Achtunddreißigstes Kapitel
Führt Mr. Pickwick in eine neue und interessante Phase im großen Drama des Lebens.
Der Trinitytermin nahte heran, und nach Verlauf seiner ersten „Woche kehrte Mr. Pickwick mit seinem Freunde nach London zurück, geradenwegs in sein altes Quartier im „Georg und Geier“.
Am dritten Morgen nach der Ankunft, als sämtliche Glocken in der City, jede einzelne neun und alle zusammen neunhundert, schlugen und Sam eben im Hof frische Luft schöpfte, rasselte ein sonderbares frisch angestrichenes Vehikel vor, aus dem mit großer Behendigkeit, die Zügel einem neben ihm sitzenden vierschrötigen Mann zuwerfend, ein sonderbarer Herr heraussprang, der vortrefflich zu dem Fuhrwerk zu passen schien.
Das Fahrzeug war nämlich nicht ganz Gig und ebensowenig ein Stanhope. Es war nicht, was man in der Regel einen Cart nennt, keine Kalesche und kein Kabriolett, und doch hatte es etwas vom Charakter aller dieser Maschinen. Es war hellgelb angestrichen, die Deichsel und die Räder schwarz betupft, und der Kutscher saß in orthodoxem Jagdstile und Polstern, die etwa zwei Fuß höher waren als die Wagenleiter. Das Pferd, ein ziemlich munterer Brauner, hatte etwas Schmuckes und Bissiges an sich, das vortrefflich sowohl zu dem Wagen wie zu dem Herrn paßte.
Der Herr selbst war ungefähr Vierziger und trug schwarze Haare und einen sorgfältig gekämmten Schnurrbart; sein ganzer Anzug war auffallend und mit einer Menge Schmuck übersät, jeder Stein wenigstens dreimal so groß, als man gewöhnlich zu tragen pflegt; das Ganze krönte ein zottiger Überrock. In eine Tasche dieses Überrocks steckte der Herr beim Aussteigen seine linke Hand, während er aus der andern mit seiner rechten ein seidenes Sacktuch zog, mit dem er ein paar Staubflecken von seinen Stiefeln abwischte, es sodann in der Hand zusammendrückte und sodann weiter in den Hof vorging.
Es war Sams Aufmerksamkeit nicht entgangen, daß, als dieser Herr abstieg, ein schäbig aussehender Mann in braunem Paletot mit etlichen fehlenden Knöpfen daran, der vorher dem Wirtshaus gegenüber auf und ab gewandelt war, auf einmal herüberkam und sich zu dem Ankömmling gesellte. Da Sam hinsichtlich des Zweckes eines Besuchs seitens dieses Gentlemans so seinen Verdacht hatte, ging er ihm in den „Georg und Geier“ voran, wandte sich dann rasch um und pflanzte sich mitten auf der Haustorschwelle auf.
„Na, Bursche!“ sagte der Herr in dem zottigen Rock mit herrischem Ton und versuchte ihn zugleich wegzustoßen.
„Na, also was denn?“ entgegnete Sam, den Stoß mit reichlichen Zinsen zurückgebend.
„Komm Er mir nicht so, Mensch. Laß Er das gefälligst, ja!“ schimpfte der Eigentümer des zottigen Rocks, seine Stimme erhebend, und wurde sehr blaß. „Hierher, Smouch.“
„Na gut, wo fehlt’s denn?“ murrte der Mann im knopflasen Überzieher, der sich während dieses kurzen Zwiegesprächs allmählich durch den Hof herangeschlichen hatte.
„Bloß eine Unverschämtheit von diesem jungen Burschen“, erklärte der Prinzipal, Sam einen neuen Stoß versetzend.
„Lassen S‘ das bleiben“, murrte Smouch und gab Sam ebenfalls einen recht derben Puff.
Das hatte die Wirkung, die der erfahrene Mr. Smouch beabsichtigte; denn während ihn Sam, um das Kompliment so schnell wie möglich zurückzugeben, an den Türpfosten drückte, schlich sich der Prinzipal hinein und gelangte in die Schenkstube, wohin ihm Sam unter allerhand bezeichnenden Bemerkungen gegen Mr. Smouch alsbald nachfolgte.
„Servus, liebes Kind“, sagte der Prinzipal mit kannibalischer Ungezwungenheit und neusüdwälischer Artigkeit zu der jungen Dame in der Schenkstube. „Wo ist Mr. Pickwicks Zimmer?“
„Zeigen Sie es ihm“, befahl das Mädchen einem Kellner, ohne den sonderbaren Gast eines weiteren Blickes zu würdigen.
Der Kellner ging die Treppe hinauf, der Herr mit dem zottigen Rock folgte, und dicht hinter ihm Sam, der unterwegs, zum unaussprechlichen Ergötzen des Gesindes und anderer Zuschauer, durch allerhand Gebärden seine überschwengliche Verachtung und einen herausfordernden Trotz an den Tag legte. Mr. Smouch, der an einem trockenen Husten litt, blieb unten im Gang.
Mr. Pickwick lag in tiefem Schlummer, als sein, früher Gast, von Sam gefolgt, ins Zimmer trat. Das Geräusch, das sie machten, weckte ihn auf. „Wasser zum Rasieren, Sam!“ rief er hinter den Bettvorhängen hervor.
„Rasieren Sie sich nur gleich, Mr. Pickwick“, sagte der Gast, den obersten Bettvorhang zurückschiebend. „Ich habe auf Verlangen der Bardell einen Exekutionsbefehl gegen Sie. – Da ist er. Unterzeichnet vom Gericht. Hier meine Karte. Ich dächte, Sie gingen mit mir.“ Dabei warf er seine Karte auf die gesteppte Bettdecke und zog einen goldnen Zahnstocher aus der Westentasche.
„Namby ist mein Name, Offiziant des Sheriffs“, sagte er, als Mr. Pickwick seine Brille unter dem Kissen hervorzog und aufsetzte, um die Karte zu lesen. „Namby, Bell Alley, in der Colemansstreet.“
Hier mischte sich Sam Weller, der seine Augen fortwährend wie gebannt auf Mr. Nambys glänzenden Biberhut geheftet hatte, ins Gespräch: „Sind Sie ’n Quäker?“ fragte er.
„Wirst es mit der Zeit schon erfahren, wer ich bin“, erwiderte der entrüstete Offiziant. „Ich will dir eines schönen Tags schon Mores lehren, mein sauberer Bursche.“
„Hut ab!“ sagte Sam als Antwort und schlug Mr. Namby geschickt und kräftig den Hut vom Kopf. Vor Schrecken verschluckte der Offiziant beinahe seinen goldnen Zahnstocher.
„Sie haben es gesehen, Mr. Pickwick“, sagte er, bestürzt nach Luft schnappend, „ich bin in der Ausübung meiner Amtspflicht von Ihrem Bedienten in Ihrem Zimmer tätlich insultiert worden. Ich bin in Gefahr und rufe Sie zum Zeugen auf.“
„Bezeugen Sie nichts, Sir“, unterbrach Sam. „Machen Sie die Augen fest zu, Sir; ich werde ihn zum Fenster hinauswerfen; nur schade, daß er nich hoch fallen kann.“
„Sam!“ verwies Mr. Pickwick in ärgerlichem Tone, als sein Bedienter allerhand feindselige Vorbereitungen traf. „Wenn du noch ein Wort sprichst oder diesem Manne die geringste Beleidigung zufügst, entlasse ich dich auf der Stelle.“
„Aber Sir – „, entgegnete Sam.
„Halt deinen Mund“, versetzte Mr. Pickwick, „und hebe den Hut wieder auf.“
Letzteres verweigerte Sam auf das entschiedenste, was ihm von seinem Herrn einen strengen Verweis eintrug, und schließlich hob der Beamte, der große Eile hatte, seinen Hut selbst auf. Die Drohungen, die er dabei ausstieß, ließen Mr. Weller sehr kalt und veranlaßten ihn nur zu der Bemerkung, daß, wenn Mr. Namby sich erkühnen sollte, seinen Hut wieder aufzusetzen, er ihm diesen bis ans Ende der nächsten Woche immer wieder herunterschlagen werde. Mr. Namby der sich von einem solchen Prozeß nicht viel Ersprießliches zu versprechen schien, zog es vor, Mr. Weller nicht in Versuchung zu führen, rief nach einer Weile Smouch herein und sagte ihm, die Verhaftung sei geglückt und er solle warten, bis Mr. Pickwick sich vollends angekleidet hätte, und stolzierte dann hinaus. Schließlich mußte Sam eine Droschke holen, und das Triumvirat fuhr nach der Colemansstreet. Glücklicherweise war das nicht weit, denn Mr. Smouch, der an sich schon kein eben bezauberndes Talent für Unterhaltung besaß, war bei dem trockenen Husten, der ihn beständig quälte, in einem so engen Raum ein entschieden unangenehmer Gesellschafter.
Der Wagen fuhr in die sehr enge und düstere Straße und hielt vor einem Haus mit eisernen Gittern an sämtlichen Fenstern an; die Türpfosten schmückte die Aufschrift: „Namby, Agent der Sheriffe von London.“ Das innere Tor wurde von einem Gentleman geöffnet, anscheinend einem verwahrlosten Zwillingsbruder Mr. Smouchs, der kraft seines Amtes mit einem gewaltigen Schlüssel bewaffnet war, und Mr. Pickwick in das „Gastzimmer“ gewiesen.
Dieses Gastzimmer war eine einfache Stube, deren Hauptvorzüge in ihrem frischen Sand auf dem Fußboden und veraltetem Tabaksrauch bestanden. Mr. Pickwick verbeugte sich gegen die drei Personen, die drinnen saßen, befahl Sani, Mr. Perker zu holen, zog sich in einen dunklen Winkel zurück und betrachtete von da aus mit beträchtlicher Neugierde seine Gefährten.
Einer davon war ein Bursche von neunzehn oder zwanzig Jahren, der, obgleich es erst zehn Uhr war, bereits Wacholderbranntwein mit Wasser trank und eine Zigarre dazu rauchte – Vergnügungen, denen er, nach seinem roten Gesicht zu schließen, die letzten zwei Jahre seines Lebens so ziemlich ununterbrochen gehuldigt haben mußte. Ihm gegenüber saß, mit der Stiefelspitze in der Kohlenglut herumstochernd, ein vierschrötiger Bursche von etwa dreißig Jahren, mit bleichem Gesicht und heiserer Stimme, der offenbar seine Weltkenntnis und faszinierende Ungeniertheit in Kneipen und an ordinären Billards erworben hatte. Der dritte Bewohner des Zimmers war ein Mann in mittleren Jahren mit einem sehr abgetragnen, schwarzen Rock und so verstörtem Aussehen, als erwartete er jemand.
„Sie können diesen Morgen mein Rasiermesser haben, Mr. Ayresleigh“, sagte der Mann am Kamin zu ihm und zwinkerte dabei seinem Freund, dem jungen Burschen, zu.
„Danke bestens; ich werde es nicht brauchen. Ich hoffe, etwa in einer Stunde frei zu werden“, erwiderte der Angeredete hastig, spähte durch die Fensterscheibe und wandte sich enttäuscht und seufzend wieder ab. Als er dann das Zimmer verließ, brachen die zwei andern in ein lautes Gelächter aus.
„Ein Mordsspaß“, sagte der Gentleman, der das Rasiermesser angeboten hatte und Price zu heißen schien.
„Man möcht’s kaum glauben“, wendete er sich dann lachend an Mr. Pickwick, „eine Woche schon hat sich dieser Mensch nicht rasiert, weil er immer meint, in einer halben Stunde frei zu sein.“
„Der arme Mann!“ erwiderte Pickwick. „Hat er denn gar keine Aussicht, aus seiner schwierigen Lage loszukommen?“
„Keine Spur“, erwiderte Price. „Ich möcht hundert gegen eins wetten, daß er zehn Jahre lang auf keine Straße mehr kommt.“
Dabei schnalzte Mr. Price verächtlich mit dem Finger und schellte.
„Geben Sie mir ’n Bogen Papier, Crookey“, sagte er zu dem Wärter, der seiner Kleidung und ganzen Erscheinung nach ein Mittelding zwischen einem bankrotten Viehmäster und einem zahlungsunfähigen Pächter zu sein schien, „und ein Glas Branntwein mit Wasser. Hören Sie? Ich will meinem Vater schreiben und muß eine kleine Anregung haben, sonst kann ich dem Alten kein Loch in den Bauch reden.“
Mr. Pickwick, den diese Sprache sowie das ganze Benehmen der zwei Burschen nicht wenig anekelte, wurde auf sein Verlangen in ein Privatzimmer geführt, das mit einem Teppich, einem Tisch, mehreren Stühlen, einem Kredenztisch und Sofa möbliert und mit einem Spiegel sowie mehreren alten Bildern geschmückt war. Hier hatte er den Genuß, solange sein Frühstück bereitet wurde, unmittelbar über seinem Haupte Mrs. Namby Klavier spielen zu hören, und als endlich aufgetragen wurde, erschien auch Mr. Perker.
„Aha, mein lieber Herr“, rief der kleine Mann, „endlich in die Falle gegangen? Ich gräme mich indes nicht sehr darüber, denn jetzt werden Sie doch endlich das Törichte Ihres Vorhabens einsehen. Ich habe mir den Betrag der Prozeßkosten sowie der Entschädigungsgelder notiert, und es wäre am gescheitesten, wir machten die Sache mit einem Male und ohne Zeitverlust ab. Namby wird wohl jetzt zurückgekommen sein. Was meinen Sie, mein lieber Herr, soll ich den Scheck gleich ausfüllen?“
„Perker“, erwiderte Mr. Pickwick voll Ernst, „ich muß Sie bitten, mich nichts mehr davon hören zu lassen. Ich sehe nicht ein, warum ich noch länger hier bleiben soll, und will deswegen heute nacht noch ins Gefängnis geführt werden.“
„In die Whitecrosstreet können Sie unmöglich, mein werter Herr“, stellte ihm Perker vor. „Da sind sechzig Betten in einer Abteilung und die Riegel sechzehn Stunden täglich vorgeschoben.“
„Also dann in ein anderes Gefängnis, wenn es möglich ist. wo nicht, so muß ich mich eben doch dort bequemen, so gut es geht.“
„Sie können in die Fleet gehen, mein lieber Herr, wenn Sie überhaupt entschlossen sind, wohin zu gehen“, meinte Perker.
„Also gut“, sagte Mr. Pickwick, „gleich nach dem Frühstück.“
„So warten Sie doch noch ein wenig, mein lieber Herr; es hat doch keine so schreckliche Eile“, sagte der gutmütige kleine Anwalt. „Wir müssen erst ein Habeas corpus erwirken und bis vier Uhr nachmittags warten. Früher ist kein Richter anzutreffen.“
„Auch recht“, sagte Mr. Pickwick mit unerschütterlichem Gleichmut, „dann können wir um zwei Uhr hier noch ein Beefsteak nehmen. Bestelle es, Sam, damit es pünktlich kommt.“
Da Mr. Pickwick trotz aller Vorstellungen und Beweisgründe Perkers fest blieb, erschienen und verschwanden die Beefsteaks zur bestimmten Zeit, und gleich darauf wurde die Fahrt nach Chancery Lane angetreten.
Im Vorzimmer von Sergeants Inn waren zwei Richter, einer von der Kings Bench und einer von Common Pleas, anwesend, und es schienen gewaltig viele Geschäfte abgemacht zu werden, wenigstens nach der Menge Advokatenschreiber, die mit Aktenstößen herein- und hinauseilten, zu schließen. Als die Herren an dem niedrigen Bogengang hielten, der den Eingang in die Inn bildet, zankte sich Mr. Perker einige Minuten lang mit dem Kutscher wegen des Fahrgeldes herum und Mr. Pickwick trat zur Seite, um dem Gedränge der Hinein- und Herausströmenden auszuweichen, und blickte mit einiger Neugierde um sich.
Drei oder vier Gentlemen von schäbig elegantem Aussehen, die vor den vorbeigehenden Anwälten an die Hüte griffen und ein Geschäft zu haben schienen, dessen Art er sich vergeblich zu erraten bemühte, erregten besonders seine Aufmerksamkeit.
Es waren das höchst sonderbar aussehende Leute. Der eine war schlank und ein bißchen lahm, hatte einen schmierigen schwarzen Rock an und ein weißes Halstuch; ein andrer war untersetzt und beleibt und ebenso gekleidet wie der erste, nur daß er ein großes, schwarz-rotes Halstuch trug; ein dritter, klein von Gestalt, hatte ein finniges Gesicht und sah aus wie ein Trunkenbold. Sie alle schlenderten, die Hände auf dem Rücken, mit aufmerksamen Blicken auf und ab und flüsterten von Zeit zu Zeit einigen von den Herren, die mit den Papieren in den Saal stürzten, etwas ins Ohr. Mr. Pickwick erinnerte sich, sie schon oft unter dem Torweg, wenn er gerade vorüberging, herumlungern gesehen zu haben, und war neugierig, welche Art Beruf diese schmierigen Gentlemen wohl haben möchten.
Eben wollte er Namby der sich dicht bei ihm hielt und an einem großen goldnen Ring an seinem kleinen Finger saugte, darüber befragen, als Perker zu ihm gestürmt kam und ihm mit der Bemerkung, man habe keine Zeit zu verlieren, den Weg in den Saal wies. Als er sich anschickte ihm zu folgen, trat der Lahme zu ihm, zog höflich den Hut und hielt ihm eine beschriebene Karte hin. Mr. Pickwick, um die Gefühle des Mannes nicht durch eine Weigerung zu verletzen, nahm sie freundlich an und steckte sie in seine Westentasche.
„Hier herein, bitte“, sagte Perker und wandte sich, bevor er in die Amtsstube trat, um, ob seine Gefährten auch hinter ihm seien. „Hier herein, mein lieber Herr. Ja, was wollen denn Sie?“
Die Frage galt dem Lahmen, der sich ohne Mr. Pickwicks Wissen angeschlossen hatte. Statt der Antwort zog der Mann mit größter Höflichkeit den Hut und deutete auf Mr. Pickwick.
„Nein, nein“, wehrte Perker lächelnd ab, „wir bedürfen Ihrer ganz und gar nicht, guter Freund.“
„Bitte um Entschuldigung, Sir“, erwiderte der Lahme, „aber der Herr hat meine Karte angenommen. Ich hoffe, Sie werden Verwendung für mich haben, Sir. Der Herr hat mir zugenickt, Sir! Ich berufe mich auf den Herrn selbst. Nicht wahr, Sie haben mir zugenickt, Sir?“
„Lächerlich, Unsinn. Sie haben niemand zugenickt, Pickwick. Ein bloßes Mißverständnis“, sagte Perker.
„Der Herr hat mir seine Karte angeboten“, erklärte Mr. Pickwick und zog sie aus der Tasche. „Ich habe sie angenommen, wie der Herr zu erwarten schien; ich war in der Tat einigermaßen neugierig, sie gelegentlich näher zu betrachten – ich – „
Der kleine Advokat brach in ein lautes Gelächter aus, gab dem Lahmen die Karte zurück, sagte ihm, es sei ein Mißverständnis, und flüsterte Mr. Pickwick, als der Mann sich wutentbrannt abwandte, ins Ohr, es sei dies nur ein „Bürge“.
„Ein was?“ rief Mr. Pickwick.
„Ein Bürge“, wiederholte Perker.
„Ein Bürge?“
„Ja, mein lieber Herr; es gibt ungefähr ein halbes Dutzend solcher Leute hier. Sie verbürgen sich für jede beliebige Summe und verlangen nur eine halbe Krone. Nicht wahr, ein sonderbares Geschäft?“ fügte Perker hinzu und labte sich mit einer Prise Tabak.
„Wie?!“ rief Mr. Pickwick, ganz erschrocken über diese Entdeckung. „Verstehe ich recht? Erwerben diese Leute wirklich dadurch ihren Lebensunterhalt, daß sie hier herumlungern und vor den Richtern des Landes Meineide schwören? – Für eine halbe Krone ein Verbrechen?“
„Meineid müssen Sie es nicht gerade nennen, mein lieber Herr“, erwiderte der kleine Anwalt, „dieser Ausdruck ist ein wenig zu hart. Es ist eine Rechtsfiktion, mein lieber Herr, weiter nichts.“ Dabei zuckte Mr. Perker die Achseln, lächelte, nahm eine zweite Prise und ging voraus in die Gerichtsschreiberei.
Es war das ein Raum von ganz besonders schmutzigem Aussehen, mit sehr niedriger Decke und getäfelten Wänden, dabei so finster, daß man bei hellichtem Tag auf den Schreibtischen große Talglichter brannte. Eine Tür führte in das Privatzimmer des Richters, um die sich eine Menge von Anwälten und Schreibern drängte, die hereingerufen wurden, sobald die Reihe an sie kam. Sooft diese Tür sich öffnete, um eine Partei hinauszulassen, machte die nächstfolgende Partei jedesmal gewaltsame Versuche sich vorzudrängen, was immer nebst den lauten Zwiegesprächen zwischen den Gentlemen, die auf den Anblick des Richters harrten, und allerhand persönlichen Zwistigkeiten ein betäubendes Getöse hervorrief. In einer Loge hinter einer hölzernen Schranke am andern Ende des Zimmers stand ein Schreiber mit der Brille auf der Nase, der die Advokatenschreiber beeidigte und die Protokolle darüber haufenweise von Zeit zu Zeit dem Richter zur Unterschrift in sein Privatzimmer schickte. Dabei gab es an der Schranke des bebrillten Herrn ein Stoßen und Drängen, wie manchmal am Eingang des Theaters, wenn Ihre Majestät dasselbe mit Allerhöchst Ihrer Gegenwart beehrt. Ein andrer Held von der Feder übte seine Lunge von Zeit zu Zeit damit, daß er die Namen der Beeidigten laut ausrief, um ihnen vom Richter unterzeichnete Affidavits zurückzustellen, was natürlicherweise wieder zu mehrfachen Püffen und Stößen Veranlassung gab, und da alles dies zu gleicher Zeit geschah, so herrschte ein beispielloses Durcheinander und Getöse.
Zwischendurch hörte man den Mann mit der Brille‘ in gleichmäßigem Tonfall und ohne Unterbrechung die Eidesformel und was dazu gehörte wiederholen:
„Nehmen Sie das Buch in die rechte Hand dies ist Ihr Name und Handschrift Sie schwören daß der Inhalt Ihres Affidavits wahr ist so wahr mir Gott helfe Sie müssen einen Schilling bezahlen herausgeben kann ich nicht.“
Es währte lange genug, bis Mr. Pickwick dran kam und der Bewachung des Gerichtsdieners mit dem Bemerken, ihn dem Vorsteher des Fleetgefängnisses zu überantworten und so lange in Verwahrung zu halten, bis die Entschädigungssumme an Mrs. Bardell nebst Prozeßkosten auf Heller und Pfennig bezahlt sein würde, übergeben wurde.
„Da soll ihnen die Zeit lang werden“, sagte Mr. Pickwick lachend. „Sam, hole eine Droschke. Perker, mein werter Freund, auf Wiedersehen!“
„Ich werde mit Ihnen gehen, um mich von Ihrer glücklichen Ankunft zu überzeugen“, erwiderte Perker.
„Ich danke Ihnen vielmals“, lehnte Mr.Pickwick ab, „aber ich möchte mich nur von Sam begleiten lassen. Sobald ich mich häuslich eingerichtet habe, werde ich Ihnen schreiben und bitte dann um Ihren Besuch. Inzwischen leben Sie wohl.“
Sam setzte sich auf den Bock und sie fuhren ab.
„Ein ganz außerordentlicher Mann das“, sagte Perker und blieb stehen, um seine Handschuhe anzuziehen,
„Er hätte einen famosen Bankerottier abgegeben, Sir“ bemerkte Mr. Lowten, der in der Nähe stand. „Der würde die Kommissäre was plagen, bis sie schwarz würden.“
Inzwischen rumpelte die Kutsche in die Fleetstreet, und der Gerichtsdiener führte Mr. Pickwick und Sam ins Gefängnis. Dort wandten sie sich nach links und gelangten durch eine offene Tür in eine Vorhalle, aus der ein schweres Tor, von einem vierschrötigen Kerkermeister mit dem Schlüssel in der Hand bewacht, ins Innere des Gefängnisses führte.
Hier warteten sie, bis der Gerichtsdiener seine Papiere abgegeben hatte, und man sagte Mr. Pickwick, er habe sich so lange zu gedulden, bis er sich der dem Eingeweihten wohlbekannten Zeremonien unterworfen, das heißt, zu einem Porträt gesessen hätte.
„Zu meinem Porträt gesessen?“ fragte Mr. Pickwick.
„Ja, Sir, damit wir Ihr Konterfei haben“, erklärte der stämmige Schließer. „Wir verstehen uns aufs Abkonterfeien, brauchen nur einen Augenblick dazu und treffen immer richtig. Tun Sie ganz, als ob Sie zu Hause wären, Sir.“
Mr. Pickwick willfahrte der Aufforderung, setzte sich, und Mr. Weller, der sich hinter seinem Stuhle aufgestellt, flüsterte ihm zu, das mit dem „Porträtsitzen“ sei bloß ein andrer Ausdruck für die Beaugenscheinigung von Seiten der verschiedenen Schließer, damit diese die Gefangenen von Besuchern unterscheiden könnten.
„Gut Sam“, sagte Mr. Pickwick, „dann wünschte ich, die Künstler kämen. Es ist das ein unangenehm exponierter Platz.“
„Sie werden wohl nich lange ausbleiben“, versetzte Sam. „Da hängt ’ne hölzerne Schwarzwälderuhr.“
„Das sehe ich“, bemerkte Mr. Pickwick.
„Und ’n Vogelkäfig. Reusen in Reusen, ’n Gefängnis im Gefängnis. Nich wahr, Sir?“
Noch während Mr. Weller diese philosophische Betrachtung zum besten gab, gewahrte Mr. Pickwick, daß das „Sitzen“ bereits seinen Anfang genommen hatte, denn der stämmige Schließer hatte Platz genommen und betrachtete ihn nachlässig von Zeit zu Zeit, indes ein langer, schmächtiger Bursche, mit den Händen unter den Rockschößen, sich ihm gegenüber aufpflanzte und ihn unverwandt anstarrte. Ein dritter Gentleman von etwas grämlichem Aussehen, der offenbar beim Tee gestört worden war, denn er verfügte bei seinem Eintritt gerade über den letzten Rest seiner butter-bestrichenen Brotschnitte, stellte sich dicht daneben auf, stemmte die Hände in die Seiten und beschaute ihn so nahe wie möglich, während noch zwei andre mit aufmerksamen, gedankenschweren Gesichtern seine Züge studierten.
Mr. Pickwick rückte dabei des öftern unruhig hin und her, und die Sitzung schien ihm ganz und gar nicht zu behagen; er machte jedoch die ganze Zeit über keine Bemerkung, selbst gegen Sam nicht, der, an die Rückseite des Stuhles gelehnt, teils über die Lage seines Herrn, teils über das große Vergnügen nachdachte, das ihm ein feindlicher Angriff auf sämtliche Schließer gewähren würde, wenn er unter dem Schutz des Gesetzes und ohne Friedensbruch über einen nach dem andern herfallen dürfte.
Endlich war das Konterfei vollendet, und man bedeutete Mr. Pickwick, er könne sich jetzt ins Gefängnis verfügen.
„Wo werde ich heute nacht schlafen?“ fragte Mr. Pickwick.
„Das weiß ich selbst nicht recht“, erwiderte der vierschrötige Schließer, „aber morgen bekommen Sie ’n Schlafkameraden und können sich dann häuslich einrichten. In der ersten Nacht ist gewöhnlich noch nicht alles recht in Ordnung, aber morgen können Sie bekommen, was Sie wollen.“ Nach einigem Hin und Her erwies es sich indessen, daß einer der Schließer ein Bett zu vermieten hatte, und Mr. Pickwick war froh, es für die Nacht bekommen zu können.
„Wenn Sie mit mir kommen wollen, so will ich es Ihnen sogleich zeigen“, sagte der Mann. „Es ist zwar nicht besonders groß, aber pennen kann man herrlich drin. – Hier, Herr.“
Sie gingen durch das innere Tor, stiegen eine kurze Treppe hinab, der Schlüssel wurde hinter ihnen umgedreht, und Mr. Pickwick befand sich zum ersten Male in seinem Leben innerhalb der Mauern eines Schuldgefängnisses.