Stunden nachher jammervoll stöhnend und ächzend, den Kopf in die Sofakissen begraben, entdeckte.

Tracy Tupman und Augustus Snodgraß wurden, hierauf nacheinander in die Zeugenloge gerufen. Beide bestätigten die Aussage ihres unglücklichen Freundes, und beide wurden durch verfängliche Fragen aus der Fassung gebracht.

Als vorletzter Zeuge wurde Susanna Sanders aufgerufen und zuerst von Prokurator Buzfuz und dann von Prokurator Snubbin befragt. Sie habe, erklärte sie, immer gesagt und geglaubt, Mr. Pickwick werde Mrs. Bardell heiraten; sie wisse, daß nach der Ohnmachtsgeschichte im Juli die ganze Nachbarschaft von nichts gesprochen habe, als von dem Verlöbnisse zwischen Mrs. Bardell und Mr. Pickwick; sie habe es Mrs. Muderry, die eine Mangel besitze, und Mrs. Bunkin, die Weißnäherin, mehr als einmal sagen hören, obgleich sie keine von beiden hier im Saale erblicke. Sie habe gehört, wie Mr. Pickwick das Kind gefragt, ob es sich freuen würde, wenn es wieder einen Vater bekäme. Sie wisse absolut nichts davon, daß Mrs. Bardell in vertraulichen Beziehungen zu dem Bäcker gestanden, nur soviel könne sie sagen, daß der Bäcker damals ledig gewesen sei, sich aber inzwischen verheiratet habe. Sie könne nicht darauf schwören, daß Mrs. Bardell nicht sehr verliebt in den Bäcker gewesen sei, glaube aber, der Bäcker müsse nicht sehr verliebt in Mrs. Bardell gewesen sein, weil er sonst gewiß nicht eine andere geheiratet hätte. Sie glaube, Mrs. Bardell sei an jenem Julimorgen in Ohnmacht gefallen, weil Mr. Pickwick in sie gedrungen sei, den Hochzeitstag zu bestimmen; sie erinnere sich noch, daß sie (die Zeugin) wie tot niedergefallen sei, als ihr jetziger Gatte sie seinerzeit gebeten, den Hochzeitstag festzusetzen, und sie glaube, daß es jedem anständigen Frauenzimmer unter ähnlichen Umständen ebenso ergehen müsse. Sie habe ferner gehört, wie Mr. Pickwick den Knaben wegen seiner Murmeln gefragt habe, sie könne aber nicht einmal unter Eid den Unterschied zwischen einem Stein und einer Murmel angeben.

Auf weitere Fragen des Richters erzählte sie noch, sie habe während ihres Brautstandes mit Mr. Sanders auch Liebesbriefe von ihm erhalten wie andre Frauen. Mr. Sanders habe sie in seiner Korrespondenz zwar oft „Ente“ genannt, niemals aber Kotelettes oder Tomatensauce. Er habe aber Enten für sein Leben gern gegessen. Vielleicht würde er, wenn er ebensogern Kotelettes und Tomatensauce gegessen hätte, sie in seiner Zärtlichkeit auch so geheißen haben.

Prokurator Buzfuz erhob sich schließlich mit womöglich noch größerer Wichtigkeit als vorher und rief laut nach Mr. Samuel Weller.

Es war höchst unnötig, so laut zu schreien, denn Samuel Weller befand sich in der Zeugenloge, als sein Name kaum ausgesprochen war. Er legte seinen Hut neben sich auf den Boden, die Arme auf das Geländer, besah sich die Anwälte aus der Vogelperspektive und ließ mit merkwürdiger Unbefangenheit und Heiterkeit seinen Blick über die Herren schweifen.

„Wie heißen Sie?“ fragte der Richter.

„Sam Weller, Mylord.“

„Schreibt man Sie mit einem V oder mit einem W?“ fragte der Richter weiter.

„Kommt ganz auf den Geschmack und das Belieben des Schreibenden an, Mylord“, erwiderte Sam, „ich selbst habe bloß ’n paarmal in meinem Leben Veranlassung gehabt, meinen Namen zu schreiben, aber ich mache immer ’n. V.“

Hier rief eine Stimme von der Galerie herab:

„Ganz recht, Samuel, ganz recht; machen Sie ’n V, Mylord, machen Sie ’n V.“

„Wer untersteht sich da, den Gerichtshof anzureden?“ rief der kleine Richter, in die Höhe blickend. – „Gerichtsdiener!“

„Hier, Mylord!“

„Führen Sie diese Person sogleich vor.“ „Sehr wohl, Mylord.“

Da aber der Gerichtsdiener die Person nicht fand, so führte er sie auch nicht vor, und unter großem Geräusch setzten sich die Leute alle wieder, die aufgestanden waren, um den Verbrecher zu sehen. Das Richterlein wandte sich aufs neue an den Zeugen, sobald seine Entrüstung ihm zu sprechen erlaubte, und fragte: „Wissen Sie, wer das war?“

„Mylord“, antwortete Sam, „ich vermute fast, mein Vater war’s.“

„Sehen Sie ihn jetzt noch?“

„Nein, Mylord“, antwortete Sam und starrte unverwandt auf die Laterne, die an der Decke des Gerichtssaales hing. „Wenn Sie ihn mir hätten zeigen können, so hätte ich ihn sogleich verhaften lassen“, sagte der Richter. Sam verbeugte sich dankbar und wandte sich dann mit unverminderter Heiterkeit wieder zu dem Prokurator Buzfuz.

„Nun, Mr. Weller?“ begann der Prokurator Buzfuz. „Nun, Sir?“

„Ich glaube, Sie stehen im Dienst Mr. Pickwicks, der hier der Beklagte ist. Sprechen Sie gefälligst unumwunden, Mr. Weller.“

„Werde schon unumwunden sprechen“, erwiderte Sam. „Ich stehe allerdings im Dienst dieses Gentleman, und es is ’n sehr guter Dienst.“

„Wenig zu tun und recht viel zu kriegen – was?“ meinte der Prokurator Buzfuz scherzend.

„Hm, gerade genug zu kriegen, Sir, wie der Soldat sagte, als man ihm dreihundertfünfzig Stockprügel zumaß.“

„Sie brauchen uns nicht zu sagen, was der Soldat oder sonst jemand gesagt hat“, schnauzte der Richter Sam an, „das ist keine Zeugenaussage.“ „Sehr wohl, Mylord“, antwortete Sam.

„Erinnern Sie sich irgendeines besondern Umstandes von dem Morgen her, wo der Beklagte Sie in seine Dienste nahm, Mr. Weller?“ fragte der Prokurator Buzfuz wieder.

„Jawohl, Sir.“

„Haben Sie die Güte, den Geschworenen zu sagen, was es war.“

„Ich bekam an diesem Morgen ’n ganz neuen Anzug, meine Herren Geschworenen“, sagte Sam, „und das war für mich in den Tagen ’n sehr einschneidendes Ereignis.“

Ein allgemeines Gelächter brach los. Der kleine Richter blickte zornentbrannt über seinen Schreibtisch hinüber und sagte:

„Nehmen Sie sich in acht, Sir!“

„So sagte damals auch Mr. Pickwick, Mylord“, antwortete Sam, „und ich nahm mir mit dem Anzug auch sehr in acht; sehen Sie nur, wie ich ’n geschont habe, Mylord.“

Zwei Minuten lang blickte der Richter Sam streng an; aber Sams Züge waren so vollkommen ruhig und heiter, daß er nichts zu sagen wußte und daher den Prokurator Buzfuz aufforderte, weiter fortzufahren.

„Mr. Weller“, nahm der Prokurator Buzfuz das Verhör wieder auf, verschränkte würdevoll die Arme und wandte sich halb gegen die Geschworenen, als wollte er ihnen stumm versichern, er werde diesen Zeugen schon noch fangen. „Wollen Sie damit wirklich sagen, Mr. Weller, daß Sie nichts davon gesehen haben, wie die Klägerin ohnmächtig in den Armen des Beklagten lag, was die Zeugen vorhin bereits ausführlich zugegeben haben?“ „Habe wirklich nischt gesehen“, erwiderte Sam. „Ich war im Gang, bis man mir rief, und dann war die alte Dame schon nich mehr da.“

„Merken Sie wohl auf, Mr. Weller“, ermahnte der Prokurator Buzfuz, eine große Feder in das vor ihm stehende Tintenfaß tauchend, damit Sam Angst bekommen und glauben solle, er wolle seine Antwort niederschreiben. „Sie waren im Gang und haben nichts von dem gesehen, was vorging? Haben Sie nicht ein paar Augen im Kopf, Mr. Weller?“

„Jawoll habe ich ’n paar Augen“, erwiderte Sam. „Eben drum. Wenn ich ’n paar Patent-Doppelmillionen-Vergrößerungsgläser von Extragüte hätte, war’s mir ’n leichtes gewesen, durch ’ne eichene Tür zu sehen; aber da es bloß ’n paar einfache Augen sin, is mein Gesichtskreis leider beschränkt.“

Bei dieser Antwort, die ohne den geringsten Anschein von Aufregung und mit der vollkommensten Unbefangenheit und Gleichmütigkeit gegeben wurde, kicherten die Zuschauer, der kleine Richter schmunzelte, und Prokurator Buzfuz schaute ausnehmend albern drein. Nach einer kurzen Beratung mit Dodson und Fogg wandte sich der Rechtsgelehrte abermals an Sam und sagte, mit Mühe seinen Ärger verbeißend:

„Jetzt, Mr. Weller, werde ich Ihnen, wenn Sie gestatten, eine Frage über einen andern Punkt vorlegen.“

„Ganz wie’s Ihnen beliebt“, erwiderte Sam mit der besten Laune von der Welt.

„Erinnern Sie sich noch, im vergangenen November einmal bei Nacht zu Mrs. Bardell gegangen zu sein?“

„O ja, recht gut.“

„So, Sie erinnern sich dessen also, Mr. Weller?“ sagte Prokurator Buzfuz, frischen Mut fassend. „Ich dachte mir doch, wir würden am Ende noch etwas von Ihnen erfahren.“

„Habe ich mir auch gedacht, Sir“, entgegnete Sam.

Die Zuschauer kicherten aufs neue.

„Gut. Sie gingen ohne Zweifel zu ihr, um mit ihr ein bißchen über den Prozeß zu sprechen, was, Mr. Weller?“ fragte Prokurator Buzfuz, den Geschworenen bedeutsame Blicke zuwerfend.

„Ich ging hin, um die Miete zu bezahlen; aber wir haben allerdings auch über den Prozeß gesprochen“, erwiderte Sam.

„Aha, Sie sprachen auch über den Prozeß!“ rief Buzfuz, strahlend im Vorgenuß einer wichtigen Entdeckung. „Nun, und was wurde denn über den Prozeß gesprochen? Wollen Sie die Güte haben, es uns zu sagen, Mr. Weller?“

„Mit dem größten Vergnügen, Sir. Nach ’n paar unwichtigen Bemerkungen, wo die zwei tugendfesten Frauenzimmer, wo Sie vorhin befragt haben, also gemacht haben, ließen sich die Damen mit große Bewunderung über das ehrenwerte Benehmen von die Herren Dodson und Fogg aus, die wo da neben Ihnen sitzen.“

Das zog natürlich die allgemeine Aufmerksamkeit auf Dodson und Fogg, die möglichst tugendhafte Gesichter schnitten.

„Die Sachwalter der Klägerin? Die Damen haben also mit großem Lob von dem ehrenhaften Benehmen der Herren Dodson und Fogg, den Sachwaltern der Klägerin, gesprochen?“

„Ja. Sie meinten, daß es doch sehr schön von denen is, daß sie den Prozeß bloß auf Spekulation übernommen haben und daß sie sich nichts für die Unkosten bezahlen lassen wollen, wenn Mr. Pickwick nicht verurteilt wird.“

Bei dieser höchst unerwarteten Antwort kicherten die Zuschauer abermals. Die Herren Dodson und Fogg wurden feuerrot, beugten sich zu Prokurator Buzfuz und flüsterten ihm hastig etwas ins Ohr.

„Sie haben vollkommen recht“, sagte Prokurator Buzfuz laut mit erzwungener Ruhe. „Es ist durchaus nutzlos, Mylord, von der unverbesserlichen Dummheit dieses Zeugen irgendeinen Aufschluß zu erwarten. Ich will den Gerichtshof nicht länger damit aufhalten, daß ich noch mehr Fragen an ihn richte. Sie können gehen, Sir.“

„Hat einer von den Herren vielleicht Lust, mir noch was zu fragen?“ sagte Sam, nahm seinen Hut und blickte bedächtig um sich.

„Ich nicht, Mr. Weller, danke Ihnen“, antwortete Prokurator Snubbin lachend.

„Sie können sich entfernen, Sir“, sagte Prokurator Buzfuz, ungeduldig mit der Hand winkend.

Sam trat demgemäß ab, nachdem er der Sache der Herren Dodson und Fogg den größtmöglichen Schaden zugefügt, über Mr. Pickwick aber so wenig wie möglich ausgesagt hatte, was beides von Anfang an seine Absicht gewesen war.

Prokurator Snubbin hielt jetzt eine sehr lange und nachdrucksvolle Rede zugunsten des Beklagten an die Geschworenen, worin er dem Lebenswandel und Charakter Mr. Pickwicks das größte Lob angedeihen ließ. Er versuchte klarzulegen, daß die vorgelegten Billette sich lediglich auf Mr. Pickwicks Mittagessen oder auf die Vorbereitungen zu seinem Empfang bezogen, als er von einer ländlichen Exkursion zurückkehrte. Kurz, er tat für Mr. Pickwick sein möglichstes und mehr kann man bekanntlich auch vom Besten nicht verlangen.

Richter Stareleigh resümierte in der althergebrachten und üblichen Form. Er las den Geschworenen so viel von seinen Notizen vor, als er bei der Schnelligkeit, mit der er sie niedergeschrieben, entziffern konnte, und ließ allgemeine Bemerkungen mit einfließen, wie zum Beispiel, wenn Mrs. Bardell recht habe, so sei es sonnenklar, daß Mr. Pickwick unrecht habe, und wenn die Geschworenen die Aussagen der Mrs. Cluppins glaubwürdig fänden, so müßten sie ihnen Glauben schenken, wo nicht, so würden sie es nicht tun; wenn sie überzeugt seien, daß ein Eheversprechen nicht gehalten worden sei, so würden sie der Klägerin eine angemessene Entschädigung zuerkennen, wenn sie dagegen glaubten, das Eheversprechen habe überhaupt nicht stattgefunden, so würden sie den Beklagten vollkommen freisprechen. Die Geschworenen zogen sich hierauf in ihr Beratungszimmer zurück; und der Richter begab sich auf sein Privatbüro, um sich an einer Hammelkeule und einem Glas Champagner zu laben.

Es verstrich eine ängstliche Viertelstunde; die Jury kam zurück, und der Richter wurde hereingeholt. Mr. Pickwick setzte seine Brille auf und starrte mit unruhevollem Gesicht und heftig klopfendem Herzen nach dem Vorsitzenden hin.

„Meine Herren“, fragte das schwarzgekleidete Individuum, „haben Sie sich über Ihren Ausspruch geeinigt?“

„Ja“, antwortete der Vorsitzende.

„Für wen haben Sie entschieden, meine Herren, für die Klägerin oder den Beklagten?“

„Für die Klägerin.“

„Welche Entschädigung erkennen Sie ihr zu?“

„Siebenhundertundfünfzig Pfund.“

Mr. Pickwick nahm seine Brille ab, wischte die Gläser sorgfältig ab, steckte sie ins Futteral und dieses in die Tasche; dann zog er mit großer Sorgfalt seine Handschuhe an, und nachdem er die ganze Zeit über den Vorsitzenden unverwandt angestarrt, folgte er mechanisch Mr. Perker und dem blauen Aktenbeutel zum Saale hinaus.

Sie begaben sich in ein Seitenzimmer, wo Perker die Gebühren bezahlte und wohin bald darauf auch Mr. Pickwicks Freunde kamen. Hier trafen sie auch die Herren Dodson und Fogg, die sich mit allen Zeichen größter Zufriedenheit die Hände rieben.

„Nun, meine Herren?“ fragte Mr. Pickwick.

„Nun, Sir?“ sagte Mr. Dodson für sich und seinen Associé.

„Sie bilden sich wahrscheinlich ein, daß Sie Ihre Kosten bekommen werden, meine Herren?“

Fogg erwiderte, sie zweifelten nicht daran, und Dodson meinte, sie wollten es auf einen Versuch ankommen lassen.

„Versuchen Sie es, solange Sie wollen, meine Herren Dodson und Fogg“, sagte Mr. Pickwick heftig, „von mir bekommen Sie keinen Heller, und wenn ich mein ganzes noch übriges Leben im Schuldgefängnis zubringen müßte.“

„Haha!“ lachte Dodson. „Sie werden sich noch vor dem nächsten Gerichtstag eines Bessern besinnen, Mr. Pickwick.“

„Hihihi“, grinste Fogg, „das wollen wir doch mal sehen, Mr. Pickwick.“

Sprachlos vor Entrüstung ließ sich Mr. Pickwick von seinem Anwalt und seinen Freunden hinausführen und stieg in eine Mietkutsche, die der allzeit aufmerksame Sam Weller flink zu diesem Behufe herbeigeholt hatte.

Sam hatte den Tritt hinauf geschlagen und wollte eben auf den Bock springen, als ihm jemand auf die Schulter klopfte. Er sah sich um, und sein Vater stand vor ihm. Das Gesicht des alten Herrn trug den Ausdruck tiefer Betrübnis; er schüttelte ernsthaft sein Haupt und sagte in vorwurfsvollem Tone:

„Siehste wohl, Sammy. Warum habt ihr kein Alibi nachgewiesen! – Sammy, Sammy!“

Vierunddreißigstes Kapitel


Vierunddreißigstes Kapitel

Mr. Pickwick beschließt, nach Bath zu gehen.

„Aber wahrhaftig, mein lieber Herr“, sagte der kleine Perker, als er am andern Morgen nach der Gerichtssitzung Mr. Pickwick besuchen kam, „es wird Ihnen doch nicht wirklich ernst sein – wir wollen jetzt ohne Spaß und ohne Aufregung davon sprechen –, Sie werden doch nicht im Ernst die Unkosten und die Entschädigung verweigern wollen?“

„Nicht einen halben Penny bezahle ich“, sagte Mr. Pickwick fest, „nicht einen halben Penny.“

„Es geht nichts über feste Grundsätze, wie der Wucherer sagte, als er den Wechsel nicht verlängern wollte“, bemerkte Mr. Weller, der das Frühstück abräumte.

„Sam“, sagte Mr. Pickwick, „sei so gut und geh hinunter.“

„Sogleich, Sir“, erwiderte Mr. Weller und zog sich auf diesen zarten Wink sogleich zurück.

„Nein, Perker“, fuhr Mr. Pickwick mit Ernst und Würde fort, „meine Freunde hier haben sich alle Mühe gegeben, mir meinen Entschluß auszureden; aber ich bleibe fest. Ich werde mich wie gewöhnlich beschäftigen, bis die Gegenpartei das gesetzliche Recht hat, Exekution gegen mich zu beantragen, und wenn sie niedrig genug denkt, sich derselben zu bedienen und mich verhaften zu lassen, so werde ich mich fröhlich und zufrieden darein ergeben. Wann läuft die Zeit ab?“

„Bei der nächsten Gerichtssitzung“, antwortete Perker, „das heißt gerade in zwei Monaten, mein lieber Herr.“

„Also gut. Bis dahin, werter Freund, lassen Sie mich nichts mehr von der Sache hören. Und jetzt“, fuhr Mr. Pickwick fort und wandte sich mit vergnügtem Lächeln und funkelnden Augen, deren Glanz selbst durch den der Brille nicht verdunkelt werden konnte, an seine Freunde, „jetzt handelt es sich bloß darum, wohin begeben wir uns zunächst?“

Mr. Tupman und Mr. Snodgraß waren von dem Heroismus ihres Meisters zu sehr hingerissen, als daß sie sogleich eine Antwort hätten finden können; Mr. Winkle harte sich noch nicht hinlänglich von der Erinnerung an seine Zeugenschaft erholt, um ein Wörtchen mitzusprechen, und so wartete Mr. Pickwick vergebens auf Antwort.

„Nun gut“, sagte er endlich, „wenn Sie die Bestimmung 0iir überlassen wollen, so schlage ich Bath vor. Soviel ich weiß, ist noch keiner von uns dort gewesen.“

Es war wirklich so, und da Perker, der es für höchstwahrscheinlich hielt, daß Mr. Pickwick nach einiger Luftveränderung und Zerstreuung sich eines Besseren besinnen und die Sache mit dem Schuldgefängnis in einem andern Lichte betrachten werde, den Vorschlag eifrig unterstützte, so wurde die Reise einstimmig beschlossen und Sam sogleich nach dem „Weißen Roß“ abgeschickt, um auf dem am nächsten Morgen um halb acht Uhr abgehenden Postwagen fünf Plätze zu belegen.

Es waren nur noch 2wei innen und drei außen zu vergeben. Sam Weller nahm sie alle, und nachdem er mit dem Postkassierer wegen einer bleiernen halben Krone, die man ihm herausgeben wollte, einige Höflichkeiten gewechselt, ging er nach dem „Georg und Geier“ zurück, wo er sich bis zum Schlafengehen eifrigst damit beschäftigte, Kleider und Wäsche in den kleinstmöglichen Raum zu zwängen, und sein ganzes mechanisches Genie aufbot, um durch allerhand sinnreiche Kunstgriffe die Koffer zu verschließen, die keine Schlösser hatten.

Der nächste Morgen war höchst ungünstig für eine Reise. Es lag ein trüber, dunstiger Nebel, und es regnete. Die Pferde vor dem Postwagen, der gerade von der City kam, dampften so, daß die außen fahrenden Passagiere ganz unsichtbar waren. Die Zeitungsverkäufer sahen aus wie aus dem Wasser gezogen und rochen dunstig; der Regen troff von den Hüten der Orangenverkäufer, wenn sie die Köpfe in die Kutschenfenster hereinsteckten, und die Juden mit den fünfzigklingigen Federmessern steckten ihre Ware verzweifelnd ein. Ebensowenig konnten die andern Händler ihre Uhrketten und Röstgabeln, ihre Bleistifthalter und Schwämme losschlagen.

Als der Wagen anhielt, überließen Mr. Pickwick und seine Freunde Sam Weller die Sorge, das Gepäck aus den Händen der sieben oder acht Träger zu retten, die wütend darüber herfielen, und da sie um zwanzig Minuten zu früh gekommen waren, suchten sie Schutz im Passagierzimmer – dem letzten Zufluchtsort menschlichen Elends.

Das Passagierzimmer im „Weißen Roß“ ist, wie es sich von selbst versteht, nichts weniger als behaglich; es wäre ja sonst kein Passagierzimmer. Es ist die Stube rechterhand, hat aber mehr Ähnlichkeit mit einer Küche, in der Schüreisen, Feuerzangen und Schaufeln unordentlich beieinanderliegen. Zur Förderung der Geselligkeit der Reisenden war es in mehrere abgesonderte Verschlage abgeteilt und mit einer Glocke, einem Spiegel sowie mit einem Kellner versehen, der sich an einem Wasserkübel zu schaffen machte, um Gläser zu spülen. In einem dieser Verschlage saß dazumal ein grimmig dreinblickender Mann von etwa fünfundvierzig Jahren, mit glänzend kahler Stirn, starkem schwarzem Haar an den Schläfen und dem Hinterkopf und einem großen dunklen Backenbart. Er hatte seinen braunen Rock bis unter das Kinn zugeknöpft, trug eine große Reisemütze von Seehundsfell, und ein Überrock nebst Mantel lag neben ihm auf dem Stuhl. Als Mr. Pickwick eintrat, blickte er mit trotzig-gebieterischer Miene, die viel Würdevolles hatte, von seinem Frühstück auf, und, nachdem er die Herren ungeniert gemustert, summte er ein Liedchen in einer Art, die zu sagen schien, wer mit ihm anbinden wolle, werde schlecht dabei fahren. „Kellner!“ schrie er dann plötzlich.

„Sir!“ erwiderte ein junger Mensch mit schmutzigem Gesicht und dito Handtuch, der aus der Ecke des Zimmers hervortauchte.

„Toast mit Butter!“

„Sogleich, Sir.“

„Toast mit Butter, verstanden!“ wiederholte der Gentleman in barschem Ton.

„Ganz recht, Sir.“

Der Herr mit dem Backenbart summte sein Liedchen wie vorhin, näherte sich sodann in Erwartung der Brotschnitten dem Kamin, nahm seine Rockschöße unter den Arm, blickte auf seine Stiefel nieder und schien in tiefes Nachdenken zu versinken.

„Ich bin doch neugierig, wo unsre Kutsche in Bath anhält“, sagte Mr. Pickwick in freundlichem Tone zu Mr. Winkle.

„Wie – was?“ fiel der Fremde ein.

„Sir“, erwiderte Mr. Pickwick, stets bereit, auf eine Unterhaltung einzugehen, „ich sagte zu meinem Freunde, ich möchte gern wissen, wo die Kutsche in Bath anhält. Vielleicht können Sie mir Auskunft geben?“

„Reisen Sie nach Bath?“ fragte der Fremde.

„Ja, Sir.“

„Und die andern Herren?“

„Sie reisen auch mit.“

„Aber doch nicht im Wagen drinnen – ich will verdammt sein, wenn Sie im Wagen fahren.“

„Wir alle gerade nicht“, sagte Mr. Pickwick.

„Nein, Sie alle natürlich nicht“, versetzte der Fremde mit Nachdruck. „Ich habe zwei Plätze genommen. Wenn man sechs Leute in diesen verwünschten Kasten hineinzwängen will, der nur für vier Raum hat, so nehme ich die Extrapost und klage. Ich habe meine Fahrt bezahlt und dabei dem Sekretär ausdrücklich gesagt, daß so etwas ein für allemal nicht angeht. Ich weiß, daß diese Burschen es häufig so machen. Ich weiß, daß sie sich’s alle Tage herausnehmen; aber bei mir sollen sie schon ein Haar darin finden. Wer mich kennt, weiß, daß ich mir nichts bieten lasse. Gott straf mich.“

Dann klingelte der wilde Gentleman mit großer Heftigkeit und schnauzte den Kellner an, er solle die gerösteten Brotschnitten binnen fünf Sekunden bringen, oder er wolle ihn schon Mores lehren.

„Werter Herr“, sagte Mr. Pickwick, „erlauben Sie mir, Ihnen zu bemerken, daß Sie sich ganz unnötigerweise so ereifern. Ich habe nur zwei Plätze innen belegt.“

„Das freut mich“, sagte der wilde Mann, „ich nehme meine Ausdrücke zurück. Ich bitte um Entschuldigung. Hier ist meine Karte. Geben Sie mir die Ihre.“

„Mit größtem Vergnügen, Sir“, erwiderte Mr. Pickwick. „Wir werden Reisegefährten sein und, wie ich hoffe, zu unserm gegenseitigen Vergnügen.“ „Das hoffe ich auch“, sagte der grimmige Gentleman. „Weiß es sogar schon. Sie gefallen mir. Meine Herren Ihre Hand! Wie ist Ihr Name?“ Natürlich fanden sofort freundschaftliche Begrüßungen statt, und der grimmige Gentleman stellte sich in denselben kurz abgebrochenen Sätzen als Mr. Dowler vor. Er reise zu seinem Vergnügen nach Bath, habe früher in der Armee gedient, aber seinen Abschied genommen, lebe jetzt standesgemäß von seinen Renten, und der zweite Platz, den er bestellt, sei für niemand geringeren als für Mrs. Dowler, seine werte Gemahlin. „Sie ist eine schöne Frau“, fügte er hinzu. „Ich bin stolz auf sie. Ich habe alle Ursache!“

„Ich hoffe, ich werde das Vergnügen haben, mich selbst davon zu überzeugen“, sagte Mr. Pickwick lächelnd.

„Das sollen Sie auch“, erwiderte Mr. Dowler. „Sie soll Ihre Bekanntschaft machen; sie wird Sie hochachten. Ich bewarb mich um sie unter seltsamen Umständen. Gewann sie durch ein übereiltes Gelübde. Die Sache war so. Ich sah sie, liebte sie, erklärte mich; sie gab mir einen Korb. – ,Lieben Sie einen andern?‘ – ,Ersparen Sie mir ein Erröten!‘ – ,Ich kenne ihn.‘ – ,Das weiß ich!‘ – ,Gut, ich werde ihm die Haut abziehen, wenn er hier bleibt.'“

„Gott steh mir bei“, rief Mr. Pickwick unwillkürlich aus.

„Und haben Sie dem Herrn tatsächlich die Haut abgezogen?“ fragte Mr. Winkle erblassend.

„Ich schrieb ihm ein Billett. Ich sagte, es sei eine fatale Sache. Und das war es auch.“

„Das will ich glauben“, meinte Mr. Winkle.

„Ich sagte, ich hätte mein Wort als Ehrenmann verpfändet, ihm die Haut abzuziehen. Meine Ehre stehe auf dem Spiele. Ich hätte keine Wahl mehr. Als Offizier in den Diensten Seiner Majestät müßte ich es tun. Ich bedauerte die Notwendigkeit, allein es ließe sich nicht mehr ändern. Er war zugänglich für Vernunftgründe. Sah ein, daß Ehrengesetze gebieterisch Befolgung heischten. Floh. Ich heiratete sie. Hier kommt die Kutsche. Da sieht sie eben heraus.“

Mr. Dowler zeigte nach dem offenen Fenster des soeben angekommenen Postwagens, aus dem ein recht hübsches Gesichtchen unter einer hellblauen Haube auf die im Hofe stehende Gruppe schaute, höchstwahrscheinlich, um den grimmigen Mann herauszufinden. Mr. Dowler bezahlte und eilte mit seiner Reisekappe, seinem Stock und Mantel hinaus, und Mr. Pickwick und seine Freunde folgten ihm, um sich ihrer Plätze zu versichern.

Mr. Tupman und Mr. Snodgraß waren hinten hinauf, Mr. Winkle in den Wagen selbst gestiegen, und Mr. Pickwick stand im Begriff, ihm zu folgen, als Sam Weller zu ihm trat und ihm mit äußerst geheimnisvoller Miene zuflüsterte, er habe ihm etwas zu sagen.

„Nun, Sam“, fragte Mr. Pickwick, „was gibt’s denn?“

„’ne nette Geschichte, Sir.“

„Also was denn?“

„Ich fürchte sehr“, antwortete Sam, „daß der Eigentümer dieser Kutsche uns ’n impertinenten Streich gespielt hat.“

„Wieso, Sam? Sind etwa die Namen nicht eingetragen?“

„Sie sin nich nur eingetragen, sondern einer davon is sogar auf die Kutschentür gemalt.“ Mit diesen Worten deutete Sam auf den Teil der Tür, wo gewöhnlich der Name des Eigentümers steht, und wirklich war hier in stattlichen vergoldeten Buchstaben der Name Pickwick zu lesen. „Seltsam“, rief Mr. Pickwick ganz verblüfft, „wahrhaftig, sehr seltsam.“

„Das is noch nich alles“, sagte Sam und lenkte nochmals die Aufmerksamkeit seines Herrn auf die Kutschentür, „sie haben nich bloß ,Pickwick‘ draufgeschrieben, sondern auch noch Moses davorgesetzt, und das nenne ich ’ne Verhöhnung neben der Beleidigung, wie der Papagei sagte, als man ihm nich nur aus seinem Vaterland entführte, sondern auch später noch zwang, Englisch zu lernen.“

„Es ist wirklich sehr auffallend, Sam“, gab Mr. Pickwick zu, „aber wenn wir noch lange dastehen und schwatzen, so verlieren wir unsre Plätze.“

„Was, Sie wollen da gar nichts gegen tun?“ rief Sam, gänzlich verwundert über die Kaltblütigkeit, mit der Mr. Pickwick sich anschickte, einzusteigen.

„Was soll ich denn tun?“ fragte Mr. Pickwick. „Was soll ich denn tun?“

„Soll denn niemand für diese Frechheit gezüchtigt werden, Sir?“ fragte Mr. Weller, der zum mindesten den Auftrag erwartet hatte, den Kondukteur und den Kutscher zu einem Faustkampf an Ort und Stelle herauszufordern.

„Nein, nein“, erwiderte Mr. Pickwick eifrig, „unter keinen Umständen. Steige jetzt auf deinen Platz.“

„Ich fürchte beinahe“, murmelte Sam beiseite, „ich fürchte beinahe, mit meinem Herrn ist es nich ganz richtig, sonst wäre er nich so ruhig geblieben. Der Prozeß wird ihm doch hoffentlich seinen Mut nich genommen haben? Es sieht verdammt schlimm aus.“ – Dann stieg er auf, schüttelte bedenklich den Kopf und sprach als Beweis, wie sehr er sich die Sache zu Herzen nahm, kein Wort mehr, bis die Kutsche am Kensingtoner Schlagbaum anhielt. In seinem ganzen Leben war es vielleicht noch nicht vorgekommen, daß er so lange geschwiegen hatte.

Während der Reise trug sich nichts besonders Erwähnenswertes zu. Mr. Dowler erzählte eine Menge Anekdoten, die sämtlich seinen Mut und seine Tollkühnheit zum Thema hatten, und appellierte dabei an seine Gemahlin, die sie bestätigte und als Zugabe jedesmal noch irgendeinen merkwürdigen Umstand hinzufügte, den Mr. Dowler vergessen oder vielleicht auch aus Bescheidenheit übergangen hatte.

Mr. Pickwick und Mr. Winkle hörten mit großer Bewunderung zu und unterhielten sich zuweilen mit Mrs. Dowler, die eine höchst angenehme und bezaubernde Dame war, und so schwand bei den Geschichten Mr. Dowlers, den Reizen seiner Gemahlin, der guten Laune Mr. Pickwicks und dem trefflichen Zuhörertalent Mr. Winkles der Gesellschaft im Wagen die Zeit aufs angenehmste dahin.

Mit den Außenpassagieren ging es wie gewöhnlich. Sie waren bei Anfang der Fahrt sehr lustig und gesprächig, m der Mitte langweilig und schläfrig und gegen Ende wieder sehr aufgeräumt und munter. Ein in einen Gummimantel gekleideter junger Herr rauchte den ganzen Tag Zigarren, ein andrer junger Herr in einer Art Parodie auf einen großen Überrock zündete deren eine Menge an, fühlte sich aber nach dem zweiten Zug unwohl und warf sie heimlich wieder weg, wenn er sich unbeobachtet glaubte. Ein dritter kramte seine Kenntnisse in der Viehzucht aus, und ein alter Mann, der rückwärts saß, gab seine landwirtschaftlichen Erfahrungen zum besten. Auf jeder Station stiegen Reisende ab und kamen andre dazu, zum Teil in Bauernkitteln, die als blinde Passagiere beim Kondukteur aufsaßen und sich rühmten, jedes Pferd und jeden Hausknecht auf dieser Straße zu kennen; wobei sie zugleich ihre Bemerkungen über das Mittagessen austauschten und meinten, es wäre um eine halbe Krone nicht zu teuer gewesen, wenn man Zeit gehabt hätte, zuzulangen. Endlich um sieben Uhr abends erreichten Mr. Pickwick und seine Freunde sowie Mr. Dowler und seine Gemahlin Bath und stiegen im Hotel zum „Weißen Hirsch“, dem großen Brunnensaal gegenüber, ab, wo man die Kellner wegen ihrer Tracht bekanntlich leicht mit jungen Gymnasiasten aus Westminster verwechseln könnte, wenn sie sich nicht wesentlich besser zu benehmen wüßten.

Am folgenden Morgen war das Frühstück kaum abgetragen, als ein Kellner eine Karte von Mr. Dowler brachte, der um Erlaubnis bat, einen Freund vorstellen zu dürfen. Gleich darauf traten die beiden Herren ein.

Der Freund Mr. Dowlers war ein sehr einnehmender jugendlicher Mann von nicht viel mehr als fünfzig Jahren und trug einen strahlenden blauen Überrock mit funkelnden Knöpfen, schwarze Beinkleider und äußerst feine, blank geputzte Stiefel. Eine goldene Lorgnette hing an einem breiten schwarzen Bande an seiner Brust; in der linken Hand trug er nachlässig eine goldene Tabaksdose, an seinen Fingern glänzten zahllose goldene Ringe, und über seinem Busenstreif strahlte eine in Gold gefaßte Brillantnadel. Außerdem trug er eine goldene Uhr an einer goldenen Kette mit großen goldenen Petschaften und in der Hand einen feinen Stock von Ebenholz mit einem schweren goldenen Knopf. Seine Wäsche war so weiß, so fein und so glatt wie nur möglich, seine Perücke seidenweich, schwarz und lockig. Sein Schnupftabak war Prinzenmischung, sein Parfüm Bouquet du Roi. Seine Züge umschwebte ein beständiges Lächeln, und seine Zähne waren so vortrefflich gepflegt, daß es in einiger Entfernung schwerhielt, die natürlichen von den falschen zu unterscheiden.

„Mr. Pickwick“, stellte Mr. Dowler vor, „– mein Freund Angelo Cyrus Bantam, Esquire, Kurmarschall, Badeintendant. – Erlaube vorzustellen „

„Willkommen in Ba – ath, Sir. – In der Tat eine herrliche Akquisidon. Herzlich willkommen in Ba – ath, Sir. Es ist lange her – sehr lange, Mr. Pickwick, daß Sie den Brunnen nicht getrunken haben. Es deucht mir eine Ewigkeit zu sein, Mr. Pickwick. Me – erkwürdig!“

Mit diesen Worten ergriff Angelo Cyrus Bantam, Esquire, Mr. Pickwicks Hand, hielt sie in der seinigen fest und zuckte unter beständigen Verbeugungen die Achseln, als ob er wirklich nicht imstande sei, sie je wieder loszulassen.

„Es muß allerdings schon sehr lange her sein, daß ich den Brunnen nicht getrunken habe“, antwortete Mr. Pickwick, „denn meines Wissens war ich noch nie hier.“

„Noch nie in Ba – ath, Mr. Pickwick?“ rief der Kurmarschall aus und ließ voll Erstaunen dessen Hand fahren. „Noch nie in Ba – ath? Hihi! Mr. Pickwick, Sie sind ein Spaßvogel. Nicht übel, nicht übel. Gut, gut. Hihihi! Me – erkwürdig!“

„Ich muß zu meiner Schande bekennen, daß es mir vollkommen Ernst ist“, versetzte Mr. Pickwick. „Ich bin wirklich noch nie dagewesen.“ „Oh, ich weiß wohl“, rief der Badeintendant äußerst vergnügt, „jaja – gut, ganz gut – besser und immer besser. Sind Sie der Herr, von dem wir gehört haben. Ja, wir kennen Sie, Mr. Pickwick, wir kennen Sie.“

Diese verwünschten Journalberichte über meinen Prozeß! dachte Mr. Pickwick. Sie wissen alles von mir.

„Sie sind der Herr, der in Clapham Green wohnt und den Gebrauch seiner Glieder dadurch verlor, daß er sich erkältete, nachdem er Portwein getrunken, der sich wegen heftiger Schmerzen nicht rühren konnte, und dem man das Wasser vom Königsbad hundertunddreißig Grad stark nach London auf sein Zimmer schickte, wo er badete, nieste und an demselben Tage wieder genas. Äußerst me – erkwürdig!“

Mr. Pickwick erkannte das in dieser Annahme liegende Kompliment an, besaß jedoch Selbstverleugnung genug, es gleichwohl abzulehnen, und benützte ein augenblickliches Stillschweigen von Seiten Mr. Bantams, um ihm seine Freunde, die Herren Tupman, Winkle und Snodgraß vorzustellen. Natürlich war der Kurmarschall ganz überwältigt von Entzücken und Ehre.

„Bantam“, sagte Mr. Dowler, „Mr. Pickwick und seine Freunde sind Fremde. Sie müssen ihre Namen einschreiben. Wo ist das Buch?“

„Das Verzeichnis der ausgezeichneten Gäste in Ba – ath wird um zwei Uhr im Brunnensaal ausliegen“, erwiderte der Badeintendant. „Wollen Sie vielleicht unsre Freunde in dieses Prachtgebäude führen und mich in den Stand setzen, ihre Autogramme zu bekommen?“

„Sehr gern“, versetzte Mr. Dowler. „Das ist übrigens ein langer Besuch. Es ist Zeit, daß wir gehen; ich werde in einer Stunde wieder hier sein. Kommen Sie!“

„Es ist heute abend Ball“, sagte der Zeremonienmeister und ergriff zum Abschied Mr. Pickwicks Hand abermals. „Die Ballabende in Ba – ath sind paradiesische Augenblicke, zauberhaft durch Musik, Schönheit, Eleganz, guten Ton, Etikette – und – und – durch die Abwesenheit aller Handels- und Gewerbsleute, die sich mit dem Begriff eines Paradieses durchaus nie vereinigen lassen und alle vierzehn Tage in Guildhall ihre eignen Zusammentreffen haben, die zumindest, äh – sehr merkwürdig sind. Adieu indessen!“

Nachdem Angelo Cyrus Bantam, Esquire, noch die ganze Treppe hinab beteuert, er sei unendlich befriedigt, entzückt, überwältigt und geschmeichelt, stieg er in einen äußerst eleganten Wagen, der ihn vor der Tür erwartete, und rasselte von dannen.

Zur festgesetzten Stunde begaben sich Mr. Pickwick und seine Freunde, von Mr. Dowler begleitet, nach dem Brunnensaal und schrieben ihre Namen in das Fremdenbuch ein – ein Beweis von Herablassung, durch den sich Angelo Bantam noch mehr überwältigt fühlte als zuvor. Die ganze Gesellschaft sollte Einlaßkarten zur Abendassemblee haben; da sie aber noch im Druck waren, erklärte Mr. Pickwick trotz aller Gegenvorstellungen Angelo Bantams, er werde um vier Uhr seinen Diener Sam nach der Wohnung des Bademarschalls in Queensquare schicken, um sie abholen zu lassen. Nachdem die Herren sodann einen kurzen Spaziergang“ durch die Stadt gemacht und einstimmig erklärt hatten, die Parkstreet habe eine auffallende Ähnlichkeit mit den gewissen vertikalen Straßen, die man in Träumen sieht und um alles in der Welt nicht hinaufgehen kann, kehrten sie in den „Weißen Hirsch“ zurück, und Sam wurde mit dem erwähnten Auftrag fortgeschickt.

Sam Weller stülpte seinen Hut leicht und graziös auf den Kopf, steckte die Hände in die Rocktaschen und wanderte gemächlich zur Queensquare. Unterwegs pfiff er etliche der beliebtesten neueren Lieder, und zwar so, wie sie mit ganz neuen Variationen für jenes edle Instrument besonders komponiert sind, das man Drehorgel nennt. Als er in der Queensquare die Nummer gefunden hatte, die ihm bezeichnet worden war, klopfte er munter an die Haustür, die sogleich von einem bepuderten Portier in prachtvoller Livree mit symmetrischem Körperbau geöffnet wurde.

„Wohnt hier Mr. Bantam, Kamerad?“ fragte Sam Weller, nicht im mindesten eingeschüchtert durch den Strahlenglanz, den die Person des gepuderten Lakaien mit der prachtvollen Livree um sich verbreitete.

„Warum, junger Mann?“ war die stolze Gegenfrage des Gepuderten.

„Weil Sie, wenn es sich so verhält, mit dieser Karte zu ihm gehen und ihm sagen sollen, Mr. Weller ist da; is es gestattet, werter Sechsfuß?“ sagte Sam, trat dabei höchst kaltblütig in den Hausflur und setzte sich.

Der gepuderte Lakai schlug die Tür heftig zu und schnitt ein grimmiges Gesicht; allein diese beiden Demonstrationen verfehlten ihren Eindruck auf Sam, der mit allen Zeichen kritischer Billigung einen Mahagonischrank betrachtete.

Offenbar hatte die Art, wie Mr. Bantam die Karte aufgenommen, den Gepuderten günstiger für Sam gestimmt, denn er kehrte freundlich lächelnd zurück und sagte, die Antwort werde sogleich erfolgen.

„Schon gut“, erwiderte Sam. „Sagen Sie dem alten Herrn, er brauche sich nich zu erhitzen, ’s hat keine große Eile nich, werter Herr Sechsfuß. Ich habe bereits zu Mittag gespiesen.“

„So zeitig speisen Sie?“ fragte der Gepuderte.

„Ich finde, daß mir dann das Abendessen besser schmeckt“, erwiderte Sam.

„Sind Sie schon lange in Bath, Sir? Ich habe noch nie das Vergnügen gehabt, von Ihnen zu hören.“

„Habe bisher hier noch keine große Sensat schon gemacht“, erwiderte Sam, „denn ich und die andern Herren sind erst diesen Abend angekommen.“ „Ein schöner Ort, Sir“, warf der Gepuderte hin.

„Scheint so.“

„Eine angenehme Gesellschaft, Sir. Sehr feine Dienerschaften, Sir.“

„Gebe ich ohne weiters zu“, erwiderte Sam. „Freundliche unaffektierte Leute, wo nich viel Federlesens machen.“

„Ja, das ist wahr, Sir“, erwiderte der gepuderte Lakai, der Sams Bemerkung offenbar für ein großes Kompliment hielt. „Das ist wahr. Ein Prieschen gefällig, Sir?“ fügte er hinzu, und zog seine kleine Schnupftabaksdose mit einem Fuchskopf auf dem Deckel hervor.

„Ich muß zu sehr niesen“, lehnte Sam ab.

„Jaja, Sir“, sagte der lange Portier, „das Schnupfen ist allerdings schwer; doch nach und nach geht es schon. Am besten lernt man es mit Kaffee. Ich habe lange Kaffee geschnupft, Sir. Er sieht ganz aus wie Rapee.“

Ein plötzliches scharfes Klingeln versetzte den gepuderten Lakaien in die schmähliche Notwendigkeit, den Fuchskopf wieder einzustecken und mit unterwürfiger Miene in Mr. Bantams „Studierzimmer“ zu eilen.

„Hier ist die Antwort, Sir“, sagte er dann. „Ich fürchte fast, sie ist ihrer Größe wegen etwas unbequem.“

„Hat nichts zu sagen“, erwiderte Sam, einen Brief in einem kleinen Kuvert in Empfang nehmend. „Möglich, daß die erschöpfte Natur es noch überlebt.“

„Ich hoffe, wir werden uns wiedersehen, Sir“, sagte der Gepuderte, rieb sich die Hände und begleitete Sam bis an die Tür.

„Sie sin gar zu gütig, Sir“, dankte Sam. „Strengen Se sich nur nich über Ihre Kräfte an. Bedenken Sie, was Sie der menschlichen Gesellschaft schuldig sin, und übernehmen Se sich nich durch zu vieles Arbeiten. Um Ihre Mitgeschöpfe willen verhalten Se sich so ruhig wie möglich und überlegen sich gut, wie schmerzlich man Ihren Verlust empfinden würde.“

Mit diesen pathetischen Worten entfernte sich Sam.

„Ein höchst sonderbarer junger Mensch“, meinte der gepuderte Lakai, Mr. Weller mit einem Gesicht nachblickend, auf dem deutlich geschrieben stand, daß er aus ihm nicht klug werden konnte.

Sam seinerseits sprach nichts mehr. Er blinzelte, schüttelte den Kopf, lächelte, blinzelte abermals und lief lustig seines Weges dahin, mit einer Miene, die nicht daran zweifeln ließ, daß ihm irgend etwas großes Behagen bereiten müsse. Präzis zwanzig Minuten vor acht Uhr sprang Angelo Cyrus Bantam, Esquire, der Bademarschall, vor dem Ballhaus aus seinem Wagen mit derselben Perücke, denselben Zähnen, derselben Uhr nebst Petschaft, denselben Ringen, derselben Busennadel und demselben Stocke. Die einzigen bemerkbaren Veränderungen in seinem Aufzuge bestanden darin, daß er einen noch großartigeren blauen Frack mit weißseidenem Futter, enge schwarze Beinkleider, schwarze seidene Strümpfe, Tanzschuhe und weiße Weste trug und dabei womöglich noch etwas süßer duftete.

So geschmückt begab er sich zur pünktlichen Erfüllung der wichtigen Obliegenheiten seines hochwichtigen Amtes in die Gemächer, um die Gesellschaft zu empfangen.

Da Bath sehr besucht war, so strömten sowohl Gäste als Sechspence für den Tee in Masse herein. Im Ballsaal, in dem achteckigen Spielzimmer, in dem langen Spielzimmer, auf den Treppen und in den Gängen, überall war ein Gedränge und ein verworrenes Gesumm, daß man kaum sein eigenes Wort verstehen konnte. Kleider rauschten, Federn nickten, Kerzen leuchteten und Juwelen funkelten. Musik ertönte – nicht die Tanzmusik, die noch nicht begonnen hatte, sondern die Musik zart und sanft auftretender Füße und dann und wann das gewisse leise Kichern und Flüstern weiblicher Stimmen, das so angenehm für das männliche Ohr ist – in Bath wie überall. Von allen Seiten glänzten und funkelten strahlende Augen voll wonniger Erwartung; wohin man blickte, schwebte eine herrliche Gestalt anmutsvoll durch das Gedränge, und sie war kaum verschwunden, als bereits eine andre, ebenso schöne und bezaubernde an ihre Stelle trat.

Im Teezimmer und an den Kartentischen erblickte man eine große Anzahl wunderlich ausstaffierter alter Damen und abgelebter alter Herren, die alle das abgeschmackte Tagesgeschwätz und Geklatsch mit sichtlicher Freude und Lust abhandelten. Unter diesen Gruppen befanden sich drei oder vier Matronen, die ihre Töchter gern unter die Haube gebracht hätten und in die Unterhaltung, an der sie teilnahmen, ganz vertieft zu sein schienen, dabei aber nicht ermangelten, von Zeit zu Zeit ihren lieben Kinderchen besorgte Seitenblicke zuzuwerfen. Diese, der mütterlichen Ermahnungen, ihre Blütezeit zu benützen, eingedenk, hatten bereits ihre kleinen Koketterien begonnen, indem sie absichtlich verlegte Halstücher suchten, Handschuhe anzogen, Tassen auf den Tisch stellten und so weiter – dem ersten Anschein nach unbedeutende Dinge, mit denen sich aber bei einiger Übung und Erfahrung erstaunlich viel bewirken läßt.

An den Türen und in den entfernten Winkeln trieben sich größere oder kleinere Gruppen alberner junger Herren herum, naseweise Zierbengel, durch ihr kindisches Benehmen und Abgeschmacktheiten jeglicher Art allen verständigen Leuten ein Hohn und Spott, die sich überglücklich fühlten in dem Wahne, Gegenstand der allgemeinen Bewunderung zu sein.

Auf einigen der rückwärtigen Bänke endlich hatte eine Anzahl unverheirateter Damen, die die große Alterswende bereits zurückgelegt, ihre Plätze für den Abend eingenommen. Sie tanzten nicht, weil sich keine Tänzer für sie fanden, spielten auch nicht Karten, um nicht unrettbar ledig zu bleiben, und befanden sich daher in der günstigen Lage, über jedermann schimpfen zu können, ohne an sich selbst zu denken, über jedermann, denn alles war Fröhlichkeit, Glanz und Pracht. Lauter elegant gekleidete Herren und Damen, prachtvolle Spiegel, glänzende Fußböden, duftende Blumenkränze, strahlende Wachskerzen. Und überall in stiller Freundlichkeit von Ort zu Ort schlüpfend, bald vor dieser Gesellschaft tief sich verbeugend, bald jener vertraulich zuwinkend und alle wohlgefällig anlächelnd, erblickte man die zierlich geschniegelte Person des Bademarschalls Angelo Cyrus Bantam, Esquire.

„Kommen Sie in das Teezimmer. Trinken Sie für Ihre sechs Pence. Man gießt siedendes Wasser auf und nennt es Tee. Trinken Sie“, sagte Mr. Dowler mit lauter Stimme zu Mr. Pickwick, der mit Mrs. Dowler am Arm der kleinen Gesellschaft voranging.

Mr. Pickwick verfügte sich in das Teezimmer, und als Mr. Bantam seiner ansichtig ward, wand er sich wie ein Korkzieher durch das Gedränge und bewillkommnete ihn mit Begeisterung.

„Mein teurer Herr, ich fühle mich unendlich geehrt. Ba – ath darf sich glücklich schätzen. Madam Dowler, Sie verschönern diese Räume. Ich gratuliere Ihnen zu Ihren Federn. Me – erkwürdig.“

„Ist jemand hier?“ fragte Dowler wählerisch.

„Jemand!? Die Elite von Ba – ath! Mr. Pickwick, sehen Sie die Dame dort mit dem Gazeturban.“

„Die dicke alte Dame?“ fragte Mr. Pickwick unschuldig.

„Pst, mein teurer Herr, in Ba – ath ist niemand dick oder alt. Es ist die verwitwete Lady Snuphanuph.“

„Wirklich?“

„Wie ich Ihnen sage, niemand Geringeres“, versichert“ der Kurmarschall. „Kommen Sie doch ein wenig näher, Mr. Pickwick. Sehen Sie den prachtvoll gekleideten jungen Herrn dort?“

„Den mit den langen Haaren und der auffallend schmalen Stirn?“

„Ja; das ist gegenwärtig der reichste junge Mann in Ba – ath, der junge Lord Mutanhed.“

„Was Sie nicht sagen!“ rief Mr. Pickwick.

„Sie werden ihn sogleich sprechen hören, Mr. Pickwick. Er wird sich mit mir unterhalten. Der andre Herr bei ihm mit der roten Weste und dem dunklen Backenbart ist Mr. Crushton, Hochwohlgeboren, sein Busenfreund. – Äh, wie befinden Sie sich, Mylord?“

„Seah heiß hia, Bantam“, bemerkte Seine Lordschaft, die beim Aussprechen des R einige Schwierigkeiten zu bekämpfen hatte.

„Es ist allerdings sehr warm, Mylord“, bemerkte der Kurmarschall.

„Verteufelt heiß“, bekräftigte Mr. Crushton, Hochwohlgeboren.

„Haben Sie den Postkarren Seiner Lordschaft schon gesehen, Bantam?“ fragte er nach einer kurzen Pause, während der junge Lord Mutanhed Mr. Pickwick durch vornehm-stolzes Anblicken aus der Fassung zu bringen versuchte und Mr. Chrushton nachgesonnen hatte, welches Thema Seiner Lordschaft wohl am besten liegen möchte.

„Nein, noch nicht. Ein Postkarren, welch famoser Einfall! Me – erkwürdig!“

„Gütigeah Himmel“, lispelte Seine Lordschaft, „ich dachte, jedamann müsse den neuen Postkachen schon gesehen haben; es ist das netteste, zialichste, aatigste Ding, was je auf Wädean gelaufen ist, wot angemalt und mit einem isabellfaabigen Schecken davoa.“

„Und mit einem wirklichen Briefkasten, alles ganz vollständig“, setzte Crushton, Hochwohlgeboren, hinzu.

„Und einem kleinen Voasitz mit eisana Lehne füa den Kutscha“, ergänzte Seine Lordschaft. „Ich fuha gestan Moagen damit in einem Kaamoisinwock nach Bwistol und ließ zwei Bediente eine Viatelstunde hinten nachweiten, und da waa es zu schön, wie die Leute aus den Häusan stüchtzen und mich anhielten und faagten, ob ich nichts füa sie hätte. Das waa ein Kapitalspaß.“

Dabei lachte Seine Lordschaft recht herzlich und die Zuhörer natürlich auch. Sodann schob er seinen Arm durch den des dienstfertigen Mr. Crushton und entfernte sich mit ihm.

„Ein entzückender junger Mann, dieser Lord“, sagte der Badeintendant.

„Es scheint so“, bemerkte Mr. Pickwick trocken.

Nachdem alle nötigen Einleitungen und Anordnungen zum Tanze getroffen waren und die Musik eingesetzt hatte suchte Angelo Bantam Mr. Pickwick wieder auf und führte ihn ins Spielzimmer.

Eben als sie eintraten, umschwebten die verwitwete Lady Snuphanuph und zwei andre Damen von antikem, whistlustigem Aussehen einen unbesetzten Spieltisch, und kaum erblickten sie Mr. Pickwick in Begleitung Mr. Angelo Bantams, wechselten sie bedeutsame Blicke miteinander, in denen sich klar und unverkennbar die Ansicht aussprach, dies sei gerade der Mann, dessen sie bedürften, um ein Spielchen zu machen. „Mein lieber Bantam“, schmeichelte die verwitwete Lady Snuphanuph, „tun Sie uns doch den Gefallen und suchen Sie uns einen passenden Mitspieler.“

Da Mr. Pickwick in diesem Augenblick zufällig nach einer andern Seite sah, winkte Ihre Herrlichkeit mit dem Kopf nach ihm zu und runzelte ausdrucksvoll die Stirn.

„Mylady“, sagte der Badeintendant, den Wink verstehend, „mein Freund, Mr. Pickwick; wird sich unendlich glücklich schätzen. Mr. Pickwick – Lady Snuphanuph – Frau Oberst Wugsby – Miß Bolo.“

Mr. Pickwick verbeugte sich vor jeder der drei Damen, und da er einsah, daß kein Entrinnen war, ergab er sich in sein Schicksal. Er und Miß Bolo spielten gegen Lady Snuphanuph und die Frau Oberst Wugsby.

Eben als die zweite Partie begann und der Trumpf schon auflag, rannten zwei junge Damen ins Zimmer und stellten sich auf beiden Seiten neben dem Stuhl der Frau Oberst „Wugsby auf, wo sie geduldig warteten, bis das Spiel vorüber war.

„Nun, Jane“, sagte die Oberstin, sich an eines der Mädchen wendend, „was gibt’s?“

„Ich möchte dich nur fragen, Mama, ob ich mit dem jüngsten Mr. Crawley tanzen darf“, flüsterte die hübschere und jüngere der beiden Töchter. „Um Gottes willen, Jane, wie kannst du an so etwas denken?“ erwiderte die Mutter entrüstet. „Hast du nicht schon oft gehört, daß sein Vater bloß achthundert Pfund jährlich besitzt, die überdies bei seinem Tode wegfallen? Ich muß wirklich für dich in die Seele hinein schämen. – um keinen Preis.“

Mama“, flüsterte die andre, die viel älter als ihre Schwester und dabei unendlich einfältig und affektiert war, „Lord Mutanhed ist mir vorgestellt worden. Ich habe gesagt, ich sei, glaube ich, noch nicht engagiert, Mama.“

„Du bist mein liebes Kind“, erwiderte die Frau Oberst, mit dem Fächer der Tochter auf die Wange klopfend, „auf dich kann ich mich immer verlassen. Er ist unermeßlich reich, meine Liebe. Gott segne dich.“

Mit diesen Worten küßte sie ihre älteste Tochter aufs zärtlichste, runzelte gegen die andre warnend die Stirn und mischte die Karten. Der arme Mr. Pickwick! Er hatte noch nie mit drei abgebrühten Whistspielerinnen gespielt. Sie waren so verzweifelt aufmerksam, daß ihm angst und bange wurde. Spielte er eine falsche Karte aus, so drohte ihm ein ganzes Arsenal von Dolchen aus den Augen Miß Bolos; besann er sich einen Augenblick, so warf sich Lady Snuphanuph in ihren Stuhl zurück und lächelte mit einem teils ungeduldigen, teils mitleidigen Blick der Frau Oberst Wugsby zu, worauf Frau Oberst Wugsby die Achseln zuckte und hustete, als wollte sie sagen, es werde sie doch wundern, wann er denn endlich beginne. Nach jeder Runde fragte Miß Bolo mit verdrießlichem Gesicht und vorwurfsvollem Seufzen, warum Mr. Pickwick nicht Karo nachgespielt oder Treff angespielt oder Pik gestochen oder Herz gebracht oder das As herausgeholt oder auf den König gespielt habe oder sonst etwas Ähnliches, und auf alle diese schweren Anschuldigungen wußte der Ärmste schlechterdings keine Rechtfertigung vorzubringen, weil er inzwischen das ganze Spiel vergessen hatte. Hauptsächlich aber brachte ihn Angelo Bantam, Esq., aus dem Konzept, der ganz in der Nähe mit den beiden Misses Matinter laut plauderte, die sitzengeblieben waren und deshalb dem Bademarschall huldigten, um durch seine Vermittlung wenigstens hie und da einen damenlosen Tänzer zu ergattern. Alles dies, verbunden mit dem Lärm der Musik und den vielen Unterbrechungen durch das beständige Aufundabgehen von Zuschauern machte, daß Mr. Pickwick ziemlich schlecht spielte. Überdies hatte er kein Glück, und als sie zehn Minuten nach elf Uhr aufhörten, erhob sich Miß Bolo in großer Aufregung vom Tisch und ließ sich unter einer Flut von Tränen in einer Sänfte nach Hause tragen.

Mr. Pickwick kehrte sofort mit seinen Freunden, die samt, lieh versicherten, nicht sobald einen Abend angenehmer zugebracht zu haben, nach dem „Weißen Hirsch“ zurück, und nachdem er seine Gefühle mit einigen warmen Getränken beschwichtigt, ging er zu Bett, um augenblicklich einzuschlafen.

Fünfunddreißigstes Kapitel


Fünfunddreißigstes Kapitel

Enthält eine authentische Version des Märchens vom Prinzen Bladud und zugleich ein höchst merkwürdiges Malheur, das Mr. Winkle widerfuhr.

Da Mr. Pickwick wenigstens zwei Monate in Bath zu bleiben gedachte, hielt er es für ratsam, für sich und seine Freunde eine Privatwohnung zu nehmen; er mietete daher, sobald sich eine günstige Gelegenheit ergab, den oberen Stock eines Hauses in Royal Crescent, zusammen mit Mr. Dowler und Gemahlin, da mehr als genügend Raum vorhanden war. Hierauf begann er mit größtem Eifer die Brunnenkur und erklärte nach jedem Becher zum größten Entzücken seiner Freunde aufs feierlichste und nachdrücklichste, er fühle sich bereits bedeutend besser, obgleich niemand vorher etwas von einer Unpäßlichkeit an ihm bemerkt hatte.

Eines Abends nun saß er, nachdem seine Freunde schlafen gegangen, mit seinen Aufzeichnungen beschäftigt, noch auf, drückte daß Fließpapier sorgfältig auf die letzte Seite, schloß das Tagebuch, wischte die Feder an seinem untern Rockfutter ab und öffnete die Schublade des Schreibpultes, um es hineinzulegen. Dabei fiel ihm ein beschriebener Bogen Papier in die Augen, der, nach dem Titel zu schließen, kein Privatdokument war und überdies Bezug auf Bath zu haben schien. Da er noch nicht müde war, beschloß er, es durchzulesen rückte seinen Stuhl näher ans Feuer.

DIE WAHRHAFTIGE GESCHICHTE VOM PRINZEN BLADUD

Vor nicht ganz zweihundert Jahren las man auf einem der öffentlichen Badeanstalten in dieser Stadt eine nunmehr verschwundene Inschrift zu Ehren ihres mächtigen Erbauers, des berühmten Prinzen Bladud.

Schon viele hundert Jahre vorher hatte sich von Generation zu Generation eine alte Sage vererbt, der erlauchte Prinz habe, weil er mit dem Aussatz behaftet gewesen, nach seiner Rückkehr von dem alten Athen, allwo er sich eine reiche Ernte von Kenntnissen gesammelt, den Hof seines königlichen Vaters gemieden und trübsinnig unter Hirten und Schweinen gelebt. Unter der Herde nun befand sich, so erzählt die Legende, ein Schwein mit einer ernsten feierlichen Miene, mit dem der Prinz außerordentlich sympathisierte – denn auch er war sehr ernster Sinnesart –, ein Schwein von nachdenklichem, zurückhaltendem Wesen, ein Tier, das allen andern weit überlegen war und ebenso schrecklich zu grunzen wie zu beißen verstand. Der junge Prinz seufzte tief, als er das Gesicht des majestätischen Schweines erblickte, denn es gemahnte ihn an seinen königlichen Vater, und seine Augen betauten sich mit Tränen.

Dieses kluge Schwein badete sich gerne in tiefem Schlamm, aber nicht nur im Sommer, wie gewöhnliche Schweine es auch heute noch lieben, um sich abzukühlen, und schon in jenen fernen Zeiten taten – ein Beweis, daß das Licht der Zivilisation schon damals, wiewohl nur schwach, emporzudämmern begonnen hatte –, sondern auch in schneidend kalten Wintertagen. Es hatte immer einen so reinen Teint und sah so gesund aus, daß der Prinz sich entschloß, die reinigenden Kräfte desselben Wassers zu erproben, dessen sich sein Freund bediente.

Unter dem schwarzen Schlamm sprudelten die heißen Quellen von Bath.

Der Prinz badete sich und wurde geheilt. Unverzüglich eilte er an den Hof seines Vaters, bezeugte ihm seine Ehrfurcht, kehrte aber schnell wieder zurück und gründete diese Stadt mit ihren berühmten Bädern.

Dann suchte er das naturkundige Schwein in alter treuer Freundschaft auf – aber ach, das Wasser war sein Tod geworden. Es hatte unvorsichtigerweise bei zu heißer Temperatur ein Bad genommen, wie in späterer Zeit nach ihm, wie die Geschichte erzählt, Plinius, der ebenfalls ein Opfer seines Durstes nach Erkenntnis wurde. Soweit die Sage.

Mr. Pickwick gähnte laut, faltete das kleine Manuskript sorgfältig wieder zusammen, legte es an seinen alten Platz in die Schublade des Schreibtisches, zündete sodann mit einem Gesicht, auf dem die äußerste Müdigkeit zu lesen war, sein Nachtlicht an und begab sich die Treppe hinauf in sein Schlafzimmer.

Vor Mr. Dowlers Tür blieb er wie gewöhnlich stehen und klopfte an, um ihm gute Nacht zu wünschen.

„Ah“, rief Mr. Dowler, „Sie gehen ins Bett? Ich wollte, ich läge schon drin. Eine widerwärtige Nacht. Was? Sehr windig, nicht?“

„Ja“, versetzte Mr. Pickwick, „also, gute Nacht.“

„Gute Nacht.“

Mr. Pickwick ging in sein Schlafzimmer und Mr. Dowler blieb, einem übereilten Versprechen, bis zur Rückkehr seiner Gemahlin wach bleiben zu wollen, noch auf.

Es gibt nicht leicht etwas Unangenehmeres, als nachts auf jemand zu warten, besonders wenn dieser Jemand in Gesellschaft ist. Man kann sich des Gedankens nicht erwehren, wie schnell den Leuten dort die Zeit vergeht, die sich für einen selbst träge dahinschleppt, und je mehr man daran denkt, desto mehr schwindet die Hoffnung auf die baldige Ankunft des Erwarteten. Auch ticken die Uhren so laut, wenn man so allein dasitzt, und man meint, lauter Spinnen kröchen einem den Leib entlang. Zuerst juckt es einen am rechten Knie und dann stellt sich derselbe Reiz am linken ein. Ändert man seine Stellung, so kriecht es einem in die Arme, und wenn man seine Beine in allen möglichen Richtungen die Kreuz und die Quere herumgeworfen hat, so juckt es einen plötzlich an der Nase, daß man sie am liebsten wegreiben möchte. Auch die Augen fangen an zu brennen, und der Docht eines Lichtes wird anderthalb Zoll lang, ehe man ihn putzt. Solche und andre kleine Nervenstimmungen machen das lange Aufbleiben, wenn alle übrigen schon zu Bett gegangen sind, keinesfalls zu einem lustigen Zeitvertreib.

So dachte auch Mr. Dowler, als er vor dem Kamin saß, und ärgerte sich im Innersten seines Herzens über all die gefühllosen Leute auf dem Ball, die ihn so lange des Schlafes beraubten. Seine Laune wurde nicht verbessert durch den Gedanken, daß er am Abend Kopfweh vorgeschützt hatte, um zu Hause bleiben zu können. Endlich, nachdem er zu wiederholten Malen eingenickt und mit der Stirn an das Kamingitter gestoßen, aber immer wieder rechtzeitig zurückgefahren war, um sich das Gesicht nicht zu verbrennen, beschloß er, sich auf das Bett im Hinterzimmer zu legen und daselbst seinen Gedanken nachzuhängen – beileibe nicht etwa, um zu schlafen.

Ich habe einen harten Schlaf, sagte sich Mr. Dowler, als er sich in die Kissen warf. Ich muß wach bleiben und werde von hier das Klopfen wohl hören können. Natürlich ja, höre ich doch den Nachtwächter unten auf und ab schreiten. – Jetzt schon leiser. – Eben geht er um die Ecke. Ah! Als Mr. Dowler so weit in seinen Beobachtungen gekommen, war auch er bereits um die Ecke, das heißt in festem Schlaf.

Schlag drei Uhr wurde eine Sänfte, mit Mrs. Dowler darin, vor das Haus gebracht. Die Träger waren ein kurzer fetter Knirps und ein baumlanger Bursche, die auf dem Wege viel Mühe hatten, ihre Körper und vollends gar die Sänfte lotrecht zu halten, denn auf der Höhe und in der Nähe von Crescent wütete und stürmte der Wind so abscheulich, als wollte er das Straßenpflaster aufreißen. Sie waren daher herzlich froh, ihre Last endlich an Ort und Stelle niedersetzen zu können, und fingen an, mit dem Klopfer die Tür zu bearbeiten.

„Das Gesinde liegt in Morphiums Armen, scheint’s“, sagte der kurze Sänftenträger und wärmte sich während des Wartens die Hände an der Flamme des begleitenden Fackeljungen.

Aber niemand kam. Alles war still und finster wie zuvor.

„Mein Gott“, sagte Mrs. Dowler, „Sie müssen eben noch einmal klopfen.“

„Ist vielleicht eine Glocke da?“ fragte der Kurze.

„Natürlich is eine da“, fiel der Fackelträger ein, „ich habe doch in einem fort daran geläutet.“

„Bloß der Handgriff ist da“, erklärte Mrs. Dowler, „der Draht ist zerbrochen.“

„Ich wollte, Ihrer Dienerschaft wären die Köpfe zerbrochen“, knurrte der Lange.

„Ich muß Sie bemühen, gefälligst noch einmal zu klopfen“, wiederholte Mrs. Dowler mit der größten Höflichkeit.

Der Kurze klopfte noch mehrere Male, aber ohne den geringsten Erfolg. Dem Langen riß endlich die Geduld, er löste ihn ab und klopfte in einem fort mit gewaltigen Doppelschlägen an die Türe wie ein wahnsinniger Briefträger.

Endlich begann Mr. Winkle zu träumen, er sei in einem Klub; die Mitglieder hätten Streit miteinander bekommen, und der Präsident sei genötigt, gewaltig auf den Tisch zu hämmern, um die Ordnung wiederherzustellen; sodann schwebte ihm dunkel ein Auktionszimmer vor, in dem es an Kauflustigen fehlte und der Auktionator alles selbst erstehen mußte, und endlich fing er an zu denken, es könne in den Grenzen der Möglichkeit liegen, daß jemand an die Haustür klopfe. Um jedoch ganz sicher zu gehen, blieb er noch etwa zehn Minuten ruhig im Bett und horchte. Erst als er zwei- oder dreiunddreißig Schläge gezählt hatte, gab er sich zufrieden und bildete sich nicht wenig auf seine Wachsamkeit ein.

„Rap rap-rap rap-rap rap-ra, ra, ra, ra, ra, rap“, erschallte der Klopfer an der Haustür.

Höchlich verwundert, was das wohl zu bedeuten haben könne, sprang Mr. Winkle aus den Federn, zog schleunigst Strümpfe und Pantoffeln an, wickelte sich in seinen Schlafrock, zündete an dem Nachtlicht, das auf dem Kamin brannte, eine kleine Kerze an und eilte die Treppe hinab. „Endlich kommt jemand, Ma’am“, meldete der kurze Sänftenträger.

„Ich wollte, ich wäre mit der Hetzpeitsche hinter ihm her“, murrte der Lange.

„Wer ist draußen?“ rief Mr. Winkle und mühte sich ab, den Riegel zurückzuschieben.

„Frag nich lang, du Schafskopf“, erwiderte ärgerlich der Lange, der nicht anders glaubte, als der Fragende sei ein Bedienter, „aufgemacht!“

„Vorwärts! Schnell! Du Faultier!“ fügte der Kurze aufmunternd hinzu.

Mr. Winkle, noch halb im Schlaf, gehorchte mechanisch, öffnete die Tür ein wenig und blickte hinaus. Das erste, was er sah, war der rote Glanz der Fackel. Bei diesem unerwarteten Anblick erschrak er, und in der Meinung, das Haus stehe in Flammen, stieß er schnell die Tür weit auf, hielt das Licht über seinen Kopf empor und starrte geradeaus vor sich hin, ohne sich darüber klarwerden zu können, ob das, was er erblickte, eine Sänfte sei oder eine Feuerspritze. In diesem Augenblick kam ein heftiger Windstoß, das Licht erlosch, Mr. Winkle fühlte sich unwiderstehlich auf die Stufen vor der Haustür hingetrieben, und die Tür selbst schlug mit lautem Krachen hinter ihm zu.

„Da haben Sie’s, junger Mann“, sagte der Kurze.

Als Mr. Winkle durch das Fenster der Sänfte hindurch das Gesicht einer Dame erblickte, wandte er sich eiligst um, klopfte aus Leibeskräften an das Tor und schrie den Trägern wie wahnsinnig zu, sie sollten mit der Sänfte ihres Weges gehen.

„Fort! Fort!“ rief er ängstlich. „Da kommt jemand des Weges! Laßt mich in die Sänfte hinein. Versteckt mich, helft mir!“ – Dabei schauerte er vor Kälte, und jedesmal, wenn er die Hand nach dem Klopfer erhob, faßte der Wind auf eine höchst unzarte Weise seinen Schlafrock. – „Da kommen ja Leute. Es sind Damen darunter; bedeckt mich doch mit irgend etwas; stellt euch vor mich hin!“

Allein die Sänftenträger waren zu sehr durch Lachen in Anspruch genommen, als daß sie den geringsten Beistand hätten leisten können, und die Damen kamen mit jedem Augenblick näher und immer näher.

Mr. Winkle tat einen letzten verzweifelten Schlag an die Tür – die Damen waren nur noch um einige Häuser weit entfernt –, warf das ausgelöschte Licht, das er die ganze Zeit hindurch über seinen Kopf emporgehalten hatte, weg und stürzte auf die Sänfte los, in der Mrs. Dowler saß.

Jetzt endlich hatte Mrs. Craddock, die Portiersfrau, das Klopfen und Lärmen gehört, rasch die Nachtmütze mit einer andern Kopfbedeckung vertauscht und schob gerade in dem Augenblick das Schiebfenster des Hausmeisterzimmers zurück, als Mr. Winkle auf die Sänfte losstürzte. Kaum hatte sie gesehen, was sich da abspielte, als sie ein gewaltiges Jammergeschrei erhob und Mr. Dowler mit der Bemerkung wecken rannte, er solle unverzüglich aufstehen, denn seine Frau laufe mit einem fremden Herrn davon.

Mit der Elastizität eines Gummiballes sprang Mr. Dowler aus dem Bett, stürzte in das vordere Zimmer und kam in demselben Moment an ein Fenster, als Mr. Pickwick gerade ein andres aufriß, und das erste, was sich den erstaunten Blicken der beiden darbot, war, wie Mr. Winkle in die Sänfte hineinstürmen wollte.

„Nachtwächter!“ schrie Dowler wütend, „fangt ihn! – Packt ihn! – Haltet ihn fest, bis ich komme. Ich werde ihm die Kehle durchschneiden – ein Messer her! – ja, von einem Ohr bis zum andern, Mrs. Craddock.“ – Und trotz des Jammergeschreis der Hausfrau, in das Mr. Pickwick einstimmte, ergriff der entrüstete Ehemann ein Dessertmesser und stürzte auf die Straße hinunter.

Doch Mr. Winkle wartete nicht so lange. Kaum hörte er die schreckliche Drohung des rasenden Dowler, als er, so schnell er konnte, wieder aus der Sänfte sprang, seine Pantoffeln weit von sich schleuderte und Fersengeld gab, hitzig verfolgt von Mr. Dowler und dem Nachtwächter, in tollem Lauf um den Crescentplatz herum. Er hatte sich einen Vorsprung gesichert, und als er zum zweitenmal vor das Haus kam und das Tor offen fand, stürzte er hinein, warf „s Dowler vor der Nase zu, eilte in sein Schlafzimmer, verschloß die Tür, pflanzte als Verrammlung einen Toilettentisch nebst einigen Kommoden davor auf und packte einige notwendige Sachen zusammen, in der Absicht, mit Tagesanbruch zu entfliehen. Mr. Dowler kam vor seine Tür, erklärte durch das Schlüsselloch hinein seinen festen Entschluß, ihm am folgenden jag die Kehle durchzuschneiden, und erst nach einem gewaltigen Wirrwarr und Lärm im Gesellschaftszimmer, aus dem man vor allem Mr. Pickwicks Stimme, bemüht Frieden zu stiften, heraushörte, zerstreuten sich die erregten Hausgenossen in ihre verschiedenen Schlafgemächer, und alles wurde wieder ruhig.

Wo, um alles in der Welt, hatte nun Mr. Weller die ganze Zeit über gesteckt? Man hatte ihm am Morgen dieses verhängnisvollen Tages einen Brief ausgehändigt. Sam hatte sich sehr darüber gewundert und zunächst den Brief hin und her gedreht, um das Siegel und die Aufschrift zu entziffern; dann kam er langsam zu der Ansicht, daß es vielleicht zweckmäßig wäre, ihn zu öffnen.

„Auf goldrandiges Papier geschrieben“, murmelte er, als er ihn öffnete, „und in braunem Lack mit ‚m Ende vom Türschlüssel gesiegelt. Na, wollen mal sehen.“ Und mit völlig ernstem Gesicht las er dann:

„Mr. John Smauker, der Gentleman, der das Vergnügen hatte, Mr. Weller im Hause ihres gemeinsamen Bekannten, Mr. Bantam, neulich zu sehen, beehrt sich, Mr. Weller für heute abend zu einer Soareh im engeren Kreise, bestehend aus gedämpfter Hammelkeule nebst üblichen Gängen, ergebenst einzuladen. Es wird pünktlich um halb zehn Uhr serviert. Wenn Mr. Weller um neun Uhr bei Mr. John Smauker eintreffen könnte, so würde Mr. John Smauker sich ein Vergnügen daraus machen, Mr. Weller einzuführen.

John Smauker.“

„Na“, meinte Sam, „is ja ’n starkes Stück is das. Ich hab noch nie gehört, daß ’ne gedämpfte Hammelkeule Soareh heißt; möchte mal wissen, wie die ’ne gebratene nennen.“ Er zerbrach sich aber nicht lange den Kopf darüber, sondern verschaffte sich bei Mr. Pickwick Urlaub für den Abend. Kurz vor der bestimmten Zeit bewaffnete er sich mit dem Hausschlüssel und schlenderte recht gemütlich zur Queensquare, wo er schon aus einiger Entfernung Mr. John Smauker erblickte, der sein gepudertes Haupt gegen einen Laternenpfahl lehnte und eine Zigarre aus einer Bernsteinspitze rauchte.

„Wie befinden Sie sich, Mr. Weller?“ sagte Mr. John Smauker, wobei er mit der einen Hand graziös den Hut lüftete, während er mit der anderen eine vornehm-herablassende Bewegung vollführte. „Wie befinden Sie sich, Sir?“

„Schon sehr auf dem Wege der Besserung“, antwortete Sam, „aber wie geht’s Ihnen, Kamerad?“

„Bloß soso“, sagte Mr. John Smauker.

„Aha, Sie haben zu hart gearbeitet“, bemerkte Sam. „Das kam mir doch gleich so vor. Soll man nich machen, wissen Sie. Sie dürfen sich einfach nich so reinwühlen.“

„Daran liegt es nicht mal so, Mr. Weller“, antwortete Mr. John Smauker, „als am schlechten Wein; ich fürchte, ich bin ausschweifend gewesen.“ „Mhm“, sagte Sam, „das is ja allerdings kein Spaß.“

„Ach, dauernd diese Versuchungen; Sie wissen es ja auch. Mr. Weller“, seufzte Mr. John Smauker.

„Na, und ob!“ antwortete Sam.

„Immer so mitten im Strudel der Gesellschaft“, fuhr Mr. John Smauker fort, „hach ja. Aber so geht’s einem nun mal. Wenn einen das Schicksal in die große Welt entführt, dann kommen die Versuchungen, von denen die meisten Leute nie was zu spüren bekommen. Aber ich glaube, es ist Zeit, daß wir gehen.“

„Glaub ich auch“, meinte Sam, „sonst wird die Saoreh noch zu weich, oder sie brennt an.“

Unterwegs fragte Mr. John Smauker: „Haben Sie schon Brunnen getrunken, Mr. Weller?“

„Einmal“, antworte Sam.

„Und was halten Sie davon, Sir?“

„Also mir war es gründlich zuwider“, entgegnete Sam.

„Hm hm“, sagte Mr. John Smauker, „Ihnen mißfiel sicher der mineradische Kalligeschmack.“

„Davon verstehe ich nichts“, brummte Sam, „mir kam er bloß sengerig vor, wie ’n heißes Plätteisen.“

Unterdessen waren sie vor einem kleinen Gemüseladen angekommen und traten ein. In einem schmalen Zimmer waren alle erforderlichen Vorbereitungen zum Essen getroffen, und am Kaminfeuer wärmten sich mehrere Gäste, während einer von ihnen mit dem Rücken gegen das Fenster gelehnt stand. Dieser breitschultrige Gentleman in hochrotem Rock mit langen Schößen, hellroten Beinkleidern und Dreispitz, offenbar der bedeutendste unter den Anwesenden, begrüßte sogleich Mr. John Smauker, das heißt, sie verhakten ihre kleinen Finger ineinander und Mr. John Smauker lispelte, er sei entzückt, sein Gegenüber so wohl zu sehen.

„Freilich sagt man allgemein, ich sähe ziemlich blühend aus“, antwortete der Gentleman mit dem Dreispitz, „das ist aber geradezu ein Wunder. Ich habe nämlich in den letzten vierzehn Tagen nichts weiter zu tun gehabt, als zwei Stunden am Tag hinter unserer Alten herzusteigen. Dabei konnte ich nichts weiter tun, als Betrachtungen darüber anstellen, wie sie eigentlich ihr uraltes, scheußliches, lavendelfarbiges Kleid hinten zuhakt. Na, wenn das nicht genügt, um einen auf Lebenszeit in Verzweiflung zu stürzen, dann verzichte ich auf mein Gehalt.“

Alle Anwesenden lachten herzhaft, und ein Gentleman in gelber, mit Borte besetzter Weste flüsterte seinem Nachbarn, der grünen Cord trug, ins Ohr, Mr. Tuckle sei diesen Abend wieder so recht auf der Höhe. Sodann wurde Mr. Weller von Mr. John Smauker vorgestellt, und man setzte sich zum Essen.

Der Krämer erschien mit der Hammelkeule, zog waschlederne Handschuhe an, um die Teller sachgemäß aufzulegen und stellte sich hinter Mr. Tuckles Stuhl.

„Harris“, sagte Mr. Tuckle gebieterisch.

„Sir“, sagte der Krämer.

„Haben Sie die Handschuhe angezogen?“

„Jawohl, Sir.“

„So nehmen Sie die Glocke herunter!“

Der Krämer tat es, reichte dann Mr. Tuckle das Tranchiermesser und zog sich dabei eine scharfe Rüge zu, weil er versehentlich gähnte.

Mr. Tuckle tranchierte eben die Hammelkeule, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde und ein Gentleman in lichtblauem Habit mit Bleiknöpfen erschien.

„Gegen die Gesetze“, rief Mr. Tuckle, „zu spät, zu spät!“

„O nein; ich konnte es nicht ändern“, sagte der Gentleman in Blau. „Ich appelliere an die Gemeinschaft. Eine galante Affäre. Stelldichein im Theater.“

„Ja, dann allerdings“, meinte ein Gentleman in orangefarbenem Plüsch.

„Genau das!“ fuhr der Lichtblaue fort. „Ich hatte mich verpflichtet, unsere jüngste Tochter pünktlich abzuholen. Sie ist ein hübsches Mädchen. So was läßt man nicht warten. Ich möchte der Gemeinschaft nicht zu nahe treten, aber: eine Schürze, Sir, eine Schürze geht immer vor.“

„Ich habe in letzter Zeit schon Lunte gerochen“, erwiderte Mr. Tuckle, während der neue Gast neben Sam Platz nahm, „ein- oder zweimal fiel mir auf, daß sie sich sehr fest auf Ihre Schulter stützte, wenn sie aus dem Wagen stieg.“

„Wahrlich, Tuckle, wahrlich, kein Wort mehr davon! So was gehört sich nicht. Ich habe vielleicht zu ein, zwei Freunden gesagt, daß sie ein geradezu himmlisches Geschöpf ist und daß sie einige Heiratsanträge ohne ersichtlichen Grund abgelehnt hat, aber… nein, nein und nochmals nein, unter keinen Umständen, Tuckle! Dazu noch vor Fremden! Das ist unpassend; Sie dürfen es einfach nicht! Delikatesse, mein teurer Freund, Delikatesse!“ Und der Lichtblaue schüttelte unwillig den Kopf und runzelte die Stirn, als könnte er noch viel darüber erzählen, was er um der Ehre willen verschwiege.

Da er nicht übel aussah und eine kecke, muntere Art hatte, kam Sam mit ihm in ein Gespräch, das in der gemeinsamen Feststellung gipfelte, Männer von Welt dürften sich nicht wegwerfen; früher oder später wäre die Wirkung einer guten Uniform auf Frauen unwiderstehlich. Inzwischen hatte der Krämer Gläser gebracht und die Gentlemen aufgefordert, ihre alkoholischen Wünsche zu äußern, worauf Sam eine große Bowle Punsch bestellte und sich damit die Hochachtung der Gesellschaft erwarb. Später wurden Reden gehalten und besondere Vorkommnisse erörtert. So wurde unter anderem bekannt, daß Mr. Whiffers, der Gentleman in orangefarbenem Plüsch, sein Engagement gelöst hatte. Mr. Whiffers gab eine ausführliche Erklärung hierfür, in welcher er die Vermutung äußerte, er selbst habe durch seine eigene Geduld und Nachgiebigkeit jene beleidigende Zumutung heraufbeschworen, die ihn zur Beendigung seiner Tätigkeit gezwungen habe. Er entsann sich deutlich, seinerzeit eingewilligt zu haben, daß man ihm gesalzene Butter zum Essen anbot, und ein anderes Mal, als jemand im Hause erkrankt wäre, hätte er sich soweit vergessen, daß er einen Kohleneimer in den ersten Stock hinaufgetragen hätte. Er hoffte nun, durch sein offenes Geständnis nicht die Achtung seiner Freunde verloren, oder sie mindestens durch die Entschlossenheit wiedergewonnen zu haben, mit der er die letzte ruchlose Beleidigung seiner Gefühle – die Zumutung, kalten Braten zu essen – gerächt habe.

Mr. Whifferes erntete stürmische Bewunderung, und man trank mit großem Enthusiasmus auf die Gesundheit des edlen Märtyrers. Der Märtyrer dankte und schlug Mr. Wellers Gesundheit vor. Mr. Weller dankte in wohlgesetzten Worten und schloß mit dem Wunsche, das Opfer der Tyrannei im Schwefelkleid möge nie wieder mit kalter Soareh geärgert werden; worauf er sich mit gewinnendem Lächeln setzte und gleichfalls stürmischen Beifall erntete. Dann brach die Gesellschaft auf.

„Sie wollen doch nicht etwa schon gehen, alter Junge“, wandte sich Sam an seinen Freund, Mr. John Smauker.

„Ich muß tatsächlich“, sagte Mr. Smauker, „ich hab’s Bantam versprochen.“

„Das ist was anderes“, gab Sam zu, „aber hier Freund Feuerbrand, Sie auch? Sollen wir dreiviertel von der Bowle im Stich lassen? Is doch Unfug! Los, setzen Sie sich wieder.“

Mr. Tuckle vermochte nicht zu widerstehen. Er legte den dreieckigen Hut und seinen Stab zur Seite und erklärte sich bereit, aus guter Kameradschaft noch ein einziges Gläschen zu trinken.

Da der Lichtblaue den gleichen Heimweg hatte wie Mr. Tuckle, ließ er sich gleichfalls bewegen, noch zu bleiben. Als die Bowle halb ausgetrunken war, bestellte Sam Austern, und die Wirkung des Punsches und der Austern war so erheiternd, daß Mr. Tuckle mit Dreimaster und Stab zwischen den Austernschalen auf dem Tisch den Froschhornpipe tanzte, wozu der Lichtblaue ingeniös auf einem Kamm blies. Der Punsch war vollkommen, und die Nacht auch fast völlig am Ende, da brachen die Herren auf, um einander nach Hause zu geleiten. Sobald Mr. Tuckle an die frische Luft kam, ergriff ihn ein unwiderstehliches Verlangen, sich auf das Straßenpflaster niederzulegen; Sam hielt es für eine Sünde, zu widersprechen, und ließ ihm daher seinen Willen. Da jedoch der Dreimaster Schaden genommen hätte, wenn er ihn gleichfalls hätte liegenlassen, drückte er ihn mit Bedacht dem Lichtblauen aufs Haupt, gab ihm Tuckles mächtigen Stab in die Hand, lehnte ihn aufrecht an seine Haustür, läutete und ging ruhig nach Hause.

Am kommenden Morgen war Mr. Pickwick früher als gewöhnlich aufgestanden, ging in Straßentoilette die Treppen hinab und läutete.

„Sam“, sagte er, als Mr. Weller erschien, „verschließe die Tür.“

„Wir haben“, begann er dann, „heute nacht einen unglückseligen Vorfall gehabt, infolgedessen Mr. Winkle Gewalttätigkeiten von Mr. Dowler befürchten muß.“

„Habe es schon von der Alten unten gehört“, erwiderte Sam.

„Und“, erzählte Mr. Pickwick mit höchst verdrießlicher Miene weiter, „ich muß leider hinzufügen, daß Mr. Winkle sich aus Furcht vor diesen Gewalttätigkeiten aus dem Staub gemacht hat.“

„Aus dem Staub jemacht?“

„Er hat diesen Morgen sehr früh, ohne die geringste Beratung mit mir, das Haus verlassen“, erklärte Mr. Pickwick. „Und er ist auf und davon, ohne daß ich weiß, wohin?“

„Hätte dableiben und die Sache ausfressen sollen, Sir“, versetzte Sam verächtlich. „Ich wollte mit diesem Dowler schon fertig werden, Sir.“ „Gut, Sam“, sagte Mr. Pickwick, „auch ich habe so meine Zweifel an der großen Tapferkeit und Entschlossenheit des Herrn, aber dem sei, wie es wolle, Mr. Winkle ist nun einmal nicht mehr da. Er muß aufgesucht und zu mir zurückgebracht werden, Sam.“

„Wenn er aber nich mehr kommen will, Sir?“

„Dann muß man ihn dazu zwingen, Sam“, sagte Mr. Pickwick.

„Und wer soll dies tun, Sir?“ fragte Sam lächelnd.

„Du!“

„Sehr wohl, Sir“, sagte Mr. Weller, verließ das Zimmer, und gleich darauf hörte man ihn die Haustür schließen.

Zwei Stunden später kehrte er so gelassen zurück, als hätte man ihn mit dem allergewöhnlichsten Auftrag abgesandt, und brachte die Nachricht, ein Individuum, dessen Beschreibung in jeder Beziehung auf Mr. Winkle passe, sei diesen Morgen mit der Postkutsche vom Royal-Hotel nach Bristol gefahren.

„Sam“, sagte Mr. Pickwick und ergriff Mr. Wellers Hand, „du bist ein Kapitalkerl, den man in Gold fassen sollte. Du mußt ihm nachreisen, Sam.“

„Sehr wohl, Sir“, erwiderte Mr. Weller.

„Und sowie du ihn ausfindig gemacht hast, schreibst du es mir auf der Stelle, Sam. Und wenn er einen Versuch macht, zu entfliehen, so schlägst du ihn zu Boden oder sperrst ihn ein. Du hast meine unumschränkte Vollmacht, Sam.“

„Ich werde alles getreu befolgen“, beteuerte Sam.

„Sage ihm, ich sei im höchsten Grad aufgebracht, erzürnt und empört über das äußerst auffallende Benehmen, das er sich habe zuschulden kommen lassen.“

„Sehr wohl, Sir.“

„Sage ihm ferner, wenn er nicht mit dir in dieses Haus Zurückkehren wolle, so werde er mit mir zurückkehren müssen, denn ich werde ihn selbst holen kommen.“

„Ich werde es ausrichten, Sir“, versprach Sam.

„Meinst du wirklich, daß du ihn finden wirst, Sam?“

„Oh, ich will ’n schon finden, mag er sein, wo er will“, erwiderte Sam mit großer Zuversicht.

„Sehr gut, also reise je eher, je lieber ab“, sagte Mr. Picknick, gab seinem getreuen Diener eine Summe Geldes und befahl ihm, sogleich nach Bristol zu fahren.

Sam packte einige notwendige Sachen in einen Mantelsack und war bereit, aufzubrechen. Am Ende des Ganges blieb er stehen, kehrte noch einmal um und steckte den Kopf durch die Tür.

„Was gibt’s, Sam?“ fragte Mr. Pickwick.

„Ich habe doch meine Instruktschon recht verstanden Sir? Habe ich das mit dem Umhauen buchstäblich zu verstehen?“

„Allerdings“, erwiderte Mr. Pickwick, „ganz buchstäblich. Tue, was du für nötig hältst. Du hast ausgedehnteste Vollmacht.“

Sam blinzelte verständnisinnig, zog seinen Kopf aus der Tür und begab sich fröhlichen Herzens auf seine Wanderschaft.

Sechsunddreißigstes Kapitel


Sechsunddreißigstes Kapitel

Wie Mr. Winkle aus dem Regen in die Traufe kommt.

Nachdem der vom Schicksal so schwer geprüfte Mr. Winkle die unglückliche Ursache des geschilderten ungewöhnlichen Lärms und der Störung sämtlicher Bewohner von Royal-Crescent gewesen und eine Nacht voll Bangigkeit und Angst zugebracht hatte, verließ er das Dach, unter dem seine Freunde noch schlummerten, und entfloh, ohne zu wissen wohin. Die selbstlosen Erwägungen, die ihn zu diesem Schritte veranlaßten, können gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Wenn – sagte sich Mr. Winkle –, wenn dieser Dowler sich untersteht – und ich zweifle keineswegs, daß er es tun wird –, seine Androhungen persönlicher Gewalttätigkeiten gegen mich in Ausführung zu bringen, so werde ich nicht umhin können, ihn zu fordern. Er hat eine Frau; diese Frau liebt ihn über alles und kann ohne ihn nicht leben. Gütiger Gott! Wenn ich ihn in der Blindheit meines Zornes tötete, welche Vorwürfe müßte ich mir zeitlebens machen!

Dieser peinliche Gedanke wirkte so mächtig auf das Gefühlsleben des menschenfreundlichen jungen Mannes, daß seine Knie schlotterten und sich auf seinem Gesichte beunruhigende Kennzeichen tiefer innerer Bewegung malten. Er packte seinen Mantelsack, schlich sich leise die Treppen hinab, verschloß die verwünschte Haustür so geräuschlos wie möglich und machte sich auf und davon. Er lenkte seine Schritte zum Royal-Hotel, traf dort eine Kutsche, die im Begriff war, nach Bristol zu fahren, und da ihm Bristol für seine Zwecke ein ebenso guter Ort dünkte, wie jeder andre, kletterte er auf den Bock und erreichte den Ort seiner Bestimmung so schnell, wie man ihn mit zwei Pferden, die täglich zwei oder mehrere Male den ganzen Weg hin und Iher machen mußten, billigerweise erreichen konnte.

Er stieg im Gasthof „Zum Busch“ ab, und, entschlossen, jedem brieflichen Verkehr mit Mr. Pickwick so lange auszuweichen, bis Mr. Dowlers Zorn nach menschlicher Berechnung einigermaßen verflogen sein werde, ging er aus, um sich die Stadt zu besehen, an der ihm weiter nichts auffiel, als daß sie noch ein wenig schmutziger war als jeder andre Ort, den er bisher in Augenschein genommen. Nachdem er die Docks und Schiffswerften sowie auch die Kathedrale besichtigt, erfragte er den Weg nach Clifton und schlug sofort die Richtung ein, die man ihm bezeichnet hatte.

Wie indessen das Pflaster von Bristol nicht das breiteste und reinlichste auf Erden ist, so sind auch die Straßen dieser Stadt nicht eben die geradesten oder unverwickeltsten, und da Mr. Winkle durch ihre mannigfaltigen Windungen sehr verwirrt wurde, so sah er sich nach einem anständigen Laden um, in dem er sich Rat holen und Erkundigungen einziehen könnte.

Seine Augen fielen auf ein frischgetünchtes Haus, das offenbar erst vor kurzem in ein Mittelding zwischen einem Laden und einem Privathaus verwandelt worden war und, wie eine über, das fächerförmige Fenster der Haustür vorhängende rote Lampe sowie eine Inschrift: „Chirurgisches Ambulatorium“ in goldenen Buchstaben besagte, der Wohnsitz eines Heilkünstlers war. Da Mr. Winkle dies für einen geeigneten Ort hielt, um seine Wißbegier zu stillen, trat er in den kleinen Laden, und, da niemand anwesend war, klopfte er mit einer halben Krone auf den Tisch, um die Aufmerksamkeit der Leute anzulocken, die sich, wie er mutmaßte, im Hinterzimmer befinden mußten, das er für das Allerheiligste der Anstalt hielt, da das Wort „Chirurgisches Ambulatorium“ hier aufs neue und zwar zur Abwechslung diesmal mit weißen Lettern an die Tür gemalt war. Auf sein leises Klopfen hörte ein bis jetzt deutlich vernehmbares Geräusch, wie wenn mit Rapieren gefochten würde, plötz. lieh auf, lind beim zweiten schlüpfte ein gelehrt aussehender junger Mann mit einer grünen Brille auf der Nase und einem gewaltigen Buch in der Hand in den Laden, stellte sich hinter den Tisch und fragte nach dem Begehren seines Gastes.

„Entschuldigen Sie, wenn ich störe, Sir“, stotterte Mr Winkle, „aber würden Sie nicht vielleicht die Güte haben, mir zu sagen, wo …“ „Hahaha!“ lachte der gelehrte junge Herr, warf das große Buch in die Luft und fing es mit erstaunlicher Gewandtheit in demselben Augenblick wieder auf, wo es sämtliche Flaschen auf dem Tisch zu Atomen zu zertrümmern drohte. „Das nenne ich einmal sonderbar.“ Das war es auch wirklich, denn Mr. Winkle war über das auffallende Benehmen des Äskulapjüngers so über die Maßen erstaunt, daß er unwillkürlich gegen die Tür zurückwich und äußerst unruhig über diesen kuriosen Empfang dreinsah.

„Wie, kennen Sie mich nicht mehr?“ fragte der Medikus.

Mr. Winkle murmelte, er habe nicht das Vergnügen.

„Nun gut“, fuhr der Doktor fort, „dann habe ich noch Hoffnung. Wenn mir das Glück nur ein bißchen wohl will, so kann ich die Hälfte der alten Weiber von Bristol zu Patienten bekommen. Fort mit dir, du verschimmelte alte Bestie!“

Mit dieser Verwünschung, die dem großen Buche galt, schleuderte der Chirurg das Werk mit bewundernswürdiger Fertigkeit nach dem entfernten Ende des Ladens, nahm seine grüne Brille ab und ließ das leibhaftige Grinsen Robert Sawyers, Esquire, früher im Guys-Hospital, mit einer Privatwohnung in Landstreet, erkennen.

„Sie haben mich also wirklich nicht gleich erkannt? fragte Mr. Bob Sawyer, mit freundschaftlicher Wärme Mr Winkle die Hand schüttelnd. „Auf Ehre nicht“, versicherte Mr. Winkle, den Händedruds erwidernd.

„Haben Sie denn meinen Namen nicht gelesen?“ fuhr Mr. Bob Sawyer fort und lenkte die Aufmerksamkeit seines Besuches auf die äußere Tür, wo ebenfalls weiß angemalt die Worte standen: „Sawyer, früher Nockemorf.“

„Ich habe es nicht bemerkt“, erwiderte Mr. Winkle.

„Bei Gott, wenn ich gewußt hätte, daß Sie es sind, wäre ich sogleich herausgestürzt und hätte Sie in die Arme geschlossen, aber so wahr ich lebe, ich meinte, es sei der Steuereinnehmer.“

„Wirklich?“

„Ja. Und ich wollte eben sagen, ich sei nicht zu Haus, werde übrigens ausrichten, was er mir mitzuteilen habe, denn er kennt mich so wenig wie der Beleuchtungs- und Pflastersteuereinnehmer. Dem Steuerviertier für die Kirche scheint es indes schon zu schwanen, wer ich bin, und der Wasseronkel kennt mich auch, denn ihm habe ich gleich nach meiner Ankunft einen Zahn ausgezogen. Doch kommen Sie jetzt, treten Sie näher.“ So schwatzend, drängte Mr. Bob Sawyer seinen Freund Winkle in das Hinterzimmer, allwo niemand geringerer als Mr. Benjamin Allen saß und zum Zeitvertreib mit einem glühenden Schüreisen kleine runde Löcher in das Kamingesims bohrte.

„Wahrhaftig“, rief Mr. Winkle, „das ist ein Vergnügen, auf das ich nicht gefaßt war. Sie haben ja ein recht hübsches Heim hier.“

„Na, so ziemlich“, gab Bob Sawyer zu. „Ich habe bald nach unsrer denkwürdigen Abendgesellschaft das Examen gemacht; meine Freunde schössen mir das Nötige zur Einrichtung vor, und dann habe ich mir einen schwarzen Anzug nebst Brille zugelegt, um so feierlich wie möglich auszusehen, und habe mich hier niedergelassen.“

„Sie haben ohne Zweifel eine recht hübsche Einnahme?“ fragte Mr. Winkle mit Kennerblick.

„Macht sich“, meinte Bob Sawyer, „so hübsch, daß Sie nach wenigen Jahren den ganzen Profit in ein Weinglas ^gen und mit einem Stachelbeerblatt bedecken können.“

„Das kann doch nicht Ihr Ernst sein?“ sagte Mr. Winkle. „Schon die Vorräte …“

„Lauter Firlefanz, Freundchen. In der einen Hälfte der Schublade ist gar nichts, und die andern können nicht einmal herausgezogen werden.“ – Und zum Beweis zerrte Mr. Sawyer zu verschiedenen Malen vergeblich an den kleinen vergoldeten Knöpfchen der falschen Schubladen. »Im ganzen Laden ist kaum etwas Reelles als die Blutegel, und auch die haben schon einmal Dienste geleistet.“

„Das hätte ich nicht gedacht“, rief Mr. Winkle überrascht.

„Will ich auch hoffen“, erwiderte Bob Sawyer, „denn was nützte mir sonst all der Glanz. Doch was wollen Sie jetzt genießen? Halten Sie mit. Ben, lieber Kamerad, geh an den Schenktisch und hole uns den Patentmagenwärmer.“

Mr. Benjamin Allen gab seine Bereitwilligkeit durch ein Lächeln zu erkennen und zog aus dem Schrank neben sich eine schwarze, halbgefüllte Brandyflasche hervor.

„Sie trinken natürlich pur?“

„Danke Ihnen“, wehrte Mr. Winkle ab, „es ist noch ziemlich früh, und ich nehme lieber Wasser dazu, wenn Sie nichts dagegen haben.“

„Nicht das geringste, wenn Sie es mit Ihrem Gewissen vereinen können“, erwiderte Bob Sawyer, mit großem Behagen ein Glas hinabstürzend. „Ben, das Töpfchen!“

Mr. Benjamin Allen zog aus demselben Versteck einen kleinen messingenen Topf hervor, auf den Bob Sawyer stolz zu sein behauptete, da er so apothekermäßig aussähe. Nachdem das Wasser in diesem kunstgerechten Topfe vermittels mehrerer Schaufeln voll Kohlen, die Mr. Bob Sawyer einem „Sodawasser“ überschriebenen Wandschrank entnommen hatte, zum Sieden gebracht war, mischte Mr. Winkle seinen Brandy, und die Unterhaltung fing bereits an, allgemein zu werden, als sie durch einen jungen Burschen unterbrochen wurde, der in einer schlichten grauen Livree mit goldbetreßtem Hut und einem kleinen Deckelkorb unter dem Arm :n den Laden trat und vom Herrn des Hauses mit den Worten bewillkommnet wurde: „Kommst du endlich, Tom, du Schlingel?“

Der Junge trat sogleich vor.

„Gewiß bist du wieder mit allen Gassenjungen von Bristol herumgestrolcht, du Spitzbube.“

„Nein, Sir, ganz gewiß nicht“, beteuerte der Knabe.

„Möcht es dir auch nicht geraten haben“, brummte Mr. Bob Sawyer mit drohender Gebärde. „Wer wird einen Wundarzt rufen lassen, wenn man sieht, daß sein Laufbursche auf der Gasse spielt wie kleine Jungen? Hast du die Arzneien alle abgegeben?“

Ja, Sir.“

„Die Pulver für das Kind in dem großen Hause, wo die neue Familie wohnt, und die Pillen, die der hypochondrische alte Herr mit seinem Podagra täglich viermal einnehmen soll?“

Ja, Sir.«

„Na, dann mach die Tür zu und besorge den Laden.“

„Nun“, sagte Mr. Winkle, als der Knabe sich entfernt hatte, „die Sachen scheinen doch nicht so schlimm zu stehen, wie Sie mich glauben machen wollten. Sie haben doch immerhin Medizinen auszuschicken.“

Mr. Bob Sawyer spähte in den Laden, ob kein Unberufener ihn hören könne, beugte sich dann zu Mr. Winkle und sagte leise:

„Er bringt sie alle in die falschen Häuser.“

Mr. Winkle blickte äußerst verwundert drein, und Bob Sawyer und sein Freund lachten.

„Sehen Sie“, erklärte Bob, „er geht in ein Haus, läutet an, gibt dem Bedienten ein Paket ohne Aufschrift und entfernt sich. Der Herr des Hauses öffnet es und liest die Aufschrift: ,Ein Trank, beim Schlafengehen einzunehmen – Pillen, wie das letzte Mal – Wasser, wie gewöhnlich – das Pulver. Nach den Vorschriften Dr. Sawyers, früher Nockemorf, sorgfältig bereitet usw.‘ Er zeigt es seiner Frau, sie liest die Aufschrift ebenfalls; dann geht das Paket wieder an die Dienerschaft zurück, und diese liest es auch. Am andern Tag kommt der Bursche wieder und sagt, es tue ihm sehr leid – er habe sich vergriffen – das große Geschäft – so viele Pakete zum Austragen – Komplimente von Dr. Sawyer, früher Nockemorf. Der Name wird bekannt, und sehen Sie: so, Freundchen, muß es ein Mediziner anpacken. Ich versichere Ihnen, alter Freund, das wirkt weit besser als alle Ankündigungen der Welt: Wir haben eine Vierunzenflasche, die schon halb Bristol durchwandert hat und noch in manchen Häusern Besuche abstatten muß.“

„Jetzt geht mir ein Licht auf“, rief Mr. Winkle. „Das ist ja ein ganz vortrefflicher Plan!“

„Oh, Ben und ich haben schon ein Dutzend ähnliche ausgeheckt“, meinte Bob Sawyer sehr vergnügt. „Der Lampenanzünder bekommt achtzehn Pence wöchentlich dafür, daß er jedesmal, wenn er vorbeigeht, zehn Minuten lang die Nachtglocke läutet, und mein Junge stürzt immer gerade wenn dae Leute nichts zu tun haben als herumzugucken in die Kirche und ruft mich heraus, mit einem Gesicht, auf dem sich Schauder und Entsetzen malen. ,Ach Gott‘, sagt dann alles, ,es muß jemand plötzlich krank geworden sein, man hat nach Sawyer, früher Nockemorf, geschickt. Welche Praxis der junge Mensch schon hat!'“

Nach dieser Enthüllung einiger Geheimnisse der Arzneiwissenschaft warfen sich Mr. Bob Sawyer und sein Freund Ben Allen in ihre Stühle zurück und lachten aus vollem Halse.

Wie bereits früher einmal angedeutet, pflegte Mr. Benjamin Allen nach dem Genuß von Brandy gewöhnlich sentimental zu werden, und da er bereits seit fast drei Wochen bei Mr. Bob Sawyer zu Gaste war, war er diesmal solchen Anfällen ganz besonders unterworfen.

„Mein teurer Freund!“ schluchzte er daher, die momentane Abwesenheit Mr. Bob Sawyers benutzend, der in den Laden gegangen war, um einige von den obenerwähnten gebrauchten Blutegeln abzugeben, „mein teurer Freund, ich bin sehr unglücklich!“

Mr. Winkle sprach sein herzliches Bedauern aus und begehrte zu wissen, ob er nichts tun könne, um den Kummer des leidenden Studenten zu mildern.

„Ach nein, mein teurer Freund, nichts“, erwiderte Ben. „Sie erinnern sich Arabellas, Winkle – meiner Schwester Arabella? Ein kleines Mädchen, Winkle, mit schwarzen Augen – damals, als wir bei Wardle waren? Ich weiß nicht, ob Sie zufällig bemerkt haben – ein hübsches kleines Mädchen, Winkle. Vielleicht erinnern Sie sich an ihre Züge»wenn Sie mich ansehen?“

Mr. Winkle bedurfte keineswegs einer solchen Gedächtnisnachhilfe, und zu seinem Glück, denn die Züge Benjamins hätten ohne Zweifel seine Erinnerung nicht sehr aufgefrischt. Er antwortete daher mit aller Fassung, die er aufzubringen vermochte, er erinnere sich der jungen Dame noch sehr gut und wünsche von Herzen, daß sie sich wohl befinde.

„Unser Freund Bob ist ein herrlicher Kerl, Winkle“, war die einzige Antwort Mr. Ben Allens.

„Ohne Zweifel“, gab Mr. Winkle zu, dem diese nahe Zusammenstellung der beiden Namen keineswegs behagte.

„Ich hatte sie füreinander bestimmt; sie waren füreinander geschaffen – füreinander in die Welt gesandt –, füreinander geboren, Winkle“, jammerte Mr. Ben Allen und stellte mit großem Nachdruck sein Glas nieder. „Es waltet ein besonderes Geschick in dieser Sache, mein lieber Herr; sie sind nur um fünf Jahre voneinander verschieden, und beider Geburtstage fallen in den August.“

Mr. Winkle war zu begierig, zu hören, was folgen würde, als daß er ein großes Erstaunen über diesen außerordentlichen und wirklich wunderbaren Umstand ausgedrückt hätte. Mr. Ben Allen erzählte ihm daher nach ein paar Tränenergüssen weiter, trotz aller seiner Achtung, Wertschätzung und Verehrung für seinen Freund, betätige Arabella unbegreiflicher- und pflichtvergessenerweise die entschiedenste Abneigung gegen ihn.

„Ich glaube“, schloß Mr. Ben Allen, „ich glaube, es steckt eine frühere Neigung dahinter.“

„Haben Sie vielleicht diesbezüglich eine Vermutung?“ fragte Mr. Winkle zaghaft.

Ben Allen ergriff das Schüreisen, schwang es kriegerisch über seinem Haupte, führte einen furchtbaren Schlag gegen eine in seiner Einbildung vorhandene Hirnschale und sagte in höchst bedeutsamem Tone, es sei sein einziger Wunsch, Näheres erraten zu können.

„Ich würde ,ihm‘ dann sagen,was ich von ihm denke“, rief Mr. Ben Allen und schwang aufs neue noch drohender als zuvor das Schüreisen.

Dies alles mußte natürlich äußerst beschwichtigend auf die Gefühle des Mr. Winkle wirken, der ein paar Minuten lang stillschwieg, endlich aber sich ein Herz faßte zu fragen ob Miß Allen in Kern sei.

„Nein, nein“, sagte Mr. Ben Allen mit einem schlauen Blick und legte das Schüreisen weg. „Wardles Haus schien mir eben nicht der geeignetste Platz für ein widerspenstiges Mädchen. Da nun unsre Eltern tot sind und ich Arabellas natürlicher Beschützer und Vormund bin, so habe ich sie in der hiesigen Gegend auf ein paar Monate zu einer alten Tante gebracht, die in einem zwar etwas abgelegenen, aber dennoch recht netten Orte wohnt. Dies wird sie schon kurieren, mein Freund; wo nicht, gehe ich ein Weilchen mit ihr ins Ausland und versuche, ob das nicht hilft.“ „Ah, die Tante ist also in Bristol?“ stotterte Mr. Winkle.

„Nein, nein; nicht in Bristol“, erwiderte Mr. Ben Allen, mit dem Daumen über die rechte Schulter deutend, „da unten. Aber still jetzt; Bob kommt; kein Wort mehr, teuerster Freund, kein Wort.“

So kurz diese Unterhaltung gewesen, so versetzte sie doch Mr. Winkle in die peinlichste Aufregung und Angst. Eine mutmaßliche frühere Neigung nagte an ihrem Herzen?! War er vielleicht der Gegenstand derselben? Konnte die schöne Arabella um seinetwillen den lustigen Bob Sawyer über die Achsel angesehen haben, oder hatte er einen glücklichen Nebenbuhler? Er beschloß, sie um jeden Preis zu besuchen; aber hier stellte sich ihm ein unüberwindliches Hindernis entgegen, denn er konnte schlechterdings nicht erraten, ob Ben Allens erklärende Worte „da unten“ eine Entfernung von drei, dreißig oder dreihundert Meilen zu bedeuten hatten. Indes blieb ihm für den Augenblick keine Zeit, seinen Liebesgedanken nachzuhängen, denn Bob Sawyers Rückkehr ging unmittelbar einer noch warmen Fleischpastete voran, und der Hausherr bestand darauf, er müsse sie verzehren helfen. Eine Reinmachefrau, die als Mr. Bob Sawyers Haushälterin füngierte, deckte den Tisch; ein drittes Paar Messer und Gabeln wurde von der Mutter des Jungen in der grauen Livree entlehnt – denn Mr. Sawyers häusliche Einrichtungen ließen noch mancherlei zu wünschen übrig –, man setzte sich zu Tisch, und das Bier wurde, wie Mr. Sawyer bemerkte, in vaterländischem Zinn kredenzt.

Nach dem Essen ließ Mr. Bob Sawyer den großen Mörser aus dem Laden holen und begann einen dampfenden Rumpunsch darin zu brauen, wozu er die Materialien in kundiger Apothekerweise mit dem Stößel umrührte und amalgamierte. Als Junggeselle besaß er nur ein einziges Glas, das ehrenhalber für Mr. Winkle, als den Gast, bestimmt wurde. Ben Allen erhielt einen unten mit einem Kork zugestopften Trichter, und Bob Sawyer selbst begnügte sich mit einem jener weitrandigen, von einer Menge kabbalistischer Zeichen bedeckten Kristallgefäße, in denen die Apotheker den Rezepten gemäß ihre Flüssigkeiten abzumessen pflegen. Nachdem diese Präliminarien erledigt waren, wurde der Punsch gekostet und für vortrefflich erklärt. Sofort einigte man sich, Bob Sawyer und Ben Allen sollten die Erlaubnis haben, zwei Gläser zu trinken, bis Mr. Winkle mit einem fertig würde, und sodann begann in Herrlichkeit und Freuden das Gelage.

Gesungen wurde nicht, weil Mr. Bob Sawyer es mit der Würde seiner Stellung für unverträglich hielt; um sich jedoch für diese Entbehrung zu entschädigen, schwatzte und lachte man so laut, daß man sie am Ende der Straße hätte hören können und wahrscheinlich auch hörte. Diese Unterhaltung erheiterte auch dem Laufbuben wesentlich seine Stunden und trug zu seiner ferneren Ausbildung bei, denn statt den Abend seiner gewöhnlichen Beschäftigung zu widmen, nämlich seinen Namen auf den Ladentisch zu schreiben und dann wieder auszulöschen, schaute er heute durch die Glastür, wo er genug zu hören und zu sehen bekam.

Mr. Bob Sawyers Lustigkeit reifte schnell zum Furiosen heran; Ben Allen verfiel in seine gewohnte Sentimentalität, und der Punschmörser war beinahe ganz geleert, als der Bursche hereinstürzte und meldete, es sei soeben ein Dienstmädchen dagewesen und habe ausgerichtet, Mr. Sawyer, früher Nockemorf, möchte sogleich zu einem Patienten kommen, der ein paar Straßen entfernt wohne. Das gab das Signal zur Beendigung des Schmauses. Mr. Bob Sawyer kapierte die Botschaft, nachdem man sie ihm etliche zwanzigmal wiederholt hatte, endlich, band sich ein nasses Tuch um den Kopf, um sich wieder nüchtern zu machen, was ihm auch einigermaßen gelang, setzte seine grüne Brille auf und folgte dem Ruf der Pflicht. Trotz aller Bitten, bis zu seiner Rückkehr zu bleiben, nahm Mr. Winkle, da er es rein unmöglich fand, mit Mr. Ben Allen eine vernünftige Unterhaltung über das Thema, das ihm so sehr am Herzen lag, oder wenigstens etwas Ähnliches anzuknüpfen, Abschied und kehrte in den „Busch“ zurück.

Die Gemütserregung und die zahllosen Betrachtungen, welche die Erinnerung an Arabella in ihm hervorgerufen, hatten es verhindert, daß seine Portion aus dem Punschmörser die Wirkung hervorbrachte, die unter andern Umständen unausbleiblich gewesen wäre. Nachdem er daher noch in der Hotelbar ein Glas Sodawasser mit Whisky getrunken, begab er sich, durch die Vorfälle des Abends mehr entmutigt als animiert, in das Gastzimmer.

Vor dem Kamin saß ein langer Herr in einem großen Überrock und wendete ihm den Rücken zu; sonst befand sich niemand im Zimmer. Es war ein für diese Jahreszeit etwas kühler Abend, und der Herr schob seinen Stuhl auf die Seite, um dem neuen Gast auch etwas von der Ofenwärme zukommen zu lassen.

Wer vermöchte aber Mr. Winkles Gefühle zu schildern, als er auf einmal das Gesicht und die Gestalt des rachsüchtigen, blutdürstigen Dowler erblickte!

Sein erster Gedanke war, so heftig wie möglich an der nächsten Klingelschnur zu ziehen, aber diese hing unglückseligerweise unmittelbar hinter Mr. Dowlers Kopf. Er hatte schon einen Schritt nach ihr getan, hielt aber plötzlich inne, und im selben Augenblick retirierte Mr. Dowler schleunig an die Wand.

„Ach, Mr. Winkle, beruhigen Sie sich! Schlagen Sie mich nicht! Ich könnte es nicht ertragen. Einen Schlag! Nein, nie!“ rief Mr. Dowler und sah dabei weit sanftmütiger aus, als man von einem so wilden Manne erwartet hätte.

„Einen Schlag, Sir?“ stammelte Mr. Winkle.

„Einen Schlag, Sir“, erwiderte Dowler. „Beruhigen Sie sich. Setzen Sie sich. Hören Sie mich an.“

„Sir“, stotterte Mr. Winkle, von Kopf bis zu Fuß zitternd, „bevor ich mich darauf einlassen kann, ohne die Anwesenheit eines Kellners neben Ihnen Platz zu nehmen, muß ich mich vorher wenigst einigermaßen mit Ihnen auseinandergesetzt haben. Sie haben gestern abend eine schreckliche Drohung gegen mich fallen lassen, Sir – ja, eine schreckliche Drohung, Sir!“ – Mr. Winkle wurde leichenblaß und stockte.

„Allerdings“, gab Mr. Dowler mit einem beinahe ebenso weißen Gesicht zu, „ich leugne es nicht. Die Umstände waren verdächtig, haben sich inzwischen aber aufgeklärt. Allen Respekt vor Ihrer Tapferkeit. Ich kenne Ihre vornehme Gesinnung. Sie sind im Bewußtsein Ihrer Unschuld mit Recht erzürnt. Hier meine Hand.“

„Wirklich, Sir?“ versetzte Mr. Winkle, unschlüssig, ob er seine Hand hinreichen solle oder nicht, denn er fürchtete, es könne eine Falle sein, „wirklich, Sir…“

„Ich weiß, was Sie sagen wollen“, unterbrach ihn Dowler. „Sie fühlen sich beleidigt. Sehr natürlich. Es ginge mir auch so. Ich war im Unrecht. Ich bitte um Verzeihung. Seien wir wieder gut. Vergeben Sie mir.“

Mit diesen Worten ergriff Dowler gewaltsam Mr. Winkles Hand, schüttelte sie mit äußerster Heftigkeit, schwur, Mr. Winkle sei ein Mann von außerordentlichem Mut, und er habe von ihm eine höhere Meinung als je.

„Aber jetzt“, sagte er, „setzen Sie sich. Erzählen Sie mir alles. Wieso haben Sie mich hier gefunden? Wann sind Sie mir nachgereist? Seien Sie offen! Sprechen Sie.“

„Es ist ganz zufällig“, erwiderte Mr. Winkle, in hohem Grade verblüfft über die sonderbare, unerwartete Art dieses Zusammentreffens, „reiner Zufall.“

„Freut mich“, sagte Dowler. „Ich wachte diesen Morgen auf und hatte meine Drohungen ganz vergessen. Lachte über die Geschichte. Ich hatte auch gar keine bösen Absichten gehabt. Sagte es auch sogleich.“

„Wem haben Sie es gesagt?“ fragte Mr. Winkle.

„Meiner Frau. – ,Du hast ein Gelübde getan‘, sagte sie. – ,Ja.‘ – ,Es war recht unüberlegt‘, meinte sie. – ,Weiß ich wohl‘, sagte ich. ,Ich will es zurücknehmen. Wo ist er?'“

„Wer?“ fragte Mr. Winkle.

„Nun, Sie. Ich ging die Treppe hinunter, aber Sie waren nicht zu finden. Pickwick sah recht ärgerlich aus. Schüttelte den Kopf. Hoffte, es werden keine Gewalttätigkeiten vorkommen. Ich sah alles ein. Sie fühlten sich natürlich beleidigt und waren ausgegangen, vielleicht um einen Sekundanten zu holen. Vielleicht auch um Pistolen. ,Couragierter Gentleman‘, sagte ich. ,Ich bewundere ihn.'“

Mr. Winkle hustete, und da er anfing einzusehen, wieviel es geschlagen hatte, nahm er eine höchst strenge Miene an.

„Ich habe ein Billett an Sie zurückgelassen“, fuhr Dowler fort. „Ich sagte, es tue mir aufrichtig leid. War auch so. Ein dringendes Geschäft rief mich hierher. Sie waren nicht zufrieden. Sind mir nachgereist. Wollten eine nähere Erklärung. Haben ganz recht. Aber jetzt ist alles vorbei. Mein Geschäft ist abgemacht. Morgen reise ich zurück. Fahren Sie mit mir.“

Je deutlicher sich Dowler in seiner abgerissenen Redeweise erklärte, desto würdevoller wurden Mr. Winkles Mienen. Mr. Dowler hatte augenscheinlich ebensoviel Abneigung gegen das Duell wie er selbst. Kurz und gut, dieser aufbrausende, schreckliche Mann war einer der exemplarischsten Hasenfüße, die lebten. Er hatte Mr. Winkles Abwesenheit durch die Brille seiner eigenen Furchtsamkeit betrachtet, denselben Schritt getan wie jener und sich wohlweislich zurückgezogen, bis jede Aufregung geschwunden sein werde.

Als der wirkliche Sachverhalt so in Mr. Winkles Kopf dämmerte, blickte er höchst grimmig drein und sagte, er habe vollständige Satisfaktion, und zwar in einem Tone, aus dem Mr. Dowler notwendigerweise schließen mußte, wäre dies nicht der Fall, so hätte es unausweichlich zu einer höchst schauderhaften Katastrophe kommen müssen. Mr. Dowler schien von der Großmut und Herablassung Mr. Winkles tief ergriffen zu sein, und die beiden kriegerischen Parteien verabschiedeten sich für die Nacht mit mannigfachen Versicherungen ewiger Freundschaft.

Ungefähr um halb ein Uhr, als Mr. Winkle etliche zwanzig Minuten im vollen, üppigen Genuß des ersten Schlafs geschwelgt hatte, wurde er plötzlich durch ein lautes Klopfen an seine Kammertür geweckt, das sich mit vermehrter Heftigkeit erneuerte und ihn veranlaßte, sich im Bett aufzurichten und zu fragen, wer da sei und was es denn gebe.

„Erlauben Sie, Sir, es ist ein junger Mann da, der sagt, er muß Sie sofort sprechen“, antwortete die Stimme des Stubenmädchens. „Ein junger Mann?“ rief Mr. Winkle.

„Ja, Sie werden es sogleich zu wissen bekommen, Sir“, ertönte eine andere Stimme durch das Schlüsselloch, „und wenn dieser interessante junge Mensch nich unverzüglich reingelassen wird, denn könnte es leicht passieren, daß er mit seine Beine früher als wie mit ‚m Kopf reingetreten kommt.“

Der junge Mann stieß nach diesem zarten Wink mit dem Fuß an eines der unteren Türbretter, wie um seiner Bemerkung mehr Kraft und Nachdruck zu geben.

„Sind Sie’s, Sam?“ fragte Mr. Winkle, aus dem Bett springend.

„Is ja doch nich möglich, irgendein Gentleman auf ’ne Art und Weise zu identifizieren, wo ein gewissen Grad von geistige Befriedigung mit sich bringen tut, wenn man ihm nich sehen tut, Sir“, erwiderte die Stimme dogmatisch.

Mr. Winkle zweifelte nicht länger, wer der junge Mann sei, und öffnete die Tür. Aber kaum hatte er es getan, als Mr. Samuel Weller mit großer Hast eintrat, sorgfältig von innen abschloß, mit großem Bedacht den Schlüssel in die Westentasche steckte und, nachdem er Mr. Winkle von Kopf bis zu Fuß gemustert, anhob: „Sie sin ja ’n recht humoristischer junger Mann, Sir.“

„Was soll dies unglaubliche Benehmen, Sam?“ rief Mr. Winkle entrüstet. „Verlassen Sie das Zimmer, Sir! Sofort! Was glauben Sie denn eigentlich, Sir?“

„Was ich glaube?“ erwiderte Sam. „Nur nich so üppig, wie die junge Dame sagte, als sie mit dem Pastetenbäcker in Streit geriet, weil er ’ne Schweinspastete an sie verkaufte, wo innen nichts wie Fett war. Was ich glaube? Gut, ich glaube, daß das ’n ganz netter Spaß is.“

„Öffnen Sie die Tür und verlassen Sie sogleich dies Zimmer“, befahl Mr. Winkle.

„Ich werde dieses Zimmer hier haargenau in demselben Augenblick verlassen, wenn Sie es verlassen“, antwortete Sam in sehr eindringlichem Ton und setzte sich dabei gravitätisch nieder. „Falls ich es für nötig halten sollte, Ihnen huckepack wegzutragen, werde ich mir das nach Möglichkeit bis zuletzt aufsparen; aber gestatten Sie mir, die Hoffnung zu äußern, daß Sie mir nich zu solche Extremitäten treiben werden; währenddem, daß ich das sagen tue, fällt mir der feine Mann ein, wo die widerspenstige Auster mit der Nadel nich rauspulen konnte und denn sagte, daß er langsam Angst bekam, daß er ihr kaputtschlagen würde müssen.“ Am Ende dieser für ihn ungewöhnlich langen Ansprache stemmte Mr. Weller seine Hände auf die Knie und sah Mr. Winkle mit einem Ausdruck ins Gesicht, in dem deutlich zu lesen war, daß er nicht die entfernteste Absicht habe, sich mit Ausflüchten abspeisen zu lassen.

„Sie sind ja ’n recht liebenswürdiger junger Mann, Sir“, fuhr Mr. Weller im Ton des moralischen Vorwurfs fort, „daß Sie unseren lieben Herrn in alle möglichen Sachen verwickeln, wo es doch sein Grundsatz ist, überall den graden Weg zu gehen. Sie sind noch viel schlimmer als wie Dodson, Sir, und was Fogg betrifft, den sehe ich geradezu als ’n geborenen Engel an gegen Sie.“

Nachdem Mr. Weller diese seine letzte Ansicht mit einem nachdrücklichen Schlag auf beide Knie begleitet hatte, verschränkte er mit entrüsteter Miene seine Arme und warf sich in seinen Stuhl zurück, als erwartete er die Verteidigung des Angeklagten.

„Mein guter Junge“, sagte Mr. Winkle, die Hand ausstreckend und mit den Zähnen klappernd, denn er war während der ganzen Lektion Mr. Wellers in einem leichten Nachtgewand dagestanden, „mein guter Junge, ich achte Ihre Anhänglichkeit an meinen vortrefflichen Freund hoch, und es tut mir in der Tat sehr leid, ihm Ursache zum Kummer gegeben zu haben. Da, Sam, da!“

„Gut“, sagte Sam mürrisch, obgleich er die hingebotene Hand ehrerbietig schüttelte, „es darf Ihnen wohl leid tun, und mir freut es ungemein, daß Sie mich hier getroffen haben; denn wenn ich ihm dazu helfen kann, denn soll ihm keine sterbliche Seele ’n Kummer machen.“

„Da haben Sie ganz recht, Sam“, erwiderte Mr. Winkle. ,Aber jetzt gehen Sie zu Bett, und morgen früh wollen wir weiter über die Sache sprechen.“

„Tut mir riesig leid“, erklärte Sam, „aber ich kann nich zu Bett gehen.“

„Nicht zu Bett gehen?“

„Nein“, sagte Sam, den Kopf schüttelnd, „kann nich sein.“

„Sie werden doch nicht in der Nacht zurückreisen wollen, Sani?“ drängte Mr. Winkle sehr überrascht.

„Nö, außer wenn Sie’s absolut wünschen“, versetzte Sam; „aber ich darf dies Zimmer hier nich verlassen. Der Herr hat mir ganz eindeutige Befehle gegeben.“

„Unsinn, Sam“, sagte Mr. Winkle. „Ich muß zwei oder drei Tage hierbleiben, und was noch mehr ist, Sam, Sie müssen auch hierbleiben, um mir zu einer Zusammenkunft mit einer jungen Dame zu verhelfen – nämlich mit Miß Allen. Sie erinnern sich ihrer gewiß noch; ich muß und will sie sehen, bevor ich Bristol verlasse.“

Statt aller Antwort auf diesen Vorschlag schüttelte Sam mit großer Festigkeit das Haupt und erwiderte ausdrucksvoll:

„Geht absolut nich.“

Nach manchen Argumentationen und Vorstellungen Mr. Winkles jedoch und nach einer umständlichen Auseinandersetzung über das Zusammentreffen mit Dowler begann Sam zu schwanken, und zuletzt kam ein Vertrag zustande, dessen Hauptbedingungen folgende waren:

Daß sich Sam entfernen und Mr. Winkle im ungestörten Besitz seines Zimmers belassen solle, jedoch mit der Erlaubnis, die Tür von außen zu schließen und den Schlüssel mitzunehmen; dagegen habe er, im Fall ein Feuer ausbreche oder sonst eine Gefahr eintrete, die Tür sogleich zu öffnen. Ferner solle am nächsten Morgen in aller Frühe Mr. Dowler ein Brief an Mr. Pickwick mitgegeben werden, in dem Sam und Mr. Winkle um Erlaubnis bäten, zu dem bereits bezeichneten Zwecke in Bristol zu bleiben, und um eine Antwort mit der nächsten Postkutsche ersuchten. Falle diese günstig aus, so sollten sie bleiben – wo nicht, unmittelbar Empfang des Schreibens nach Bath zurückreisen. Endlich solle Mr. Winkle sich mit Wort verpflichten, in der Zwischenzeit nicht durch das Fenster, den Kamin, oder sonst auf hinterlistige Art zu entweichen.

Nachdem diese Abmachungen festgesetzt waren, schloß Sam die Tür und ging.

Er war beinahe die Treppe unten, als er stehenblieb und den Schlüssel aus der Tasche zog.

„Ich habe ganz vergessen, ihn umzuhauen“, brummte er und drehte sich unschlüssig halb um. „Der Herr hat es doch ausdrücklich gesagt. Oh, ich Rindvieh. Aber macht nichts“ setzte er, sich plötzlich besinnend, hinzu, „läßt sich ja morgen leicht nachholen.“

Durch diesen Gedankengang augenscheinlich sehr getröstet, steckte er dann den Schlüssel wieder in die Tasche, ging ohne weitere Gewissensbisse die paar Stufen vollends hinunter und begrub sich kurz darauf, gleich den übrigen Bewohnern des Hauses, in seine Kissen.

Zweiundzwanzigstes Kapitel


Zweiundzwanzigstes Kapitel

Mr. Pickwick reist nach Ipswich und erlebt ein romantisches Abenteuer mit einer Dame in mittleren Jahren und gelben Haarwickeln.

„Das is wohl das Gepäck von deinem Herrn, Sammy?“ fragte Mr. Weller senior seinen zärtlichen Sohn, als dieser mit einer Reisetasche und einem kleinen Mantelsack den Hof des Gasthauses „Zum Ochsen“ in Whitechapel betrat.

„Was denn sonst?“ erwiderte Mr. Weller junior, legte seine Bürde auf dem Hofe ab und setzte sich darauf. „Der Gouverneur wird sofort erscheinen.“

„Kommt wohl in ’nem Kabriolett?“

„Ja. Tut für acht Pence zwei Meilen weit sein Leben riskieren. Aber wie geht’s heute früh der Stiefmutter?“

„Is doll geworden, Sammy, ganz doll“, erwiderte Mr. Weller senior mit ernstem Ton. „Is unter die Methodisten gegangen, Sammy, und aasig fromm geworden. Sie is viel zu gut für mir, Sammy. Ich fühle das: ich verdiene ihr nich.“

„Das is aber zuviel Selbstverleugnung von dir“, bemerkte Mr. Samuel.

„So is es“, seufzte sein Vater. „’ne neue Erfindung hat es ihr angetan; erwachsene Leute noch mal geboren werden lassen, Sammy; die neue Geburt, glaube ich, nennen sie das. Ich möchte ja gerne das System in Tätigkeit sehen, Sammy. Es wäre ja herrlich, wenn deine Stiefmutter noch mal geboren würde. Würde ihr sofort ’ne Amme mieten. – Was glaubst du wohl, was die Weiber vor’n paar Tagen gemacht haben?“ fuhr Mr. Weller nach einer kurzen Pause fort und legte einen Zeigefinger bedeutungsvoll an die Nase. „Was glaubst du wohl, was die vor ’n paar Tagen gemacht haben?“

„Kann ich doch nich wissen“, erwiderte Sam.

„Veranstalten die doch für ’nen Kerl, den sie ihren Hirten nennen, ’n großartigen Tee. Ich stehe just am Bilderladen auf unserem Platz und begaffe mir das Gepinsel, da lese ich ’nen Zettel, wo drauf steht, die Karte kostet ’ne halbe Krone. ,Man wende sich an dem Komitee: Mrs. Weller.‘ Ich komme nach Hause, da hält der Komitee seine Sitzung in unserer Hinterstube. Vierzehn Weiber. Ich wollte, du hättest sie gehört, Sammy. Sie stimmten über Beschlüsse ab und setzten Beiträge fest und trieben noch mehr Blödsinn. Gut. Weil mich nun deine Stiefmutter plagt und ich auch neugierig werde, haue ich meinen Namen auch runter für eine Karte, putze mir am Freitagabend um sechs Uhr raus und mache mir mit der Alten auf ’n Weg. Wir latschen in ’ne muffige Stube mit ’nem Teeserviß für dreißig Personen, und ’n ganzer Schwärm Weiber fängt an, untereinander zu flüstern und gafft mich an; die hatten anscheint noch nie ’n stattlichen Achtundfünfziger gesehen. Auf einmal is ’n Mordsspektakel, und „n langbeiniger Kerl mit ’ner roten Nase und ’nem weißen Halstuch um kommt reingestolpert und singt: ,Der Hirte kommt zu seiner treuen Herde‘; hinter ihm kommt so’n fetter Schwarzkittel mit ’ner breiten, blassen Visage und grinst wie ’n Affe. Empfanget den Friedenskuß‘, sagt er und küßt die Weiber, eins nach dem andern; und wie er damit fertig is, fängt doch der mit der roten Nase an. Ich denke mir, es is eigentlich kein schlechter Gedanke, besonders wo neben mir ’ne sehr hübsche Frau saß und deine Stiefmutter gerade rausgegangen war. Da fangen die doch an zu singen. Und dann ging es ans Essen. Ich wollte, du hättest gesehen, wie der Hirte in den Schinken und den Semmelkuchen reingehauen hat! So hat überhaupt noch niemals einer gegessen und getrunken. Der Rotnasige war gar nichts gegen ihn. Gut. Wie denn der Tee vorüber war, legten sie wieder mit dem Lobgesang los, und denn predigte der Hirte. Es war nicht mal so übel, wenn man bedenkt, wie schwer ihm die Semmeln im Magen liegen mußten. Auf einmal bricht es doch bei ihm aus, und er brüllt: ,Wo ist der Sünder, wo ist der elende Sünder?‘ und alle Weiber sehen mir persönlich an und fangen an zu schluchzen; schlimmer, als wenn sie sterben wollten. Das kam mir ja nun seltsam vor, aber ich sagte nichts. Mit einemmal legt der doch wieder los, sieht mir persönlich scharf in die Pupille und sagt: ,Wo ist der Sünder, wo ist der elende Sünder?‘, und alle Weiber schluchzen wieder; noch zehnmal lauter als vorher. Das brachte mich denn doch auf ’n Baum. Ich trete also ’n paar Schritte vor und sage: .Guter Freund‘, sage ich, ,war diese Bemerkung auf mir gemünzt?‘ – Anstatt daß der nun mir um Verzeihung bitten tut, wie ein Schendlmän das getan hätte, wird der doch noch anzüglicher und nennt mich ’n Gefäß, Sammy, ’n Gefäß des Zornes! Da war es aber ganz aus. Zuerst verpaßte ich ihm zwei oder drei für ihn selbst und denn noch zwei oder drei zur Weiterleitung an den Rotnasigen, und denn machte ich mich dünne. Ich wollte, du hättest gehört, Sammy, wie die Weiber geschrien haben, wie sie den Hirten unter dem Tisch vorpulten. – Hallo, da ist ja auch dein Herr in Lebensgröße.“

Noch während Mr. Weller so sprach, stieg Mr. Pickwick aus einem Kabriolett und trat in den Hof.

„’n hübscher Morgen, Sir“, grüßte Mr. Weller senior.

„In der Tat sehr schön“, antwortete ein rothaariger Mann mit einer vorwitzigen Nase und einer blauen Brille, der sich zu gleicher Zeit mit Mr. Pickwick aus einem Kabriolett geschoben hatte. „Reisen Sie nach Ipswich, Sir?“

„Ja“, erwiderte Mr. Pickwick.

„Außerordentlicher Zufall. Ich auch.“

Mr. Pickwick verbeugte sich.

„Haben Sie einen Außenplatz?“

Mr. Pickwick verbeugte sich wieder.

„Merkwürdig, ich auch“, sagte der Rothaarige. „Wir machen also de facto die Reise mitsammen.“ – Der Rothaarige, der ein sehr wichtig aussehender, spitznasiger, geheimnisvoll tuender Herr war und den Vögeln die Gewohnheit abgesehen zu haben schien, jedesmal, wenn er etwas vorbrachte, den Kopf in die Höhe zu werfen, lächelte, als hätte er eine der wichtigsten Entdeckungen gemacht, auf die jemals der menschliche Geist gekommen.

„Freut mich außerordentlich, eine so angenehme Gesellschaft zu haben, Sir“, sagte Mr. Pickwick.

„Oh“, erwiderte der neue Ankömmling, „ganz meinerseits, ganz meinerseits. Gesellschaft, sehen Sie, Gesellschaft ist – ist – ist eben doch etwas ganz andres als Einsamkeit, nicht wahr?“

„Nich zu leugnen“, mischte sich Mr. Weller junior mit einem freundlichen Lächeln ins Gespräch. „Selbstverständlich, wie der Mann meinte, der Hundefleisch verkaufte, als ihm die Magd sagte, er wäre kein Schendlmän nich.“

„Hm“, bemerkte der Rothaarige und maß Mr. Weller mit einem hochfahrenden Blick von Kopf bis zu Fuß. „Ein Freund von Ihnen, Sir?“

„Nicht gerade ein Freund“, erwiderte Mr. Pickwick halblaut. „Er ist mein Bedienter. Aber ich lasse ihm manches durchgehen, da ich ihn, unter uns gesagt, für einen originellen Kopf halte und ein bißchen stolz auf ihn bin.“

„So, so“, sagte der Rothaarige, „doch das ist, möchte ich sagen, Geschmackssache. Ich bin kein Freund von Originalität; ich kann sie nicht leiden; sehe ihre Notwendigkeit nicht ein. – Ihr Name, Sir?“

„Hier ist meine Karte, Sir“, erwiderte Mr. Pickwick, dem die plötzliche Frage und die sonderbaren Manieren des Unbekannten höchst ergötzlich vorkamen.

„Ah“, sagte der Rothaarige und legte die Karte in seine Brieftasche. „Pickwick. Sehr schön. Es ist mir immer lieb, wenn ich den Namen eines Menschen weiß; man erspart sich manche Unannehmlichkeit. Hier, meine Karte, Sir. Magnus ist mein Name. Ist das nicht ein hübscher Name, Sir?“ „In der Tat, ein sehr hübscher Name“, gab Mr. Pickwick zu, kaum imstande, ein Lächeln zu unterdrücken.

„Nicht wahr?!“ fuhr Mr. Magnus fort. „Sie werden bemerken, es steht auch ein schöner Taufname davor. Erlauben Sie, Sir, wenn Sie die Karte ein wenig schief halten, etwa auf diese Art, so fällt das Licht auf den Hauptstrich. Hier – Peter Magnus. – Klingt gut, nicht wahr, Sir?“ „Sehr“, bestätigte Mr. Pickwick.

„Eigne Sache das mit den Anfangsbuchstaben, Sir. Sie werden bemerken: P. M. = post meridiem. In der Eile unterzeichne ich mich oft, in Briefen an gute Bekannte, ,Nachmittag‘, und das belustigt meine Freunde immer sehr, Mr. Pickwick.“

„Es läßt sich denken, daß es ihnen viel Spaß machen muß“, versetzte Mr. Pickwick, Mr. Magnus Freunde um ihre Anspruchslosigkeit beneidend. „Schenlmen“, meldete der Stallknecht, „es ist angespannt. Wenn’s gefällig ist …“

„Haben Sie mein Gepäck nicht vergessen?“ fragte Mr. Magmas.

„Alles in Ordnung, Sir.“

„Ist der rote Reisesack drin?“

„Alles in Ordnung, Sir.“

„Und der gestreifte Sack?“

„Unterm Kutschbock, Sir.“

„Und das Papierpaket?“

„Unter dem Sitz, Sir.“

„Und das lederne Hutfutteral?“

„Alles drin, Sir.“

„Nun, wollen Sie nicht einsteigen?“ fragte Mr. Pickwick.

„Sie entschuldigen“, erwiderte Magnus und blieb auf dem Rade stehen. „Aber in diesem Zustand von Ungewißheit kann ich nicht einsteigen. Ich sehe es dem Menschen an, daß das lederne Hutfutteral nicht darin ist.“

Die feierlichen Verwahrungen des Hausknechts waren gänzlich fruchtlos, und das lederne Hutfutteral mußte aus den tiefsten Tiefen des Kutschbockkastens herausgefischt werden, um Mr. Magnus zu überzeugen. Nachdem er sich über diesen Punkt beruhigt hatte, quälte ihn eine böse Ahnung, erstens, sein roter Reisesack sei verlegt, und zweitens, sein gestreifter Sack sei gestohlen, und endlich, das Papierpaket sei aufgegangen. Erst als er sich durch eignen Augenschein von der Grundlosigkeit seiner sämtlichen Vermutungen überzeugt hatte, ließ er sich überreden, auf die Kutsche zu klettern.

„Sammy“, sagte Mr. Weller senior darauf zu seinem Sohn, „sei deinem Herrn beim Aufsteigen behilflich! Hoch das Bein, Sir; geben Sie mir Ihre Hand, Sir! Und jetzt rauf! Sie waren aber auch leichter, als Sie noch ein Knabe waren, Sir!“

„Das allerdings, Mr. Weller“, erwiderte Mr. Pickwick atemlos, aber gut gelaunt, als er neben ihm Platz nahm.

„So, und jetzt mach, daß du auf den Bock kommst, Sammy“, sagte Mr. Weller. „Willem, laß die Zügel los. Achtung vor dem Torweg von wegen Köpfe und so! Tortenaufsatz runter, wie der Pastetenbäcker sagte. Gut so, Willem, und jetzt ab dafür!“

Und die Kutsche rasselte Whitechapel hinauf zur Bewunderung der ganzen Einwohnerschaft dieses ziemlich stark bevölkerten Viertels.

„Ziemlich mäßige Nachbarschaft, Sir“, bemerkte Sam und griff an seinen Hut, wie er es immer zu tun pflegte, wenn er ein Gespräch mit seinem Herrn anknüpfte.

„Wahrhaftig ja, Sam“, erwiderte Mr. Pickwick mit einem Blick auf das Gewimmel in der schmutzigen Straße.

Bald hatten sie den Schlagbaum in Mile End erreicht. Ein tiefes Stillschweigen herrschte während der ersten zwei bis drei Meilen, dann wandte sich Mr. Weller senior unvermittelt zu Mr. Pickwick und sagte:

„So ’n Baummensch, Sir, führt doch ’n wunderliches Leben.“

„Ein was?“ fragte Mr. Pickwick.

„’n Baummensch.“

„Was verstehen Sie unter einem Baummenschen?“ fragte Mr. Peter Magnus.

„Der Alte meint ’n Schlagbaumwächter, meine Herren“, erklärte Mr. Weller junior.

„Ah, ich verstehe“, sagte Mr. Pickwick. „Ja, ein sehr sonderbares Leben. Sehr unbequem.“

„Sind aber auch alles Leute, die schon mal im Leben ausgerutscht sind“, bemerkte Mr. Weller sen. „Und die Folge is, daß sie sich aus der Welt zurückziehen und an die Bäume retirieren; nämlich erstens, damit sie alleine sind, und denn, damit sie sich an der Menschheit können rächen und ihr Zoll abnehmen.“

„Wahrhaftig“, sagte Mr. Pickwick, „das ist mir vollkommen neu.“

„Tatsache, Sir“, versicherte Mr. Weller. „Wenn es Schendlmen wären, würde man sie Misantropfen nennen, so sind es bloß Baummenschen.“

Durch solche und ähnliche Unterhaltungen, die den unschätzbaren Reiz hatten, das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden, verkürzte Mr. Weller während des größten Teiles des Tages den Herren die Langeweile der Reise. An Stoff zum Gespräch fehlte es nie, denn selbst in dem Falle, daß in seiner Redseligkeit eine Pause eintrat, wurde sie durch Mr. Magnus mehr als hinreichend ergänzt, der ein außerordentliches Verlangen an den Tag legte, sich mit den Privatverhältnissen seiner Reisegefährten bekannt zu machen und sich außerdem auf jeder Station mit lauter Stimme ängstlich nach der Sicherheit der beiden Säcke, des ledernen Hutfutterals und des Papierpakets zu erkundigen.

In der Hauptstraße von Ipswich, linker Hand, nicht weit von dem freien Platz vor dem Rathaus, steht ein Gasthof, der weit und breit unter dem Namen „Das große weiße Roß“ bekannt ist und durch ein steinernes, wütendes Tier mit wehender Mähne und fliegendem Schweife über der Haupttür, das eine entfernte Ähnlichkeit mit einem wahnsinnigen Karrengaul hat, noch mehr in die Augen fällt. „Das große weiße Roß“ ist in der Nachbarschaft wegen der Eigenschaft berühmt, die es mit Preisochsen oder in der Grafschaftschronik aufgezeichneten Rüben oder ungeheuren Schweinen teilt – nämlich wegen seines riesenhaften Umfanges. Nirgends auf der Welt trifft man wieder solche Labyrinthe von Gängen ohne Fußteppiche, solche Reihen dumpfiger, finsterer Zimmer, eine solche Anzahl Speise- oder Schlafgrotten unter einem Dache an wie zwischen den vier Wänden des „Großen weißen Rosses“ in Ipswich.

„Steigen Sie auch hier ab, Sir?“ fragte Mr. Peter Magnus, als der gestreifte Sack und der rote Sack und das lederne Hutfutteral und das Papierpaket sämtlich im Hausgang untergebracht waren. „Steigen Sie auch hier ab, Sir?“

„Ja“, erwiderte Mr. Pickwick.

„Nein, es ist wirklich ein außerordentliches Zusammentreffen“, rief Mr. Magnus. „Denken Sie nur, ich steige auch hier ab. Wir speisen doch zusammen?“

„Mit Vergnügen“, erwiderte Mr. Pickwick. „Ich weiß übrigens nicht gewiß, ob ich hier nicht einige Freunde treffe. ~ Ist ein Herr namens Tupman hier, Kellner?“

Ein korpulenter Gentleman mit einer schon vierzehn Tage benutzten Serviette unter dem Arm und mit ebenso alten Strümpfen an den Beinen unterbrach auf Mr. Pickwicks Frage seine Beschäftigung, die Straße hinunterzuspähen, musterte eine Minute lang das Äußere des kecken Fragestellers vom Deckel seines Hutes bis zum untersten Gamaschenknopf und erwiderte dann mit Nachdruck: „Nein!“

„Auch kein Herr namens Snodgraß?“

„Nein!“

„Oder Winkle?“

„Nein!“

„Dann sind meine Freunde heute also noch nicht angekommen“, bemerkte Mr. Pickwick. „Wir werden demnach allein speisen. – Geben Sie uns ein Extrazimmer, Kellner.“

Auf diese Aufforderung hin ließ sich der dicke Gentleman herab, dem Hausknechte zu befehlen, das Gepäck dir Herren hineinzutragen, und führte sie sodann durch einen langen finstern Gang in ein großes ungemütliches Zimmer mit einem rußigen Kamin, in dem sich ein kleines Feuerchen jämmerlich abmühte, lustig zu brennen und dem entmutigenden Einfluß der Örtlichkeit Trotz zu bieten. Nach Verlauf einer Stunde wurde den Reisenden ein Stück Fisch und geröstetes Ochsenfleisch vorgesetzt, und als der Tisch abgeräumt war, zogen die Herren Pickwick und Peter Magnus ihre Stühle ans Feuer. Sie bestellten zunächst eine Flasche Portwein und bekamen die denkbar jämmerlichste Sorte zum denkbar höchsten Preis, womit dem Wirt gedient war; sodann tranken sie Grog, womit ihnen selbst gedient war.

Mr. Peter Magnus hatte von Natur einen sehr großen Hang zur Mitteilsamkeit, und der Grog brachte eine so wunderbare Wirkung hervor, daß er bald die verborgensten Geheimnisse seines Herzens enthüllte. Nachdem er ein langes und breites von sich, seiner Familie, seinen Verbindungen, seinen Freunden, seinen Erholungen, seinen Geschäften und seinen Brüdern erzählt hatte, nahm er Mr. Pickwick mehrere Minuten lang durch seine blauen Brillengläser in Augenschein und fragte dann mit bescheidener Miene:

„Und warum, meinen Sie, warum, meinen Sie, Mr. Pickwick, daß ich hierhergereist bin?“

„Auf mein Wort“, erwiderte Mr. Pickwick, „ich kann es unmöglich erraten. Geschäfte halber vielleicht?“

„Zum Teil getroffen, Sir“, versetzte Mr. Peter Magnus. „Zum Teil aber auch fehlgeschossen. Raten Sie noch einmal, Mr. Pickwick.“

„Wahrhaftig“, versicherte Mr. Pickwick, „ich muß mich Ihnen auf Gnade und Ungnade ergeben, ob Sie’s mir sagen wollen oder nicht, denn erraten kann ich es nicht, und wenn ich die ganze Nacht darüber nachdächte.“

„Hihihi!“ kicherte Mr. Peter Magnus verschämt. „Was würden Sie denken, Mr. Pickwick, wenn ich hierhergekommen wäre, um einer Dame einen Heiratsantrag zu machen? Hi, hi, hi.“

„Was ich denken würde? Je nun, daß Sie höchstwahrscheinlich Erfolg haben werden“, erwiderte Mr. Pickwick mit seinem freundlichsten Lächeln. „Ah, glauben Sie das wirklich, Mr. Pickwick? Wirklich?“

„Ganz gewiß.“

„Aber Sie scherzen vielleicht.“

„Nein, nein, gewiß nicht“

„Nun“, sagte Mr. Magnus, „um Ihnen ein kleines Geheimnis zu verraten – ich glaube es auch. Ich will Ihnen auch nicht länger verhehlen, Mr. Pickwick, obgleich ich von Natur fürchterlich eifersüchtig bin – ungeheuer: die Dame ist hier im Hause.“ Mr. Magnus nahm seine Brille ab, um besser blinzeln zu können, und setzte sie dann wieder auf.

„Deshalb also sind Sie vor dem Essen so oft aus dem Zimmer gelaufen?“ fragte Mr. Pickwick schalkhaft.

„Pst – freilich, ja. Das war’s. Ich war natürlich nicht so töricht, mich ihr zu zeigen.“

„Nicht?“

„Nein; das geht doch nicht, wenn man eben erst von der Reise kommt; ich will bis morgen warten, Sir – dann habe ich doppelte Chancen. In diesem Reisesack, Mr. Pickwick, befindet sich ein Anzug, und in diesem Futteral ein Hut, von denen ich mir eine unfehlbare Wirkung verspreche.“

„So, so“, sagte Mr. Pickwick.

„Ja. Sie müssen bemerkt haben, wie besorgt ich heute morgen darum war. Ich glaube, ein solcher Anzug und ein solcher Hut sind überhaupt nicht mehr für Geld zu haben, Mr. Pickwick.“

Mr. Pickwick beglückwünschte den beneidenswerten Eigentümer der unwiderstehlichen Kleidungsstücke zu seiner Akquisition, und der Freier versank auf einige Augenblicke in tiefes Nachsinnen.

„Es ist eine schöne Person“, begann er dann wieder.

„So?“ fragte Mr. Pickwick.

„Sehr schön. Sie wohnt ungefähr zwanzig Meilen von hier, Mr. Pickwick. Ich erfuhr, daß sie diesen Abend und morgen noch den ganzen Vormittag hierbleiben wird, und bin hergereist, um die günstige Gelegenheit zu benützen. Meiner Ansicht nach ist ein Gasthof der geeignetste Ort, um einer ledigen Dame einen Antrag zu machen. Auf der Reise wird ihr die Verlassenheit ihrer Lage fühlbarer, als wenn sie zu Hause ist. Was halten Sie davon, Mr. Pickwick?“

„Es leuchtet mir sehr ein“, versicherte Mr. Pickwick.

„Ich bitte um Verzeihung, Mr. Pickwick“, begann Mr. Peter Magnus wieder, „aber ich bin von Natur etwas wißbegierig – Was mag Sie hierhergeführt haben?“

„Eine weit weniger angenehme Sache“, erwiderte der Gelehrte, dem bei der bloßen Erinnerung das Blut in die Wangen stieg. „Ich bin hierhergekommen, Sir, um die Falschheit und Verräterei einer Person zu entlarven, in deren Ehrenhaftigkeit und Treue ich einstens unbegrenztes Vertrauen gesetzt habe.“

„O Himmel“, rief Mr. Peter Magnus, „das ist freilich sehr unangenehm. Es handelt sich wohl um eine Dame? Nicht wahr? Ich merke schon, Mr. Pickwick, ich merke schon. Ich möchte Ihren Gefühlen um alles in der Welt natürlich nicht zu nahe treten, aber schmerzlich so was, Sir, sehr schmerzlich. Scheuen Sie sich nicht, Mr. Pickwick, wenn Sie Ihren Gefühlen Luft machen wollen. Ich weiß, was es heißt, in der Liebe getäuscht werden, Sir. Ich selbst habe schon drei- oder viermal derartige Erfahrungen gemacht.“

„Ich bin Ihnen für Ihre Teilnahme an dem, was Sie für den Grund meines Ärgers halten, sehr verbunden“, sagte Mr. Pickwick, zog seine Uhr auf und legte sie auf den Tisch, „aber …“

„Nein –nein“, fiel Peter Magnus ein. „Kein Wort mehr. Es tut Ihnen weh, ich sehe es. Wie spät ist es, Mr. Pickwick?“

„Zwölf Uhr durch.“

„Du lieber Himmel, da ist es ja höchste Zeit, schlafen zu gehen. Ich darf nicht länger aufbleiben, sonst sehe ich morgen zu blaß aus, Mr. Pickwick.“

Schon der bloße Gedanke an eine solche Möglichkeit jagte ihm einen derartigen Schrecken ein, daß er aufsprang, dem Stubenmädchen klingelte und, nachdem der gestreifte Reisesack, der rote Reisesack, das lederne Hutfutteral und das Papierpaket in sein Schlafzimmer gebracht worden waren, sich mit einem lackierten Leuchter nach dem einen Ende des Hauses zu rückzog, während Mr. Pickwick, mit einem andern lackierten Leuchter bewaffnet, durch eine Unzahl verschlungener Gänge nach dem seinigen geführt wurde.

„Dies ist Ihr Zimmer, Sir“, sagte das Stubenmädchen.

Mr. Pickwick sah sich um. Es war ein ziemlich geräumiges, mit zwei Betten versehenes Gemach, in dem ein Feuer brannte –jedenfalls ein weit wohnlicherer Auf enthalt, als er sich nach allem, was er bisher von dem Komfort des „Großen weißen Rosses“ gesehen, vorgestellt hätte.

„Im andern Bett schläft natürlich niemand?“

„Bewahre, Sir“, erwiderte das Mädchen verschämt.

„Sehr gut! Sagen Sie meinem Diener, ich bedürfe seiner heute nicht mehr, aber morgen solle er mir um halb neun Uhr warmes Wasser heraufbringen.“

„Sehr wohl, Sir.“

Mr. Pickwick eine gute Nacht wünschend, zog sich das Stubenmädchen zurück und ließ ihn allein.

Mr. Pickwick setzte sich vor den Kamin, und Bilder aller An zogen an seinem Geiste vorüber. Zuerst dachte er an seine Freunde, und wann er sie wohl wiedersehen werde, dann wanderten seine Gedanken zu Mrs. Marta Bardell und von ihr in die düstere Schreibstube von Dodson und Fogg. Von Dodson und Fogg schweiften sie mitten in die Geschichte von dem seltsamen Klienten ab und kehrten in das „Große weiße Roß“ in Ipswich zurück, wo sie sein Bewußtsein noch klar genug fanden, um ihn gewahren zu lassen, daß er eben im Begriff war, einzuschlafen. Er stand auf und wollte sich entkleiden, da erinnerte er sich, daß er seine Uhr unten auf dem Tisch habe liegenlassen.

Diese Uhr stand nun bei Mr. Pickwick in besonderer Gunst, da er sie eine größere Anzahl von Jahren hindurch, als wir uns hier anzugeben berufen fühlen, unter dem Schatten seiner Weste mit sich herumgetragen hatte. Noch niemals hatte Mr. Pickwick auch nur an die Möglichkeit gedacht, einzuschlafen, ohne sie unter seinem Kopfkissen oder in der Uhrtasche über seinem Kopf ticken zu hören. Es war bereits spät, und da er zu dieser Stunde der Nacht nicht mehr läuten wollte, schlüpfte er wieder in seinen Rock, den er soeben abgelegt hatte, nahm den lackierten Leuchter und ging leise die Treppe hinunter.

Je mehr Stufen er hinunterging, desto mehr schien er dann wieder hinaufsteigen zu müssen, und wenn er in einen schmalen Gang gekommen war und sich bereits Glück wünschte, den Hausflur erreicht zu haben, zeigte sich immer wieder eine neue Treppe seinen erstaunten Blicken. Endlich gelangte er in den mit Steinplatten belegten Vorsaal, den er, soviel er sich erinnerte, beim Eintritt in das Haus gesehen hatte. Er durchsuchte Gang für Gang, öffnete ein Zimmer nach dem andern, und endlich, als er bereits im Begriff war, voll Verzweiflung seine Nachforschungen aufzugeben, fand er die Tür des Zimmers, in dem er den Abend zugebracht hatte, und sah seine vermißte Uhr auf dem Tisch liegen. Triumphierend steckte er sie ein und begab sich sofort auf den Rückweg nach seinem Schlafzimmer. War aber seine Herreise schon mit Schwierigkeiten verbunden gewesen, so gestaltete sich sein Rückzug noch unendlich mühseliger.

In jeder Richtung zweigten Türreihen ab, vor denen Stiefel von jeglicher Gestalt, Fasson und Größe standen. Wohl ein dutzendmal faßte er leise die Klinke einer Schlafzimmertür, die der seinigen glich, aber jedesmal ertönte im Innern ein barsches: „Zum Teufel, wer ist da?“, oder eine ähnliche Begrüßung, und er machte sich dann mit einer wahrhaft bewunderungswürdigen Schnelligkeit auf den Zehen davon. Er fühlte sich bereits am Rande der Verzweiflung, als endlich eine offne Tür seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Er blickte hinein – endlich die rechte. Da standen die zwei Betten, deren Lage ihm noch vollkommen erinnerlich war, und in dem Kamin brannte das Feuer. Seine Kerze, die schon, als sie ihm ausgehändigt worden war, nicht zu den längsten gehört hatte, war in dem Luftzug, dem er sie auf seiner Wanderung durch die langen Gänge ausgesetzt hatte, heruntergebrannt und fiel, als er eben die Tür hinter sich schloß, in die Röhre des Leuchters hinein. Hat nichts zu bedeuten, tröstete er sich, ich kann mich ebensogut beim Schein des Feuers auskleiden.

Die Betten standen, das eine rechts, das andre links von der Tür und ließen an der Wand einen Gang frei, der breit genug war, daß man von ihm aus ins Bett steigen konnte. Mr. Pickwick zog die Vorhänge seines Bettes auf der Außenseite sorgfältig zu, setzte sich auf den Strohsessel, der am Ende des besagten Ganges neben dem Bett stand, und entledigte sich langsam seiner Schuhe und Gamaschen. Dann legte er seinen Rock, seine Weste und seine Halsbinde ab, zog aus der rückwärtigen Hosentasche seine mit einer Troddel versehene Nachtmütze, setzte sie auf und befestigte sie auf seinem Kopf, indem er die Bänder, die an diesem Bestandteil seines Schlafgewandes nie fehlten, unter dem Kinn fest zusammenknüpfte. Die komische Wanderung, die er soeben gemacht, fiel ihm wieder ein, und er mußte in seinem Strohsessel so herzlich über sich selbst lachen, daß es eine Lust hätte sein müssen, seine von innerer Heiterkeit verklärten Züge unter der Nachtmütze zu sehen.

Er war eben im Begriff, mit dem Auskleiden fortzufahren, und lächelte dabei so fröhlich, daß beinahe die Bänder seiner Nachtmütze rissen – als er plötzlich auf eine höchst unerwartete Weise gestört wurde. Es trat nämlich jemand mit einem Licht ins Zimmer, verschloß die Tür hinter sich und stellte die Kerze auf das Toilettetischchen.

Das Lächeln, das eben noch auf Mr. Pickwicks Zügen spielte, verwandelte sich augenblicklich in grenzenloses Erstaunen. Die Person, wer sie auch sein mochte, war so plötzlich und so geräuschlos eingetreten, daß Mr. Pickwick keine Zeit gehabt hatte zu rufen oder sich ihrem Eintritt zu widersetzen. Wer konnte es sein? Ein Räuber? Irgendein Spitzbube, der ihn vielleicht mit der wertvollen Uhr in der Hand hatte die Treppe heraufkommen sehen? – Was war zu tun?

Der einzige Weg, um den geheimnisvollen Besuch mit so wenig Gefahr wie möglich zu beobachten, war der, ins Bett zu schlüpfen und hinter den Vorhängen der entgegengesetzten Seite hinauszuspähen. Zu diesem Mittel nahm Mr. Pickwick also seine Zuflucht, hielt die Vorhänge vorsichtig mit der Hand zusammen, so daß man. nichts als sein Gesicht seine Nachtmütze sehen konnte, setzte seine Brille auf, faßte sich ein Herz und lugte hinaus.

Er fiel vor Schrecken beinahe in Ohnmacht, als er vor dem Toilettenspiegel eine Dame in mittleren Jahren, das Haupt mit gelben Haarwickeln gespickt, eifrig damit beschäftigt sah, das mit ausgestrecktem Arm zu bürsten, was die Damen ihren Zopf nennen. Wie nun auch die arglose Dame in mittleren Jahren in das Zimmer gekommen sein mochte, soviel war gewiß, daß sie die Nacht über hierzubleiben gesonnen war, denn sie hatte ein Nachtlicht mit einem Lichtschirm mitgebracht, das sie mit lobenswerter Vorsicht gegen Feuersgefahr in einem Waschbecken auf den Boden gestellt hatte, wo es gleich einem riesenhaften Leuchtturm in einem winzigen See fortglomm.

Gott im Himmel, dachte Mr. Pickwick, welch furchtbares Ereignis.

„Hem!“ räusperte sich die Dame, und sofort zog Mr. Pickwick mit der Schnelligkeit eines Taschenspielers seinen Kopf zurück.

So etwas Entsetzliches ist mir in meinem Leben noch nicht begegnet, dachte er, und kalte Schweißtropfen drangen durch seine Nachtmütze. Es ist schauderhaft.

Unmöglich konnte er dem quälenden Verlangen widerstehen, abermals hinauszusehen, was weiter sich begeben werde, und wieder steckte er den Kopf zwischen die Vorhänge. Der Anblick, der sich ihm darbot, war noch schreckenerregender als vorher. Die Dame in den mittleren Jahren hatte ihre Haare zurechtgebürstet, weggelegt, sorgfältig eine musselinene, mit schmalen gefältelten Spitzen besetzte Schlafhaube aufgesetzt und blickte gedankenvoll ins Feuer.

Die Sache fängt an, bedenklich zu werden, überlegte Mr. Pickwick. So kann es nicht fortgehen. Die Unbefangenheit dieser Dame ist mir ein klarer Beweis, daß ich in ein falsches Zimmer geraten sein muß. Wenn ich sie anrufe, bringt sie das ganze Haus in Aufruhr, und wenn ich ruhig bleibe, können die Folgen unberechenbar werden.

Es ist durchaus nicht nötig, zu bemerken, daß Mr. Pickwick einer der bescheidensten und zartfühlendsten Sterblichen war. Schon der bloße Gedanke, sich in einer Nachtmütze einer Dame zu zeigen, erfüllte ihn mit Schauder, aber er hatte die verdammten Bänder in einen Knoten zusammengezogen, den er um nichts in der Welt so schnell zu lösen vermochte. Und doch mußte er sich entdecken! Es stand ihm nur noch ein Ausweg zu Gebote. Er zog sich hinter die Vorhänge zurück und hustete laut:

„Hä, Hem!“

Daß die unerwarteten Laute die Dame außerordentlich erschreckt haben mußten, war offenbar, denn man hörte sie gegen den Lichtschirm stolpern, aber daß sie sich einredete, es müsse nur Einbildung gewesen sein, war ebenfalls klar, denn als Mr. Pickwick, ganz versteinert vor Angst, sie könne in Ohnmacht gefallen sein, wieder hinauszuspähen wagte, blickte sie wie zuvor nachdenklich ins Feuer.

Ein höchst merkwürdiges Frauenzimmer das, dachte Mr. Pickwick und hustete wieder. „Hä, hüm.“

Die Laute glichen diesmal zu sehr denen, durch die der Menschenfresser im Märchen gewöhnlich seine Ansicht auszudrücken pflegt, daß es höchste Zeit sei, den Tisch zu decken, und waren überhaupt zu deutlich, um noch einmal für Einbildung gehalten werden zu können.

„Barmherziger Himmel!“ rief denn auch die Dame in den mittleren Jahren. „Was ist das?“

„Es ist – es ist – nur ein Herr, Ma’am“, rief Mr. Pickwick hinter seinen Vorhängen.

„Ein Herr!“ kreischte die Dame entsetzt.

Jetzt ist’s aus, dachte Mr. Pickwick.

„Ein fremder Mann!“ schrie die Dame noch lauter. Noch ein Augenblick, und das Haus mußte in Aufruhr sein. Schon rauschte sie der Tür zu.

„Ma’am, Ma’am“, rief Mr. Pickwick und steckte in äußerster Verzweiflung seinen Kopf hervor. „Ma’am!!“

Wenn auch Mr. Pickwick keinen bestimmten Zweck damit verfolgte, daß er den Kopf hinaussteckte, so brachte es augenblicklich eine gute Wirkung hervor. Die Dame stand bereits nahe an der Tür und würde in der nächsten Sekunde zweifelsohne die Treppe erreicht haben, hätte sie nicht die plötzliche Erscheinung von Mr. Pickwicks Nachtmütze in die entfernteste Ecke des Zimmers zurückgetrieben, von wo aus sie wilde Blicke auf den Gelehrten schoß, die dieser nicht weniger entsetzt erwiderte.

„Elender“, ächzte die Dame und bedeckte die Augen mit der Hand, „was suchen Sie hier?“

„Nichts, Ma’am, durchaus nichts, Ma’am“, versicherte Mr. Pickwick ernsthaft.

„Nichts?“ rief die Dame und schlug die Augen auf.

„Nichts, Ma’am. Auf mein Ehrenwort“, beteuerte Mr. Pickwick mit so nachdrücklichem Kopfschütteln, daß die Troddel seiner Nachtmütze hin und her tanzte. „Ich sinke vor Scham, eine Dame in meiner Nachtmütze anzureden“, hastig riß die Dame die ihre herunter, „beinahe in die Erde, aber ich kann den Knoten nicht lösen, Ma’am!“ Zum Beweis für seine Behauptung riß Mr. Pickwick mit Macht an den Bändern. „Es ist mir jetzt klar, Ma’am, daß ich in ein falsches Zimmer geraten bin. Ich war noch nicht fünf Minuten hier, da traten Sie plötzlich ein.“

„Wenn diese unwahrscheinliche Geschichte wirklich wahr ist“, entgegnete die Dame unter heftigem Schluchzen, „so werden Sie sich augenblicklich entfernen.“

„Mit dem größten Vergnügen, Ma’am.“

„Augenblicklich, Sir“, wiederholte die Dame.

„Gewiß, Ma’am. Sofort Ma’am. Ich – ich – bin untröstlich, Ma’am“, sagte Mr. Pickwick und erschien schüchtern am Fußende des Bettes, „die unschuldige Ursache dieser Unruhe und Aufregung zu sein, ganz untröstlich, Ma’am!“

Die Dame deutete stumm auf die Tür.

In diesem Augenblick zeigte sich, trotz der ungemein mißlichen Lage, eine der vorzüglichsten Eigenschaften von Mr. Pickwicks Charakter. Obgleich er nach Art der alten Nachtwächter seinen Hut hastig über die Nachtmütze gestülpt hatte und seine Schuhe und Gamaschen in der Hand und seinen Rock und seine Weste über dem Arm trug, so ließ ihn selbst das nicht seine angeborne Galanterie vergessen.

„Ich bin über die Maßen untröstlich, Madam“, versicherte er ein ums andre Mal mit tiefen Verbeugungen.

„Dann werden Sie augenblicklich das Zimmer verlassen“, erwiderte die Dame.

„Unverzüglich, Madam. Auf der Stelle, Madam“, beteuerte Mr. Pickwick, öffnete die Tür und ließ dabei geräuschvoll seine Schuhe fallen. „Ich hoffe, Madam“, begann er wieder, hob sie auf und wandte sich abermals mit einer Verbeugung zu der Dame um, „ich hoffe, Madam, mein unbefleckter Ruf und die große Achtung, die ich Ihrem Geschlecht zolle, werden mir als Entschuldigung …“ Doch ehe er seinen Satz noch vollenden konnte, hatte ihn die Dame bereits in den Gang gedrängt und die Tür hinter ihm verschlossen und verriegelt.

Soviel Grund Mr. Pickwick auch haben mochte, sich Glück zu wünschen, so glimpflich davongekommen zu sein, so hatte doch seine neue Lage durchaus nichts Beneidenswertes. Er war mitten in der Nacht allein in einem offenen Gang, in einem fremden Hause und nur halb angekleidet. In der undurchdringlichen Finsternis konnte er unmöglich den Weg nach einem Zimmer finden, das er schon mit dem Licht nicht hatte entdecken können, und wenn er bei seinen fruchtlosen Versuchen das geringste Geräusch machte, wie leicht konnte er da von irgendeinem wachsamen Reisenden erschossen werden! Es blieb ihm daher nichts übrig, als zu bleiben, wo er war, bis der Tag anbrach. Er tappte noch einige Schritte vorwärts, stolperte dabei zu seinem unendlichen Schrecken über diverse Paar Stiefel und drückte sich schließlich in eine kleine Nische in der Wand, um den Morgen, so philosophisch gefaßt wie möglich, zu erwarten.

Es sollte ihm indes nicht bestimmt sein, diesen neuen Kelch leeren zu müssen. Er war noch nicht lange in seinem Schlupfwinkel versteckt, als sich zu seinem unsäglichen Schrecken am Ende des Ganges ein Mann mit einem Licht zeigte; doch ebenso schnell verwandelte sich sein Entsetzen in Freude, als er die Gestalt seines treuen Dieners erkannte. Es war in der Tat Samuel Weller, der eben im Begriff stand, sich zur Ruhe zu begeben, nachdem er sich so lange mit dem Hausknecht unterhalten hatte.

„Sam!“ rief Mr. Pickwick, plötzlich auftauchend wie ein Gespenst. „Wo ist mein Schlafzimmer?“

Mr. Weller starrte seinen Herrn höchst erstaunt an, und Mr. Pickwick mußte die Frage dreimal wiederholen, ehe er sich umwandte und nach dem lange gesuchten Zimmer vorausging.

„Sam“, sagte Mr. Pickwick, als er sich ins Bett legte, „ich habe heute nacht einen der außerordentlichsten Mißgriffe getan, von denen man je gehört hat.“

„Scheint so“, erwiderte Mr. Weller trocken.

„Ich habe mir fest vorgenommen, Sam“, fuhr Mr. Pickwick fort, „mich, und wenn wir noch ein halbes Jahr in diesem Hause bleiben sollten, nie wieder allein in diese Labyrinthe zu wagen.“

„Is auch der klügste Entschluß, den Sie fassen könnten, Sir“, versetzte Mr. Weller. „Sie sollten jemand haben, wo Ihnen zurückhält, wenn’s über Sie kommt.“

„Was meinst du damit, Sam?“ fragte Mr. Pickwick, richtete sich im Bett auf und streckte die Hand aus, als wolle er noch mehr sagen, dann aber hielt er plötzlich inne, legte sich auf die Seite und wünschte seinem Diener gute Nacht.

„Gute Nacht, Sir“, erwiderte Mr. Weller, ging zur Tür hinaus, blieb stehen, schüttelte den Kopf, ging weiter, stand still, putzte das Licht, schüttelte den Kopf wieder und trat endlich langsam in sein Schlafzimmer; er war offensichtlich tief in Grübelei versunken.