Achtundzwanzigstes Kapitel


Achtundzwanzigstes Kapitel

Ein heiteres Weihnachtskapitel nebst Erzählung einer Hochzeit und einiger anderer Lustbarkeiten.

So rührig wie Bienen, wenn auch nicht so leicht beschwingt, versammelten sich die vier Pickwickier am Morgen des zweiundzwanzigsten Dezembers in dem Jahre des Heils, in dem alle diese so streng gewissenhaft aufgezeichneten Abenteuer erlebt wurden. Weihnachten stand vor der Tür mit all seiner schlichten und herzlichen Biederkeit; es war die Zeit der Gastlichkeit, des Frohsinns und der Freundschaft, und das alte Jahr schickte sich gleich jenem Philosophen der Antike an, mitten unter Gesang und Becherklang sanft und selig von hinnen zu scheiden. Es war eine fröhliche, schöne Zeit, besonders für vier von den zahlreichen Herzen, die sich sehr auf das herannahende Fest freuten.

Wir wollen uns aber nicht zu sehr in die Vorzüge der Weihnachtszeit verlieren, denn die Pickwickier warten in der Winterkälte darauf, daß die Postkutsche nach Muggleton abfährt, in die sie, eingehüllt in Überröcke und Halstücher, soeben eingestiegen sind. Die Mantel- und Reisesäcke sind schon verpackt, und Mr. Weller bemüht sich zusammen mit dem Kondukteur nur noch, einen riesigen Kabeljau in einen Korb zu pferchen, der wegen seiner Größe als letztes Gepäckstück auf einem halben Dutzend Austerntönnchen verstaut werden soll, die ebenfalls Herrn Pickwick gehören, der gespannt zusieht, wie der Kabeljau allen Kunstgriffen trotzt, bis der Kondukteur ihn ganz unvermutet samt dem Korb in den Kutschkasten hineinstößt, dabei selbst Hals über Kopf nachstürzt und bis zum Brustkorb im Kutschkasten verschwindet.

Alle Umstehenden lachen, Herr Pickwick stiftet dem Kondukteur einen Schilling, worauf dieser zusammen mit Mr. Weller für fünf Minuten verschwindet und beide mit einer Schnapsfahne wiederkehren. Und nun steigt der Kutscher auf den Bock, Mr. Weller springt hinten auf, die Pickwickier mummeln sich in ihre Überröcke und Halstücher und die Fahrt beginnt.

Um drei Uhr nachmittags erreichen die Herren per Postkutsche frisch und gesund, fröhlich und wohlgemut den Blauen Löwen“ von Muggleton, nachdem sie unterwegs eine hinreichende Menge Ale und Brandy zu sich genommen, um dem Frost Trotz bieten zu können, der den Erdboden in eiserne Fesseln schlug und Bäume und Hecken mit seinem schönen Netzwerk umspannte. Mr. Pickwick war eifrig mit der Musterung der Austernfäßchen und der Aufsicht über die Ausladung des Kabeljaus, die er mitgebracht, beschäftigt, als er sich sachte am Rockzipfel gezupft fühlte, und, sich umsehend, die Entdeckung machte, daß das Individuum, das dieses Mittel ergriffen, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, niemand anders war als Mr. Wardles Lieblingspage, der fette Junge.

„Aha“, rief Mr. Pickwick.

„Aha“, rief auch der fette Junge, beäugelte zuerst den Kabeljau und dann die Austernfäßchen und gluckste vor Vergnügen. – Er war noch wesentlich fetter geworden.

„Na, du siehst ja recht blühend aus, junger Freund“, sagte Mr. Pickwick.

„Ich hab grade vor dem Feuer in der Schenkstube geschlafen“, erwiderte der fette Junge, dessen Gesicht sich durch ein Stündchen Schlummer bis zur Farbe eines glühenden Kochtopfes erhitzt hatte. „Mein Herr hat mich mit dem Karren rübergeschickt, Ihr Gepäck abholen. Er hätte auch ’n paar Reitpferde geschickt, aber er hat gemeint, bei dem kalten Wetter möchten Sie am Ende lieber zu Fuß gehen.“

„Jaja“, sagte Mr. Pickwick hastig, eingedenk der früheren equestrischen Abenteuer, „ja, wir wollen lieber gehen. – Sam!“

„Sir?“ erwiderte Mr. Weller.

„Hilf Mr. Wardles Diener das Gepäck in den Karren schaffen und fahre dann mit ihm; wir gehen voraus.“

Nachdem Mr. Pickwick diese Befehle erteilt, schlug er mit seinen drei Freunden den Fußpfad über die Felder ein und ließ Mr. Weller und den fetten Jungen vorderhand beieinander. Sam sah den fetten Jungen mit großer Verwunderung an, ohne jedoch ein Wort zu sprechen, und begann die Sachen eiligst in den Karren zu schaffen, während der fette Junge ruhig dabeistand, offenbar sehr einverstanden, daß Mr. Weller so fleißig war.

„So“, sagte Sam und lud den letzten Mantelsack auf jetzt haben wir’s.“

„Ja“, versetzte der fette Junge sehr zufrieden, „jetzt haben wir’s.“

„Na, junger Tausendpfünder“, meinte Sam, „Sie könnten sich für Geld sehen lassen. Wahrhaftig.“

„Dank schön“, erwiderte der fette Junge.

„Kummer und Sorgen scheinen Sie wohl nich sonderlich zu bedrücken, was?“ fragte Sam.

„O nein“, gab der fette Junge zu.

„Freut mich sehr, dies zu vernehmen“, versetzte Sam. „Trinken Sie was?“

„Ich esse lieber“, erwiderte der Junge.

„Hätte ich mir denken können“, sagte Sam. „Doch ich meine, ob Sie nicht ’n Tropfen nehmen wollen, um sich zu erwärmen? Aber Sie haben wohl unter Ihrem Speck noch nie gefroren, oder?“

„Bisweilen doch“, versetzte der Junge, „aber ich trinke schon auch einen Schluck, wenn er gut ist.“

„Wirklich, tun Sie das?“ sagte Sam. „Na, dann kommen Sie!“

Die Wirtsstube des „Blauen Löwen“ war bald erreicht, und der fette Junge goß ein Glas Brandy hinunter, ohne eine Miene zu verziehen – was ihn in Mr. Wellers Augen außerordentlich hob. Nachdem Mr. Weller seinerseits ein ähnliches Manöver vollführt, stiegen sie in den Karren.

„Können Sie fahren?“ fragte der fette Junge.

„Sollt es fast meinen“, erwiderte Sam.

„Dorthinein also“, sagte der fette Junge, überließ Mr. Weller die Zügel und deutete auf einen Feldweg. „Immer gradaus. Sie können nicht fehlen.“ – Mit diesen Worten legte er sich neben den Kabeljau und fiel augenblicklich in Schlaf.

Mittlerweile hatten Mr. Pickwick und seine Freunde ihr Blut in raschere Zirkulation gesetzt und schritten munter dahin. Der Pfad war hart, das Gras bereift, die Luft rein, trocken und kalt, und das rasche Sinken des Tages ließ sie im Vorgenuß der Behaglichkeiten schwelgen, die ihrer bei dem gastfreundlichen Mr. Wardle warteten. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie würden ihre Mäntel abgelegt haben und in der frohen Stimmung ihrer Herzen zum Privatvergnügen ein kleines Bockspringen arrangiert haben, und sicherlich hätte in diesem Augenblick Mr. Tupman seinen Rücken dargeboten, Mr. Pickwick würde dieses Anerbieten zum fröhlichen Spiel mit größtem Eifer aufgegriffen haben.

Mr. Tupman schien sich aber nicht freiwillig zu einer solchen Belustigung anbieten zu wollen, und so verfolgten die Freunde ihren Weg unter heiteren Gesprächen. Als sie in den Pfad nach Manor Farm einbogen, traf Stimmengewirr ihr Ohr, und ehe sie sich noch in Mutmaßungen ergehen konnten, begrüßte sie ein lautes Hurra.

Da waren zuerst Mr. Wardle, der womöglich noch fröhlicher aussah als früher, dann Bella und ihr getreuer Trundle, ferner Emilie und acht bis zehn junge Damen, die alle zur morgigen Hochzeit eingeladen waren und so wichtig und selig aussahen, wie junge Damen meist bei solchen Gelegenheiten.

Die Zeremonie des Vorstellens war bald vorüber, und ein paar Minuten später scherzte bereits Mr. Pickwick mit den jungen Damen, die, solange er zusah, nicht über das Geländer steigen wollten oder, sich ihrer hübschen Füßchen und feinen Knöchel gar wohl bewußt, fünf Minuten lang darauf stehenblieben und erklärten, sie fürchteten sich zu sehr, um sich nur rühren zu können – scherzte mit ihnen so ungezwungen und vertraulich, als hätte er sie seit Kindheit an gekannt. Mr. Snodgraß leistete Emilie weit mehr Beistand, als die Gefahren des Geländers erfordert hätten, während eine schwarzäugige junge Dame mit sehr zierlichen Pelzstiefelchen laut schrie, als ihr Mr. Winkle hinüberhelfen wollte.

Alles dies war höchst unterhaltend und ergötzlich, und als endlich die Hindernisse des Geländers glücklich überwunden waren und man sich wieder auf offenem Felde befand, machte der alte Wardle Mr. Pickwick die Mitteilung, sie hätten sämtlich die Ausstattung und Einrichtung des Hauses in Augenschein genommen, das dem Jungen Paar gleich nach Weihnachten zur Verfügung stehen sollte. Bella und Trundle wurden darüber so rot, wie vorher der fette Junge in der Wirtsstube am Feuer, und die junge Dame mit den schwarzen Augen und den pelzverbrämten Stiefelchen flüsterte Emilie etwas ins Ohr und warf einen schlauen Seitenblick auf Mr. Snodgraß. Mr. Snodgraß, verschämt wie alle großen Geister, fühlte, wie rot er bis in die Ohren wurde, und wünschte in den Tiefen seines Herzens die junge Dame mit den schwarzen Augen, dem schelmischen Seitenblick und den pelzverbrämten Stiefelchen in das Land, wo der Pfeffer wächst.

Wie groß war aber erst die Wärme und Herzlichkeit, mit der die Herren aufgenommen wurden, als sie die Farm erreichten! Sogar das Gesinde grinste vor Vergnügen, als es Mr. Pickwick erblickte, und Emma warf Mr. Tupman einen halb verschämten, halb verwegenen Blick des Wiedererkennens zu, der hingereicht hätte, den Gipsnapoleon im Gang zu ermutigen, sie an sich zu drücken.

Die alte Dame saß wie gewöhnlich in der vorderen Wohnstube, war aber ein wenig verdrießlich und folglich ganz besonders taub. Sie selbst ging nie aus und sah es daher als eine Art Hochverrat an, wenn sich jemand die Freiheit nahm, etwas zu tun, was sie nicht mehr konnte.

„Mutter“, sagte Mr. Wardle, „Mr. Pickwick ist hier. Du erinnerst dich seiner doch noch.“

„Ach, ich bitte dich“, erwiderte die alte Dame mit großer Würde, „bemühe Mr. Pickwick nicht wegen einer alten Frau wie ich. Es bekümmert sich ja niemand um mich. Das ist ja auch so der Lauf der Dinge.“ Und die alte Dame schüttelte den Kopf und strich ihr lavendelfarbiges Seidenkleid mit zitternden Händen glatt.

„O nein, Madam!“ sagte Mr. Pickwick. „Ich kann nicht zugeben, daß Sie einen alten Freund auf diese Art abspeisen. Ich bin ausdrücklich deswegen hergekommen, um mich recht lange mit Ihnen zu unterhalten und eine Partie Whist mit Ihnen zu spielen. Ja, und ehe achtundvierzig Stunden um sind, wollen wir diesen Knaben und Mädchen einmal zeigen, wie man ein Menuett tanzt.“

Die alte Dame war augenblicklich umgestimmt, wollte es aber nicht merken lassen und sagte daher nur: „Ach, ich verstehe ihn nicht.“

„Aber komm, Mutter, komm“, begütigte Mr. Wardle. „Sei doch nicht so verdrießlich; er ist so ’ne gute Seele. Denk Bella. Komm, du mußt dem armen Mädchen ’n bißchen Mut machen.“

Die gute alte Dame verstand alles, denn ihre Lippen zitterten, als ihr Sohn ihr so zuredete; aber das Alter hat nun einmal seine schwachen Seiten, und sie ließ sich noch nicht erweichen. Sie strich wieder an dem lavendelfarbigen Kleid hinunter und wandte sich zu Mr. Pickwick:

„Ach, Mr. Pickwick, als ich noch ein Mädchen war; waren die jungen Leute ganz anders.“

Kein Zweifel, Ma’am“, versetzte Mr. Pickwick. „Und gerade aus diesem Grunde achte ich auch die wenigen Menschen so hoch, die noch an die guten alten Zeiten erinnern.“ Dabei zog er Bella sanft an sich, drückte ihr einen Kuß auf die Stirn und bat sie, sich auf den kleinen Stuhl zu den Füßen ihrer Großmutter zu setzen. Die Herzensgüte Mr. Pickwicks rührte die alte Dame so sehr, daß sie weich wurde, ihren Kopf auf den Nacken ihrer Enkelin legte und ihre üble Laune in einer Flut stiller Tränen entströmen ließ.

Die Gesellschaft war an diesem Abend eitel Freude. Gesetzt und feierlich wickelte sich wieder die Whistpartie ab, die Mr. Pickwick und die alte Dame miteinander spielten, und lärmend das Gesellschaftsspiel am runden Tisch. Lange noch, nachdem sich die Damen zurückgezogen, machte der Glühwein, mit Rum und Gewürz verstärkt, aber und abermals die Runde, und gesund waren der Schlaf und süß die Träume, die darauf folgten. Es ist ein bemerkenswerter Umstand, daß Mr. Snodgraß die ganze Nacht von Emilie und Mr. Winkle von einer jungen Dame mit schalkhaften schwarzen Augen und außerordentlich niedlichen Pelzstiefelchen träumten.

In aller Frühe wurde Mr. Pickwick von einem Stimmengewirr und emsigem Hinundherlaufen geweckt, das sogar den fetten Jungen in seinem tiefen Schlummer stören mußte.

Er setzte sich auf und lauschte. Die Dienstmädchen und die weiblichen Gäste liefen unaufhörlich ab und zu, und es wurde sooft nach warmem Wasser und Nadel und Faden gerufen, und eine solche Menge Bitten: „Hilf mir, ich kann nicht damit zurechtkommen“, wurden laut, daß Mr. Pickwick in seiner Unschuld auf den Gedanken kam, es müsse irgend etwas Furchtbares vorgefallen sein, bis er nach und nach ganz munter wurde und sich erinnerte, daß heute ja Hochzeit sei. Dem Feste zu Ehren kleidete er sich mit besonderer Sorgfalt an und ging hinunter zum Frühstück.

Die Hausmädchen liefen in nagelneuen rosa Musselinkleidern mit weißen Schleifen an den Hauben in einem unbeschreiblichen Zustande von Aufregung und Diensteifer im Hause herum. Die alte Dame hatte ein Brokatkleid angelegt, das seit zwanzig Jahren das Tageslicht nicht mehr gesehen, von den spärlichen Strahlen vielleicht abgesehen, die sich durch die Ritzen in der Truhe gestohlen hatten, Mr. Trundle war in Prachteinband und selig, schien aber ein wenig nervös. Der fröhliche alte Herr suchte so aufgeräumt und unbefangen auszusehen wie möglich, verfehlte aber seinen Zweck sichtlich. Sämtliche jungen Damen schwammen in Tränen und weißem Musselin, mit Ausnahme der paar Auserwählten, die die besondere Ehre genossen, Braut und Brautjungfern im oberen Saal von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Sämtliche Pickwickier waren aufs festlichste herausgeputzt, und auf dem Grasplatz vor dem Hause machten die Knechte und Buben, die zum Pachtgut gehörten, jeder eine weiße Schleife im Knopfloch, einen furchtbaren Spektakel mit Singen und Herumspringen, angestiftet von Mr. Samuel Weller, der sich im Handumdrehen die Volksgunst zu erwerben gewußt und sich bereits so heimisch fühlte, als wäre er auf dem Lande geboren.

Die Trauung wurde schließlich von dem alten Geistlichen in der Kirche zu Dingley Dell vollzogen, und Mr. Pickwicks Name ist noch heute in dem Register in der Sakristei zu lesen. Die junge Dame mit den schwarzen Augen trug ihren Namen mit unsteter und zitternder Hand ein, und die Unterschrift Emiliens, der andern Brautjungfer, fiel beinahe ganz unleserlich aus. Sonst ging aber alles in bewunderungswürdiger Ordnung vor sich; die jungen Damen fanden im allgemeinen die Sache weit weniger schrecklich, als sie erwartet hatten, und die Eigentümerin der schelmischen schwarzen Augen versicherte Mr. Winkle, sie wisse gewiß, daß sie sich niemals zu einem so fürchterlichen Schritte würde entschließen können. Dem allen wäre noch hinzuzufügen, daß Mr. Pickwick der erste war, der die Braut beglückwünschte und ihr bei dieser Gelegenheit eine prachtvolle goldene Uhr umhing, die noch keines Menschen Auge, außer dem des Goldschmiedes, gesehen hatte. Dann fielen die alten Kirchenglocken so heiter ein, wie sie nur konnten, und der Hochzeitszug kehrte zum Frühstück nach Manor Farm zurück.

„Wo sollen die Fleischpasteten hin, junger Opiumfresser?“ fragte Mr. Weller den fetten Jungen, als er die Speisen ordnen half, die am vorhergehenden Abend noch nicht hatten aufgestellt werden können.

Der fette Junge deutete stumm auf die betreffende Stelle.

„Schön, und nu stecken Sie noch wat Jrünes rein. Dort in die andre Platte. So, jetzt nehmen wir uns erst hübsch aus, wie der Vater sagte, als er seinem Jungen den Kopf abschlug, um ihm das Schielen zu vertreiben.“

Dann trat Mr. Weller ein paar Schritte zurück, kniff ein Auge zu und übersah die Anordnungen mit dem Ausdruck größter Zufriedenheit.

Dann nahm die Gesellschaft ihre Plätze ein, und Mr. Pickwick mußte sogleich mit dem alten Wardle ein Glas Wein zu Ehren des jungen Paares leeren und Duzbrüderschaft trinken.

Die alte Dame saß in vollem Prunk obenan, links neben ihr die junge Neuvermählte, rechts Mr. Pickwick. Sie zog An sogleich ins Gespräch, ließ sich in eine weitläufige und ausführliche Schilderung ihrer eignen Hochzeit ein und knüpfte daran eine Abhandlung über die damalige Mode, Schuhe mit hohen Absätzen zu tragen, und einige Erlebnisse und Abenteuer der schönen Lady Tollimglower, wobei sie so herzlich lachte, daß die jungen Damen, verwundert, weshalb denn in aller Welt die Großmama auf einmal so gesprächig geworden, mit einstimmten. Und wenn die jungen Damen lachten, lachte die alte Dame noch zehnmal herzlicher und sagte, diese Geschichten hätten schon damals immer einen Kapitalspaß gegeben, was ein neuerliches Gelächter hervorrief, das die alte Dame geradezu in Rosenlaune versetzte. Dann wurde der Hochzeitskuchen zerschnitten und machte die Runde um die Tafel, und die jungen Damen legten sich heimlich Stücke beiseite, um sie unter das Kopfkissen zu schieben und von ihren künftigen Gatten zu träumen, was wiederum viel Spaß und Erröten verursachte.

„Mr. Miller“, wendete sich Mr. Pickwick zu seinem alten Bekannten, dem Herrn mit dem Borsdorfer Gesicht, „ein Glas Wein?“

„Mit dem größten Vergnügen, Mr. Pickwick“, versetzte der Herr mit dem Borsdorfer Gesicht feierlich.

„Wollen Sie mich nicht auch mit einschließen?“ fragte der wohlwollende alte Geistliche.

„Und mich auch“, fiel seine Gattin ein.

„Mich auch, mich auch“, riefen ein paar arme Verwandte am unteren Ende der Tafel, die aus Herzenslust gegessen und getrunken und über alles und jedes gelacht hatten.

Mr. Pickwicks Antlitz strahlte vor Freude über seine Beliebtheit, er stand auf und erhob sein Glas.

„Hört, hört! Hört, hört! Hört, hört!“ rief Mr. Weller im Übermaß seiner Gefühle.

„Ruft die gesamte Dienerschaft herein“, befahl der alte Wardle, um Mr. Weller den öffentlichen Verweis zu ersparen, der ihm sonst ohne allen Zweifel von seiten seines Herrn geblüht hätte.

„Jedem ein Glas Wein, um den Toast mitzutrinken! Nun, Pickwick?“

Tiefe Stille trat ein, die weibliche Dienerschaft flüsterte, die männliche stand verlegen da, und Mr. Pickwick begann:

„Meine Damen und Herren, nein, nicht meine Damen und Herren, meine lieben Freundinnen und Freunde, wenn mir die Damen eine so große Freiheit erlauben wollen …“

Ein unermeßlicher Beifall von seiten der Damen unterbrach ihn; die Herren stimmten mit ein, und mitten in dem Lärm hörte man die Eigentümerin der schwarzen Augen ganz deutlich sagen, sie möchte diesen lieben Mr. Pickwick küssen, worauf Mr. Winkle galant fragte, ob ihm das nicht auch ein Stellvertreter überbringen könne, eine Frage, die von der jungen Dame mit einem „Kommen Sie mir nicht mehr unter die Augen“ beantwortet, zugleich aber von einem Blick begleitet wurde, der so deutlich, wie es nur immer ein Blick konnte, hinzusetzte: „Wenn Sie das zuwege ringen.“

„Meine teuren Freundinnen und Freunde“, nahm Mr. Pickwick seine Rede wieder auf, „ich bringe hiermit die Gesundheit der jungen Neuvermählten aus. Gott segne sie! (Beifall und Tränen.) In meinem jungen Freund Trundle sehe ich einen vorzüglichen männlichen Charakter, und seine Frau kenne ich als eine höchst liebenswürdige, reizende junge Dame, wohl geeignet, das Glück, das sie zwanzig Jahre lang in ihres Vaters Haus um sich her verbreitet, in einen andern Wirkungskreis zu übertragen. (Hier brach der fette Junge in ein lautes Geheul aus und wurde von Mr. Weller am Rockkragen hinausgeführt.) Ich wünschte“, fügte Mr. Pickwick hinzu, „ich wünschte, ich wäre jung genug, um der Gatte ihrer Schwester zu sein (Beifall), aber da dies nun nicht der Fall ist, so bin ich doch so glücklich, alt genug zu sein, um ihr Vater sein zu können, und daher über jeden Verdacht versteckter Absichten erhaben, wenn ich sage, daß ich sie beide bewundere, achte und liebe. (Beifall und Schluchzen.) Der Vater der Braut, unser guter, lieber Freund, ist ein wackerer Mann, und ich bin stolz darauf, ihn zu kennen. (Großer Jubel.) Er ist ein liebevoller, vortrefflicher, vornehm denkender, herzensguter, gastfreundlicher, freigebiger Mann.

Enthusiastischer Beifall von seiten der armen Verwandten, besonders bei den beiden letzten Attributen.) Daß seiner Tochter all das Glück zuteil werde, das er selbst ihr nur immer wünschen kann, und daß er aus der Betrachtung desselben alle Freuden des Herzens und alle Ruhe der Seele ziehen möge, die er so wohl verdient, ist, ich bin es überzeugt, unser aller Wunsch. So laßt uns denn auf die Gesundheit des jungen Paares trinken und ihm ein langes Leben und reichen Segen wünschen!“ Unter stürmischem Beifall schloß Mr. Pickwick seine Rede und auf ein Zeichen Mr. Wellers taten auch die Lungen des Personals ihre Pflicht und Schuldigkeit. Sodann ließ Mr. Wardle Mr. Pickwick und dieser die alte Dame, Mr. Snodgraß Mr. Wardle, Mr. Wardle Mr. Snodgraß, der eine von den armen Vettern Mr. Tupman und der andre Mr. Winkle leben, und alles war eitel Lust und Freude, bis das geheimnisvolle Verschwinden der beiden armen Vettern unter den Tisch die Gesellschaft daran erinnerte, daß es Zeit sei, vom Frühstück aufzustehen.

An der Mittagstafel traf man wieder zusammen, nachdem die männlichen Glieder der Gesellschaft auf Mr. Wardles Empfehlung fünfundzwanzig Meilen weit spazierengegangen waren, um die Wirkungen des beim Frühstück genossenen Weines aufzuheben, während die armen Vettern den ganzen Tag im Bett lagen, um dasselbe Resultat zu erzielen, aber wegen der Erfolglosigkeit ihrer Bestrebungen liegenbleiben mußten. Mr. Weller erhielt die Dienerschaft in einem Zustand ununterbrochener Heiterkeit, und der fette Junge teilte seine Zeit zwischen Essen und Schlafen ein. Das Diner war ebenso heiter und ebenso geräuschvoll wie das Frühstück, nur Tränen kamen nicht vor. Dann trug man das Dessert auf und brachte noch verschiedene Toaste aus. Nachdem noch Tee und Kaffee serviert worden, nahm der Ball seinen Anfang.

Der Festsaal von Manor Farm war ein freundliches, langes, dunkelgetäfeltes Gemach, mit einem so geräumigen Kamin, daß eins der neumodischen Patentkabrioletts bequem hätte hindurchfahren können. Am oberen Ende des Saales saßen in einer schattigen Laube von Stechpalmen und Immergrün die beiden besten Geiger und die einzige Harfenspielerin von Muggleton. Alle Nischen und Gesimse waren mit alten, massiven silbernen Leuchtern geschmückt, jeder mit vier Armen, der Boden war mit Teppichen belegt, die Kerzen brannten hell, das Feuer loderte und knisterte im Kamin und heitere Stimmen und frohes Gelächter hallten durch den Saal.

Wenn irgend etwas den interessanten Eindruck dieser anmutigen Szene noch mehr hervorheben konnte, so war es der denkwürdige Umstand, daß Mr. Pickwick zum ersten Male, soweit sich seine ältesten Freunde zurückerinnern konnten, ohne Gamaschen erschien.

„Du willst wohl tanzen?“ fragte Mr. Wardle.

„Natürlich“, erwiderte Mr. Pickwick. „Siehst du denn nicht, daß ich mich extra dazu angekleidet habe?“ Und Mr. Pickwick wies auf seine gesprenkelten seidenen Strümpfe und Lackschuhe.

Sie in seidenen Strümpfen!“ rief Mr. Tupman in scherzhaftem Ton.

„Und warum nicht, Sir, warum nicht?“ fragte Mr. Pickwick ein wenig hitzig.

„0h, es ist natürlich gar kein Grund vorhanden, warum Sie sie nicht tragen sollten“, antwortete Mr. Tupman.

„Das will ich meinen, Sir, das will ich meinen“, sagte Mr. Pickwick mit sehr entschiednem Tone.

Mr. Tupman hatte Lust zum Lachen verspürt, fand aber, daß die Sache ernster Natur war, und nahm daher auch eine dementsprechende Miene an und sagte, die Strümpfe hätten ein hübsches Muster.

„Das hoffe ich“, bemerkte Mr. Pickwick mit einem strengen Blick auf seinen Freund, „aber ich erwarte von Ihnen, Sir, daß Sie auch an den Strümpfen als solchen nichts auszusetzen haben?“

„Gewiß nicht, oh, gewiß nicht“, beteuerte Mr. Tupman, entfernte sich schleunigst, und Mr. Pickwicks Gesicht nahm seinen gewohnten wohlwollenden Ausdruck wieder an.

„Ich glaube, die Paare sind jetzt geordnet“, sagte Mr. Pickwick, am Arm die alte Dame, nachdem er in seinem Feuereifer bereits viermal vor der Zeit die Anfangspas gemacht hatte.

Wardle gab das Zeichen, die zwei Geigen und die Harfe erklangen, und Mr. Pickwick begann eine Kreuztour, als ein allgemeines Händeklatschen erscholl und von allen Seiten „Halt! Halt!“ gerufen wurde.

„Was gibt’s denn?“ rief Mr. Pickwick, nur durch das Verstummen der Geige und der Harfe zum Stehen gebracht, was keine Irdische Gewalt sonst hätte erreichen können und wenn das Haus in Flammen gestanden hätte.

„Wo ist Arabella Allen?“ rief ein Dutzend Stimmen.

„Und Winkle?“ setzte Mr. Tupman hinzu.

„Hier sind wir“, rief Mr. Winkle, trat mit seiner hübschen Gefährtin aus einer Nische hervor, und es würde schwergehalten haben zu bestimmen, wer von beiden ein röteres Gesicht hatte, er oder die junge Dame mit den schwarzen Augen.

„Was ist das nur wieder für ein merkwürdiges Benehmen Winkle“, sagte Mr. Pickwick ein wenig ärgerlich, „daß Sie nicht rechtzeitig auf Ihrem Platz sind?“

„Gar nicht merkwürdig“, versetzte Mr. Winkle. „Nun ja“, meinte Mr. Pickwick mit einem sehr ausdrucksvollen Lächeln, als sein Blick auf Arabella fiel. „Nun, ich gebe ja zu, daß es nicht besonders merkwürdig ist.“

Es war indes keine Zeit mehr, die Sache weiterzuerörtern, denn Geigen und Harfe ertönten schon wieder. Mr. Pickwick schwebte dahin von der Mitte des Saales bis zum äußersten Ende, an den Kamin und wieder zurück an die Tür – Poussette hin und Poussette her – lautes Stampfen auf den Boden – das nächste Paar – ab – die ganze Figur wiederholt – eine neue Tour – das nächste Paar vor und das nächste und übernächste. So etwas war noch nicht da. Und endlich, nachdem alle ausgetanzt und volle vierzehn Paare nach der alten Dame abgetreten und die Gattin des Geistlichen die Stelle der Großmutter eingenommen, hielt der Treffliche noch immer aus und lächelte seiner Tänzerin die ganze Zeit über mit einer Freundlichkeit zu, die jede Beschreibung übersteigt.

Lange bereits, ehe sich Mr. Pickwick müde getanzt, hatte sich das neuvermählte Paar zurückgezogen. Unten erwartete die Gesellschaft ein vortreffliches Souper, und es wurde noch lange und viel getafelt. Und als Mr. Pickwick am andern Morgen spät erwachte, erinnerte er sich verworren, ungefähr fünfundvierzig Personen aufs dringendste eingeladen zu haben, sobald sie nach London kämen, im „Georg und Geier“ mit ihm zu speisen, was ihm ein untrügliches Zeichen war, daß er in der. „vergangenen Nacht seinem physischen Ich mehr zugemutet hatte als die bloße Bewegung.

„Also heute abend wird sich die Familie in der Küche mit Gesellschaftsspielen unterhalten, mein Schatz?“ fragte Sam Emma.

„Ja, Mr. Weller“, erwiderte Emma. „Wir halten es immer so am Weihnachtsabend. Unser Herr besteht auf diesem Brauch.“

„Ihr Herr is überhaupt ’n Schenlmän, mein Schatz. Habe noch mein Lebtag keinen feineren kennengelernt.“

„Ja, das is er!“ mischte sich der fette Junge ins Gespräch. „Und die Ferkel, was er mästet!“

„Na, sind Sie endlich aufgewacht?“ fragte Sam.

Der fette Junge nickte bejahend.

„Ich will Ihnen mal was sagen, Sie junge Riesenschlange“, sagte Mr. Weller eindringlich. „Falls Sie nich ’n bißchen weniger schlafen und sich mehr Bewegung verschaffen, wenn Sie mal ins männliche Alter kommen, denn kann es Ihnen noch so gehen wie dem alten Herrn mit der Zopfperücke.“

„Und was ist dem passiert?“ fragte der fette Junge stotternd.

„Will ich Ihnen sagen“, erwiderte Mr. Weller, „war einer von den dicksten Schmerbäuchen, wo sich jemals umgedreht haben – ’ne Art Mastochse, der fünfundvierzig Jahre lang seine eignen Füße nicht sah.“

„Himmel!“ rief Emma.

„Ja, wahrhaftig, mein Schatz, und wenn Sie ihm das genaueste Modell von seinen Beinen auf ’n Tisch gelegt hätten, er hätte sie nich erkannt. Er ging immer in sein Bureau mit ’ner riesig feinen goldnen Uhrkette, wo anderthalb Fuß lang raushing, und einer goldnen Uhr dran in seiner Westentasche, die – ich kann es kaum sagen, wieviel, aber jedenfalls mordsmäßig viel wert war – ’n großes, schweres, rundes Ding, als Uhr so dick wie er als Mann, und mit n entsprechend breitem Gesicht. ,Solltest diese Uhr nich tragen‘, sagten die Freunde von dem Alten, ,man wird sie dir noch stehlen.‘ – ,Na‘, sagte er, ,den Dieb möchte ich sehen, die Uhr rausbrächte. Ich will verdammt sein, wenn ich sie selbst rausbringe. Wenn ich wissen will, wieviel Uhr es is, muß ich in ’n Bäckerladen sehen gehen.‘ Und dann lachte er so entsetzlich, daß er fast platzte, und ging wieder mit seinem gepuderten Kopf und Zopf aus und wälzte sich den ,Strand‘ hinunter, und die Kette hing weiter raus als je, und die große runde Uhr drückte beinah ’n Loch durch seine graue Kerseyhose. Es gab nich einen Taschendieb in ganz London, wo nich schon an der Kette gerissen hatte, aber se ging nich entzwei, und die Uhr ging nich raus, so daß sie’s bald satt bekamen, so ’n schweren alten Herrn die Straße entlangzuziehen, und dann ging er jedesmal nach Hause und lachte, daß sein Zopf, wie der Perpendikel an ’ner Holländeruhr, hin und her wackelte. Eines Tages nu wälzte sich der alte Herr wieder mal spazieren und sah ’nen Taschendieb, den er auf den ersten Blick erkannte, Arm in Arm mit ’nem kleinen Jungen, der ’n sehr dicken Kopf hatte, auf sich zukommen. Das gibt ’n Spaß, sagte sich der alte Herr, die werden’s wieder probieren, aber se werden sich schneiden. Und er fing schon an, aus vollem Halse zu lachen, als der kleine Junge plötzlich den Arm des Taschendiebes losließ und mit dem Kopf dem dicken Herrn in den Bauch rannte, daß dieser vor Schmerz fast die Besinnung verlor. ,Mörder!‘ rief der alte Herr und hörte grade noch, wie ihm der Taschendieb ins Ohr flüsterte: ,Allright, Sir.‘ Und wie er wieder auf den Beinen war, waren Uhr und Kette beim Teufel und, was noch schlimmer war, seine Verdauung war auch beim Teufel bis zum letzten Tag seines Lebens. – Sehen Sie sich also vor, junger Herr, und nehmen Se sich in acht, daß Se nich zu fett werden.“

Mit dieser Ermahnung schloß Mr. Weller seine Erzählung, die den fetten Jungen sehr zu ergreifen schien, und alle drei gingen in die große Küche, in der sich schon die Vorfahren Mr. Wardles, einem alten Brauche gemäß, seit unvordenklichen Zeiten um diese Stunde zu versammeln pflegten.

Soeben hatte der alte Wardle im Mittelpunkt der Decke eigenhändig einen großen Mistelzweig aufgehängt, was sofort ein allgemeines höchst ergötzliches Gedränge verursachte. Inmitten dieser Verwirrung nahm Mr. Pickwick mit einer Galanterie, die einem Abkömmling der Lady Tollimglower Ehre gemacht haben würde, die alte Dame bei der Hand, führte sie unter den mystischen Zweig und küßte sie mit ritterlichem Anstand. Die alte Dame unterwarf sich dieser Höflichkeit mit all der Würde, die einer so wichtigen und ernsten Feier angemessen war, aber die jüngeren Damen, die keine so abergläubige Verehrung für das Althergebrachte hegten oder der Meinung waren, der Wert eines Kusses werde bedeutend erhöht, wenn es einige Mühe koste, ihn zu erlangen, kreischten und sträubten sich und liefen in die Ecken, kurz, taten alles mögliche, nur die Küche verließen sie nicht. Erst als einige der weniger verwegenen Herren im Begriff waren, von ihrem Verlangen abzustehen, fanden sie es auf einmal zwecklos, noch ferner Widerstand zu leisten, und unterwarfen sich dem Kuß gutwillig. Mr. Winkle küßte die junge Dame mit den schwarzen Augen, Mr. Snodgraß Emilie, und Mr. Weller kaprizierte sich nicht darauf, daß es gerade unter dem Mistelzweig geschehen müsse, und küßte Emma und die übrigen Dienstmädchen, wo er sie gerade erhaschte. Was die armen Vettern betraf, so küßten sie alle ohne Unterschied, nicht einmal den unansehnlicheren Teil der weiblichen Gäste ausgenommen, die in ihrer außerordentlichen Verwirrung geradenwegs unter den Mistelzweig rannten, ohne es selbstverständlich zu wissen. Wardle stand mit dem Rücken gegen den Kamin und schaute vergnügt zu, während der fette Junge die Gelegenheit ergriff, eine besonders schöne Fleischpastete, die für jemand anders extra zurückgelegt worden war, zu seinem eignen Gebrauche zu verwenden. Das Kreischen hatte aufgehört, die Gesichter glühten, alle locken waren in Verwirrung, Mr. Pickwick stand unterm Mistelzweig und sah mit vergnügter Miene dem Treiben ringsum zu, als die junge Dame mit den schwarzen Augen nach einem kurzen Geflüster mit ihren Freundinnen ganz plötzlich auf ihn zusprang, ihren Arm um seinen Nacken legte und ihn zärtlich auf die linke Wange küßte. Und noch ehe er recht wußte, wie ihm geschah, war er umringt und von allen geküßt.

Es war eine Lust, Mr. Pickwick inmitten der Gruppe zu sehen, bald dahin, bald dorthin gezerrt und zuerst auf das Kinn und die Nase und dann auf die Brille geküßt – eine Lust, das fröhliche Gelächter zu hören, das ihn umjubelte Aber wie entzückend war es erst, ihn gleich darauf mit einem seidenen Taschentuch um die Augen gegen die Wand rennen und in die Winkel tappen und mit Herzenslust auf alle Geheimnisse des Blindekuhspieles eingehen zu sehen, bis er endlich einen von den armen Vettern erwischte und dann selbst der blinden Kuh aus dem Wege gehen mußte, was er mit einer Behendigkeit und Gewandtheit tat, die allen Zuschauern Ausrufe der höchsten Bewunderung entlockte. Nachdem alle das Blindekuhspiel satt hatten, wurde eine große Drachenschnappe arrangiert und Rosinen aus brennendem Rum herausgefischt, und schließlich setzte man sich neben dem hoch auflodernden Feuer zu einem tüchtigen Nachtessen und einer mächtigen Schüssel, die etwas kleiner war als ein gewöhnlicher Waschkessel und in der die heißen Äpfel einladend und lustig zischten und tanzten, daß es eine Lust war.

„Ja, das ist“, sagte Mr. Pickwick und blickte rundum, „das ist wirkliche, köstliche Weihnachtsfreude.“

„Unser alter Brauch“, erwiderte Mr. Wardle. „Am Weihnachtsabend sitzen wir alle, samt und sonders, Herr und Diener, beisammen und warten, bis die Glocke zwölf Uhr schlägt und die Weihnacht einläutet, und vertreiben uns die Zeit mit Pfänderspielen und alten Geschichten. – Trundle, mein Junge, schür doch mal das Feuer an. Hm?“

Die hellen Funken flogen zu Tausenden auf, und die dunkelrote Flamme ergoß einen glänzenden Schein bis in die entfernteste Ecke der Küche und bestrahlte jedes Gesicht mit seinem heiteren Glanz.

Dann ging der Humpen herum, und Mr. Wardle stimmte unter großem Beifall ein fröhliches Lied an, und besonders die armen Vettern waren vor Entzücken ganz außer sich. Das Feuer wurde von neuem geschürt, und der Humpen machte wieder die Runde.

„Wie es schneit“, sagte einer von den Knechten leise.

„Schneien?“ fragte Wardle.

„Eine rauhe, kalte Nacht, Sir“, erwiderte der Mann, „und ein Wind geht, daß es den Schnee in dicken weißen Wolken über die Felder jagt.“ „Was sagt Jem?“ fragte die alte Dame. „Es ist doch kein Unglück passiert?“

Nein, nein, Mutter“, beruhigte sie Wardle. „Er spricht nur von einem Schneegestöber und von einem kalten, schneidenden Wind. Man hört’s aber auch am Sausen im Kamin.“

„Ach“, sagte die alte Dame, „vor fünf Jahren, vor dem Tod deines armen Vaters, ging auch ein solcher Wind. Es war auch Weihnachtsabend, und ich erinnere mich, daß er uns in derselben Nacht die Geschichte von den Gespenstern zählte, die den alten Gabriel Grub geholt haben.“ „Die Geschichte von was?“ fragte Mr. Pickwick.

„Ach nichts, nichts“, erwiderte Wardle. „Von einem alten Totengräber, von dem die guten Leute glauben, die Gespenster hätten ihn geholt.“ „Glauben?“ rief die alte Dame aus. „Ist jemand so verstockt, um es nicht zu glauben? Glauben! Hast du nicht schon als Kind gehört, daß er von den Gespenstern geholt wurde, und weißt du vielleicht nicht, daß es wirklich so ist?“

„Schon gut, Mutter, jaja. Also es war so, wenn du darauf bestehst“, sagte Wardle lachend. „Er wurde von den Gespenstern geholt, Pickwick, und damit gut.“

„Nein, nein“, rief Mr. Pickwick, „nicht ,damit gut‘. Ich muß doch wissen, wie und warum und so weiter.“

Wardle lächelte, als er sah, daß alle die Ohren spitzten, ließ jedem einschenken, trank Mr. Pickwick zu und begann die Geschichte von den Kobolden, die einen Totengräber entführten.

In einer alten Klosterstadt in diesem Teile unsrer Grafschaft wirkte vor langer, langer Zeit – vor so langer Zeit, daß die Geschichte wahr sein muß, weil unsre Urahnen schon unbedingt daran glaubten – ein gewisser Gabriel Grub als Totengräber auf dem Kirchhof. Daraus, daß ein Mann ein Totengräber und beständig von Sinnbildern der Sterblichkeit umgeben ist, folgt noch keineswegs, daß er ein mürrischer und melancholischer Mann sein muß. Die Leichenbesorger zum Beispiel sind die fröhlichsten Leute von der Welt, und ich hatte einmal die Ehre, mit einem sogenannten „Stummen“, Bern Gehilfen eines Begräbnisunternehmers, befreundet zu sein, der in seinem Privatleben und außer seinem Berufe ein so spaßhafter und jovialer Junge war, wie nur je einer ein lustiges Liedchen sang oder ein gutes, bis an den Rand gefülltes Glas Grog leerte, ohne den Atem zu verlieren. Allein Gabriel Grub war ein verdrießlicher, mürrischer, grämlicher Geselle – ein trübsinniger, menschenscheuer Kerl, der mit niemand als mit sich selbst und einer alten korbumflochtenen Flasche, die genau in seine große, tiefe Westentasche paßte, Umgang pflog und jedes fröhliche Gesicht mit einem solch bösartigen und verdrießlichen Blick ansah, daß man ihm nicht begegnen konnte, ohne sich verstimmt zu fühlen.

An einem Weihnachtsabend, als es eben zu dämmern begann, schulterte Gabriel seinen Spaten, zündete seine Laterne an und begab sich nach dem alten Kirchhof, denn er mußte bis zum nächsten Morgen ein Grab geschaufelt haben. Als er die gewohnte Straße entlangging, sah er durch die alten Fenster den Glanz des Feuers lustig schimmern und hörte lauten Jubel und fröhliches Lachen. Er gewahrte die geschäftigen Vorbereitungen für den folgenden Tag und roch die vielen herrlichen Düfte, die ihm aus den Küchenfenstern entgegenwogten. All das war seinem Herzen Galle und Wermut, und wenn hie und da eine Kinderschar aus den Häusern heraushüpfte, über die Straße sprang und, ehe sie noch an der gegenüberstehenden Tür anklopfen konnte, von einem Halbdutzend kleiner Lockenköpfe empfangen und zum gemeinsamen Spiel und Fest eingeladen wurde, lächelte er grimmig, faßte seinen Spaten fester und dachte an Masern, Scharlach, Halsentzündung, Keuchhusten und andre Trostquellen.

In solch glücklicher Gemütsverfassung schritt Gabriel seines Weges, die freundlichen Grüße der Nachbarn, die dann und wann an ihm vorüberkamen, mit einem kurzen mürrischen Knurren erwidernd, bis er in das dunkle Gäßchen einbog, das auf den Kirchhof führte. Er hatte sich bereits danach gesehnt, denn es war ein düsteres, trauriges Stück Weg, das die Leute aus der Stadt nur am hellen Mittag besuchten, wenn die Sonne schien. Er war daher nicht wenig entrüstet, als er mitten in diesem Heiligtum, das seit den Tagen des alten Klosters und der geschorenen Mönche das Sarggäßchen genannt wurde, eine Kinderstimme ein lustiges Weihnachtslied singen hörte. Als er weiterging und die Stimme näher kam, bemerkte er, daß sie einem kleinen Jungen angehörte, der mit schnellen Schritten das Gäßchen herabeilte, um eine von den kleinen Gesellschaften in der alten Straße zu treffen, und teils zur Unterhaltung, teils zur Vorbereitung auf die bevorstehende Feier aus vollem Halse sang. Gabriel wartete, bis der Junge vorbeikam, drückte ihn dann in eine Ecke und schlug ihm fünf- bis sechsmal die Laterne um die Ohren, nur um ihm das Modulieren zu lehren, und als der Knabe die Hand an den Kopf hielt und eine ganz andre Weise anstimmte, lachte Gabriel herzlich, trat in den Kirchhof und schloß das Tor hinter sich.

Er legte seinen Rock ab, stellte seine Laterne auf den Boden, stieg in das angefangne Grab und arbeitete wohl eine Stunde lang mit regem Eifer. Aber die Erde war hartgefroren, und es ging nicht so leicht, die Schollen aufzubrechen und hinauszuschaufeln, und wenn auch der Mond am Himmel stand, so war er kaum erst sichelförmig und warf nur einen matten Schein auf das Grab, das überdies noch im Schatten der Kirche lag. Zu jeder andern Zeit hätten diese Hindernisse Gabriel Grub sehr verdrießlich und mürrisch gemacht, aber es freute ihn so sehr, dem Jungen das Singen vertrieben zu haben, daß er sich über den langsamen Fortgang der Arbeit wenig grämte, und nachdem er sie für diesen Abend vollendet hatte, sah er mit grimmiger Lust in das Grab hinunter und brummte, sein Handwerkszeug zusammenraffend:

Billige Wohnung für jung und alt,
Schwarze Erde naß und kalt;
Ein Stein zu Häupten, ein Stein zu Fuß,
Und für die Würmer ein Hochgenuß.

„Ho! ho!“ lachte er, setzte sich auf den niedrigen Grabstein, auf dem er gewöhnlich ausruhte, und zog seine Weidenflasche hervor. „Ein Sarg um Weihnachten – auch ein Weihnachtsgeschenk. Ho! ho! ho!“

„Ho! ho! ho!“ wiederholte eine Stimme dicht neben ihm. Gabriel hielt erschrocken in seinem Geschäft, die Flasche an die Lippen zu setzen, inne und sah sich rings um. Der Grund des ältesten Grabes konnte nicht stiller und ruhiger sein als der Kirchhof im blassen Mondlicht. Der Rauhreif funkelte auf den Grabsteinen und blitzte gleich Diamanten auf dem steinernen Bildwerk der alten Kirche. Der Schnee lag hart und krustig wie eine weiße, glatte Decke über den Grabhügeln, als hätten die Leichen ihre Sterbetücher ausgebreitet Nicht das geringste Geräusch unterbrach die tiefe, feierliche Stille. Der Schall selbst schien erfroren zu sein, so kalt und ruhig war alles.

„Es war der Widerhall“, sagte Gabriel Grub und setzte die Flasche wieder an seine Lippen.

„Er war es nicht„, antwortete eine tiefe Stimme.

Gabriel sprang auf und blieb vor Bestürzung und Schrecken wie angewurzelt stehen, denn seine Augen ruhten auf einer Gestalt, deren Anblick ihm das Blut erstarren machte.

Auf einem aufrecht stehenden Grabstein dicht neben ihm saß ein seltsames, überirdisches Wesen, und Gabriel fühlte sogleich, daß es nicht von dieser Welt sein konnte. Die langen phantastischen Beine, die den Boden leicht hätten erreichen können, waren hinaufgezogen und kreuzten sich auf eine seltsame Weise; die nervigen Arme waren nackt, und die Hände ruhten auf den Knien. Auf dem kurzen runden Leib trug die Gestalt ein eng anschließendes Gewand, mit kleinen Litzen verziert, und auf dem Rücken hing ihr ein kurzer Mantel. Der Kragen war in seltsame Spitzen ausgeschnitten, die dem Gespenst als Krause oder Halstuch dienten, und die Schuhe liefen an den Zehen in lange Hörner aus. Auf dem Kopf trug es einen breitkrempigen Zuckerhut mit einer einzigen Feder. Das Gespenst, ganz mit Reif überzogen, sah aus, als säße es schon ein paar Jahrhunderte lang ganz behaglich auf dem Grabstein. Es saß vollkommen still, bleckte wie zum Hohn die Zunge heraus und sah Gabriel Grub mit einem Grinsen an, wie es eben nur ein Gespenst zuwege zu bringen vermag.

„Es war nicht der Widerhall“, wiederholte das Phantom.

Gabriel Grub war wie gelähmt und konnte kein Wort hervorbringen.

„Was hast du hier am Heiligen Abend zu schaffen?“ fragte das Gespenst mit strengem Ton.

„Ich mußte ein Grab schaufeln, Sir“, stammelte Gabriel.

„Welcher Sterbliche wandelt in einer Nacht wie diese auf Gräbern und Kirchhöfen?“

„Gabriel Grub! Gabriel Grub!“ schrie ein Chor wilder Stimmen, daß der Kirchhof widerhallte. Gabriel sah sich erschrocken rings um, konnte aber nichts entdecken.

„Was hast du in der Flasche da?“ fragte das Gespenst.

„Wacholder, Sir“, erwiderte der Totengräber und zitterte noch heftiger, denn er hatte den Schnaps von Schmugglern gekauft und dachte, das Gespenst könne vielleicht Beziehungen zum Zollamt haben.

„Wer wird auch in einer Nacht, wie diese ist, allein und auf dem Kirchhof Wacholder trinken?“ fragte das Gespenst.

„Gabriel Grub! Gabriel Grub!“ riefen die wilden Stimmen wieder. Das Gespenst warf einen boshaften Blick auf den erschrockenen Totengräber und fragte weiter mit erhobener Stimme:

„Und wer ist also unser gesetzmäßiges und rechtmäßiges Eigentum?“

Auf diese Frage antwortete der unsichtbare Chor mit einem Gesang, wie von einer großen Menschenmenge bei vollem Spiel der alten Kirchenorgel – eine Weise, die wie auf Windesflügeln zu den Ohren des Totengräbers getragen wurde und wie ein leichtes vorüberschwebendes Lüftchen hinstarb. Aber der Refrain war immer der gleiche; „Gabriel Grub! Gabriel Grub!“

Noch unheimlicher als zuvor grinste das Gespenst und sagte:

„Nun, Gabriel, was meinst du dazu?“

Der Totengräber rang nach Atem.

„Was meinst du hierzu, Gabriel?“ wiederholte das Phantom, zog seine Beine an beiden Seiten des Grabsteines hinauf und betrachtete die Hörner seiner Schuhe mit einem Wohlgefallen, als hätte es das modernste Paar Wellington-Stiefel von der ganzen Bondstreet an.

„’s ist – ’s ist – ganz kurios, Sir“, stammelte der Totengräber, halbtot vor Schrecken. „Ganz kurios und sehr hübsch; aber ich denke, ich konnte wieder ans Geschäft gehen und meine Arbeit vollenden, wenn Sie erlauben.“

„Arbeit?“ sagte das Gespenst. „Was für eine Arbeit?“

„Das Grab, Sir, das Grab“, stotterte der Totengräber.

„So, so, das Grab. Wer wird auch Gräber schaufeln und eine Freude daran finden, wenn alle übrigen Menschenkinder fröhlich sind!“

Und wieder riefen die geheimnisvollen Stimmen: „Gabriel Grub! Gabriel Grub!“

„Ich fürchte, Gabriel, meine Freunde begehren dein“, sagte das Gespenst und bleckte die Zunge noch weiter heraus, und es war eine fürchterliche Zunge. „Ich fürchte, Gabriel, meine Freunde begehren dein.“

„Mit Verlaub, Sir“, erwiderte der Totengräber schreckensbleich, „das ist nicht gut möglich, Sir; sie kennen mich nicht, Sir, und ich glaube nicht, daß mich die Herren je gesehen haben, Sir.“

„Da irrst du dich aber gründlich“, versetzte der Kobold. „Man kennt den Mann mit dem grämlichen, finsteren Gesicht gar wohl, der diesen Abend die Straße heraufkam und seine boshaften Blicke auf die Kinder warf und dabei sein Grabscheit fester an sich drückte. Man kennt doch den Mann, der in der Mißgunst seines Herzens den jungen schlug, bloß weil dieser heiter sein konnte und er nicht. Man kennt ihn, man kennt ihn.“ Und das Gespenst schlug ein lautes, gellendes Gelächter an, das das Echo zwanzigfältig zurückgab, zog seine Beine hinauf, stellte sich auf dem schmalen Rand des Grabsteines auf den Kopf oder vielmehr auf die Spitze seines Zuckerhutes und schoß mit außerordentlicher Gewandtheit einen Purzelbaum, der es gerade vor die Füße des Totengräbers brachte, wo es sich dann in der Stellung niederließ, die gewöhnlich die Schneider auf ihrem Arbeitstisch einnehmen.

„Es – es – tut mir wirklich leid, daß ich Sie verlassen muß, Sir“, begann der Totengräber und machte eine Bewegung, sich zu entfernen.

„Uns verlassen?“ rief das Gespenst. „Gabriel Grub will uns verlassen! Ho! ho! ho!“

In diesem Augenblick flammten die Kirchenfenster auf, als ob das ganze Gebäude in Brand stünde, dann erloschen die Lichter, die Orgel ertönte, und ganze Trupps von Kobolden, dem ersten wie aus dem Gesicht geschnitten, wogten in den Kirchhof herein und begannen über die Grabsteine Bock zu springen, immer einer hinter dem andern, ohne Atem zu schöpfen. Das erste Gespenst war ein ausgezeichneter Springer und mit ihm konnte sich keins von den andern messen; sogar in seiner außerordentlichen Angst bemerkte der Totengräber unwillkürlich, daß es im Gegensatz zu seinen Freunden, die sich damit begnügten, über gewöhnliche Grabsteine wegzusetzen, Familiengewölbe samt eisernen Gittern und allem Dazugehörigen mit Leichtigkeit übersprang, als wären es Meilensteine.

Endlich erreichte das Spiel eine betäubende Geschwindigkeit; die Orgel spielte schneller und schneller, und die Gespenster sprangen höher und höher, ballten sich wie Kugeln zusammen, rollten über den Boden hin und schnellten gleich Federbällen über die Grabsteine weg. Dem Totengräber wirbelte der Kopf und seine Beine wankten unter ihm, da schoß plötzlich der Gespensterkönig auf ihn zu, packte ihn am Kragen und fuhr mit ihm in die Erde hinab.

Als Gabriel Grub wieder Atem schöpfen konnte, sah er sich in einer Art großer Höhle, auf allen Seiten von einer Menge häßlicher, grimmig aussehender Kobolde umringt. In der Mitte saß auf einem erhöhten Sitz sein Freund vom Kirchhof, und neben ihm stand er selbst, der Fähigkeit, sich zu bewegen, gänzlich beraubt.

„Eine kalte Nacht“, sagte der König der Gespenster. „Eine sehr kalte Nacht. Holt uns ein Gläschen Warmen.“

Sofort verschwanden ein halbes Dutzend dienstbare Geister, auf deren Gesichtern ein beständiges Lächeln lag, was Gabriel vermuten ließ, daß es Höflinge seien, und kehrten sogleich mit einem Becher flüssigen Feuers zurück, den sie dem König kredenzten.

„Ah“, sagte das Gespenst, dessen Wangen und Kehle ganz durchsichtig wurden, als es die Flamme in sich sog, „das wärmt. Reicht Mr. Grub auch einen Becher.“

Vergebens wendete der unglückliche Totengräber ein, es sei ganz gegen seine Gewohnheit, bei Nacht etwas Warmes zu sich zu nehmen. Eins von den Gespenstern hielt ihn fest und ein anderes goß ihm die lodernde Flüssigkeit in die Kehle. Die ganze Gesellschaft brach in ein schallendes Gelächter aus, als er hustete und keuchte und sich die Tränen abwischte, die der brennende Trank seinen Augen entlockt hatte.

„Und nun“, sagte der König, bohrte das spitzige Ende seines Zuckerhutes auf höchst phantastische Art dem Totengräber ins Auge und verursachte ihm dadurch die fürchterlichsten Schmerzen, „und nun zeigt dem Mann der mürrischen Sinnesart einige von den Gemälden aus unsrer großen Galerie!“

Eine dichte Wolke, die den Hintergrund der Höhle in Dunkel gehüllt hatte, wich allmählich zurück, und in weiter Ferne wurde ein ärmliches, aber reinliches Zimmer sichtbar. Eine Schar kleiner Kinder war um ein helles Feuer versammelt, zerrte die Mutter am Kleide und tanzte um ihren Stuhl herum. Von Zeit zu Zeit erhob sich die Frau und zog den Fenstervorhang zurück und schaute hinaus, als ob sie jemand erwarte. Auf dem Tisch stand ein frugales Abendessen bereit, und ein Armstuhl war an den Kamin gerückt. Dann hörte man ein Pochen an der Tür, die Mutter öffnete, und die Kinder umringten sie und klatschten vor Freude in die Hände, als ihr Vater eintrat. Er war naß und müde und schüttelte den Schnee von seinen Kleidern, und als er sich vor dem Feuer zum Mahle niedersetzte, kletterten die Kinder auf seine Knie, und die Mutter setzte sich neben ihn, und alle waren voll Lust und Freude.

Aber fast unmerklich änderte sich die Szene. Das Zimmer verwandelte sich in ein kleines Schlafgemach, in dem das hübscheste und jüngste Kind im Sterben lag. Die Rosen seiner Wangen waren verblichen und der Glanz seines Auges erstorben. Und sogar der Totengräber betrachtete es mit einer vorher nie gefühlten Teilnahme, als es verschied. Die jungen Brüder und Schwestern versammelten sich um das Bettchen und ergriffen die abgezehrte kleine Hand. Sie war so kalt und schwer, daß sie erschreckt zurückfuhren und mit Schauder in das Gesicht des Kindes sahen, das so ruhig und still dalag und friedlich zu schlummern schien. Sie fühlten daß es tot war und jetzt als Engel aus einem Himmel voll Glanz und Seligkeit auf sie herniederblickte.

Wieder zog sich die leichte Wolke über das Gemälde, und abermals änderte sich die Szene. Vater und Mutter waren jetzt alt und hilflos, und die Zahl der Ihrigen hatte sich um mehr als die Hälfte vermindert. Aber Zufriedenheit und Heiterkeit lagen auf jedem Gesicht und strahlten aus jedem Auge, als sie sich um das Feuer scharten und einander alte Geschichten aus längst vergangenen Tagen erzählten. Langsam und still sank der Vater ins Grab, und bald darauf folgte ihm die Gefährtin seiner Sorgen und Mühen an die Stätte der Ruhe und des Friedens. Die Überlebenden knieten an ihrem Grabe und benetzten den Rasen, der es bedeckte, mit ihren Tränen, standen dann auf und entfernten sich traurig und niedergeschlagen, aber nicht mit bitterem Jammer oder verzweiflungsvollem Wehklagen, denn sie wußten, daß sie sich dereinst wiederfinden würden. Sie gingen an ihr Tagwerk und erlangten wieder die frühere Zufriedenheit und Heiterkeit.

Dann senkte sich eine Wolke auf das Gemälde und entzog es den Blicken des Totengräbers.

„Was sagst du jetzt?“ fragte das Gespenst und wandte sein breites Gesicht Gabriel Grub zu.

Gabriel murmelte so etwas wie: Es sei recht hübsch, und schlug beschämt die Augen vor den feurigen Blicken des Gespenstes nieder.

„Du bist mir ein jämmerlicher Mensch!“ sagte der Kobold im Tone grenzenloser Verachtung. „Du!“ Er schien noch mehr hinzufügen zu wollen, aber der Unwille erstickte seine Stimme. Er hob eins seiner gelenkigen Beine, schwenkte es über dem Kopf hin und her, als ob er damit zielen wolle, und versetzte dann Gabriel Grub einen derben Fußtritt, worauf sogleich die ganze Gespensterschar den unglücklichen Totengräber umringte und schonungslos mit den Füßen mißhandelte, ganz wie die Höflinge auf Erden, die auch treten, wen ihr Herr tritt, und in den Himmel heben, wen ihr Herr in den Himmel hebt.

„Zeigt ihm noch einige Gemälde“, befahl der König der Kobolde.

Die Wolke verschwand, und eine reiche, schöne Landschaft wurde sichtbar. Noch heutzutage sieht man eine solche eine halbe Meile von der alten Klosterstadt entfernt. Die Sonne leuchtete am reinen blauen Himmelszelt, das Wasser funkelte unter ihren Strahlen, und die Bäume sahen grüner und die Blumen heiterer unter ihrem belebenden Einfluß aus. Die Wellen schlugen plätschernd ans Ufer, die Bäume rauschten im leichten Winde, der durch ihr Laubwerk säuselte, die Vögel sangen auf den Zweigen, und die Lerche trillerte hoch in den Lüften ihr Morgenlied. Es war Frühe, ein schöner, duftender Sommermorgen; das kleinste Blatt, der dünnste Grashalm atmete Leben, die Ameise eilte an ihr Tagewerk; der Schmetterling flatterte spielend in den wärmenden Strahlen des Lichtes; Myriaden von Insekten entfalteten ihre durchsichtigen Flügel und freuten sich ihres kurzen glücklichen Daseins, und der Mensch weidete sein Auge an der blühenden Schöpfung, und alles war voll Glanz und Herrlichkeit.

„Du bist mir ein erbärmlicher Mensch!“ sagte der König der Gespenster noch verächtlicher als zuvor. Und wieder zielte er mit seinem Fuß, und wieder ließ er ihn auf die Schultern des Totengräbers niederfallen, und wieder ahmten die untergebenen Kobolde das Beispiel ihres Oberhauptes nach. Noch viele Male verschwand und erschien die Wolke, und manche Lehre erhielt Gabriel Grub, der mit einer Teilnahme zusah, die nichts zu vermindern imstande war, so sehr ihn auch seine Schultern von den Fußtritten der Kobolde schmerzten. Er sah, daß Menschen, die durch saure Arbeit ihr spärliches Brot im Schweiße ihres Angesichts erwarben, heiter und glücklich sein konnten und daß für die Unwissendsten und Ärmsten das freundliche Gesicht der Natur ein nie versiegender Quell der Freude war. Er sah andre, die in Luxus und Reichtum erzogen worden, unter Entbehrungen heiter sein und über Leiden erhaben, die manchen aus festerem Holz niedergebeugt haben würden, denn sie trugen die Bedingungen ihres Glücks, ihrer Zufriedenheit und Ruhe in der eignen Brust. Er sah, daß Frauen, die zartesten und gebrechlichsten von allen Geschöpfen Gottes, oft mehr Kummer, Widerwärtigkeiten und Mißgeschick überwandten als stärkere, weil ihr Herz von Liebe und Hingebung überfloß. Und er erkannte, daß Menschen, wie er, die ob des Frohsinns anderer neidisch grollten, das schlechteste Unkraut auf der schönen Erde waren. Und wie er das Gute in der Welt mit dem Bösen verglich, kam er zu dem Schluß, daß es nach allem eine recht erträgliche und achtbare Welt sei. Und kaum hatte er sich dieses Urteil gebildet, als sich die Wolke, die das letzte Gemälde verhüllt hatte, auf seine Sinne niedersenkte. Ein Gespenst nach dem andern zerfloß vor seinen Augen, und als das letzte verschwunden war, sank er in tiefen Schlaf.

Der Tag war angebrochen, als Gabriel Grub erwachte und einer ganzen Länge nach auf einer Grabplatte im Kirchhof lag, und neben ihm die leere Weidenflasche und Rock, Spaten und Laterne, alles vom nächtlichen Reif überzogen. Der Stein, auf dem er das Gespenst hatte sitzen sehen, stand bolzengerade vor ihm, und nicht weit von ihm war das Grab, das er am Abend zuvor geschaufelt. Anfangs zweifelte er an der Wirklichkeit dessen, was er erlebt hatte; aber der stechende Schmerz in seinen Schultern, wenn er aufzustehen versuchte, brachte ihn zur Überzeugung, daß die Fußtritte der Gespenster keine Phantasiebilder gewesen. Er wurde zwar wieder wankend in seinem Glauben, als er keine Fußtapfen im Schnee fand, in dem die Kobolde mit den Grabsteinen Bocksprung gespielt hatten, aber schnell erinnerte er sich, daß Geister ja keine sichtbaren Eindrücke hinterlassen konnten. So erhob er sich denn, so gut es ihm seine Rückenschmerzen erlaubten, schüttelte den Reif von seinem Rock, zog sich an und wendete seine Schritte der Stadt zu.

Aber er war jetzt ein anderer Mensch und konnte den Gedanken nicht ertragen, an einen Ort zurückzukehren, wo man seiner Reue gespottet und seiner Bekehrung mißtraue hätte. Er schwankte einen Augenblick, dann aber schlug er den nächsten besten Weg ein, um sein Brot anderwärts zu suchen.

Laterne, Spaten und Weidenflasche wurden am nämlichen Tag auf dem Kirchhof gefunden. Anfangs stellte man allerlei Vermutungen über das Schicksal des Totengräbers an, aber bald setzte sich der Glaube fest, er sei von Kobolden entführt worden. Und es fehlte nicht an glaubwürdigen Zeugen, die ihn auf dem Rücken eines kastanienbraunen einäugigen Rosses mit dem Hinterteil eines Löwen und dem Schwanz eines Bären deutlich hatten durch die Luft reiten sehen. So wurde das Gerücht zur festen Annahme, und der neue Totengräber pflegte den Neugierigen gegen ein geringes Trinkgeld ein ziemlich großes Stück von dem Wetterhahn der Kirche zu zeigen, das, von dem besagten Pferde auf seiner Luftfahrt zufälligerweise abgestoßen, ein oder zwei Jahre nachher auf dem Kirchhof gefunden worden war.

Leider wurde der Glaube an diese Geschichte durch die unerwartete Erscheinung Gabriel Grubs selbst erschüttert. Er war wohl zehn Jahre älter, ein von der Gicht geplagter und heimgesuchter, aber zufriedener Greis und erzählte seine Geschichte dem Pfarrer und auch dem Bürgermeister, und im Laufe der Zeit wurde sie zur historischen Tatsache erhoben, als die sie noch bis auf den heutigen Tag gilt. Diejenigen, die zuerst an die Wetterhahngeschichte geglaubt und sich so getäuscht sahen, waren nicht so leicht wieder zu bewegen, ihren Glauben ein zweites Mal aufs Spiel zu setzen, und so taten sie denn, so weise sie konnten, zuckten die Achseln, schüttelten die Köpfe und murmelten so etwas, wie wenn Gabriel Grub den Wacholder ganz ausgetrunken hätte und dann auf der Grabplatte eingeschlafen wäre, und erklärten das, was er in der Gespensterhöhle gesehen haben wollte, dadurch, daß sie sagten, er habe inzwischen die Welt gesehen und sei durch Erfahrung klüger geworden. Aber diese Ansicht, die zu keiner Zeit viele Anhänger zählte, verlor sich allmählich, und die Sache mag sich nun so oder so abgespielt haben, da Gabriel Grub bis ans Ende seiner Tage von der Gicht heimgesucht wurde, so enthält diese Geschichte wenigstens eine Moral, und wenn sie auch nichts Besseres lehrt, so lehrt sie doch so viel: Wenn ein Mann um Weihnachten trübsinnig ist und allein trinkt, so wird dadurch sein Befinden nicht im geringsten verbessert, das Getränk mag so gut sein, wie es will, oder sogar noch um vieles besser und feuriger als das, das Gabriel Grub in der Gespensterhöhle trank oder getrunken zu haben glaubte.

Zweiundzwanzigstes Kapitel


Zweiundzwanzigstes Kapitel

Mr. Pickwick reist nach Ipswich und erlebt ein romantisches Abenteuer mit einer Dame in mittleren Jahren und gelben Haarwickeln.

„Das is wohl das Gepäck von deinem Herrn, Sammy?“ fragte Mr. Weller senior seinen zärtlichen Sohn, als dieser mit einer Reisetasche und einem kleinen Mantelsack den Hof des Gasthauses „Zum Ochsen“ in Whitechapel betrat.

„Was denn sonst?“ erwiderte Mr. Weller junior, legte seine Bürde auf dem Hofe ab und setzte sich darauf. „Der Gouverneur wird sofort erscheinen.“

„Kommt wohl in ’nem Kabriolett?“

„Ja. Tut für acht Pence zwei Meilen weit sein Leben riskieren. Aber wie geht’s heute früh der Stiefmutter?“

„Is doll geworden, Sammy, ganz doll“, erwiderte Mr. Weller senior mit ernstem Ton. „Is unter die Methodisten gegangen, Sammy, und aasig fromm geworden. Sie is viel zu gut für mir, Sammy. Ich fühle das: ich verdiene ihr nich.“

„Das is aber zuviel Selbstverleugnung von dir“, bemerkte Mr. Samuel.

„So is es“, seufzte sein Vater. „’ne neue Erfindung hat es ihr angetan; erwachsene Leute noch mal geboren werden lassen, Sammy; die neue Geburt, glaube ich, nennen sie das. Ich möchte ja gerne das System in Tätigkeit sehen, Sammy. Es wäre ja herrlich, wenn deine Stiefmutter noch mal geboren würde. Würde ihr sofort ’ne Amme mieten. – Was glaubst du wohl, was die Weiber vor’n paar Tagen gemacht haben?“ fuhr Mr. Weller nach einer kurzen Pause fort und legte einen Zeigefinger bedeutungsvoll an die Nase. „Was glaubst du wohl, was die vor ’n paar Tagen gemacht haben?“

„Kann ich doch nich wissen“, erwiderte Sam.

„Veranstalten die doch für ’nen Kerl, den sie ihren Hirten nennen, ’n großartigen Tee. Ich stehe just am Bilderladen auf unserem Platz und begaffe mir das Gepinsel, da lese ich ’nen Zettel, wo drauf steht, die Karte kostet ’ne halbe Krone. ,Man wende sich an dem Komitee: Mrs. Weller.‘ Ich komme nach Hause, da hält der Komitee seine Sitzung in unserer Hinterstube. Vierzehn Weiber. Ich wollte, du hättest sie gehört, Sammy. Sie stimmten über Beschlüsse ab und setzten Beiträge fest und trieben noch mehr Blödsinn. Gut. Weil mich nun deine Stiefmutter plagt und ich auch neugierig werde, haue ich meinen Namen auch runter für eine Karte, putze mir am Freitagabend um sechs Uhr raus und mache mir mit der Alten auf ’n Weg. Wir latschen in ’ne muffige Stube mit ’nem Teeserviß für dreißig Personen, und ’n ganzer Schwärm Weiber fängt an, untereinander zu flüstern und gafft mich an; die hatten anscheint noch nie ’n stattlichen Achtundfünfziger gesehen. Auf einmal is ’n Mordsspektakel, und „n langbeiniger Kerl mit ’ner roten Nase und ’nem weißen Halstuch um kommt reingestolpert und singt: ,Der Hirte kommt zu seiner treuen Herde‘; hinter ihm kommt so’n fetter Schwarzkittel mit ’ner breiten, blassen Visage und grinst wie ’n Affe. Empfanget den Friedenskuß‘, sagt er und küßt die Weiber, eins nach dem andern; und wie er damit fertig is, fängt doch der mit der roten Nase an. Ich denke mir, es is eigentlich kein schlechter Gedanke, besonders wo neben mir ’ne sehr hübsche Frau saß und deine Stiefmutter gerade rausgegangen war. Da fangen die doch an zu singen. Und dann ging es ans Essen. Ich wollte, du hättest gesehen, wie der Hirte in den Schinken und den Semmelkuchen reingehauen hat! So hat überhaupt noch niemals einer gegessen und getrunken. Der Rotnasige war gar nichts gegen ihn. Gut. Wie denn der Tee vorüber war, legten sie wieder mit dem Lobgesang los, und denn predigte der Hirte. Es war nicht mal so übel, wenn man bedenkt, wie schwer ihm die Semmeln im Magen liegen mußten. Auf einmal bricht es doch bei ihm aus, und er brüllt: ,Wo ist der Sünder, wo ist der elende Sünder?‘ und alle Weiber sehen mir persönlich an und fangen an zu schluchzen; schlimmer, als wenn sie sterben wollten. Das kam mir ja nun seltsam vor, aber ich sagte nichts. Mit einemmal legt der doch wieder los, sieht mir persönlich scharf in die Pupille und sagt: ,Wo ist der Sünder, wo ist der elende Sünder?‘, und alle Weiber schluchzen wieder; noch zehnmal lauter als vorher. Das brachte mich denn doch auf ’n Baum. Ich trete also ’n paar Schritte vor und sage: .Guter Freund‘, sage ich, ,war diese Bemerkung auf mir gemünzt?‘ – Anstatt daß der nun mir um Verzeihung bitten tut, wie ein Schendlmän das getan hätte, wird der doch noch anzüglicher und nennt mich ’n Gefäß, Sammy, ’n Gefäß des Zornes! Da war es aber ganz aus. Zuerst verpaßte ich ihm zwei oder drei für ihn selbst und denn noch zwei oder drei zur Weiterleitung an den Rotnasigen, und denn machte ich mich dünne. Ich wollte, du hättest gehört, Sammy, wie die Weiber geschrien haben, wie sie den Hirten unter dem Tisch vorpulten. – Hallo, da ist ja auch dein Herr in Lebensgröße.“

Noch während Mr. Weller so sprach, stieg Mr. Pickwick aus einem Kabriolett und trat in den Hof.

„’n hübscher Morgen, Sir“, grüßte Mr. Weller senior.

„In der Tat sehr schön“, antwortete ein rothaariger Mann mit einer vorwitzigen Nase und einer blauen Brille, der sich zu gleicher Zeit mit Mr. Pickwick aus einem Kabriolett geschoben hatte. „Reisen Sie nach Ipswich, Sir?“

„Ja“, erwiderte Mr. Pickwick.

„Außerordentlicher Zufall. Ich auch.“

Mr. Pickwick verbeugte sich.

„Haben Sie einen Außenplatz?“

Mr. Pickwick verbeugte sich wieder.

„Merkwürdig, ich auch“, sagte der Rothaarige. „Wir machen also de facto die Reise mitsammen.“ – Der Rothaarige, der ein sehr wichtig aussehender, spitznasiger, geheimnisvoll tuender Herr war und den Vögeln die Gewohnheit abgesehen zu haben schien, jedesmal, wenn er etwas vorbrachte, den Kopf in die Höhe zu werfen, lächelte, als hätte er eine der wichtigsten Entdeckungen gemacht, auf die jemals der menschliche Geist gekommen.

„Freut mich außerordentlich, eine so angenehme Gesellschaft zu haben, Sir“, sagte Mr. Pickwick.

„Oh“, erwiderte der neue Ankömmling, „ganz meinerseits, ganz meinerseits. Gesellschaft, sehen Sie, Gesellschaft ist – ist – ist eben doch etwas ganz andres als Einsamkeit, nicht wahr?“

„Nich zu leugnen“, mischte sich Mr. Weller junior mit einem freundlichen Lächeln ins Gespräch. „Selbstverständlich, wie der Mann meinte, der Hundefleisch verkaufte, als ihm die Magd sagte, er wäre kein Schendlmän nich.“

„Hm“, bemerkte der Rothaarige und maß Mr. Weller mit einem hochfahrenden Blick von Kopf bis zu Fuß. „Ein Freund von Ihnen, Sir?“

„Nicht gerade ein Freund“, erwiderte Mr. Pickwick halblaut. „Er ist mein Bedienter. Aber ich lasse ihm manches durchgehen, da ich ihn, unter uns gesagt, für einen originellen Kopf halte und ein bißchen stolz auf ihn bin.“

„So, so“, sagte der Rothaarige, „doch das ist, möchte ich sagen, Geschmackssache. Ich bin kein Freund von Originalität; ich kann sie nicht leiden; sehe ihre Notwendigkeit nicht ein. – Ihr Name, Sir?“

„Hier ist meine Karte, Sir“, erwiderte Mr. Pickwick, dem die plötzliche Frage und die sonderbaren Manieren des Unbekannten höchst ergötzlich vorkamen.

„Ah“, sagte der Rothaarige und legte die Karte in seine Brieftasche. „Pickwick. Sehr schön. Es ist mir immer lieb, wenn ich den Namen eines Menschen weiß; man erspart sich manche Unannehmlichkeit. Hier, meine Karte, Sir. Magnus ist mein Name. Ist das nicht ein hübscher Name, Sir?“ „In der Tat, ein sehr hübscher Name“, gab Mr. Pickwick zu, kaum imstande, ein Lächeln zu unterdrücken.

„Nicht wahr?!“ fuhr Mr. Magnus fort. „Sie werden bemerken, es steht auch ein schöner Taufname davor. Erlauben Sie, Sir, wenn Sie die Karte ein wenig schief halten, etwa auf diese Art, so fällt das Licht auf den Hauptstrich. Hier – Peter Magnus. – Klingt gut, nicht wahr, Sir?“ „Sehr“, bestätigte Mr. Pickwick.

„Eigne Sache das mit den Anfangsbuchstaben, Sir. Sie werden bemerken: P. M. = post meridiem. In der Eile unterzeichne ich mich oft, in Briefen an gute Bekannte, ,Nachmittag‘, und das belustigt meine Freunde immer sehr, Mr. Pickwick.“

„Es läßt sich denken, daß es ihnen viel Spaß machen muß“, versetzte Mr. Pickwick, Mr. Magnus Freunde um ihre Anspruchslosigkeit beneidend. „Schenlmen“, meldete der Stallknecht, „es ist angespannt. Wenn’s gefällig ist …“

„Haben Sie mein Gepäck nicht vergessen?“ fragte Mr. Magmas.

„Alles in Ordnung, Sir.“

„Ist der rote Reisesack drin?“

„Alles in Ordnung, Sir.“

„Und der gestreifte Sack?“

„Unterm Kutschbock, Sir.“

„Und das Papierpaket?“

„Unter dem Sitz, Sir.“

„Und das lederne Hutfutteral?“

„Alles drin, Sir.“

„Nun, wollen Sie nicht einsteigen?“ fragte Mr. Pickwick.

„Sie entschuldigen“, erwiderte Magnus und blieb auf dem Rade stehen. „Aber in diesem Zustand von Ungewißheit kann ich nicht einsteigen. Ich sehe es dem Menschen an, daß das lederne Hutfutteral nicht darin ist.“

Die feierlichen Verwahrungen des Hausknechts waren gänzlich fruchtlos, und das lederne Hutfutteral mußte aus den tiefsten Tiefen des Kutschbockkastens herausgefischt werden, um Mr. Magnus zu überzeugen. Nachdem er sich über diesen Punkt beruhigt hatte, quälte ihn eine böse Ahnung, erstens, sein roter Reisesack sei verlegt, und zweitens, sein gestreifter Sack sei gestohlen, und endlich, das Papierpaket sei aufgegangen. Erst als er sich durch eignen Augenschein von der Grundlosigkeit seiner sämtlichen Vermutungen überzeugt hatte, ließ er sich überreden, auf die Kutsche zu klettern.

„Sammy“, sagte Mr. Weller senior darauf zu seinem Sohn, „sei deinem Herrn beim Aufsteigen behilflich! Hoch das Bein, Sir; geben Sie mir Ihre Hand, Sir! Und jetzt rauf! Sie waren aber auch leichter, als Sie noch ein Knabe waren, Sir!“

„Das allerdings, Mr. Weller“, erwiderte Mr. Pickwick atemlos, aber gut gelaunt, als er neben ihm Platz nahm.

„So, und jetzt mach, daß du auf den Bock kommst, Sammy“, sagte Mr. Weller. „Willem, laß die Zügel los. Achtung vor dem Torweg von wegen Köpfe und so! Tortenaufsatz runter, wie der Pastetenbäcker sagte. Gut so, Willem, und jetzt ab dafür!“

Und die Kutsche rasselte Whitechapel hinauf zur Bewunderung der ganzen Einwohnerschaft dieses ziemlich stark bevölkerten Viertels.

„Ziemlich mäßige Nachbarschaft, Sir“, bemerkte Sam und griff an seinen Hut, wie er es immer zu tun pflegte, wenn er ein Gespräch mit seinem Herrn anknüpfte.

„Wahrhaftig ja, Sam“, erwiderte Mr. Pickwick mit einem Blick auf das Gewimmel in der schmutzigen Straße.

Bald hatten sie den Schlagbaum in Mile End erreicht. Ein tiefes Stillschweigen herrschte während der ersten zwei bis drei Meilen, dann wandte sich Mr. Weller senior unvermittelt zu Mr. Pickwick und sagte:

„So ’n Baummensch, Sir, führt doch ’n wunderliches Leben.“

„Ein was?“ fragte Mr. Pickwick.

„’n Baummensch.“

„Was verstehen Sie unter einem Baummenschen?“ fragte Mr. Peter Magnus.

„Der Alte meint ’n Schlagbaumwächter, meine Herren“, erklärte Mr. Weller junior.

„Ah, ich verstehe“, sagte Mr. Pickwick. „Ja, ein sehr sonderbares Leben. Sehr unbequem.“

„Sind aber auch alles Leute, die schon mal im Leben ausgerutscht sind“, bemerkte Mr. Weller sen. „Und die Folge is, daß sie sich aus der Welt zurückziehen und an die Bäume retirieren; nämlich erstens, damit sie alleine sind, und denn, damit sie sich an der Menschheit können rächen und ihr Zoll abnehmen.“

„Wahrhaftig“, sagte Mr. Pickwick, „das ist mir vollkommen neu.“

„Tatsache, Sir“, versicherte Mr. Weller. „Wenn es Schendlmen wären, würde man sie Misantropfen nennen, so sind es bloß Baummenschen.“

Durch solche und ähnliche Unterhaltungen, die den unschätzbaren Reiz hatten, das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden, verkürzte Mr. Weller während des größten Teiles des Tages den Herren die Langeweile der Reise. An Stoff zum Gespräch fehlte es nie, denn selbst in dem Falle, daß in seiner Redseligkeit eine Pause eintrat, wurde sie durch Mr. Magnus mehr als hinreichend ergänzt, der ein außerordentliches Verlangen an den Tag legte, sich mit den Privatverhältnissen seiner Reisegefährten bekannt zu machen und sich außerdem auf jeder Station mit lauter Stimme ängstlich nach der Sicherheit der beiden Säcke, des ledernen Hutfutterals und des Papierpakets zu erkundigen.

In der Hauptstraße von Ipswich, linker Hand, nicht weit von dem freien Platz vor dem Rathaus, steht ein Gasthof, der weit und breit unter dem Namen „Das große weiße Roß“ bekannt ist und durch ein steinernes, wütendes Tier mit wehender Mähne und fliegendem Schweife über der Haupttür, das eine entfernte Ähnlichkeit mit einem wahnsinnigen Karrengaul hat, noch mehr in die Augen fällt. „Das große weiße Roß“ ist in der Nachbarschaft wegen der Eigenschaft berühmt, die es mit Preisochsen oder in der Grafschaftschronik aufgezeichneten Rüben oder ungeheuren Schweinen teilt – nämlich wegen seines riesenhaften Umfanges. Nirgends auf der Welt trifft man wieder solche Labyrinthe von Gängen ohne Fußteppiche, solche Reihen dumpfiger, finsterer Zimmer, eine solche Anzahl Speise- oder Schlafgrotten unter einem Dache an wie zwischen den vier Wänden des „Großen weißen Rosses“ in Ipswich.

„Steigen Sie auch hier ab, Sir?“ fragte Mr. Peter Magnus, als der gestreifte Sack und der rote Sack und das lederne Hutfutteral und das Papierpaket sämtlich im Hausgang untergebracht waren. „Steigen Sie auch hier ab, Sir?“

„Ja“, erwiderte Mr. Pickwick.

„Nein, es ist wirklich ein außerordentliches Zusammentreffen“, rief Mr. Magnus. „Denken Sie nur, ich steige auch hier ab. Wir speisen doch zusammen?“

„Mit Vergnügen“, erwiderte Mr. Pickwick. „Ich weiß übrigens nicht gewiß, ob ich hier nicht einige Freunde treffe. ~ Ist ein Herr namens Tupman hier, Kellner?“

Ein korpulenter Gentleman mit einer schon vierzehn Tage benutzten Serviette unter dem Arm und mit ebenso alten Strümpfen an den Beinen unterbrach auf Mr. Pickwicks Frage seine Beschäftigung, die Straße hinunterzuspähen, musterte eine Minute lang das Äußere des kecken Fragestellers vom Deckel seines Hutes bis zum untersten Gamaschenknopf und erwiderte dann mit Nachdruck: „Nein!“

„Auch kein Herr namens Snodgraß?“

„Nein!“

„Oder Winkle?“

„Nein!“

„Dann sind meine Freunde heute also noch nicht angekommen“, bemerkte Mr. Pickwick. „Wir werden demnach allein speisen. – Geben Sie uns ein Extrazimmer, Kellner.“

Auf diese Aufforderung hin ließ sich der dicke Gentleman herab, dem Hausknechte zu befehlen, das Gepäck dir Herren hineinzutragen, und führte sie sodann durch einen langen finstern Gang in ein großes ungemütliches Zimmer mit einem rußigen Kamin, in dem sich ein kleines Feuerchen jämmerlich abmühte, lustig zu brennen und dem entmutigenden Einfluß der Örtlichkeit Trotz zu bieten. Nach Verlauf einer Stunde wurde den Reisenden ein Stück Fisch und geröstetes Ochsenfleisch vorgesetzt, und als der Tisch abgeräumt war, zogen die Herren Pickwick und Peter Magnus ihre Stühle ans Feuer. Sie bestellten zunächst eine Flasche Portwein und bekamen die denkbar jämmerlichste Sorte zum denkbar höchsten Preis, womit dem Wirt gedient war; sodann tranken sie Grog, womit ihnen selbst gedient war.

Mr. Peter Magnus hatte von Natur einen sehr großen Hang zur Mitteilsamkeit, und der Grog brachte eine so wunderbare Wirkung hervor, daß er bald die verborgensten Geheimnisse seines Herzens enthüllte. Nachdem er ein langes und breites von sich, seiner Familie, seinen Verbindungen, seinen Freunden, seinen Erholungen, seinen Geschäften und seinen Brüdern erzählt hatte, nahm er Mr. Pickwick mehrere Minuten lang durch seine blauen Brillengläser in Augenschein und fragte dann mit bescheidener Miene:

„Und warum, meinen Sie, warum, meinen Sie, Mr. Pickwick, daß ich hierhergereist bin?“

„Auf mein Wort“, erwiderte Mr. Pickwick, „ich kann es unmöglich erraten. Geschäfte halber vielleicht?“

„Zum Teil getroffen, Sir“, versetzte Mr. Peter Magnus. „Zum Teil aber auch fehlgeschossen. Raten Sie noch einmal, Mr. Pickwick.“

„Wahrhaftig“, versicherte Mr. Pickwick, „ich muß mich Ihnen auf Gnade und Ungnade ergeben, ob Sie’s mir sagen wollen oder nicht, denn erraten kann ich es nicht, und wenn ich die ganze Nacht darüber nachdächte.“

„Hihihi!“ kicherte Mr. Peter Magnus verschämt. „Was würden Sie denken, Mr. Pickwick, wenn ich hierhergekommen wäre, um einer Dame einen Heiratsantrag zu machen? Hi, hi, hi.“

„Was ich denken würde? Je nun, daß Sie höchstwahrscheinlich Erfolg haben werden“, erwiderte Mr. Pickwick mit seinem freundlichsten Lächeln. „Ah, glauben Sie das wirklich, Mr. Pickwick? Wirklich?“

„Ganz gewiß.“

„Aber Sie scherzen vielleicht.“

„Nein, nein, gewiß nicht“

„Nun“, sagte Mr. Magnus, „um Ihnen ein kleines Geheimnis zu verraten – ich glaube es auch. Ich will Ihnen auch nicht länger verhehlen, Mr. Pickwick, obgleich ich von Natur fürchterlich eifersüchtig bin – ungeheuer: die Dame ist hier im Hause.“ Mr. Magnus nahm seine Brille ab, um besser blinzeln zu können, und setzte sie dann wieder auf.

„Deshalb also sind Sie vor dem Essen so oft aus dem Zimmer gelaufen?“ fragte Mr. Pickwick schalkhaft.

„Pst – freilich, ja. Das war’s. Ich war natürlich nicht so töricht, mich ihr zu zeigen.“

„Nicht?“

„Nein; das geht doch nicht, wenn man eben erst von der Reise kommt; ich will bis morgen warten, Sir – dann habe ich doppelte Chancen. In diesem Reisesack, Mr. Pickwick, befindet sich ein Anzug, und in diesem Futteral ein Hut, von denen ich mir eine unfehlbare Wirkung verspreche.“

„So, so“, sagte Mr. Pickwick.

„Ja. Sie müssen bemerkt haben, wie besorgt ich heute morgen darum war. Ich glaube, ein solcher Anzug und ein solcher Hut sind überhaupt nicht mehr für Geld zu haben, Mr. Pickwick.“

Mr. Pickwick beglückwünschte den beneidenswerten Eigentümer der unwiderstehlichen Kleidungsstücke zu seiner Akquisition, und der Freier versank auf einige Augenblicke in tiefes Nachsinnen.

„Es ist eine schöne Person“, begann er dann wieder.

„So?“ fragte Mr. Pickwick.

„Sehr schön. Sie wohnt ungefähr zwanzig Meilen von hier, Mr. Pickwick. Ich erfuhr, daß sie diesen Abend und morgen noch den ganzen Vormittag hierbleiben wird, und bin hergereist, um die günstige Gelegenheit zu benützen. Meiner Ansicht nach ist ein Gasthof der geeignetste Ort, um einer ledigen Dame einen Antrag zu machen. Auf der Reise wird ihr die Verlassenheit ihrer Lage fühlbarer, als wenn sie zu Hause ist. Was halten Sie davon, Mr. Pickwick?“

„Es leuchtet mir sehr ein“, versicherte Mr. Pickwick.

„Ich bitte um Verzeihung, Mr. Pickwick“, begann Mr. Peter Magnus wieder, „aber ich bin von Natur etwas wißbegierig – Was mag Sie hierhergeführt haben?“

„Eine weit weniger angenehme Sache“, erwiderte der Gelehrte, dem bei der bloßen Erinnerung das Blut in die Wangen stieg. „Ich bin hierhergekommen, Sir, um die Falschheit und Verräterei einer Person zu entlarven, in deren Ehrenhaftigkeit und Treue ich einstens unbegrenztes Vertrauen gesetzt habe.“

„O Himmel“, rief Mr. Peter Magnus, „das ist freilich sehr unangenehm. Es handelt sich wohl um eine Dame? Nicht wahr? Ich merke schon, Mr. Pickwick, ich merke schon. Ich möchte Ihren Gefühlen um alles in der Welt natürlich nicht zu nahe treten, aber schmerzlich so was, Sir, sehr schmerzlich. Scheuen Sie sich nicht, Mr. Pickwick, wenn Sie Ihren Gefühlen Luft machen wollen. Ich weiß, was es heißt, in der Liebe getäuscht werden, Sir. Ich selbst habe schon drei- oder viermal derartige Erfahrungen gemacht.“

„Ich bin Ihnen für Ihre Teilnahme an dem, was Sie für den Grund meines Ärgers halten, sehr verbunden“, sagte Mr. Pickwick, zog seine Uhr auf und legte sie auf den Tisch, „aber …“

„Nein –nein“, fiel Peter Magnus ein. „Kein Wort mehr. Es tut Ihnen weh, ich sehe es. Wie spät ist es, Mr. Pickwick?“

„Zwölf Uhr durch.“

„Du lieber Himmel, da ist es ja höchste Zeit, schlafen zu gehen. Ich darf nicht länger aufbleiben, sonst sehe ich morgen zu blaß aus, Mr. Pickwick.“

Schon der bloße Gedanke an eine solche Möglichkeit jagte ihm einen derartigen Schrecken ein, daß er aufsprang, dem Stubenmädchen klingelte und, nachdem der gestreifte Reisesack, der rote Reisesack, das lederne Hutfutteral und das Papierpaket in sein Schlafzimmer gebracht worden waren, sich mit einem lackierten Leuchter nach dem einen Ende des Hauses zu rückzog, während Mr. Pickwick, mit einem andern lackierten Leuchter bewaffnet, durch eine Unzahl verschlungener Gänge nach dem seinigen geführt wurde.

„Dies ist Ihr Zimmer, Sir“, sagte das Stubenmädchen.

Mr. Pickwick sah sich um. Es war ein ziemlich geräumiges, mit zwei Betten versehenes Gemach, in dem ein Feuer brannte –jedenfalls ein weit wohnlicherer Auf enthalt, als er sich nach allem, was er bisher von dem Komfort des „Großen weißen Rosses“ gesehen, vorgestellt hätte.

„Im andern Bett schläft natürlich niemand?“

„Bewahre, Sir“, erwiderte das Mädchen verschämt.

„Sehr gut! Sagen Sie meinem Diener, ich bedürfe seiner heute nicht mehr, aber morgen solle er mir um halb neun Uhr warmes Wasser heraufbringen.“

„Sehr wohl, Sir.“

Mr. Pickwick eine gute Nacht wünschend, zog sich das Stubenmädchen zurück und ließ ihn allein.

Mr. Pickwick setzte sich vor den Kamin, und Bilder aller An zogen an seinem Geiste vorüber. Zuerst dachte er an seine Freunde, und wann er sie wohl wiedersehen werde, dann wanderten seine Gedanken zu Mrs. Marta Bardell und von ihr in die düstere Schreibstube von Dodson und Fogg. Von Dodson und Fogg schweiften sie mitten in die Geschichte von dem seltsamen Klienten ab und kehrten in das „Große weiße Roß“ in Ipswich zurück, wo sie sein Bewußtsein noch klar genug fanden, um ihn gewahren zu lassen, daß er eben im Begriff war, einzuschlafen. Er stand auf und wollte sich entkleiden, da erinnerte er sich, daß er seine Uhr unten auf dem Tisch habe liegenlassen.

Diese Uhr stand nun bei Mr. Pickwick in besonderer Gunst, da er sie eine größere Anzahl von Jahren hindurch, als wir uns hier anzugeben berufen fühlen, unter dem Schatten seiner Weste mit sich herumgetragen hatte. Noch niemals hatte Mr. Pickwick auch nur an die Möglichkeit gedacht, einzuschlafen, ohne sie unter seinem Kopfkissen oder in der Uhrtasche über seinem Kopf ticken zu hören. Es war bereits spät, und da er zu dieser Stunde der Nacht nicht mehr läuten wollte, schlüpfte er wieder in seinen Rock, den er soeben abgelegt hatte, nahm den lackierten Leuchter und ging leise die Treppe hinunter.

Je mehr Stufen er hinunterging, desto mehr schien er dann wieder hinaufsteigen zu müssen, und wenn er in einen schmalen Gang gekommen war und sich bereits Glück wünschte, den Hausflur erreicht zu haben, zeigte sich immer wieder eine neue Treppe seinen erstaunten Blicken. Endlich gelangte er in den mit Steinplatten belegten Vorsaal, den er, soviel er sich erinnerte, beim Eintritt in das Haus gesehen hatte. Er durchsuchte Gang für Gang, öffnete ein Zimmer nach dem andern, und endlich, als er bereits im Begriff war, voll Verzweiflung seine Nachforschungen aufzugeben, fand er die Tür des Zimmers, in dem er den Abend zugebracht hatte, und sah seine vermißte Uhr auf dem Tisch liegen. Triumphierend steckte er sie ein und begab sich sofort auf den Rückweg nach seinem Schlafzimmer. War aber seine Herreise schon mit Schwierigkeiten verbunden gewesen, so gestaltete sich sein Rückzug noch unendlich mühseliger.

In jeder Richtung zweigten Türreihen ab, vor denen Stiefel von jeglicher Gestalt, Fasson und Größe standen. Wohl ein dutzendmal faßte er leise die Klinke einer Schlafzimmertür, die der seinigen glich, aber jedesmal ertönte im Innern ein barsches: „Zum Teufel, wer ist da?“, oder eine ähnliche Begrüßung, und er machte sich dann mit einer wahrhaft bewunderungswürdigen Schnelligkeit auf den Zehen davon. Er fühlte sich bereits am Rande der Verzweiflung, als endlich eine offne Tür seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Er blickte hinein – endlich die rechte. Da standen die zwei Betten, deren Lage ihm noch vollkommen erinnerlich war, und in dem Kamin brannte das Feuer. Seine Kerze, die schon, als sie ihm ausgehändigt worden war, nicht zu den längsten gehört hatte, war in dem Luftzug, dem er sie auf seiner Wanderung durch die langen Gänge ausgesetzt hatte, heruntergebrannt und fiel, als er eben die Tür hinter sich schloß, in die Röhre des Leuchters hinein. Hat nichts zu bedeuten, tröstete er sich, ich kann mich ebensogut beim Schein des Feuers auskleiden.

Die Betten standen, das eine rechts, das andre links von der Tür und ließen an der Wand einen Gang frei, der breit genug war, daß man von ihm aus ins Bett steigen konnte. Mr. Pickwick zog die Vorhänge seines Bettes auf der Außenseite sorgfältig zu, setzte sich auf den Strohsessel, der am Ende des besagten Ganges neben dem Bett stand, und entledigte sich langsam seiner Schuhe und Gamaschen. Dann legte er seinen Rock, seine Weste und seine Halsbinde ab, zog aus der rückwärtigen Hosentasche seine mit einer Troddel versehene Nachtmütze, setzte sie auf und befestigte sie auf seinem Kopf, indem er die Bänder, die an diesem Bestandteil seines Schlafgewandes nie fehlten, unter dem Kinn fest zusammenknüpfte. Die komische Wanderung, die er soeben gemacht, fiel ihm wieder ein, und er mußte in seinem Strohsessel so herzlich über sich selbst lachen, daß es eine Lust hätte sein müssen, seine von innerer Heiterkeit verklärten Züge unter der Nachtmütze zu sehen.

Er war eben im Begriff, mit dem Auskleiden fortzufahren, und lächelte dabei so fröhlich, daß beinahe die Bänder seiner Nachtmütze rissen – als er plötzlich auf eine höchst unerwartete Weise gestört wurde. Es trat nämlich jemand mit einem Licht ins Zimmer, verschloß die Tür hinter sich und stellte die Kerze auf das Toilettetischchen.

Das Lächeln, das eben noch auf Mr. Pickwicks Zügen spielte, verwandelte sich augenblicklich in grenzenloses Erstaunen. Die Person, wer sie auch sein mochte, war so plötzlich und so geräuschlos eingetreten, daß Mr. Pickwick keine Zeit gehabt hatte zu rufen oder sich ihrem Eintritt zu widersetzen. Wer konnte es sein? Ein Räuber? Irgendein Spitzbube, der ihn vielleicht mit der wertvollen Uhr in der Hand hatte die Treppe heraufkommen sehen? – Was war zu tun?

Der einzige Weg, um den geheimnisvollen Besuch mit so wenig Gefahr wie möglich zu beobachten, war der, ins Bett zu schlüpfen und hinter den Vorhängen der entgegengesetzten Seite hinauszuspähen. Zu diesem Mittel nahm Mr. Pickwick also seine Zuflucht, hielt die Vorhänge vorsichtig mit der Hand zusammen, so daß man. nichts als sein Gesicht seine Nachtmütze sehen konnte, setzte seine Brille auf, faßte sich ein Herz und lugte hinaus.

Er fiel vor Schrecken beinahe in Ohnmacht, als er vor dem Toilettenspiegel eine Dame in mittleren Jahren, das Haupt mit gelben Haarwickeln gespickt, eifrig damit beschäftigt sah, das mit ausgestrecktem Arm zu bürsten, was die Damen ihren Zopf nennen. Wie nun auch die arglose Dame in mittleren Jahren in das Zimmer gekommen sein mochte, soviel war gewiß, daß sie die Nacht über hierzubleiben gesonnen war, denn sie hatte ein Nachtlicht mit einem Lichtschirm mitgebracht, das sie mit lobenswerter Vorsicht gegen Feuersgefahr in einem Waschbecken auf den Boden gestellt hatte, wo es gleich einem riesenhaften Leuchtturm in einem winzigen See fortglomm.

Gott im Himmel, dachte Mr. Pickwick, welch furchtbares Ereignis.

„Hem!“ räusperte sich die Dame, und sofort zog Mr. Pickwick mit der Schnelligkeit eines Taschenspielers seinen Kopf zurück.

So etwas Entsetzliches ist mir in meinem Leben noch nicht begegnet, dachte er, und kalte Schweißtropfen drangen durch seine Nachtmütze. Es ist schauderhaft.

Unmöglich konnte er dem quälenden Verlangen widerstehen, abermals hinauszusehen, was weiter sich begeben werde, und wieder steckte er den Kopf zwischen die Vorhänge. Der Anblick, der sich ihm darbot, war noch schreckenerregender als vorher. Die Dame in den mittleren Jahren hatte ihre Haare zurechtgebürstet, weggelegt, sorgfältig eine musselinene, mit schmalen gefältelten Spitzen besetzte Schlafhaube aufgesetzt und blickte gedankenvoll ins Feuer.

Die Sache fängt an, bedenklich zu werden, überlegte Mr. Pickwick. So kann es nicht fortgehen. Die Unbefangenheit dieser Dame ist mir ein klarer Beweis, daß ich in ein falsches Zimmer geraten sein muß. Wenn ich sie anrufe, bringt sie das ganze Haus in Aufruhr, und wenn ich ruhig bleibe, können die Folgen unberechenbar werden.

Es ist durchaus nicht nötig, zu bemerken, daß Mr. Pickwick einer der bescheidensten und zartfühlendsten Sterblichen war. Schon der bloße Gedanke, sich in einer Nachtmütze einer Dame zu zeigen, erfüllte ihn mit Schauder, aber er hatte die verdammten Bänder in einen Knoten zusammengezogen, den er um nichts in der Welt so schnell zu lösen vermochte. Und doch mußte er sich entdecken! Es stand ihm nur noch ein Ausweg zu Gebote. Er zog sich hinter die Vorhänge zurück und hustete laut:

„Hä, Hem!“

Daß die unerwarteten Laute die Dame außerordentlich erschreckt haben mußten, war offenbar, denn man hörte sie gegen den Lichtschirm stolpern, aber daß sie sich einredete, es müsse nur Einbildung gewesen sein, war ebenfalls klar, denn als Mr. Pickwick, ganz versteinert vor Angst, sie könne in Ohnmacht gefallen sein, wieder hinauszuspähen wagte, blickte sie wie zuvor nachdenklich ins Feuer.

Ein höchst merkwürdiges Frauenzimmer das, dachte Mr. Pickwick und hustete wieder. „Hä, hüm.“

Die Laute glichen diesmal zu sehr denen, durch die der Menschenfresser im Märchen gewöhnlich seine Ansicht auszudrücken pflegt, daß es höchste Zeit sei, den Tisch zu decken, und waren überhaupt zu deutlich, um noch einmal für Einbildung gehalten werden zu können.

„Barmherziger Himmel!“ rief denn auch die Dame in den mittleren Jahren. „Was ist das?“

„Es ist – es ist – nur ein Herr, Ma’am“, rief Mr. Pickwick hinter seinen Vorhängen.

„Ein Herr!“ kreischte die Dame entsetzt.

Jetzt ist’s aus, dachte Mr. Pickwick.

„Ein fremder Mann!“ schrie die Dame noch lauter. Noch ein Augenblick, und das Haus mußte in Aufruhr sein. Schon rauschte sie der Tür zu.

„Ma’am, Ma’am“, rief Mr. Pickwick und steckte in äußerster Verzweiflung seinen Kopf hervor. „Ma’am!!“

Wenn auch Mr. Pickwick keinen bestimmten Zweck damit verfolgte, daß er den Kopf hinaussteckte, so brachte es augenblicklich eine gute Wirkung hervor. Die Dame stand bereits nahe an der Tür und würde in der nächsten Sekunde zweifelsohne die Treppe erreicht haben, hätte sie nicht die plötzliche Erscheinung von Mr. Pickwicks Nachtmütze in die entfernteste Ecke des Zimmers zurückgetrieben, von wo aus sie wilde Blicke auf den Gelehrten schoß, die dieser nicht weniger entsetzt erwiderte.

„Elender“, ächzte die Dame und bedeckte die Augen mit der Hand, „was suchen Sie hier?“

„Nichts, Ma’am, durchaus nichts, Ma’am“, versicherte Mr. Pickwick ernsthaft.

„Nichts?“ rief die Dame und schlug die Augen auf.

„Nichts, Ma’am. Auf mein Ehrenwort“, beteuerte Mr. Pickwick mit so nachdrücklichem Kopfschütteln, daß die Troddel seiner Nachtmütze hin und her tanzte. „Ich sinke vor Scham, eine Dame in meiner Nachtmütze anzureden“, hastig riß die Dame die ihre herunter, „beinahe in die Erde, aber ich kann den Knoten nicht lösen, Ma’am!“ Zum Beweis für seine Behauptung riß Mr. Pickwick mit Macht an den Bändern. „Es ist mir jetzt klar, Ma’am, daß ich in ein falsches Zimmer geraten bin. Ich war noch nicht fünf Minuten hier, da traten Sie plötzlich ein.“

„Wenn diese unwahrscheinliche Geschichte wirklich wahr ist“, entgegnete die Dame unter heftigem Schluchzen, „so werden Sie sich augenblicklich entfernen.“

„Mit dem größten Vergnügen, Ma’am.“

„Augenblicklich, Sir“, wiederholte die Dame.

„Gewiß, Ma’am. Sofort Ma’am. Ich – ich – bin untröstlich, Ma’am“, sagte Mr. Pickwick und erschien schüchtern am Fußende des Bettes, „die unschuldige Ursache dieser Unruhe und Aufregung zu sein, ganz untröstlich, Ma’am!“

Die Dame deutete stumm auf die Tür.

In diesem Augenblick zeigte sich, trotz der ungemein mißlichen Lage, eine der vorzüglichsten Eigenschaften von Mr. Pickwicks Charakter. Obgleich er nach Art der alten Nachtwächter seinen Hut hastig über die Nachtmütze gestülpt hatte und seine Schuhe und Gamaschen in der Hand und seinen Rock und seine Weste über dem Arm trug, so ließ ihn selbst das nicht seine angeborne Galanterie vergessen.

„Ich bin über die Maßen untröstlich, Madam“, versicherte er ein ums andre Mal mit tiefen Verbeugungen.

„Dann werden Sie augenblicklich das Zimmer verlassen“, erwiderte die Dame.

„Unverzüglich, Madam. Auf der Stelle, Madam“, beteuerte Mr. Pickwick, öffnete die Tür und ließ dabei geräuschvoll seine Schuhe fallen. „Ich hoffe, Madam“, begann er wieder, hob sie auf und wandte sich abermals mit einer Verbeugung zu der Dame um, „ich hoffe, Madam, mein unbefleckter Ruf und die große Achtung, die ich Ihrem Geschlecht zolle, werden mir als Entschuldigung …“ Doch ehe er seinen Satz noch vollenden konnte, hatte ihn die Dame bereits in den Gang gedrängt und die Tür hinter ihm verschlossen und verriegelt.

Soviel Grund Mr. Pickwick auch haben mochte, sich Glück zu wünschen, so glimpflich davongekommen zu sein, so hatte doch seine neue Lage durchaus nichts Beneidenswertes. Er war mitten in der Nacht allein in einem offenen Gang, in einem fremden Hause und nur halb angekleidet. In der undurchdringlichen Finsternis konnte er unmöglich den Weg nach einem Zimmer finden, das er schon mit dem Licht nicht hatte entdecken können, und wenn er bei seinen fruchtlosen Versuchen das geringste Geräusch machte, wie leicht konnte er da von irgendeinem wachsamen Reisenden erschossen werden! Es blieb ihm daher nichts übrig, als zu bleiben, wo er war, bis der Tag anbrach. Er tappte noch einige Schritte vorwärts, stolperte dabei zu seinem unendlichen Schrecken über diverse Paar Stiefel und drückte sich schließlich in eine kleine Nische in der Wand, um den Morgen, so philosophisch gefaßt wie möglich, zu erwarten.

Es sollte ihm indes nicht bestimmt sein, diesen neuen Kelch leeren zu müssen. Er war noch nicht lange in seinem Schlupfwinkel versteckt, als sich zu seinem unsäglichen Schrecken am Ende des Ganges ein Mann mit einem Licht zeigte; doch ebenso schnell verwandelte sich sein Entsetzen in Freude, als er die Gestalt seines treuen Dieners erkannte. Es war in der Tat Samuel Weller, der eben im Begriff stand, sich zur Ruhe zu begeben, nachdem er sich so lange mit dem Hausknecht unterhalten hatte.

„Sam!“ rief Mr. Pickwick, plötzlich auftauchend wie ein Gespenst. „Wo ist mein Schlafzimmer?“

Mr. Weller starrte seinen Herrn höchst erstaunt an, und Mr. Pickwick mußte die Frage dreimal wiederholen, ehe er sich umwandte und nach dem lange gesuchten Zimmer vorausging.

„Sam“, sagte Mr. Pickwick, als er sich ins Bett legte, „ich habe heute nacht einen der außerordentlichsten Mißgriffe getan, von denen man je gehört hat.“

„Scheint so“, erwiderte Mr. Weller trocken.

„Ich habe mir fest vorgenommen, Sam“, fuhr Mr. Pickwick fort, „mich, und wenn wir noch ein halbes Jahr in diesem Hause bleiben sollten, nie wieder allein in diese Labyrinthe zu wagen.“

„Is auch der klügste Entschluß, den Sie fassen könnten, Sir“, versetzte Mr. Weller. „Sie sollten jemand haben, wo Ihnen zurückhält, wenn’s über Sie kommt.“

„Was meinst du damit, Sam?“ fragte Mr. Pickwick, richtete sich im Bett auf und streckte die Hand aus, als wolle er noch mehr sagen, dann aber hielt er plötzlich inne, legte sich auf die Seite und wünschte seinem Diener gute Nacht.

„Gute Nacht, Sir“, erwiderte Mr. Weller, ging zur Tür hinaus, blieb stehen, schüttelte den Kopf, ging weiter, stand still, putzte das Licht, schüttelte den Kopf wieder und trat endlich langsam in sein Schlafzimmer; er war offensichtlich tief in Grübelei versunken.

Dreiundzwanzigstes Kapitel


Dreiundzwanzigstes Kapitel

Mr. Samuel Weller bietet alles auf, Mr. Trotter seine Schuld abzuzahlen.

In einem kleinen Hinterzimmer in der Nachbarschaft der Ställe saß am Morgen, der auf Mr. Pickwicks Abenteuer mit der Dame in mittleren Jahren und gelben Haarwickeln folgte, Mr. „Weller senior, mit den Vorbereitungen zur Rückreise nach London beschäftigt.

Mr. Wellers Profil mußte in einer früheren Epoche seines Lebens kühne und scharfe Umrisse gehabt haben, aber unter dem Einfluß des guten Lebens und einer hervorragenden Neigung seines Besitzers zur Beschaulichkeit hatten sich seine Dimensionen allmählich verändert, und die fleischigen Formen waren so weit über die ihnen von Natur gesteckten Grenzen getreten, daß es für den Beschauer sehr schwer war, etwas mehr als die äußerste Spitze einer karfunkelroten Nase zu entdecken, wenn er nicht direkt vis-a-vis stand. Das Kinn hatte aus derselben Ursache jene würdevolle und imposante Form angenommen, die man gewöhnlich durch Vorsetzung des bedeutungsvollen Wortes „doppel“ zu bezeichnen pflegt, und die Gesichtsfarbe war aus jenen eigentümlichen Mischungen des Kolorits zusammengesetzt, die man nur bei Herren von Mr. Wellers Beruf und bei halbgarem Roastbeef findet. Um den Nacken schlang sich ein karmesinrotes Halstuch, wie man es auf Reisen zu tragen pflegt, und ging in so unmerklichen Stufen in das Kinn über, daß man kaum die Falten des einen von denen des andern unterscheiden konnte. Darunter erstreckte sich eine lange Weste aus rotgestreiftem Stoff, zum Teil bedeckt von einem grünen Rock mit breitem Saum und großen Metallknöpfen, von denen die beiden, die in der Taille saßen, so weit voneinander abstanden, daß ein irdisches Geschöpf sie unmöglich zu gleicher Zeit sehen konnte. Das kurze, glatte schwarze Haar sah kaum unter der breiten Krempe eines niederen braunen Hutes hervor. Die Beine staken in Reithosen und gewichsten Stulpenstiefeln, und von der geräumigen Westentasche hing eine kupferne Uhrkette, das freie Ende mit einem Petschaft und einem Schlüssel geziert, nachlässig herunter.

Mr. Weller war mit den Vorbereitungen zu seiner Reise nach London beschäftigt, das heißt, er nahm Mundvorrat ein. Auf dem Tisch vor ihm winkten eine Flasche Ale, ein kaltes Stück Ochsenfleisch, ein sehr respektabler Laib Brot, und jedem dieser Gegenstände schenkte er mit der strengsten Unparteilichkeit abwechslungsweise seine Gunst. Er hatte soeben ein mächtiges Stück von dem letzteren abgeschnitten, als ihn das Geräusch nahender Fußtritte veranlaßte, den Kopf zu erheben und seines Sohnes, der eben ins Zimmer trat, ansichtig zu werden.

„Morgen, Sammy“, sagte Mr. Weller.

Sam näherte sich wortlos dem Bierkrug, nickte seinem Vater zu und tat, als Erwiderung des Grußes, einen kräftigen Zug.

„Nich schlecht, Sammy“, bemerkte Mr. Weller senior mit einem Blick in den Krug, den sein Erstgeborener bis zur Hälfte geleert hatte. „Mit deiner Saugekraft hättest du ’ne ungewöhnlich hübsche Auster abgegeben, Sammy, wenn du in der Gestalt zur Welt gekommen wärest.“

„Ja, ich würde mich in Ehren ernährt haben“, erwiderte Sam und machte sich mit beträchtlichem Eifer über das kalte Fleisch her.

„Es grämt mich bitter, Sammy“, sagte Mr. Weller senior, hob seinen Bierkrug an und bereitete den nächsten Schluck vor, indem er kleine Kreise mit dem Krug beschrieb. „Es grämt mich bitter, Sammy, daß ich von deinen Lippen das Bekenntnis hören mußte, daß der Maulbirnen-Kerl dich geleimt hat. Bis vor drei Tagen dachte ich noch, daß der Name Weller und das Wort Schafskopf niemals zusammenpassen würden, Sammy, niemals.“

„Natürlich abgesehen von dem Fall, wo es sich um ’ne Witfrau handelt, nich wahr“, fiel Sam ein.

„Witfrauen, Sammy“, erwiderte Mr. Weller und verfärbte sich ein wenig, „Witfrauen sind immer Ausnahmen von jeder Regel. Ich habe mal gehört, wieviel gewöhnliche Weibsleute auf eine einzige Witfrau kommen, wenn man den Fall rechnet, daß einer hinters Licht geführt werden soll. Ich glaube, es waren fünfundzwanzig; aber es können genausogut noch mehr gewesen sein.“

„Das Ding is gut; das is sogar sehr gut“, warf Sammy ein.

„Außerdem“, fuhr Mr. Weller fort, ohne den Einwurf zu beachten, „is das ’ne ganz andre Sache. Du weißt doch, was der Advokat sagte, Sammy, als er den Schendlemän verteidigte, wo seine Gattin immer mit dem Schürhaken verprügelte, wenn er fidel wurde. ,Und außerdem, Mylord‘, sagte er, ,ist es bloß ’ne liebenswürdige Schwäche.‘ Und so spreche ich gleichfalls dies bezüglich die Witfrauen, Sammy, und du selbst wirst so sprechen tun, wenn du erst in meine Jahre kommen tust.“

„Na ja“, gab Sam zu, „ich hätte sicher mehr Schlauheit beweisen sollen.“

„Mehr Schlauheit beweisen sollen?“ wiederholte Mr. Weller und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Mehr Schlauheit beweisen sollen? Na und ob; ich kenn ’nen Grünschnabel, der hat noch nich mal ein Viertel von deiner Erziehung genossen, der hat noch keine sechs Monate auf Marktplätzen kampiert, aber der hätte sich nicht so leimen lassen. Gar nicht dran zu denken, daß dem so was passiert wäre.“ In der Gemütserregung, die durch diese peinigende Erwägung in ihm hervorgerufen wurde, klingelte Mr. Weller und bestellte einen zweiten Krug Ale. „Unser ganzes Gerede darüber hat ja doch keinen Zweck mehr“, sagte Sam, „vorbei ist vorbei, und die Sache läßt sich nicht mehr ändern; das ist auch ein Trost, wie sie in der Türkei sagen, wenn sie einem den Kopf abgeschlagen haben und es war der verkehrte. Aber jetzt ist die Reihe an mir, Gouverneur, und wenn ich diesen Trotter hier unter die Föten bekomme, soll er lebenslänglich daran denken.“

„Das will ich hoffen, Sammy, das will ich hoffen“, erwiderte Mr. Weller. „Deine Gesundheit, Sammy! Und daß du mir bald die Schmach abwäschst, wo du unsern Familiennamen mit befleckt hast.“ Zu Ehren dieses Trinkspruches verleibte sich Mr. Weller mindestens zwei Drittel von dem Inhalt des neu angekommenen Kruges ein und hielt dann den Rest seinem Sohne hin, der ihm unverzüglich in gleicher Weise Bescheid tat.

„Und nu, Sammy“, sagte Mr. Weller und zog die große doppelgehäusige silberne Uhr zu Rate, die das eine Ende der kupfernen Kette zierte, „nu is es Zeit, daß ich mir auf der Post begebe und abfertigen lasse und zusehe, wie sie die Kutsche laden. Denn Kutschen, Sammy, sind wie Kanonen: sie müssen mit Sorgfalt geladen werden, ehe daß sie losgehen tun.“ Diesen beruflichen Scherz seines Vaters begleitete Mr. Weller junior mit dem Lächeln kindlicher Liebe, und sein ehrwürdiger Erzeuger fuhr in feierlichem Ton fort: „Mein Sohn Samuel, ich werde dich jetzt verlassen, und niemand weiß, wann ich dir wiedersehen tue. Vielleicht hat deine Stiefmutter mich bis dahin längst untergekriegt, und auch sonst können tausend Sachen passiert sein, bis du wieder was von dem berühmten Mr. Weller von Bellsavage hören tust. Der gute Name der Familie hängt jetzt größtenteils von dir ab, Samuel, und ich hoffe, du wirst ihm keine Schande machen. In allen geringeren Stücken kann ich mir so gut auf dir verlassen wie auf mir selber. Ich habe dir also nur noch einen Rat zu geben. Wenn du gegen die Fünfzig kommst und du fühlst dann plötzlich Neigungen, dir selbst zu verheiraten – die Person spielt keine Rolle –, dann schließe dir in deine Kammer ein, falls du eine hast, und vergifte dir unverzüglich. Hängen is was Gemeines, deshalb gib dir damit nich ab. Vergifte dir, mein Sohn Samuel, vergifte dir, und du wirst mir hinterher dankbar sein.“

Bei diesen liebevollen Ermahnungen sah Mr. Weller seinem Sohne ernst ins Gesicht, beschrieb langsam einen Halbkreis mit seinem Absatz und schritt hinaus.

In der ernsten Stimmung, die diese Worte begreiflicherweise hervorgerufen, verließ Mr. Samuel Weller das „Große weiße Roß“ und lenkte seine Schritte der St.-Clemens-Kirche zu, um in altertümlicher Umgebung seine Schwermut zu vergessen. Nach einiger Zeit bemerkte er, daß er auf einen abgelegenen Platz geraten war – eine Art Vorhof von ehrwürdigem Aussehen –, der, wie er bemerkte, keinen anderen Ausgang hatte als eben den Einlaß, durch den er eingetreten war. Schon im Begriff, wieder umzukehren, blieb er. durch eine Erscheinung gebannt, plötzlich wie angewurzelt stehen. Im einzelnen war das so geschehen: Er hatte, in Gedanken verloren, von Zeit zu Zeit an den roten Backsteinhäusern hinaufgesehen und dabei manch lieblichem rotwangigem Dienstmädchen zugenickt, wenn ein Vorhang aufgezogen oder ein Fenster in einem Schlafzimmer geöffnet worden, da ging das grüne Gartentor am Ende des Hofes auf, ein Mann trat heraus, schloß es wieder sorgfältig hinter sich ab und ging dann schnellen Schrittes auf die Stelle zu, wo sich der Einlaß befand.

Als bloßes Faktum, ohne alle Nebenumstände betrachtet, lag gewiß nichts Außerordentliches in diesem Ereignis, denn in vielen Teilen der Welt kommen Männer aus Gärten, schließen grüne Tore hinter sich ab und gehen rasch ihres Weges weiter, ohne daß dies die Augen der Öffentlichkeit in besonderem Grade auf sich zöge. Es war daher klar, daß an dem Manne oder in seinen Manieren oder in beidem etwas liegen mußte, was Mr. Wellers Aufmerksamkeit besonders erregte.

Als der Mann das grüne Tor hinter sich abgesperrt hatte, ging er, wie gesagt, mit schnellen Schritten auf den Hofeinlaß zu. Kaum hatte er jedoch Mr. Weller zu Gesicht bekommen, als er mit einem Ruck stehenblieb, offenbar unschlüssig, was er tun solle. Da das grüne Tor hinter ihm abgeschlossen war und der Hof keinen anderen Ausgang hatte als den in der Front, schien er zu dem Schluß zu gelangen, er müsse an Mr. Samuel Weller vorbei, um hinauszukommen. Er nahm also seinen schnellen Schritt wieder auf und starrte dabei zerstreut vor sich hin. Das Außerordentlichste an ihm war aber, daß er sein Gesicht in die erstaunlichsten und entsetzlichsten Fratzen verzerrte, die wohl jemals ein Mensch gesehen hat. Noch nie ward ein Werk der Natur durch die Kunst der Mimik in einem Augenblick so maskiert, wie das Gesicht dieses Mannes.

„Is doch kurios“, brummte Mr. Weller, als der Mensch näher kam. „Hätte drauf schwören mögen, er ist’s.“

Der Mann kam heran, und sein Gesicht war noch furchtbarer entstellt als vorher.

„Möchte ’n Eid drauf ablegen, es is die schwarze Mähne und die Maulbeerlivree“, sagte sich Mr. Weller. „Nur die Fratze stimmt nich.“

Noch während er so überlegte, nahmen die Züge des Mannes einen geradezu unirdisch-scheußlichen Ausdruck an. Er mußte jedoch ganz nahe vorüber, und der forschende Blick Mr. Wellers erkannte hinter diesen furchtbaren Gesichtsverzerrungen doch etwas, was Mr. Hiob Trotters kleinen Äuglein glich und jeden Irrtum ausschloß, deutlich genug.

„Hallo, Sir!“ schrie Sam wütend.

Der Fremde blieb stehen.

„Hallo!“ wiederholte Sam in noch rauherem Tone.

Der Mann mit dem fürchterlichen Gesicht sah mit der größten Überraschung den Hof hinauf und den Hof hinunter und an den Fenstern der Häuser empor – überallhin, nur nicht auf Sam Weller, und wollte dann vorbeigehen, aber ein dritter Ruf brachte ihn wieder zum Stehen.

Es gab keinen Vorwand mehr, die Stelle zu verkennen, von der die Stimme kam, und er konnte nicht mehr gut etwas andres tun, als Sam Weller gerade ins Gesicht sehen.

„Es hilft alles nichts, Hiob Trotter“, sagte Sam. „Lassen Sie den Blödsinn! So ’ne Schönheit sind Sie nich, daß Sie die paar natürlichen Züge in Ihrem Gesicht auch noch verhunzen. Bringen Sie ja Ihre Augen schnell in ’ne vernünftige Lage, oder ich dämmer Sie Ihnen aus dem Kopf raus. Verstanden?“

Da Mr. „Weller sichtlich geneigt schien, seinen „Worten die Tat folgen zu lassen, ließ Mr. Trotter sein Gesicht allmählich seinen ursprünglichen Ausdruck wieder annehmen und rief mit freudigem Erstaunen: „Was seh ich? Mr. Walker!“

„Mhm!“ versetzte Sam. „Macht Ihnen wohl viel Freude, mich zu sehen, nich wahr?“

„Freude?!“ rief Hiob Trotter. „Oh, Mr. Walker, wenn Sie wüßten, wie ich mich nach diesem Wiedersehen gesehnt habe! Es ist zuviel für mich, Mr. Walker, ich kann es kaum ertragen.“

Und Mr. Trotter brach in einen Strom von Tränen aus, umschlang Mr. Weller mit den Armen und drückte ihn, im Übermaß der Seligkeit, fest ans Herz.

„Loslassen!“ rief Sam, über dieses Benehmen höchlich entrüstet und vergeblich bemüht, sich der Umarmung seines enthusiastischen Freundes zu entziehen. „Loslassen, sag ich Ihnen. Was heulen Sie denn so in mich hinein, Sie Handfeuerspritze?“

„Weil ich so unendlich glücklich bin, Sie zu sehen“, erwiderte Hiob Trotter und ließ allmählich von Mr. Weller ab, bei dem die schlimmsten Symptome der Boxlust nachzulassen begannen. „Oh, Mr. Walker, das ist zuviel.“

„Zuviel?“ wiederholte Sam. „Ich glaube auch, es ist zuviel. Nun, was haben Sie mir zu sagen, he?“

Mr. Trotter gab keine Antwort, denn sein kleines rosafarbiges Taschentuch hatte vollauf zu tun.

„Was haben Sie mir ZTI sagen, ehe ich Ihnen den Kopf einschlage?“ wiederholte Mr. Weller in drohendem Tone.

„Wie beliebt?“ rief Mr. Trotter mit einem Blick tugendhaften Erstaunens.

„Was Sie mir zu sagen haben!“

„Ich – Ihnen, Mr. Walker?“

„Nennen Sie mich nicht Walker. Mein Name ist Weller, das wissen Sie so gut wie ich. Was Sie mir zu sagen haben?“

„Ach Gott, Mr. Walker – Weller, meine ich –, eine Menge Dinge, wenn Sie mit mir irgendwohin gehen wollen, wo wir ungestört miteinander sprechen können. Ach, wenn Sie wüßten, wie sehr mich nach Ihnen verlangt hat, Mr. Weller.“

„Muß ja direkt gewaltig gewesen sein“, bemerkte Sam trocken.

„Außerordentlich, außerordentlich, lieber Herr“, beteuerte Mr. Trotter, ohne eine Miene zu verziehen. „Aber reichen Sie mir die Hand, Mr. Weller.“

Sam betrachtete seinen Kameraden einige Sekunden lang und erfüllte dann, wie durch plötzliche Eingebung dazu getrieben, sein Verlangen. „Was macht“, fragte Hiob Trotter, als sie miteinander weitergingen, „was macht Ihr lieber guter Herr? Ach, ist das ein würdiger Gentleman, Mr. Weller. Ich hoffe, er hat sich in jener fürchterlichen Nacht doch keine Erkältung zugezogen?“

Es blitzte eine Sekunde wie tief versteckte Bosheit in Hiob Trotters Augen bei diesen Worten auf. Mr. Weller fühlte ein Jucken in der geballten Faust, aber er bezwang sich und erwiderte, sein Herr sei ganz wohl.

„Oh, wie mich das freut“, frohlockte Mr. Trotter. „Befindet er sich hier?“

„Ist der Ihrige hier?“ fragte Sam.

„O ja, er ist hier, und es schmerzt mich, Mr. Weller, Ihnen sagen zu müssen, daß er’s ärger treibt als je.“

„Wirklich?“

„Ja; ’s ist furchtbar, schrecklich!“

„Wieder in einem Pensionat?“

„Nein, in keinem Pensionat“, erwiderte Hiob Trotter mit demselben boshaften Blick, den Sam schon vorhin bemerkt hatte, „in keinem Pensionat.“

„In dem Haus mit dem grünen Tor?“ fragte Sam weiter und faßte seinen Kollegen scharf ins Auge.

„Nein – nein – oh, dort nicht“, versetzte Hiob mit einer Eile, die man sonst nicht an ihm gewohnt war.

„Was hatten Sie denn dort zu tun?“ fragte Sam höchst mißtrauisch. „Sie sind vielleicht bloß zufällig durch das Tor gekommen, was?“

„Nun, Mr. Weller“, erwiderte Hiob, „ich trage kein Bedenken, Ihnen meine kleinen Geheimnisse mitzuteilen, denn Sie wissen, was für eine Neigung wir gleich beim ersten Zusammentreffen füreinander faßten. Sie erinnern sich doch, wie vergnügt wir damals beisammensaßen?“

„Jaja“, erwiderte Sam ungeduldig. „Ich erinnere mich. Nun, und?“

„Nun, und“, fuhr Hiob in dem gedämpften Tone eines Menschen fort, der jemand ein wichtiges Geheimnis mitteilt, „in dem Haus mit dem Tor, Mr. Weller, ist eine zahlreiche Dienerschaft.“

„Scheint dem Aussehen nach zu stimmen“, brummte Sam.

„Nun, und unter dieser Dienerschaft“, fuhr Mr. Trotter fort, „ist eine Köchin, Mr. Weller, die ein paar Groschen erspart hat und, wenn sie sich passend verheiraten kann, einen kleinen Kramladen aufzumachen gesonnen ist.“

„So?“

„Ja, Mr. Weller. Ich lernte sie in einer Kapelle kennen, die ich gewöhnlich besuche – ein sehr hübsches Kapellchen in dieser Stadt, Mr. Weller, wo man aus Nummer vier der Sammlung geistlicher Lieder vorsingt, die ich gewöhnlich in einem kleinen Buch bei mir trage, das Sie vielleicht schon bei mir gesehen haben, und ich wurde mit ihr bekannt, Mr. Weller, und daraus entspannen sich nähere Beziehungen zwischen uns, und ich kann Ihnen anvertrauen, Mr. Weller, ich habe die beste Aussicht, Krämer zu werden.“

„Sie werden einen sehr liebenswürdigen abgegeben“, versetzte Sam mit einem Seitenblick tiefgewurzelten Widerwillens auf Hiob.

„Der große Vorteil davon ist, Mr. Weller“, fuhr Hiob fort, und seine Augen füllten sich mit Tränen, „daß ich dann meinen gegenwärtigen schimpflichen Dienst bei dem Gottlosen verlassen und mich einem besseren und tugendhafteren Leben weihen kann – einem Leben, das meiner Erziehung mehr entspricht, Mr. Weller.“

„Sie müssen wohl sehr gut erzogen worden sein“, bemerkte Sam.

„O gewiß, Mr. Weller, gewiß“, erwiderte Hiob, zog bei der Erinnerung an die Unschuld seiner Jugendjahre das rote Taschentuch hervor und vergoß einen Tränenstrom.

„Was fehlt dem Kerl bloß?“ knurrte Sam. „Die Wasserspiele von Chelsea sind ja gar nichts gegen Sie! Was bezwecken Sie eigentlich damit? Wollen Sie schon wieder krumme Dinger drehen?“

„Ich kann meine Gefühle nicht unterdrücken, Mr. Weller“, entschuldigte er sich nach einer Pause. „Wer hätte sich damals träumen lassen, daß mein Herr das Gespräch argwöhnte, das ich mit Mr. Pickwick hatte, und mich zwang, mit ihm abzureisen, nachdem er zuvor die junge Dame und die Vorsteherin der Schule zu der Aussage beredet hatte, sie wüßten nichts von ihm. Ach, es schaudert mich, Mr. Weller, wenn ich daran denke, daß er die Arme nur verließ, um einer besseren Spekulation nachzugehen.“

„Also so verhielt sich die Sache! Wirklich?“ fragte Mr. Weller.

„Sie dürfen mir aufs Wort glauben“, beteuerte Hiob.

„Gut“, sagte Sam, als sie jetzt am Gasthof angekommen waren. „Ich möchte ganz gern wieder ein wenig mit Ihnen plaudern, Hiob. Wenn Sie sonst nich vergeben sind, würde es mir freuen, Sie so gegen acht im .Großen weißen Roß‘ zu sehen.“

„Ich werde nicht ermangeln, mich einzufinden“, sagte Hiob.

„Sie werden wohl daran tun“, erwiderte Sam mit einem vielsagenden Blick, „oder ich suche Ihnen sonst vielleicht hinter dem grünen Tor auf, und dann wäre es möglich, daß ich Sie aussteche.“

„Ich werde mich bestimmt einstellen“, versicherte Mr. Trotter, drückte Mr. Weller mit größter Wärme die Hand Und entfernte sich.

„Nimm dich in acht, Hiob Trotter“, brummte Sam, als er ihm nachsah. „Nimm dich in acht, oder ’s geht dir verdammt an den Kragen, ’n zweites Mal laß ich mir nich hinters Licht führen.“

Nach diesem Monolog machte sich Mr. Weller auf den „Weg nach seines Herrn Schlafzimmer.

„Alles im Zug, Sir“, sagte er.

„Was ist im Zug, Sam?“ fragte Mr. Pickwick.

„Ich habe sie ausfindig gemacht, Sir.“

„Ausfindig gemacht? Wen?“

„Den sauberen Spitzbuben und den melancholischen Schuft mit dem schwarzen Gestrüpp.“

„Unmöglich, Sam!“ rief Mr. Pickwick erregt aus. „Wo sind sie, Sam, wo sind sie?“

„Pst, pst“, erwiderte Mr. Weller und setzte Mr. Pickwick, während er ihm beim Ankleiden half, den Operationsplan auseinander, den er entworfen hatte.

„Aber wann soll das alles geschehen, Sam?“ fragte Mr. Pickwick.

„Alles zu seiner Zeit, Sir, alles zu seiner Zeit.“

Vierundzwanzigstes Kapitel


Vierundzwanzigstes Kapitel

Mr. Peter Magnus wird eifersüchtig und die Dame in den mittleren Jahren so besorgt, daß die Pickwickier Gefahr laufen, dem Arme der Gerechtigkeit überliefert zu werden.

Als Mr. Pickwick in das Zimmer trat, in dem er mit Mr. Peter Magnus den verflossenen Abend verbracht, hatte sich dieser bereits mit dem größten Teil des Inhalts der beiden Reisesäcke, des ledernen Hutfutterals und des Papierpakets so vorteilhaft wie möglich herausgeputzt und ging im Zustand höchster Aufregung und Gemütsbewegung auf und nieder.

„Guten Morgen, Sir“, begann er. „Nun, was sagen Sie dazu?“

„Sie werden einen großartigen Eindruck machen – fraglos“, erwiderte Mr. Pickwick mit gutmütigem Lächeln.

„Ja, ich glaube es selbst“, sagte Mr. Magnus. „Mr. Pickwick, wissen Sie, daß ich bereits meine Karte hinauf geschickt habe?“

„Was Sie sagen!“

„Ja, und sie ließ mir durch den Kellner ausrichten, sie erwarte mich um elf Uhr. – Um elf Uhr, Sir! Es fehlt nur noch eine Viertelstunde!“

„Eine kurze Zeit“, bemerkte Mr. Pickwick.

„Ja, sie ist ziemlich kurz“, erwiderte Mr. Magnus. „Etwas zu kurz, um sich wohl dabei zu fühlen. Meinen Sie nicht auch, Mr. Pickwick?“

„Selbstvertrauen tut dann sehr viel“, riet Mr. Pickwick.

„Ich glaube das auch, Sir“, sagte Mr. Peter Magnus. „Ich erfreue mich übrigens eines großen Selbstvertrauens, Sir. Genaugenommen, Mr. Pickwick, sehe ich auch nicht ein, warum ein Mann in einem Fall wie diesem sich fürchten sollte. Man braucht sich dessen doch nicht zu schämen. Es ist eine Sache gegenseitiger Übereinkunft, weiter nichts. Der Gatte auf der einen Seite, die Gattin auf der andern. Das ist meine Ansicht von der Sache, Mr. Pickwick.“

„Sehr philosophisch gedacht“, versetzte Mr. Pickwick. „Aber das Frühstück wartet, Mr. Magnus. Kommen Sie.“

Die Herren setzten sich zum Frühstück, aber trotz des großen Selbstbewußtseins Mr. Peter Magnus‘ war nicht zu verkennen, daß er im höchsten Grade aufgeregt war, wovon seine Appetitlosigkeit, eine stete Neigung, das Teegeschirr umzuwerfen, ein vergebliches Bemühen, lustig zu sein, und ein unwiderstehlicher Hang, alle Augenblicke auf die Uhr zu sehen, deutlich Zeugnis ablegten.

„Hihihi“, kicherte er nach einer Weile mit erkünstelter Heiterkeit, während er vor innerer Bewegung keuchte. „Es sind nur noch zwei Minuten, Mr. Pickwick. Sehe ich blaß aus, Sir?“

„Nicht sehr“, meinte Mr. Pickwick.

Wieder trat eine kurze Pause ein.

„Ich bitte um Verzeihung, Mr. Pickwick. Aber waren Sie schon jemals in Ihrem Leben in einer solchen Lage?“

„Sie meinen, in der Lage eines Freiers?“ fragte Mr. Pickwick.

„Ja.“

„Noch nie“, erwiderte Mr. Pickwick mit großem Nachdruck. „Noch nie.“

„Sie wissen also nicht, wie man sich dabei zu benehmen hat?“

„Nun, ich habe mir wohl schon gelegentlich meine Gedanken über einen derartigen eventuellen Fall gemacht“, erwiderte Mr. Pickwick. „Aber da ich sie noch nie an dem Prüfstein der Erfahrung erprobt habe, so möchte ich Ihnen nicht raten, Ihr Benehmen danach einzurichten.“

„Immerhin wäre ich Ihnen für jeden Wink sehr verbunden, Sir“, sagte Mr. Magnus mit einem Blick auf die Uhr, deren Zeiger bereits auf fünf Minuten nach elf wies.

„Also gut, Sir“, begann Mr. Pickwick mit dem feierlichen Ernst, durch den er, wenn er wollte, seinen Bemerkungen einen ungemein eindringlichen Charakter geben konnte, „ich würde zuerst der Schönheit und den vortrefflichen Eigenschaften der Dame meine Huldigung zollen und dann auf meine eigne Unwürdigkeit übergehen.“

„Ganz gut“, bemerkte Mr. Magnus.

„Verstehen Sie mich recht – Unwürdigkeit nur ihr gegenüber! Denn um zu zeigen, daß ich nicht im allgemeinen ein Unwürdiger sei, würde ich kurz mein bisheriges Leben und meine gegenwärtige Stellung schildern. Daraus würde ich nach dem Gesetz der Analogie folgern, daß ich für jede andre Person eine höchst wünschenswerte Partie sein müßte, und mich sodann über die Glut meiner Liebe und die Tiefe meines Gefühls verbreiten und mich vielleicht auch versucht finden, ihre Hand zu ergreifen.“

„Ja, ich verstehe“, bemerkte Mr. Magnus, „das wäre ein höchst wichtiger Punkt.“

„Dann, Sir, würde ich“, fuhr Mr. Pickwick fort und wurde immer wärmer, in je glühenderen Farben er sich die Szene ausmalte, „dann würde ich ihr die offene und einfache Frage vorlegen: Wollen Sie mich?, und ich glaube, zu der Annahme berechtigt zu sein, daß sie hierauf ihr Gesicht abwenden würde.“

„Glauben Sie das sicher annehmen zu dürfen?“ fragte Mr. Magnus. „Denn was, wenn sie es nicht täte?“

„Ich glaube, daß sie es tun wird“, meinte Mr. Pickwick mit der Überzeugung des Visionärs. „Dann, Sir, würde ich ihr die Hand drücken, und ich glaube – ich glaube, Mr. Magnus –, wenn ich einmal das getan hätte, würde ich, vorausgesetzt, sie hätte bisher zugehört, sachte das Taschenruch, das sie in diesem Augenblick, wie mich meine geringe Kenntnis der menschlichen Natur vermuten läßt, vor die Augen halten dürfte, wegziehen und ihr in allen Ehren einen Kuß rauben. Ich glaube, ich würde sie küssen, Mr. Magnus. Und was diesen besonderen Punkt betrifft, so bin ich entschieden der Meinung, die Dame würde sodann, wenn sie mich überhaupt wollte, ein verschämtes Ja hauchen.“

Mr. Magnus schauderte zusammen, blickte in Mr. Pickwicks durchgeistigtes Gesicht, schüttelte ihm nach einer kurzen Pause – der Zeiger wies auf zehn Minuten nach elf – mit Wärme die Hand und rannte fassungslos aus dem Zimmer.

Mr. Pickwick war auf und nieder geschritten, und es schlug halb zwölf, als sich plötzlich die Tür öffnete. Er wandte sich um und wollte eben Mr. Peter Magnus beglückwünschen, da erblickte er statt seiner das fröhliche Gesicht Mr. Tupmans, die heitere Miene Mr. Winkles und das Dichterantlitz Mr. Snodgraß‘.

Noch während die Herren Mr. Pickwick begrüßten, trippelte Mr. Peter Magnus ins Zimmer.

„Meine Freunde, der Herr, von dem ich soeben sprach, Mr. Magnus“, stellte Mr. Pickwick vor.

„Ihr Diener, meine Herren“, sagte Mr. Magnus, sichtlich in großer Aufregung. „Mr. Pickwick, könnte ich Sie einen Augenblick allein sprechen?“ Mit diesen Worten verankerte Mr. Magnus seinen Zeigefinger in Mr. Pickwicks Rockknopfloch, zog ihn hastig HI eine Fenstervertiefung und stieß hervor:

„Wünschen Sie mir Glück, Sir! Ich habe Ihren Rat buchstäblich befolgt.“

„Und es lief alles gut ab, nicht wahr?“

„Ausgezeichnet, Sir, hätte nicht besser ausfallen können“, erwiderte Mr. Magnus. „Sie ist mein.“

„Also meinen herzlichsten Glückwunsch!“ rief Mr. Picknick und schüttelte seinem neuen Freund mit Wärme die Hand.

„Ich muß Sie unbedingt vorstellen, Sir“, drängte Mr. Magnus. „Kommen Sie, bitte, kommen Sie! – Sie entschuldigen einen Augenblick, meine Herren.“

Er zog Mr. Pickwick aus dem Zimmer, ging eilends mit ihm die Treppe hinauf, blieb an der nächsten Türe im Gang stehen und klopfte leise an. „Herein!“ rief eine weibliche Stimme, und sie traten ein.

„Miß Witherfield“, sagte Mr. Magnus, „gestatten Sie, daß ich Ihnen meinen vertrauten Freund, Mr. Pickwick, vorstelle. – Mr. Pickwick – Miß Witherfield.“

Die Dame stand am andern Ende des Zimmers. Mr. Pickwick verbeugte sich, nahm seine Brille aus der Westentasche und setzte sie auf. Doch kaum war das geschehen, da wich er mit einem Ausruf des Erstaunens einige Schritte zurück, und die Dame schlug mit einem halbunterdrückten Schrei die Hände vors Gesicht und sank in einen Stuhl.

Mr. Pickwick hatte nämlich kaum seine Brille aufgesetzt, als er in der zukünftigen Mrs. Magnus die Dame erkannte, in deren Zimmer er in der verflossenen Nacht auf so unverantwortliche Weise eingedrungen war, und im selben Augenblick sah auch die Dame plötzlich wieder das Gesicht vor sich, das sie, mit allen Schrecknissen einer Nachtmütze umgeben, noch vor nicht langer Zeit erblickt hatte.

Die Dame schrie, und Mr. Pickwick starrte sie an.

„Mr. Pickwick!“ rief Mr. Magnus außer sich. „Was hat das zu bedeuten, Sir? – Was hat das zu bedeuten?“ wiederholte er in lautem, drohendem Tone.

„Sir!“ erwiderte Mr. Pickwick, über die Art und Weise etwas unwillig, mit der ihn Mr. Peter Magnus so plötzlich angefahren hatte. „Ich muß die Beantwortung dieser Frage ablehnen.“

„Sie lehnen sie ab, Sir?“ fragte Mr. Magnus.

„Ja, allerdings, Sir. Ich lehne es auf das entschiedenste ab, auch nur ein Wort zu sagen, das die Dame kompromittieren oder unangenehme Erinnerungen in ihrer Brust erwecken könnte, ohne ihre ausdrückliche Erlaubnis und Zustimmung.“

„Miß Witherfield!“ sagte Mr. Peter Magnus. „Kennen Sie diesen Herrn?“

„Ob ich ihn kenne?“ erwiderte die Dame in den mittleren Jahren zögernd.

„Ja, ob Sie ihn kennen, Madam. – Ich frage, ob Sie ihn kennen?“ wiederholte Mr. Magnus wild.

„Ich habe ihn allerdings schon gesehen“, gab die Dame in den mittleren Jahren zu.

„Wo?“ fragte Mr. Magnus. „Wo?“

„Das werde ich nie sagen. Nie, nie!“ erwiderte die Dame in den mittleren Jahren, sprang von ihrem Sitz auf und wandte ihr Gesicht ab.

„Ich verstehe Sie, Madam“, sagte Mr. Pickwick. „Ich achte Ihr Zartgefühl. Und auch ich werde kein Wort sprechen, seien Sie überzeugt.“

„Ich muß sagen, Madam“, bemerkte Mr. Magnus, „in Anbetracht des Verhältnisses, in dem ich zu Ihnen stehe, behandeln Sie diese Sache ja recht gleichgültig – recht gleichgültig, Madam!“

„Grausamer Mr. Magnus“, schluchzte die Dame in den mittleren Jahren und brach in Tränen aus.

„Richten Sie Ihre Vorwürfe an mich, Sir“, fiel Mr. Pickwick ein. „Ich allein bin zu tadeln, wenn jemand Tadel verdient.“

„So, so, Sie allein sind zu tadeln, Sir!“ sagte Mr. Magnus. „Jetzt durchschaue ich alles, Sir. Sie bereuen offenbar Ihren Entschluß, nicht wahr?“

„Meinen Entschluß?“ fragte Mr. Pickwick.

„Ihren Entschluß, Sir! Starren Sie mich nur nicht so an, Sir! Ich erinnere mich noch ganz gut Ihrer Worte von gestern abend. Sie sind hierhergekommen, Sir, die Treulosigkeit und Falschheit einer Person zu entlarven, auf deren Ehrenhaftigkeit und Treue Sie einst gebaut hatten, nicht wahr?“ Mr. Peter Magnus verzog sein Gesicht zu einem spöttischen Lächeln und nahm seine grünliche Brille ab – die er wahrscheinlich in seinem Eifersuchtsanfall für überflüssig hielt – und rollte seine kleinen Äuglein in schreckenerregender Weise. „Nicht wahr? Aber Sie sollen mir Rede und Antwort stehen, Sir.“

„Rede und Antwort? Auf was?“ fragte Mr. Pickwick.

„Schon gut, Sir“, versetzte Mr. Magnus und schritt erregt im Zimmer auf und ab, „schon gut.“

Es müssen magische Kräfte in den Worten „schon gut“ verborgen liegen, denn, wann immer sie fallen, bei einem „Wortwechsel auf der Straße, im Theater, im Wirtshaus oder sonstwo, stets erwecken sie einen größeren Unwillen, als es die beredtesten Schimpfwörter hervorzurufen vermöchten Nicht etwa, daß die Anwendung dieses Lakonismus in Mr. Pickwicks Seele genau denselben Unwillen erregt hätte wie in einer gewöhnlichen Brust, aber jedenfalls öffnete er die Tür und rief laut hinunter:

„Tupman, kommen Sie, bitte, einen Moment herein!“

Mr. Tupman erschien augenblicklich mit höchst erstauntem Gesicht.

„Tupman“, sagte Mr. Pickwick, „ein Geheimnis zarter Natur, das diese Dame betrifft, ist die Ursache eines „Wortwechsels zwischen diesem Herrn und mir. Wenn ich ihm jetzt in Ihrer Gegenwart hiermit versichere, daß es keinen Bezug auf ihn hat und in keiner Verbindung mit seinen Angelegenheiten steht, so muß ich Sie dringend ersuchen, ihm zu bemerken, daß, wenn er fortfährt, beleidigende Zweifel in meine „Wahrhaftigkeit zu setzen, ich genötigt sein werde, meine Konsequenzen zu ziehen.“

Mr. Pickwick sah bei diesen Worten Mr. Peter Magnus mit einem Blick an, der mehr sagte als ganze Enzyklopädien.

Sein offenes, ehrenhaftes Benehmen, verbunden mit der Kraft und Energie der Sprache, die ihn so sehr auszeichneten, würde jeden vernünftigen Menschen beruhigt haben, aber unglücklicherweise war gerade in diesem Moment der Geist Mr. Peter Magnus‘ seiner Klarheit beraubt. Anstatt Mr. Pickwicks Erklärung so aufzunehmen, wie es sich geziemt hätte, fuhr er fort, sich in eine Art Raserei hineinzureden und davon zu sprechen, was er sich selbst schuldig sei, und von anderen Dingen mehr, wobei er seiner Deklamation dadurch Nachdruck verlieh, daß er mit schnellen Schritten auf und nieder ging, sich durch die Haare fuhr und gelegentlich Mr. Pickwicks menschenfreundlichem Antlitz die Faust unter die Nase hielt.

Mr. Pickwick, im Bewußtsein seiner Unschuld und Korrektheit und in der Unruhe, die Dame in mittleren Jahren verhängnisvollerweise in eine so unangenehme Lage versetzt zu haben, behielt leider nicht die ruhige Fassung, die man sonst an ihm gewohnt war. Die Worte wurden immer hitziger und die Stimmen heftiger, und als Mr. Magnus endlich Mr. Pickwick hinwarf, „er werde von ihm hören“, war die kaltblütige Antwort: „Je früher, desto besser!“

Voll Schrecken stürzte die Dame in den mittleren Jahren aus dem Zimmer, und Mr. Tupman zog Mr. Pickwick mit sich fort, Mr. Peter Magnus sich und seinen Gedanken überlassend.

Hätte die Dame in den mittleren Jahren Lebenserfahrung besessen oder überhaupt die Art und Weise derer gekannt, die die Gesetze oder die Mode machen, so würde sie gewußt haben, daß solche stürmische Auftritte zu den harmlosesten Dingen von der Welt gehören. Aber da sie die meiste Zeit auf dem Lande gelebt und noch nie die Parlamentsverhandlungen gelesen hatte, so war sie in den Verfeinerungen des zivilisierten Lebens wenig bewandert. Als sie ihr Schlafzimmer erreicht und sich eingeschlossen hatte, drängten sich beim Nachdenken über die Szene, deren Zeuge sie soeben gewesen war, ihrer Phantasie die fürchterlichsten Bilder von Mord und Blutvergießen auf, unter denen die Vision des Mr. Peter Magnus, in Lebensgröße von vier Mann nach Hause getragen und die linke Brusthälfte mit den feindlichen Geschossen gefüllt, eine der allerkleinsten war. Je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr erschrak sie, und endlich beschloß sie, sich zum Bürgermeister der Stadt zu begeben und ihn zu ersuchen, die Herren Pickwick und Tupman unverzüglich verhaften zu lassen.

Zu diesem Entschluß wurde die Dame in den mittleren Jahren durch verschiedne Erwägungen bestimmt, von denen der unwiderlegliche Beweis, den sie dadurch von ihrer Herzensangst um Mr. Peter Magnus‘ Leben lieferte, der hauptsächlichste war. Sie kannte sein eifersüchtiges Temperament zu gut, um auch nur die leiseste Anspielung auf den eigentlichen Grund ihrer Aufregung beim Anblick Mr. Pickwicks Zu wagen und setzte so viel Vertrauen auf ihren Einfluß und ihre Überredungsgabe, daß sie sich mit der Hoffnung schmeichelte, seine stürmische Eifersucht beruhigen zu können, wenn Mr. Pickwick entfernt wäre und kein neuer Streit entstehen könnte. Mit diesem Gedanken erfüllt, hüllte sie sich in ihre Haube und ihren Schal und begab sich schnurstracks nach der Wohnung des Bürgermeisters.

Nun war George Nupkins, Esquire, der besagte oberste Beamte der Stadt, eine so bedeutende Person, wie sie der schnellste lebende Läufer am einundzwanzigsten Juni, der nach Behauptung des Kalenders der längste Tag im ganzen Jahr ist und also die längste Zeit zum Suchen, gestattet, zwischen Sonnenaufgang und –niedergang nur hätte finden können. Gerade an diesem Morgen befand sich Mr. Nupkins im Zustande größter Aufregung, denn es hatte eine Revolution in der Stadt gegeben. Sämtliche Schüler der besuchtesten Klasse hatten sich verschworen, einem Obsthändler, der ihnen ein Dorn im Auge war, die Fenster einzuwerfen, hatten den Büttel ausgepfiffen und den Konstabler, einen ältlichen Mann in Stulpenstiefeln, der beordert gewesen war, den Aufruhr im Keim zu ersticken und wenigstens schon, ein halbes Jahrhundert lang den Frieden der Stadt aufrechterhalten, mit Kot beworfen.

Mr. Nupkins saß in seinem Sorgenstuhl, runzelte majestätisch die Stirne und kochte noch immer vor Wut, als eine Dame gemeldet wurde, die ihn in einer besondern und dringenden Privatangelegenheit zu sprechen wünsche. Mr. Nupkins nahm den ruhig-furchtbaren Blick seines Standes an und befahl, die Dame hereinzuführen, welchem Befehle, wie allen Verordnungen von Kaisern, Königen und andern großen Mächten der Erde, auf der Stelle Folge geleistet wurde.

Miß Witherfield trat in reizender Verwirrung herein.

„Muzzle!“ rief der Beamte.

Muzzle war ein Diener von untersetzter Statur, mit langem Leib und kurzen Beinen.

„Ja, Euer Gnaden!“

„Bring einen Stuhl und verlaß das Zimmer!“

„Ja, Euer Gnaden.“

„Nun, Madam, wollen Sie mir freundlichst Ihre Angelegenheit vortragen“, sagte der Beamte.

„Sie ist sehr schmerzlicher Natur, Sir“, bemerkte Miß Witherfield.

„Das ist mir leid, Madam“, versetzte Mr. Nupkins mit wohlwollendem Blick. „Fassen Sie sich, Madam. – Und dann sagen Sie mir, Madam, ob eine Gesetzesüberschreitung Sie zu mir führt.“ Hier triumphierte der Beamte über den Menschen, und sein Blick wurde wieder streng.

„Es ist mir ungemein peinlich, Ihnen diese Mitteilung machen zu müssen“, sagte Miß Witherfield, „aber ich fürchte, es soll hier ein Duell ausgetragen werden.“

„Hier, Madam?“ rief der Beamte. „Wo, Madam?“

„In Ipswich.“

„In Ipswich, Madam? Ein Duell in Ipswich?“ murmelte der Beamte, bei dem bloßen Gedanken außer sich vor Schrecken. „Unmöglich, Madam, so etwas kann in dieser Stadt nicht vorkommen, davon bin ich überzeugt. – Beim Himmel, Madam, wissen Sie nichts von der Tätigkeit unsrer städtischen Polizei? Haben Sie nie davon gehört, Madam, daß ich am vierten Mai dieses Jahres, nur von sechzig Konstablern begleitet, in einen Boxring eindrang und auf die Gefahr hin, der wilden Leidenschaft eines wütenden Pöbels zum Opfer zu fallen, einen Faustkampf zwischen Dumpling von Middlesex und Bantam von Suffolk verhinderte? – Ein Duell in Ipswich, Madam! – Ich kann – ich kann es nicht glauben“, fuhr der Beamte im Selbstgespräch fort, „daß zwei Menschen die Kühnheit haben sollten, einen solchen Friedensbruch in dieser Stadt zu beabsichtigen.“

„Meine Angabe ist leider nur zu richtig“, sagte die Dame in den mittleren Jahren. „Ich selbst war beim Streit gegenwärtig.“

„Es ist wirklich unerhört“, rief der Beamte aus. „Muzzle!!“

„Hier, Euer Gnaden!“

„Mr. Jinks soll sofort kommen. Augenblicklich.“

„Zu Befehl, Euer Gnaden.“

Muzzle entfernte sich, und ein blasser, spitznasiger, halbverhungerter, schäbig gekleideter Schreiber, auch in den mittleren Jahren, trat ins Zimmer.

„Mr. Jinks!“ rief der Beamte. „Mr. Jinks!“

„Sir“, erwiderte Mr. Jinks.

„Diese Dame, Mr. Jinks, macht soeben die Anzeige, daß ein Duell hier in der Stadt geplant wird.“

Mr. Jinks, der sich nicht darüber klar war, wie er sich benehmen sollte, lächelte mit der Miene des Untergebenen.

„Was gibt’s da zu lachen, Mr. Jinks?“ fragte der Beamte.

Mr. Jinks machte augenblicklich ein ernstes Gesicht.

„Mr. Jinks!“ herrschte ihn der Beamte an. „Sie sind ein Narr!“

Mr. Jinks blickte demütig an dem Machthaber empor und nagte an seiner Feder.

„Sie können etwas Komisches in dieser Angabe finden, Sir, aber ich muß Ihnen sagen, Mr. Jinks, daß Sie sehr wenig Grund haben zu lachen!“ Der halbverhungerte Jinks seufzte, als wäre er sich vollkommen bewußt, daß er sehr wenig Grund habe zu lachen, und schrieb dann auf Befehl Mr. Nupkins‘ die Aussage der Dame in ein Protokoll.

„Dieser Pickwick ist also der Friedensstörer, wie ich höre?“ fragte der Beamte, als der Akt geschlossen war.

„Ja“, erwiderte die Dame in den mittleren Jahren.

„Und der Sekundant … Wie ist sein Name, Mr. Jinks?“

„Tupman, Sir.“

„Tupman?“

„Ja, Sir.“

„Der Geforderte, sagen Sie, ist verschwunden, Madam.“

„Ja“, erwiderte Miß Witherfield mit einem kurzen Hüsteln.

„Also gut“, sagte der Beamte. „Da sind zwei Gurgelabschneider extra von London hergekommen, um die Bevölkerung zu dezimieren, weil sie meinen, in dieser Entfernung von der Hauptstadt sei der Arm des Gesetzes schwach und gichtbrüchig. Aber ich werde ein Exempel an ihnen statuieren. Setzen Sie die Verhaftsbefehle auf, Mr. Jinks. – Muzzle!!“

„Hier, Euer Gnaden.“

„Ist Grummer unten?“

„Ja, Euer Gnaden.“

„Schick ihn herauf.“

Dienstbeflissen enteilte Muzzle und kehrte bald darauf mit einem ältlichen Gentleman in Stulpenstiefeln zurück, der sich hauptsächlich durch eine Kupfernase, eine heisere Stimme, einen schnupftabakfarbenen Überrock und einen unsteten Blick auszeichnete.

„Grummer!“ sagte der Beamte.

„Euer Ho’ohlgeboren?!“

„Ist die Stadt jetzt ruhig?“

„Zimmlich, Euer Ho’ohlgeboren“, erwiderte Grummer. Das Volksempfinn ist gewissermaaßn abgeflaut, weil die Lümmel verschwunn sind; zum Kricket.“

„Nur energische Maßregeln wirken noch in diesen Zeiten, Grummer“, sagte der Würdenträger mit sehr bestimmtem Ton. „Wenn das Ansehen der königlichen Behörden mißachtet wird, muß das Standrecht verhängt werden. Wenn die Zivilbehörde die Fenster nicht schützen kann, so muß die militärische Macht die Zivilbehörde und die Fenster schützen. Ich glaube, das ist ein Grundsatz der Verfassung, Mr. Jinks?“

„Gewiß, Sir“, versetzte Jinks.

„Sehr gut“, sagte der Beamte und unterzeichnete die Verhaftsbefehle. „Grummer, Sie werden mir heute nachmittag die hier bezeichneten Personen vorführen. Sie finden sie im ,Großen weißen Roß‘. Sie erinnern sich doch noch an den Fall von Dumpling aus Middlesex und Bantam aus Suffolk, Grummer?“

Mr. Grummer deutete durch ein Kopfnicken an, daß das seinem Gedächtnis nie entschwinden könne. Begreiflicherweise, denn er wurde doch täglich daran erinnert.

„Dieser Fall ist noch gesetzwidriger. Er bedeutet einen noch größeren Friedensbruch, einen noch größeren Eingriff in Seiner Majestät Vorrechte. Ich glaube, das Duell ist eins der unbestrittensten Vorrechte der Krone, Mr. Jinks, nicht wahr?“

„In der Magna Charte ausdrücklich stipuliert, Sir“, erwiderte Mr. Jinks.

„Einer von den glänzendsten Juwelen Großbritanniens, Seiner Majestät durch die politische Union der Barone abgetrotzt, glaube ich, Mr. Jinks?“

„Jawohl“, versetzte Mr. Jinks.

„Sehr gut“, bemerkte der Beamte und richtete sich stolz auf. „Es soll in diesem Teile königlichen Gebietes nichts an getastet –werden. Grummer, sorgen Sie für entsprechenden Beistand, und vollziehen Sie diese Verhaftsbefehle so bald wie möglich. – Muzzle!“

„Hier, Euer Gnaden.“

„Begleiten Sie diese Dame.“

Miß Witherfield entschwebte, mit hoher Bewunderung der Gelehrsamkeit und des Scharfsinnes des Würdenträgers erfüllt. Mr. Nupkins zog sich zum Essen zurück, Mr. Jinks in sich selbst – mit Ausnahme des Ruhebettes in seinem kleinen Stübchen, das bei Tag von der Familie seiner Hauswirtin bewohnt wurde, die einzige Zufluchtsstätte, die ihm amtlich gestattet war –, und Mr. Grummer zog sich zurück, um durch Vollziehung des ihm gewordnen Auftrages die Schmach abzuwaschen, die ihm und Seiner Majestät anderm Repräsentanten – dem Büttel – im Laufe des Vormittags angetan worden war.

Während diese entschlossenen Anstalten zur Erhaltung des Friedens Seiner Majestät getroffen wurden, hatten sich Mr. Pickwick und seine Freunde, den nahenden Sturm nicht im entferntesten ahnend, ruhig zur Tafel gesetzt und waren alle sehr vergnügt und gesprächig. Mr. Pickwick erzählte eben zum großen Ergötzen seiner Freunde, besonders Mr. Tupmans, sein nächtliches Abenteuer, als sich die Tür öffnete und eine geradezu verbotene Physiognomie in das Zimmer spähte. Die Augen dieser Physiognomie ruhten einige Sekunden forschend auf Mr. Pickwick und waren allem Anschein nach mit dem Ergebnis ihrer Untersuchung zufrieden, denn der Leib, zu dem die verbotene Physiognomie gehörte, schob sich langsam ins Zimmer und entpuppte sich als die Gestalt eines ältlichen Mannes in Stulpenstiefeln – kurz, um den Leser nicht länger in qualvoller Ungewißheit zu lassen, als die Mr. Grummers.

Mr. Grummers Vorgehen war seinem Berufe angemessen, aber eigentümlich. Seine erste Handlung bestand in der Verriegelung der Tür, seine zweite im sorgfältigen Abtrocknen seines Kopfes und Gesichtes mit einem baumwollnen Taschentuch, seine dritte im Hinstellen seines Hutes mit dem baumwollnen Taschentuch darin und seine vierte im Hervorziehen eines kurzen, mit einer messingnen Krone versehenen Stabes, den er mit einer gravitätischen und geisterhaften Miene gegen Mr. Pickwick schwang.

Mr. Snodgraß war der erste, der das eingetretne Stillschweigen brach. Er sah Mr. Grummer einige Minuten durchbohrend an und bedeutete ihm dann mit Nachdruck:

„Dies ist ein Privatzimmer, Sir, ein Privatzimmer.“

Mr. Grummer schüttelte den Kopf und erwiderte:

„Es gibbt kein Privatzimmer vor Seiner Majestät, wenn die Hausschwelle erst einmal öberschritten ist. Das ist Kesetz. Viele Leute behaupten, des Engländers Haus ist seine Burg. Das ist aberr Onnsinn.“

Die Pickwickier starrten einander mit verwunderten Augen an.

„Wer ist Mr. Tupman?“ fragte Mr. Grummer. – Mr. Pickwick hatte er nämlich vermöge seines Scharfblicks sogleich erkannt.

„Ich heiße Tupman.“

„Und ich heiße Kesetz“, erwiderte Mr. Grummer.

„Wie?“ fragte Mr. Tupman.

„Kesetz“, wiederholte Mr. Grummer, „Kesetz, bürrgerrliche Rrechtsgewalt sowie Ixikuttiiwee; das sind meine Titell; hierr ist meine Errmächtigungk, betrrifft Tupman, betrifft Pickfick; Verrstoß in Forrm von Frriedensbrruch gerrichtett gegen unsern rregierrenden Herrn, den König; auf vorliegenden Fall berrechnet und ausgestellt; alles in Butter. liich verrhafte Sie, Pickfick! Tupman – desgleichen.“ „Was ist das für eine Unverschämtheit!“ rief Mr. Tupman aufspringend. „Verlassen Sie das Zimmer! – Augenblicklich verlassen Sie das Zimmer.“ „Hallo!“ rief Mr. Grummer, verfügte sich eiligst an die‘ Tür und öffnete sie ein paar Zoll weit. „Dubbley!“

„Hirr“, antwortete eine Baßstimme aus dem Gang, und ein sechs Fuß hoher und entsprechend breiter Mann mit C1nem schmutzigen roten Gesicht schob sich durch die halb geöffnete Tür ins Zimmer.

„Sind die andern gleichfalls zurr Hand, Dubbley?“ fragte Mr. Grummer.

Mr. Dubbley, ein wortkarger Mann, nickte bejahend.

„Erringen Sie die Abteilung herrein, Dubbley“, gebot Mr. Grummer.

Mr. Dubbley tat, wie ihm befohlen, und ein halbes Dutzend Konstabler, jeder mit einem kurzen Stab und einer messingnen Krone versehen, stellten sich im Zimmer auf. Mr. Grummer steckte seinen Stab in die Tasche und sah Mr. Dubbley an. Mr. Dubbley steckte seinen Stab in die Tasche und sah seine Abteilung an, und die Abteilung steckte ihre Stäbe in die Tasche und sah die Herren Tupman und Pickwick an.

Mr. Pickwick und seine Jünger erhoben sich wie ein Mann.

„Was soll dieses stürmische Eindringen in ein Privatzimmer bedeuten?“ fragte Mr. Pickwick.

„Wer untersteht sich, mich zu verhaften?“ rief Mr. Tupman.

„Was wollt ihr hier, ihr Schufte?“ sagte Mr. Snodgraß.

Mr. Winkle sagte gar nichts, heftete nur seine Augen auf Grummer und schleuderte ihm einen Blick zu, der ihm die Hirnschale durchbohrt und auf der andern Seite wieder herausgekommen wäre, hätte der Mann nur einigermaßen Empfinden besessen, so aber brachte es keine sichtbare Wirkung hervor.

Als das Detachement gewahrte, daß Mr. Pickwick und seine Freunde geneigt waren, sich der Autorität der Behörden zu widersetzen, stülpte es sehr bedeutungsvoll seine Rockärmel auf, als ob es in ihrem Beruf läge und sich von selbst verstände, daß es die Herren zuvörderst zu Boden schlagen und dann mitnehmen müsse. Diese Demonstration verfehlte ihre Wirkung auf Mr. Pickwick keineswegs. Er besprach sich einige Minuten lang leise mit Mr. Tupman, erklärte sich dann bereit, mit zum Bürgermeister zu gehen, und begnügte sich damit, die Anwesenden in Kenntnis zu setzen, daß er fest entschlossen sei, sobald er wieder in Freiheit sein werde, diese ungeheure Verletzung seiner Vorrechte als Engländer zu ahnden, was den Eindringlingen ein lautes Gelächter entlockte, Mr. Grummer ausgenommen, der auch den geringsten Eingriff in das göttliche Recht der Obrigkeit einer Art Gotteslästerung gleich zu achten schien.

Als sich jedoch Mr. Pickwick bereit erklärt hatte, sich den Gesetzen seines Landes zu fügen, und die Kellner und Hausknechte, Stubenmädchen und Postjungen, die sich von der angedrohten Widersetzlichkeit allerhand Kurzweil versprochen hatten, getäuscht und mißmutig auseinandergingen, ergab sich eine ungeahnte Schwierigkeit. Trotz seiner Hochachtung vor den Behörden weigerte sich nämlich Mr. Pickwick auf das entschiedenste, sich gleich einem gemeinen Verbrecher von den Dienern der Gerechtigkeit umringt und bewacht über die Straße führen zu lassen. Ebenso bestimmt weigerte sich Mr. Grummer, bei der noch immer herrschenden Aufregung der Gemüter – denn es war ein halber Feiertag und die Schuljugend noch nicht nach Hause zurückgekehrt –, auf der andern Seite der Straße zu gehen und sich mit Mr. Pickwicks Ehrenwort, sich geradenwegs zum Bürgermeister verfügen zu wollen, zu begnügen. Andererseits weigerten sich Mr. Pickwick und Mr. Tupman ebenso entschieden, die Kosten einer Postkutsche, des einzigen anständigen Vehikels, das man bekommen konnte, zu tragen. Der Streit wurde immer hitziger, die Parlamentäre konnten sich nicht einigen, und eben war das Detachement im Begriff, Mr. Pickwicks Weigerung durch das gewöhnliche Auskunftsmittel zu beseitigen, ihn mit Brachialgewalt zum Bürgermeister zu schleppen, als man sich erinnerte, daß im Hofe eine alte Sänfte stand, die, ursprünglich für einen mit Gicht behafteten Grundeigentümer entworfen, zur Beförderung Mr. Pickwicks und Mr. Tupmans zum mindesten ebenso geeignet war wie eine moderne Postkutsche. Die Sänfte wurde also requiriert und in den Hausflur gebracht. Mr. Pickwick und Mr. Tupman schlüpften hinein und ließen die Vorhänge herunter. Ein paar Träger waren bald gefunden, und in bester Ordnung setzte sich der Zug in Bewegung. Die Diener der Gerechtigkeit umzingelten das Vehikel, Mr. Grummer und Mr. Dubbley schritten triumphierend voran, Mr. Snodgraß und Mr. Winkle gingen Arm in Arm hinterdrein, und die Ungeseiften von Ipswich bildeten die Nachhut.

Die Krämer der Stadt hatten zwar nur eine sehr unbestimmte Vorstellung von der Natur des vorgefallnen Verbrechens, waren aber doch durch dieses Schauspiel höchlich erbaut. War es doch der starke Arm des Gesetzes, der sich da mit der Kraft von zwanzig Goldschlägern auf zwei Verbrecher aus der Hauptstadt herniedersenkte; die gewaltige Maschine wurde durch ihren eignen Bürgermeister geleitet und durch ihre eignen Amtsdiener in Betrieb gesetzt, und durch ihre vereinten Anstrengungen waren die Frevler in dem engen Raum einer Sänfte sicher aufgehoben. Mancher Zuruf des Beifalls und der Bewunderung begrüßte Mr. Grummer, als er den Zug mit dem Stab in der Hand anführte. Laut und anhaltend war der Jubel, den die Ungeseiften anstimmten.

Mr. Weller kehrte gerade in seiner Morgenjacke mit den schwarzen Kalikoärmeln ziemlich niedergeschlagen von einer erfolglosen Besichtigung des geheimnisvollen Hauses mit dem grünen Tor zurück, als er, die Augen erhebend, den die Sänfte umwogenden Volkshaufen gewahrte. Um seine Gedanken von dem fehlgeschlagnen Unternehmen abzulenken, trat er beiseite, um die Menge vorbeizulassen, und da er hörte, daß sie größtenteils zu ihrem Privatvergnügen schrie und lärmte, begann er sofort, lediglich um sich aufzuheitern, ebenfalls aus vollem Halse zu schreien.

Mr. Grummer schritt vorüber und Mr. Dubbley, die Sänfte und die Leibwache, und immer noch stimmte Sam in das enthusiastische Geschrei der Menge ein und schwenkte dabei seinen Hut im Taumel höchster Lust, nicht im entferntesten die Wahrheit ahnend, als er plötzlich bei der unerwarteten Erscheinung der Herren Winkle und Snodgraß verstummte.

„Was is los, Gentlemen?“ rief er. „Wen tragen sie denn da in diesem Trauerschilderhaus?“

Beide Herren antworteten gleichzeitig, aber ihre Worte verhallten im allgemeinen Lärm.

Wen?“ schrie Sam wieder. Und abermals erfolgte eine gleichzeitige Antwort. Wenn er auch die Worte nicht vernehmen konnte, so las er doch von der beiden befreundeten Lippenpaaren das Zauberwort „Pickwick“. Dies war genug. In der nächsten Minute hatte sich Mr. Weller Bahn gebrochen, brachte die Träger zum Stehen und stellte den stattlichen Grummer zur Rede. „Holla, Alter, wen haben Sie da in dieser Tragbahre?“ „Zurück!“ rief Mr. Grummer, dessen Selbstgefühl durch die Volksgunst wunderbar gehoben war.

„Schlagt ihn nieder, wenn er nicht abhaut“, riet Mr. Dubbley.

„Ich bin Ihnen ja sehr verbunden, Sie alter Herr, daß Sie sich so um meine Bequemlichkeit kümmern; und dem andern alten Herrn, der so aussieht, als wenn er gerade aus ’ner Karawane getürmt ist, wo lauter Riesen drin waren, dem bin ich ja noch mehr verbunden wegen sein hübschen Vorschlag. Bloß, wenn es Ihnen egal is, dann hätte ich doch lieber Auskunft auf meine Frage. – Wie geht es Ihnen, Sir?“ Diese letzte Bemerkung war in gönnerhaftem Ton an Mr. Pickwick gerichtet, der eben durch das Vorderfenster spähte.

Mr. Grummer war völlig sprachlos vor Entrüstung. Er zog seinen Stab mit der Messingkrone aus der Tasche hervor und schwenkte ihn vor Sams Augen.

„Hm“, sagte Sam, „recht hübsch, besonders die Krone, die hat ja direkt Ähnlichkeit mit ’ner richtigen.“

„Zurück!“ schrie Mr. Grummer entrüstet, und um seinem Befehl mehr Kraft zu geben, stieß er mit der einen Hand das metallne Sinnbild des Stabes in Sams Halstuch und faßte ihn mit der andern am Kragen, eine Artigkeit, die Mr. Weller damit erwiderte, daß er ihn zu Boden schlug, nachdem er zuvor mit der größten Bedachtsamkeit einen Träger umgeworfen, um Mr. Grummer minder hart zu betten.

Ob Mr. Winkle von einem vorübergehenden Anfall jener Art von Wahnsinn befallen war, die aus dem Gefühl erlittenen Unrechts entspringt, oder ob er durch Mr. Wellers Tapferkeit angesteckt wurde, läßt sich nicht mehr ermitteln; kaum jedoch sah er Mr. Grummer stürzen, als er einen furchtbaren Angriff auf einen kleinen Jungen machte, der neben ihm stand, worauf Mr. Snodgraß mit echt christlichem Sinn und um niemand ungewarnt zu überfallen, mit lauter Stimme ankündigte, er werde jetzt beginnen – eine Erklärung, nach der er mit kaltblütiger Überlegung seinen Rock auszog. Er wurde jedoch augenblicklich umringt und festgenommen, und zu seiner und Mr. Winkles Ehre sei gesagt, daß beide nicht den geringsten Versuch machten, sich oder Mr. Weller zu befreien, der erst nach heftigem Widerstand von der Übermacht bewältigt und festgenommen wurde. Der Zug ordnete sich, die Träger traten an ihre Plätze, und alles setzte sich wieder in Bewegung.

Mr. Pickwicks Entrüstung während dieses ganzen Vorfalls kannte keine Grenzen. Er sah nur, wie Sam die Werkzeuge der Gerechtigkeit in allen Richtungen durcheinanderwarf – das einzige, was er wahrnehmen konnte, da er weder die Tür der Sänfte zu öffnen, noch die Vorhänge aufzuziehen vermochte. Endlich gelang es ihm mit Hilfe Mr. Tupmans, die Decke zu durchstoßen und auf den Sitz zu steigen, von wo aus er, krampfhaft auf die Schulter des Freundes gestützt, eine flammende Rede an das Volk hielt, in der er gegen die unverantwortliche Art der Behandlung protestierte und alle zu Zeugen aufrief, daß sein Diener zuerst angegriffen worden sei.

In diesem Aufzug erreichten sie das Haus des Bürgermeisters, die Sänftenträger im Trab, Mr. Pickwick im Feuer der Rede und die Menge laut johlend.

Fünfundzwanzigstes Kapitel


Fünfundzwanzigstes Kapitel

Zeigt nebst andern ergötzlichen Dingen, welche Würde und Unparteilichkeit Mr. Nupkins an den Tag legte, und wie Mr. Weller seine Schuld Mr. Hiob Trotter mit Zinseszinsen heimzahlte.

Groß war Mr. Wellers Entrüstung, als er fortgeschleppt wurde, zahlreich seine Anspielungen auf die Persönlichkeit und Handlungsweise Mr. Grummers und seines Amtsgenossen und heldenmütig die Herausforderungen, die er an die sechs Konstabler richtete. Mr. Snodgraß und Mr. Winkle lauschten mit tiefem Respekt auf den Strom der Beredsamkeit, den ihr Meister, taub gegen die Bitten Mr. Tupmans, doch den Deckel des Vehikels zu schließen, von der Höhe herab sich ergießen ließ. Doch Mr. Wellers Zorn wich plötzlich der Neugierde, als die Menge in denselben Hofraum einbog, in dem er den Ausreißer Hiob Trotter getroffen hatte, und die Neugierde machte einem Gefühle der freudigsten Überraschung Platz, als Mr. Grummer den Trägern haltzumachen gebot, mit würdevollem und festem Gang auf das grüne Tor zuschritt und hastig am Glockenzug riß.

Darauf erschien ein sehr gut gebautes Hausmädchen mit ausnehmend hübschem Gesicht, das vor Erstaunen über das rebellische Aussehen der Gefangenen und den schäumenden Redefluß Mr. Pickwicks die Hände über dem Kopf zusammenschlug und Mr. Muzzle herbeirief. Mr. Muzzle öffnete den einen Flügel des Tores, um die Sänfte, die Gefangenen und die Diener der Gerechtigkeit einzulassen. Sobald diese das Tor passiert hatten, schlug Muzzle es der folgenden Menge vor der Nase zu, mit dem Erfolg, daß die Leute, empört über ihren Ausschluß und neugierig auf das, was noch kommen würde, ein, zwei Stunden lang ihren Gefühlen Luft machten, indem sie das Tor mit Fußtritten bearbeiteten und die Glocke tanzen ließen. An diesem Vergnügen beteiligten sich abwechselnd alle Versammelten außer drei oder vier Glücklichen, die eine Ritze im Tor entdeckt hatten, durch die man zwar auch nichts sehen konnte, die sie aber dennoch mit jener unermüdlichen Sturheit belagerten, mit der sich ganze Menschentrauben die Nasen an den Vorderfenstern einer Apotheke flachdrücken, während ein angesäuselter Mann, der versehentlich unter die Pferde gekommen ist, im Hinterzimmer behandelt wird.

Am Fuß einer zur Haustür führenden Treppe, die auf beiden Seiten von je einer amerikanischen Aloe in einem grünen Topf bewacht wurde, machte die Sänfte halt, und Mr. Pickwick und seine Freunde wurden in den Hausflur geführt, um gleich darauf, von Muzzle angemeldet, Mr. Nupkins, dem Allgewaltigen, vorgestellt zu werden.

Die Szene, die sich ihren Augen darbot, war ergreifend und ganz darauf berechnet, das Herz des Schuldbewußten mit Schrecken zu erfüllen und ihm einen richtigen Begriff von der Strenge und Majestät des Gesetzes beizubringen. Vor einem mächtigen Bücherkasten, an einem ebensolchen Tisch, hinter einem großen Buch und in einem geräumigen Stuhl saß Mr. Nupkins, alle diese Gegenstände weit überragend. Der Tisch war mit Stößen von Akten geschmückt, und an seinem untern Ende präsidierte Mr. Jinks, eifrig bemüht, so geschäftig wie möglich auszusehen. Nachdem die ganze Gesellschaft eingetreten war, Muzzle sorgfältig die Tür verschlossen und sich hinter den Stuhl seines Gebieters, seiner Befehle gewärtig, aufgestellt hatte, lehnte sich Mr. Nupkins mit feierlicher „Würde zurück und betrachtete die Gesichter seiner unfreiwilligen Gäste mit durchbohrenden Blicken.

„Wer ist diese Person, Grummer?“ fragte er, auf Mr. Pickwick deutend, der als Sprecher, mit dem Hut in der Hand, dastand und sich mit äußerster Höflichkeit und Ehrerbietung verneigte.

„Euer Ho’ohlgeboren, das ist derr Pickfick“, erwiderte Grummer.

„Etwas höflicher, ja! Alte Lichtschere!“ fiel Mr. Weller ein und drängte sich mit Ellbogenstößen in die vorderste Reihe. „Bitte um Verzeihung, Sir, aber Ihr dienstbarer Geist da in den Stulpenstiefeln würde als Zeremonienmeister senkrecht verhungern. Dies, Sir“, fuhr Mr. Weller mit launiger Vertraulichkeit fort, „dies ist Mr. Pickwick, Esquire; dies Mr. Tupman; der Herr dort Mr. Snodgraß und der andre neben ihm Mr. Winkle, lauter vortreffliche Schenlmän, deren Bekanntschaft zu machen Sie sich noch mal sehr glücklich schätzen werden. Je schneller Sie übrigens Ihre Konstabler auf ’n paar Monate in die Tretmühle schicken, desto schneller und besser werden wir uns verständigen. Zuerst das Geschäft, dann das Vergnügen, wie König Richard der Dritte sagte, als er seinen Nebenbuhler im Tower erstach und dann die kleinen Kinder erwürgte.“

Mr. Weller schwieg, bürstete seinen Hut mit dem rechten Ellenbogen und nickte Mr. Jinks zu, der ihm bis zu Ende, sprachlos vor Entsetzen, zugehört hatte.

„Wer ist der Mensch, Grummer?“ fragte der Machthaber.

„Ein gänzlich hemmungsloser Kerl. Euer Ho’ohlgeboren“, erwiderte Grummer. „Er unterfing sich, die Gefangenen zu befreien ond griff die Diener des Kesetzes an. Wir nahmen ihn derrwegen pfest ond brrachten ihn mit.“

„Da hattet ihr vollkommen recht“, entgegnete Mr. Nupkins. „Es ist augenscheinlich ein desperater Halunke.“

„Es ist mein Diener, Sir“, fiel Mr. Pickwick zornig ein.

„So, so, er ist Ihr Diener!“ sagte Mr. Nupkins. „Also eine Verschwörung, das Ansehen der Behörden zu schmälern und ihre Vollstrecker zu ermorden. Pickwicks Diener! – Bringen Sie das zu Protokoll, Mr. Jinks!“

Mr. Jinks‘ Feder rauschte über das Papier.

„Dein Name, Bursche!“ donnerte Herr Nupkins.

„Weller“, erwiderte Sam.

„Ein sehr hübscher Name für die Liste von Newgate“, bemerkte Mr. Nupkins.

Dies war ein Scherz, und Jinks, Grummer, Dubbley, sämtliche Konstabler und Muzzle brachen gehorsamst in ein schallendes Gelächter aus. „Notieren Sie den Namen, Mr. Jinks“, befahl der Würdenträger.

„Zwei l, alter Knabe“, rief Sam.

Ein unglücklicher Aushilfskonstabler lachte wiederum und wurde augenblicklich wegen vorschriftswidriger Heiterkeit mit Arrest bedroht., „Wo zu Hause?“ verhörte der Machthaber weiter.

„Jedesmal woanders“, erwiderte Sam.

„Notieren Sie das, Mr. Jinks“, sagte der Beamte, allmählich in Wut geratend.

„Unterstreichen Sie’s auch“, fügte Sam hinzu.

„Er ist also ein Landstreicher, Mr. Jinks; ein Landstreicher nach seiner eignen Aussage. – Nicht wahr, Mr. Jinks?“

„Allerdings, Sir.“

„Dann bleibt er als solcher in Haft!“

„Is ’ne entgegenkommende Justiz hierzulande“, bemerkte Sam, „da gibt’s keinen Beamten nich, wo nich auf der Stelle zwei dumme Streiche macht, wenn er andere Leute wegen einem einzigen einsperrt.“

Wieder lachte ein Aushilfskonstabler und machte dann ein so übernatürlich-feierliches Gesicht, daß man ihn augenblicklich als den Sünder erkannte.

„Grummer“, rief Mr. Nupkins, kirschrot vor Wut, „wie können Sie es wagen, sich einen so unverantwortlich respektlosen Menschen zur Aushilfe zu wählen?“

„Es tut mir sehr leid, Euer Ho’ohlgeboren“, stammelte Grummer.

„Sehr leid?! Sie werden mir büßen für diese Pflichtvergessenheit, Mr. Grummer. Ich werde ein Exempel an Ihnen statuieren. Nehmen Sie dem Burschen den Stab ab. Er ist betrunken. – Du bist betrunken, Kerl.“

„Ich bin nicht betrunken, Euer Gnaden“, erwiderte der Mann.

„Du bist betrunken!“ entgegnete Mr. Nupkins. „Wie kannst du dich unterstehen, zu behaupten, du seist nicht betrunken, wenn ich sage, du bist es? – Riecht er nicht nach Schnaps, Grummer?“

„Kanz krausam, Euer Ho’ohlgeboren“, erwiderte Grummer, unter dem Eindruck, daß irgend jemand nach Rum röche.

„Ich habe es gleich gewußt“, bemerkte Mr. Nupkins. „Gleich beim Eintritt ins Zimmer habe ich es ihm an seinen entzündeten Augen angesehen, daß er betrunken ist. – Haben Sie seine entzündeten Augen bemerkt, Mr. Jinks?“

„Gewiß, Sir.“

„Ich habe diesen Morgen nicht einen Tropfen Branntwein gesehen“, versicherte der Mann, der so nüchtern war wie nur je in seinem Leben. „Er wagt es, mir eine Lüge ins Gesicht zu sagen!“ rief der Bürgermeister. „Ist er nicht in diesem Augenblick betrunken, Mr. Jinks?“

„Gewiß, Sir!“

„Mr. Jinks, ich lasse den Kerl einsperren wegen Unverschämtheit. Setzen Sie den Arrestbefehl auf, Mr. Jinks.“

Der Aushilfskonstabler wäre ohne weiteres eingesperrt worden, allein Jinks als juristischer Beirat flüsterte Mr. Nupkins ins Ohr, er glaube, das gehe nicht gut; wohl sei jeder Privatmann in England verpflichtet, auf Aufforderung der Behörden als Aushilfskonstabler eine Verhaftung mit bewerkstelligen zu helfen, aber er könne ruhig betrunken sein und es leugnen. – Der Würdenträger ließ es demnach mit Rücksicht auf die zahlreiche Familie des Aushilfskonstablers bei einem Verweis und bei der Entfernung aus dem Lokal bewenden und enthob ihn weiterer Verpflichtungen. Murmelnd bewunderten Grummer, Dubbley, Muzzle und sämtliche übrigen Konstabler Mr. Nupkins Großmut.

„Jetzt, Mr. Jinks, nehmen Sie Grummer unter Eid“, befahl der Würdenträger.

Grummer rasselte die Formel herunter, aber da er dann etwas weitschweifig wurde und Mr. Nupkins Essenszeit heranrückte, wurde die Sache kurz gemacht und Mr. Grummer die Antworten auf die Zunge gelegt, die denn auch immer so bejahend wie möglich ausfielen. Mr. Weller wurde zweier tätlicher Angriffe, Mr. Winkle einer Drohung und Mr. Snod-graß einer Handgreiflichkeit an einem Jungen überführt.

Die darauffolgende amtliche Beratung dauerte ungefähr zehn Minuten, dann zog sich Mr. Jinks an seinen Platz am Ende des Tisches zurück. Der Bürgermeister setzte sich nach einem vorbereitenden Räuspern in seinen Stuhl und war eben im Begriff, seine Anrede zu beginnen, als ihn Mr. Pickwick mit den Worten unterbrach:

„Ich bitte um Verzeihung, Sir, wenn ich das Wort ergreife, aber bevor Sie das Urteil, das Sie auf die stattgehabten Verhandlungen gegründet haben mögen, aussprechen, muß ich mein Recht, gehört zu werden, geltend machen, insofern die Sache meine Person betrifft.“

„Schweigen Sie!“ rief der Bürgermeister gebieterisch.

„Ich muß Ihnen bemerken, Sir –“, sagte Mr. Pickwick.

„Schweigen Sie, Sir, oder ich befehle meinem Gerichtsdiener, Sie abzuführen!“

„Sie können Ihrem Gerichtsdiener befehlen, was Ihnen beliebt, Sir“, fuhr Mr. Pickwick gelassen fort. „Und nach dem, was ich von der Subordination gesehen habe, die bei Ihnen herrscht, zweifle ich nicht, daß auch alles ausgeführt werden wird, was Sie nur immer befehlen, aber ich muß mir die Freiheit nehmen, Sir, so lange auf meinem Recht, angehört zu werden, zu bestehen, bis man mich mit Gewalt daran hindert.“

„Hoch Pickwick und feste Jrundsätze!“ rief Mr. Weller mit sehr vernehmlicher Stimme.

„Sam, sei ruhig!“ ermahnte Mr. Pickwick.

„Stumm, wie ’ne durchlöcherte Trommel“, brummte Sam.

Mr. Nupkins sah Mr. Pickwick mit dem Ausdruck des höchsten Erstaunens über eine derartig unerhörte Verwegenheit an und war augenscheinlich im Begriff, sehr zornig zu erwidern, als ihn Mr. Jinks am Ärmel zupfte und ihm etwas ins Ohr flüsterte.

Seinen Ärger herunterschluckend, wandte sich dann Mr. Nupkins wieder an Mr. Pickwick und fragte in scharfem Ton: „Also, was haben Sie mir zu sagen?“

„Vorerst“, begann Mr. Pickwick mit einem Zornesblick durch seine Brille, vor dem sogar Nupkins die Augen niederschlug, „vorerst wünsche ich zu erfahren, warum ich und meine Freunde hierher gebracht worden sind?“

„Muß ich es ihm sagen?“ fragte der Würdenträger seinen Schreiber leise.

„Ich denke, es wird das beste sein, Sir“, flüsterte Jinks.

„Es ist eine Anzeige erstattet worden, daß Sie ein Duell planen und daß der andre da, Tupman, Ihr Sekundant und Mitschuldiger ist. Aus diesem Grunde … Was, Mr. Jinks?“

„Allerdings, Sir.“

„Aus diesem Grunde fordere ich Sie beide auf … Was, Mr. Jinks?“

„Sehr richtig, Sir.“

„Fordere ich Sie auf, fordere ich Sie auf . .. Nun, Mr. Jinks?“ fragte Mr. Nupkins ärgerlich.

„Eine Bürgschaft zu stellen, Sir.“

„Ja. Deshalb fordere ich Sie beide auf, wie ich eben sagen wollte, als mich mein Schreiber unterbrach, eine Bürgschaft zu stellen.“

„Genügende Bürgschaft“, soufflierte Mr. Jinks.

„Und zwar eine genügende Bürgschaft.“

„Leute aus der Stadt“, flüsterte Jinks. „Fünfzig Pfund jeder und natürlich Hausbesitzer.“

„Ich verlange zwei Bürgen, jeder à fünfzig Pfund“, sagte Mr. Nupkins laut und würdevoll, „die beide natürlich Hausbesitzer sein müssen.“

„Aber um Himmels willen, Sir“, rief Mr. Pickwick wie auch Mr. Tupman, vor Erstaunen und Unwillen außer sich, „wir sind in dieser Stadt doch völlig fremd. Ich kenne ebensowenig einen Hausbesitzer hier, wie ich beabsichtige, mich mit irgend jemand in ein Duell einzulassen.“

„Nun dann, nun dann … Was, Mr. Jinks?“

„Allerdings, Sir.“

„Haben Sie noch etwas hinzuzufügen?“ fragte der Bürgermeister.

Mr. Pickwick hätte allerdings noch eine ganze Menge hinzuzufügen gehabt, wäre er nicht in diesem Augenblick von Mr. Weller beiseite gezogen und in ein halblautes Gespräch verwickelt worden, das ihn so in Anspruch nahm, daß er darüber die Frage vollständig überhörte. Mr. Nupkins war nun nicht der Mann, eine derartige Frage zweimal zu stellen, und begann nach einem abermaligen vorbereitenden Räuspern seine Entscheidung auszusprechen, während die Konstabler voll Ehrfurcht und Bewunderung lauschten.

Mr. Weller sollte für seinen ersten Angriff auf die Diener der Gerechtigkeit um zwei und für den zweiten um drei, Mr. Winkle um zwei und Snodgraß um ein Pfund gestraft werden und außerdem, lautete der Urteilsspruch, den Frieden gegen Seiner Majestät Untertanen und insbesondere gegen den Gerichtsdiener Daniel Grummer beschwören. Pickwick und Tupman hätten, wie gesagt, Bürgen zu stellen.

Kaum hatte der Würdenträger zu sprechen aufgehört, als Mr. Pickwick, auf dessen bereits wieder heiterem Gesicht ein Lächeln durchbrach, vortrat und sagte:

„Ich bitte den Herrn Bürgermeister um Verzeihung, aber ich muß um eine geheime Unterredung ersuchen.“

„Um was?“ fragte Mr. Nupkins.

Mr. Pickwick wiederholte sein Anliegen.

„Das ist eine sonderbare Bitte“, meinte der Bürgermeister, „eine geheime Unterredung?“

„Eine geheime Unterredung“, wiederholte Mr. Pickwick mit Festigkeit. „Nur wünsche ich, daß mein Diener dabei ist, da ich die Mitteilung, die ich Ihnen zu machen habe, zum Teil ihm verdanke.“

Allgemeines Staunen. Mr. Nupkins erbleichte. Sollten die beiden, von Gewissensbissen gefoltert, irgendeine heimliche Verschwörung gegen sein Leben einzugestehen vorhaben? Furchtbarer Gedanke! Er war Staatsbeamter. Auch Julius Cäsar und Mr. Parsifal …! Er sah Mr. Pickwick an und winkte dann Mr. Jinks.

„Was halten Sie davon, Mr. Jinks?“ flüsterte er.

Mr. Jinks, der sich darüber durchaus nicht im klaren war, lächelte nur, zog die Mundwinkel in die Höhe und wiegte bedenklich den Kopf.

„Mr. Jinks“, sagte der Bürgermeister streng, „Sie sind ein Esel, Sir.“

Mr. Jinks lächelte wieder, wenn auch weniger, und zog sich langsam hinter den Tisch zurück.

Mr. Nupkins ging einige Minuten mit sich selbst zu Rate, erhob sich dann, bedeutete Mr. Pickwick und Sam Weller, ihm zu folgen, trat in ein kleines Zimmer, das an die Amtsstube stieß, ersuchte Mr. Pickwick, sich nach dem entgegengesetzten Ende des Gemaches zu verfügen, und erklärte sich bereit, die Mitteilungen, welcher Art sie auch sein möchten, stehend anzuhören, immer dabei die Hand auf der Türklinke, um sogleich entrinnen zu können, im Falle die beiden nur die geringste Miene machen sollten, zu Feindseligkeiten überzugehen.

„Ich will ohne Umschweife zur Sache kommen, Sir“, begann Mr. Pickwick. „Es betrifft Sie und das Ansehen Ihrer Person. Ich habe allen Grund zu der Vermutung, Sir, daß Sie einem frechen Betrüger den Verkehr in Ihrem Hause gestattet haben.“

„Zweien“, unterbrach Sam, „der Maulbeeronkel is ’n Füllhorn voll Krokodilstränen und Schurkerei.“

„Sam!“ mahnte Mr. Pickwick, „wenn ich mich mit dem Herrn verständigen soll, muß ich dich schon bitten, den Mund zu halten.“

„Das is ’n Schlag, Sir“, versetzte Mr. Weller. „Aber wenn man bedenkt, was der Hiob für ein Kerl ist, kann man sich nich helfen, man muß das Ventil ’n paar Zoll aufmachen.“

„Mit einem Wort, Sir“, fuhr Mr. Pickwick fort, „mein Diener scheint mit Recht zu vermuten, daß ein gewisser Kapitän Fitz-Marshall bei Ihnen aus und ein geht. – Denn“, fügte er hinzu, als er sah, daß Mr. Nupkins ihn zornig unterbrechen wollte, „denn wenn er recht hat, so kenne ich diesen Menschen als einen …“

„Pst, pst, halt“, rief Mr. Nupkins und schloß schnell die Tür. „Sie kennen ihn – als was?“

„Als einen nichtswürdigen Abenteurer, als einen ehrlosen Halunken, der die Gesellschaft plündert und die Leute mit seinen Schurkereien, seinen albernen, dummen, erbärmlichen Schurkereien, hinters Licht führt“, rief Mr. Pickwick aufgeregt.

„O Gott“, ächzte Mr. Nupkins, blutrot im Gesicht, und plötzlich die Liebenswürdigkeit selbst. „O Gott, o Gott, Mr. …“ .

„Pickwick“, ergänzte Sam.

„Mr. Pickwick. O Gott, Mr. Pickwick – bitte, nehmen Sie doch Platz – das kann nicht Ihr Ernst sein. Kapitän Fitz-Marshall!?“

„Nennen Sie den bloß nich Käptn“, fiel Sam ein, „und auch nich Fitz-Marshall; der is weder dies noch das, ’n rumstromernder Komödiant, das ja, und heißen tut er Jingle, und wenn es je ’nen Wolf in ’ner maulbeerfarbenen Haut gegeben hat, denn isses Hiob Trotter.“

„Es ist die reine Wahrheit, Sir“, bestätigte Mr. Pickwick, als ihn der Würdenträger voll Bestürzung anstarrte. „Mein Besuch in dieser Stadt gilt lediglich der Entlarvung dieses Hochstaplers.“

Und Mr. Pickwick begann dem schreckensbleichen Mr. Nupkins einen kurzen Abriß von Mr. Jingles Scheußlichkeiten zu geben. Er erzählte, wie er sich zuerst eingeführt, wie er Miß Wardle entführt, sie aber selber gegen ein Lösegeld gern wieder freigegeben, wie er ihn selber später um Mitternacht in ein Pensionat gelockt habe und wie es Bürgerpflicht sei, die Ansprüche Jingles auf seinen Stand und Namen in ihrer ganzen Nichtigkeit zu enthüllen).

Das Blut stieg Mr. Nupkins bis in die äußersten Spitzen seiner Ohren. Er hatte den Kapitän bei einem Pferderennen in der Nachbarschaft zufälligerweise kennengelernt. Geblendet durch seine lange Liste aristokratischer Bekanntschaften, seine ausgedehnten Reisen und sein fashionables Benehmen hatten Mrs. Nupkins und Miß Nupkins mit Kapitän Fitz-Marshall überall großgetan, bis schließlich ihre Busenfreundinnen, Mrs. und Miß Porkenham, nebst Bruder, Mr. Sidney Porkenham, vor Eifersucht und Neid beinahe geplatzt waren. Und jetzt, nach all dem, hören zu müssen, der Kapitän sei ein schäbiger Abenteurer, ein herumziehender Komödiant und, nicht direkt ein Betrüger, so doch ein Subjekt, das einem solchen verzweifelt ähnlich sah. O Gott, o Gott, was würden die Porkenhams sagen? Wie würde Mr. Sidney Porkenham triumphieren, wenn er erführe, daß man ihn um eines solchen Nebenbuhlers willen zurückgesetzt? Und das Gesicht des alten Porkenham bei der nächsten Quartalgerichtssitzung, wenn die Geschichte ruchbar geworden! Wie würde die Opposition der Magistratspartei die Sache breittreten und ausnützen!

„Aber alles das“, meinte Nupkins nach einem langen Stillschweigen, und sein Antlitz hellte sich für einen Augenblick wieder auf, „alles das ist schließlich nur eine bloße Behauptung. Kapitän Fitz-Marshall ist ein Mann von sehr einnehmenden Manieren und hat ohne Zweifel viele Feinde. Welche Beweise haben Sie für die Wahrheit Ihrer Angaben?“

„Stellen Sie ihn mir gegenüber“, erwiderte Mr. Pickwick. „Das ist alles, was ich verlange, und alles, was ich mir ausbitte. Stellen Sie ihn mir und meinen Freunden gegenüber, und Sie werden keines weiteren Beweises mehr bedürfen.“

„Nun“, sagte Mr. Nupkins, „das läßt sich sehr leicht bewerkstelligen, denn er wird heute abend bei uns sein. Auf die Art würde die Sache auch nicht publik werden. Es wäre mir bloß – bloß – um den jungen Mann selbst, Sie verstehen. Ich, ich möchte aber immerhin erst Mrs. Nupkins bezüglich der zu ergreifenden Maßregeln um Rat fragen. Vorerst müssen wir unsre Rechtssache ins reine bringen, ehe wir etwas andres vornehmen können. Darf ich bitten, wieder in das andre Zimmer zu treten – Grummer!“

„Euer Ho’ohlgeboren?“ erwiderte Grummer mit dem Lächeln des erklärten Günstlings.

„Lassen Sie sich in Zukunft keine solchen Übereiltheiten mehr zuschulden kommen“, sagte Mr. Nupkins streng. „Es ist höchst ungebührlich, daß Sie auch noch lachen. Sie haben am wenigsten Grund dazu. War der Bericht, den Sie mir soeben erstatteten, durchaus der Wahrheit getreu? Besinnen Sie sich wohl, Mensch.“

„Euer Ho’ohlgeboren“, stotterte Grummer, „ich …“

„Aha. Sie verwickeln sich in Widersprüche! Mr. Jinks, bemerken Sie seine Verwirrung?“

„Allerdings, Sir.“

„Wiederholen Sie jetzt Ihre Aussagen, Grummer. Und noch einmal: ich warne Sie, nehmen Sie sich zusammen! Mr. Jinks, geben Sie seine Angaben zu Protokoll.“

Der unglückliche Grummer begann seinen Bericht aufs neue, allein sein Hang zur Weitschweifigkeit und die Art und Weise, wie Mr. Jinks seine Worte drehte und wendete, machte ihn in einem Zeitraum von weniger als drei Minuten derart konfus, daß Mr. Nupkins mit einem Faustschlag auf den Tisch erklärte, er könne ihm keinen Glauben schenken. Die Strafen wurden also erlassen, und Mr. Jinks wußte im Augenblick ein paar Bürgen. Nachdem so die ganze feierliche Gerichtsverhandlung zur allgemeinen Zufriedenheit geschlossen war, wurde Mr. Grummer schimpflich hinausgewiesen – ein furchtbarer Beweis der Unbeständigkeit menschlichen Glückes und der unsichern Stellung eines Günstlings der Großen dieser Welt.

Mrs. Nupkins war eine majestätische Dame in einem blauen Gazeturban und einer lichtbraunen Perücke. Miß Nupkins besaß alles Hochfahrende ihrer Mama, außer dem Turban, und alles Falsche, außer den Haaren, und wenn die beiden Damen sonst noch etwas hervorstechend Gemeinsames miteinander hatten, so war es das, bei jeder sich bietenden Gelegenheit in allem und jedem eine Schuld auf Mr. Nupkins Schultern abzuwälzen. Als daher Mr. Nupkins Mrs. Nupkins aufsuchte und ihr eröffnete, was er von Mr. Pickwick erfahren, erinnerte sie sich augenblicklich, daß sie von Anfang an so etwas erwartet und immer gesagt habe, es müsse so gehen, wenn man nie auf ihren Rat achte, und daß sie wirklich gar nicht wisse, wofür Mr. Nupkins sie eigentlich halte.

„Der Gedanke!“ rief Miß Nupkins und preßte aus jedem Augenwinkel eine Träne von ausgesprochen dürftigem Forint. „Der Gedanke, so zum Spielball gemacht worden zu sein …“

„Bedank dich nur bei deinem Papa!“ fiel Mrs. Nupkins ein. „Was habe ich den Mann gebeten und beschworen, sich nach des Kapitäns Familienverhältnissen zu erkundigen. Wie bin ich in ihn gedrungen, ihn vor eine Alternative zu stellen.! Aber natürlich, man glaubt mir ja nicht.“

„Aber meine Liebe“, wendete Mr. Nupkins ein. „Entschuldige dich nicht, du machst die Sache nur schlimmer“, fiel Mrs. Nupkins ein.

„Meine Liebe“, begann Mr. Nupkins aufs neue, „du hast doch selbst Kapitän Fitz-Marshall begünstigt, hast ihn beständig zu uns eingeladen, meine Liebe, und keine Gelegenheit vorübergehen lassen, ihn auch in andern Gesellschaften einzuführen.“

„Hab ich es nicht gesagt, Henriette?“ rief Mrs. Nupkins und wandte sich mit der Miene der schwer gekränkten Ehefrau an ihre Tochter. „Hab ich es nicht gesagt, dein Papa wird die Sache umdrehen und alle Schuld mir geben? Hab ich es nicht gesagt?“

Mrs. Nupkins schluchzte laut.

„Ach, Papa!“ rief die Tochter laut und schluchzte ebenfalls.

„Wie können wir den Porkenhams je wieder unter die Augen treten?“ jammerte Mrs. Nupkins. „Oder den Grigs!“ stöhnte Miß .Nupkins. „Oder den Slummintowkens! Aber was kümmert das deinen Papa? Fragt er danach?“

Und wieder schluchzten die beiden Damen herzzerbrechend.

Endlich hatte sich Mrs. Nupkins die Sache ein wenig überlegt, und ihre Entscheidung fiel dahin aus, es werde wohl das beste sein, wenn man Mr. Pickwick und seine Freunde bis zur Ankunft des Kapitäns zu bleiben bäte. Würden sich dann die Angaben als wahr herausstellen, könnte dem Kapitän ohne weiteres Aufsehen die Tür gewiesen und den Porkenhams erzählt werden, er sei durch den Einfluß seiner Familie bei Hof zum Generalgouverneur von Sierra Leone oder Sangur Point oder irgendeiner andern Kolonie in jenen gesunden Himmelsstrichen ernannt worden, die die Europäer so sehr bezaubern, daß sie sie bei Lebzeiten fast nie wieder verlassen. Mr. Pickwick und seine Freunde wurden also den Damen vorgestellt und in das Speisezimmer geführt und Muzzle angewiesen, Mr. Weller, in dem der Bürgermeister vermöge des ihm eignen Scharfblickes binnen einer halben Stunde einen der feinsten Köpfe von der Welt entdeckt hatte, hinunter in die Gesindestube zu geleiten und ihm alle mögliche Sorgfalt und Pflege angedeihen zu lassen.

„Wie geht es Ihnen, Sir?“ begann Mr. Muzzle die Unterhaltung, als er Mr. Weller die Küchentreppe hinuntergeleitete. „Na, seit der kurzen Zeit, wo ich Ihnen in der Amtsstube hinter dem Stuhle Ihres Herrn aufgepflanzt gesehen habe, hat sich keine besondere Veränderung in meinem System vollzogen“, versetzte Sam.

„Sie müssen schon entschuldigen, daß ich keine Notiz von Ihnen genommen habe“, sagte Mr. Muzzle. „Wir waren einander ja noch nicht vorgestellt. Aber wollen Sie sich nicht die Hände waschen, Sir, ehe wir zu den Damen gehen? Hier ist ’n Becken mit Wasser, Sir, und hinter der Tür ’n reines Handtuch.“

„Könnte nich schaden, wenn ich mir säubern würde“, erwiderte Mr. Weller, beschmierte das Handtuch dick mit grüner Seife und rieb sich das Gesicht, bis es wieder schimmerte. „Wie viele Damen sind hier?“

„Nur zwei in der Küche“, antwortete Mr. Muzzle, „eine Köchin und ein Hausmädchen. Wir halten einen Jungen für die gröberen Arbeiten und außerdem noch ein Spülmädel. Aber sie essen im Waschhaus.“

„So, im Waschhaus?“

„Ja. Wir haben anfangs versucht, sie an unsre Tafel zu ziehen, aber es ging nicht. Das Spülmädel hat furchtbar gemeine Manieren, und der Junge schnauft so schrecklich beim Essen, daß man’s gar nicht aushaken kann. – Hierher, Sir, wenn’s gefällig ist, hierher.“ Und mit der größten Höflichkeit vorangehend, führte Muzzle Mr. Weller in die Küche.

„Mary“, stellte er das hübsche Hausmädchen vor, „dies ist Mr. Weller, ein Gentleman, den der Herr herunterschickt, damit wir’s ihm so gemütlich wie möglich machen.“

„Und Ihr Herr is ’n Kenner – und hat mir gerade an den richtigen Ort geschickt“, bemerkte Mr. Weller mit einem bewundernden Blick auf Mary.

„Wenn ich Herr im Hause wäre, würde ich auch immer alles, was ich zur Gemütlichkeit brauche, bei Mary finden.“

„Aber Mr. Weller“, sagte Mary errötend.

„Na, ich bin wohl niemand?“ rief die Köchin.

„Jesses, Sie hab ich ganz vergessen, Köchin“, sagte Mr. Muzzle. „Erlauben Sie mir, daß ich Sie vorstelle, Mr. Weller.“

„Wie befinden Sie sich, Ma’am?“ fragte Mr. „Weller. „Freut mir mächtig, Ihnen kennenzulernen, und ich hoffe, unsre Bekanntschaft wird von langer Dauer sein, wie der Schendlmän zu der Fünffundnote sagte.“

Als der zeremonielle Teil der Unterhaltung vorüber war, zogen sich die Köchin und Mary in den Hintergrund der Küche zurück, um zehn Minuten lang zu kichern, und kamen dann mit hochroten Gesichtern lachend wieder, worauf sich die Gesellschaft sofort zu Tisch setzte.

Mr. Wellers Weltgewandtheit und Unterhaltungsgabe übte einen so unwiderstehlichen Einfluß auf seine neuen Freunde, daß sie, ehe das Mittagessen halb vorüber war, bereits auf dem vertrautesten Fuße mit ihm standen und in Hiob Trotters ruchlose Gesinnung völlig eingeweiht waren.

„Ich habe diesen Hiob niemals nicht schmecken können“, sagte Mary.

„War auch nich gut anders möglich, mein Schätzchen“, versetzte Mr. Weller.

„Warum nicht?“ fragte Mary.

„Weil sich Häßlichkeit und Schurkerei mit Schönheit und Tugend nich verschwistern können“, erwiderte Mr. Weller. „Nich wahr, Mr. Muzzle?“

Mary lachte und sagte, die Köchin habe sie zum Lachen gebracht. Und die Köchin lachte und sagte, es sei nicht wahr.

„Ich hab kein Glas“, sagte Mary nach einer Weile.

„Trinken Sie mit mir, Angebetete!“ sagte Mr. Weller. „Setzen Sie Ihre Lippen an meinen Krug, dann kann ich Ihnen auf Umwegen küssen.“

„Schämen Sie sich was, Mr. Weller“, meinte Mary.

„Warum schämen, mein Herz?“

„Daß Sie so was aussprechen.“

„Wieso denn; ist doch nichts dabei; ist doch was ganz Natürliches; stimmt’s, Köchin?“

„Fragen Sie mich nicht so dumm“, erwiderte die Köchin so vergnügt, daß Mary sich an dem Bier verschluckte und fast erstickte. Aber Mr. Samuel Weller gab ihr mehrere kräftige Schläge, und sie überstand siegreich die Krisis.

Die laute Fröhlichkeit der Gesellschaft wurde plötzlich durch ein starkes Läuten am Gartentor unterbrochen. Der junge Gentleman, der seine Mahlzeit im Waschhaus hielt, eilte hinaus und öffnete. Mr. Weller widmete seine ganze Aufmerksamkeit dem hübschen Stubenmädchen, Mr. Muzzle war durch das Servieren in Anspruch genommen, und die Köchin hatte eben zu lachen aufgehört und führte gerade ein mächtiges Stück Fleisch zum Munde, als die Küchentür aufging und Mr. Hiob Trotter beim Anblick Mr. Wellers, starr vor Schrecken, wie angewurzelt auf der Schwelle stehenblieb.

„Da is er ja“, sagte Sam und stand fröhlich auf. „Haben soeben von Ihnen gesprochen. Wie befinden Sie sich? Wo waren Sie so lange? Treten Sie doch ein.“

Und seine Hand auf den maulbeerfarbigen Kragen des widerstandslosen Hiob legend, zog er ihn in die Küche, schloß die Tür ab und händigte den Schlüssel Mr. Muzzle ein, der ihn kaltblütig in seine Seitentasche steckte. „Is doch ’n Spaß, was?“ rief Sam. „Mein Herr hat das Vergnügen, den Ihrigen oben zu begrüßen, und ich habe die Freude, Sie hier unten zu sehen. Wie geht’s Ihnen und was macht der Kramladen? Und wie gut Sie aussehen. Is ’ne wahre Lust, Ihnen zu betrachten. Nicht wahr, Mr. Muzzle?“

„Gewiß“, erwiderte Mr. Muzzle.

„Und so glücklich, uns hier beieinander zu finden. – Ja, ja, das macht ihn so heiter. Setzen Sie sich doch; setzen Sie sich.“

Mr. Trotter ließ sich willenlos in einen Stuhl drücken und richtete seine Äuglein zuerst auf Mr. Weller und dann auf Mr. Muzzle, sagte aber nichts.

„Und bei der Gelegenheit möchte ich Ihnen hier vor den Damen fragen“, sagte Sam, „rein aus Neugierde, ob Sie sich nich für ’n so hübschen und artigen jungen Schenlmän halten, wie nur je einer ein rotgewürfeltes Taschentuch und Nummer vier des geistlichen Liederschatzes mit sich rumschleppte.“

„Und wie nur je einer sich mit einer Köchin verheiraten wollte“, ergänzte die ältere der beiden Damen. „Lump, elendiger!“

„Haha, und sich einen Kramladen aufmachen!“ sagte das Hausmädchen.

„Jetzt will ich Ihnen mal was sagen, junger Herr“, begann Mr. Muzzle, den besonders die letzte Anspielung in „Wut versetzte, mit strengem Ton. „Mit dieser Dame da bin ich verlobt. – Da gibt’s nix. Verstehen Sie mich, Sir?“

Mr. Muzzle, stolz auf seine Beredsamkeit, schwieg und wartete auf eine Antwort.

Aber Mr. Trotter erwiderte kein Wort, und Mr. Muzzle sah sich genötigt, streng fortzufahren:

„Man wird Sie wahrscheinlich oben eine Zeitlang noch nicht brauchen, Sir. Mein Herr ist in diesem Augenblick damit beschäftigt, aus Ihrem Herrn ein Haschee zu machen. Wir können einstweilen mal unter vier Augen eine kleine Privatunterredung halten, Sir. Verstehen Sie mich, Sir?“ Wieder wartete Mr. Muzzle auf eine Antwort; aber Mr. Trotter täuschte abermals seine Erwartung.

„Na, dann tut’s mir leid“, sagte Mr. Muzzle, „in Gegenwart von die Damen hier midi näher erklären zu müssen. Die Waschküche is grad frei, wenn Sie gefälligst eintreten wollen, Sir! Mr. Weller wird Unparteiischer sein, und wir können uns unsre Satisfaktion holen, bis geläutet wird. Also was is, Sir?“

Mr. Muzzle schritt zur Türe und zog sich, um keine Zeit zu verlieren, während des Gehens den Rock aus.

Kaum hatte die Köchin die letzten Worte dieser furchtbaren Herausforderung vernommen und gesehen, daß Mr. Muzzle bereits im Begriff war, sie zur Ausführung zu bringen, als sie einen lauten, durchdringenden Schrei ausstieß und auf Mr. Hiob Trotter, der eben von seinem Stuhl aufgestanden war, losstürzte und ihm sein breites, plattes Gesicht mit jener Energie zerkratzte und zerschlug, die das weibliche Geschlecht auszeichnet, wenn es aufgeregt ist. Sie fuhr ihm mit den Händen in sein langes schwarzes Haar und riß ihm so viel davon aus, daß man fünf bis sechs putzend der größten Trauerringe hätte daraus flechten können.

Nachdem sie diese Heldentat mit all der Begeisterung vollbracht hatte, die ihr die feurige Liebe zu Mr. Muzzle eingab, wankte sie zurück, und da sie eine Dame mit sehr erregbarem und zartem Nervensystem war, fiel sie augenblicklich ohnmächtig unter den Anrichtetisch.

In diesem Augenblick ertönte die Glocke.

„Das gilt Ihnen, Hiob Trotter“, sagte Sam, und bevor Mr. Trotter noch etwas erwidern, geschweige denn das Blut stillen konnte, das den Wunden seines Hauptes entsickerte, nahmen ihn Sam und Mr. Muzzle in die Mitte und schoben und zerrten ihn die Treppe hinauf ins Wohnzimmer.

Ein imposanter Anblick bot sich ihnen dar. Alfred Jingle, Esquire, alias Kapitän Fitz-Marshall, stand mit dem Hut in der Hand und trotz seiner höchst unangenehmen Lage lächelnd und vollkommen ruhig an der Tür, ihm gegenüber Mr. Pickwick, der soeben eine Vorlesung über Moral gehalten haben mußte, denn seine Linke war in die Taille gestemmt und die Rechte schwebte ausdrucksvoll in der Luft.

In einiger Entfernung stand Mr. Tupman mit entrüsteter Miene, von seinen beiden jüngeren Freunden sorgfältig bewacht und zurückgehalten. Im Hintergrunde waren Mr., Mrs. und Miß Nupkins, das Antlitz umdüstert, sichtbar.

„Was hindert mich“, rief Mr. Nupkins voll Würde, als Hiob hereingebracht wurde, „was hindert mich, diese Menschen als Landstreicher und Betrüger verhaften zu lassen? Es ist eine törichte Nachsicht. Was hindert mich?“

„Stolz, alter Bursche, Stolz“, erwiderte Jingle unverschämt. „Geht nicht gut – faule Sache. – Einen Kapitän geangelt für die Tochter, was? – Haha! – Einen Gatten für die Tochter – saurer Apfel – öffentlich werden – um alle Welt nicht – Mordsblamage. – Ochs am Berge.“

„Elender!“ rief Mrs. Nupkins. „Ihre niederträchtigen Anspielungen können uns nur Verachtung einflößen.“

„Ich habe ihn von Anfang an gehaßt“, fügte Henriette hinzu.

„Na, natürlich! – Schlanker junger Mann – alter Liebhaber – Sidney Porkenham – reich – feiner Bursche – aber der Kapitän reicher, was? – Laufpaß gegeben – das Leben für den Kapitän – gibt nur einen Kapitän – alle Mädchen rasend verliebt. – Was, Hiob?“ Mr. Jingle lachte aus vollem Halse und Hiob rieb sich die Hände vor Vergnügen und gab den ersten Laut von sich, seit er ins Haus getreten war – ein leises, kaum vernehmliches Kichern.

„Nupkins!“ bemerkte die Gnädige. „Unsre Unterredung eignet sich nicht für die Ohren der Dienerschaft. Laß die Schurken entfernen.“

„Du hast recht, meine Liebe“, erwiderte Mr. Nupkins. „Muzzle!“

„Euer Gnaden …“

„Machen Sie die Tür auf.“

„Ja, Euer Gnaden.“

„Und Sie verlassen augenblicklich das Haus“, sagte Mr. Nupkins mit einer ausdrucksvollen Handbewegung.

Jingle lächelte und ging zur Tür.

„Halt!“ rief Mr. Pickwick.

Jingle blieb stehen.

„Ich hätte von Rechts wegen eine weit empfindlichere Rache für die Behandlung nehmen sollen, die mir von Ihnen und Ihrem heuchlerischen Freunde widerfahren ist.“

Mr. Hiob Trotter verbeugte sich höflich und legte die Hand aufs Herz.

„Ich wiederhole“, fuhr Mr. Pickwick, immer zorniger werdend, fort, „ich hätte eine empfindlichere Rache nehmen sollen, aber ich begnügte mich damit, meine Pflicht gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft zu erfüllen und Sie zu entlarven. Es ist dies eine Nachsicht, Sir, die Sie gar nicht verdienen.“

Hiob Trotter hielt höhnisch die Hand ans Ohr, als läge ihm alles daran, nur ja keine Silbe von Mr. Pickwicks Rede zu verlieren.

„Und ich habe nur noch hinzuzufügen, Sir“, fuhr Mr. Pickwick außer sich vor Zorn fort, „daß ich Sie für einen Schurken und einen – einen Halunken – und – einen ärgeren Schandbuben halte, als mir je einer vorgekommen ist, mit Ausnahme dieses scheinheiligen Landstreichers in der maulbeerfarbigen Livree.“

„Ha-ha-ha“, lachte Jingle. „Guter Kerl, Pickwick – edle Seele – wackerer alter Knabe – aber nicht hitzig werden – tut nicht gut – na, sehen uns schon noch wieder – alles Gute – nur den Mut nicht sinken lassen. – Jetzt, Hiob, ab!“

Und Mr. Jingle setzte den Hut in seiner gewohnten Weise auf und schritt aus dem Zimmer. Hiob Trotter blieb einen Moment stehen, blickte umher, lächelte, machte Mr. Pickwick eine spöttisch-feierliche Verbeugung, zwinkerte Mr. Weller mit einer Unverschämtheit, die jeder Beschreibung spottete, zu und folgte dann seinem vielversprechenden Gebieter.

„Sam!“ rief Mr. Pickwick, als Mr. Weller Hiob nacheilen wollte.

„Sir?“

„Dableiben!“

Mr. Weller schwankte.

„Dableiben!“ wiederholte Mr. Pickwick streng.

„Könnte ich diesem Hiob nich im Garten noch schnell eins auswischen?“ fragte Mr. Weller.

„Nein“, erwiderte Mr. Pickwick.

„Nur so ’n leisen Fußtritt am Gartentor?“ bat Mr. Weller.

„Nein, unter keinen Umständen!“

Zum ersten Male seit seinem Dienstantritt sah Mr. Weller einen Augenblick mißvergnügt und unglücklich aus, doch gleich darauf klärte sich sein Gesicht auf, denn der listige Mr. Muzzle hatte sich hinter der Haustür versteckt und sich gerade im richtigen Moment auf Mr. Jingle und seinen Adjutanten gestürzt und sie kopfüber die Treppe hinab in die Aloekübel geworfen.

„Da ich mich nunmehr meiner Pflicht entledigt habe, Sir“, wandte sich Mr. Pickwick an Mr. Nupkins, „so will ich mich jetzt mit meinen Freunden von Ihnen verabschieden. Wir danken Ihnen für die uns erwiesene Gastfreundschaft, und ich bitte Sie, versichert zu sein, daß wir sie nie in Anspruch genommen, noch uns auf eine solche Weise unsrer früheren Verlegenheit entzogen haben würden, wären wir nicht durch ein strenges Pflichtgefühl dazu bestimmt worden. Wir kehren morgen nach London zurück. Ihr Geheimnis ist sicher bei uns aufgehoben.“ Nachdem Mr. Pickwick auf so feine Weise seinem Protest gegen die unwürdige Behandlung, die ihm am Morgen widerfahren, Ausdruck verliehen, machte er den Damen eine tiefe Verbeugung und verließ, ungeachtet der dringenden Einladung der Familie, noch zu bleiben, mit seinen Freunden das Zimmer.

„Nimm deinen Hut, Sam“, sagte er.

„Er is unten, Sir“, erwiderte Sam und eilte hinunter, um ihn zu holen.

Da niemand in der Küche war als das hübsche Hausmädchen und Sam seinen Hut verlegt hatte, mußte er ihn natürlich suchen, und Mary leuchtete ihm. Der Hut war nicht zu finden, und das hübsche Hausmädchen kniete in ihrem Eifer nieder und durchstöberte alles, was in dem Winkel hinter der Tür aufgehäuft lag. Es war ein unangenehmer Winkel. Man konnte nicht hinkommen, ohne vorher die Tür zu schließen.

„Hier ist er“, rief das hübsche Hausmädchen. „Dieser ist’s, nicht wahr?“

„Lassen Sie sehen“, sagte Sam.

Das hübsche Hausmädchen hatte das Licht auf den Boden gestellt, und da es schlecht brannte, war Sam genötigt, sich ebenfalls auf die Knie niederzulassen, um zu sehen, ob es wirklich sein Hut sei. Der Winkel war außerordentlich eng, und so kamen durch die Schuld des Mannes, der das Haus gebaut, Sam und das hübsche Hausmädchen notwendigerweise sehr nahe zusammen.

„Ja, das ist er“, sagte Sam. „Leben Sie wohl.“

„Leben Sie wohl“, antwortete das hübsche Hausmädchen.

„Leben Sie wohl“, wiederholte Sam und ließ dabei den Hut fallen, dessen Auffindung so viele Mühe gekostet hatte.

„Sind Sie aber ungeschickt“, rief das hübsche Hausmädchen aus. „Sie werden den Hut noch ganz verlieren, wenn Sie nicht besser achtgeben.“ Und um dem vorzubeugen, setzte sie ihn Sam auf den Kopf.

Ob nun das Gesicht des hübschen Hausmädchens noch hübscher aussah, als es Sam zugekehrt war, oder ob es lediglich eine natürliche Folge des Umstandes war, daß beide einander so nahe waren, läßt sich schwer entscheiden, aber jedenfalls küßte Sam das hübsche Hausmädchen.

„Sie haben das doch nicht mit Absicht getan?“ fragte das hübsche Hausmädchen errötend.

„Nein“, antwortete Sam, „aber jetzt will ich es mit Absicht tun.“

Und er küßte sie wieder.

„Sam“, rief Mr. Pickwick in diesem Augenblick von der Treppe herunter.

„Komme schon, Sir“, erwiderte Sam und eilte hinauf.

„Wo hast du denn so lange gesteckt?“ fragte Mr. Pickwick.

„’s war was hinter der Tür, Sir; wir konnten se lange nich aufkriegen“, entschuldigte sich Sam.

So endete das erste Stadium in Mr. Wellers erster ernster Liebe.

Sechsundzwanzigstes Kapitel


Sechsundzwanzigstes Kapitel

Enthält einen kurzen Bericht über den weiteren Verlauf der Klagsache Bardell kontra Pickwick.

Mr. Pickwick hatte durch Jingles Entlarvung den Hauptzweck seiner Reise erreicht und beschloß‘ daher, so bald wie möglich nach London zurückzukehren, um sich zu informieren, welche Schritte die Herren Dodson und Fogg unterdessen wohl ergriffen haben mochten. So benutzte er denn bereits am Morgen nach dem denkwürdigen Ereignisse die erste Postkutsche und langte noch am nämlichen Abend mit seinen drei Freunden und Mr. Samuel glücklich und wohlbehalten in der Hauptstadt an.

Hier trennten sich die Freunde auf eine kurze Zeit. Die Herren Tupman, Snodgraß und Winkle zogen sich in ihre diversen Wohnungen zurück, um die Vorbereitungen zu treffen, die ihr bevorstehender Besuch in Dingley Dell erforderte, und Mr. Pickwick und Sam schlugen einstweilen ihr Quartier in einem sehr guten, altmodischen und bequemen Gasthof auf, dem „Georg und Geier“, Gast- und Kaffeehaus, George Yard, Lombardstreet. Mr. Pickwick hatte gespeist, seine zweite halbe Flasche extra guten Portwein geleert, sein seidenes Taschentuch über den Kopf gezogen, seine Füße an das Kamingitter gestemmt und sich in einem bequemen Armstuhl zurückgelehnt, als ihn der Eintritt Mr. Wellers mit seinem Mantelsack aus seinen stillen Betrachtungen riß.

„Sam!“

„Sir?“ erwiderte Mr. Weller.

„Ich habe soeben daran gedacht“, sagte Mr. Pickwick, „daß ich bei Mrs. Bardell in Goswellstreet noch viele von meinen Sachen liegen habe, die ich gerne holen lassen möchte, ehe ich die Stadt wieder verlasse.“

„Ganz recht, Sir.“

„Ich könnte sie zwar für den Augenblick bei Mr. Tupman unterbringen, aber bevor wir sie von dort holen, müssen sie notwendig durchgesehen und zusammengepackt werden. Ich möchte daher, daß du in die Goswellstreet gingest und alles in Ordnung brächtest.“

„Sogleich, Sir?“

„Sogleich“, erwiderte Mr. Pickwick.

„Aber halt, Sam“, fügte er hinzu und zog seine Börse hervor. „Wir könnten die Miete gleich bezahlen. Sie ist zwar erst Weihnachten fällig, aber es ist besser, wenn wir die Sache gleich jetzt ins reine bringen. Es ist monatliche Kündigung ausgemacht. Hier ist der Mietvertrag. Gib ihn Mrs. Bardell und sag ihr, sie könne die Wohnung abgeben, wann es ihr beliebe.“

„Ganz recht, Sir“, versetzte Mr. Weller. „Haben Sie sonst noch etwas zu befehlen, Sir?“

„Nein, Sam.“

Mr. Weller ging langsam nach der Tür, als warte er noch auf etwas, öffnete sie und trat zögernd hinaus, als ihn Mr. Pickwick nochmals zurückrief.

„Sir?“ erwiderte Mr. Weller, kehrte diensteifrig zurück und schloß die Tür hinter sich.

„Ich habe nichts dagegen, Sam, wenn du zu ermitteln suchen willst, wie Mrs. Bardell gegenwärtig gegen mich gesinnt ist und ob wirklich die niederträchtige, grundlose Klage bis aufs äußerste getrieben werden soll. Ich sage, ich habe nichts dagegen, wenn du es tun willst. Ich überlasse es ganz dir.“

Sam nickte verständnisinnig und verließ das Zimmer; Mr. Pickwick zog sein seidenes Taschentuch noch weiter über das Gesicht und schickte sich zu einem Schläfchen an, und Mr. Weller ging rasch seines Weges, um den Auftrag auszurichten.

Es war nahe an neun Uhr, als er Goswellstreet erreichte. In dem kleinen Wohnzimmer auf die Straße heraus brannten ein paar Kerzen, und auf dem Fenstervorhang bewegten sich die Schatten von ein paar Hauben. Mrs. Bardell hatte Gesellschaft.

Mr. Weller klopfte, und es dauerte ziemlich lange, ehe ein paar kleine Stiefel über die Hausflur geklappert kamen und der junge Master Bardell öffnete.

„Na, du junger Naseweis“, fragte ihn Sam, „wie geht’s Muttern?“

„Sie is ganz wohl“, erwiderte Master Bardell, „und ich auch.“

„Na, gottlob“, versetzte Sam. „Sag ihr, ich möchte sie gerne sprechen, holdes Wunderkind.“

Master Bardell stellte das Licht auf die Treppe und verschwand mit der Botschaft hinter der Tür des Wohnzimmers.

Mrs. Bardell saß gerade mit zwei ihrer vertrautesten Freundinnen um den Teetisch, und ein paar Schweinsfüße mitsamt einem Käse schmorten auf höchst einladende Weise in einem kleinen holländischen Backofen vor dem Feuer.

„Mr. Pickwicks Bedienter?“ rief Mrs. Bardell erblassend, als ihr ihr Sohn die Meldung überbrachte.

„Gott steh uns bei!“ rief Mrs. Cluppins.

„Ich würde es wahrhaftig nicht für möglich gehalten haben, wenn ich es nicht eben selbst gehört hätte“, meinte Mrs. Sanders.

Mrs. Chippins war eine kleine, rührige, geschäftig aus. sehende Frau und Mrs. Sanders eine große wohlbeleibte Person mit einem Vollmondgesicht.

Mrs. Bardell hielt es für angemessen, auf alle Fälle aufgeregt zu sein; da aber keine der drei Damen genau wußte, ob es unter den obwaltenden Umständen rätlich sei, selbst mit Mr. Pickwicks Bedienten anders als durch Vermittlung der Herren Dodson und Fogg zu verkehren, herrschte allgemeine Bestürzung. In diesem Zustand von Ungewißheit war wohl das beste, den Jungen vorerst einmal dafür herumzuknuffen, daß er Mr. Weller an der Tür gefunden hatte. Das tat denn auch die Mutter, und der Jüngling heulte melodisch dazu.

„Wirst du gleich aufhören, du nichtsnutziger Bengel!“ rief Mrs. Bardell.

„Ja; quäle deine arme Mutter nicht so“, sagte Mrs. Sanders.

„Sie ist auch ohne dich ein geschlagener Mensch, Tommy“, fügte Mrs. Cluppins voll Teilnahme hinzu.

„Armes, unglückliches Lamm!“ seufzte Mrs. Sanders. Doch trotz all dieser moralischen Betrachtungen heulte Master Bardell nur um so lauter. „Was soll ich nun bloß tun?“ fragte Mrs. Bardell Mrs. Cluppins.

„Ich denke, Sie sollten ihn vorlassen“, riet Mrs. Cluppins, „aber auf keinen Fall ohne Zeugen.“

„Ich denke, zwei Zeugen wäre noch gesetzmäßiger“, warf Mrs. Sanders hin, die wie ihre Freundin fast vor Neugierde verging.

„Ja, es ist wohl das beste, ihn hereinzulassen“, sah Mrs. Bardell ein.

„Ohne Zweifel“, griff Mrs. Cluppins den Gedanken begierig auf. „Treten Sie ein, junger Mann, und schließen Sie, bitte, vorher noch die Haustür.“

Mr. Weller folgte auf der Stelle der Einladung, trat ins Wohnzimmer und begann sich seines Auftrags an Mrs. Bardell mit folgenden Worten zu entledigen: „Tut mir sehr leid, wenn ich Ihnen beschwerlich falle, wie der Einbrecher zu der alten Dame sagte, als er ihr auf die heiße Herdplatte legte, aber da ich und mein Herr eben erst in der Stadt angekommen sin und wir sogleich wieder abreisen wollen, so konnte ich nicht umhin, Ihnen meine Aufwartung zu machen.“

„Natürlich; der junge Mann kann doch nichts für die Fehler seines Herrn“, sagte Mrs. Cluppins, von Mr. Wellers flotter Erscheinung und feinem Benehmen bezaubert.

„Natürlich nicht“, stimmte Mrs. Sanders ein, nach gewissen sehnsüchtigen Blicken auf die kleine Zinnplatte zu urteilen, offenbar im Zweifel, ob die Schweinsfüße, im Falle Sam zum Abendessen mit eingeladen würde, reichen würden.

„Bin nur gekommen“, sagte Sam, ohne die Unterbrechung zu beachten, „erstens, um den Mietvertrag zurückzugeben. Hier ist er. Zweitens, um den Hauszins zu bezahlen. Hier ist er. Drittens, um auszurichten, daß alle Sachen Mr. Pickwicks zusammengepackt und dem Dienstmann eingehändigt werden sollen, den er darum schicken wird. Viertens, daß Sie die Wohnung, so bald es Ihnen beliebt, vermieten können. So, das is alles.“

„Was auch geschehen sein mag“, seufzte Mrs. Bardell, „ich habe es immer gesagt und werde es immer sagen, Mr. Pickwick hat sich in jeder Hinsicht, die eine Sache ausgenommen, stets wie ein vollendeter Gentleman benommen. Das Geld war bei ihm immer so sicher wie bei der Bank. Immer.“

Dann hielt sie ihr Taschentuch vor die Augen und ging aus dem Zimmer, um die Quittung zu schreiben.

Sam wußte sehr gut, daß er nur zu schweigen brauchte, um die Weiber zum Sprechen zu bringen; er blickte daher stumm abwechselnd nach der zinnernen Platte, dem gerösteten Käse, der Wand und der Zimmerdecke.

„Arme Mrs. Bardell“, seufzte denn auch Mrs. Cluppins gleich darauf.

„Armes Ding“, stimmte Mrs. Sanders mit ein.

Sam sagte nichts. Er sah, daß sie zur Sache kamen.

„Ich kann es wahrhaftig gar nicht fassen“, bemerkte Mrs. Cluppins, „wie man nur so treulos sein kann. Ich möchte nicht gern etwas zur Sprache bringen, was Sie peinlich berühren könnte, junger Mann, aber Ihr Herr ist ein Ungeheuer, und ich wollte, er wäre hier, daß ich es ihm ins Gesicht sagen könnte.“

„Hm, das wünschte ich auch“, sagte Sam.

„Es bricht einem ordentlich das Herz, wenn man sieht, wie tiefsinnig sie umherwankt und an nichts mehr Vergnügen findet. Es ist wirklich abscheulich!“

„Barbarisch“, rief Mrs. Sanders.

„Und Ihr Herr, junger Mann, ein Gentleman mit Vermögen, der die Auslagen für eine Frau gar nicht spüren würde“, fuhr Mrs. Cluppins mit großer Zungengeläufigkeit fort, „und also keine Spur von Entschuldigung für sich hat. Warum heiratet er sie nicht?“

„Na ja“, erwiderte Sam, „das is doch die Frage, um die sich’s handelt.“

„Frage, meinen Sie?“ entgegnete Mrs. Cluppins. „Ich an ihrer Stelle würde ihn nicht lange fragen. Gott sei Dank, es gibt noch Gesetze für uns Frauen, zu so elenden Geschöpfen die Männer uns auch machen möchten, wenn sie könnten! Das wird Ihr Herr auf seine Kosten erfahren, noch ehe er ein halbes Jahr älter ist.“

Dieser tröstliche Gedanke heiterte die Mienen der beiden Damen sogleich auf, und sie lächelten einander verständnisvoll an.

Der Prozeß nimmt also seinen Fortgang; da ist kein Zweifel, dachte Sam, als Mrs. Bardell mit der Quittung erschien.

„Hier ist die Quittung, Mr. Weller, und hier ist das Geld, das Sie noch herausbekommen. Ich hoffe, Sie werden einen Tropfen annehmen, um sich zu erwärmen, wäre es auch nur um der alten Bekanntschaft willen, Mr. Weller!“

Sam nahm den Vorteil wahr, der sich ihm bot, und verbeugte sich. Mrs. Bardell holte aus einem kleinen Wandschrank eine dunkle Flasche und ein Weinglas, schenkte ein und war so tief in ihren Seelenschmerz versunken, daß sie in der Zerstreutheit noch drei weitere Gläser zutage förderte und sie ebenfalls füllte.

„Ach du meine Güte, Mrs. Bardell“, rief Mrs. Cluppins aus, „ja, was haben Sie denn da angestellt?“

„Aber, aber, aber!“ stimmte Mrs. Sanders mit ein.

„Ach, mein armer Kopf!“ seufzte Mrs. Bardell mit trübem Lächeln.

Sam begriff natürlich und sagte sofort, er könne vor Tisch nie trinken, außer, es täte ihm ein weibliches Wesen Bescheid. Die Damen lachten darüber nicht wenig, und Mrs. Sanders erbot sich, ihn in dieser Hinsicht zufriedenzustellen, und schlürfte ein paar Tropfen aus ihrem Glas. Dann meinte Sam, alle müßten trinken, und so nahmen denn alle ein kleines Schlückchen. Als dann die kleine Mrs. Cluppins den Toast vorschlug: auf guten Erfolg in dem Prozeß Bardell kontra Pickwick, leerten die Damen ihre Gläser begeistert und wurden alsbald sehr gesprächig.

„Ich vermute, Sie haben gehört, was vorgeht, Mr. Weller?“ fragte Mrs. Bardell.

„Habe davon reden hören“, erwiderte Sam.

„Es ist entsetzlich, auf diese Art zum Stadtgespräch zu werden, Mr. Weller“, klagte Mrs. Bardell. „Aber ich sehe jetzt ein, es war das einzige, was ich tun konnte, und meine Rechtsbeistände, die Herren Dodson und Fogg, sagen mir, daß wir mit den Beweisen, die wir vorleger“ können, gewinnen müssen. Ich wüßte wirklich nicht, was ich anfangen sollte, wenn es fehlschlüge, Mr. Weller.“

Der bloße Gedanke, Mrs. Bardell könne möglicherweise ihren Prozeß verlieren, griff Mrs. Sanders so heftig an, daß sie sich genötigt sah, augenblicklich ihr Glas wieder zu füllen, und zu leeren; sie fühlte, wie sie nachher gestand, daß sie unfehlbar umgesunken wäre, wenn sie nicht die Geistesgegenwart gehabt hätte, dieses Mittel zu ergreifen.

„Wann, glaubt man, kommt die Sache denn dran?“ fragte Sam.

„Entweder im Februar oder im März“, erwiderte Mrs. Bardell.

„Was für eine Menge von Zeugen da auftreten werden!“ rief Mrs. Cluppins aus.

„Dutzende“, bestätigte Mrs. Sanders.

„Ich glaube, die Herren Dodson und Fogg würden rasen, Wenn die Klägerin nicht gewänne“, fügte Mrs. Cluppins hinzu, „sie führen den Prozeß auf ihr eigenes Risiko.“

„Rasen würden sie!“ sagte Mrs. Sanders.

„Aber die Klägerin muß gewinnen“, bemerkte Mrs. Cluppins.

„Ich hoffe es“, seufzte Mrs. Bardell.

„Oh, darüber kann doch gar kein Zweifel obwalten“, rief Mrs. Sanders.

„Na. Alles, was ich sagen kann, is, daß ich wünsche, Sie mögen ihn gewinnen“, sagte Sam, stand auf und setzte sein Glas nieder.

„Ich danke Ihnen, Mr. Weller“, erwiderte Mrs. Bardell gerührt.

„Und was die Dodson und Fogg betrifft, die so uneigennützig sin“, fuhr Mr. Weller fort „so kann ich nur so viel sagen, ich wünsche, sie mögen den Lohn bekommen, den ich ihnen gönne.“

„Oh, ich wünschte, sie würden den Lohn bekommen, den ihnen jeder gute Mensch geben möchte“, sagte Mrs. Bardell dankbewegt.

„Amen“, versetzte Sam, „und sie könnten dabei dick und fett werden. Wünsche Ihnen geruhsame Nacht, meine Damen.“

Zur großen Beruhigung der Mrs. Sanders entfernte er sich, ohne von der Hauswirtin zu dem gerösteten Käse und den Schweinsfüßen eingeladen zu werden, und unter dem jugendlichen Beistande Master Bardells schwanden bald darauf die trefflichen Leckerbissen von der zinnernen Platte. Mr. Weller lenkte seine Schritte nach dem „Georg und Geier“ zurück und erstattete seinem Herrn getreulich Bericht. Eine Unterredung mit Mr. Perker am folgenden Tage bestätigte seine Angaben nur zu sehr, und Mr. Pickwick traf Vorbereitungen zu seinem Weihnachtsbesuche in Dingley Dell mit dem erfreulichen Vorgefühle, daß zwei bis drei Monate später vor dem Gerichtshofe der Common-Pleas eine Entschädigungsklage wegen Bruchs eines Eheversprechens gegen ihn anhängig gemacht werden würde, wobei die Klägerin alle Vorteile für sich hatte, die sich nicht nur aus dem erdrückenden Beweismaterial, sondern auch aus der Gewandtheit und dem Scharfsinn der Herren Dodson und Fogg für sie voraussichtlich ergeben mußten.

Fünfzehntes Kapitel


Fünfzehntes Kapitel

Eine kurze Beschreibung der Gesellschaft im „Pfau“ und die Erzählung des Reisenden.

Wie köstlich ist es doch, von den Wirren der Politik wieder zur friedlichen Ruhe des Privatlebens zurückzukehren. Wenn auch nicht erklärter Anhänger der einen oder andern Partei, war Mr. Pickwick doch von der Begeisterung Mr. Potts so weit angesteckt, daß er seine ganze Zeit und Aufmerksamkeit den Wahlvorgängen widmete. Auch Mr. Winkle ging inzwischen nicht müßig und verwandte seine ganze Zeit, auf angenehme Spaziergänge und Ausflüge in die Umgegend mit Mrs. Pott, die sich solche Gelegenheiten, sich von der langweiligen Eintönigkeit zu erholen, nie entgehen ließ. Während so die beiden Herren im Hause Mr. Potts sich vollkommen eingewöhnt hatten, waren die Herren Tupman und Snodgraß fast ganz hinsichtlich der Unterhaltung auf ihre eignen Hilfsquellen angewiesen. Ohne besonderes Interesse für öffentliche Angelegenheiten vertrieben sie sich ihre Zeit mit Ergötzlichkeiten, wie sie der „Pfau“ darbot und die auf eine Art italienisches Billard im ersten Stockwerk und eine Kegelbahn im Hinterhause beschränkt waren.

Abends hingegen war das Gastzimmer der Versammlungsort eines geselligen Kreises, dessen Leben und Treiben die beiden Freunde ungemein anzog. Wohl jedermann weiß, was man sich gewöhnlich unter einem Gastzimmer vorzustellen hat. Das im „Pfauen“ zeichnete sich nicht wesentlich vor andern aus; es war nämlich ein großes, nackt aussehendes Zimmer, dessen Ameublement ohne Zweifel besser gewesen, als es noch neu war, mit einem großen Tisch in der Mitte und einer Menge Taburetts in den Ecken, einer bedeutenden Menge verschieden geformter Stühle und einem alten türkischen Teppich, dessen Dimensionen zu der Größe des Zimmers ungefähr im selben Verhältnis standen wie etwa ein Damentaschentuch zum Fußboden eines Schilderhäuschens. Die Wände waren mit ein paar großen Landkarten verziert, und in einer Ecke hingen an einer langen Reihe großer hölzerner Nägel verschiedne regengewohnte grobe Überröcke mit doppelten Kragen. Auf dem Kamingesimse stand ein hölzernes Tintenzeug mit einem Federstümpfchen und einer halben Oblate, ein Reisehandbuch und ein Wegweiser, eine Geschichte der Grafschaft ohne Einband und eine präparierte Forelle in einem gläsernen Sarge. Die Atmosphäre war mit Tabakrauch geschwängert, der dem ganzen Zimmer und besonders den staubigen roten Fenstervorhängen seine bräunliche Färbung mitgeteilt hatte. Auf dem Schenktische lagen in malerischer Unordnung eine Menge verschiedenartiger Gerätschaften, von denen einige sehr schmutzige Fischsaucefläschchen, ein paar Reitgerten, zwei bis drei Fuhrmannspeitschen und ebenso viele Reisemäntel, ein Besteckbehälter und ein Senftopf am meisten in die Augen fielen.

Hier saßen am Abend nach Schluß der Wahl Mr. Tupman und Mr. Snodgraß, rauchend und trinkend, nebst einigen andern Gästen.

„Prosit, Gentlemen“, sagte ein stattlicher, gesund aussehender Mann in den Vierzigern mit nur einem, aber sehr glänzendem schwarzen Auge, das nur so von Schelmerei und guter Laune blitzte. „Auf unser eignes Wohl, Gentlemen. Dies ist immer mein Toast, den ich der Gesellschaft vorschlage; auf Marys Wohl trinke ich für mich allein. He, Mary!“

„Aber lassen Sie mich, Sie Schlimmer“, sagte das Schenkmädchen, offenbar durch das Kompliment nicht besonders aufgebracht.

„Lauf nur nicht gleich davon, Mary“, sagte der Schwarzäugige.

„Lassen Sie mich in Frieden, Sie impertinenter Mensch, Sie“, entgegnete die junge Dame.

„Denke nicht daran“, rief der Einäugige dem Mädchen nach, das eben das Zimmer verließ. „Gleich bin ich bei dir, Mary, nur nicht grämen, Kind!“ Er zwinkerte dabei mit seinem einen Auge, was einen ältlichen Mann mit einem schmutzigen Gesicht und einer Tonpfeife ungemein ergötzte.

„Kuriose Geschöpfe die Weibsen“, sagte der Mensch mit dem Schmutzgesicht nach einer Pause.

„Oh! Ohne Zweifel“, bestätigte ein Mann mit einer kupferroten Nase hinter seiner Zigarre hervor.

Eine zweite Pause entstand nach diesem philosophischen Aphorismus.

„’s gibt noch Seltsameres in der Welt als die Weiber, hm“, bemerkte der Mann mit dem schwarzen Auge und stopfte sich langsam seine lange holländische Pfeife.

„Sind wohl nicht verheiratet?“ fragte das Schmutzgesicht.

„Kann ich nicht behaupten.“

„Hab mir’s gleich gedacht.“ Das Schmutzgesicht lachte laut vor Freude über seinen Scharfsinn, und ein Mann mit einer sanften Stimme und einem friedlichen Gesicht, der offenbar gern jedermanns Ansicht beipflichtete, stimmte in das Lachen ein.

„Die Frauen, meine Herren“, mischte sich enthusiastisch Mr. Snodgraß ins Gespräch, „sind eben doch die Stütze und die Zierde unsres Lebens.“

„Ja, das sind sie“, sagte der friedliche Gentleman.

„Wenn sie gut aufgelegt sind“, bemerkte das Schmutzgesicht.

„Auch wahr“, gab der Friedliche zu.

„Ich muß diese Einschränkung zurückweisen“, sagte Mr. Snodgraß, dessen Gedanken ohne Zweifel bei Emilie Wardle weilten. „Ich weise sie mit Unwillen, mit Entrüstung zurück. Zeigen Sie mir den Mann, der etwas gegen die Frauen als solche hat, und ich behaupte kühn, er ist kein Mann.“ Mr. Snodgraß nahm seine Zigarre aus dem Mund und schlug mit geballter Faust auf den Tisch.

„Ein sehr begründetes Argument“, sagte der Friedliche.

„Leugne ich entschieden“, unterbrach ihn das Schmutzgesicht.

„Auch darin liegt sehr viel Wahres“, pflichtete ihm der Friedliche bei.

„Prosit, Sir“, sagte der Reisende mit dem einen Auge und nickte Mr. Snodgraß beifällig zu.

Mr. Snodgraß erhob sein Glas.

„Ich höre immer gern ein gutes Argument“, fuhr der Reisende fort. „Besonders ein so scharfsinniges wie dieses, übrigens, Weiber! Das bringt mich auf eine Geschichte, die ich meinen alten Onkel immer erzählen hörte, und deswegen sagte ich auch, es gäbe bisweilen noch Seltsameres auf der Welt als die Weiber.“

„Na, die Geschichte würde ich aber gerne hören“, sagte der mit der Kupfernase und der Zigarre.

„Möchten Sie sie hören? So?“ sagte der Reisende und rauchte mit großer Vehemenz.

„Ich auch“, meldete sich Mr. Tupman, der jetzt zum ersten Male den Mund öffnete, immer darauf bedacht, den Schatz seines Wissens zu erweitern.

„Möchten Sie? Gut, dann will ich sie erzählen. Aber nein, besser nicht. Sie würden sie ja doch nicht glauben“, erwiderte der Reisende und blinzelte wieder schelmisch.

„Wenn Sie sagen, sie ist wahr, werde ich sie natürlich glauben“, versicherte Mr. Tupman.

„Also gut, wenn Sie mir das versprechen“, erwiderte der Reisende. „Haben Sie schon mal von dem großen Handelshause Bilson und Slum gehört? Wenn nicht, tut’s nichts zur Sache, die Firma existiert heute nicht mehr. Es ist jetzt achtzig Jahre her, daß die Geschichte einem Reisenden dieses Hauses begegnet ist; er war ein spezieller Freund meines Onkels, und von dem weiß ich sie. Er nannte sie immer nur die Geschichte des Tom Smart und pflegte sie folgendermaßen zu erzählen:

An einem Winterabend, so um fünf Uhr, als es eben anfing dunkel zu werden, hätte man einen Mann in einem Gig sehen können, der sein müdes Pferd die Straße entlangtrieb, die über die Marlborough-Hügel nach Bristol führt. Ich sage: man hätte ihn sehen können, und ich zweifle auch nicht daran, daß man ihn gesehen hätte, wenn irgend jemand, der nicht blind war, zufällig dieses Wegs dahergekommen wäre; aber das Wetter war so schlecht und die Nacht so kalt und naß, daß niemand draußen war als das Wasser. So holperte denn der Reisende in seinem Wagen einsam und traurig mitten auf der Straße dahin. Wenn ein Handlungsreisender jener Tage auch nur einen Blick auf das kleine halsbrecherische Gig mit dem tonfarbenen Kasten und den roten Rädern geworfen hätte und auf die bösartige, launische, aber schnellfüßige braune Mähre davor, die wie eine Kreuzung zwischen Fleischergaul und Zweipennypost-Klepper aussah, so hätte er gleich gewußt, daß dieser Reisende niemand anders sein konnte als Tom Smart von Bilson und Slum, Cateaton Street, City. Nun war aber so und so kein Handlungsreisender zum Blickwerfen da, und deshalb wußte niemand etwas von der Sache, sondern Tom Smart und sein tonfarbenes Gig mit den roten Rädern sowie die flinke, launische Mähre zogen vereint dahin und behielten das Geheimnis für sich – niemand war auch nur einen Happen schlauer geworden.

Sogar in dieser traurigen Welt gibt es angenehmere Stellen als die Marlborough-Hügel bei scharfem Wind. Wenn man dazu noch an die schmutzige grundlose Straße nebst prasselndem Dauerregen denkt und die Wirkung mal versuchsweise an seiner eigenen werten Person ausprobiert, dann lernt man das volle Gewicht dieser Bemerkung kennen.

Der Wind blies, nicht etwa straßauf oder straßab, obgleich das auch schon schlimm genug gewesen wäre, sondern quer darüber weg; dabei fegte er den Regen ganz schräg herunter, etwa so wie die Zeilen im Heft eines kleinen Schuljungen. Einen Augenblick schien er nachlassen zu wollen, und der Reisende fing schon an, sich in Hoffnungen zu wiegen, der Wind wäre von seiner eigenen Wut so erschöpft, daß er ganz zur Ruhe kommen würde, da hörte er ihn, hui, in der Ferne rauschen und pfeifen, und schon kam er wieder, raste über die Hügel, fegte die Ebene entlang, steigerte sich, während er näher kam, an Kraft und Lautstärke, bis er sich mit einem wuchtigen Stoß auf Roß und Mann warf, ihnen den scharfen Regen in die Ohren und seinen kalten, feuchten Atem durch Mark und Bein trieb. Dann sauste er an ihnen vorbei, weit, weit weg, mit ohrenbetäubendem Gebrüll, als ob er über ihre Ohnmacht spottete und !n dem Bewußtsein seiner eigenen Macht und Gewalt triumphierte.

Die Mähre trabte durch dick und dünn mit herabhängenden Ohren, nur dann und wann den Kopf schüttelnd, als wolle sie ihr Mißfallen über dieses höchst ungebührliche Benehmen der Elemente zu erkennen geben; dabei hielt sie sich jedoch immer in flottem Trab, bis sie ein Windstoß, der alle früheren an Wucht übertraf, plötzlich veranlaßte, haltzumachen und sich mit ihren vier Beinen fest gegen den Boden zu stemmen, um nicht über den Haufen geweht zu werden. Es war ein besondres Glück, daß sie das tat, denn wäre sie umgeworfen worden – sie war leicht, das Gig nicht schwer und Tom Smarts Gewicht nur so eine An Zugabe –, so wären sie unfehlbar alle drei fortgekollert, bis sie das Ende der Erde erreicht oder die Windstöße nachgelassen hätten, und wahrscheinlich wären weder die launische Mähre noch das tonfarbene Gig mit den roten Rädern, noch Tom Smart jemals wieder diensttauglich geworden.

,Himmelherrgottsakrament‘, sagte Tom Smart, denn er hatte bisweilen die üble Gewohnheit zu fluchen. ,Hol der Teufel das Fuhrwerk samt Geschirr‘, sagte Tom. ,Und noch einmal. Und noch einmal!‘

Sie werden mich wahrscheinlich fragen, warum Tom Smart den Wunsch ausdrückte, diesem Prozeß zweimal hintereinander unterworfen zu werden. Ich kann es nicht sagen und weiß nur, daß Tom Smart es wünschte oder daß mein Onkel es immer behauptete, was schließlich auf eins herauskommt. ,Und noch einmal! Und noch einmal!‘ sagte Tom Smart, und die Mähre wieherte, als ob sie ganz seiner Ansicht war.

,Munter, altes Mädchen‘, sagte er dann und klopfte dem Gaul mit dem Peitschenstiel auf den Hals, ,im ersten Haus, an das wir kommen, kehren wir ein, und je schneller du läufst, desto schneller geht es vorüber. Brrr, Alte, öh, öh.‘

‚Ob die launische Mähre Tom verstand oder ob sie fand, daß ihr beim Stehenbleiben noch kälter würde, kann ich natürlich nicht wissen. Aber das eine ist sicher, kaum hatte Tom den Mund geschlossen, da spitzte sie die Ohren und galoppierte fort, daß ihrem Herrn Hören und Sehen verging. Erst vor einem Gasthause auf der rechten Seite der Straße, ungefähr eine halbe Viertelmeile vor dem Ende der Ebene, machte sie aus freiem Antriebe halt.

Tom warf einen schnellen Blick, während er die Zügel dem Hausknecht zuwarf und die Peitsche neben den Bock steckte, auf das Haus. Es war ein sonderbares altmodisches Gebäude, mit Schindeln gedeckt und von Querbalken durchzogen, mit Giebelfenstern, die die ganze Breite des Fußweges neben der Straße überragten, und einem niederen Tor mit dunklem Eingang. Ein paar steile Stufen führten in das Haus hinab, anstatt, wie bei modernen Gebäuden, hinauf. Und doch hatte das Ganze ein einladendes Aussehen, denn im Gastzimmer brannte ein helles, freundliches Licht, das einen hellen Schein über die Straße warf und sogar die gegenüberstehende Hecke beleuchtete. All das mit dem Blick des erfahrenen Reisenden erfassend, stieg Tom so behend ab, als es seine halberfrornen Glieder gestatteten, und trat in das Haus.

In weniger als fünf Minuten saß er in dem Zimmer gegenüber dem Schenkstübchen an einem tüchtigen Feuer, dessen Knistern und Prasseln allein schon das Herz eines Mannes von Gemüt hätte erwärmen können. Aber das war noch nicht alles, denn ein schmuckgekleidetes Mädchen mit blitzenden Augen und zierlichen Fesseln breitete ein sauberes weißes Tischtuch vor ihm aus, und als Tom so dasaß, mit seinen Füßen, die bereits in Pantoffeln staken, auf dem Kamingitter und den Rücken der offenen Tür zugekehrt, sah er im Schenkverschlag durch den Spiegel, der vor ihm hing, köstliche Reihen grüner Flaschen mit goldenen Etiketten neben Krügen mit eingemachten Früchten, Käse, abgesottne Schinken und Ochsenfleisch in der schönsten Ordnung und in der appetitlichsten Weise auf Brettern aufgestellt. Das war auch recht behaglich, aber immer noch nicht alles, denn im Schenkverschlag saß am niedlichsten aller Teetischchen vor einem Nebenkamin eine stattliche Witwe von ungefähr achtundvierzig Jahren mit einem Gesicht so freundlich wie das Zimmer selbst. Offenbar die Frau des Hauses und Gebieterin über alle diese herrlichen Besitztümer. Nur eine störende Linie war in dem ganzen schönen Gemälde, und das war ein großer Mann, ein sehr großer Mann, der neben der Witwe beim Tee saß. Er hatte einen braunen Rock mit glänzenden Knöpfen, einen schwarzen Backenbart und buschiges dunkles Haar, und es gehörte gerade kein großer Scharfblick dazu, um zu erkennen, daß er auf dem besten war, seine Nachbarin zu überreden, nicht länger Witfrau zu bleiben, sondern, auf ihn das Vorrecht zu übertragen, den ganzen Rest seines Lebens hindurch im Schenkstübchen sitzen zu dürfen. Tom Smart war keineswegs reizbar oder mißgünstig veranlagt; aber immerhin, der große Mann in dem braunen Rock mit den glänzenden Knöpfen regte das Tröpfchen Galle auf, das in seiner Konstitution lag, und machte ihn um so unwilliger, als er dann und wann von seinem Sitze vor dem Spiegel aus gewisse kleine Vertraulichkeiten zärtlicher Natur bemerkte, die sich zwischen dem großen Mann und der Witwe abspielten und hinlänglich beurkundeten, daß der große Mann sich einer Gunst erfreute, die im richtigen Verhältnis zu seiner Größe stand.

Tom trank gern heißen Punsch – ich kann es wagen zu behaupten, daß er sehr gern heißen Punsch trank –, und nachdem er sich darum gekümmert hatte, daß seine launische Mähre gut untergebracht und versorgt war und er selbst das köstliche, kleine heiße Abendessen, das die Witwe ihm eigenhändig anrichtete, bis auf den letzten Bissen verzehrt hatte, bestellte er versuchsweise ein Glas Punsch. Nun gab es im ganzen Kapitel der Haushaltungskunst nicht einen Artikel, auf den sich die Wirtin besser verstand als eben die Punschbereitung, und das erste Glas sagte Tom Smarts Gaumen so sehr zu, daß er möglichst schnell ein zweites bestellte.

Warmer Punsch ist eine gute Sache, Gentlemen, eine ausgezeichnete Sache unter allen Verhältnissen, aber in der behaglichen alten Stube, vor dem knisternden Feuer, während der Wind draußen tobte, daß alle Balken im ganzen Hause ächzten, fand ihn Tom Smart über alle Maßen köstlich. Er ließ sich noch ein Glas geben, und dann noch eins – ich weiß nicht genau, ob er nach diesem nicht noch eins trank –, aber je mehr heißen Punsch er trank, desto weniger ging ihm der große Mann aus dem Kopf.

,Verdammte ‚Unverschämtheit‘, brummte er. ,Was hat er in dem behaglichen Stübchen zu tun? So ein widerwärtiger Kerl! Wenn die Witwe nur ein bißchen Geschmack hätte, würde sie sich einen Besseren aussuchen.‘ Toms Auge wendete sich von dem Spiegel nach dem Trinkglas, und da er merkte, daß er allmählich gefühlvoll wurde, leerte er das vierte Glas Punsch und bestellte ein fünftes.

Tom Smart, Gentlemen, hatte von jeher eine große Neigung zu einer öffentlichen Stellung. Sein Sinn stand schon lange darnach, ein Schenkstübchen sein eigen nennen zu können und darin zu herrschen, angetan mit einem grauen Rock, kurzen Hosen und Stulpenstiefeln. Er legte großen Wert darauf, bei geselligen Mahlzeiten den Vorsitz zu führen, und oft dachte er daran, wie gut es ihm anstehen würde, an seinem eignen Tisch die Unterhaltung zu leiten und seinen Kunden in der Trinkstube mit trefflichem Beispiel voranzugehen. Lauter solche Gedanken schössen Tom durch den Kopf, als er vor dem knisternden Feuer beim warmen Punsch saß, und er war ganz erbost darüber, daß der Lange sichtlich auf so gutem Wege war, ein solch treffliches Haus zu erobern, während er, Tom Smart, so weit davon entfernt war wie je. Nachdem er bei seinen letzten zwei Gläsern noch gründlich mit sich zu Rate gegangen, ob er ein begründetes Recht hätte, deswegen einen Streit mit dem Langen anzufangen, kam er schließlich zu der Überzeugung, er sei eben ein geschlagener und vom Schicksal verfolgter Mann und tue wohl am besten, zu Bett zu gehen.

Das schmucke Dienstmädchen leuchtete ihm über eine breite alte Treppe voran und hielt die Hand vor das Nachtlicht, um es vor dem Wind zu schützen, der in einem solchen alten, unregelmäßig angelegten Gebäude reichlich Gelegenheit hatte, sich zu belustigen, auch ohne die Kerze auszublasen; aber diese Vorsichtsmaßregel verfehlte ihren Zweck. Er blies sie doch aus und gab dadurch Toms Feinden Gelegenheit zu der Behauptung, er und nicht der Wind habe das Licht ausgelöscht, bloß, um unter dem Vorwande, es wieder anzünden zu wollen, das Mädchen zu küssen. So oder so, es wurde ein andres Licht gebracht und Tom durch eine Menge Gemächer und ein Labyrinth von Gängen in sein Zimmer geführt. Das Mädchen wünschte ihm gute Nacht und ließ ihn allein.

Es war ein großes geräumiges Zimmer mit hohen Schränken und einem Bett, das für ein ganzes Internat Raum genug gehabt hätte – ein paar Eichentruhen nicht zu erwähnen, die das Gepäck einer kleinen Armee hätten in sich aufnehmen können –; doch was Tom am meisten auffiel, war ein sonderbarer, unheimlich aussehender Lehnstuhl mit hohem Rücken und höchst phantastischem Schnitzwerk. Er hatte einen Überzug von geblümtem Damast, und die runden Knäufe seiner Beine waren sorgfältig mit rotem Tuch umwickelt, als hätte er die Gicht in den Zehen. Von jedem andern sonderbaren Sessel würde Tom nichts andres gedacht haben als, er sei nun einmal ein sonderbarer Stuhl, und damit wäre die Sache abgemacht gewesen; aber dieses eigentümliche Möbel hatte etwas Besonderes an sich, und doch konnte Tom nicht sagen, was; so seltsam und verschieden von jedem andern hatte er noch keinen Sessel gesehen. Er schien ihn förmlich zu bezaubern. Tom setzte sich vor das Feuer und starrte ihn wohl eine halbe Stunde lang an. Hol’s der Teufel, was war das für ein seltsames altes Stück, daß man die Augen nicht davon abwenden konnte!

Nein, sagte sich Tom, kleidete sich langsam aus und starrte dabei, unentwegt, die ganze Zeit den alten Stuhl an, wie er so geheimnisvoll vor dem Bett stand. Mein Lebtag habe ich noch nie ein so seltsames Ding gesehen wie dieses. Sehr seltsam, sagte sich Tom, den der warme Punsch etwas nachdenklich gestimmt hatte. Sehr seltsam. Er schüttelte den Kopf mit einer Miene hoher Weisheit, und wieder mußte er den Stuhl ansehen. Er wußte nicht, was er daraus machen sollte, ging jedoch zu Bett, deckte sich warm zu und schlief ein.

Nach einer halben Stunde fuhr er aus dem Schlafe auf. Er hatte einen wirren Traum von großen Männern und Punschgläsern gehabt, und das erste, was sich ihm im Halbwachen darbot, war der seltsame Stuhl.

Ich will ihn nicht mehr ansehen, nahm sich Tom vor, schloß die Augen und versuchte sich einzureden, er schlafe schon wieder. Umsonst. Lauter seltsame Stühle tanzten vor seinen Augen, grätschten die Beine und schwangen sich im Bocksprung einander über den Rücken und machten allerlei tolle Kapriolen.

Lieber einen wirklichen Stuhl sehen als ein paar Dutzend eingebildete, sagte sich Tom und steckte den Kopf unter der Bettdecke hervor. Aber immer noch sah der Stuhl so herausfordernd drein wie vordem.

Starr betrachtete ihn Tom, da ging plötzlich eine außerordentliche Veränderung vor sich. Das Schnitzwerk auf der Lehne nahm allmählich die Züge und den Ausdruck eines alten gefurchten Menschengesichts an, das damastene Polster wurde eine altmodische Weste mit Schößen, die runden Knäufe verwandelten sich in ein Paar Füße, die in roten Tuchpantoffeln staken, und der ganze Stuhl glich einem häßlichen alten Mann aus dem vorigen Jahrhundert mit in die Hüften gestemmten Armen. Tom richtete sich im Bett auf und rieb sich die Augen. Vergebens. Der Stuhl war und blieb ein häßlicher alter Herr, und was noch mehr war, er zwinkerte ihm zu.

Tom war von Natur ein herzhafter, mutiger Bursche und hatte zudem fünf Gläser warmen Punsch getrunken. Sein Unwille gewann daher bald die Oberhand über seine anfängliche Bestürzung, als er sah, daß der alte Herr nicht aufhörte, ihn mit unverschämter Miene anzustarren und ihm zuzuzwinkern, und endlich entschloß er sich, das nicht länger so geduldig hinzunehmen. Und als daher das alte Gesicht wieder einmal stärker grinste, fragte Tom in höchst ärgerlichem Tone:

,Warum, zum Teufel, zwinkerst du denn fortwährend?‘

,Weil es mir so paßt, Tom Smart‘, sagte der Stuhl oder der alte Herr, wie Sie ihn nennen mögen. Er hörte zwar auf zu zwinkern, als Tom sprach, grinste ihn aber an, wie ein altersschwacher Affe.

,Woher weißt du meinen Namen, altes Nußknackergesicht?‘ fragte Tom Smart etwas betreten, obwohl er sich unbefangen stellte.

,Laß das, Tom‘, sagte der alte Herr, ,das ist nicht die Art, einen soliden spanischen Mahagoni anzureden. Gott straf mich, du benimmst dich ja rein, als ob ich nur furniert wäre.‘ Der alte Herr sah bei diesen Worten so zornig drein, daß Tom sich zu fürchten anfing.

,Ich wollte es Ihnen gegenüber durchaus nicht an Respekt fehlen lassen, Sir‘, entschuldigte sich Tom, viel höflicher als vorher.

,Schon gut, schon gut‘, erwiderte der Alte, ,kann ja sein, Tom.‘

,Sir …‘

,Ich kenne deine Verhältnisse, Tom! Genau. Du bist sehr arm, Tom.‘

,Leider nur zu wahr‘, versetzte Tom, ,aber woher wissen Sie das?‘

,Frag jetzt nicht. Übrigens bist du auch viel zu sehr dem Punsch zugetan, Tom!‘

Tom Smart wollte beteuern, er habe seit seinem letzten Geburtstag keinen Tropfen mehr getrunken, aber als sein Blick dem Auge des alten Herrn begegnete, sah dieser so eingeweiht drein, daß er errötete und schwieg.

,Tom‘, fuhr der alte Herr fort, ,die Witwe unten ist eine hübsche Frau, eine außerordentlich hübsche Frau, was, Tom?‘ Er riß dabei die Augen weit auf, zog eines seiner dürren kleinen Beine in die Höhe und machte ein so widerlich-verliebtes Gesicht, daß Tom förmlich ein Ekel ob dieses frivolen Benehmens überkam. – Ich bitte Sie, bei dem Alter des Herrn!

,Ich bin ihr Vormund, Tom.‘ ,Was Sie nicht sagen!‘ staunte Tom Smart. ,Ich habe ihre Mutter gekannt, Tom‘, fuhr der Alte fort, ,und ihre Großmutter. Sie war sehr verliebt in mich, machte mir diese Weste, Tom.‘

,Wahrhaftig?‘ fragte Tom Smart.

,Und diese Schuhe‘, erzählte der Alte weiter, einen seiner roten Pantoffelfüße emporhebend. ,Aber sprich nicht darüber, Tom. Ich möchte nicht, daß es bekannt würde, wie sehr sie an mir hing. Es könnte störend auf den Familienfrieden wirken.‘

Der alte Geck sah bei diesen Worten so außerordentlich unverschämt drein, daß sich Tom Smart, wie er nachher erklärte, gar kein Gewissen daraus gemacht hätte, sich auf ihn zu setzen.

,Ich war zu meiner Zeit ein großer Liebling der Damen, Tom‘, fuhr der schamlose alte Sünder fort. ,Hunderte schöner Weiber haben stundenlang auf meinem Schöße gesessen. Was sagst du dazu, Bursche, was?‘ Der alte Herr wollte noch einige galante Abenteuer aus seiner Jugendzeit zum besten geben, bekam aber einen solchen Anfall von Knarren, daß er außerstande war, fortzufahren.

Geschieht dir ganz recht, alter Schuft, dachte Tom Smart, sagte aber kein Wörtchen.

,Ach!‘ fing der Alte wieder an, ,jetzt habe ich meine liebe Not dafür. Ich werde alt, Tom, und gehe allmählich aus dem Leim. Auch habe ich eine Operation ausgestanden, man hat mir ein kleines Stück in den Rücken eingesetzt, und das war eine schwere Heimsuchung, Tom.‘

,Das glaube ich gern, Sir‘, sagte Tom Smart.

,Aber genug davon‘, fuhr der alte Herr fort. ,Kurz und gut, Tom, du mußt die Witwe heiraten.‘

,Ich, Sir?‘

,Du, jawohl‘, antwortete der alte Herr.

,Gottes Segen auf Ihr ehrwürdiges Haupt‘, sagte Tom, denn der alte Herr hatte noch ein paar Pferdehaare. .Gottes Segen; aber sie will mich doch nicht.‘ Und Tom seufzte unwillkürlich, als er an das Schenkstübchen dachte.

,Sie will nicht?‘ fragte der alte Herr in strengem Ton.

,Nein, bestimmt nicht‘, antwortete Tom, ,sie hat ein Auge auf einen andern geworfen. Ein langer Bursche – ein verdammt langer Bursche – mit einem schwarzen Backenbart.‘

,Tom‘, tröstete der alte Herr, ,sie wird ihn nicht nehmen.‘

,Nicht nehmen?‘ wiederholte Tom. ,Wären Sie im Schenkstübchen gewesen, alter Herr, würden Sie anders reden.‘

,Pah! Pah!‘ sagte der alte Herr, ,weiß doch alles.‘

,Was wissen Sie?‘

,Daß sie sich hinter der Tür küssen, und so weiter, Tom‘, antwortete der alte Herr und sah dabei wieder so frivol drein, daß Tom außerordentlich zornig wurde, denn einen Greis, der schon gescheiter sein sollte, von solchen Dingen sprechen zu hören, ist höchst widerlich, widerlicher als irgend etwas; das werden Sie zugeben, Gentlemen.

,Ich kenne mich aus‘, sagte der alte Herr. ,Zu meiner Zeit habe ich so was sehr oft gesehen, Tom, bei mehr Leuten, als ich für gut finde, dir zu nennen; aber schließlich führte es doch zu nichts.‘

,Sie müssen merkwürdige Dinge gesehen haben‘, bemerkte Tom mit einem forschenden Blick.

,Da magst du recht haben, Tom‘, erwiderte der Alte mit einem sehr bedeutungsvollen Zwinkern. ,Ich bin der Letzte meines Stammes, Tom‘, fügte er mit einem schwermütigen Seufzer hinzu.

,War sie zahlreich, Ihre Familie?‘ fragte Tom Smart.

,Wir waren unser zwölf, Tom, hübsche, schmucke steifrückige Gesellen, wie du nur welche sehen kannst. Keine von euren neumodischen Mißgeburten, alle mit Armen, und poliert, daß einem das Herz im Leibe lachte, wenn man sie nur sah.‘

,Und was wurde aus den andern, Sir?‘ fragte Tom Smart.

Der alte Herr wischte sich mit den Ellenbogen das Auge: ,Dahin, Tom, dahin. Wir hatten schweren Dienst, Tom, und sie waren nicht alle so fest wie ich. Bekamen die Gicht in den Beinen und Armen und wanderten in Küchen und andre Hospitäler; einer verlor durch den schweren Dienst und die übermäßige Anstrengung alle seine Sinne; er wurde so elend, daß man ihn verbrennen mußte. Schauerlich, was, Tom?‘

,Furchtbar!‘ bestätigte Tom Smart.

Der alte Knabe schwieg wieder einige Minuten lang, augenscheinlich tief ergriffen, und fuhr dann fort:

.Aber ich schweife von meinem Thema ab, Tom. Der lange Bursche, Tom, ist ein spitzbübischer Glücksritter. In demselben Augenblick, wo er die Witwe heiratete, würde er das ganze Mobiliar verkaufen und sich davonmachen. Was wäre die Folge davon? Sie wäre eine verlassene, zugrunde gerichtete Frau, und ich würde in irgendeiner Trödlerbude an Erkältung sterben.‘

,Gut, aber …‘

,Unterbrich mich nicht‘, sagte der alte Herr. ,Von dir, Tom, habe ich eine ganz andre Meinung; ich weiß, wenn du dich nur einmal in einem Wirtshause festgesetzt hättest, so würdest du es nie mehr verlassen, solange es noch innerhalb seiner Wände etwas zu trinken gäbe.‘

,Ich bin Ihnen für Ihre gute Meinung sehr verbunden‘, sagte Tom Smart.

,Eben deshalb‘, erklärte der alte Herr in diktatorischem Ton, ,sollst du und nicht er die Witwe haben.‘

,Wie soll ich das aber anstellen?‘ fragte Tom Smart hastig.

,Durch die Enthüllung, daß er schon verheiratet ist.‘

,Wie kann ich das beweisen?‘ fragte Tom und sprang halb aus dem Bett.

Der alte Herr hob seinen Arm in die Höhe und deutete nach einem der beiden Schränke. ,Er denkt nicht daran‘, sagte er, ,daß er in der rechten Tasche seiner Hosen, die in diesem Kasten hängen, einen Brief vergessen hat, worin er angefleht wird, zu seinem trostlosen Weibe mit ihren sechs – höre, Tom –, sechs Kindern, und alle noch unmündig, zurückzukehren.‘

Noch während der alte Herr in feierlichem Ton das verkündete, wurden seine Züge immer unbestimmter und die Umrisse seiner Gestalt schwankender. Ein Schleier fiel über Tom Smarts Augen. Der alte Mann ging nach und nach in den Stuhl über, die Damastweste verwandelte sich in eine gepolsterte Lehne, die roten Pantoffeln wurden zu kleinen roten Tuchläppchen, die die Knäufe umhüllten. Das milde Licht erlosch allmählich, und Tom Smart fiel auf sein Kissen zurück in die Arme des Schlafes.

Am andern Morgen erwachte er aus dem bleiernen Schlaf, in den er nach dem Verschwinden des alten Herrn gesunken war, setzte sich in seinem Bett auf und mühte sich einige Minuten lang vergebens ab, sich der Vorgänge der entwichenen Nacht zu entsinnen. Plötzlich tauchten sie wieder in seinem Gedächtnisse auf. Er sah auf den Stuhl. Es war ein phantastisches, grämlich aussehendes Stück Möbel, das ließ sich nicht bezweifeln; aber um zwischen ihm und einem alten Manne eine Ähnlichkeit zu entdecken, dazu gehörte denn doch eine ziemlich lebhafte und erfinderische Phantasie.

,Wie steht’s, alter Knabe?‘ fragte Tom. Er war bei Tag kühner. Wie die meisten Leute.

Der Stuhl blieb regungslos und sprach kein Wort.

,Ein heilloser Morgen‘, begann Tom eine Unterhaltung. Umsonst. Der Stuhl war gänzlich abgeneigt.

,Auf welchen Schrank hast du gedeutet? – Das kannst du mir doch wenigstens sagen‘, meinte Tom. Aber es war zum Teufelholen. Kein Wort war aus dem Stuhl herauszubringen, meine Herren.

,Nun, es wird nicht schwer sein, ihn irgendwie zu öffnen‘, sagte Tom, entschlossen aus seinem Bett springend.

Er trat an einen der Schränke. Der Schlüssel steckte; er drehte ihn um und öffnete. Wirklich hing ein Paar Hosen darin. Er fuhr mit der Hand in die rechte Tasche und zog richtig den Brief hervor, von dem der alte Herr gesprochen hatte.

,Ist doch seltsam‘, brummte Tom Smart, sah zuerst den Stuhl, dann den Schrank, dann den Brief und dann wieder den Stuhl an. ,Sehr seltsam‘, sagte Tom. Aber da sich das Geheimnis nicht erklären ließ, hielt er es für das zweckmäßigste, sich anzukleiden, die Sache mit dem Langen ein für allemal ins reine zu bringen und seinem Elend dadurch ein Ende zu machen.

Auf seinem Wege betrachtete Tom die Zimmer und Gänge mit dem prüfenden Blicke eines zukünftigen Gastwirts und dachte dabei an die Möglichkeit, daß sie samt ihrem Inhalt binnen kurzem sein Eigentum werden könnten. Der lange Bursche stand in dem hübschen Schenkstübchen, die Hände auf dem Rücken, ganz, als ob er zu Hause wäre. Er gaffte Tom mit einem nichtssagenden Blick an. Ein unbefangener Beobachter würde vermutet haben,, er habe es bloß getan, um seine weißen Zähne zu zeigen, aber Tom Smart sah darin Triumphgefühl, und zwar an einer Stelle, wo das Herz des großen Mannes gewesen wäre, wenn er eins gehabt hätte. Er lachte ihm daher höhnisch ins Gesicht und verlangte die Wirtin zu sprechen.

,Guten Morgen, Ma’am‘, sagte er, die Tür des Schenkstübchens schließend, als die Wirtin eintrat.

,Guten Morgen, Sir‘, antwortete die Witwe. ,Was befehlen Sie zum Frühstück?‘

Tom dachte darüber nach, wie er die Sache einfädeln sollte, und gab keine Antwort.

,Es gibt vortrefflichen Schinken‘, fuhr die Witwe fort, ,und ein schönes gespicktes Hühnchen kalt. Soll ich Ihnen eins hereinschicken, Sir?‘ Tom erwachte aus seinem Grübeln. Seine Bewunderung vor der Witwe wuchs, als er sie so sprechen hörte. ,Die gute Seele! Wie man da versorgt wäre!‘

,Wer ist der Herr im Nebenzimmer, Ma’am?‘ fragte er.

,Er nennt sich Jinkins, Sir‘, antwortete die Witwe, leicht errötend.

,Ein großgewachsener Mann‘, sagte Tom.

,Ein sehr stattlicher Mann‘, erwiderte die Witwe, ,und ein sehr gebildeter Herr.‘

,So. Hm‘, sagte Tom.

,Wünschen Sie sonst noch etwas, Sir?‘ fragte die Witwe, etwas verblüfft über Toms Benehmen.

,Nun ja‘, antwortete Tom. ,Liebe Frau, wollen Sie die Güte haben, einen Augenblick Platz zu nehmen.‘

Die Witwe sah ganz verdutzt aus, setzte sich aber doch, und Tom setzte sich auch, und zwar hart an ihre Seite.

Ich weiß nicht, wie es kam, meine Herren, wirklich, mein Oheim pflegte zu erzählen, daß Tom gesagt habe, er wisse es nicht, wie es gekommen sei, daß … Doch so oder so, Toms Hand senkte sich auf die Rückseite der Hand der Witwe und blieb dort liegen, während er mit ihr sprach. ,Liebe Frau‘, sagte er – er hielt immer viel darauf, den Liebenswürdigen zu spielen – , ,liebe Frau, Sie verdienen es, einen vortrefflichen Mann zu bekommen, ja, das verdienen Sie.‘

,Oh, mein Herr‘, sagte die Witwe, so unbefangen sie konnte, denn Toms Art und Weise, die Unterhaltung zu beginnen, war etwas ungewöhnlich, um nicht zu sagen, befremdend, besonders wenn man den Umstand in Betracht zog, daß er sie vor dem gestrigen Abend noch mit keinem Auge gesehen hatte. ,Oh, bitte, mein Herr.‘

,Ich bin Schmeicheleien abhold, Ma’am‘, fuhr Tom Smart fort. ,Sie verdienen einen ausgezeichneten Mann, und wer immer es auch werden mag, er wird ein sehr glücklicher Mann sein.‘

Als Tom dies sagte, wanderten seine Augen unwillkürlich von dem Gesicht der Witwe auf die behagliche Umgebung.

Die Witwe sah noch verblüffter drein und versuchte aufzustehen. Tom drückte ihr sanft die Hand, wie, um sie zurückzuhalten, und sie blieb sitzen. – Witwen, meine Herren, sind gewöhnlich nicht allzu scheu, wie mein Onkel zu sagen pflegte.

,Ich bin Ihnen wirklich sehr verbunden für Ihre gute Meinung‘, sagte die dralle Wirtin, halb lachend, ,und wenn ich je wieder heirate …‘ ,Wenn‘, wiederholte Tom Smart mit einem schelmischen Blick aus dem rechten Winkel seines linken Auges., Wenn,..‘

,Nun‘, sagte die Wirtin und lachte, diesmal laut. ,Wenn ich es tue, so hoffe ich, einen so guten Mann zu bekommen, wie Sie ihn schildern.‘ ,Jinkins zum Beispiel?‘ meinte Tom.

,Oh, was glauben Sie, Sir!‘ rief die Witwe aus.

,Reden Sie nicht‘, versetzte Tom, ,ich kenne ihn.‘

,Ich bin überzeugt, niemand, der ihn kennt, kann ihm etwas Schlechtes nachsagen‘, versetzte die Witwe, aufgebracht durch die geheimnisvolle Miene Toms.

,Ehüm‘, hüstelte Tom Smart.

Die Witwe hielt den Augenblick für gekommen, in Tränen auszubrechen. Sie zog ihr Taschentuch heraus und fragte, ob Tom sie kränken wolle; ob er es für ehrenhaft halte, einem Gentleman hinter dem Rücken die Ehre abzuschneiden; warum er, wenn er etwas zu sagen hätte, es ihm nicht als Mann ins Gesicht sage, anstatt ein armes, schwaches Weib so zu ängstigen, und so weiter.

,Ich werde es ihm schon derb genug sagen‘, erwiderte Tom, ,nur will ich, daß Sie es vorher hören.‘

,Was ist es denn‘, fragte die Witwe, Tom aufmerksam ins Gesicht sehend.

,Sie werden staunen‘, flüsterte Tom und steckte seine Hand in die Tasche.

,Wenn Sie vielleicht sagen wollen, daß er Geld braucht‘, wehrte die Witwe ab, ,so weiß ich das bereits, und es geht Sie nichts an.‘

,Pah, Unsinn; daran läge nichts‘, versetzte Tom Smart. ,Ich brauche auch Geld. Das ist es nicht.‘

,Ach Gott, was kann es denn sein?‘ rief die arme Witwe.

,Erschrecken Sie nicht!‘ Tom Smart zog langsam den Brief aus der Tasche und entfaltete ihn. ,Werden Sie auch nicht schreien?‘ fragte er besorgt.

,Nein, nein‘, beteuerte die Witwe, ,geben Sie her.‘

,Werden Sie nicht in Ohnmacht fallen oder ähnliche Dummheiten machen?‘

,Nein, nein‘, erwiderte die Witwe hastig.

,Oder hinauslaufen, um es ihm vorzuhalten? Ihre Einmischung ist dabei ganz unnötig, da ich die Sache auf mich zu nehmen gedenke; es wäre schon besser, wenn Sie sich gar nicht aufregen würden.‘

,Schon recht, geben Sie nur her!‘ bat die Witwe.

,Hier‘, sagte Tom Smart und reichte ihr den Brief.

Meine Herren, ich habe meinen Onkel sagen hören, daß Tom Smart behauptete, die Wehklagen der Witwe, in die sie bei der Enthüllung des Geheimnisses ausgebrochen, hätten ein Herz von Stein erweichen können. Tom hatte ohnhin ein weiches Herz, und sie drangen bis in sein Innerstes. Die Witwe wiegte sich gramzerrissen hin und her und rang die Hände.

,Oh, über die Arglist und Schlechtigkeit eines Mannes!‘ rief sie aus.

,Schrecklich, Ma’am; aber beruhigen Sie sich‘, tröstete sie Tom Smart.

,Ach, ich kann mich nicht beruhigen‘, jammerte die Witwe. ,Nie mehr werde ich einen Menschen finden, den ich so lieben kann.‘

,O doch, Sie werden es, Geliebte meines Herzens‘, versicherte Tom Smart, aus Mitleid mit dem kläglichen Geschick der Witwe einen Strom dicker Tränen vergießend.

Von Mitgefühl mit fortgerissen, hatte Tom Smart seinen Arm um die Taille der Witwe geschlungen und sie im Übermaße ihres Schmerzes seine Hand ergriffen. Dann sah sie zu Toms Gesicht auf und lächelte unter Tränen, und er blickte in ihr Gesicht hinunter und lächelte auch unter Tränen. Ich konnte nie in Erfahrung bringen, meine Herren, ob Tom in diesem entscheidenden Augenblick die Witwe küßte oder nicht. Meinem Onkel pflegte er zu versichern, er habe es nicht getan, aber ich bezweifle es fast. Unter uns gesagt, meine Herren, ich glaube, er tat es.

Jedenfalls ist das eine gewiß, daß eine halbe Stunde darauf Tom den Langen aus dem Hause warf und einen Monat später die Witwe heiratete. Oft fuhr er noch mit seinem tonfarbenen Gig mit den roten Rädern und der launenhaften Mähre mit dem stetigen Trab im Lande herum, bis er endlich nach vielen Jahren sein Geschäft aufgab und mit seinem Weib nach Frankreich ging, worauf das alte Haus niedergerissen wurde.“

„Wollen Sie mir eine Frage erlauben“, wandte sich der wißbegierige Mr. Snodgraß an den Erzähler. „Was wurde denn aus dem Stuhl?“

„Nun“, versetzte der einäugige Reisende, „man hörte ihn am Tage der Hochzeit sehr stark krachen, aber Tom Smart konnte nicht herausbekommen, ob aus Vergnügen oder aus Gebrechlichkeit. Er neigte jedoch mehr zur letzteren Ansicht, denn der Stuhl sprach nachher nie wieder.“

„Und alle haben die Geschichte geglaubt, was?“ fragte das Schmutzgesicht und stopfte sich eine Pfeife.

„Alle, mit Ausnahme der Feinde Toms. Einige von ihnen sagten, Tom habe sie nur erdacht, und andre sind der Ansicht, er sei betrunken gewesen, habe sie geträumt und den Brief infolge Verwechslung der Hosen gefunden. Aber niemand gab etwas darauf, was diese neidischen Seelen behaupteten.“

„Und Tom Smart hat gesagt, es sei alles wahr?“

„Wort für Wort.“

„Und Ihr Onkel?“

„Auch der.“

„Das müssen ’n paar merkwürdige Männer gewesen sein“, brummte das Schmutzgesicht,

„Waren sie auch.“

Sechzehntes Kapitel


Sechzehntes Kapitel

In dem ein getreues Konterfei von zwei distinguierten Personen vorkommt sowie die genaue Beschreibung eines fashionablen Frühstücks, das zur Erneuerung einer alten Bekanntschaft führt.

Mr. Pickwick hatte bereits Gewissensbisse wegen der anhaltenden Vernachlässigung seiner Freunde im Gasthaus zum „Pfauen“, und am dritten Morgen nach Beendigung der Wahl war er gerade im Begriff, sie aufzusuchen, als ihm sein getreuer Diener eine Karte überreichte, auf der zu lesen stand:

Mrs. Leo Hunter

Villa Hütte bei Eatansville

„Es wartet jemand“, meldete Sam lakonisch.

Mich will jemand sprechen, Sam?“ fragte Mr. Pickwick.

„Er will mit aller Gewalt Ihnen sprechen und sonst gar nichts, jibt’s nich billiger, wie des Deubels Privatsekretär sagte, als er den Doktor Faust holte“, antwortete Mr. Weller.

„Er? Ist’s denn ein Herr?“ fragte Mr. Pickwick.

„Wenigstens ’n täuschend ähnliches Konterfei von ’nem solchen“, versetzte Mr. Weller.

„Aber die Karte ist doch von einer Dame!“

„Mir aber von ’nem Herrn gegeben. Er sitzt im Besuchszimmer und sagt, er möchte lieber den ganzen Tag warten, als wie Ihnen nich sehen.“ Mr. Pickwick begab sich unverzüglich ins Empfangszimmer und fand dort einen würdevoll aussehenden Herrn sitzen, der bei seinem Eintritt sogleich aufstand und mit einer Miene höchster Ehrerbietung fragte:

„Mr. Pickwick, wenn ich nicht irre?“

„Der bin ich.“

„Gestatten Sie mir die Ehre, mein Herr, Ihnen die Hand schütteln zu dürfen“, sagte der würdevoll aussehende Gentleman.

„Oh, bitte sehr.“

Der Fremde schüttelte die dargebotene Rechte und fuhr fort:

„Ihr Ruhm ist bis zu uns gedrungen, Sir. Das Aufsehen, das Ihre archäologischen Entdeckungen machten, ist bis zu den Ohren Mrs. Leo Hunters gedrungen – nämlich meiner Frau, Sir. Mein Name ist Leo Hunter.“

Der Fremde schwieg, als erwarte er, Mr. Pickwick werde ob dieser Enthüllung außer sich geraten.; als er aber sah, daß dieser vollkommen ruhig blieb, fuhr er fort:

„Meine Gattin, Sir, Mrs. Leo Hunter, setzt ihren Stolz darein, alles, was einen Namen hat, zu ihrem Bekanntenkreis zählen zu dürfen. Erlauben Sie mir, Sir, die Namen Mr. Pickwicks und der Mitglieder des nach ihm benannten Klubs an die Spitze der Liste zu setzen.“

„Ich werde mich außerordentlich glücklich schätzen, die Bekanntschaft einer solchen Dame zu machen, Sir“, versetzte Mr. Pickwick.

„Zuviel der Ehre, Sir“, sagte der würdevoll aussehende Gentleman. „Wir geben morgen früh einer großen Anzahl von Zeitgenossen, die sich durch Geist und Genie ausgezeichnet haben, eine fete champetre. Darf Mrs. Leo Hunter also auf den Besuch der Herren in Villa Hütte rechnen?“ „Mit dem größten Vergnügen.“

„Mrs. Leo Hunter gibt von Zeit zu Zeit solche Feste, mein Herr. Geistesorgien und Seelenschmäuse, wie sich jemand kürzlich in einem Sonett auf Mrs. Leo Hunters Frühstücke mit ebensoviel Feingefühl wie Originalität ausdrückte.“

„Vermutlich auch ein Herr, der sich öffentlich auszeichnete?“

„So ist es, Sir“, versetzte der würdevoll aussehende Gentleman. „Das gilt von sämtlichen Bekannten Mrs. Leo Hunters. Es ist ihr höchster Ehrgeiz, nur mit solchen Leuten zu verkehren.“

„Eine edle Sinnesart, in der Tat“, bemerkte Mr. Pickwick.

„Mrs. Leo Hunter wird stolz und entzückt sein, wenn ich ihr das ausrichte. Wenn ich nicht irre, hat doch einer der Herren in Ihrem Gefolge einige sehr hübsche Gedichte verfaßt. Nicht wahr?“

„Mein Freund Snodgraß hat viel Sinn für Poesie“, bestätigte Mr. Pickwick.

„Mrs. Leo Hunter ebenfalls, Sir. Dichtkunst geht ihr über alles. Sie hat ihr einen Altar errichtet; ihre ganze Seele ist ihr, sozusagen, vermählt. Sie hat selbst einige herrliche Strophen gedichtet, Sir. Vielleicht haben Sie schon von ihrer Ode an einen sterbenden Frosch gehört?“

„Ich wüßte nicht“, erwiderte Mr. Pickwick.

„Das setzt, mich wahrhaft in Erstaunen, Sir“, sagte Mr. Leo Hunter. „Sie hat ungeheures Aufsehen gemacht. Sie war mit einem L und acht Sternchen unterzeichnet und erschien ursprünglich in einer Frauenzeitung. Sie beginnt:

Seh ich keuchend dich vor Schrecken
Alle viere von dir strecken,
Um hier elend zu verrecken,
Dann packt für dich Armen
Mich tiefes Erbarmen,
O Frosch, o Frosch.“

„Wunderhübsch“, bemerkte Mr. Pickwick.

„Schön“, sagte Mr. Leo Hunter. „Und so einfach.“

„Außerordentlich“, bekräftigte Mr. Pickwick. „Die nächste Strophe ist noch ergreifender; wollen Sie sie hören?“

„Ich bitte darum“, versetzte Mr. Pickwick.

„Sie lautet:

Sprich, ob nicht zu schlimmer Stunde
Rohe Buben mit dem Hunde
Aus des Sumpfes kühlem Grunde
Dich jagten zum Lichte,
Dich plagten zunichte,
O Frosch, o Frosch.“

„Schön gesagt“, lobte Mr. Pickwick.

„Jede Zeile reimt sich, Sir, jede Zeile. Aber Sie sollten die Verse erst aus dem Munde Mrs. Leo Hunters selbst hören! Sie kann ihnen erst die richtige Weihe geben, mein Herr. Sie wird sie morgen früh im Kostüm deklamieren.“

„Im Kostüm?“

„Als Minerva. Ja, richtig, ich vergaß. Man erscheint in Kostüm und Maske.“

„Gott“, rief Mr. Pickwick mit einem Blick auf sein Embonpoint, „ich kann unmöglich.“

„Unmöglich? Nicht doch, mein Herr!“ sagte Mr. Leo Hunter. „Der Jude Salomon Lucas in Highstreet hat Tausende von Kostümen auf Lager.

Bedenken Sie, wie viele geeignete Masken Ihnen zur Verfügung stehen! Plato, Zeno, Epikur, Pythagoras – lauter Gründer von Klubs!“

„Allerdings“, gab Mr. Pickwick zu, „aber da ich mich mit diesen großen Männern nicht vergleichen kann, darf ich mir auch nicht, herausnehmen, in ihrer Tracht zu erscheinen.“

Der würdevolle Gentleman versank in tiefes Nachdenken und sagte dann:

„Wenn ich es mir recht überlege, mein Herr, glaube ich, es würde Mrs. Leo Hunter vielleicht eine noch größere Freude machen, ihren Gästen einen Mann von Ihrer Berühmtheit lieber in seinem eigenen Kostüm als in Ausstaffierung vorstellen zu dürfen. Ich erlaube mir, in Ihrem Falle eine Ausnahme vorzuschlagen, Sir. Und was Mrs. Leo Hunter betrifft, bin ich meiner Sache so gut wie gewiß.“

„Ja, dann“, erwiderte Mr. Pickwick, „werde ich mit größtem Vergnügen erscheinen können.“

„Aber ich beraube Sie Ihrer kostbaren Zeit, mein Herr“, sagte der feierliche Gentleman und stand plötzlich auf. „Ich will Sie nicht länger aufhalten. Ich werde also Mrs. Leo Hunter ausrichten, daß sie Sie und Ihre wertgeschätzten Freunde zuversichtlich erwarten darf. Guten Morgen, Sir; ich rechne es mir zur besonderen Ehre an, einen so hervorragenden Mann kennengelernt zu haben; bitte, sich nicht zu inkommodieren, mein Herr; nein, nein, unter keinen Umständen!“ Und ohne Mr. Pickwick Zeit zu Einwendungen zu lassen, schritt Mr. Leo Hunter würdevoll hinaus.

Mr. Pickwick setzte seinen Hut auf und begab sich unverzüglich in den „Pfau“; aber Mr. Winkle hatte bereits die Kunde von dem bevorstehenden Kostümfest dorthin gebracht.

„Mrs. Pott kommt auch“, waren die ersten Worte, mit denen er seinen Lehrer begrüßte.

„So?“

„Ja. Als Apoll. Pott hat nur noch etwas gegen die Tunika einzuwenden.“

„Mit Recht. Ganz mit Recht“, sagte Mr. Pickwick mit Nachdruck.

„Ja. Sie wird deshalb in einem weißen Atlaskleid mit Goldflitter erscheinen.“

„Wird man aber dann auch wissen, was sie vorstellt?“ fragte Mr. Snodgraß.

„Selbstverständlich“, entgegnete Mr. Winkle unwillig. „Wozu hat sie denn die Leier!?“

„Richtig, das habe ich nicht bedacht“, gab Mr. Snodgraß zu.

„Und ich gehe als Bandit“, erklärte Mr. Tupman.

„Als was?“ rief Mr. Pickwick und fuhr empört zurück.

„Als Bandit“, wiederholte Mr. Tupman schüchtern.

„Sie wollen damit doch nicht sagen“, versetzte Mr. Pickwick mit einem strengen Blick, „Sie wollen damit doch nicht sagen, Mr. Tupman, daß Sie im Sinn haben, in einer grünen Samtjacke mit kurzen Schößen zu erscheinen?“

„Allerdings, Sir“, erwiderte Mr. Tupman empfindlich. „Warum denn nicht, Sir?“

„Aus dem einfachen Grunde, Sir“, antwortete Mr. Pickwick gereizt, „weil Sie zu alt dazu sind, Sir.“

„Zu alt!?“ rief Mr. Tupman.

„Und außerdem“, fuhr Mr. Pickwick fort, „sind Sie zu fett, Sir.“

„Sir!“ rief Mr. Tupman mit glühendrotem Gesicht. „Das ist eine Beleidigung.“

„Sir!“ versetzte Mr. Pickwick in demselben Ton. „Ich beleidige Sie dadurch nicht halb sosehr, wie Sie mich beleidigen würden, wenn Sie in meiner Gegenwart in einer grünen Jacke mit kurzen Schößen erschienen.“

„Sir, Sie sind ein – Subjekt!“ sagte Mr. Tupman.

„Sir, das sind Sie!“ entgegnete Mr. Pickwick.

Mr. Tupman trat einen Schritt vor und fixierte Mr. Pickwick. Mr. Pickwick erwiderte den Blick zornbebend durch seine Brillengläser. Sein ganzes Wesen atmete Kühnheit und Trotz. Mr. Snodgraß und Mr. Winkle waren förmlich versteinert bei einem Auftritt wie diesem, zwischen zwei solchen Männern.

„Sir“, begann Mr. Tupman nach einer kurzen Pause mit dumpfer Stimme. „Sie haben mich alt genannt.“

„Jawohl“, erwiderte Mr. Pickwick.

„Und fett.“

„Ich wiederhole es.“

„Und ein – Subjekt.“

„Das sind Sie auch!“

Es trat eine beängstigende Pause ein.

„Meine Anhänglichkeit an Ihre Person, Sir“, sagte Mr. Tupman mit einer Stimme, die von innerer Bewegung zitterte, und krempelte sich die Ärmel auf, „ist groß, sehr groß, aber ich muß augenblicklich Genugtuung haben.“

„Nur heran, Sir, nur heran!“ rief Mr. Pickwick.

Und im höchsten Grade durch den Wortwechsel gereizt, warf sich der heroische Gelehrte in eine paralytisch aussehende Positur, in der seine beiden Gefährten ohne Mühe eine Defensivstellung erkannten.

„Wie?“ rief Mr. Snodgraß aus, plötzlich die Sprache wiederfindend, deren er bis dahin vor grenzenlosem Erstaunen beraubt gewesen war, und trat, auf die Gefahr hin, von beiden Parteien eins an die Schläfen zu bekommen, zwischen die Streitenden. „Wie? Mr. Pickwick, auf den die Augen der ganzen Welt gerichtet sind?! Und Sie, Mr. Tupman, auf den, wie auf uns alle, der Widerschein eines unsterblichen Namens fällt!? Schämen Sie sich, meine Herren. Schämen Sie sich!“

Die ungewohnten Furchen augenblicklicher, leidenschaftlicher Erregung auf Mr. Pickwicks klarer und offener Stirn verschwanden allmählich während dieser Anrede seines jungen Freundes wie Bleistiftlinien unter dem tilgenden Einflüsse eines Radiergummis. Noch ehe Mr. Snodgraß geendet, hatte das Gesicht des Trefflichen wieder den gewohnten wohlwollenden Ausdruck angenommen.

„Ich bin zu hitzig gewesen“, sagte er. „Allzu hitzig. Mr. Tupman, Ihre Hand!“

Die finstere Wolke wich auch aus Mr. Tupmans Antlitz, und mit Wärme ergriff er die Hand seines Freundes.

„Auch ich habe mich hinreißen lassen.“

„Nein, nein“, unterbrach ihn Mr. Pickwick, „die Schuld lag an mir. Sie wollen also die grüne Jacke tragen?“

„O nein, nein“, beteuerte Mr. Tupman.

„Wenn Sie mir einen Gefallen erweisen wollen, so tun Sie es.“

„Also gut, dann natürlich“, antwortete Mr. Tupman.

Und so wurde denn beschlossen, daß Mr. Tupman, Mr. Winkle und Mr. Snodgraß sämtlich im Kostüm erscheinen sollten.

Der Festmorgen kam. Es war ein überwältigender Anblick, Mr. Tupman im Banditenkostüm prangen zu sehen, mit eng anschließender Jacke, wie ein Nadelkissen, die Schenkel in kurze Samthosen gepfropft und die Waden mit Bändern umwickelt, worauf alle Banditen bekanntlich großen Wert legen. Kühn blickte sein offenes, geistreiches Gesicht mit stattlichem Schnurrbart und Backenbart, einem Kunsterzeugnis der Korkmalerei, aus dem offenen Hemdkragen hervor. Seine zuckerhutförmige, mit vielfarbigen Bändern gezierte Kopfbedeckung mußte er auf den Knien halten, weil der Wagen nicht hoch genug war. Nicht minder prächtig nahm sich Mr. Snodgraß in blauem Atlaswams und spanischem Mantel, weißen seidenen Strümpfen, roten Schuhen und griechischem Helm aus, einem Kostüm, das erwiesenermaßen von alters her die Tracht der Troubadoure bildet. Alles das, an und für sich schon entzückend, war aber noch nichts gegen das Jubelgeschrei der Menge, als der Wagen vorfuhr und eine Halbkutsche den großen Pott als russischen Justizbeamten mit einer schrecklichen Knute in der Hand aufnahm, ein fein gewähltes Sinnbild der gewaltigen Macht der „Eatanswill-Gazette“ und der furchtbaren Art und Weise, mit der der Publizist öffentliche Beleidigungen geißelte.

„Bravo!“ riefen die Herren Tupman und Snodgraß aus dem Wagen, als sie diese wandelnde Allegorie erblickten.

„Bravo!“ hörte man Mr. Pickwick rufen.

„Hurra, hoch, Pott!“ schrie die Menge.

Umtost von solchen Begrüßungen, bestieg Mr. Pott mit einem sanften, würdevollen Lächeln die Halbkutsche, was zur Genüge bewies, wie sehr er sich seiner Macht bewußt war.

Sodann trat Mrs. Pott aus dem Hause. Sie hätte dem Gotte Apoll zum Verwechseln ähnlich gesehen, wenn nur der Damenrock nicht gewesen wäre. Mr. Winkle, in seiner hellroten Jacke ein Mittelding zwischen Fuchsjäger und königlichem Briefträger, bot ihr den Arm. Als letzter erschien Mr. Pickwick, um jubelt von der Straßenjugend, die in seinen Strümpfen und Gamaschen offenbar Hinweise auf die alten, ehrwürdigen Zeiten sahen. Mr. Weller, zur Mithilfe beim Servieren auserkoren, stieg auf den Bock des Wagens, der seinen Gebieter barg, und beide Vehikel bewegten sich Mrs. Leo Hunters Park zu.

Männer, Frauen, Knaben und Mädchen, die sich versammelt hatten, die Gäste in ihren Maskenkostümen zu bewundern, jauchzten vor Freude und Entzücken, als Mr. Pickwick, in den Banditen und den Troubadour eingehängt, feierlich dem Eingange zu schritt, und der Jubel erreichte seinen Höhepunkt, als Mr. Tupman unter mannigfachen Anstrengungen sich in der Nähe des Parktores bemühte, den Zuckerhut auf seinem Kopf zu befestigen.

Alle Festanordnungen waren aufs glänzendste gelöst, und die prophetischen Worte Potts über die Pracht des Feenreiches gingen buchstäblich in Erfüllung. Der Park, über fünf viertel Morgen groß, wimmelte von Gästen! Noch nie strahlten wohl Schönheit, Eleganz und Literatur in solchem Glänze. Die junge Dame, die die Poesie in der „Eatanswill-Gazette“ vertrat, lustwandelte, als Sultanin auf den Arm des jungen Herrn gestützt, der dem Departement der Kritik vorstand und – von den Stiefeln vielleicht abgesehen – sehr passend in die Uniform eines Feldmarschalls gekleidet war. Eine zahllose Menge Genies hatte sich eingefunden, mit denen zusammenzutreffen sich jeder vernünftige Mensch zur Ehre anrechnen mußte. Und noch nicht genug daran, waren ein halbes Dutzend „Löwen“ aus London zugegen, Autoren, wirkliche Autoren, die komplette Bücher geschrieben und sie nachher dem Druck überliefert hatten. Sie gingen herum wie gewöhnliche Menschen, lächelnd und unaufhörlich plaudernd, noch dazu eine ziemliche Portion Unsinn, vermutlich in der wohlwollenden Absicht, sich dem Publikum verständlicher zu machen. Selbstverständlich war auch eine Musikbande mit Papiermützen da und ein Quartett von Sängern aus irgendeinem Lande Dingsbums, in der Tracht ihres Landes, und ein Dutzend gemietete Aufwärter, gleichfalls in dem Kostüm ihrer Gegend, das freilich etwas schmutzig war – Mrs1. Leo Hunter als Minerva, die die Gäste empfing und vor Stolz, so hervorragende Leine um sich versammelt zu sehen, überfloß, nicht zu vergessen „Mr. Pickwick, Ma’am“, meldete ein Diener, als sich der Meister, mit dem Hute in der Hand und in den Banditen und den Troubadour eingehängt, der Göttin des Tages näherte.

„Wie, wo?“ rief Mrs. Leo Hunter in theatralischer Verzückung.

„Hier“, sagte Mr. Pickwick.

„Ist’s möglich, daß ich wirklich das Glück habe, Mr. Pickwick in eigner Person vor mir zu sehen?“

„Keinen andern, Ma’am“, erwiderte Mr. Pickwick mit einer sehr tiefen Verbeugung. „Erlauben Sie, daß ich meine Freunde – Mr. Tupman – Mr. Winkle – und Mr. Snodgraß – der Verfasserin des ,Sterbenden Frosches‘ vorstelle.“

Wohl nur Leute, die den Versuch selbst gemacht haben, wissen, wie schwer es ist, in enganliegenden grünen Samtbeinkleidern, einer zu knappen Jacke mit einem Zuckerhut auf dem Kopfe, oder in blauen Atlaseskarpins, weißen Seidenstrümpfen oder Kniehosen und Stulpenstiefeln, die ohne die entfernteste Rücksicht auf die Dimensionen der Körper angefertigt wurden, Verbeugungen zu machen. Noch nie sah man wohl solche Verdrehungen, wie sie Mr. Tupman machte, um Gelenkigkeit und Grazie an den Tag zu legen, und noch nie so sinnreiche Stellungen, wie sie seine Freunde in ihren Maskenkostümen annahmen.

„Mr. Pickwick“, flötete Mrs. Leo Hunter, „ich nehme Ihnen das Versprechen ab, daß Sie den ganzen Tag nicht von meiner Seite weichen. Es sind Hunderte von Gästen hier, denen ich Sie unbedingt vorstellen muß.“

„Sie sind sehr gütig, Ma’am“, erwiderte Mr. Pickwick.

„Zuvörderst sehen Sie hier meine kleinen Töchterchen; ich hätte sie beinahe vergessen“, sagte die Minerva, nachlässig auf ein Paar erwachsene Damen von zwanzig oder zweiundzwanzig Jahren deutend, die beide als Babys gekleidet waren.

„Wunderschöne junge Damen“, bemerkte Mr. Pickwick, als sich die Mädchen nach der Zeremonie wieder entfernten.

„Ganz wie ihre Mama, Sir“, warf Mr. Pott in majestätischem Tone hin.

„Oh, Sie Schlimmer!“ rief Mrs. Leo Hunter und schlug dem Herausgeber scherzhaft mit ihrem Fächer auf die Schulter.

„Aber ich bitte sehr, meine teuerste Mrs. Hunter“, verteidigte sich Mr. Pott, der in der Villa den Herold zu spielen pflegte, „hat denn nicht vergangnes Jahr, als Ihr Porträt in der königlichen Akademie ausgestellt war, alle Welt gefragt, ob es Sie oder Ihre jüngste Tochter vorstelle?“

„Nun gut, und wenn es auch der Fall war, brauchen Sie es denn hier vor Fremden zu verraten?“ flötete Mrs. Leo Hunter und bedachte den schlummernden Löwen der „Eatanswill-Gazette“ mit einem zweiten Fächerschlag.

„Graf, Graf“, rief sie im selben Atem einem stark bebarteten Individuum in fremdländischer Uniform zu, das eben vorüberging.

„Ah! Sie wünschen mirr zu sprech?“ sagte der Graf und trat näher.

„Ich möchte zwei sehr geistvolle Herren miteinander bekannt machen“, erwiderte Mrs. Leo Hunter. „Mr. Pickwick, ich mache mir ein großes Vergnügen daraus, Sie dem Grafen Smorltork vorzustellen.“ – Schnell flüsterte sie Mr. Pickwick die Worte zu: „Berühmter Fremder, sammelt Materia! für sein großes Werk über England. Hem! Graf Smorltork – Mr. Pickwick.“

Mr. Pickwick verneigte sich mit der gebührenden Hochachtung. Der Graf zog sein Notizbuch heraus.

„Wie sagen Sie, Mrs. Hunt?“ fragte er mit graziösem Lächeln. „Pig wig oder Big wig? Ah, versteh. Wig ist Perücke in englisch. Große Perücke! Richter. Ah! Ich seh, das ist’s, Big wig.“

Der Graf wollte eben Mr. Pickwick als Rechtsgelehrten in sein Notizbuch eintragen, als ihn Mrs. Leo Hunter mit der Erklärung unterbrach: „Nein, nein, Graf. Pickwick.“

„Ah, ah, ich versteh. Pieg Taufname, Wix Familienname. Schön, serr schön. Pieg Wix. Wie befind Sie sich, Mr. Wix?“

„Sehr gut, ich danke Ihnen“, antwortete Mr. Pickwick mit seiner ganzen Leutseligkeit. „Sind Sie schon lange in England?“

„Lange – serr lange Zeit – vierzehn Tage – merr noch.“

„Werden Sie lange bleiben?“

„Ein Woch.“

„Da werden Sie genug zu tun haben“, meinte Mr. Pickwick lächelnd, „in dieser Zeit alles nötige Material zu sammeln.“

„Ist schon gesammelt“, erwiderte der Graf.

„Wirklich?“

„Hier ist“, erläuterte der Graf und deutete sich mit der Hand auf die Stirn. „Großer Buch su Hause – voll Notiz – Musik, Malerei, Wissenschaft, Politik. Alles.“

„Das Wörtchen Politik, Sir“, bemerkte Mr. Pickwick, „bedeutet allein schon ein schwieriges Studium von unberechenbarem Umfang.“

„Ah“, sagte der Graf und zog sein Notizbuch wieder hervor, „serr gut; schöne Wort, ein Kapitel damit zu beginn. Siebenundvierzigstes Kapitel. Poltjik. Das Wort Poltjik bedeutet allein – – –“ und Mr. Pickwicks Bemerkung wanderte in Graf Smorltorks Notizbuch, mit allen Variationen und Zusätzen, wie sie dem Herrn seine üppige Phantasie oder seine unvollkommene Kenntnis der Sprache eingaben.

„Graf!“ rief Mrs. Leo Hunter.

„Mrs. Hunt?“

„Hier Mr. Snodgraß, Mr. Pickwicks Freund, ein großer Dichter.“

„Halt“, rief der Graf und holte sein Notizbuch abermals hervor. „Gegenstand: Djichtkunst – Kapjitel, literarische Freunde – Name: Snowgraß; serr schön. Snowgraß vorgegestellt – großer Djichter, Freund Pieg Wixis – von Mrs. Hunt, Verfasserjin eines schönen Gedjichtes – wie heißt doch? – Floß? Sterbende Floß – serr schön – wirklich serr schön.“

Befriedigt steckte der Graf sein Notizbuch ein und entfernte sich unter endlosen Bücklingen, höchlichst vergnügt, seine Sammlung mit so wichtigen Dingen bereichert zu haben.

„Ein bewunderungswürdiger Mann, der Graf Smorl-tork!“ bemerkte Mrs. Leo Hunter.

„Ein tiefer Philosoph“, bestätigte Pott.

„Ein heller Kopf, ein bedeutender Geist“, fügte Mr. Snodgraß hinzu.

Die Umstehenden stimmten in die Lobeshymne auf den Grafen Smorltork ein, nickten weise und riefen einmütig: „In der Tat.“

Die Begeisterung ließ erst nach, als sich das Dingsbums-Sängerquartett in malerischer Pose vor einem kleinen Apfelbaum gruppierte und seine Nationallieder abzusingen begann – ein Unternehmen, das sich in Anbetracht des Umstandes, daß immer drei der Sänger grunzten, während der vierte dazwischenheulte, ohne Schwierigkeit abwickelte. Nachdem diese interessante Nummer mit dem lauten Beifall der Gästeschar beschlossen worden, produzierte sich sofort ein Junge damit, daß er durch die Beine eines Stuhls schlüpfte, über ihn weghüpfte, unter ihm durchkroch, mit ihm niederfiel und überhaupt alles anfing, nur das nicht, wozu ein Stuhl bestimmt ist, sodann eine Krawatte aus seinen Beinen machte, sie um seinen Hals herumschlang und damit den praktischen Beweis erbrachte, wie leicht es einem menschlichen „Wesen ist, sich einer Riesenkröte gleichzumachen – lauter Künste, die die versammelten Zuschauer höchlichst ergötzten und befriedigten.

Hierauf ließ sich Mrs. Pott mit einem schwachen Gezirp vernehmen, das übrigens durchaus klassisch war und ihrem Kostüm vollkommen entsprach, da Apoll bekanntlich selbst Komponist war und Komponisten erfahrungsgemäß weder ihre eignen noch fremde Musikstücke singen können. Sodann deklamierte Mrs. Leo Hunter ihre weltberühmte „Ode an den sterbenden Frosch“, trug sie ein zweites Mal vor und würde sie wahrscheinlich noch zweimal wiederholt haben, wenn nicht der größte Teil der Gäste, der bereits Magenknurren verspürte, auf das entschiedenste erklärt hätte, es würde höchst schamlos sein, die Güte der Hausfrau so zu mißbrauchen. Aus demselben Grunde wollten auch die besorgten und bescheidenen Freunde Madames, trotz ihrer Bereitwilligkeit, die Ode noch einmal vorzutragen, von keinem Dakapo mehr hören, und als der Speisesaal geöffnet wurde, drängte sich alles mit größter Eilfertigkeit hinein, da bekanntermaßen bei Hunters die Gewohnheit herrschte, auf hundert Einladungskarten immer nur fünfzig Kuverts aufzulegen, oder, mit andern „Worten, nur die eigentlichen Löwen zu füttern und das kleinere Geschmeiß sich selbst zu überlassen.

„Wo ist denn Mr. Pott?“ fragte Mrs. Leo Hunter, die eben damit beschäftigt war, die besagten Löwen um sich am Tisch zu versammeln.

„Hier bin ich“, rief der Herausgeber, in der entferntesten Ecke des Zimmers von aller Hoffnung auf Speise und Trank abgeschnitten, sofern die Hausfrau nicht für ihn sorgte.

„Wollen Sie nicht auch zu uns kommen?“

„Ach, bitte, lassen Sie ihn nur“, wehrte Mrs. Pott mit verbindlichem Tone, „Sie geben sich wirklich zuviel Mühe, Mrs. Hunter. Du bist doch dort ganz gut aufgehoben, nicht wahr, mein Lieber?“

„O gewiß, mein Schatz“, erwiderte der unglückliche Pott mit herbem Lächeln. Der nervige Arm, der die Knute mit Riesenkraft in der Öffentlichkeit schwang, erlahmte bei Mrs. Potts gebieterischem Blick.

Triumphierend blickte Mrs. Leo Hunter umher. Graf Smorltork war eifrig damit beschäftigt, den Inhalt der Schüsseln zu notieren, Mr. Tupman präsentierte einigen Löwinnen den Hummersalat mit einer Grazie, wie sie nie zuvor ein Bandit an den Tag gelegt, Mr. Snodgraß hatte den jungen Herrn ausgesehen, der die Abschlachtung der Autoren für die „Eatanswill-Gazette“ besorgte, und war in einem feurigen Gespräch mit der jungen Dame begriffen, die die Poesie vertrat, und Mr. Pickwick machte sich überall angenehm.

Nichts schien zu mangeln, um den auserlesnen Zirkel vollständig zu machen, als Mr. Leo Hunter, dem es bei solchen Gelegenheiten oblag, an den Eingangstüren zu stehen und minder wichtige Personen in Gespräche zu verwickeln, plötzlich ausrief:

„Meine Liebe, soeben kommt Mr. Charles Fitz-Marshall.“

„Oh, wie sehnsüchtig habe ich ihn erwartet“, entgegnete Mrs. Leo Hunter. „Darf ich bitten, Platz zu machen und Mr. Fitz-Marshall durchzulassen? Sag doch Mr. Fitz-Marshall, mein Lieber, er möge sogleich zu mir kommen, um sich wegen seines späten Erscheinens ausschelten zu lassen.“

„Komme schon, teuerste Madame“, rief eine Stimme, „so schnell ich kann – schreckliche Menge Leute – Saal ganz voll – schwieriges Stück Arbeit – sehr schwierig.“

Mr. Pickwick fiel Messer und Gabel aus der Hand, und er starrte über die Tafel Mr. Tupman an, dem es ebenso ging und der aussah, als wolle er ohne weiteres in den Boden sinken.

„Ah!“ rief Mr. Fitz-Marshall und brach sich Bahn durch die letzten fünfundzwanzig Türken, Offiziere, Ritter und die verschiedenen Exemplare Karls des Zweiten, die ihn noch von der Tafel trennten. „Die reinste Plättmangel – nicht eine Falte mehr an meinem Rock nach so einer Drückerei – hätte meine Wäsche ungebügelt anziehen können. – Haha! Kein übler Gedanke, sie auf dem Körper mangeln zu lassen. – Anstrengende Sache das – sehr anstrengend.“

Und gleich darauf präsentierte sich ein junger Mann in der Uniform eines Marineoffiziers und mit der Gestalt und den Gesichtszügen Mr. Alfred Jingles den Blicken der erstaunten Pickwidder; aber kaum hatte er Zeit, die dargebotne Hand Mrs. Leo Hunters zu ergreifen, da begegneten seine Blicke den zornfunkelnden Augen Mr. Pickwicks.

„Hallo!“ rief er sofort. „Ganz vergessen – Postillion noch keine Befehle – sogleich geben – in einer Minute wieder hier.“

„Der Bediente oder Mr. Hunter wird es im Augenblick besorgen, Mr. Fitz-Marshall“, sagte Mrs. Leo Hunter.

„Nein, nein. – Selber besorgen – dauert nicht lange – sofort wieder da“, erwiderte Jingle und verschwand in der Menge.

„Möchten Sie mir die Frage erlauben, Ma’am“, sagte Mr. Pickwick und erhob sich aufgeregt von seinem Sitze, „wer der junge Mann ist und wo er sich aufhält?“

„Es ist ein sehr vermögender Gentleman, Mr. Pickwick“, antwortete Mrs. Leo Hunter, „und ich brenne darauf, ihn Ihnen vorzustellen. Auch der Graf wird entzückt sein.“

„Ja, ja“, erwiderte Mr. Pickwick hastig. „Aber sein Aufenthalt …“

„Er wohnt gegenwärtig im ,Engel‘ in Bury.“

„In Bury?“

„In Bury St. Edmunds, wenige Meilen von hier. Aber ich bitte Sie, Mr. Pickwick, Sie werden uns doch nicht schon verlassen wollen? Oh, Sie dürfen nicht daran denken, jetzt, so früh!“

Doch schon hatte sich Mr. Pickwick ins Gedränge gestürzt. Er erreichte den Garten und traf dort Mr. Tupman, der ihm auf den Fersen gefolgt war.

„Es ist umsonst“, sagte Mr. Tupman. „Er ist fort.“

„Ich weiß“, erwiderte Mr. Pickwick. „Aber ich werde ihm folgen.“

„Ihm folgen? Wohin?“

„Nach Bury in den ,Engel‘. Wissen wir, wen er dort wieder betrügt? Einmal hat er schon einen Gentleman beschwindelt, und wir waren die unschuldige Ursache. Er soll es nicht wieder tun, wenn ich es verhindern kann. Ich werde ihn entlarven. Sam! Wo ist mein Bedienter?“

„Hiä, Sir!“ rief Mr. Weller und kam aus einem versteckten Winkel hervor, wo er eben damit beschäftigt gewesen, eine Madeiraflasche zu untersuchen, die er eine oder zwei Stunden vorher vom Frühstückstisch entlehnt hatte. „Hiä is Ihr Bedienter, Sir, stolz auf meinen Titel, wie das lebende Skelett sagte, als man ihm für Geld sehen ließ.“

„Folge mir augenblicklich“, befahl Mr. Pickwick. „Tupman, wenn ich in Bury bin, können Sie midi dort treffen, sobald ich Ihnen schreibe. Bis dahin adieu.“

Alle Vorstellungen waren nutzlos. Mr. Pickwick blieb unerschütterlich. Mr. Tupman kehrte zur Gesellschaft zurück und hatte in einer Stunde Mr. Alfred Jingle oder Charles Fitz-Marshall im Rausche der Quadrillen und des Champagners bereits vollständig vergessen.

Mr. Pickwick und Sam Weller saßen inzwischen auf dem Dach einer Postkutsche und verringerten von Minute zu Minute die Entfernung zwischen sich und der guten alten Stadt Bury Saint Edmunds.

Siebzehntes Kapitel


Siebzehntes Kapitel

Enthält zu viele Abenteuer, um sie kurz angeben zu können.

Es gibt keinen Monat im ganzen Jahre, in dem die Natur einen herrlicheren Anblick bietet als im August. Wohl hat der Lenz seine Reize, und der Mai ist heiter und blütenreich, aber das liegt an dem Kontrast mit dem Winter, der diese Jahreszeit so lieblich erscheinen läßt. Der August hingegen ist auf sich selbst beschränkt. Er kommt, wenn wir bereits verwöhnt sind von klarem Himmel, grünen Wiesen und süß duftenden Blumen und die Erinnerung an Schnee und Eis und rauhe Winde fast ganz aus unserm Gedächtnis entschwunden ist. – Und doch, welch köstliche Zeit! Baumgärten und Getreidefelder sind belebt vom Gesang fröhlicher Arbeiter, die Bäume beugen sich unter der Last reifer Früchte, und das gelbe Korn, die Landschaft vergoldend, läßt seine Ähren unter dem leisesten Lüftchen wogen und ruft nach der Sichel. Ein Geist des Friedens ist ausgegossen über der Erde, und geräuschlos schwankt der schwere Erntewagen über das Feld.

Schnell rollt die Postkutsche durch die Baumgärten dahin die Straße entlang, und die Weiber und Kinder, die die Frucht in Garben binden oder die zerstreuten Ähren sammeln, bleiben gruppenweise stehen und feiern für einen Augenblick. Der Schnitter hält in seiner Arbeit inne und sieht mit verschränkten Armen dem Gefährt nach, und die derben Ackergäule werfen einen schläfrigen Blick auf die schmucken Kutschenrosse, der so deutlich, wie es ein Pferdeblick vermag, sagt: Das ist alles recht schön anzusehen, aber langsam über ein Ackerfeld hinzugehen, ist im Grunde doch besser als eine heiße Arbeit wie diese auf der staubigen Straße. Dann nehmen die Weiber und Kinder ihre Arbeit wieder auf, der Schnitter bückt sich mit seiner Sichel, und die Gäule ziehen langsam an.

Natürlich verfehlte eine Szene wie diese nicht ihre Wirkung auf das empfängliche Gemüt Mr. Pickwicks. Mit seinem Entschlüsse beschäftigt, den schurkischen Jingle zu entlarven, saß er anfangs stumm und in Gedanken verloren da; aber nach und nach lenkte sich seine Aufmerksamkeit mehr und mehr auf die Umgebung, und schließlich gewährte ihm der Ausflug so viel Genuß, als hätte er ihn nur zum Vergnügen unternommen. „Ein entzückender Anblick, Sam“, bemerkte er.

„Is den Schornsteinen in London bedeutend über“, versetzte Mr. Weller und lüftete den Hut.

„Du hast wohl auch in deinem Leben nicht viel anderes gesehen als Schornsteine, Steinbauten und Mörtel?“ fragte Mr. Pickwick lächelnd. „Bin nich immer Hausknecht gewesen, Sir“, entgegnete Mr. Weller mit Kopfschütteln. „War früher Fuhrmannsjunge. Zuerst war ich bei ’nem Kärrner, dann bei ’nem Fuhrmann, dann hab ich’s zum Aushelfer gebracht und dann zum Hausknecht. Und jetzt bin ich Bedienter bei ’nem Schenlmän. Nächstens werd ich vielleicht selbst ’n Schenlmän, mit ’ne Feife im Mund und ’nem Sommerhaus mit Hintergarten. Kann man nie wissen.“

„Du bist ja ein Philosoph, Sam“, bemerkte Mr. Pickwick.

„Erbstück, Sir“, versetzte Mr. Weller. „Mein Vater ist sehr stark in dieser Richtung. Wenn meine Stiefmutter keift, feift er. Und wenn sie vor Wut seine Feife zerbricht und Krämpfe kriegt, geht er langsam raus, holt sich ’ne andre und raucht ganz gemütlich, bis sie wieder zu sich kommt. Ich dächte, das is die wahre Philosophie, Sir.“

„Auf alle Fälle ein gutes Ersatzmittel dafür“, gab Mr. Pickwick lachend zu. „Es muß dir im Laufe deines Lebens oft gut zustatten gekommen sein, Sam?“

„Will ich meinen, Sir! Bevor ich zum Fuhrmann kam, wohnte ich in ’nem Logis ohne Möbel. Da kam sie mir gut zustatten.“

„Ohne Möbel?“ fragte Mr. Pickwick.

„Ja – die drei Bögen der Waterloobrücke. Hübsche Schlafstätte, nur die Lage bißchen zu luftig. Habe dort seltsame Dinge zu sehen gekriegt.“

„Das glaube ich“, versetzte Mr. Pickwick mit einer Miene, die großes Interesse verriet.

„Dinge, Sir“, fuhr Mr. Weller fort, „wo Ihr menschenfreundliches Herz durchdrungen hätten, daß se auf der andern Seite wieder rausgekommen wären. Nicht etwa ausgelernte Vagabunden wohnten dort; die wissen sich was Besseres als das. Junge Bettler und Bettlerinnen, wo noch in die Lehre gehen. Oder arme Deibel, die den Zweipfennigstrick nich erwischen konnten.“

„Zweipfennigstrick? Was ist das?“ fragte Mr. Pickwick wißbegierig.

„Zweipfennigstrick, Sir? ’ne wohlfeile Herberge, wo das Bett zwei Pence kostet.“

„Warum nennt man denn ein Bett einen Strick?“ fragte Mr. Pickwick.

„Gott segne Ihre Unschuld, Sir“, erwiderte Sam. „Als das Hotel eröffnet wurde, betteten sie zuerst auf dem Boden auf, aber das zahlte sich nich aus. Anstatt bescheiden ihre zwei Pence abzuschlagen, blieben die Gäste den halben Tag liegen. Jetzt haben sie zwei Stricke dort mit Hängematten aus Sackleinwand darauf, und wenn’s sechs Uhr läutet, binden se die Enden auf, und da fallen se dann haufenweis runter und sind bestimmt wach. – Übrigens, ist das Bury St. Edmunds?“

„Ja, ich glaube“, erwiderte Mr. Pickwick. Die Postkutsche rasselte über die wohlgepflasterten Straßen eines hübschen Städtchens von wohlhabendem und reinlichem Aussehen und hielt vor einem großen Gasthof in einer breiten, offenen Straße, beinahe gerade der alten Abtei gegenüber.

„Und dies“, sagte Mr. Pickwick und blickte auf, „ist der ,Engel‘. Wir müssen höchst vorsichtig sein, Sam. Bestelle ein Zimmer für mich, nenne aber meinen Namen nicht. Du verstehst?“

Mr. Weller blinzelte pfiffig, tat, wie ihm geheißen, besorgte die Mantelsäcke und geleitete gleich darauf Mr. Pickwick in sein Zimmer.

„Das erste, was wir jetzt zu tun haben, Sam“, sagte Mr. Pickwick, „ist …“

„Das Essen bestellen, Sir“, unterbrach ihn Mr. Weller. „Es ist schon sehr spät.“

„Hm, allerdings“, sagte Mr. Pickwick und sah auf seine Uhr.

„Und wenn ich Ihnen raten darf, Sir, so würde ich mich an Ihrer Stelle nach dem Essen zu Bett begeben und erst morgen, ausgeschlafen, ans Werk gehen, ’s is nichts so erquickend wie ’n ordentlicher Schlaf, Sir, wie das Schenkmädchen sagte, ehe sie das Glas Opium austrank.“ „Da magst du recht haben, Sam“, versetzte Mr. Pickwick. „Aber erst muß ich mich überzeugen, ob der Schurke im Hause ist und sich nicht etwa heute noch aus dem Staube macht.“

„Das lassen Sie nur meine Sorge sein, Sir“, sagte Sam. „Ich bestelle unten ’n hübsches kleines Abendessen für Ihnen und werde dabei meine Nachforschungen anstellen. Ich will nich Sam Weller heißen, wenn ich nich in fünf Minuten alles aus dem Hausknecht rausgepumpt habe, was drin is.“

„Also gut, tue das“, sagte Mr. Pickwick, und Mr. Weller entfernte sich.

Nach Verlauf einer halben Stunde saß Mr. Pickwick bereits vor einem sehr ausgiebigen Mahl, und nach weiteren fünfzehn Minuten erschien Mr. Weller mit der Nachricht, Mr. Charles Fitz-Marshall habe angeordnet, man solle ihm sein Zimmer bis auf weiteres reservieren. Er sei nur ausgegangen, um den Abend in einem benachbarten Privathause zuzubringen, habe dem Hausknecht befohlen, bis zu seiner Rückkunft aufzubleiben, und sei dann mit seinem Diener weggegangen.

„Ich werde mir morgen früh den Bedienten ausborgen und schon rauskriegen, was sein Herr vorhat“, schloß Mr. Weller seinen Bericht. „Wie wollen Sie das vorher wissen?“ warf Mr. Pickwick ein.

„Du meine Güte! Aber das tun Diener doch immer, Sir“, antwortete Mr. Weller.

„Ach so, ja, daran dachte ich nicht“, sagte Mr. Pickwick, „na schön.“

„Sie können dann festlegen, was am besten zu machen is, Sir, und demzufolge geht’s dann los.“

Da dies offenbar die beste Lösung war, die sich finden ließ, wurde sie gewählt. Mr. Weller zog sich mit der Erlaubnis Mr. Pickwicks zurück, um den Abend nach Gutdünken zu verbringen; bald darauf wurde er von den Besuchern des Schankstübchens einstimmig zum Vorsitzenden gewählt. In dieser Eigenschaft machte er sich so gut und erntete so viel Zufriedenheit bei den versammelten Gentlemen, daß die Beifallsrufe und das dröhnende Gelächter bis in Mr. Pickwicks Schlafzimmer drangen und seine Nachtruhe gut und gerne um drei Stunden verkürzten.

Zeitig am folgenden Morgen vertrieb sich Mr. Weller eben die Nachwehen des verfloßnen Abends durch ein Halbpennysturzbad, das heißt, er ließ sich von einem Gentleman, der im Stalldepartement angestellt war, Wasser über Kopf und Nacken pumpen, da wurde er einen jungen Mann in maulbeerfarbener Livree gewahr, der auf einer Bank im Hofe mit einer Miene tiefen Nachsinnens in einem Gebetbuch las, aber doch von Zeit zu Zeit einen verstohlenen Blick auf die Vorgänge bei der Pumpe warf, als ob sie sein Interesse sehr in Anspruch nähmen.

Scheinst mir ein seltsamer Bursche zu sein, deinem Aussehen nach, dachte Mr. Weller, als seine Augen zum erstenmal den Blicken des Fremden in der maulbeerfarbenen Livree begegneten, der ein breites, schmutziges, häßliches Gesicht, tiefliegende Augen und einen riesigen Kopf hatte, von dem ein Wust schlichten schwarzen Haares herabhing. Ein seltsamer Bursche, sagte sich Mr. Weller und setzte sein Bad fort, ohne sich weiter Gedanken zu machen.

Da aber der Mensch immer wieder von seinem Gebetbuch aufsah und nach ihm schielte, als ob er eine Unterhaltung anzuknüpfen wünschte, nickte er ihm schließlich, um ihm Gelegenheit dazu zu geben, vertraulich zu und sagte:

„Wie geht’s, Gouverneur?“

„Gottlob, gut, ziemlich gut, Sir“, antwortete der Mensch mit bedächtiger Langsamkeit und klappte das Buch zu. „Ich hoffe, Ihnen ebenfalls?“ „Na, wenn ich mir weniger als wandelnde Branntweinflasche fühlen würde, dann wäre ich diesen Morgen nich so flaumenweich“, antwortete Sam. „Loschieren Sie hier im Hause?“

Der Maulbeerfarbene bejahte.

„Warum haben Sie denn gestern nacht nicht mitgehalten?“ fragte Sam und trocknete sich das Gesicht mit dem Handtuch ab. Scheinst mir einer von der fidelen Sorte zu sein. Siehst so gesellig aus wie ’ne lebende Forelle in ’ner Reuse, setzte er innerlich hinzu.

„Ich war gestern abend mit meinem Herrn aus“, erwiderte der Fremde.

„Wie heißt er?“ fragte Mr. Weller, von einer plötzlichen Ahnung ergriffen.

„Fitz-Marshall“, antwortete der Maulbeerfarbene.

„Geben Sie mir die Hand“, sagte Mr. Weller und trat näher. „Sie gefallen mir, alter Bursche.“

„Nun, das ist höchst seltsam“, bemerkte der Maulbeerfarbene schlicht, „auch Sie haben mir gleich so gefallen, daß ich Sie vom ersten Augenblick an, wo ich Sie unter der Pumpe sah, am liebsten angesprochen hätte.“

„Wahrhaftig?“

„Auf mein Wort. Ist das nicht kurios?“

„Sehr sonderbar“, bestätigte Sam und beglückwünschte sich innerlich zu der Zutraulichkeit des Fremden. „Wie heißen sie eigentlich, würdiger Vater?“

„Hiob.“

„Hm, ein sehr guter Name das; der einzige meines Wissens, wo sie noch keinen Spitznamen draus gemacht haben. Und weiter?“

„Trotter“, antwortete der Fremde. „Und Sie?“

Sam gedachte der Mahnung seines Herrn und sagte:

„Mein Name ist Walker, und mein Herr heißt Wilkins. Wollen Sie nich ’n Tropfen mit mir hinter die Binde gießen, Mr. Trotter?“

Mr. Trotter ging auf diesen annehmbaren Vorschlag ein, steckte sein Buch in die Rocktasche und begleitete Mr. Weller in die Trinkstube, wo sie sich alsbald der Untersuchung einer herzstärkenden Mischung aus Wacholderbranntwein und Nelkenessenz widmeten.

„Und was für „n Posten haben Sie?“ fragte Sam, als er das Glas seines Gefährten zum zweiten Male füllte.

„’n schlechten“, antwortete Hiob, mit den Lippen schmatzend, „’n sehr schlechten.“

„Das ist doch nich Ihr Ernst?“ fragte Sam.

„Mein vollkommener Ernst. Und was noch schlimmer ist, mein Herr will heiraten.“

„Was Sie nich sagen!“

„Ja, leider. Und noch schlimmer als das, er will eine unermeßlich reiche Erbin aus einem Pensionat entführen.“

„’n nettes Scheusal, das“, äußerte Sam, seines Gefährten Glas wieder füllend. „Aus ’nem Pensionat hier in der Stadt wohl, was?“

Obgleich die Frage scheinbar in ganz unbefangnem Ton hingeworfen wurde, gab doch Mr. Hiob Trotter durch Gebärden deutlich zu erkennen, daß er die Absicht seines neuen Freundes durchschaute. Er leerte sein Glas, machte ein geheimnisvolles Gesicht, blinzelte mit seinen beiden Äuglein – zuerst mit dem rechten, dann mit dem linken – und machte schließlich eine Bewegung mit dem Arme, als ob er an einem Brunnenschwengel zöge, um dadurch anzuzeigen, daß er gar wohl wisse, Mr. Weller gedenke ihn auszupumpen.

„Nein, nein“, sagte er endlich. „Das darf ich nicht sagen; das ist ein Geheimnis, ein großes Geheimnis, Mr. Walker.“

Er stürzte dabei sein Glas um, um seinem Gefährten anzudeuten, daß nichts mehr darin sei. Sam verstand den zarten Wink und ließ, zur großen Freude des Maulbeerfarbenen, das zinnerne Gefäß nochmals füllen.

„So, so, ist’s wirklich ein Geheimnis?“ fragte er dann.

„Ich möchte denken, ja“, erwiderte Mr. Hiob Trotter und schlürfte seinen Trank mit Wohlbehagen.

„Ihr Herr ist wohl sehr reich?“

Mr. Trotter lächelte und schlug sich ausdrucksvoll viermal auf die Hosen, wie um damit anzudeuten, daß sein Herr das auch tun könnte, ohne jemand durch Geldklimpern in Unruhe zu versetzen.

„Hm“, sagte Sam, „so stehen die Sachen!“

Der Maulbeerfarbene nickte bejahend.

„Na, und daß Sie Ihren Herrn so mir nichts, dir nichts die junge Dame entführen lassen“, fing Mr. Weller wieder an, „macht Ihnen weiter keine Gewissensbisse nich, was, alter Prophet?“

„Ach, und wie“, seufzte Hiob Trotter mit einem Blick voll Seelenqual. „Ach, und wie! Es nagt wie ein Wurm an meinem Herzen. Aber was soll ich tun?“

„Tun?“ fragte Sam. „Die Sache der Vorsteherin melden und Ihren Posten aufgeben.“

„Sie würde mir nicht glauben“, erwiderte Hiob Trotter. „Die junge Dame gilt für die Unschuld und Besonnenheit selbst. Sie würde es leugnen und mein Herr auch. Wer würde mir glauben? Ich würde meinen Posten verlieren und noch wegen Verleumdung verklagt werden; das ist alles, was dabei herauskäme.“

„’s is freilich nich ohne“, gab Sam nachdenklich zu.

„Ja, wenn ich einen angesehenen Herrn wüßte, der die Sache auf sich nähme“, fuhr Mr. Trotter fort, „dann hätte ich wohl Hoffnung, die Entführung zu verhindern. Aber das ist’s ja gerade, Mr. Walker, das ist’s ja gerade. Ich kenne hier niemand, und dann, wenn ich es auch jemand sagte, wer würde mir denn die Geschichte glauben?“

„Kommen Sie mal mit“, sagte Sam, sprang plötzlich auf und faßte den Maulbeerfarbenen am Arm. „Mein Herr ist der Mann, den Sie suchen.“ Hiob Trotter sträubte sich nur schwach. Sam führte ihn in Mr. Pickwicks Zimmer, stellte ihn seinem Herrn vor und wiederholte kurz das Zwiegespräch, das sie soeben gehabt hatten.

„Es tut mir sehr weh, meinen Herrn verraten zu sollen“, sagte Hiob Trotter und drückte ein rotgewürfeltes Taschentuch von ungefähr drei Quadratzoll vor die Augen.

„Dieses Gefühl macht Ihnen nur Ehre“, versetzte Mr. Pickwick. „Aber nichtsdestoweniger, es ist Ihre Pflicht.“

„Ich weiß, es ist meine Pflicht, Sir“, erwiderte Hiob mit großer Rührung. „Wir alle sollen unsre Pflicht tun, Sir, und ich bin in Demut bemüht, die meinige zu erfüllen, Sir; aber es ist eine schwere Prüfung, seinen Herrn zu verraten, dessen Kleider man trägt und dessen Brot man ißt, selbst wenn er ein Schurke ist, Sir.“

„Sie sind ein guter Mensch“, bemerkte Mr. Pickwick ergriffen. „Ein sehr ehrenhafter Mensch.“

„Ach was“, fiel Sam ein, der Mr. Trotters Tränen voll Ungeduld mit angesehen hatte. „Geben Sie die Regnerei auf ; ’s hat doch keinen Sinn nich.“

„Sam!“ sagte Mr. Pickwick vorwurfsvoll. „Es tut mir sehr leid, daß du so wenig Achtung vor den Gefühlen dieses jungen Mannes an den Tag legst.“

„Gefühle sin recht gut und schön, Sir“, versetzte Mr. „Weller, „aber s‘ is schade, daß er sie so in Wasser umsetzen tut. Mit Tränen hat noch nie einer ’ne Uhr aufgezogen oder ’ne Dampfmaschine getrieben. Wenn Sie wieder mal in ’ne Tabakbude gehen, junger Mann, denn stopfen Sie sich die Pfeife mit diese Betrachtung. Stecken Sie sich lieber das bißchen rote Baumwolle in die Tasche, ’s ist gar nich schön, daß Sie so damit rumfuchteln tun wie ’n Seiltänzer.“

„Mein Bedienter hat nicht so unrecht“, wendete sich Mr. Pickwick zu Hiob, „wiewohl seine Art, sich auszudrücken, etwas unmanierlich und bisweilen unverständlich ist.“

„Er hat sehr recht, Sir“, seufzte Mr. Trotter, „ich will mich beherrschen.“

„Sehr wohl“, sagte Mr. Pickwick, „und wo ist das Institut?“

„Es ist ein großes altes Haus aus roten Ziegeln, gerade vor der Stadt“, erwiderte Hiob Trotter.

„Und wann soll der schändliche Plan ausgeführt werden, wann soll die Entführung stattfinden?“

„Heute abend, Sir.“

„Heute abend!“ rief Mr. Pickwick.

„Noch heute abend, Sir“, versicherte Hiob Trotter. „Das ist’s, was mich so sehr beunruhigt.“

„Es müssen augenblicklich Maßnahmen getroffen werden“, sagte Mr. Pickwick. „Ich werde sofort die Dame aufsuchen, die dem Pensionat vorsteht.“ „Bitte um Verzeihung, Sir“, wendete Hiob ein, „aber auf diese Art geht es nicht.“

„Warum nicht?“

„Mein Herr ist. äußerst gerieben.“

„Oh, das weiß ich“, sagte Mr. Pickwick.

„Und er hat die gute Dame so beschwatzt“, fuhr Hiob fort, „daß sie nichts zu seinem Nachteil glauben wird, und wenn Sie es auf den Knien beschwören; überdies haben Sie keinen andern Beweis als die Aussagen eines Bedienten, von dem man dann behaupten wird, er sei wegen irgendeines Vergehens fortgejagt worden und handle aus Rache.“

„Was wäre da also zu tun?“ fragte Mr. Pickwick.

„Nichts kann die alte Dame überzeugen, außer wenn wir ihn auf der Tat ertappen“, meinte Hiob.

„Alte Katzen wollen eben mit dem Kopf durch die Wand“, bemerkte Mr. Weller in Parenthese.

„Aber dieses Auf-der-Tat-Ertappen, fürchte ich, wird ziemlich schwer auszuführen sein“, wendete Mr. Pickwick ein.

„Ich weiß nicht, Sir“, entgegnete Mr. Trotter, nachdem er einige Minuten nachgedacht hatte. „Ich dächte, es müßte sehr leicht gehen.“

„Wie?“ fragte Mr. Pickwick.

„Nun, sehen Sie, mein Herr und ich sind mit den beiden Mägden im Einverständnis und werden uns um zehn Uhr in der Küche verstecken. Wenn sich die Familie zur Ruhe begeben hat, wird die junge Dame aus ihrem Schlafzimmer kommen. Eine Postkutsche wartet auf uns, und wir fahren ab.“

„Gut, und?“

„Nun, Sir, da habe ich mir gedacht, wenn Sie im Garten hinten warten würden, allein …“

„Allein?“ wiederholte Mr. Pickwick. „Und warum denn allein?“

„Ich dächte“, versetzte Hiob, „es könnte der alten Dame nicht erwünscht sein, wenn eine so peinliche Entdeckung von mehr Personen gemacht würde, als gerade unumgänglich nötig sind. Der jungen Dame ebensowenig, Sir. Bedenken Sie, Sir …“

„Sie haben vollkommen recht“, sagte Mr. Pickwick. „Diese Rücksicht ist wiederum ein Beweis von großem Zartgefühl. Fahren Sie fort. Sie haben vollkommen recht.“

„Nun, und da dachte ich, Sir, wenn Sie im rückwärtigen Garten allein warteten und ich Sie dann Punkt halb zwölf Uhr durch die Tür einließe, die aus dem Hausgang in den Garten führt, so würden Sie gerade im rechten Augenblick ankommen, um mir die Pläne dieses schlechten Menschen vereiteln zu helfen, in dessen Netz ich unglücklicherweise mit verstrickt bin.“ Mr. Trotter seufzte tief.

„Grämen Sie sich deswegen nicht“, tröstete ihn Mr. Pickwick. „Wenn er nur eine Spur von Ihrem Zartgefühl hätte, so untergeordnet Ihre Stellung auch sein mag, so würde ich selbst ihn noch nicht ganz verloren geben.“

Hiob Trotter verbeugte sich tief, und wieder traten Tränen in seine Augen.

„So ’nen Burschen hab ich mein Lebtag noch nicht gesehen“, brummte Sam. „Gott straf mich, ich glaube, er hat ’n Wasserschlauch im Kopf, den braucht er immer bloß zu drücken.“

„Sam!“ ermahnte. Mr. Pickwick mit großer Strenge. „Halte deinen Mund.“

„Sehr wohl, Sir.“

„Der Plan gefällt mir nicht besonders“, sagte Mr. Pickwick nach tiefem Nachdenken. „Warum kann ich mich eigentlich nicht mit den Verwandten der jungen Dame in Verbindung setzen?“

„Weil sie hundert Meilen von hier wohnen, Sir“, antwortete Hiob Trotter.

„Da is allerdings ’n Riegel vorgeschoben“, brummte Mr. Weller leise vor sich hin.

„Und dann dieser Garten!“ fing Mr. Pickwick wieder an. „Wie soll ich hineinkommen?“

„Die Mauer ist sehr niedrig, Sir, und Ihr Bedienter kann Sie hinaufheben.“

„Mein Bedienter kann mich hinaufheben“, wiederholte Mr. Pickwick mechanisch. „Sie sind also bestimmt an der Tür, von der Sie sprachen?“

„Sie können sie nicht verfehlen, Sir; es ist die einzige, die in den Garten führt. Klopfen Sie nur, wenn Sie die Stunde schlagen hören, und ich werde Ihnen augenblicklich öffnen.“

„Der Plan gefällt mir zwar nicht“, sagte Mr. Pickwick, „aber da ich keinen besseren weiß und das Lebensglück der jungen Dame auf dem Spiele steht, willige ich ein. Gut. Ich werde kommen.“

Zum zweiten Male verwickelte sich so Mr. Pickwick in seiner angeborenen Herzensgüte in ein Unternehmen, von dem er sich sonst ferngehalten haben würde.

„Und wie heißt das Haus?“

„Westgatehouse, Sir. Sie wenden sich ein wenig nach rechts, wenn Sie ans Ende der Stadt kommen; es liegt in geringer Entfernung von der Landstraße, und der Name steht auf einer Messingplatte am Tor.“

Mr. Trotter machte eine zweite Verbeugung und wollte sich entfernen, aber Mr. Pickwick hielt ihn zurück und drückte ihm eine Guinee in die Hand.

„Sie sind ein wackerer Bursche“, sagte er, „und ich bewundere Ihr gutes Herz. Nein, kein Wort des Dankes! Also, vergessen Sie die Stunde nicht! – Elf Uhr!“

„Seien Sie unbesorgt, Sir!“ beteuerte Hiob Trotter und verließ das Zimmer.

Sam folgte ihm.

„Hören Sie mal“, sagte er, „das Geflenne ist doch nicht so übel. Wenn das immer so wirkt, würde ich auch tropfen wie ’ne Dachrinne, wenn’s regnet. Wie machen Sie das eigentlich?“

„Es kommt aus dem Herzen, Mr. Walker“, erwiderte Hiob feierlich. „Guten Morgen, Sir.“

Du wärst mir so der Richtige! Na, macht nichts, jedenfalls haben wir alles aus dir rausgequetscht, dachte Mr. Weller, als sich Hiob entfernte. Die Gedanken, die Mr. Trotters Geist durchzogen, können wir nicht genau angeben, weil wir sie nicht kennen.

Der Tag neigte sich, der Abend kam, und kurz vor zehn Uhr berichtete Sam Weller, Mr. Jingle und Mr. Hiob seien miteinander ausgegangen, hätten ihre Sachen gepackt und eine Kutsche bestellt. Das Komplott sollte offenbar ausgeführt werden; genau, wie Mr. Trotter angegeben. Es schlug halb elf Uhr, und die Zeit rückte näher, wo sich Mr. Pickwick seiner heiklen Mission entledigen sollte. Sam brachte ihm den Überrock, aber er wies das Anerbieten zurück, um beim Überklettern der Mauer nicht behindert zu sein. Dann trat er in Begleitung seines Dieners den Weg an.

Es war Vollmond, aber Wolken, verhüllten ihn. Die Nacht war schön, doch ungewöhnlich finster. Wege, Hecken, Häuser und Bäume, alles lag in tiefe Schatten gehüllt. Die Luft war heiß und schwül, und am Horizont zitterte schwach sommerliches Wetterleuchten, der einzige Schein, der die dichte Finsternis durchbrach. Kein Laut störte die Stille; nur in weiter Ferne bellte ein wachsamer Haushund.

Mr. Pickwick und sein Diener fanden das Haus, lasen die Messingplatte, gingen um die“ Mauer herum und blieben an der Stelle, wo der Garten anstieß, stehen.

„Sam, du kehrst in den Gasthof zurück, wenn du mir hinübergeholfen hast“, befahl Mr. Pickwick.

„Sehr wohl, Sir.“

„Und bleibst auf, bis ich zurückkomme! So, und jetzt halte mir das Bein hin, damit ich daraufsteigen kann, und wenn ich sage ,über‘, so hebst du mich sacht in die Höhe.“

„Ganz recht, Sir.“

Mr. Pickwick faßte den oberen Mauerrand und gab das Signal „über“, dem Sam sozusagen buchstäblich gehorchte. Ob nun der Körper des unsterblichen Mannes an der Elastizität seines Geistes partizipierte, oder ob Mr. Weller vom Sachte-in-die-Höhe-Heben eine etwas gröbere Auffassung hatte als sein Herr, jedenfalls war die unmittelbare Folge seines Beistandes, daß Mr. Pickwick über die Mauer in das untenliegende Gartenbeet fiel und drei Stachelbeerbüsche und einen Rosenstock mitriß.

„Sie haben sich doch um alles in der Welt nicht verletzt, Sir?“ fragte Sam ziemlich laut, als er sich von der Bestürzung über das geheimnisvolle Verschwinden seines Herrn ein wenig erholt hatte.

Ich habe mich nicht verletzt, Sam, ich gewiß nicht“, antwortete Mr. Pickwick von der andern Seite der Mauer. „Ich dächte vielmehr, du hast mich verletzt.“

„Ich hoffe doch nicht, Sir“, sagte Sam.

„Mache dir weiter keine Sorgen deshalb“, versetzte Mr. Pickwick und stand auf. „Es sind nur ein paar Schrammen. Geh jetzt, man könnte uns sonst hören.“

„Guten Abend, Sir.“ „Guten Abend.“

Mit leisen Schritten entfernte sich Sam Weller und ließ Mr. Pickwick allein im Garten.

Dann und wann zeigten sich Lichter an den verschiednen Fenstern des Hauses oder schimmerten von den Treppen herüber, als die Bewohner sich zur Ruhe begaben. Mr. Pickwick wollte sich nicht vor der bestimmten Zeit an die Tür wagen und drückte sich daher einstweilen in eine Mauerecke.

Es war eine Lage, die so manchem den Mut genommen haben würde, jedoch Mr. Pickwick fühlte weder Niedergeschlagenheit noch Bangigkeit. Er wußte, daß sein Zweck in der Hauptsache ein guter war, und setzte uneingeschränktes Vertrauen in den hochherzigen Hiob. Seine Lage war zwar ermüdend, um nicht zu sagen trist, aber ein kontemplativer Geist kann sich immer mit Nachdenken beschäftigen. Mr. Pickwick meditierte sich in einen Halbschlummer hinein, aus dem er erst durch die Glockenschläge der benachbarten Kirche erweckt wurde; es schlug halb zwölf.

Die Zeit ist da, sagte er sich, schlich leise näher und sah am Hause hinauf. Die Lichter waren verschwunden und die Läden verschlossen. – Alles im Bett, ohne Zweifel. – Er ging auf den Zehen zur Tür und klopfte leise. Zwei bis drei Minuten verflossen, ohne daß eine Antwort erfolgte. Er klopfte lauter und dann noch lauter.

Endlich hörte man Fußtritte auf der Treppe, und dann schien das Licht einer Kerze durch das Schlüsselloch. Ein langes, umständliches Aufschließen und Aufriegeln, und sachte ging die Tür auf. Sie öffnete sich nach außen, und je weiter sie aufgemacht wurde, desto mehr zog sich Mr. Pickwick hinter sie zurück. Wie groß war sein Erstaunen, als er bei vorsichtigem Hervorlugen die überraschende Entdeckung machte, daß es nicht Hiob Trotter war, der öffnete, sondern ein Dienstmädchen mit einem Licht in der Hand. Mit einer Geschwindigkeit, die einem Taschenspieler Ehre gemacht haben würde, zog er seinen Kopf zurück.

„Es muß die Katze gewesen sein, Sara“, sagte das Mädchen, sich an jemand im Hause wendend. „Ws, ws, ws – zi, zi, zi.“

Aber kein Tier erschien auf ihren Lockruf. Sachte schloß das Mädchen die Tür und schob den Riegel wieder vor.

Mr. Pickwick, fest an die Mauer gedrückt, wagte kaum zu atmen.

Höchst seltsam, dachte er. Sie sind vermutlich länger als gewöhnlich aufgeblieben. Äußerst schade, daß es gerade diese Nacht sein muß. Wirklich ärgerlich. Behutsam zog er sich wieder in den Winkel zurück, in dem er sich vorher versteckt hatte, und harrte des Augenblicks, wo es rätlich sein würde, das Signal zu wiederholen.

Er war noch nicht fünf Minuten dort, als ein greller Blitzstrahl, unmittelbar gefolgt von einem furchtbaren Donnerschlag, die Finsternis zerriß. Blitz folgte auf Blitz, Krachen auf Krachen, und nieder strömte ein Platzregen mit einer Wut, die alles mit sich fortriß.

Mr. Pickwick war sich sehr wohl bewußt, daß ein Baum eine sehr gefährliche Nachbarschaft bei einem Gewitter bedeutet. Er hatte einen Baum zu seiner Rechten, einen zu seiner Linken, einen dritten vor sich und einen vierten hinter sich. Zu bleiben war nicht ratsam und höchst gefährlich, und sich mitten im Garten zu zeigen, mußte seine Anwesenheit aller Wahrscheinlichkeit nach dem Nachtwächter verraten. Ein- oder zweimal versuchte er, die Mauer zu überklettern, aber da er diesmal keine andern Beine zur Verfügung hatte als die, mit denen ihn die Natur versehen, erreichte er durch seine Anstrengungen nur so viel, daß seine Knie und Schienbeine schmerzende Schrammen davontrugen und sein ganzer Körper in kurzer Zeit in reichlichen Schweiß gebadet war.

„Welch furchtbare Situation“, seufzte Mr. Pickwick, als er nach einer solchen vergeblichen Leibesübung sich wieder die Stirn abwischte. Er sah an dem Hause hinauf. Alles war finster. Sie mußten jetzt zu Bett gegangen sein. Er wollte das Signal wiederholen.

Auf den Zehen schlich er über den nassen Sand und klopfte an die Tür. Gespannt hielt er den Atem an und lauschte am Schlüsselloch. Keine Antwort. Sehr seltsam. Er pochte noch einmal und lauschte wieder. Ein leises Geflüster wurde im Hause hörbar, dann rief eine Stimme:

„Wer ist da?“

Das ist wieder nicht Hiob, sagte sich Mr. Pickwick und drückte sich schnell an die Wand. Es ist eine Frauenstimme.

Er hatte kaum Zeit gehabt, diesen Schluß zu ziehen, als ein Fenster über der Treppe aufgerissen wurde und drei oder vier weibliche Kehlen die Frage wiederholten: „Wer ist da?“

Mr. Pickwick rührte sich nicht. Er begriff sofort, daß er das ganze Haus alarmiert hatte, und faßte den Entschluß, zu bleiben, wo er war, bis wieder Ruhe eingetreten sein würde, um dann eine übernatürliche Anstrengung zu machen und über die Mauer zu gelangen oder bei dem Versuch umzukommen.

Gleich allen Entschlüssen Mr. Pickwicks war auch das der beste, den er unter solchen Umständen fassen konnte; nur war er unglücklicherweise auf die Voraussetzung gegründet, man würde es nicht wagen, die Tür zu öffnen. Wie groß war daher seine Bestürzung, als er Schloß und Riegel klirren hörte und den Torflügel sich immer weiter und weiter öffnen sah.

Schritt für Schritt zog er sich in die Ecke zurück, aber sosehr er sich auch zusammenquetschte, er konnte nicht verhindern, daß sein Embonpoint dem weiteren Vordringen der Tür ein Ziel setzte.

„Wer ist da?“ kreischte von der Treppe herunter ein zahlreicher Chor von weiblichen Stimmen, die der jungfräulichen Vorsteherin, den Lehrerinnen, fünf Dienstboten und dreißig Pensionärinnen angehörten, alle nur halb angekleidet und unter einem Dickicht von Haarwickeln. Natürlich sagte Mr. Pickwick nicht, wer da war, und so ging die Weise des Chores über in ein: „Ach, wie bin ich erschrocken!“

„Köchin“, rief die Dame des Hauses, die die Vorsichtsmaßregel beobachtet hatte, sich oben auf der Treppe hinter der ganzen Gruppe zu verschanzen, „Köchin, warum geht Sie nicht ein paar Schritte in den Garten hinaus?“

„Ach bitt schön, Madame, ich möcht nich“, antwortete die Köchin.

„Ach Gott, das dumme Ding!“ riefen die dreißig Pensionärinnen.

„Köchin“, rief die Institutsvorsteherin mit großer Würde, „antworte Sie mir nicht immer, wenn ich etwas befehle. Ich bestehe darauf, daß Sie sogleich im Garten nachsieht.“

Die Köchin fing augenblicklich zu weinen an, und das Stubenmädchen sagte, „es wäre eine Schande“ – eine Widersetzlichkeit, die ihr eine sofortige Kündigung zuzog.

„Hört Sie, Köchin?!“ rief die Dame des Hauses abermals und stampfte ungeduldig mit dem Fuß.

„Hört Sie denn nicht, Köchin?“ echoten die drei Lehrerinnen.

„Ein unverschämtes Ding, die Köchin!“ riefen die dreißig Pensionärinnen.

So von allen Seiten gedrängt, tat die unglückliche Köchin einen Schritt vorwärts, hielt dabei ihr Licht so, daß sie überhaupt nichts sehen konnte, und erklärte, es sei nichts da und es müsse der Wind gewesen sein. Das Tor sollte eben wieder geschlossen werden, als eine wißbegierige Pensionärin, die zwischen den Angeln durchgespäht hatte, ein furchtbares Geschrei erhob.

„Was hat denn Miß Smithers?“ rief die Institutsvorsteherin‘, als die besagte junge Dame einen hysterischen Anfall bekam, der für vier ausgewachsene Jungfern ausgereicht hätte.

„Ach, der Mann, der Mann hinter der Tür“, kreischte Miß Smithers.

Die Institutsvorsteherin hörte kaum den Schreckensruf „Mann“, als sie in ihr Schlafgemach zurückeilte, die Tür hinter sich verriegelte und in eine tiefe Ohnmacht fiel. Die Pensionärinnen, die Lehrerinnen und die Mägde stürzten übereinander die Treppe hinauf, und des Schreiens, Inohnmachtfallens und Händeringens war kein Ende. Mitten in diesem schrecklichen Tumult tauchte Mr. Pickwick aus seinem Versteck auf.

„Meine Damen, meine wertgeschätzten Damen“, rief er, so laut er konnte.

„O Gott, er nennt uns Wertgeschätzte“, kreischte die älteste und häßlichste der Lehrerinnen. „Oh, der Elende.“

„Meine Damen“, schrie Mr. Pickwick, durch das Gefährliche seiner Lage förmlich in Verzweiflung versetzt, „hören Sie mich an, ich bin doch kein Räuber. Ich muß zur Dame des Hauses.“

„Ach, welch schreckliches Ungeheuer!“ rief eine andre Lehrerin. „Er will zu Miß Tomkins!“

Jammergeschrei durchgellte die Nacht.

„Zieht die Sturmglocke“, rieten ein Dutzend Stimmen.

„Bitte, nicht, bitte, nicht!“ schrie Mr. Pickwick. „Schauen Sie mich doch nur an. Sehe ich denn wie ein Räuber aus? Meine werten Damen, Sie können mir Hände und Füße binden oder mich in eine Kammer sperren, wenn Sie wollen, nur hören Sie, was ich zu sagen habe. Hören Sie nur!“

„Wie sind Sie in unsern Garten gekommen?“ stotterte das Stubenmädchen.

„Rufen Sie die Vorsteherin, und ich will ihr alles erzählen, alles, haarklein“, schrie Mr. Pickwick. „Beruhigen Sie sich, und rufen Sie sie, und Sie sollen alles erfahren.“

Vielleicht war es Mr. Pickwicks ganze Erscheinung oder sein Benehmen, vielleicht auch die Versuchung, der ein weibliches Herz nie widerstehen kann, ein Geheimnis zu hören; kurz, der vernünftigere Teil der Hausbewohnerinnen, nämlich ungefähr vier Personen, fing an, sich verhältnismäßig zu beruhigen. Sie machten den Vorschlag, Mr. Pickwick sollte sich zum Beweise seiner aufrichtigen Gesinnung in den Verschlag, in dem die Tagesschülerinnen ihre Hüte und Butterschnitten aufzubewahren pflegten, einsperren lassen, bis Miß Tomkins käme. Da Mr. Pickwick bereitwillig darauf einging und das Gefängnis hinter ihm abgeschlossen wurde, kehrte auch der Mut der andern zurück, und als Miß Tomkins wieder zu sich und heruntergebracht worden war, nahm die Konferenz ihren Anfang.

„Was hatten Sie in meinem Garten zu tun, Mann?“ fragte Miß Tomkins mit schwacher Stimme.

„Ich wollte Sie in Kenntnis setzen, daß eine von Ihren jungen Damen diesen Abend entführt werden sollte“, antwortete Mr. Pickwick aus dem Verschlag heraus.

„Entführt?“ riefen Miß Tomkins, die drei Lehrerinnen, die dreißig Pensionärinnen und die fünf Mägde wie aus einem Munde. „Von wem?“

„Von Ihrem Freund, Mr. Charles Fitz-Marshall.“

„Meinem Freund? Ich kenne ihn doch gar nicht.“

„Gut, von Mr. Jingle also.“

„Ich habe diesen Namen in meinem Leben nie gehört.“

„Dann bin ich hintergangen und an der Nase herumgeführt worden“, jammerte Mr. Pickwick. „Ich bin das Opfer einer Verschwörung geworden, einer gemeinen und niederträchtigen Verschwörung. Schicken Sie in den .Engel‘, Ma’am, wenn Sie mir nicht glauben. Schicken Sie in den .Engel‘ nach Mr. Pickwicks Bedienten, ich beschwöre Sie, Ma’am.“

„Er muß ein respektabler Mann sein, er hält einen Bedienten“, sagte Miß Tomkins zu der Schreib- und Rechenlehrerin.

„Ich fürchte, Miß Tomkins“, warnte die Schreib- und Rechenlehrerin, „sein Bedienter hält ihn. Er ist bestimmt wahnsinnig, Miß Tomkins, und seinem Wärter entsprungen.“

„Ich glaube, Sie haben recht, Miß Gwynn“, antwortete Miß Tomkins. „Schicken Sie zwei von den Mägden in den ,Engel‘, und die übrigen sollen hierbleiben, um uns zu beschützen.“

Es wurden also zwei von den Mägden nach Mr. Samuel Weller geschickt, und drei blieben zurück, um Miß Tomkins, die drei Lehrerinnen und die dreißig Pensionärinnen zu schützen. Mr. Pickwick saß in seinem Verschlag in einem Wäldchen von Butterbrotbeuteln und harrte, philosophisch gefaßt, der Rückkehr der Gesandtinnen mit aller ihm zu Gebote stehenden Seelenstärke.

Anderthalb Stunden vergingen, da schlugen vertraute Stimmen an sein Ohr. Nicht nur die Mr. Samuel Wellers, sondern noch zwei andre, die ihm bekannt vorkamen, ohne daß er sich in der Eile entsinnen konnte, um wen es sich handelte.

Nach einer kurzen Verhandlung wurde die Tür des Verschlages geöffnet; Mr. Pickwick schlüpfte heraus und sah die ganze Bewohnerschaft von Westgatehouse, Mr. Samuel Weller und – den alten Mr. Wardle und dessen zukünftigen Schwiegersohn, Mr. Trundle, vor sich.

„Mein teurer Freund“, rief er, eilte auf Mr. Wardle zu und ergriff mit Wärme seine Hand. „Mein teurer Freund, ich bitte Sie ums Himmels willen, erklären Sie dieser Dame hier die peinliche und schreckliche Lage, in die ich geraten bin. Sie müssen es von meinem Diener gehört haben; bestätigen Sie zumindest, mein teurer Freund, daß ich weder ein Räuber noch ein Wahnsinniger bin.“

„Ich habe es bereits getan, mein lieber Freund. Ich habe es bereits getan“, versicherte Mr. Wardle und ließ die Rechte Mr. Pickwicks gar nicht wieder los.

„Und wer’s sagt oder gesagt hat“, fiel Mr. Weller ein, „der is ’n Lügner. Ganz konträr im Gegenteil. Und falls hier im Hause Männer sin, wo das gesagt haben, so werde ich mir ungemein glücklich schätzen, ihnen das in diesem Zimmer beweiskräftig vorzuführen, wenn die geschätzten Damen so gütig sein wollen, sie mir Stück für Stück reinzubringen.“

Mr. Weller schlug dabei grimmig mit der geballten Faust in die offne Hand und zwinkerte Miß Tomkins, deren Indignation bei der Zumutung, in dem Pensionat könnte sich ein Mann befinden, keine Grenzen kannte, freundlich zu.

Mr. Pickwick gab in kurzen Worten die noch nötigen Aufschlüsse. Aber weder auf dem Rückwege mit seinen Freunden, noch nachher vor einem knisternden Feuer und dem für ihn so notwendig gewordenen Nachtessen war eine Silbe aus ihm herauszubringen. Er schien förmlich der Sprache beraubt zu sein. Einmal, und nur ein einziges Mal, wandte er sich an Mr. Wardle mit der Frage:

„Wie kommen Sie eigentlich hierher?“

„Trundle und ich sind in der Absicht hierhergekommen, eine kleine Jagdpartie zu machen“, antwortete Wardle fröhlich, „und waren ganz erstaunt, von Ihrem Bedienten zu hören, daß Sie sich auch hier befänden. Jedenfalls freut es mich sehr, Sie zu treffen. Es wird eine lustige Partie sein, und wir werden Mr. Winkle Gelegenheit geben, noch einmal sein Glück zu probieren; was meinen Sie dazu, alter Schwede?“ Mr. Pickwick gab keine Antwort. Er fragte nicht einmal nach seinen Freunden in Dingley Dell, zog sich bald darauf in sein Schlafzimmer zurück und befahl Sam, das Licht zu bringen, sobald er läuten würde.

„Sam!“ sagte er unter seiner Decke hervor, als Mr. Weller mit den Kerzen eintrat.

„Sir?“

Mr. Pickwick schwieg, und Mr. Weller putzte das Licht.

„Sam!“ sagte Mr. Pickwick wieder mit äußerster Anstrengung.

„Sir?“

„Wo ist dieser Trotter?“

„Hiob, Sir?“

„Ja.“

„Fort, Sir.“

„Mit seinem Herrn vermutlich?“

„Freund oder Herr oder was er sonst sein mag, zum Geier mit ihm!“ erwiderte Mr. Weller, „’n sauberes Paar das, Sir.“

„Jingle hat mich wahrscheinlich durchschaut und seinen Bedienten angestiftet, dir diese Geschichte aufzubinden?“ sagte Mr. Pickwick, nach Atem ringend.

„‚türlich, Sir.“

„Und es war alles erlogen?“

„Von A bis Z, Sir“, antwortete Mr. Weller. „Gemeiner Schwindel!“

„Nun, das nächstemal soll er uns nicht wieder so leicht entwischen, Sam!“

„Nein, wahrhaftig nich, Sir.“

„Wann und wo ich diesen Jingle wieder treffe“, fuhr Mr. Pickwick fort, richtete sich im Bett auf und führte einen furchtbaren Hieb nach seinem Kissen, „ich werde ihn erbarmungslos an den Pranger stellen und ihm eine persönliche Züchtigung zuteil werden lassen, an die er denken wird. So wahr ich Pickwick heiße.“

„Und wenn ich den melancholischen Schuft mit dem schwarzen Gestrüpp in die Föten kriege“, sagte Sam, „werde ich ihm mal wirkliches Wasser in die Augen treiben. So wahr ich Sam Weller heiße. – Gute Nacht, Sir.“

Achtzehntes Kapitel


Achtzehntes Kapitel

Worin mit wenigen Worten zwei Punkte dargetan werden: erstens die Macht der Krämpfe, und zweitens die Gewalt der Umstände.

Zwei Tage nach dem Frühstück bei Mrs. Hunter blieben die Pickwickier noch in Eatanswill und erwarteten mit Spannung irgendwelche Nachrichten von ihrem verehrten Meister. Mr. Tupman und Mr. Snodgraß waren wieder lediglich auf ihre eigenen geselligen Talente angewiesen, wogegen Mr. Winkle auf die dringendsten Einladungen hin bei Pott wohnte, wo er seine ganze Zeit der liebenswürdigen Frau des Hauses widmete. Bisweilen wohnte Mr. Pott selbst der Unterhaltung bei, um das Glück der beiden vollständig zu machen. Stets tief in seine großartigen Pläne für die öffentliche Wohlfahrt und die gänzliche Vernichtung des „Independent“ versunken, pflegte sich der große Mann von seinem hohen geistigen Standpunkt im allgemeinen nicht in die niedrige Sphäre gewöhnlicher Geister herabzulassen, bei seltenen Gelegenheiten aber, zum Beispiel, wenn es galt, einen Pickwickier dadurch zu ehren, stieg er von seinem Piedestal herab auf die Erde und paßte dabei huldreich seine Bemerkungen dem Verständnis der großen Menge an und schien, wenn auch nicht dem Geiste nach, so doch äußerlich, ihr anzugehören.

Bei diesem Benehmen des berühmten Publizisten kann man sich leicht denken, daß gewaltige Überraschung auf dem Gesichte Mr. Winkles zu lesen war, als eines Morgens, während er allein frühstückte, Mr. Pott hastig die Tür aufriß und ebenso hastig wieder zuschlug, majestätisch auf ihn zuschritt, die dargebotne Hand zurückstieß, mit den Zähnen knirschte, um dadurch seinen Worten noch größere Schärfe zu geben, und mit grimmiger Stimme losdonnerte:

„Schlange!“

„Sir!!“ rief Mr. Winkle und sprang von seinem Stuhle auf.

„Schlange, Sir“, wiederholte Mr. Pott, erhob seine Stimme und dämpfte sie dann plötzlich wieder. „Ich sagte Schlange, Sir, nehmen Sie den Ausdruck in seiner schärfsten Bedeutung.“

Wenn man bis morgens um zwei Uhr in der vertraulichsten Kameradschaftlichkeit mit einem Manne zusammengesessen hat, und er kommt dann um halb zehn Uhr mit der ernsten Begrüßung: „Schlange!“ herein, kann man mit Fug und Recht schließen, daß sich in der Zwischenzeit irgend etwas Unangenehmes zugetragen hat. So dachte auch Mr. Winkle.

Er erwiderte Mr. Potts eisigen Blick und nahm auf Verengen des erzürnten Publizisten die „Schlange“ so stark er konnte, ohne daß ihm jedoch die Sache dadurch verständlicher wurde.

„Schlange, Sir? Schlange, Mr. Pott? Was meinen Sie damit, Sir? Sie belieben zu scherzen.“

„Scherzen, Sir?“ rief Mr. Pott mit einer Handbewegung, die ein heftiges Verlangen verriet, seinem Gast den Teetopf aus Britanniametall an den Kopf zu schleudern. „Ha – Scherzen!! Doch nein, ich will mich beherrschen; ich will mich beherrschen, Sir“, setzte er hinzu und warf sich zum Beweis, daß ihm das bereits gelungen, mit schäumendem Rachen in einen Stuhl.

„Mein lieber Herr …“, begann Mr. Winkle.

„Mein lieber Herr!?“ fuhr Pott auf. „Wie können Sie sich unterstehen, Sir, lieber Herr zu mir zu sagen? Wie können Sie es wagen, mir überhaupt noch ins Gesicht zu sehen?“

„Gut, gut, Sir“, antwortete Mr. Winkle. „Wenn Sie schon das Wort .wagen‘ gebrauchen, wie können Sie es wagen, mir ins Gesicht zu sehen und mich eine Schlange zu nennen, Sir?“

„Weil Sie eine sind.“

„Beweisen Sie mir das, Sir“, sagte Mr. Winkle, warm werdend. „Beweisen Sie mir das!“

Ein Widerschein ingrimmiger Wut flog über sein durchgeistigtes Gesicht, als der Publizist das Morgenblatt des „Independent“ aus der Tasche zog. Er wies mit dem Finger auf einen Artikel und warf dann die Zeitung Mr. Winkle über den Tisch zu.

Betroffen las Mr. Winkle, wie folgt:

„Unser obskurer und niedrig gesinnter Kollege hat die Frechheit gehabt, in einigen ekelerregenden Bemerkungen über die letzte Wahl dieser Stadt die unantastbare Heiligkeit des Privatlebens zu verletzen und auf eine Art, die nicht mißverstanden werden kann, die persönlichen Angelegenheiten unsres letzten Kandidaten, Mr. Fizkins, zu begeifern, der übrigens trotz seiner unverdienten Niederlage, wie wir mit Sicherheit voraussagen können, das nächstemal den Sieg davontragen wird. Was würde der Schurke sagen, wenn wir, gleich ihm, alle dem Publikum schuldigen Rücksichten des Anstände“ beiseite setzen und den Schleier lüften wollten, der glücklicherweise sein Privatleben vor dem allgemeinen Gelächter, um nicht zu sagen, vor der allgemeinen Entrüstung, noch schützt? Was würde er sagen, wenn wir Tatsachen und Umstände näher beleuchten wollten, die zu offenkundig sind, um nicht von jedermann gesehen zu werden, außer von unserem maulwurfäugigen Kollegen? Was würde er sagen, wenn wir nachfolgendes Gedichtchen drucken lassen wollten, das uns ein talentvoller Mitbürger und Korrespondent zugeschickt hat, als wir eben die ersten Worte dieses Artikels niederschrieben:

AN EINEN LEEREN POT

Oh, Pot! Oh, hättest du gewußt,

Wie falsch das Weib an deiner Brust,

Vergangen wäre dir der Dünkel.

Du hättest sie, ach, wie so gern,

Gelassen gleich dem süßen Herrn,

Den sie jetzt küßt und herzt, dem W…..“

„Was“, fragte Mr. Pott feierlich, „was reimt sich auf Dünkel, Sie Elender?“

„Was sich auf Dünkel reimt?“ erwiderte Mrs. Pott, die in diesem Augenblick eintrat und der Antwort zuvorkam. „Was sich auf Dünkel reimt? Nun, ich dächte, Winkle.“

Zärtlich lächelte sie dem verblüfften Pickwickier zu und streckte ihm die Hand entgegen. Der aufgeregte junge Mann wollte sie in seiner Verwirrung ergreifen, aber Mr. Pott trat zornig zwischen ihn und seine Gattin.

„Zurück, Ma’am, zurück! Wollen Sie ihm vor meinen eigenen Augen noch die Hand reichen?“

„Mr. P.“, sagte die Dame erstaunt.

„Elende“, donnerte der Publizist. „Da, sieh her! Hier, Madame, ein Gedichtchen auf einen leeren Topf. Ein leerer Topf, das bin ich, Ma’am. Das falsche Weib, Ma’am, das sind Sie.“

Mit diesem Wutausbruch, der so etwas wie ein leichtes Beben auf dem Gesicht seiner Frau hervorrief, warf er ihr die Morgennummer des „Eatanswiller Independenten“ vor die Füße.

„So wahr ich hier stehe, mein Herr“, sagte Mrs. Pott erstaunt und bückte sich, um das Blatt aufzuheben. „So wahr ich hier stehe, mein Herr!“ Es scheint so, als läge nichts Schreckliches in dem kurzen Satz: „So wahr ich hier stehe, mein Herr“ – wenn er einem gedruckt begegnet; aber der Ton, in dem er ausgesprochen, und der Blick, von dem er begleitet wurde, schienen ein Ungewitter anzukündigen, das sich über Mr. Potts Haupt zusammenzog, und machten gebührenden Eindruck auf ihn. Auch ein völlig ahnungsloser Beobachter hätte aus Potts besorgter Miene die Bereitwilligkeit ablesen können, seine Stiefeletten jedem geeigneten Stellvertreter zu überlassen, der in diesem Augenblick Neigung gezeigt hätte, in ihnen an Ort und Stelle stehenzubleiben.

Mrs. Pott durchflog den Artikel, stieß einen gellenden Schrei aus, warf sich ihrer ganzen Länge nach auf den Teppich vor dem Kamin nieder, schrie dabei und stampfte dermaßen mit den Absätzen, daß über ihren Seelenzustand kein Zweifel obwalten konnte.

„Meine Liebe“, rief Pott, der vor Schreck erstarrte, „ich sagte doch nicht, daß ich glaube, ich …“ Aber seine Stimme wurde von dem Geschrei seiner Ehehälfte übertönt.

„Meine liebe Mrs. Pott, ich bitte Sie, beruhigen Sie sich“, flehte Mr. Winkle; aber das Geschrei und Gestampfe wurde immer lauter und heftiger.

„Meine Liebe“, begann Mr. Pott von neuem, „es tut mir wirklich äußerst leid. Wenn du schon keine Rücksicht auf deine Gesundheit nehmen willst, so nimm doch Rücksicht auf mich, meine Liebe. Die Leute werden vor unserem Hause zusammenlaufen.“ Aber je inständiger er bat, desto gellender und kreischender wurde das Geschrei seiner Gemahlin.

Zum Glück befand sich nun eine Mrs. Pott sehr ergebene Leibwache im Hause, eine junge Dame, deren Amt nach außen hin in der Beaufsichtigung der Garderobe bestand. Tatsächlich machte sie sich auf vielerlei Art nützlich; ganz besonders, wenn es sich darum handelte, denjenigen Wünschen und Neigungen ihrer Herrin Vorschub zu leisten und nachzuhelfen, die den Intentionen des unseligen Pott zuwiderliefen. Das Geschrei drang natürlich zu den Ohren dieser jungen Dame und lockte sie mit einer Eile ins Zimmer, die das ausgesuchte Arrangement ihrer Haube und Frisur bedenklich zu derangieren drohte.

„Oh, meine teure, teure Mistreß“, rief die Leibwache und warf sich wie wahnsinnig neben Mrs. Pott auf die Knie, „oh, meine teuerste Mistreß, was ist geschehen?“

„Dein Herr, dieses Ungeheuer“, murmelte die Patientin.

Pott war sichtlich betreten.

„Es ist eine Schande“, sagte die Leibwache in vorwurfsvollem Tone. „Oh, er wird Sie noch zu Tode quälen, Ma’am. Oh, Sie arme, liebe Frau.“ Pott wurde immer weicher, aber die Gegenpartei schritt rücksichtslos zum Angriff.

„Verlaß mich nicht, verlaß mich nicht, Goodwin“, murmelte Mrs. Pott, krampfhaft die Handgelenke besagter Goodwin umfassend. „Du bist das einzige Wesen auf der Welt, das es gut mit mir meint.“

Goodwin hielt den Augenblick für günstig, auf eigne Faust eine kleine Haustragödie zu veranstalten, und vergoß einen Strom von Tränen.

„Niemals, Ma’am, niemals“, schluchzte sie. „Oh, Sir, Sie sollten sich mehr in acht nehmen; ja, wahrhaftig, das sollten Sie; Sie wissen nicht, wie sehr es Madame schaden kann; ich weiß, Sie werden es noch einmal bitter bereuen, ich habe es immer gesagt.“

Der unglückliche Pott betrachtete angstvoll und stumm die Szene.

„Goodwin“, flüsterte Mrs. Pott mit ersterbender Stimme.

„Ma’am?“

„Ach, wenn du wüßtest, wie ich diesen Mann geliebt habe …“

„Denken Sie nicht daran! Es quält Sie, Ma’am“, sagte die Leibgarde.

Pott schnitt ein jammervoll-ängstliches Gesicht. Jetzt war es Zeit, ihm den Gnadenstoß zu geben.

„Und jetzt“, schluchzte Mrs. Pott, „jetzt muß ich mich so behandeln lassen, muß mir in Gegenwart eines Dritten, der so gut wie ein Fremder ist, Vorwürfe machen und mich beschimpfen lassen. Nein, Goodwin, ich ertrage es nicht länger“, stieß sie hervor und richtete sich in den Armen ihrer Wärterin auf. „Mein Bruder ist Leutnant. Er muß die Sache in die Hand nehmen. Ich will mich scheiden lassen, Goodwin.“

„Es würde ihm jedenfalls recht geschehen“, sagte Goodwin mit einem Blick auf den unglücklichen Publizisten.

Was für Gefühle die Androhung einer Scheidung in Mr. Potts Brust auch erregen mochte, er unterließ es, sie in Worte zu kleiden, und begnügte sich mit der de- und wehmütigen Frage: „Willst du mich nicht anhören, mein Engel?“

Ein neuerliches Schluchzen war die einzige Antwort. Die Krämpfe stellten sich wieder ein, und Mrs. Pott wollte unaufhörlich wissen, warum sie eigentlich geboren sei, und verlangte noch andere einschlägige Auskünfte.

„Mein Engel“, ließ Mr. Pott sich vernehmen, „gib doch solchen quälenden Gefühlen nicht Raum. Ich habe wirklich keinen Augenblick geglaubt, daß der Artikel auch nur die mindeste Begründung haben könnte; nein, Teuerste, das wäre ja rein unmöglich. Es ärgerte mich nur, meine Liebe; ja, ich darf wohl sagen, es machte mich wütend, daß das Independentenpack sich erfrechen konnte, ein solches Schandgedicht zu veröffentlichen. Das ist alles.“ Mr. Pott warf einen flehenden Blick auf die unschuldige Ursache des ganzen Unheils, als wolle er ihn bitten, ja nichts von der „Schlange“ zu sagen.

„Und was für Maßregeln, Sir, gedenken Sie zu ergreifen, um sich Genugtuung zu verschaffen?“ fragte Mr. Winkle, dessen Mut in eben dem Maße zunahm, als er Pott den seinigen verlieren sah.

„Ach, Goodwin“, ächzte Mrs. Pott, „wird er den Redakteur des ,Independent‘ durchpeitschen? Sag mir nur das eine, Goodwin!“

„Still, still, Ma’am; bitte, seien Sie doch/ruhig“, tröstete die Leibwache. „Ich bin überzeugt, er wird es tun, wenn Sie es wünschen, Ma’am.“

„Auf alle Fälle“, sagte Pott rasch, als er sah, daß seine Ehehälfte entschlossen schien, wieder Krämpfe zu bekommen. „Das versteht sich doch von selbst.“

„Wann, Goodwin, wann?“ fragte Mrs. Pott, immer noch schwankend, ob sie nicht doch in Ohnmacht fallen solle.

„Auf der Stelle, versteht sich“, erwiderte Mr. Pott. „Heute noch.“

„Ach, Goodwin“, fing Mrs. Pott aufs neue an, „das ist das einzige Mittel, die Beleidigung zu rächen und mich vor der Welt wieder zu rehabilitieren.“

„Ganz gewiß, Ma’am“, versicherte Goodwin. „Kein Mann, der wirklich ein Mann ist, könnte sich weigern.“

Da die Krämpfe noch immer drohend im Hinterhalt lauerten, beteuerte Mr. Pott aufs neue, er werde alles tun; aber schon der bloße Gedanke, ihre Ehre könne nur im mindesten in Zweifel gezogen werden, beunruhigte seine Gattin dermaßen, daß sie bestimmt noch ‚ein halbes dutzendmal Rückfälle bekommen haben würde, wenn nicht die unverdrossene Goodwin durch unermüdliche Anstrengungen und der arme, geschlagene Pott durch wiederholtes flehentliches Bitten um Verzeihung es verhindert hätten. Erst als der Unglückliche wieder durch Androhung von Krämpfen und Vorwürfen aller Art in seine gewohnten Schranken zurückgedrängt war, erholte sich Mrs. Pott so weit, daß man zum Frühstück gehen konnte. „Der niederträchtige Zeitungsklatsch wird Sie doch nicht etwa veranlassen, Ihren Aufenthalt bei uns abzukürzen, Mr. Winkle?“ fragte sie, durch Tränen lächelnd.

„Das will ich nicht hoffen“, fiel Mr. Pott ein, tief innerlich von dem Wunsche durchdrungen, sein Gast möge an der gerösteten Brotschnitte, die er soeben an seine Lippen führte, ersticken und dadurch seinem Aufenthalt auf immer ein Ende machen! „Das will ich nicht hoffen.“

„Sie sind wirklich zu gütig“, sagte Mr. Winkle, „aber ich habe heute früh, als ich noch in meinem Schlafzimmer war, einen Brief von Mr. Tupman erhalten, worin er mir meldet, es sei ein Schreiben von Mr. Pickwick eingetroffen mit der Bitte, noch heute zu ihm nach Bury zu kommen. Wir sind deshalb insgesamt entschlossen, mittags abzureisen.“

„Aber Sie werden doch wieder zurückkommen?“ fragte Mrs. Pott.

„Oh, gewiß“, versicherte Mr. Winkle.

„Darf ich mich darauf verlassen?“ fragte Mrs. Pott und warf ihrem Gast verstohlen einen zärtlichen Blick zu.

„Unbedingt“, antwortete Mr. Winkle.

Das Frühstück wurde schweigend beendet, denn jedes Mitglied der Gesellschaft brütete über seinen eignen persönlichen Angelegenheiten. Mrs. Pott bedauerte sehr, einen Verehrer zu verlieren; ihr Gatte bereute sein unüberlegtes Versprechen, den Redakteur des „Independent“ mit der Hetzpeitsche zu behandeln, und der Gast war ärgerlich, sich in einer so peinlichen Lage zu befinden. Der Mittag rückte heran, und nach manchem Lebewohl und vielfachen Versprechungen, bald wiederzukommen, riß sich Mr. „Winkle endlich los.

Sobald er sich wieder zeigt, vergifte ich ihn, schwor Mr. Pott innerlich, als er sich in seine Studierstube zurückzog, um seine Donnerkeile zu schmieden.

„Wenn ich je wieder zurückkomme und mich noch mal mit diesem Pack einlasse, dachte Mr. Winkle auf seinem Weg zum „Pfau“, so verdiene ich selbst die Hundepeitsche, und damit Punktum.

Seine Freunde standen bereit, Kutsche und Pferde ebenfalls, und im Verlauf von einer halben Stunde befanden sich die Herren auf derselben Straße, auf der Mr. Pickwick und Sam kürzlich ihre Reise gemacht hatten. Da wir den Weg bereits entsprechend geschildert haben, fühlen wir uns nicht berufen, Auszüge aus Mr. Snodgraß‘ herrlich-poetischer Beschreibung mitzuteilen.

Mr. Weller stand vor dem Tore des „Engel“, um sie zu empfangen, und führte sie in das Zimmer Mr. Pickwicks, wo sie zu nicht geringer Überraschung der Herren Winkle und Snodgraß und zur größten Verlegenheit Mr. Tupmans den alten Wardle und Mr. Trundle antrafen.

„Wie geht’s, wie steht’s?“ rief der alte Herr und ergriff Mr. Tupmans Hand. „Sehen Sie doch nicht so sentimental und empfindsam drein. Es läßt sich mal nicht ändern, alter Freund. Um meiner Schwester willen hätte ich gewünscht, daß Sie sie bekommen hätten, aber in Ihrem Interesse freut es mich sehr, daß es nicht so gekommen ist. Ein junger Fant wie Sie kann es heutzutage immer noch besser treffen; oder? Mit diesen Trostesworten klopfte der alte Herr Mr. Tupman auf die Schulter und lachte herzlich.

„Nun, und wie geht es denn Ihnen, meine verehrtesten Herren?“ fuhr er fort, Mr. Winkle und Mr. Snodgraß gleichzeitig die Hände schüttelnd.

„Ich habe soeben zu Pickwick gesagt, daß wir Sie über Weihnachten alle zu Gast haben müssen. Wir müssen diesmal eine Hochzeit bei uns arrangieren, und zwar eine Hochzeit im buchstäblichen Sinne des Wortes.“

„Eine Hochzeit?!“ rief Mr. Snodgraß und wurde blaß wie die Wand.

„Ja, eine Hochzeit. Erschrecken Sie nur nicht gleich; es handelt sich nur um Trundle und Bella.“

„So, so. Ah!“ sagte Mr. Snodgraß, dem ein Stein vom Herzen fiel. „Da gratuliere ich wirklich herzlich, Sir. Und was macht denn unser Joe?“

„Oh, dem geht’s immer gut“, erwiderte der alte Herr. „Schläft wie gewöhnlich.“

„Und Ihre Mutter und der geistliche Herr und die andern alle?“

„Alle wohlauf.“

„Und wo“, fragte Mr. Tupman gepreßt, „wo ist – sie, Sir?“ Er wandte den Kopf ab und bedeckte seine Augen mit der Hand.

Sie?“ wiederholte der alte Herr mit verständnisinnigem Kopfschütteln. „Sie meinen meine ledige Schwester; oder?“ Mr. Tupman nickte stumm und gramverzehrt. „Ach, die ist fort. Sie wohnt jetzt bei Verwandten, weit von hier. Sie konnte sich mit den Mädchen nicht recht vertragen, und darum ließ ich sie ziehen. Aber kommen Sie jetzt, das Essen steht auf dem Tisch. Sie müssen nach Ihrer Fahrt hungrig sein. Ich habe Appetit ohne Fahrt. Also los.“

Die Herren ließen dem Mahl alle Gerechtigkeit widerfahren, und beim Dessert erzählte Mr. Pickwick zum allgemeinen Schrecken und Unwillen seiner Zuhörer das Abenteuer, das er bestanden, und wie leider das Schicksal die Schändlichkeiten des teuflischen Jingle mit Erfolg gekrönt habe.

„Und der Rheumatismus, den ich mir in dem Garten geholt habe“, schloß Mr. Pickwick, „hält mich bis jetzt noch im Zimmer fest.“

„Ich habe auch so eine Art Abenteuer gehabt“, nahm Mr. Winkle lächelnd das Wort und erzählte sofort von dem boshaften Schmähartikel im „Eatanswiller Independenten“ und dem daraus entstandenen Familienzwist im Hause des gemeinsamen Freundes, des Redakteurs.

Mr. Pickwicks Stirn verfinsterte sich sichtlich während dieses Berichtes. Seine Freunde bemerkten es und beobachteten tiefstes Stillschweigen, als Mr. Winkle zu Ende war. Dann schlug Mr. Pickwick mit der geballten Faust heftig auf den Tisch und sprach:

„Es ist doch wirklich unglaublich, daß wir bestimmt zu sein scheinen, kein Haus zu betreten, ohne auf die eine oder andre Art Streit und Zank zu verursachen! Ich frage, beweist es nicht die Unbesonnenheit, oder noch schlimmer, die Gewissenlosigkeit meiner Freunde, so etwas aussprechen zu müssen? Unter welchem Dach man auch einquartiert sein mag, jedesmal kostet es den Seelenfrieden und das Glück irgendeines arglosen weiblichen Wesens! Ist es nicht, sage ich …“

Mr. Pickwick hätte wahrscheinlich noch geraume Zeit so weitergeredet, wäre der Fluß seiner Beredsamkeit nicht durch den Eintritt Sams, der einen Brief brachte, unterbrochen worden; er fuhr sich mit seinem Taschentuch über die Stirn, nahm seine Brille herunter, wischte die Gläser ab, und als er sie aufsetzte, hatte seine Stimme die gewohnte Sanftheit wieder.

„Was hast du da, Sam?“ fragte er.

„Dieser Brief hat schon zwei Tage auf der Post gelegen“, erwiderte Mr. Weller. „Mit ’ner Oblate versiegelt und von ’ner Geschäftsfote geschrieben.“

„Ich kenne die Hand nicht“, sagte Mr. Pickwick und erbrach den Umschlag. „Barmherziger Gott, was ist das? Es muß ein Scherz sein; es – es – kann nicht Ernst sein.“

„Was ist denn los?“ riefen alle wie aus einem Munde.

„Es ist doch niemand gestorben?“ fragte Wardle, beunruhigt durch Mr. Pickwicks sichtliche Bestürzung. Mr. Pickwick reichte den Brief über den Tisch, bat Mr. Tupman, ihn vorzulesen, und sank dann sprachlos vor Entsetzen in seinen Stuhl zurück. Mit stockender Stimme las Mr. Tupman:

„Freemans-Court, Cornhill, den 18. August 1830

In Sachen Bardell kontra Pickwick.

Sir!

Beauftragt von Mrs. Marta Bardell, eine Klage wegen Nichterfüllung eines Eheversprechens gegen Sie einzuleiten, worin die Klägerin eine Entschädigung von fünfzehnhundert Pfund fordert, erlauben wir uns, Sie zu benachrichtigen, daß wir den Prozeß bei dem zuständigen Zivilgerichtshof anhängig gemacht haben. Wir ersuchen Sie, uns gefl. mit umgehender Post Ihren Rechtsfreund in London, der Sie vertreten wird, namhaft zu machen.

Mit vorzüglicher Hochachtung
ergebenst
Dodson und Fogg

An Mr. Samuel Pickwick“

In dem stummen Erstaunen, mit dem jeder der Herren seinen Nachbarn und dann alle zusammen Mr. Pickwick anblickten, lag etwas so Ausdrucksvolles, daß lange Zeit niemand zu sprechen wagte. Endlich brach Mr. Tupman das Stillschweigen.

„Dodson und Fogg“, wiederholte er mechanisch.

„Bardell kontra Pickwick“, sagte Mr. Snodgraß sinnend.

„Seelenfrieden und Glück argloser weiblicher Wesen“, murmelte Mr. Winkle mit zerstreuter Miene.

„Es ist eine Verschwörung!“ ächzte Mr. Pickwick, als er endlich wieder sprechen konnte. „Eine niederträchtige Verschwörung von diesen beiden beutelschneiderischen Advokaten Dodson und Fogg. Mrs. Bardell würde so etwas nie eingefallen sein; sie hat das Herz nicht dazu, und auch keinen Grund. – Lächerlich, wirklich, zu lächerlich.“

„Was ihr Herz anbelangt“, sagte Mr. Wardle und schnitt „in Gesicht, „so müssen Sie das freilich am besten beurteilen können. Ich will Ihnen den Mut nicht nehmen, aber so viel kann ich wohl zuversichtlich behaupten, daß in bezug auf die Klage den Herren Dodson und Fogg ein besseres Urteil zustehen dürfte als uns allen zusammen.“

„Es ist ein niederträchtiger Versuch, Geld zu erpressen“, rief Mr. Pickwick.

„Hoffentlich nichts Schlimmeres“, meinte Mr. Wardle mit einem kurzen, trocknen Husten.

„Wer hat mich je anders mit ihr sprechen sehen als wie als Mieter mit seiner Hauswirtin?“ fuhr Mr. Pickwick mit großer Heftigkeit fort. „Wer hat mich jemals mit ihr allein gesehen? Nicht einmal meine Freunde hier …“

„Ein einziges Mal ausgenommen“, warf Mr. Tupman bescheiden ein.

Mr. Pickwick wechselte die Farbe.

„Hm, hm“, sagte Mr. Wardle. „Das ist aber von großer Wichtigkeit. Es ist doch hoffentlich dabei nichts Verdächtiges vorgefallen?“

Mr. Tupman warf seinem Meister einen schüchternen Blick zu. „N – nein“, sagte er, „nicht gerade etwas Verdächtiges. Aber, ich weiß nicht, wie es zuging, sie lag in seinen Armen.“

„Grundgütiger Himmel!“ stöhnte Mr. Pickwick, dem sich plötzlich die volle Erinnerung an die damalige schreckliche Szene aufdrängte. „Welch furchtbares Beispiel für die Macht der Umstände! Ja, es war so, es war so.“

„Und Sie gaben sich alle Mühe, sie zu beschwichtigen“, warf Mr. Winkle etwas boshaft hin.

„Ja, ja, ja“, nickte Mr. Pickwick kummervoll. „Ich leugne es nicht. Es war so.“

„Hallo! Für einen Fall, an dem nichts Verdächtiges ist, klingt das aber doch ein bißchen wunderlich, meinen Sie nicht auch, Mr. Pickwick; ha? Oh, Sie alter Schlaufuchs!“ Mr. Wardle lachte, daß die Gläser auf dem Kredenztisch klirrten.

„Ein schreckliches Zusammentreffen von Verdachtsmomenten!“ jammerte Mr. Pickwick und griff sich an die Stirn. „Winkle – Tupman – ich bitte Sie wegen meiner Bemerkung von vorhin um Verzeihung. Wir sind samt und sonders Opfer der Umstände, und ich bin das beklagenswerteste.“

Sinnend begrub er das Haupt in den Händen, und Mr. Wardle warf den übrigen Herren bedeutungsvolle Blicke zu.

„Die Sache muß sich aufklären, so oder so“, sagte Mr. Pickwick nach einer Weile, erhob das Haupt und schlug auf den Tisch. „Ich muß diese Dodson und Fogg persönlich sprechen. Morgen fahre ich nach London.“

„Morgen noch nicht“, riet Mr. Wardle. „Sie sind noch zu lahm.“

„Nun gut, dann übermorgen.“

„Übermorgen ist der erste September, und Sie haben uns doch zugesagt, unter allen Umständen den Jagdausflug auf Sir Geoffrey Mannings Besitz mitzumachen!“

„Also gut, dann Donnerstag. Sam!“

„Sir?!“ erwiderte Mr. Weller.

„Bestelle auf Donnerstag früh für uns beide zwei Plätze nach London.“

„Sehr woll, Sir.“ Mr. Weller verließ das Zimmer und schlenderte, die Hände in den Taschen und die Augen sinnend zu Boden geschlagen, langsam auf die Post.

„Ein lockerer Zeisig das, der Alte“, brummte er vor sich hin. „Macht sich da an die Bardell ran, die noch obendrein einen Jungen hat. Jaja, so treiben’s diese alten Wüstlinge, trotz ihres ehrbaren Aussehens. Hätt’s ihm, weiß Gott, nicht zugetraut.“

Und in diesem Tone weiter moralisierend, lenkte Mr. Samuel Weller seine Schritte nach dem Einschreibebüro.