Einundvierzigstes Kapitel

Zeigt, wie Mr. Samuel Weller ins Unglück kommt.

In einem hohen, schlecht erleuchteten und noch schlechter gelüfteten Zimmer in der Portugalstreet, Lincolns Inn Fields, sitzen jahraus und jahrein, wie es der Zufall mit sich bringt, ein, zwei, drei oder vier perückte Herren hinter kleinen Schreibpulten, wie sie gewöhnlich die Richter auf dem Lande besitzen, die keinen Sinn für französischen Geschmack haben. Zu ihrer Rechten sieht man eine Box für die Advokaten, zu ihrer Linken eine Abteilung für die Insolventen und vor ihnen eine geneigte Ebene von Schmutzgesichtern. Diese Herren sind die Kommissäre des Insolvenzgerichtshofes, und der Ort, an dem sie ihre Sitzungen abhalten, ist der Insolvenzgerichtshof.

Dieser Gerichtshof hat und hatte schon seit undenklichen Zeiten das Schicksal, von der ganzen Sippschaft schäbig-eleganter Bankerotteure als gemeinschaftlicher Sammelpunkt und tägliches Stelldichein angesehen zu werden. Er ist immer voll. Der Bier- und Branntweindunst steigt unaufhörlich zur Decke empor und träufelt, von der Wärme verdichtet, gleich Tau an den Wänden herab. Hier sieht man an einem Tage mehr alte Trachten, als im ganzen Houndsditch in einem Jahre feilgeboten werden, und mehr ungewaschene Gesichter und schmutzige Barte, als alle Brunnen und Barbierstuben zwischen Tyburn und Whitechapel vom Aufgang bis zum Untergang der Sonne zu reinigen imstande wären.

Nicht etwa, als habe irgendeiner von diesen Besuchern auch nur ein Jota von Geschäft hier abzuwickeln. Wäre dies der Fall, so hätte die Sache durchaus nichts Wunderbares an sich. Einige schlafen den größten Teil der Sitzung hindurch; andre führen kleine tragbare Diners bei sich, die entweder in Taschentücher eingewickelt sind oder aus ihren abgenutzten Taschen hervorragen, und kauen und horchen mit gleicher Lust; aber noch keinen hat man gesehen, der auch nur das entfernteste persönliche Interesse an einem Fall gehabt hätte, der je vorgebracht wurde. Was sie immer auch zu tun unternehmen, hier sitzen sie vom ersten Augenblick an bis zum letzten. Bei starkem Regenwetter kommen sie ganz durchnäßt, und dann dunstet es im Gerichtssaal wie in einer Pilzgrube.

Wer zufälligerweise hineingerät, könnte diesen Ort für einen dem Genius des Unflats geheiligten Tempel halten. Im ganzen Hause sieht man keinen Gerichtsboten, der einen ihm auf den Leib zugeschnittenen, Rock trüge, kein Gesicht, das auch nur einen Anstrich von Lebensfrische und Gesundheit hätte, außer einem kleinen rotbackigen Gerichtsdiener mit weißen Haaren, und sogar dieser scheint wie eine wurmdurchnagte Kirsche, die in Weingeist aufbewahrt wird, das gute Aussehen, auf das er von Natur keinen Anspruch hatte, der Hand der Kunst zu verdanken. Selbst die Advokatenperücken sind schlecht gepudert, und ihre Locken schmachten nach dem Haarkräusler.

Die Anwälte, die an einem großen, nackten Tische unter den Kommissären sitzen, sind jedenfalls die größten Merkwürdigkeiten. Die berufliche Ausstattung der Wohlhabenderen dieser Herren besteht in einem blauen Aktenbeutel und einem Jungen, der gewöhnlich auf den Glauben der Hebräer eingeschworen ist. Sie haben keine bestimmten Kanzleien, denn ihre Rechtsgeschäfte werden in den Wirtshäusern und in den Gefängnishöfen abgewickelt, in die sie sich scharenweise eindrängen und wo sie sich auf die den Omnibusjungen eigne Weise nach Kunden umsehen. Ihr Äußeres ist schmutzig und mit Staub bedeckt, und wenn ihnen überhaupt Laster zugeschrieben werden können, so ist vielleicht der Hang zum Trinken und Betrügen das hervorragendste. Ihre Wohnungen haben sie meist in den Vorstädten der sogenannten Rules, die hauptsächlich im Umkreis von einer Meile um den Obelisk in St. Georg Fields herum liegen. Ihre Gesichter sind nicht einnehmend und ihre Manieren befremdlich.

Mr. Salomo Pell, einer von dieser gelehrten Körperschaft, war ein fetter Mann mit einem blassen, welken Gesicht und trug einen Oberrock, der bald grün und bald braun schimmerte, mit einem Samtkragen von denselben Chamäleonsfarben. Seine Stirn war schmal, sein Gesicht breit, der Kopf groß und die Nase auf die Seite gedrückt, als hätte ihr die Natur im Ärger über die Neigungen, die sie bei der Geburt Mr. Pells an ihm entdeckte, einen Hieb versetzt, von dem . sie sich nicht wieder erholen konnte. Da Mr. Pell jedoch kurzhalsig und engbrüstig war, so beschränkte sich seine Respiration beinahe einzig auf dieses Organ, das dadurch, was ihm an Schönheit abging, an Nützlichkeit ersetzte. „Ich bring ihn schon durch“, sagte Mr. Pell.

„Glauben Sie?“ versetzte die Person, an die diese Versicherung gerichtet war.

„Ganz bestimmt“, beteuerte Mr. Pell, „aber wenn er an irgendeinen Winkeladvokaten geraten wäre, hätte ich nix für die Folgen stehen mögen.“ „So?“ rief der andre mit offenem Munde.

„Ja, ich hätte nix dafür stehen mögen“, wiederholte Mr. Pell, warf die Lippen auf, runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf mit geheimnisvoller Miene.

Der Ort, an dem dieses Gespräch geführt wurde, war das Wirtshaus, das dem Insolvenzgerichtshofe gegenübersteht, und die Person, mit der es geführt wurde, niemand anders als Mr. Weller senior, der hierhergekommen war, um einem Freunde Trost und Stärkung zu bringen, dessen Crida an diesem Tage verhandelt werden sollte und dessen Anwalt er 111 diesem Augenblick um seine Meinung befragte.

„Und wo is Schorsch?“ fragte der alte Herr.

Mr. Pell winkte mit dem Kopfe nach einem Hinterzimmer, in das sich Mr. Weller alsbald begab und zur Beglückwünschung von einem halben Dutzend Kollegen aufs wärmste und schmeichelhafteste begrüßt wurde. Der Herr in Zahlungsschwierigkeiten, der aus spekulativer, aber unkluger Leidenschaft für das Befahren weiter Stationen in seine gegenwärtige Verlegenheit geraten war, trug ein äußerst heiteres Aussehen zur Schau und bekämpfte seine Aufregung erfolgreich mit Krabben und Porter.

Die Begrüßung zwischen Mr. Weller und seinen Freunden hielt sich ganz in den Schranken der Gewerbsfreimaurerei und bestand lediglich in einem die Runde mach enden Händedruck und einem gleichzeitigen Schnalzen mit dem kleinen Finger der Linken. Es gab einmal zwei berühmte Kutscher – sie sind jetzt tot, die armen Burschen –, die Zwillinge waren, und zwischen denen eine ungeheuchelte und innige Zuneigung bestand. Sie kamen seit zwanzig Jahren jeden Tag an der Dowerstreet aneinander vorüber und wechselten nie einen anderen Gruß als diesen, und doch, als der eine starb, welkte der andre dahin und folgte ihm bald nach.

„Na, Schorsch“, sagte Mr. Weller senior, seine Rockschöße zusammennehmend und sich mit der gewohnten Würde niedersetzend. „Wie steht’s? Alles in Ordnung hinten, und innen voll?“

„Alles in Ordnung, alter Kamerad“, erwiderte der Cridatar.

„Is die graue Stute in Flege gegeben?“ forschte Mr. Weller bewegt.

Schorsch nickte bejahend.

„Na, denn is ja alles gut“, sagte Mr. Weller. „Die Kutsche auch beiseite geschafft?“

„In ’nen sichern Verwahrungsort gebracht“, versetzte Schorsch, riß einem halben Dutzend Krabben die Köpfe ab und verschlang sie ohne weitere Präliminarien.

„Famos“, bemerkte Mr. Weller. „Immer schön die Bremse anziehen, wenn’s bergab geht. Is der Frachtzettel deutlich?“

„Sie meinen das Inventar, Sir“, sagte Pell, erratend, was Mr. Weller sagen wollte, „alles so klar und bestimmt, wie es nur Tinte und Feder machen können.“

Mr. Weller nickte auf eine Weise, die seine innere Billigung aller dieser Anordnungen aussprach, und sagte dann, auf seinen Freund Schorsch deutend, zu Mr. Pell:

„Wann, nehmen Sie an, geht er vom Start?“

„Nu“, versetzte Mr. Pell, „er is der dritte auf der Liste, und ich glaube, es werd ungefähr in aner halben Stund an ihn kommen. Ich hab mein Schreiber die Weisung gegeben, er soll erüberkommen und melden, wenn ä Parteienwechsel vorkommt.“

Mr. Weller betrachtete den Anwalt bewundernd von Kopf bis zu Fuß und sagte dann mit Emphase:

„Was wollen Sie trinken?“

„Nu, wirklich“, zierte sich Mr. Pell, „Sie sind sehr – mei Ehrenwort, es ist nicht meine Gewohnheit – es ist noch so früh am Tage, daß ich wirklich – doch, Sie können mir für drei Pence Rum bringen, meine Liebe.“

Die Kellnerin war dem Befehl bereits zuvorgekommen, setzte Mr. Pell ein Glas Brandy vor und verschwand.

„Meine Herren“, sagte Mr. Pell und sah sich rund in der Gesellschaft um, „auf gutes Gelingen für Ihren Freund! Ich will mich nicht rühmen, meine Herren, das ist nix meine Gewohnheit, aber ich muß bemerken, daß, wenn Ihr Freund nicht das Glück gehabt hätte, zu mir zu kommen – na, ich sag lieber nix. Meine Herren, auf Ihre Gesundheit!“

Mr. Pell leerte sein Glas in einem Augenblick, schnalzte mit den Lippen und sah die versammelten Kutscher, die offenbar eine Art göttlichen Wesens in ihm verehrten, nacheinander mit großer Selbstgefälligkeit an.

„Nun, laß mer sehen“, sagte er dann. „Was wollt ich sagen, meine Herren?“

„Sie sagten gerade, daß Sie gegen ein zweites vom gleichen nichts einzuwenden haben“, fiel Mr. Weller mit würdevoller Heiterkeit ein.

„Haha!“ lachte Mr. Pell. „Nicht übel, nicht übel. Versteht sein Fach, der Mann. Um diese Morgenstunde könnte es auch nicht schaden . .. Nu, ich weiß nicht, meine Liebe – Sie können es ja repetieren, wenn es Ihnen gefällig ist. – Hem hem!“

Das „Hem“ war ein feierliches und würdevolles Husten das sich Mr. Pell bei Wahrnehmung einer unziemlichen Neigung einiger seiner Zuhörer zur Fröhlichkeit erlauben zu müssen glaubte.

„Der letzte Lordkanzler, meine Herren, hielt große Stücke auf mir“, begann er dann.

„Und vertraute ihm auch bannich viel an“, fiel Mr. Weller ein.

„Hört, hört“, rief der Cridatar aus. „Und warum hätte er auch nich sollen?“

„Ja – hm!“ bemerkte ein Mann mit einem hochroten Gesicht, der bis jetzt noch nichts gesagte hatte und auch gar nicht danach aussah, als wollte er mehr sagen. „Warum hätte er auch nich sollen?“

Ein Beifallsgemurmel lief durch die Gesellschaft.

„Ich erinnere mich, meine Herren“, nahm Mr. Pell seine Rede wieder auf, „daß ich einmal bei ihm zu Mittag gegessen hab – mir waren nur unser zwei; aber es war alles so splendid, als ob mer zwanzig Personen erwartet hätt; das große Siegel lag rechts auf einem Drehtisch, und ein Mann mit einer Zopfperücke und ’n Harnisch bewachte das Zepter mit gezücktem Schwert und seidenen Strümpfen, was immer der Fall ist, meine Herren, Tag und Nacht. – ,Pell‘, sagte er, der Lordkanzler, ,keine falsche Bescheidenheit, Pell. Sie sin ä Mann von Talent; Sie bringen alles im Insolvenzgerichtshofe durch, Pell, und das Land derf stolz auf Ihnen sein.‘ Das waren seine eigenen Worte. – ,Mylord‘, erwiderte ich, ,Sie schmeicheln.‘ – ,Pell‘, sagte er, ,wenn ich schmeichle, so will ich verdammt sein.'“

„Sagte er das wirklich?“ fragte Mr. Weller.

„Ja, das sagte er“, beschwor Pell.

„Na, denn“, bemerkte Mr. Weller, „hätte das Parlament von wegen Fluchen einschreiten sollen, und wenn es ’n armer Kerl gewesen wäre, um den es sich drehte, denn wäre es sicher auch passiert.“

„Aber lieber Freund“, erklärte Mr. Pell, „es war doch im Vertrauen gesprochen.“

„In was?“

„Im Vertrauen.“

„Na gut“, versetzte Mr. Weller nach einigem Nachdenken, „wenn er sich im Vertrauen verdammt hat, denn is das natürlich ganz was anderes.“

„Natürlich war es was anderes“, sagte Mr. Pell. „Der Unterschied fällt in die Augen, wie Sie gleich sehen werden.“

„Ändert die Sache gänzlich“, bemerkte Mr. Weller. „Nu mal weiter!“

„Nein, ich fahr nicht fort“, erwiderte Mr. Pell mit gedämpftem, geheimnisvollem Ton. „Sie haben mich daran erinnert, Sir, daß die Unterredung eine geheime war; eine geheime und vertrauliche, meine Herren. Meine Herren, ich bin ä Mann vom Fach. Mag sein, daß ich in den Augen meiner Kollegen dadurch gehoben wurde, möglich auch, daß es nich der Fall war. Die meisten Leute wissen das. Ich sag kein Wort. Bemerkungen sind schon in dem Zimmer gemacht worden, die den Ruf meines vornehmen Freundes angetastet haben. Sie werden mich entschuldigen, meine Herren, ich war unvorsichtig. Ich seh ein, daß ich nicht recht daran getan hab, das Thema ohne seine Beistimmung zu berühren.“ Und Mr. Pell steckte seine Hände in die Taschen und klimperte mit grimmigem Stirnrunzeln und furchtbarer Entschlossenheit mit drei Halbpencestücken.

Plötzlich stürmten der Junge und der blaue Beutel, die unzertrennliche Gefährten waren, ins Zimmer herein und sagten – wenigstens der Junge, der blaue Beutel schwieg –, die Sache komme im Augenblick zur Verhandlung. Sofort eilte die ganze Gesellschaft auf die Straße und brach sich in dem Gerichtshof Bahn – eine Maßnahme, die in gewöhnlichen Fällen eine Zeit von fünfundzwanzig bis dreißig Minuten in Anspruch nehmen würde.

Mr. Weller, ein starker Mann, warf sich ohne weiteres ins Gedränge, mit der verzweifelten Hoffnung, um jeden Preis einen Platz zu erobern, der für ihn angemessen wäre. Der Erfolg entsprach jedoch seinen Erwartungen nicht ganz, denn sein Hut, den er abzunehmen vergessen hatte, wurde ihm von einem Unsichtbaren, dem er ziemlich stark auf die Zehen getreten hatte, über die Augen geschlagen. Offenbar bereute aber der Täter seine Heftigkeit sofort, denn er zog gleich darauf, einen unbestimmten Ausruf der Überraschung murmelnd, den alten Herrn in die Vorhalle und befreite ihn durch einen heftigen Ruck von seiner Maske.

„Samuel?“ rief Mr. Weller, dieser Art in. den Stand gesetzt, seinen Befreier zu sehen. Sam nickte.

„Du bist ja ’n recht zärtlicher Knabe, daß du deinem Vater in seinen alten Tagen den Deckel über die Ohren drischst.“

„Konnte nich wissen, wer’s war“, rechtfertigte sich der Sohn. „Du nimmst doch nich etwa an, daß ich dir am Gewicht von deine Latschen erkennen kann?“

„Das is ja nu wahr, Sammy“, gab Mr. Weller, vollständig besänftigt, zu. „Aber was treibst du hier? Dein Herr kann doch hier nichts ausrichten. Die stoßen dem Verdikt nich wieder um; machen die nich, Sammy.“

Und Mr. Weller schüttelte den Kopf mit der Feierlichkeit eines Rechtsgelehrten.

„Was is das nu wieder für dummes Zeug!“ rief Sam. „Immer nur Verdikte und Alibis und dergleichen. Wer sagt denn was von Verdiktumstoßen?“

Mr. Weller gab keine Antwort, sondern schüttelte nur den Kopf mit einer noch gelehrteren Miene.

„Kümmer dich nich um Sachen, wo du nich verstehen tust“, sagte Sam ungeduldig, „und quatsch nich. Ich war übrigens gestern abend im ,Marquis von Granby‘.“

„Haste die Markise von Granby gesehen, Sammy?“ fragte Mr. Weller mit einem Seufzer. „Jawoll.“

„Wie sah der Seelenhirte aus?“

„Sonderbar“, versetzte Sam. „Ich glaube, er richtet sich allmählich selbst zugrunde mit zuviel Ananasgrog und andern starken Medizinen.“ „Glaubste?“ fragte Mr. Weller senior mit ernstem Ton. „‚türlich.“

Mr. Weller ergriff die Hand seines Sprößlings, drückte sie und ließ sie dann wieder fallen. Es lag während dieses Verfahrens ein Ausdruck auf seinem Gesicht, nicht von Besorgnis oder Angst, sondern von aufdämmernder süßer Hoffnung. Ein Schimmer von Ergebung und sogar von Heiterkeit ging über sein Gesicht, als er langsam sagte:

„Ich bin mir die Sache nich gewiß, Sam; ich möchte nich gerade sagen, daß ich ganz positiv darin bin; ich könnte mir schließlich täuschen; aber ich nehme doch beinahe an, mein Junge, ich nehme beinahe an, daß der Vizehirt sich ’n Leberleiden angesoffen hat.“

„Sah er so schlimm aus?“ fragte Sam.

„Du, der is ganz ungewöhnlich blaß. Bloß um die Nase rum nich. Die glüht wie noch nie. Sein Appetit is aber bloß soso; bloß saufen kann er wie ’ne Eins.“

Mr. Wellers Geist schienen sich auch einige Gedanken an den von ihm so geliebten Rum aufzudrängen, denn er sah trübe und nachdenklich drein; aber bald sammelte er sich wieder, wie ein lebendiges Alphabet von Augenzwinkern verriet, dem er nur zu huldigen pflegte, wenn er besonders vergnügt war.

„Aber jetzt mal“, sagte Sam, „zu meinen Angelegenheiten. Spitz die Ohren und unterbrich mich nich, bis ich fertig bin.“

Nach dieser kurzen Einleitung erzählte Sam so gedrängt wie möglich die letzte merkwürdige Unterredung, die er mit Mr. Pickwick gehabt hatte. „Sitzt da allein, der arme Deubel“, rief Mr. Weller senior aus, „und kein Mensch kümmert sich um ihn! Das geht so nich weiter, Samuel, geht einfach nich.“

„Natürlich nich“, pflichtete Sam bei, „das wußte ich schon, bevor ich herkam.“

„Die fressen ihn da bei lebendigem Leibe auf, Sammy.“

Sam nickte zustimmend.

„Rein geht er grün, Sammy“, sagte Mr. Weller metaphorisch, „und rauskommt er so furchtbar braun, daß ihn seine besten Freunde nich mehr kennen werden, ’ne gebratene Taube is da nichts gegen, Sammy.“

Wieder nickte Sam Weller.

„Sollte aber nich sein, Samuel“, bemerkte Mr. Weller ernst.

„Darf einfach nich sein“, bekräftigte Sam. „Du bist ’n famoser Prophet; wie der rotbackige Nix, wo auf den Sixpencebüchern abkonterfeit ist.“ „Wer war denn das, Sammy?“

„Ach, egal, wer es war“, erwiderte Sam, „ein Kutscher war es nich, und das muß dir genügen.“

„3ch kannte mal ’nen Hausknecht dieses Namens“, sagte Mr. Weller nachdenklich.

„Der war es nich“, erwiderte Sam. „Der Schendlmän, wo ich meine, war Prophet.“

„Was is eigentlich ’n Prophet?“ fragte Mr. Weller mit forschendem Blick.

„Na, so ’n Mensch, wo die Zukunft voraussagt.“

„Schade, daß ich den nich gekannt habe, Sammy“, meinte Mr. Weller, „vielleicht hätte der mir ’n kleines Licht von wegen dem Leberleiden aufstecken können, wo ich ebend drüber sprach. Wo er nu aber tot is und keinem sein Geschäft hinterlassen hat, ist da ebend nichts zu machen. Rede weiter, Sammy“, seufzte Mr. Weller.

„Na“, bemerkte Sam. „Du hast doch aber die Zukunft vorausgesagt. Von wegen dem, was dem Gouverneur passieren wird, wenn er alleine bleibt. Weißt du denn kein Mittel nich, wie man für ihn sorgen könnte?“

„Nö, weiß keins, Sammy“, erwiderte Mr. Weller mit nachdenklichem Gesicht, „außer“, und der Schein eines inneren Lichtes überstrahlte sein Gesicht, als er seine Stimme zu einem Geflüster dämpfte und seinen Mund so nahe wie möglich dem Ohr seines Sprößlings näherte, „außer, er läßt sich in ’nem Kastenbett heimlich rausschaffen oder würde sich als altes Weib mit ’nem grünen Schleier verkleiden.“

Sam Weller nahm beide Vorschläge mit unerwarteter Verachtung auf und wiederholte seine Frage.

„Nö“, sagte der alte Herr, „wenn er dich nich bei sich lassen will, denn sehe ich absolut kein Mittel. Nichts zu machen, Sammy, nichts zu machen!“

„Na, denn will ich dir mal was sagen“, versetzte Sam. „Pump mir fünfundzwanzig Fund.“

„Wozu denn?“

„Is doch gleichgültig. Kannst mich doch denn vielleicht so nach fünf Minuten mahnen; vielleicht bezahle ich denn nich und werde frech gegen dir. Ich meine, du wirst doch denn nich etwa dran denken, daß du dein eigenen Sohn wegen Schulden schnappen und nach der Fleet bringen lassen wirst; oder würdest du das womöglich doch machen, du unnatürlicher Landstreicher?“

In Mr. Wellers senior Blick leuchtete ein Blitz des Einverständnisses auf. Er setzte sich auf eine steinerne Bank und lachte, bis er ganz blau war.

„Was ist das doch für ’n alter Holzgötze!“ rief Sam, unwillig über diesen Zeitverlust. „Was hockst du da und verdrehst die Visage zu ’nem Türklopfer, wo doch so viel zu tun is. Wo is das Geld?“

„Im Kutschkasten, Sammy, im Kutschkasten. Da, halt mal meinen Hut, Sammy!“ erwiderte Mr. Weller, sich sammelnd, gab seinem Körper einen Schwung auf die Seite und förderte vermöge einer geschickten Wendung seiner rechten Hand aus seinem Rock nach entsetzlicher Anstrengung schnaufend eine dicke Brieftasche in Großoktavformat zutage, die mit einem starken ledernen Riemen umwickelt war. Aus dieser nahm er ein paar Peitschenschnüre, drei oder vier Schnallen, eine Musterkarte und endlich ein Röllchen schmieriger Banknoten, von dem er die verlangte Summe ablöste und seinem Sohn einhändigte.

„Und nu, Sammy“, sagte der alte Herr, als Peitschenschnüre, Schnallen und Musterkarte wieder eingepackt und die Brieftasche wohlverwahrt war. „Nu, Sammy, kenne ich ’nen Herrn hier, wo den übrigen Teil von unserem Geschäft im Augenblick besorgen wird. – Ein Glied der Gesetzgebung, Sammy! Sein ganzer Körper is mit Gehirn vollgepackt – wie beim Frosch – bis in die Fingerspitzen! ’n Freund vom Lordkanzler, Sammy; dem brauchst du bloß kurz sagen, was du willst, und denn versorgt der dir fürs ganze Leben.“

„Und ich sage dir“, murrte Sam, „nichts davon!“

„Nichts wovon?“

„Na, nichts von solchen verfassungswidrigen Mitteln“, erwiderte Sam. „Sieh mal, der Hast-du-was-Corpus is nach dem Perpendikel-Mobilum eine von den segensreichsten Erfindungen, wo jemals gemacht worden sind. Ich habe sogar in den Zeitungen von gelesen.“

„Was soll das nu wieder?“ fragte Mr. Weller.

„Na“, erklärte Sam, „ich will doch eben die Erfindung begünstigen und mich auf die Art einbuchten lassen. Aber bloß kein Getuschel beim Lordkanzler; ich will das nich haben. Ich würde denn nämlich Manschetten haben, von wegen das Wiederrauskommen.“

Den Gefühlen seines Sohnes hierin beipflichtend, suchte Mr. Weller alsbald den Gelehrten Mr. Samuel Pell auf und teilte ihm seinen Wunsch mit, unverzüglich gegen einen gewissen Samuel Weller einen Verhaftungsbefehl wegen fünfundzwanzig Pfund und der Gerichtskosten ergehen zu lassen, wofür die Gebühren Mr. Samuel Pells im voraus entrichtet werden sollten.

Der Anwalt war sehr aufgeräumt, denn der zahlungsunfähige Rosselenker war durchgerutscht. Er lobte Sams Anhänglichkeit an seinen Herrn außerordentlich, erklärte, daß ihn das ganz an seine eignen Gefühle der Ergebenheit gegen seinen Freund, den Kanzler, erinnere, und führte dann Mr. Weller senior unverzüglich nach dem „Temple“, um ihn daselbst die Richtigkeit seiner Schuldforderung beschwören zu lassen, ein Akt, der auch unter Beihilfe des blauen Beutels, den der Junge nachtrug, vollzogen wurde.

Mittlerweile war Sam dem freigesprochnen Herrn und seinen Freunden in aller Form als Sprößling Mr. Wellers von Belle Savage vorgestellt und zur Feier des Anlasses, sich mit der übrigen Gesellschaft gütlich zu tun, eingeladen worden, was er natürlich ohne Zieren annahm.

Die Fröhlichkeit der Herren vom Rosselenkerberuf trägt gewöhnlich einen ernsten und ruhigen Charakter; aber der gegenwärtige Anlaß war ein zu festlicher, als daß sie diesmal nicht eine entsprechende Abweichung von diesem Prinzip hätten eintreten lassen.

Nach mehreren lautgebrüllten Toasten auf den Oberkommissär und Mr. Salomo Pell, der an diesem Tage so bewunderungswürdige Fähigkeiten entwickelt hatte, machte ein Herr mit einem buntscheckigen Gesicht und einer blauen Halsbinde den Vorschlag, es solle jemand einen Rundgesang anstimmen. Natürlich folgte auf diese Zumutung das Ersuchen, der Buntscheckige möge doch selbst singen, wenn es ihm so sehr darum zu tun sei; aber dies lehnte der Buntscheckige standhaft und einigermaßen beleidigt ab, worauf wie das in solchen Fällen nichts Ungewöhnliches ist, eine Art Wortwechsel folgte.

„Meine Herren!“ sagte endlich der Rosselenker. „Um die Eintracht des köstlichen Festes nich zu stören, wird vielleicht Mr. Samuel Weller die Gesellschaft erfreuen.“

„Na, meine Herren“, erwiderte Sam, „ich bin es eigentlich nich gewöhnt, ohne Musikbegleitung zu singen; aber nichts übern ruhiges Leben, wie der Mann sagte, als er die Wächterstelle auf ‚m Leuchtturm annahm.“

Nach diesen einleitenden Worten stimmte er unverzüglich folgende wilde und schöne Romanze an, die wir, in der Voraussetzung, daß sie nicht allgemein bekannt sein dürfte, hier wiedergeben. Wir bitten, eine besondere Aufmerksamkeit der genialen Einschaltung der Endsilben zu schenken, die es nicht nur dem Sänger ermöglicht, an dieser Stelle Atem zu schöpfen, sondern auch das Versmaß sehr unterstützt.

Romanze

Kühn Turpin einst auf der Hounslowhaid
Seine kühne Mähre ritt – hem,
Als er den Wagen des Erzbischofs
Ihm entgegenkommen sieht – hem.
Er sprengt sofort im Galopp herbei
Und steckt seinen Kopf hinein – hem.
Und der Bischof sagt: „Ist ein Ei ein Ei,
So muß das Turpin sein – hem.“

(Chor)

Und der Bischof sagt: „Ist ein Ei ein Ei,
So muß das Turpin sein – hem.“

2

Und Turpin sagt: „Da friß dein Wort
Mit dem bleiernen Kügelein“ – hem,
Setzt ihm ein Pistol an den Mund
Und jagt ihm den Schuß hinein – hem.
Der Kutscher hat das Schießen satt
Und sprengt im Galopp davon – hem.
Doch Dick jagt ihm eins ins Genick,
Da hält der Bursche schon – hem.

(Chor sarkastisch)
Doch Dick jagt ihm eins ins Genick,
Da hält der Bursche schon – hem.

„Das Lied is für den ganzen Stand ’ne Beleidigung“, fiel der Buntscheckige ein. „Ich bitte um den Namen des Kutschers.“

„Unbekannt“, erwiderte Sam. „Hatte keine Karte nich in der Tasche.“

„Ich protestiere gegen das Hereinziehen der Politik“, rief der Buntscheckige erregt. „Ich behaupte, daß das Lied ’ne politische Anspielung is, und was dasselbe is, einfach erstunken und erlogen is. Glaube es einfach nich, daß der Kutscher davonfuhr, sondern daß er im gerechten Kampfe erschossen wurde – oder auf der Jagd, wie ’n Fasan, und rate es niemand, mir zu widersprechen.“

Da der Buntscheckige mit großer Energie und Bestimmtheit sprach und die Ansichten der Gesellschaft über diesen Gegenstand voneinander abzuweichen schienen, so drohte wieder ein neuer Wortwechsel auszubrechen, als gerade im rechten Augenblick die Herren Weller und Pell erschienen.

„All right, Sammy“, sagte Mr. Weller.

„Die Verhaftung wird um vier Uhr stattfinden“, ergänzte Mr. Pell. „Ich hoffe, Sie werden während der Zeit nicht davonlaufen; nicht wahr? Haha!“

„Vielleicht läßt sich mein grausamer Papa bis dahin noch erweichen“, versetzte Sam mit breitem Grinsen.

„Ausgeschlossen“, sagte Mr. Weller senior.

„Bitte, bitte!“ bat Sam.

„Gibt’s nich“, erwiderte der unerbittliche Gläubiger.

„Ich will Monatsraten zu sechs Pence eingehen“, erbot sich Sam.

„Glatt abgelehnt“, entgegnete Mr. Weller.

„Hahaha! Sehr gut, sehr gut!“ lachte Mr. Salomo Pell und legte seine kleine Rechnung vor. „Wahrhaftig ein sehr lustiger Fall. Benjamin, schreib das ab.“ Und wieder lächelte Mr. Pell, als er Mr. Wellers Aufmerksamkeit auf den Betrag der Summe lenkte.

„Danke schöön, danke schöön“, sagte er, als er eine von den schmutzigen Banknoten in Empfang nahm, die Mr. Weller aus seiner Brieftasche hervorgezogen hatte. „Drei Zehner und ein Zehner macht fünf. Sehr verbunden, Mr. Weller. Ihr Sohn ist ein sehr verdienstvoller junger Mann; in der Tat, Sir, ein sehr schöner Charakterzug bei einem jungen Manne – wirklich, ein sehr schöner Zug“, fügte er hinzu, sah sich mit süßem Lächeln in der Gesellschaft um und steckte das Geld ein.

„’n Riesenjux, was?“ lachte Mr. Weller, „’n wahres Wunderkind.“

„Wundert sich nur ein bißchen wenig, Sir“, warf Mr. Pell ein.

„Hat nichts zu sagen, Sir“, versetzte Mr. Weller mit Würde. „Weiß, was die Glocke geschlagen hat, Sir.“

Als der Gerichtsdiener erschien, hatte sich Sam bereits so außerordentlich beliebt gemacht, daß sämtliche Herren den Entschluß faßten, ihn in corpore ins Gefängnis wandern zu sehen. Man brach auf; Kläger und Beklagter gingen Arm in Arm; der Gerichtsdiener schritt voran, und acht wohlgenährte Kutscher bildeten den Nachtrab. Am Sergeants Inn-Kaffeehause machte die ganze Gesellschaft nochmals halt, um Erfrischungen zu sich zu nehmen.

In der Fleetstreet trat durch den Eigensinn der acht Herren in der Nachhut, die durchaus zu viert nebeneinander gehen wollten, eine kleine Störung ein, und man fand es für notwendig, den Buntscheckigen zurückzulassen, der darauf bestand, sich mit einem Zettelträger zu boxen, und erst nach Ausfechtung dieses Kampfes nachkam. Außer diesen unbedeutenden Zufällen ereignete sich unterwegs nichts Denkwürdiges. Als die Herren das Fleettor erreichten, nahmen sie vom Kläger Abschied und brachten dem Beklagten drei donnernde Lebehochs.

Als Sam zum ungeheuren Erstaunen Rokers und zur augenscheinlichen Verwirrung des phlegmatischen Mr. Neddy eingeliefert worden war, schritt er unverzüglich auf das Zimmer seines Herrn zu und pochte an die Tür.

Mr. Pickwick rief: „Herein!“

Sam trat ein, nahm den Hut ab und lächelte.

„Was, du, Sam, mein guter Junge?“ rief Mr. Pickwick, sichtlich erfreut, seinen Getreuen wiederzusehen. „Es lag nicht in meiner Absicht, gestern durch meine Worte deine Gefühle zu verletzen, mein braver Junge. Lege ab, Sam, ich will mich jetzt näher erklären.“

„Muß das gleich sein, Sir?“ fragte Sam.

„Jawohl“, antwortete Mr. Pickwick. „Warum denn nicht?“

„Na, ich würde es ebend lieber später abmachen, Sir. Ich habe da noch ’n kleines Geschäft zu erledigen. Nichts Besonderes, aber ich muß mir erst mal um ein Bett für meine Person kümmern. Ich bin nämlich diesen Nachmittag wegen Schulden verhaftet worden.“

„Du, wegen Schulden verhaftet?“ rief Mr. Pickwick, in einen Stuhl sinkend.

„Ja. Wegen Schulden, Sir, und der Mann, wo mir setzen ließ, will mich nich mehr rauslassen, bis Sie gehen.“

„Gütiger Himmel! Was willst du damit sagen?“ rief Mr. Pickwick aus.

„Na, genau das, was ich gesagt habe, Sir. Und wenn es – vierzig Jahre dauert, denn bin ich ebend solange Gefangener, und es is mir sehr recht so. Und wenn sie in Newgate sitzen würden, denn würde es dasselbe sein. So, nu is es draußen, und damit Schluß; verflucht noch mal!“

Mit diesen Worten, die er mit großer Emphase und Heftigkeit hervorstieß, warf Sam Weller in einem außergewöhnlichen Zustand von Aufregung seinen Hut auf den Boden, verschränkte die Arme und sah seinen Herrn herausfordernd an.