Zweiundfünfzigstes Kapitel


Zweiundfünfzigstes Kapitel

Mr. Samuel Pell ordnet mit Beihilfe eines auserlesenen Kutscherkomitees die Angelegenheiten Mr. Wellers senior.

„Samuel“, sagte Mr. Weller am Morgen nach dem Begräbnis zu seinem Sohn, „ich habe es gefunden, Sammy. Ich dachte ja gleich, daß es drin sein wird.“

„Was hast du gefunden?“ fragte Sam.

„Das Testament von deiner Stiefmutter, Sammy. Wonach die Anordnungen zu treffen sind, wo ich gestern abend von sprach; diesbezüglich die Fonds.“

„So? Hat sie denn nich gesagt, wo sie es aufbewahrt hat?“ fragte Sam.

„Nicht die Bohne, Sammy“, entgegnete Mr. Weller. „Wir legten gerade unsere kleinen Zwistigkeiten bei, und ich versuchte ihr aufzuheitern, und da vergaß ich alles dabei. Aber wenn ich auch dran gedacht hätte, ich weiß nicht, ob ich’s wirklich gemacht hätte“, fügte Mr. Weller hinzu. „Es is so ’ne Sache, Sammy, nach dem Testament von ein Menschen schnüffeln, wenn du an seinem Krankenbett sitzt. Is genauso, als wenn du ’nem runtergefallenen Außenpassagier wieder auf die Kutsche hilfst und steckst ihm dabei die Hand in die Tasche und fragst ihn, wie er sich fühlt. – Dieses hier is denn also das Testament, Sammy“, sagte Mr. Weller, öffnete seine Brieftasche und zog einen abgegriffenen Bogen Briefpapier heraus, auf dem krause Schriftzüge in wirrem Durcheinander standen.

„Dies hier ist das Dokument, Sammy. Es war in dem kleinen schwarzen Teetopf auf dem Sims in der Speisekammer. Sie pflegte ihre Banknoten drin aufzubewahren, bevor daß ich ihr heiratete, Samuel. Ich habe wohl hundertmal gesehen, wie sie den Deckel abnahm, wenn sie ’ne Rechnung bezahlte.“

„Was steht denn drin?“ fragte Sam.

„Genau das, was ich dir schon erzählt habe, mein Junge. Zweihundert Fund für meinen Stiefsohn Samuel, und den ganzen Rest meines Vermögens, welcher Art und Gattung es auch sein möge, meinem Mann, Mr. Tony Veller, welchen ich zu meinem einzigen Testamentenvollstrecker ernenne.“

„Is das alles?“

„Das is alles!“ antwortete Mr. Weller. „So, na denn nehme ich an, wo nu alles richtig in Ordnung is, für dich und für mich und wir die einzigen Fahrgäste sind, wo es was angeht, können wir den Wisch ins Feuer schmeißen.“

„Bist wohl verrückt, altes Mondkalb?!“ rief Sam und entriß seinem Vater das Papier, als dieser in aller Unschuld bereits das Feuer schürte, um seinem Worte die Tat folgen zu lassen. „Du wärst mir ’n sauberer Testamentsvollstrecker, du.“

„Wieso?“ fragte Mr. Weller und blickte mit dem Schüreisen in der Hand erstaunt auf.

„Wieso?“ rief Sam. „Weißte denn nich, daß es vorher geprieft, beglaubigt und beschworen werden muß?“

„Wahrhaftich?“ fragte Mr. Weller und legte das Schüreisen nieder.

Sam steckte das Testament sorgfältig in die Brusttasche und gab nur durch einen unwilligen Blick zu verstehen, daß er es wirklich so meine, und zwar in allem Ernst.

„Dann will ich dir sagen, was es is“, hob Mr. Weller nach kurzem Nachdenken an. „Es is dies ’n Fall für den vertrauten Freund vom Lordkanzler. Pell muß die Sache ausknobeln, Sammy. Er is der Mann für ’ne schwierige Rechtsfrage. Wir werden die Sache umgehend vor den Insolvenzgerichtshof bringen, Samuel.“

„Also, ich habe noch nie so ’n ollen Rappelkopf gesehen!“ rief Sam gereizt. „Gerichtshöfe, Insolvenzgerichte, Alibis und aller mögliche Blödsinn geht ihm dauernd durch den Schädel. Es wäre besser, du würdest deinen Sonntagskittel anziehen und denn in die Stadt mitkommen, anstatt daß du hier über Sachen brabbelst, wo du nichts von verstehst.“

„Na ja, na ja, Sammy“, erwiderte Mr. Weller. „Bin doch ganz einverstanden, Sammy. Aber merk dir’s wohl, mein Junge, niemand anders als Pell, niemand als Pell darf unser Advokat sein.“

„Verlange auch sonst niemand“, brummte Sam, der sich inzwischen vor einem kleinen Spiegel sein Halstuch umgebunden hatte, „kommst nu endlich?“

„Warte noch ’ne Minute, Sammy! Wenn du mal so alt bist wie dein Vater, wirst du auch nich mehr so leicht in den Rock reinschlüpfen“, stöhnte Mr. Weller und kämpfte sich mit großer Anstrengung in seinen Überzieher.

„Soll mich der Teufel holen, wenn ich überhaupt einen trage“, knurrte Sam.

„So denkst du jetzt“, sagte Mr. Weller mit der Gravität des Alters, „du wirst aber schon finden, daß man um so weiser wird, je dicker man wird. Weite und Weisheit, Sammy, wachsen auf einem Holz.“

Als Mr. Weller diesen unfehlbaren Grundsatz – das Ergebnis vieljähriger persönlicher Erfahrung und Beobachtung – preisgab, gelang es ihm durch eine gewandte Drehung des Körpers, den untersten Rockknopf seiner Bestimmung gemäß anzuwenden. Nachdem er wenige Sekunden pausiert hatte, um wieder Atem zu schöpfen, bürstete er seinen Hut mit dem Ellbogen und erklärte sich bereit.

„Vier Köpfe sin besser als zwei, Sammy“, sagte er ernst, als sie miteinander mit der Post nach London fuhren, „und wo doch … alle diese Habseligkeiten ’ne große Versuchung für ’n Adfokaten sin, wollen wir ’n paar von meinen Freunden mit dazunehmen, wo sehr schnell über ihm herfallen würden, wenn er sich ’ne Unregelmäßigkeit würde zuschulden kommen lassen. Es sind zwei von denen, wo dich damals in der Fleet besucht haben. Es sind die besten Ferdekenner, wo du je gesehen hast“, fügte Mr. Weller geheimnisvoll hinzu.

„Sind es aber auch Advokatenkenner?“ fragte Sam.

„Wer ein richtiges Urteil über ein Tier abgeben kann, der kann auch ein richtiges Urteil über alles andere abgeben“, erwiderte Mr. Weller so dogmatisch, daß Sam nicht zu widersprechen wagte.

Die beiden Droschkenkutscher, die der alte Herr zu seinen Beiständen ausersehen, waren bald aufgefunden. Er hatte sie vermutlich mit Rücksicht auf ihre Wohlbeleibtheit und die dadurch bedingte Weisheit ausgewählt und begab sich sofort mit ihnen nach dem Gasthaus in der Portugalstreet.

Der in den Insolvenzgerichtshof hinübergeschickte Bote fand Mr. Samuel Pell glücklicherweise mit einer nicht allzu schweren Arbeit, nämlich mit einer kleinen Zwischenmahlzeit, bestehend aus Abernethyzwieback und einem Hühnchen, beschäftigt. Der berühmte Anwalt vernahm kaum, was man von ihm wünschte, als er unverzüglich seinen Mundvorrat nebst verschiedenen amtlichen Dokumenten in die Tasche steckte und in das Wirtshaus eilte.

„Meine Herren“, begann er und lüftete seinen Hut, „seien Sie mir alle gegrüßt. Ich sage es nicht, um Ihnen zu schmeicheln, meine Herren; aber es gibt kaum noch fünf andre Männer auf der Welt, denen zuliebe ich heinte den Gerichtshof verlassen hätte.“

„So beschäftigt, was?“ fragte Sam.

„Oh, beispiellos“, erwiderte Pell, „ich bin ganz abgehetzt, wie mein Freund, der verstorbene Lordkanzler, immer zu mir sagte, wenn er aus dem Oberhaus kam, wo sie ihn mit Fragen bestürmt hatten. Jaja, der Ärmste! Solche Anstrengungen griffen ihn sehr an, und die Fragen pflegten ihm außerordentlich zu Herzen zu gehen. Ich glaubte wirklich mehr als einmal, er müsse unter der Last seiner Arbeiten notwendigerweise zusammenbrechen. Heda, liebes Kind, bringen Sie mir doch für drei Pence Rum.“ – Mr. Pell seufzte, seh wieg, betrachtete seine Schuhe, sah dann zur Decke empor und goß den Rum, der ihm sofort gebracht worden war, hinunter.

„Indes“, nahm er seine Rede wieder auf und rückte seinen Stuhl an den Tisch, „ein Geschäftsmann hat kein Recht, an seine Privatfreundschaften zu denken, wenn sein juristischer Beistand verlangt wird. Beiläufig gesagt, meine Herren, seit ich Sie das letztemal hier sah, haben wir ein sehr trauriges Ereignis zu beweinen gehabt. Ich habe es im Anzeiger gelesen, Mr. Weller“, setzte er hinzu. „Gott, Gott, nix mehr als zweiundfünfzig Jahre! Unglaublich. Hm. – Ich habe gehört, daß sie eine sehr schöne Frau gewesen ist, Mr. Weller?“

„Ja, Sir, das war sie“, brummte Mr. Weller. „Aber lassen wir das jetzt. Gehen wir mal ans Geschäft.“

Dieses Wort war Musik für Mr. Pell, denn er hatte so seine Zweifel gehabt, ob er nicht am Ende nur zu einem freundschaftlichen Glas Grog oder einer Bowle Punsch oder sonst einem ähnlichen Achtungsbeweise eingeladen worden sei. Mit funkelnden Augen nahm er das Testament entgegen, das ihm Sam reichte, und sagte:

„Diese andern Herren sind ohne Zweifel Legatare?“

„Nö, Sammy ist der einzige Legatar“, erwiderte Mr. Weller, „diese andern Herrn sin Freunde von mir. Habe sie als ’ne Art Schiedsrichter mitgebracht.“

„Hm“, sagte Pell, „sehr gut. Ich habe durchaus nichts dagegen. Nur muß ich um fünf Pfund Vorschuß bitten, bevor ich anfange.“

Das Komitee entschied, die fünf Pfund sollten vorgeschossen werden, Mr. Weller bezahlte die Summe, und dann fand eine lange Beratung statt, wobei Mr. Pell zur großen Befriedigung der Herren Schiedsrichter den Beweis führte, daß, wenn die Leitung des Geschäftes nicht ihm anvertraut worden wäre, es notwendig hätte schiefgehen müssen, aus Gründen, die zwar nicht ganz klar, aber genügend einleuchtend waren. Nachdem dieser wichtige Punkt ins reine gebracht war, erfrischte sich Mr. Pell auf Kosten der Beteiligten mit einigen guten Bissen und sowohl malzigen wie geistigen Getränken, und alle begaben sich nach Doktors Commons.

Nach den nötigen Verhandlungen war die Angelegenheit endlich so weit gediehen, daß der Tag anberaumt werden konnte, an dem durch Vermittlung des Börsensensals Wilkins Flasher, Esquire, der dazu von Mr. Pell in Vorschlag gebracht worden, Sams Erbteil in Fonds angelegt und der Rest zu Geld gemacht werden konnte.

Es war dies eine festliche Veranlassung, und die beteiligten Personen schmückten sich dazu in angemessener Weise. Mr. Weller ließ sich das Haar brennen, und alle prangten in Festornat, das heißt, sie zogen so viele Kleider an, wie nur möglich, und steckten Lorbeerzweige und Georginen in die Knopflöcher.

Mr. Pell erschien zur bestimmten Zeit am gewöhnlichen Versammlungsort und trug ein Paar Handschuhe und ein frisches Hemd (letzteres durch vieles Waschen am Kragen und den Manschetten ein wenig durchgerieben).

„Viertel vor zwei“, sagte er und blickte auf die Stubenuhr. „Wenn wir Viertel nach zwei zu Mr. Flasher kommen, ist es gerade die beste Zeit.“

Zur Feier des Tages wurde noch schnell ein kleiner Lunch, bestehend aus Bier, Brandy, Austern und Beefsteak, eingenommen und dann brach das Komitee gemächlich auf.

Das Bureau des Börsensensals Wilkins Flasher, Esquire, lag zu einem Hof hinaus hinter der Bank von England; das Haus Wilkins Flashers, Esquire, war in Brixton, Surrey; das Pferd und der Stanhope Wilkins Flashers, Esquire, standen in einem Mietsstall in der Nähe; der Groom Wilkins Flashers, Esquire, war auf dem Weg nach dem Westen von London, um Wildpret abzuliefern; der Schreiber Wilkins Flashers, Esquire, war zum Mittagessen gegangen, und so rief Wilkins Flasher, Esquire, in höchsteigener Person „herein“, als Mr. Pell mit seinen Begleitern an der Tür des Kontors anklopfte.

„Guten Morgen, Sir“, sagte der Advokat mit höflicher Verbeugung. „Wir möchten gerne etwas ä kleine Transaktion vornehmen, wenn es Ihnen konveniert.“

„Schön, schön!“ sagte Mr. Flasher. „Setzen Sie sich einen Augenblick. Ich stehe sogleich zu Diensten.“

„Danke Ihnen, Sir“, sagte Pell, „es hat keine Eile. Nehmen Sie einen Stuhl, Mr. Weller.“

Mr. Weller nahm einen Stuhl, Sam eine Kiste, und die Schiedsrichter nahmen, was sie bekommen konnten, und besahen sich den Kalender und ein paar an die Wand geklebte Papiere mit so offenkundiger Ehrfurcht, als ob es alte Meister gewesen wären.

„Also gut, ich wette ein halbes Dutzend Flaschen Bordeaux; schlagen Sie ein“, nahm Wilkins Flasher, Esquire, seine unterbrochene Unterhaltung mit einem stutzerhaft gekleideten jungen Gentleman wieder auf, der, seinen Hut schief auf, sich an einem Pulte rekelte und mit einem Lineal Fliegen totschlug. Wilkins Flasher, Esquire, balancierte dabei auf einem Schreibstuhl und zielte mit seinem Federmesser auf eine Oblatenschachtel, die er dann und wann mit großer Gewandtheit gerade in der Mitte traf. Beide Gentlemen trugen sehr weit ausgeschnittene Westen und sehr weit zurückgeschlagene Kragen, sehr kleine Stiefel und sehr dicke Ringe, sehr kleine Uhren und sehr große Uhrketten, knapp anliegende Hosen und parfümierte Taschentücher.

„Ich wette nie ein halbes Dutzend“, sagte der junge Herr. „Ein ganzes Dutzend muß es sein.“

„Gemacht, Simmery, es gilt!“ sagte Wilkins Flasher, Esquire.

„Aber sogleich zu bezahlen!“

„Versteht sich“, erwiderte Wilkins Flasher, Esquire, und trug die Wette in ein kleines Buch mit einem goldenen Crayon ein. Der andre Gentleman notierte sie ebenfalls in einem andern kleinen Buch, ebenfalls mit einem goldenen Crayon.

„Ich lese da gerade, daß Boffer“, bemerkte Mr. Simmery, „pleite ist.“

„Ich wette zehn Guineen gegen fünf, daß er sich die Kehle durchschneidet“, griff Wilkins Flasher, Esquire, sofort das Thema auf.

„Gemacht!“ schlug Mr. Simmery ein.

„Halt!“ sagte Wilkins Flasher, Esquire, gedankenvoll. „Vielleicht hängt er sich auch auf.“

„Auch gut“, meinte Mr. Simmery und zog den goldenen Crayon wieder heraus. „Ich nehme die Wette auch so an. Sagen wir also: er macht seinem Leben ein Ende.“

„Er tötet sich selbst“, ergänzte Wilkins Flasher, Esquire.

„Tötet sich selbst“, schrieb Mr. Simmery auf. „Flasher: zehn Guineen gegen fünf, Boffer tötet sich selbst. Binnen welcher Zeit wollen wir sagen?“

„Binnen vierzehn Tagen etwa.“

„Gott bewahre, nein“, erwiderte Mr. Simmery und hielt einen Augenblick inne, um eine Fliege mit dem Lineal zu erschlagen. „Sagen wir eine Woche.“

„Halbieren wir! – Zehn Tage?“ schlug Wilkins Flasher, Esquire, vor.

„Gut, also zehn Tage.“

„Es tut mir leid“, sagte Wilkins Flasher, Esquire, nach einer Pause, „daß er pleite ist. Er hat famose Soupers gegeben.“

„Und einen glänzenden Portwein gehabt. Wir werden morgen unsern Kellermeister in die Auktion schicken, um einiges von dem Vierundsechziger zu erstehen.“

„Zum Teufel!“ fuhr Wilkins Flasher, Esquire, auf. „Der meinige geht auch hin. – Fünf Guineen, daß mein Mann den Ihrigen überbietet.“ „Gemacht!“

Die Wette wurde wieder mit den goldenen Crayons in die kleinen Bücher eingetragen, und nachdem Mr. Simmery noch sämtliche Fliegen getötet und sich sämtliche Wetten durchgelesen hatte, begab er sich auf die Börse, um zu sehen, was sich dort „tue“.

Jetzt endlich ließ sich Wilkins Flasher, Esquire, herab, Mr. Samuel Pells Instruktionen entgegenzunehmen, und nachdem er einige gedruckte Formulare ausgefüllt, ersuchte er die Gesellschaft, ihn auf die Bank zu begleiten. Mr. Weller und seine drei Freunde hatten inzwischen alles, was zu sehen war, mit unbeschreiblichem Erstaunen angestarrt, nur Sam besichtigte jedes Ding mit einer Gleichgültigkeit und Kälte, der nichts zu imponieren vermochte.

Sie kamen über einen Hofraum und an ein paar Portiers mit Livreen so rot wie die Feuerspritze, die in einer Ecke stand, vorbei und traten dann in ein Bureau, wo das Geschäft abgemacht werden sollte und mehrere Herren hinter Pulten saßen.

„Das sin woll die reduzierten Konsols?“ flüsterte Mr. Weller. „Was, Samuel?“

„Glaubst wohl, die reduzierten Konsols sin lebendig?“ fragte Sam mit Verachtung.

„Woher soll ich’s denn wissen“, entschuldigte sich Mr. Weller. „Wat sin se denn?“

„Schreiber.“

„Warum essen se denn alle Schinken?“

„Vermutlich, weil’s mit zum Amte gehört“, erwiderte Sam, „gehört mit zum ganzen System, und se tun’s den ganzen Tag.“

Mr. Weller und seine Freunde hatten kaum Zeit, über diese sonderbare, mit dem Münzsystem des Landes zusammenhängende Einrichtung nachzudenken, als Pell wieder zu ihnen trat. Mr. Flasher begab sich in die Bank und kehrte bald darauf mit einem Scheck über fünfhundertunddreißig Pfund Sterling, dem Erlös von Mr. Wellers Anteil, zurück.

Der alte Herr war im Anfang hartnäckig entschlossen, das Papier bloß gegen Guineen auswechseln zu lassen, als ihm aber die Schiedsrichter vorstellten, daß er dann einen kleinen Sack kaufen müßte, um sie nach Hause zu bringen, willigte er endlich ein, den Betrag in Fünfpfundnoten anzunehmen.

„Mein Sohn“, sagte er, als sie von der Bank weggingen, „mein Sohn und ich haben heute nachmittag ’n ganz besonderes Geschäft, und es wäre mir lieb, wenn wir alles vorher ins reine brächten und mal die Rechnungen prüften.“

Das war bald geschehen. Mr. Pells Konto wurde von Sam geprüft und einige Posten von den Schiedsrichtern gestrichen; aber trotz Mr. Pells Schwüren und vielfach-feierlichem Protest, daß man zu hart mit ihm verfahre, war dies doch in jeder Beziehung das beste Geschäft, das er je gemacht hatte, denn er bestritt mit dem Betrag sechs Monate lang Kost, Quartier und Wäsche.

Nachdem die Schiedsrichter noch an einem Abschiedstrunk teilgenommen, schüttelten sie einander die Hände und reisten ab, da sie sämtlich noch vor Abend die Stadt verlassen mußten. Mr. Salomon Pell nahm ebenfalls, sobald er sah, daß es nichts mehr zu essen und zu trinken gab, aufs freundschaftlichste Abschied, und Sam und sein Vater waren endlich allein.

„Nun hätten wir also“, sagte Mr. Weller und verstaute seine Brieftasche, „außer den Rechnungen für den Mietkontrakt und solche Geschichten elfhundertundachtzig Pfund beisammen. Nu, Samuel, kehre mal um und fahre nach dem ‚Georg und Geier‘, mein Junge.“

Dreiundfünfzigstes Kapitel


Dreiundfünfzigstes Kapitel

Eine wichtige Beratung zwischen Mr. Pickwick und Sam, der Mr. Weller beiwohnt. Ein alter Herr in sthnupftabakjarbenen Kleidern tritt unerwartet auf.

Mr. Pickwick saß allein auf seinem Zimmer und sann über mancherlei Dinge, besonders aber darüber nach, wie er am besten für das junge Paar sorgen könne, dessen gegenwärtige unsichere Lage für ihn ein Gegenstand beständiger Sorge und Unruhe war, als Mary eilig hereintrippelte und etwas hastig meldete:

„Ach, Sir, erlauben Sie, Samuel ist unten und fragt, ob er Sie mit seinem Vater besuchen darf.“

„Gewiß, warum denn nicht?“ erwiderte Mr. Pickwick. „Ist Sam schon lange hier?“

„Ach nein, Sir“, erwiderte Mary eifrig. „Er ist eben erst nach Hause gekommen. Er wird Sie von jetzt an um keinen Urlaub mehr bitten, Sir, sagt er.“

Mary mochte selbst gefühlt haben, daß sie diese letzte Mitteilung mit mehr Wärme gemacht hatte, als eben notwendig war, oder hatte sie vielleicht das gutmütige Lächeln bemerkt, mit dem Mr. Pickwick sie ansah, als sie mit ihrem Vortrag zu Ende war, jedenfalls ließ sie das Köpfchen sinken und betrachtete den Zipfel ihrer hübschen kleinen Schürze mit mehr Aufmerksamkeit, als unumgänglich erforderlich schien. „Sagen Sie ihnen, sie könnten sogleich heraufkommen“, sagte Mr. Pickwick, und Mary eilte erleichterten Herzens mit ihrer Botschaft fort.

Mr. Pickwick ging ein paarmal im Zimmer auf und nieder und rieb sich mit der linken Hand das Kinn, wie er gerne zu tun pflegte, wenn er in Gedanken verloren war.

„Jaja“, sagte er mit gutgelauntem, aber doch etwas wehmütigem Ton vor sich hin, „das ist die beste Art, wie ich ihn für seine Anhänglichkeit und Treue belohnen kann. So sei es denn in Gottes Namen. Es ist nun einmal das Los eines alten einsamen Mannes, daß seine Umgebung neue und andere Verbindungen anknüpft und ihn verläßt. Ich habe kein Recht zu erwarten, daß es mit mir anders sein sollte. Nein, nein“, fügte er ein wenig heiterer hinzu, „es wäre selbstsüchtig und undankbar von mir. Ich muß mich freuen, eine Gelegenheit zu haben, ihn so gut zu versorgen, und ich freue mich auch wirklich.“

Der Eintritt der beiden Herren Weller riß ihn aus seinen Betrachtungen.

„Freut mich, daß du wieder da bist, Sam“, rief er gutgelaunt. „Und wie befinden Sie sich, Mr. Weller?“

„Recht gut, danke Ihnen, Sir“, erwiderte der Witwer. „Und Sie sin hoffentlich auch wohl, Sir?“

„O ja, gewiß, ich danke Ihnen.“

„Ich möchte gerne paar Worte mit Ihnen sprechen, wenn Sie so fünf Minuten für mich übrig hätten.“

„Gewiß, warum denn nicht?“ erwiderte Mr. Pickwick freundlich. „Sam, gib deinem Vater einen Stuhl.“

„Dank dir, Samuel, habe schon einen“, wehrte Mr. Weller ab und schleppte einen Stuhl herbei, „’n wunderschöner Tag heute“, setzte er hinzu, stellte seinen Hut auf den Boden und setzte sich.

„Ja, sehr schön“, bestätigte Mr. Pickwick. „Sehr angenehmes Wetter.“

„’s angenehmste Wetter, wo ich je gesehen habe.“

Hier wurde der alte Kutscher von einem heftigen Husten befallen, nickte mit dem Kopf, zwinkerte und machte seinem Sohn allerhand wütende Gebärden, die dieser jedoch hartnäckig ignorierte.

Als Mr. Pickwick die Verlegenheit des alten Herrn bemerkte, stellte er sich, als wäre er beschäftigt, ein neben ihm liegendes Buch aufzuschneiden, und wartete geduldig, bis Mr. Weller mit dem Zweck seines Besuches herausrücken würde.

„Zeit meines Lebens habe ich noch nich so ein gottverlassenen Lausejungen gesehen, wie du bist, Samuel“, sagte Mr. Weller schließlich mit einem ungnädigen Blick auf seinen Sohn.

„Was tut er denn?“ erkundigte sich Mr. Pickwick. „Der will einfach nicht anfangen, Sir“, erwiderte Mr. Weller, „dabei weiß er ganz genau, daß ich mir nich ausquetschen kann, wenn es nich was Absonderliches is, und da steht er nu und sieht mir dasitzen, und wie ich Ihre kostbare Zeit raube und kommt mir nich mal mit eine Silbe zu Hilfe. Das is kein kindliches Benehmen nich, Samuel“, fuhr Mr. Weller fort und wischte sich die Stirn, „bestimmt nich.“

„Ich dachte, du wolltest doch selber reden“, entgegnete Sam, „wie konnte ich denn da wissen, ob du nich schon fertig warst?“

„Du hättest doch sehen müssen, daß ich nich in Schwung kam“, erwiderte der Alte. „Ich bin ebend auf die falsche Straßenseite geraten und in Gräben und allerhand Deubeleien gefallen und du streckst nich mal die Hand aus und hilfst mir. Ich schäme mich für dich, Samuel.“

„Die Sache ist die, Sir“, begann Sam mit einer leichten Verbeugung, „mein Vater hat sein Geld flüssiggemacht.“

„Sehr gut, Samuel, sehr gut“, lobte Mr. Weller und nickte zufrieden, „ich habe es nich so böse gemeint, Sammy. Sehr gut. So mußt de anfangen; denn bist de gleich am Ziel. Sehr gut, wahrhaftig, Samuel.“

„Setz dich doch, Sam“, unterbrach Mr. Pickwick, fürchtend, die Zusammenkunft könnte leicht länger werden, als er erwartet hatte.

Sam verbeugte sich abermals, setzte sich und fuhr fort: „Der Alte hat fünfhundertunddreißig Fund losgeeist.“ „Reduzierte Konsols“, ergänzte Mr. Weller senior. „Das hat nun nichts zu sagen, ob es reduzierte Konsols sin oder nich“, sagte Sam, „fünfhundertdreißig Fund is die Summe, oder nich?“

„Stimmt genau, Samuel.“

„Zu dieser Summe kommt noch „n bißchen was für das Haus und Geschäft …“

„Mietzins, Vergütung, Kapital, Niet- und Nagelfestes“, erklärte Mr. Weller. „Jedenfalls so viel, daß die Summe im ganzen elfhundertachtzig Fund ausmacht.“

„Was höre ich?“ rief Mr. Pickwick. „Das freut mich; da kann man Ihnen ja gratulieren, Mr. Weller, daß Sie so gut abgeschnitten haben.“

„Warten Sie noch ’ne Minute, Sir“, bat Mr. Weller und hob beschwörend die Hand hoch. „Fahr weiter, Samuel.“

„Und dieses Geld“, sagte Samuel mit einigem Zögern, „dieses Geld möchte er irgendwo unterbringen, wo er weiß, daß es sicher is, und ich möchte es auch, denn wenn er es behält, denn wird er es entweder verpumpen oder in Pferde stecken, oder seine Brieftasche mal verlieren, oder es sich auf die eine oder andre Art abluchsen lassen.“

„Sehr gut, Samuel“, lobte Mr. Weller wieder. „Sehr gut.“

„Und aus diesen Gründen“, fuhr Sam fort und stierte nervös auf seine Hutkrempe, „aus diesen Gründen hat er nu heute sein Geld mitgenommen und is mit mir hierhergekommen, weil er letzten Endes … weil er es Ihnen anbieten, oder mit anderen Worten, weil … ähem …“

„Um folgendes zu sagen“, fiel der alte Mr. Weller ungeduldig ein, „daß ich das Geld nich brauchen kann. Ich habe im Sinn, daß ich wieder ’ne regelmäßige Postkutsche fahren will, und ich hab keinen Ort, wo ich es aufbewahren kann, außer wenn ich den Kondukteur dafür bezahlen tue, daß er darauf aufpaßt, oder ich stecke es in den Kutschkasten und denn is es nu wieder ’ne Versuchung für die Innenpassagiere. Wenn Sie es mir aufbewahren würden, Sir, denn würde ich Ihnen sehr verbunden sein. Vielleicht“, setzte er hinzu, trat näher an Mr. Pickwick heran und flüsterte ihm ins Ohr, „vielleicht wäre Ihnen ’n bißchen damit gedient, von wegen Ihre Prozeßkosten; mit ‚m Zurückzahlen isses halb so wild, bis ich mal draufkomme.“

Mit diesen Worten legte Mr. Weller die Brieftasche in Mr. Pickwicks Hände, ergriff seinen Hut und rannte mit einer Geschwindigkeit zur Tür hinaus, die man von einem so wohlbeleibten Herrn kaum erwartet hätte.

„Halt ihn fest, Sam!“ rief Mr. Pickwick aufgeregt. „Eile ihm nach und bring ihn augenblicklich zurück. Mr. Weller! Heda! Kommen Sie zurück!“ Sam sah ein, daß den Befehlen seines Herrn der Gehorsam nicht verweigert werden durfte, ergriff daher seinen Vater am Arm, als er gerade die Treppe hinab wollte, und schleppte ihn mit Gewalt wieder zurück.

„Mein lieber Freund“, sagte Mr. Pickwick und faßte den alten Herrn bei der Hand. „Wirklich, Ihr Vertrauen rührt mich.“

„Ich sehe aber ganz und gar nicht den Grund ein“, erwiderte Mr. Weller verstockt.

„Und ich versichere Ihnen, mein lieber Freund, ich besitze mehr Geld, als ich jemals bedarf, weit mehr, als ein Mann in meinem Alter je noch verbrauchen kann“, sagte Mr. Pickwick.

„Niemand weiß, wieviel er brauchen kann, bis er’s probiert hat“, belehrte Mr. Weller.

„Mag sein“, gab Mr. Pickwick zu. „Da ich aber durchaus keine Lust habe, solche Experimente anzustellen, so werde ich wahrscheinlich nicht leicht in Not kommen. Ich muß Sie aber bitten, Ihre Brieftasche wieder zurückzunehmen, Mr. Weller.“

„Na gut“, brummte Mr. Weller mit sehr unzufriedenem Blick. „Aber merk dir, was ich dir sage, Sammy; ich werde mit dem Gelde da was Verzweifeltes anfangen, was ganz Verzweifeltes!“

„Laß das lieber bleiben“, riet Sam.

Mr. Weller besann sich eine Weile, knüpfte dann mit großer Entschiedenheit seinen Rock zu und sagte: „Ich werde mir ’n Schlagbaum pachten.“ „Was?“ rief Sam.

„’n Schlagbaum“, murmelte Mr. Weller durch die Zähne, „ich werde Schlagbaumwärter werden. Nimm Abschied von deinem Vater, Samuel; ich widme mir für den Rest meiner Tage ’nem Schlagbaum.“

Diese Drohung lautete so schrecklich, und Mr. Weller schien so fest entschlossen, sie auszuführen, und durch Mr. Pickwicks Weigerung dermaßen gekränkt zu sein, daß der Gelehrte nach kurzem Bedenken sagte:

„Nun gut, Mr. Weller, ich will das Geld annehmen. Ich kann vielleicht mehr Gutes damit tun als Sie.“

„Ganz meine Meinung“, rief Mr. Weller strahlend, „‚türlich können Sie das. Herr – ich – hm.“

„Gut, sprechen wir nicht mehr davon“, sagte Mr. Pickwick und verschloß die Brieftasche in sein Pult, „ich bin Ihnen herzlich verbunden, mein lieber Freund. Jetzt aber setzen Sie sich wieder, ich möchte Sie nämlich um Ihren Rat fragen.“

Das triumphierende innerliche Lachen, das nicht nur Mr. Wellers Gesicht, sondern auch seine Arme, Beine und seinen ganzen Leib krampfhaft zusammengezogen hatte, während die Brieftasche eingeschlossen wurde, wich plötzlich der würdevollsten Gravität, als er diese Worte hörte. „Sam, warte draußen ein paar Minuten“, befahl Mr. Pickwick.

Sam zog sich sogleich zurück.

Mr. Weller blickte höchst weise und verwundert drein, und Mr. Pickwick begann folgendermaßen:

„Sie sind, glaube ich, kein Anhänger des Ehestandes?“

Mr. Weller schüttelte den Kopf. Er schien der Sprache gänzlich beraubt zu sein, und unbestimmte Befürchtungen, irgendeiner ruchlosen Witwe könnten Pläne auf Mr. Pickwick geglückt sein, lahmten seine Zunge.

„Haben Sie vielleicht zufällig ein junges Mädchen unten gesehen, als Sie mit Ihrem Sohn heraufkamen?“

„Ja. Ich hab da so ’n junges Ding gesehen“, erwiderte Mr. Weller kurz.

„Was halten Sie von ihr? Aufrichtig gesprochen, Mr. Weller, wie gefiel sie Ihnen?“

„Ich glaube, sie war recht stramm und gut gebaut“, sagte Mr. Weller mit ernster Kennermiene.

„Ja, das ist sie. Ein hübsches Mädchen. Und wie hat Ihnen ihr Benehmen gefallen, soviel Sie von ihr gesehen haben?“

„Hm, sehr angenehm“, erwiderte Mr. Weller, „sehr angenehm und komformabel.“

„Ich interessiere mich sehr für sie, Mr. Weller“, platzte Mr. Pickwick heraus.

Mr. Weller hustete.

„Das heißt“, fuhr Mr. Pickwick fort, „ich interessiere mich insofern für sie, daß ich wünsche, es möchte ihr noch mal gut gehen. Sie verstehen mich?“

„Vollkommen“, erwiderte Mr. Weller, der noch immer nicht im mindesten begriff.

„Diese junge Person“, fuhr Mr. Pickwick fort, „ist in Ihren Sohn verliebt.“

„In Samuel Weller?“

„Ja.“

„’s is ja natürlich“, meinte Mr. Weller nach einigem Nachdenken, „’s is ja natürlich, aber doch recht beunruhigend. Sammy soll sich nur in acht nehmen.“

„Wieso?“

„Na, er muß sich sehr in acht nehmen, daß er nichts zu ihr sagt, damit daß er sich nich in ein unschuldigen Augenblick verleiten läßt, was vorzubringen, was zu eine Klage wegen Eheversprechen führen kann. Man is bei die Weibsbilder nie sicher, Mr. Pickwick. Wenn sie mal Absichten auf einen haben, denn haben sie einen ruckzuck beim Wickel, ehe man sich versieht. So habe ich mir ja selbst das erstemal verheiratet, Sir, und Sammy war die Folge von das Manöver.“

„Sie ermutigen mich nicht sehr bei dem, was ich sagen will“, bemerkte Mr. Pickwick, „und doch muß es heraus. Diese junge Person ist nicht nur in Ihren Sohn verliebt, Mr. Weller, sondern Ihr Sohn auch in sie.“

„Schön“, sagte Mr. Weller, „das sin ja recht erfreuliche Sachen für mein väterliches Ohr.“

„Ich habe sie bei verschiedenen Gelegenheiten beobachtet“, fuhr Mr. Pickwick fort, ohne von Mr. Wellers letzter Bemerkung weiter Notiz zu nehmen, „und ich hege nicht die mindesten Zweifel darüber. Wenn ich ihnen nun irgendein kleines Geschäft oder dergleichen verschaffen würde, mit dessen Einkünften sie anständig miteinander leben könnten, was würden Sie dazu sagen, Mr. Weller?“

Im Anfang nahm der alte Herr mit allerhand Grimassen den Vorschlag auf, der die Verheiratung eines Menschen bezweckte, der ihm nahestand; als aber Mr. Pickwick näher mit ihm auf die Sache einging und großen Nachdruck auf das Faktum legte, daß Mary doch keine Witwe sei, wurde er allmählich gefügiger und gab schließlich klein bei. Auch war ihm Marys Äußeres ausnehmend nett vorgekommen, und er hatte ihr bereits einigemal sehr unväterlich zugeblinzelt.

Endlich sagte er, es würde ihm schlecht anstehen, sich Mr. Pickwicks Wünschen zu widersetzen, und er werde mit Freuden seinen Rat befolgen, worauf ihn Mr. Pickwick fröhlich beim Worte nahm und Sam wieder hereinrief.

„Sam“, begann er und räusperte sich, „dein Vater und ich haben soeben von dir gesprochen.“

„Ja, von dir, Samuel“, bekräftigte Mr. Weller in nachdrucksvollem Beschützerton.

„Ich bin nicht so blind, Sam“, fuhr Mr. Pickwick fort, „um nicht schon geraume Zeit bemerkt zu haben, daß du gegen das Kammermädchen Mrs. Winkles etwas mehr als freundschaftliche Gefühle hegst.“

„Hörst du, Samuel!?“ rief Mr. Weller in demselben richterlichen Ton wie zuvor.

„Ich hoffe, Sir“, antwortete Sam, „ich hoffe, daß Sie nichts Böses daran finden tun, wenn ein junger Mann seine Augen auf ein junges Frauenzimmer wirft, wo ganz unbestritten hübsch aussieht und sich gut aufführen tut.“

„Ganz gewiß nicht.“

„Nö, nich im geringsten“, stimmte Mr. Weller in freundlichem, aber dennoch würdevollem Ton ein.

„Ich bin“, fuhr Mr. Pickwick fort, „soweit entfernt, an einem so natürlichen Benehmen etwas Unrechtes zu finden, daß ich vielmehr deinen Wünschen in dieser Beziehung entgegenzukommen und sie zu fördern beabsichtige. Ich habe schon mit deinem Vater eine kleine Unterredung darüber gehabt, und da ich den Eindruck habe, daß er meiner Meinung ist…“

„Weil nämlich das Frauenzimmer keine Witwe nich is“, fiel Mr. Weller erläuternd ein.

„Ja, weil das Frauenzimmer keine Witwe ist“, wiederholte Mr. Pickwick lächelnd. „Ich wünsche also, dich von dem Zwang zu befreien, den dir deine gegenwärtige Stellung auferlegt, und dir meine Dankbarkeit für deine Treue und vielen vortrefflichen Eigenschaften dadurch zu beweisen, daß ich dich in den Stand setze, das Mädchen zu heiraten und für dich selbst mit einer Familie ein unabhängiges Leben zu führen. Ich werde stolz darauf sein, Sam“, fügte Mr. Pickwick hinzu, dessen Stimme bisher ein wenig gebebt hatte, jetzt aber ihren gewöhnlichen Ton wieder annahm, „ich werde stolz darauf sein und mich glücklich schätzen, deine künftigen Aussichten im Leben zum Gegenstand meiner dankbaren und ganz besonderen Sorgfalt zu machen.“

Auf einige Augenblicke trat eine kurze Stille ein, dann aber sagte Sam mit etwas leiser und dumpfer, aber fester Stimme:

„Bin Ihnen ungemein verbunn für Ihre Güte, Sir, die Ihnen wieder ganz ähnlich sieht; aber ’s kann nich sein.“

„Kann nicht sein?“ rief Mr. Pickwick erstaunt.

„Samuel!!“ ermahnte Mr. Weller.

„Ich sage, es kann nich sein“, wiederholte Sam in bestimmtem Tone. „Was würde denn aus Ihnen werden, Sir?“

„Du bist ein guter Kerl!“ erwiderte Mr. Pickwick. „Aber die neuerlichen Veränderungen in den Verhältnissen meiner Freunde werden auch meine künftige Lebensweise ganz verändern; überdies werde ich älter und bedarf der Ruhe und Stille. Mein langes Herumziehen wird bald ein Ende haben, Sam.“

„Kann man noch nich so bestimmt wissen“, meinte Sam. „Jetzt denken Sie zwar so, aber wenn’s Ihnen mal wieder anders einfällt, was nich unwahrscheinlich ist, denn Se sin immer noch jugendlich wie ’n Fünfundzwanziger, was sollte dann aus Ihnen werden ohne mir? Nö! Es kann nich sein, Herr, kann einfach nich sein.“

„Sehr gut, Samuel, das is mal vernünftig gesprochen“, lobte Mr. Weller.

„Ich spreche nach langer Überlegung, Sam, und mit der Gewißheit, daß ich mein Wort halten werde“, sagte Mr. Pickwick und schüttelte den Kopf. „Ein neues Arbeitsfeld ist mir erschlossen. Mein Herumziehen hat ein Ende.“

„Tadellos!“ erwiderte Sam. „Das is ja denn gerade der beste Grund, warum Sie immer einen bei sich haben müssen, der wo Ihnen versteht und aufheitert und in gute Laune bringt. Wenn Sie irgendwie ’ne feinere Sorte von Menschen brauchen, auch gut und schön, denn nehmen Sie einen! Aber mit oder ohne Lohn, mit oder ohne Beachtung, mit oder ohne Kost und Logis: Sam Weller, den Sie in dem alten Krug in Borough aufgefischt haben, der bleibt bei Ihnen; da kann kommen, was will, da kann passieren was will und da können irgendwelche Leute noch so mit mir rumfuhrwerken, es is mir alles Wurst.“

Am Schluß dieser Erklärung, die Sam mit großer innerer Bewegung hervorgestoßen hatte, sprang Mr. Weller von seinem Sitz auf, vergaß alle Rücksichten auf Zeit, Ort und Schicklichkeit, schwenkte seinen Hut über dem Kopfe und brach in drei stürmische Hurras aus.

„Mein guter Junge“, sagte Mr. Pickwick, als Mr. Weller, etwas beschämt über seinen Enthusiasmus, sich wieder gesetzt hatte, „du mußt aber das junge Mädchen doch auch bedenken.“

„Tue ich auch, Sir“, sagte Sam. „Ich habe das junge Frauenzimmer bedacht, ich habe mit ihr gesprochen und ihr gesagt, wie meine Lage ist; sie ist bereit, zu warten, bis ich sie heiraten kann, und ich glaube auch, daß sie es tun wird. Und wenn nich, denn is sie ebend nicht das junge Frauenzimmer, für was ich sie halte, und denn lasse ich ihr mit Vergnügen sausen. Sie haben mir schon mal kennengelernt, Sir. Mein Entschluß is gefaßt, und nichts kann ihn jemals ändern.“

Wer hätte gegen solche Gesinnungen ankämpfen können? Mr. Pickwick gewiß nicht. Er empfand in diesem Augenblick mehr Stolz und Wonne über die uneigennützige Anhänglichkeit seiner niedriggestellten Freunde, als zehntausend Freundschaftsversicherungen der vornehmsten Leute in seinem Herzen hätten erwecken können.

Während in Mr. Pickwicks Zimmer diese Unterhaltung vor sich ging, erschien unten ein kleiner alter Herr in schnupftabakfarbenen Kleidern, gefolgt von einem Träger mit einem kleinen Mantelsack – versicherte sich eines Bettes für die Nacht und fragte dann den Kellner, ob eine gewisse Mrs. Winkle hier wohne, eine Frage, die dieser natürlich bejahend beantwortete.

„Ist sie allein?“

„Ich glaube ja, Sir. Ich kann indes ihr Kammermädchen rufen, Sir, wenn Sie …“

„Nein, das braucht es nicht“, wehrte der alte Herr schnell ab. „Führen Sie mich nur in ihr Zimmer, ohne mich anzumelden.“

„Wieso, Sir?“ fragte der Kellner.

„Sind Sie vielleicht taub?“ fragte der kleine alte Herr. „Nicht? Nun, dann hören Sie mich gefälligst an. Können Sie mich jetzt anhören?“

Ja, Sir.“

„Nun gut, dann zeigen Sie mir Mrs. Winkles Zimmer, ohne mich anzumelden.“

Während der kleine Herr diesen Befehl aussprach, ließ er fünf Schilling in die Hand des Kellners gleiten und sah ihn fest an.

„Wahrhaftig, Sir“, stotterte der Kellner, „ich weiß wirklich nicht, Sir, ob…“

„Aha, ich sehe schon, Sie wollen es tun“, unterbrach ihn der kleine alte Herr. „Tun Sie es deshalb lieber gleich, dann sparen wir Zeit.“

Es lag etwas so Ruhiges und Bestimmtes in dem ganzen Benehmen des alten Herrn, daß der Kellner die fünf Schilling einsteckte und ihn ohne weitere Einwendungen die Treppe hinaufführte.

„Dies ist also das Zimmer? Nun, dann können Sie gehen.“

Der Kellner gehorchte und wunderte sich, wer wohl der Fremde sein möge und was er wolle. Der kleine alte Herr wartete, bis er verschwunden war, und klopfte dann an die Tür.

„Herein!“ rief Arabella.

„Hm! Jedenfalls eine hübsche Stimme“, murmelte der kleine alte Herr, „das will aber noch nichts heißen.“

Dann öffnete er die Tür und ging hinein. Arabella, die gerade bei einer Handarbeit saß, erhob sich beim Anblick eines Fremden einigermaßen verwirrt, was ihr indes allerliebst stand.

„Bitte lassen Sie sich nicht stören, Ma’am“, begann der Unbekannte, trat ein und schloß die Tür hinter sich. „Mrs. Winkle, wie ich vermute?“ Arabella neigte den Kopf.

„Mrs. Nathaniel Winkle, die den Sohn des alten Winkle in Birmingham geheiratet hat?“ wiederholte der Fremde und betrachtete Arabella mit sichtlicher Neugierde.

Arabella nickte abermals mit dem Köpfchen und blickte unruhig um sich, halb unentschlossen, ob sie nicht um Hilfe rufen solle.

„Wie ich sehe, habe ich Sie überrascht, Ma’am?“

„Ich kann es nicht leugnen“, erwiderte Arabella, sich immer mehr wundernd.

„Wenn Sie erlauben, nehme ich mir einen Stuhl, Ma’am.“

Der Fremde setzte sich, zog ein Brillenfutteral aus der Tasche, nahm nachlässig sein Augenglas heraus und setzte es auf die Nase.

„Sie kennen mich nicht, Ma’am?“ fragte er und faßte dabei Arabella so scharf ins Auge, daß es ihr unheimlich wurde.

„Nein, Sir“, antwortete sie schüchtern.

„So? Wirklich nicht?“ sagte der alte Herr und schlug sich auf sein linkes Knie. „Ich wüßte allerdings auch nicht, woher Sie mich kennen sollten. Doch kennen Sie vielleicht meinen Namen, Ma’am?“

„Bitte um Entschuldigung“, sagte Arabella und zitterte heftig, obgleich sie kaum wußte, warum. „Darf ich Sie vielleicht um Ihren Namen bitten?“

„Sogleich, Ma’am, sogleich“, sagte der Unbekannte, der seine Augen noch immer nicht von ihrem Gesicht abgewandt hatte. „Sie haben sich doch erst vor kurzem verheiratet, Ma’am?“

„Ja“, erwiderte Arabella kaum hörbar, legte ihre Arbeit beiseite und schien sehr aufgeregt zu werden, da ein Gedanke, der ihr schon vorher gekommen war, sich ihr immer stärker aufdrängte.

„Ohne Ihrem Gatten vorgestellt zu haben, daß es sich geziemt hätte, seinen Vater, von dem er doch abhängig ist, zuerst um Rat zu fragen, nicht wahr?“

Arabella hielt ihr Tuch vor die Augen.

„Ohne sich auch nur die Mühe zu nehmen, durch irgendeine indirekte Anfrage in Erfahrung zu bringen, wie der alte Mann über eine Sache denkt, die ihn natürlich in hohem Grade interessieren muß?“

„Ich kann es nicht leugnen, Sir“, schluchzte Arabella.

„Und ohne Vermögen genug zu besitzen, Ihrem Gatten ein hinlängliches Auskommen zu sichern und ihn für die zeitlichen Vorteile zu entschädigen, die ihm natürlich nicht entgangen wären, wenn er den Wünschen seines Vaters gemäß geheiratet hätte? Knaben und Mädchen nennen dies uneigennützige Neigung, bis sie selbst Knaben und Mädchen haben und dann die Sache in einem ganz andern Lichte betrachten.“

Arabellas Tränen flössen reichlich, als sie zur Entschuldigung anführte, sie sei jung und unerfahren; Liebe allein habe sie zu diesem Schritte verleitet, und sie habe beinahe von Kindheit an des Rates sowie der Leitung ihrer Eltern entbehren müssen.

„Es war unrecht“, sagte der alte Herr in milderem Tone, „sehr unrecht. Es war romantisch, eines Geschäftsmannes unwürdig! Töricht!“

„Es ist meine Schuld, ganz meine Schuld, Sir“, jammerte die arme Arabella.

„Unsinn!“ brummte der alte Herr. „Gewiß war es nicht Ihre Schuld, daß er sich in Sie verliebte. Und doch ist es so“, fügte der alte Herr hinzu und blickte Arabella schalkhaft an, „und doch war es Ihre Schuld; er konnte nicht anders.“

Dieses kleine Kompliment oder die sonderbare Art, wie es der kleine alte Herr vorbrachte, oder sein verändertes Benehmen, das um so vieles freundlicher war als im Anfang – oder all diese drei Umstände zusammen, nötigten Arabella mitten unter ihren Tränen ein Lächeln ab.

„Wo ist denn Ihr Mann?“ fragte der alte Herr schnell, um ein Lächeln zu unterdrücken, das eben sein Gesicht überflog.

„Ich erwarte ihn mit jedem Augenblick. Ich redete ihm zu, heute früh einen Spaziergang zu machen. Er ist sehr niedergeschlagen und unglücklich, weil sein Vater nichts von sich hören läßt.“

„Niedergeschlagen? Geschieht ihm recht.“

„Ich fürchte, er ist es meinetwegen“, sagte Arabella. „Aber glauben Sie mir, ich empfinde es auch sehr schwer, denn ich bin doch allein schuld an seiner gegenwärtigen Lage.“

„Lassen Sie es sich nicht so sehr zu Herzen gehen, meine Liebe“, rief der alte Herr. „Es geschieht ihm ganz recht. Es freut mich – freut mich direkt. Wenigstens soweit es ihn betrifft.“

In diesem Augenblick kamen Fußtritte die Treppe herauf, die der alte Herr und Arabella beide genau zu kennen schienen. Der kleine alte Herr wurde blaß, gab sich indes viel Mühe, ruhig zu erscheinen, und stand auf, als Mr. Winkle ins Zimmer trat.

„Vater!“ rief Mr. Winkle und prallte verblüfft zurück.

„Jawohl“, erwiderte der kleine alte Herr. „Nun, was hast du mir zu sagen?“

Mr. Winkle schwieg.

„Du schämst dich hoffentlich vor dir selbst, was?“

Mr. Winkle sprach immer noch nicht.

„Schämst du dich, oder schämst du dich nicht?“

„Nein, Vater“, erwiderte Mr. Winkle und zog Arabellas Arm unter den seinigen. „Ich schäme mich weder meiner selbst noch meiner Frau.“

„Wirklich nicht!?“ rief der alte Herr ironisch.

„Es tut mir wirklich herzlich leid, etwas getan zu haben, was deiner Neigung zu mir Abbruch tut“, sagte Mr. Winkle, „aber zugleich muß ich erklären, daß ich keinen Grund habe, mich meiner Frau und du ebensowenig dich einer solchen Schwiegertochter zu schämen.“

„Gib mir die Hand, Nathaniel“, lenkte der alte Herr mit veränderter Stimme ein. „Küß mich, mein liebes Kind, du bist in der Tat ein allerliebstes Schwiegertöchterchen.“

Nach wenigen Minuten ging Mr. Winkle auf Mr. Pickwicks Zimmer, kam mit ihm zurück und stellte ihn seinem Vater vor, worauf die beiden alten Herren einander fünf Minuten lang ununterbrochen die Hände schüttelten.

„Mr. Pickwick, ich danke Ihnen aufs herzlichste für all Ihre Freundschaft gegen meinen Sohn“, sagte der alte Mr. Winkle mit seinem offenen, bieder-derben Wesen. „Ich bin ein alter Hitzkopf, und als ich Sie das letztemal sah, war ich etwas ärgerlich und ein wenig überrascht. Ich habe mir inzwischen die Sache überlegt und bin jetzt mehr als zufrieden. Soll ich noch mehr Entschuldigungen vorbringen Mr. Pickwick?“

„Oh, keineswegs“, erwiderte der Gelehrte. „Sie haben getan, was allein noch zur Vollendung meines Glückes fehlte.“

Hierauf folgte wieder ein neuerliches, fünf Minuten lang währendes Händeschütteln, begleitet von einer Unmasse von Komplimenten, die, abgesehen von der darin sich beurkundenden Höflichkeit, auch noch das Gute hatten, wirklich aufrichtig gemeint zu sein.

Sam hatte seinen Vater pflichtgemäß nach Belle Savage begleitet und begegnete auf dem Rückweg im Hof dem fetten Jungen, der ein Billett von Emilie Wardle zu überbringen gehabt hatte.

„Ich sage bloß“, begann Joe, der diesmal ungewöhnlich redselig war, „ich sage bloß, was diese Mary doch für ein hübsches Mädchen ist. Was, Sam? Ich bin ganz verliebt in sie.“

Mr. Weller gab darauf weiter keine Antwort, sondern betrachtete ganz verblüfft über diese Vermessenheit den fetten Jungen einen Augenblick lang, führte ihn dann am Rockkragen bis an die nächste Ecke und entließ ihn mit einem harmlosen, aber durchaus förmlichen Fußtritt und ging dann pfeifend ins Haus.

Vierundfünfzigstes Kapitel


Vierundfünfzigstes Kapitel

In dem der Pickwick-Klub aufgelöst wird und alles zur größten Zufriedenheit endet.

Eine ganze Woche lang nach der glückbringenden Ankunft Mr. Winkles aus Birmingham waren Mr. Pickwick und Sam Weller den ganzen Tag über von Haus abwesend und kehrten erst zum Mittagessen zurück. Sie trugen dabei ein geheimnisvolles, wichtiges Wesen zur Schau, das ihrem Naturell sonst ganz fremd war! Offenbar waren sehr ernste und ereignisschwere Dinge im Zuge. Einige Herren – und unter ihnen Mr. Tupman – waren geneigt, zu glauben, Mr. Pickwick plane eine eheliche Verbindung, aber diese Idee wurde von den Damen aufs entschiedenste verworfen. Andere neigten der Ansicht zu, er trage sich mit einem großen Reiseprojekt und beschäftige sich gegenwärtig mit den Vorbereitungen dazu, allein dies wurde unumwunden von Sam selbst geleugnet, der auf die Kreuz- und Querfragen Marys unzweideutig erklärte, es würden keine neuen Reisen mehr unternommen. Endlich, als sich der ganze Freundeskreis sechs Tage lang mit fruchtlosen Vermutungen das Gehirn zermartert hatte, wurde einhellig beschlossen, Mr. Pickwick zur Erklärung seines Benehmens aufzufordern und ihn offen zu fragen, warum er sich auf diese Art von der Gesellschaft seiner ihn doch so einhellig bewundernden Freunde zurückziehe.

In dieser Absicht lud Mr. Wardle den ganzen Zirkel zum Mittagessen nach Adelphi ein, und das Thema wurde zur Sprache gebracht, als der Wein zweimal die Runde gemacht hatte.

„Wir sind samt und sonders sehr gespannt zu erfahren“, begann der alte Herr, „was wir dir denn zuleide getan haben, daß du dich so gänzlich von uns zurückziehst und immer nur deine einsamen Spaziergänge machst.“

„Möchtest du es wirklich wissen?“ fragte Mr. Pickwick. „Merkwürdig, daß ich gerade heute im Sinn hatte, mich aus freien Stücken darüber auszulassen; gib mir noch ein Glas Wein, und dann will ich deine Neugier befriedigen.“

Der Wein ging mit ungewohnter Schnelligkeit von Hand zu Hand, und Mr. Pickwick fuhr, mit vergnügtem Lächeln in die Gesichter seiner Freunde schauend, folgendermaßen fort:

„Die einschneidenden Veränderungen, die in unserem Kreise stattgefunden haben, ich meine die bereits eingetretene und die nächstdem bevorstehende Hochzeit nebst allem, was notwendig daraus folgen wird, haben mich genötigt, ernstlich an einen künftigen Lebensplan für mich zu denken. Ich habe beschlossen, mich in einer hübschen Gegend in der Nähe von London zur Ruhe zu setzen, und fand da ein Haus, das meinen Wünschen gänzlich entspricht. Ich habe es gemietet und wohnlich eingerichtet, so daß ich kommen und gehen kann, wann ich will. Ich gedenke nun in der nächsten Zeit meinen Einzug zu halten und hoffe, noch manches Jahr in stiller Zurückgezogenheit daselbst zuzubringen, erfreut durch die Gesellschaft meiner Freunde, nach meinem Tode fortlebend in ihrer liebevollen Erinnerung.“

Hier hielt Mr. Pickwick inne, und ein leises Gemurmel erhob sich rings um die Tafel.

„Das Haus, das ich gemietet habe, steht in Dulwich, hat einen großen Garten und liegt in einer der reizendsten Gegenden der Umgebung Londons. Es ist die größte Aufmerksamkeit darauf verwendet worden, es so behaglich wie möglich, vielleicht sogar ein bißchen elegant, einzurichten. Doch darüber sollt ihr selbst urteilen. Sam begleitet mich dahin. Ich habe auf Perkers Vorstellung eine Haushälterin in Dienst genommen – eine sehr alte Person – und werde noch andre Dienerschaft aufnehmen, wenn sie es für nötig hält. Ich möchte nun mein kleines Heim durch eine Festlichkeit, auf der ich unbedingt bestehe, eingeweiht sehen. Wenn mein Freund Wardle nichts dagegen hat, so möchte ich ihn bitten, die Vermählung seiner Tochter in meinem neuen Hause an demselben Tage vollziehen zu lassen, an dem ich Besitz davon nehme. Das Glück junger Leute“, sagte Mr. Pickwick ein wenig bewegt, „war von jeher die größte Freude meines Lebens. Es wird mir das Herz erwärmen, unter meinem eigenen Dach Zeuge des Glücks meiner Freunde zu sein.“

Mr. Pickwick hielt abermals inne, und Emilie und Arabella schluchzten laut.

„Ich habe“, begann Mr. Pickwick aufs neue, „dem Klub sowohl mündliche wie schriftliche Mitteilungen davon gemacht und ihn von meinen Absichten in Kenntnis gesetzt. Er hat während unserer Abwesenheit viel an inneren Zwistigkeiten gelitten, und mein Austritt, verbunden mit noch andern Umständen, hat seine Auflösung herbeigeführt. – Der Pickwick-Klub existiert nicht mehr!“

„Ich werde es niemals bereuen“, setzte Mr. Pickwick mit heiserer Stimme hinzu, „ich werde es niemals bereuen, daß ich mich beinahe volle zwei Jahre hindurch unter verschiedenen Nuancen und Schattierungen des menschlichen Charakters umhergetrieben habe, so töricht meine Abenteuersucht auch vielen erschienen sein mag. Fast mein ganzes früheres Leben war Geschäften und trockenem Gelderwerb gewidmet, jetzt aber bin ich mit zahlreichen Szenen des menschlichen Lebens bekannt geworden, von denen ich früher keine Ahnung gehabt, und ich hoffe, daß sich mein Gesichtskreis dadurch erweitert hat. Wenn ich nur wenig Gutes getan habe, so glaube ich doch, noch weniger Böses getan zu haben, und hoffe, daß meine sämtlichen Abenteuer mir in meinem Lebensabend nur eine Quelle angenehmer und ergötzlicher Erinnerungen sein werden. – Gott segne euch alle!“

Bei diesen Worten füllte und leerte Mr. Pickwick mit bebender Hand sein Glas, und seine Augen wurden feucht, als sämtliche Freunde sich wie ein Mann erhoben und ihm von ganzem Herzen Bescheid taten.

Zur Vermählung Mr. Snodgraß‘ waren nur noch sehr wenige Vorbereitungen erforderlich. Da er weder Vater noch Mutter mehr besaß und während seiner Minderjährigkeit unter Mr. Pickwicks Vormundschaft gestanden hatte, so kannte dieser seine Vermögensverhältnisse aufs genaueste. Wardle war mit seiner Auskunft darüber vollkommen zufrieden, wie denn der gute alte Herr in dieser Zeit, wo er von Heiterkeit und Zärtlichkeit überfloß, fast mit allem zufrieden gewesen wäre; Emilie wurde ein hübsches Nadelgeld ausgesetzt und der vierte Tag bereits zur Vermählung anberaumt – eine Eile, die drei Putzmacherinnen und einen Schneidermeister fast an den Rand der Verzweiflung brachte.

Der alte Wardle nahm am folgenden Tage Postpferde, um seine Mutter nach der Stadt zu bringen. Da er der alten Dame diese Nachricht mit seinem charakteristischen Ungestüm mitteilte, fiel sie augenblicklich in Ohnmacht, kam indes sehr bald wieder zu sich, befahl, das Brokatkleid einzupacken, und fing an, verschiedene Umstände ähnlicher Art, die sich bei der Verheiratung der ältesten Tochter der verstorbenen Lady Tollimglower zugetragen, herzuzählen, womit sie nach drei vollen Stunden noch nicht zur Hälfte fertig war.

Mrs. Trundle mußte ebenfalls von den gewaltigen Vorbereitungen in London in Kenntnis gesetzt werden, und da sie sich in einem delikaten Gesundheitszustand befand, erfolgte die Mitteilung durch Mr. Trundle selbst, damit ihr die Überraschung nicht zu sehr schaden möchte‘. Sie schadete ihr natürlich keineswegs, denn sie schrieb sogleich nach Muggleton, bestellte sich eine neue Haube und ein schwarzes Atlaskleid und erklärte, unter allen Umständen der Hochzeitsfeier beiwohnen zu wollen. Mr. Trundle ließ den Arzt rufen, und dieser sagte, Mrs. Trundle müsse am besten wissen, wie sie sich fühle.

Zu den diversen Aufträgen, die Mr. Wardle bekommen hatte, gehörte auch die Besorgung zweier Briefchen an zwei junge Damen, die als Brautjungfern fungieren sollten und durch diese Einladung in Verzweiflung gerieten, denn sie jammerten, sie hätten nichts anzuziehen. Wie die beiden armen jungen Damen nach London kamen, ob zu Fuß oder zu Wagen oder zu Pferd, ist unbekannt; jedenfalls aber trafen sie vor Wardle ein, und die ersten Leute, die am Hochzeitsmorgen an Mr. Pickwicks Haustür klopften, waren sie – hoch aufgedonnert und zerfließend vor Liebenswürdigkeit.

Sie wurden natürlich aufs herzlichste bewillkommnet, denn Reichtum oder Armut machten keinen Unterschied in Mr. Pickwicks Augen. Die neuen Bedienten waren die Bereitwilligkeit selbst, und Sam befand sich in der unvergleichlichsten Festlaune, und Mary erglänzte in Schönheit und prächtigen Bändern.

Der Bräutigam, der sich schon zwei oder drei Tage vorher im Hause aufgehalten hatte, fuhr stattlich angetan in die Dulwicher Kirche, begleitet von Mr. Pickwick, Ben Allen, Bob Sawyer und Mr. Tupman – Sam Weller nicht zu vergessen, der im Knopfloch eine weiße Bandschleife, ein Geschenk der Dame seines Herzens, trug und überdies in einer neuen, prachtvollen, ausdrücklich für den Tag erfundenen Livree prangte. Dort trafen sich auch Mr. und Mrs. Wardle, Mr. und Mrs. Winkle, Braut und Brautjungfern und Mr. und Mrs. Trundle, und nach beendigter Feierlichkeit rasselten sämtliche Kutschen zum Frühstück nach Mr. Pickwicks Haus, wo sie der kleine Mr. Perker bereits erwartete.

Nachdem sich hier die leichten Wolken des ernsteren und feierlichen Teils der Tagesereignisse zerteilt hatten, erglänzten alle Gesichter vor Freude, und man hörte nichts als Glückwünsche und Lebehochrufe.

Es war prächtig! Der Grasplatz vor dem Hause, der Garten dahinter, das kleine Gewächshaus, das Speise-, das Gesellschafts-, das Rauch- und die Schlafzimmer, vor allem aber das Studierzimmer mit seinen Gemälden, den behaglichen Sesseln, den merkwürdigen Wandschränken, den sonderbar geformten Tischen und zahllosen Büchern nebst seinem großen, freundlichen Fenster, das sich gegen einen hübschen Grasplatz hin öffnete und eine reizende, da und dort mit kleinen in Bäumen fast versteckten Häusern übersäte Landschaft beherrschte, und dann die Vorhänge, die Teppiche, die Stühle und die Sofas – alles so schön, so fein berechnet, so zierlich und so geschmackvoll, daß jedermann sagte, man wisse wirklich nicht, was am meisten Bewunderung verdiene.

Und mitten in all diesem stand Mr. Pickwick, das Gesicht von einem seligen Lächeln umstrahlt, dem das Herz keines Mannes, keiner Frau, keines Kindes widerstehen konnte: er selbst der Glücklichste im ganzen Kreise, immer denselben Leuten wieder und immer wieder die Hände schüttelnd – wenn die seinigen nicht gerade geschüttelt wurden.

Dann wurde das Frühstück serviert. Mr. Pickwick führte die alte Dame, die sehr beredt über das Thema Lady Tollimglower gewesen war, oben an die lange Tafel hin; Wardle setzte sich an das andre Ende, die Freunde reihten sich auf beiden Seiten ein, Sam faßte hinter dem Stuhle seines Herrn Posto, das Gelächter und Geplauder hörten auf, und Mr. Pickwick sprach das Tischgebet, schwieg dann einen Augenblick und blickte rund um sich, und dabei rollten ihm in der Überfülle seines Herzens die Tränen über die Wangen.

Und nun wollen wir von unserm alten Freund Abschied nehmen – in einem jener Augenblicke ungetrübten Glückes, von denen uns, wenn wir sie nur suchen, immerhin einige zur Erheiterung unseres flüchtigen Daseins beschieden sind. Die Erde hat finstere Schatten, aber der Kontrast hebt ihre Lichtseiten um so stärker hervor. Es gibt Leute, die, wie die Fledermäuse und Eulen, bessere Augen für die Finsternis haben als für das Licht; wir, denen solche optischen Fähigkeiten nicht gegeben sind, finden mehr Vergnügen daran, den geträumten Gefährten mancher einsamen Stunden unsern letzten Abschiedsblick zuzuwerfen, wenn der kurze Sonnenschein der Welt über sie hinstrahlt.

*

Es ist das Los der meisten Menschen, die sich in der Welt herumtreiben und es zu einem gewissen Alter bringen, daß sie sich viele wirkliche Freunde erwerben und sie durch den Lauf der Natur wieder verlieren. Es ist das Los aller Autoren oder Dichter, daß sie sich eingebildete Freunde schaffen und sie im Verlauf der Kunst wieder verlieren. Damit ist indes das Maß ihres Unglücks noch nicht erschöpft; man verlangt von ihnen auch noch eine umständliche Erzählung, was aus ihren Gestalten geworden ist.

Wir fügen uns hiermit dieser unbestreitbar bösen Gewohnheit und setzen daher noch einige wenige biographische Notizen über die bei Mr. Pickwick versammelte Gesellschaft hinzu.

Mr. und Mrs. Winkle, von dem alten Herrn vollkommen in Gnaden aufgenommen, bezogen bald darauf ein eigenes neugebautes Haus, nur eine halbe Meile von dem Mr. Pickwicks entfernt. Mr. Winkle wurde der City-Agent oder Stadtkorrespondent seines Vaters, vertauschte sein altes Kostüm mit der gewöhnlichen Kleidung der Engländer und zeigte sich von da an immer als zivilisierter Christ.

Mr. und Mrs. Snodgraß ließen sich in Dingley Dell nieder, wo sie mehr der Beschäftigung als des Gewinns halber ein kleines Gut kauften und bewirtschafteten. Mr. Snodgraß, der bisweilen zerstreut und melancholisch ist, gilt bis auf den heutigen Tag unter seinen Freunden und Bekannten als großer Dichter, obgleich wir nicht finden, daß er je etwas geschrieben hätte, was zu diesem Glauben berechtigen könnte. Übrigens kennen wir viele literarische, philosophische und anderweitige Notabilitäten, deren bedeutender Ruf keinen festeren Boden hat. Mr. Tupman ließ sich, als seine Freunde verheiratet waren und Mr. Pickwick sich zurückgezogen hatte, in Richmond nieder, wo er bis jetzt geblieben ist. In den Sommermonaten geht er beständig auf der Terrasse spazieren, und zwar mit einer jugendlichen Munterkeit, die ihm die Bewunderung aller der zahlreichen ältlichen Damen ledigen Standes gesichert hat, die in der Nähe wohnen. Er hat indes nie wieder einen Heiratsantrag gemacht.

Mr. Bob Sawyer lancierte sich selbst einige Male in die Zeitungen und ging dann, begleitet von Mr. Benjamin Allen, nach Bengalen, beide als wohlbestallte Chirurgen in Diensten der Ostindischen Kompanie. Sie haben vierzehnmal das gelbe Fieber gehabt und sich dann endgültig zu einiger Enthaltsamkeit entschlossen. Seitdem geht es ihnen sehr gut.

Mrs. Bardell vermietete ihr Haus noch an, manchen umgänglichen ledigen Herrn mit großem Profit, hat jedoch seitdem nie wieder wegen gebrochenen Eheversprechens geklagt. Ihre Anwälte, die Herren Dodson und Fogg, betreiben ihr Geschäft noch immer mit gewohnter Rührigkeit, beziehen ein bedeutendes Einkommen daraus und gelten allgemein für die Schlauesten unter den Schlauen.

Sam Weller hielt sein Wort und blieb noch zwei Jahre unverheiratet. Als nach Verfluß dieser Zeit die alte Haushälterin starb, beförderte Mr. Pickwick Mary zu diesem Posten, jedoch unter der Bedingung, Mr. Weller unverweilt zu heiraten, was sie auch ohne Murren tat. Aus dem Umstand, daß am Tore des Gartens hinter dem Hause zu wiederholten Malen ein paar derbe kleine Buben erblickt worden sind, glauben wir schließen zu dürfen, daß Sam Familie hat.

Mr. Weller senior regierte noch zwölf Monate lang eine Postkutsche, bekam dann aber die Gicht, die ihn nötigte, sich zurückzuziehen. Mr. Pickwick hatte den Inhalt seiner Brieftasche so gut für ihn. angelegt, daß er eine recht hübsche jährliche Rente bezieht, von der er gemächlich in einem vortrefflichen Gasthause in der Nähe von Shooters Hill lebt, wo er als ein wahres Orakel verehrt wird, sich gewaltig seiner vertrauten Freundschaft mit Mr. Pickwick rühmt und fortwährend den unüberwindlichsten Widerwillen gegen Witwen hegt.

Mr. Pickwick residiert rastlos in seinem neuen Hause und verwendet seine Mußestunden dazu, seine Memoiren zu schreiben, die er später dem Sekretär des einst so berühmten Klubs mitteilen will, oder sich gelegentlich von Sam Weller vorlesen läßt, dessen Bemerkungen, wie sie sich ihm gerade aufdrängen, niemals verfehlen, Mr. Pickwick großes Vergnügen zu bereiten. Im Anfang wurde er sehr durch die zahlreichen Gesuche der Herren Snodgraß, Winkle und Trundle belästigt, bei ihrer Nachkommenschaft Gevatter zu stehen; allein er hat sich jetzt daran gewöhnt und betrachtet diesen Dienst als eine Sache, die sich nun einmal nicht ändern läßt. Er hat auch niemals Veranlassung gehabt, seine Güte gegen Mr. Jingle zu bereuen, denn sowohl dieser wie Hiob Trotter sind mit der Zeit würdige Mitglieder der menschlichen Gesellschaft geworden, haben aber jede Aufforderung, nach den Schauplätzen ihres früheren Unwesens zurückzukehren, standhaft zurückgewiesen. Mr. Pickwick ist später etwas kränklich geworden, sein Geist aber hat alle seine Jugendfrische behalten, und man sieht ihn noch häufig die Gemälde in der Dulwicher Galerie betrachten oder an schönen Tagen in seiner hübschen Nachbarschaft lustwandeln.

Die Armen in der Gegend kennen ihn alle und ermangeln nie, mit großer Ehrerbietung die Hüte abzuziehen, wenn er vorübergeht; die Kinder vergöttern ihn, und die ganze Nachbarschaft tut es ebenfalls. Alljährlich begibt er sich zu einem großen Familienfest in Mr. Wardles Haus, und wie überallhin, begleitet ihn auch hier der getreue Sam, dessen Anhänglichkeit wohl nur der Tod ein Ende machen wird.

Fünfundvierzigstes Kapitel


Fünfundvierzigstes Kapitel

Handelt von Geschäftsangelegenheiten und dem zeitlichen Vorteil der Herren Dodson und Fogg. Mr. Winkle tritt unter außerordentlichen Umständen wieder auf, und Mr. Pickwicks gutes Herz siegt über seine Hartnäckigkeit.

Hiob Trotter rannte wie besessen Holborn hinauf, bald mitten auf der Straße, bald auf dem Bürgersteig und bald im Rinnstein, je nachdem das Gedränge der Männer, Weiber und Kinder und Wagen abwechselte, und blieb nicht eher stehen, als bis er das Tor von Grays Inn erreicht hatte. Trotz aller seiner Eile war aber das Tor schon seit einer guten halben Stunde geschlossen. Er sah sich daher um und machte endlich Mr. Perkers Waschfrau ausfindig, die mit einer verheirateten Tochter zusammenlebte, die mit ihrer Hand einen auswärtigen Kellner beglückt hatte und ein paar Zimmer bei einer Brauerei wenig hinter Grays Inn Lane bewohnte.

Mr. Lowten mußte aus dem Hinterzimmer der „Elster“ herausgeklopft werden, und Hiob hatte Sam Wellers Botschaft kaum ausgerichtet, als die Glocke zehn Uhr schlug.

„Zu spät“, sagte Lowten. „Sie können nicht mehr zurück. Oder haben Sie vielleicht den Schlüssel?“

„Sorgen Sie sich nicht um mich“, erwiderte Hiob, „ich kann überall schlafen. Aber würde es nicht besser sein, Mr. Perker heute nacht noch aufzusuchen, damit wir morgen in aller Frühe zur Stelle sind?“

„Meinetwegen“, versetzte Lowten nach kurzer Überlegung. „Wenn es sich um irgend etwas andres handelte, so würde Perker über einen so späten Besuch sehr ungehalten sein; da es aber Mr. Pickwick betrifft, so glaube ich wohl einen Wagen nehmen und aufrechnen zu dürfen.“

Nachdem sich Mr. Lowten zu dieser Maßregel entschlossen hatte, nahm er seinen Hut, bat die versammelte Gesellschaft, in seiner Abwesenheit einen andern Präsidenten zu ernennen, steuerte auf den nächsten Droschkenplatz los, wählte den Wagen, dessen Aussehen am meisten versprach, und befahl dem Kutscher, nach dem Montagueplace, Russellsquare, zu fahren.

Mr. Perker gab an diesem Abend ein Souper, wie der Lichterglanz in den Fenstern des Gesellschaftszimmers verriet. Da zufällig einige wertvolle Kunden vom Lande zu gleicher Zeit in die Stadt gekommen waren, so hatte sich zu ihrem Empfang eine vergnügte kleine Gesellschaft zusammengefunden, bestehend aus Mr. Snicks, dem Sekretär der Lebensversicherung, aus Mr. Prosee, dem ausgezeichneten Rechtskonsulenten, aus drei Anwälten, einem Kommissär vom Fallitengericht, einem Advokaten vom Temple, einem kleinäugigen, peremtorischen jungen Herrn, seinem Mündel, der ein scharfes Buch über das Legatengesetz mit einer ungeheuren Menge Randnoten und Zitaten geschrieben hatte, und mehreren anderen hervorragenden Personen. Von dieser Gesellschaft machte sich der kleine Mr. Perker los, als ihm die Ankunft seines Schreibers zugeflüstert wurde, begab sich in das Speisezimmer und traf dort Mr. Lowten und Hiob Trotter beim trüben Dämmerschein eines Küchenlichtes, das der Gentleman, der sich herabließ, gegen vierteljährlichen Lohn in kurzen Plüschhosen und wollenen Strümpfen zu erscheinen, mit gebührender Verachtung für den Schreiber und alle das Geschäft berührenden Dinge auf den Tisch gestellt hatte.

„Nun, Lowten“, sagte der kleine Perker und schloß die Tür hinter sich ab, „was gibt’s? Sind wichtige Briefe angekommen?“

„Nein, Sir. Aber hier ist ein Bote von Mr. Pickwick, Sir.“

„Von Pickwick? Was will er denn?“

„Dodson und Fogg haben Mrs. Bardell wegen der Prozeßkosten verhaften lassen“, sagte Hiob.

„Unmöglich“, rief Perker, steckte beide Hände in die Taschen und lehnte sich rücklings an den Kredenztisch.

„Es ist wirklich so“, bekräftigte Hiob. „Wie es scheint, haben sie sich von ihr unmittelbar nach der Gerichtsverhandlung ein Cognovit für die Prozeßkosten ausstellen lassen.“

„Bei Gott!“ rief Perker, in die Hände klatschend, „das sind doch die gescheitesten Leute, mit denen ich je zu tun gehabt habe.“

„Die schärfsten“, bemerkte Lowten.

„Die schärfsten?“ wiederholte Perker. – „Jaja, allerdings, die schärfsten.“

„Mhm“, erwiderte Lowten, und dann versanken beide, Meister und Geselle, einige Sekunden lang mit belebten Gesichtern in tiefes Sinnen, gleich, als ob sie über eine der schönsten und sinnreichsten Entdeckungen nachdächten, die der menschliche Verstand jemals ausgeklügelt hat. Als sie sich einigermaßen von ihrem träumerischen Bewunderungsanfall erholt hatten, entledigte sich Hiob Trotter des Restes seines Auftrags, und Perker nickte gedankenvoll und zog seine Uhr heraus.

„Schlag zehn Uhr werde ich dort sein“, sagte er. „Sam hat vollkommen recht. Sagen Sie ihm das. Darf ich Ihnen ein Glas Wein anbieten, Lowten?“

„Nein, ich danke Ihnen, Sir.“

„Sie meinen ,ja‘ – denke ich“, sagte das Männchen und wandte sich an den Kredenztisch, um eine Flasche und Gläser zu holen.

Da Lowten wirklich „ja“ meinte, verlor er kein Wort mehr über die Sache, sondern fragte Hiob mit hörbarem Flüstern, ob das gegenüber vom Kamin hängende Porträt Perkers nicht zum Sprechen ähnlich sei, worauf Hiob natürlich bejahte. Inzwischen war der Wein eingeschenkt, und Lowten trank auf die Gesundheit Mrs. Perkers und ihrer Kinder und Hiob auf das Wohlsein des Herrn Anwalts.

Da der Gentleman in den kurzen Plüschhosen und wollenen Strümpfen es nicht für seine Amtspflicht hielt, den Leuten hinauszuleuchten, mußten beide ihren Weg selbst suchen. Der Advokat verfügte sich in sein Besuchszimmer, der Schreiber in die „Elster“, und Hiob ging auf den Covent-Garden-Markt, um die Nacht in einem leeren Gemüsekorb zu verbringen.

Pünktlich zur bestimmten Stunde klopfte am andern Morgen der aufgeräumte kleine Anwalt an Mr. Pickwicks Tür. Sam Weller öffnete sofort. „Mr. Perker, Sir“, meldete er den Besuch Mr. Pickwick, der gedankenvoll am Fenster saß. „Sehr erfreut, daß Sie gelegentlich auch mal nach uns sehen, Sir. Ich glaube, der Gouvernör möchte gern ’n paar Worte mit Ihnen sprechen.“ Perker wechselte einen Blick des Einverständnisses mit Sam, womit er ihm bedeuten wollte, er verstehe, daß er nicht sagen solle, man habe nach ihm geschickt, winkte ihn dann näher zu sich und flüsterte ihm ein paar Worte ins Ohr.

„Nich möglich!“ rief Sam und prallte mit äußerster Überraschung einige Schritte zurück. Perker nickte und lächelte.

Mr. Samuel Weller blickte erst ihn, dann Mr. Pickwick, dann die Stubendecke, dann wieder Mr. Perker an, grinste, lachte laut auf, nahm endlich seinen Hut vom Nagel und verschwand ohne weitere Erklärung.

„Was soll das alles bedeuten?“ fragte Mr. Pickwick verwundert. „Was hat Sam in diese Aufregung versetzt?“

„O nichts, nichts“, erwiderte Perker. „Kommen Sie, mein lieber Herr, rücken Sie Ihren Stuhl an den Tisch. Ich habe viel mit Ihnen zu sprechen.“

„Was sind das für Papiere?“ fragte Mr. Pickwick, als der kleine Advokat ein mit roter Schnur zusammengebundenes Paket Dokumente auf den Tisch legte.

„Die Papiere in Sachen Bardell kontra Pickwick“, erwiderte Perker, den Knoten mit den Zähnen öffnend.

Mr. Pickwick stieß mit dem Stuhl auf den Boden, warf sich dann hinein, faltete die Hände und blickte seinen Rechtsfreund grimmig an – wenn er überhaupt grimmig blicken konnte.

„Sie hören diesen Namen nicht gern?“ meinte der kleine Mann, noch immer mit dem Knoten beschäftigt.

„Nein, wahrhaftig nicht.“

„Tut mir leid“, fuhr Perker fort, „aber eben darüber möchte ich mit Ihnen sprechen.“

„Von dieser Sache darf zwischen uns keine Rede mehr sein, Perker“, unterbrach ihn Mr. Pickwick erregt.

„Pah, pah, mein lieber Herr“, sagte der kleine Mann, band das Paket auf und blickte seinen Klienten dabei aus den Augenwinkeln scharf an. „Wir müssen davon sprechen! Ich bin ausdrücklich deswegen hierhergekommen. Sind Sie bereit, mich anzuhören, mein lieber Herr? Es hat keine Eile; wenn es Ihnen nicht genehm ist, so kann ich warten. Ich habe die Zeitungen von heute früh mitgenommen. Sie dürfen nur sagen, wann es Ihnen gefällig ist. – So.“

Mit diesen Worten schlug Mr. Perker ein Bein über das andre und gab sich den Anschein, als begänne er mit großer Ruhe und Aufmerksamkeit zu lesen.

„Gut, gut“, seufzte Mr. Pickwick und lächelte bereits wieder, „sagen Sie also, was Sie zu sagen haben. Ohne Zweifel immer wieder die alte Geschichte?“

„Nur mit einem kleinen Unterschied, mein lieber Herr; mit einem Unterschied. Mrs. Bardell, die Klägerin in Ihrem Prozeß, befindet sich innerhalb dieser Mauern, Sir!“

„Das weiß ich.“

„Sehr gut! Und ohne Zweifel wissen Sie auch, wie sie hierhergekommen ist? Ich meine, aus was für Gründen und auf wessen Verlangen?“

„Ja; wenigstens hat mir Sam davon erzählt“, versetzte Mr. Pickwick mit erkünstelter Gleichgültigkeit.

„Sanas Erzählung“, erwiderte Perker, „ist gewiß vollkommen richtig; wenigstens möchte ich es zu behaupten wagen. Nun gut, mein lieber Herr, die erste Frage, die ich an Sie zu richten habe, ist, ob diese Frau hierbleiben soll?“

„Hierbleiben?!“ wiederholte Mr. Pickwick erstaunt.

„Ja, hierbleiben, mein lieber Herr“, entgegnete Perker, lehnte sich in seinen Stuhl zurück und fixierte seinen Klienten.

„Wie können Sie mich so fragen? Das hängt lediglich von Dodson und Fogg ab. Sie wissen das recht gut.“

„Nein, ich weiß es nicht“, entgegnete Perker fest. „Es hängt mitnichten von Dodson und Fogg ab. Sie kennen die Leute ebensogut wie ich, mein lieber Herr; es hängt einzig und allein nur von Ihnen ab.“

„Von mir?“ rief Mr. Pickwick, sprang hastig von seinem Stuhle auf und setzte sich sofort wieder.

Der kleine Mann klopfte zweimal auf den Deckel seiner Schnupftabaksdose, öffnete sie, nahm eine große Prise, schlug die Dose zu und wiederholte die Worte: „Von Ihnen.

Jaja, mein lieber Herr! Ich sage, ihre schleunige Befreiung oder lebenslängliche Einkerkerung hängt von Ihnen ab, und lediglich nur von Ihnen. Hören Sie mich gefälligst zu Ende, mein lieber Herr, und erhitzen Sie sich nicht so, Sie kommen dadurch nur in Schweiß, und das hilft doch zu nichts. Ich sage“, fuhr Perker fort, „ich sage, daß niemand als Sie die arme Frau aus dieser Höhle des Elends erlösen kann, und daß Sie dies nur können, wenn Sie sämtliche Kosten dieses Prozesses, sowohl die für die Klägerin als für den Beklagten, den Gaunern von Freemans Court, ausbezahlen. – Bitte, lassen Sie mich gefälligst ausreden, mein lieber Herr.“

Mr. Pickwick, dessen Mienen während dieser Rede die überraschendsten Wechsel durchgemacht hatte, stand sichtlich auf dem Punkte, loszubrechen, und hielt sich nur mit Mühe zurück; Perker fuhr, sich wieder durch eine Prise Schnupftabak stärkend, unbeirrt fort:

„Ich habe die Frau heute morgen gesehen. Wenn Sie die Prozeßkosten bezahlende kann Ihnen die Entschädigungssumme gänzlich erlassen werden, und überdies bekommen Sie von ihr – was, wie ich wohl weiß, in Ihren Augen von weit größerer Bedeutung ist, mein lieber Herr – eine freiwillige, eigenhändige Erklärung in der Form eines Schreibens an mich, daß diese Leute, Dodson und Fogg nämlich, an dem ganzen Prozeß schuld sind, indem sie sie verleiteten und durch glänzende Vorspiegelungen dazu veranlaßten; daß sie es ferner aufs tiefste bedauere, sich zum Werkzeug hergegeben zu haben, und daß sie mich dringend ersuchte, in der Sache zu vermitteln und Sie um Verzeihung anzuflehen.“

„Wenn ich die Kosten für sie bezahle!“ rief Mr. Pickwick entrüstet. „Wahrhaftig, eine nette Zumutung!“

„Es ist von keinem ,Wenn‘ mehr die Rede, mein lieber Herr“, sagte Perker triumphierend. „Hier ist das Schreiben. Es wurde mir heute früh um neun Uhr von einer Frau auf mein Büro gebracht, ehe ich noch einen Fuß in dieses Haus gesetzt oder die geringste Unterhandlung mit Mrs. Bardell gepflogen hatte; das kann ich Ihnen auf meine Ehre versichern.“ Und der kleine Advokat suchte den Brief aus dem Paket heraus, legte ihn Mr. Pickwick hin und schnupfte zwei Minuten hintereinander, ohne zu blinzeln.

„Ist das alles, was Sie mir zu sagen haben?“ sagte Mr. Pickwick, ein wenig besänftigt.

„Noch nicht. Ich kann in diesem Augenblick noch nicht sagen, ob die Abfassung des Cognovits, die Natur des Scheinkontrakts und die Aufschlüsse, die wir hinsichtlich des ganzen Vorgehens bei diesem Prozeß bekommen können, hinreichend sein werden, um eine Klage wegen Anstiftung und Betrügerei zu begründen. Ich fürchte, nein, mein lieber Herr; diese Leute sind gar zu schlau. Jedenfalls aber werden sämtliche Tatsachen zusammengenommen mehr als hinreichend sein, Sie in den Augen aller vernünftigen Menschen zu rehabilitieren. Und nun, mein lieber Herr, überlasse ich die Sache ganz Ihnen. Diese hundertfünfzig Pfund, oder was es sein mag, wenn man eine runde Summe annimmt, sind ja doch nichts für Sie! Eine Jury hat gegen Sie entschieden und ihr Ausspruch war ungerecht; allein die Geschworenen haben nun einmal entschieden, wie sie es für recht hielten, und der Spruch ist gegen Sie ausgefallen. Sie haben jetzt Gelegenheit, unter sehr annehmbaren Bedingungen eine weit höhere Stellung in der öffentlichen Meinung einzunehmen, als Sie durch Ihr Hierbleiben jemals erzielen können; denn, glauben Sie mir, mein lieber Herr, jedermann, der Sie nicht kennt, würde es Ihnen als baren, verrückten, lächerlichen und abgeschmackten Eigensinn auslegen. Können Sie noch zögern, diese Gelegenheit zu benutzen, durch die Sie Ihren Freunden, Ihren alten Beschäftigungen und Vergnügungen zurückgegeben werden und ihre Gesundheit wiederherstellen können? – Eine Gelegenheit, die Ihren treuen, anhänglichen Diener, den Sie sonst für die ganze Dauer Ihres Lebens zur Einkerkerung verurteilen, befreit – und vor allem eine Gelegenheit, die Sie instand setzt, eine höchst großmütige Rache zu nehmen, die, wie ich weiß, ganz Ihrem Herzen entspricht – und diese Frau von einem Schauplatz des Elends zu erlösen, wo man nach meiner Ansicht nicht einmal Männer einsperren sollte, geschweige denn Frauen. Ich frage Sie, mein lieber Herr, nicht bloß als Ihr juristischer Beirat, sondern als wohlmeinender treuer Freund, ob Sie die Gelegenheit, alles dies zu erreichen und so viel Gutes zu tun, schießen lassen wollen wegen armseliger paar Pfund, die allerdings in die Tasche zweier Schufte wandern, die dadurch aber nicht glücklicher, vielleicht nur um so habsüchtiger werden, und sich möglicherweise um so eher zu einem Schurkenstreich verleiten lassen werden, der mit ihrem Sturze enden muß? So schwach und unvollkommen ich Ihnen alle diese Rücksichten auch vorgelegt haben mag, mein lieber Herr, so ersuche ich Sie doch, sie in Erwägung zu ziehen und, solange es Ihnen beliebt, darüber nachzudenken. Ich werde geduldig wie ein Lamm Ihrer Antwort harren.“ Ehe Mr. Pickwick noch etwas erwidern konnte und Mr. Perker den zwanzigsten Teil der Prise zu sich genommen hatte, die eine so ungewöhnlich lange Rede gebieterisch erheischte, vernahm man ein leises Gemurmel draußen und sodann ein schüchternes Klopfen an die Tür.

„Mein Gott!“ rief Mr. Pickwick, von den letzten Bemerkungen seines Freundes sichtlich aufgewühlt. „Wie ärgerlich, daß wir gestört werden! Wer ist denn da?“

„Ich, Sir“, erwiderte Sam Weller und steckte den Kopf herein.

„Ich kann dich jetzt nicht brauchen, Sam“, sagte Mr. Pickwick ärgerlich. „Ich bin beschäftigt, Sam.“

„Bitte um Verzeihung, Sir. Aber hier ist eine Dame, wo sagt, sie hat Ihnen ganz besondere Mitteilungen zu machen.“

„Ich kann jetzt keinen Damenbesuch annehmen“, entgegnete Mr. Pickwick, dessen Geist lauter Gestalten wie Mrs. Bardell vorschwebten.

„Das möchte ich doch nich so bestimmt behaupten“, drängte Mr. Weller. „Wenn Sie wüßten, wer hier is, denn würden Sie, schätz ich, aus ner andern Tonart feifen, wie der Habicht sagte, als er das Rotkehlchen um die Ecke singen hörte.“

„Wer ist’s denn?“

„Wollen Sie selbst sehen, Sir?“ fragte Mr. Weller und behielt vorsichtig die Tür in der Hand, als hätte er draußen irgendein merkwürdiges lebendes Tier.

„Nun, so laß sie ein“, sagte Mr. Pickwick mit einem verzweifelten Blick auf Perker.

„Richtig so“, rief Sam. „Jetzt geht der Tanz los! Die Geigen gestimmt, den Vorhang hochgezogen, und herein treten die zwei Verschwörer.“

Dabei riß er die Tür auf, und herein stürmte Mr. Nathaniel Winkle, an der Hand dieselbe junge Dame, die in Dingley Dell die hübschen Pelzstiefelchen getragen hatte und jetzt – eine höchst anmutige Mischung von Erröten, Verwirrung, lila Seide und Spitzenschleierhut – reizender aussah als je.

„Miß Arabella Allen!“ rief Mr. Pickwick und sprang von seinem Stuhle auf.

„Nein“, erwiderte Mr. Winkle und ließ sich auf ein Knie nieder, „Mrs. Winkle. Verzeihen Sie mir, mein teurer Freund, verzeihen Sie mir!“

Mr. Pickwick wollte kaum seinen Augen trauen und würde es vielleicht auch nicht getan haben, hätte nicht das lächelnde Gesicht Perkers sowie die leibliche Anwesenheit Sams und des hübschen Hausmädchens im Hintergrund, die beide die Szene mit der lebhaftesten Befriedigung zu betrachten schienen, jeden Zweifel an der Wirklichkeit ausgeschlossen.

„Ach, Mr. Pickwick“, sagte Arabella mit leiser Stimme, durch das Stillschweigen des alten Herrn beunruhigt, „können Sie mir meine Unklugheit verzeihen?“

Mr. Pickwick antwortete nicht mit Worten, sondern nahm in großer Hast seine Brille ab, umarmte die junge Dame und küßte sie öfter, als unbedingt notwendig gewesen wäre, und sagte dann, fortwährend eine ihrer Hände in der seinigen behaltend, Mr. Winkle sei ein verwünscht frecher Gesell. Er solle übrigens endlich aufstehen. Mr. Pickwick schlug ihm hierauf mehrere Male auf den Rücken und schüttelte dann Perker herzlich die Hand, der, um mit seinen Komplimenten nicht zurückzubleiben, sowohl die junge Frau wie das hübsche Dienstmädchen aufs wärmste begrüßte, und nachdem er Mr. Winkle aus lauter Freundschaft beinahe die Hand aus dem Gelenk gerissen, seine Freudenbezeigungen damit schloß, daß er Schnupftabak genug nahm, um ein halbes Dutzend Leute mit gewöhnlich konstruierten Nasen zeitlebens niesen zu machen.

„Aber mein liebes Kind“, rief Mr. Pickwick endlich, „wie ist denn dies alles zugegangen? Setzen Sie sich zu mir, und erzählen Sie! Wie sie hübsch aussieht, was, Perker?“ setzte er hinzu und blickte dabei Arabella mit so viel Stolz und Wonne ins Gesicht, als ob sie seine eigene Tochter sei.

„Zum Entzücken, mein lieber Herr“, beteuerte der kleine Mann. „Wäre ich nicht selbst schon verheiratet, so könnte es mich anwandeln, Sie zu beneiden, Sie Tausendsasa.“

Bei diesen Worten klopfte er Mr. Winkle auf den Rücken, und beide fingen an, laut zu lachen, doch immerhin nicht so laut wie Mr. Samuel Weller, der seinen Gefühlen soeben dadurch Luft verschafft hatte, daß er hinter der Tür das hübsche Hausmädchen küßte.

„Wahrhaftig, ich kann Ihnen nicht dankbar genug sein, Sammy“, sagte Arabella mit ihrem süßesten Lächeln. „Ich werde Ihre Bemühungen im Garten in Clifton nie vergessen.“

„Sprechen Sie da nich von, Madam“, wehrte Sam ab. „Ich bin bloß der Natur zu Hilfe gekommen, Ma’am, wie der Doktor zur Mutter des Knaben sagte, als er ihm so lange zur Ader gelassen hatte, bis er tot war.“

„Setzen Sie sich doch, liebe Mary“, unterbrach Mr. Pickwick diese Komplimente. „Und nun, wie lange seid ihr denn schon verheiratet?“

Arabella blickte ihren Herrn und Gebieter verschämt an, und dieser erwiderte:

„Erst drei Tage.“

„Erst drei Tage?“ rief Mr. Pickwick. „Aber was habt ihr denn die ganzen drei Monate über getrieben?“

„Jaja“, fiel Perker ein, „rechtfertigen Sie sich nur. Sie sehen, Mr. Pickwick wundert sich darüber, daß Sie nicht schon vor Monaten ans Ziel gekommen sind.“

„Die Sache ging so zu“, erklärte Mr. Winkle mit einem zärtlichen Blick auf seine errötende junge Frau, „ich konnte Bella lange nicht überreden, mit mir durchzugehen, und als es mir endlich gelungen war, wollte sich lange keine Gelegenheit dazu bieten. Auch Mary mußte einen Monat zuvor aufkündigen, ehe sie ihre Stelle verlassen konnte, und ihr Beistand war für uns unbedingt notwendig.“

„Auf mein Wort“, rief Mr. Pickwick, der inzwischen seine Brille wieder aufgesetzt hatte und mit so viel Entzücken seine Blicke von Arabella auf Winkle und von Winkle auf Arabella schweifen ließ, wie ein warmes Herz und freundliche, liebevolle Teilnahme nur einem menschlichen Antlitz mitteilen können, „auf mein Wort, ihr scheint sehr systematisch zu Werke gegangen zu sein. Und weiß Ihr Bruder schon alles, mein liebes Kind?“

„Ach nein, nein“, stammelte Arabella und wechselte die Farbe. „Lieber Mr. Pickwick, er darf es nur von Ihnen – nur aus Ihrem Munde erfahren! Er ist so heftig, so voll von Vorurteilen, und hatte so – so lebhafte Wünsche für seinen Freund, Mr. Sawyer“, fügte sie verschämt hinzu, „daß ich die entsetzlichste Angst vor den Folgen habe.“

„Jaja“, meinte Perker ernsthaft. „Sie müssen diese Sache für sie ausfechten, mein Lieber Herr. Vor Ihnen werden diese jungen Männer Respekt haben, wenn sie schon auf niemand sonst hören; Sie müssen Unglück verhüten, mein lieber Herr. Heißes Blut – heißes Blut!“

„Sie vergessen nur, liebes Kind“, sagte Mr. Pickwick freundlich, „Sie vergessen nur, daß ich ein Gefangener bin.“

„Nein, mein lieber Mr. Pickwick“, erwiderte Arabella, „gewiß nicht. Ich habe es nie vergessen und beständig daran gedacht, wie entsetzlich Sie an diesem abscheulichen Ort leiden müssen. Ich hoffte nur, wozu keine Rücksicht auf Ihre eigne Person Sie bewegen könnte, dazu würden Sie sich vielleicht durch Ihre Wünsche für unser Glück bestimmen lassen. Wenn mein Bruder es von Ihnen zuerst erfährt, so hoffe ich mit Bestimmtheit auf eine Aussöhnung. Er ist mein einziger Verwandter in der Welt, Mr. Pickwick, und wenn Sie nicht für mich sprechen, fürchte ich, daß ich auch ihn noch verlieren werde. – Ich habe unrecht getan – sehr unrecht; ich weiß es wohl“, schluchzte Arabella.

Mr. Pickwick erschütterten schon diese Tränen gewaltig; als aber Mrs. Winkle ihre Augen trocknete und anfing, ihn mit den süßesten Schmeichelworten zu bestürmen, wurde er sehr unruhig und sichtlich in seinem Entschlüsse wankend, wie aus seinem mehrfach wiederholten krampfhaften Reiben an den Brillengläsern, an Nase und Schenkeln, Kopf und Gamaschen hervorging.

Mr. Perker benutzte diese Symptome von Unentschlossenheit und setzte mit juristischer Gewandtheit und Advokatenschlauheit auseinander, wie auch Mr. Winkle senior von dem wichtigen Fortschritt, den sein Sohn auf der Lebensleiter gemacht habe, noch nichts wisse, wie die künftigen Aussichten des Sohnes gänzlich davon abhingen, daß besagter Winkle senior ihn fortwährend mit unverminderten Gefühlen der Liebe und Zuneigung betrachte, was höchst unwahrscheinlich sei, wenn ihm dieses große Ereignis lange geheimgehalten werde; wie ferner Mr. Pickwick, wenn er sich nach Bristol begebe, um Mr. Allen zu besuchen, ebensogut auch nach Birmingham gehen und Mr. Winkle senior aufsuchen könne, zumal dieser ihn mit Recht als Mentor und Ratgeber seines Sohnes betrachte.

So standen die Verhandlungen, als sehr zur gelegenen Zeit Mr. Tupman und Mr. Snodgraß erschienen. Mr. Pickwick wurde geradezu aus allen seinen Entschlüssen hinausdisputiert und –argumentiert, und endlich schloß er Arabella in seine Arme, erklärte, sie sei ein unendlich liebenswürdiges Geschöpf, er habe sie vom ersten Augenblick an außerordentlich liebgewonnen und brächte es nicht übers Herz, ihrem Glück im Wege zu stehen, und sie könnten jetzt mit ihm anfangen, was sie wollten.

Als Mr. Weller von dieser Nachgiebigkeit vernahm, war sein erstes, daß er Hiob Trotter zu dem berühmten Mr. Pell schickte mit der Aufforderung, dem Boten die rechtsgültige Quittung zu übergeben, die sein kluger Vater in den Händen des gelehrten Gentleman zu lassen die Vorschrift gehabt hatte; sein zweites war, daß er seinen ganzen Vorrat an barem Gelde zum Ankauf von fünfundzwanzig Gallonen Porter verwendete, die er eigenhändig auf dem Ballplatz gratis an alle Durstigen ausschenkte. Dann hallote er in den verschiedenen Teilen des Hauses herum, bis er ganz heiser war, und versank endlich wieder in seine philosophische Ruhe und Sammlung.

Um drei Uhr nachmittags warf Mr. Pickwick einen letzten Blick in sein kleines Zimmer und bahnte sich, so gut er konnte, seinen Weg durch den Haufen von Schuldnern, die sich herandrängten, um ihm noch einmal die Hand zu schütteln. In dem ganzen Gedränge bleicher, abgezehrter Gesichter war kein einziges, das er nicht durch seine wohlwollende Teilnahme glücklicher gemacht hätte.

„Perker“, sagte er an der Treppe und winkte einen jungen Mann zu sich, „dies ist Mr. Jingle, von dem ich Ihnen bereits erzählt habe.“

„Sehr wohl, mein lieber Herr“, erwiderte Perker, Jingle scharf ins Auge fassend. „Sie werden mich morgen wiedersehen, junger Mann. Was ich Ihnen mitzuteilen habe, wird Ihnen hoffentlich zeitlebens in Erinnerung bleiben.“

Jingle verbeugte sich ehrerbietig, zitterte heftig, als er Mr. Pickwicks dargebotene Hand ergriff, und wendete sich ab.

„Den Hiob kennen Sie doch?“ fragte Mr. Pickwick.

„Ja, ich kenne den Spitzbuben“, erwiderte Perker heiter. „Seien Sie morgen um ein Uhr auch bereit. – Vergessen Sie’s nicht. – Nun, gibt es sonst noch etwas?“

„Nein“, entgegnete Mr. Pickwick. „Sam, du hast doch das Päckchen abgegeben, das ich dir für deinen alten Stubengenossen gab?“

„‚türlich“, nickte Sam. „Er hat laut aufgeheult und sagte, Sie sind sehr schenerös, daß Sie auch an ihm gedacht haben; er wünschte bloß, daß Sie ihm die galoppierende Schwindsucht hätten einokulieren gekonnt; jetzt, wo sein alter Freund gestorben ist, der wo so lange hier gelebt hat, da kann er sich, meint er, nach keinen neuen mehr umsehen.“

„Der arme, arme Kerl“, seufzte Mr. Pickwick. „Lebt jetzt wohl, meine Freunde, Gott segne euch.“

Die Menge brach in ein lautes Geschrei aus und umdrängte Mr. Pickwick, um ihm nochmals die Hand zu drücken. Aber er nahm Perkers Arm und eilte für den Augenblick weit betrübter und niedergeschlagener aus dem Gefängnis, als er es betreten hatte.

Wie viele unglückliche, trostlose Menschen ließ er dort zurück!

Am nächsten Morgen bestiegen Mr. Pickwick und Sam Weller eine Postkutsche.

„Sir“, rief Sam seinem Herrn zu.

„Ja, Sam“, antwortete Mr. Pickwick und steckte den Kopf aus dem Fenster.

„Ich wünschte, die Pferde da hätten auch gute drei Monate in der Fleet hinter sich, Sir!“

„Weshalb denn, Sam?“

„Na, Sir“, rief Sam und rieb sich die Hände, „was meinen Sie, wie die rennen würden!“

Sechsundvierzigstes Kapitel


Sechsundvierzigstes Kapitel

Mr. Pickwick erweicht mit Hilfe Samuel Wellers das Herz Mr. Benjamin Allens und besänftigt den Zorn Mr. Robert Sawyers.

Mr. Ben Allen und sein Freund saßen in dem kleinen Ambulatorium beisammen, mit Kalbshaschee und künftigen Aussichten beschäftigt, da sich das Gespräch naturgemäß um die Praxis Bobs und seine Hoffnungen drehte, aus dem ehrenwerten Beruf, dem er sich gewidmet, die Mittel zu einer unabhängigen Lebensführung herauszuschlagen.

„Ich meine“, spann Bob Sawyer das Thema fort, „ich meine, Ben, es ist immer noch zweifelhaft.“

„Was ist zweifelhaft?“ fragte Mr. Ben Allen und schärfte seine Verstandeskräfte mit einem Schluck Bier. „Was ist zweifelhaft?“

„Nun, die Aussichten.“

„Ja, so. Ich hatte es schon wieder vergessen“, brummte Mr. Ben Allen. „Hm, ja, allerdings, Bob; sie sind allerdings zweifelhaft.“

„Es ist erstaunlich, wie die Armen des Orts mich begünstigen“, meinte Bob Sawyer nachdenklich. „Sie klopfen mich zu allen Stunden der Nacht aus dem Bett, nehmen Arzneien ein in Quantitäten, daß ich früher so etwas für rein unmöglich gehalten hätte, lassen sich mit einer Beharrlichkeit, die einer besseren Sache würdig wäre, Blasenpflaster und Blutegel setzen und vermehren ihre Familie auf eine wahrhaft erschreckliche Weise. Sechs ‚Störche‘ beehrten mich an einem Tag mit ihrem Vertrauen; denk dir das mal aus, Ben!“

„Doch höchst erfreulich“, knurrte Mr. Ben Allen und hielt seinen Teller hin, um sich noch eine Portion Kalbshaschee geben zu lassen.

„Hm, gewiß. Aber noch erfreulicher wäre mir das Zutrauen von Patienten, die auch einige Schillinge für mich übrig hätten. So habe ich mir’s wenigstens bei Eröffnung des Geschäftes gedacht, Ben. Jetzt besitze ich zwar eine Praxis – eine sehr ausgedehnte Praxis –, aber das ist auch alles.“

„Ich muß dich sobald wie möglich in den Besitz von Arabellas tausend Pfund setzen“, brach Mr. Ben Allen los, legte Messer und Gabel nieder und sah seinen Freund starr an.

„Dreiprozentige Konsols, gegenwärtig auf ihren Namen in das Buch oder die Bücher der englischen Bank eingetragen“, ergänzte Mr. Bob Sawyer feierlich.

„Ganz recht. Sie bekommt sie, sobald sie mündig wird oder heiratet. Mündig wird sie in einem Jahr, und wenn es dir nicht ganz an Mut gebräche, so brauchte sie keinen Monat mehr zu warten, um einen Mann zu haben.“

„Sie ist ein allerliebstes, entzückendes Geschöpf“, erwiderte Mr. Robert Sawyer, „und hat meines Wissens nur einen einzigen Fehler. Nämlich Mangel an Geschmack. Sie kann mich nicht leiden.“

„Ich möchte nur“, stieß Mr. Ben Allen zwischen den Zähnen hervor, „ich möchte nur wissen, ob irgendein Schuft ihr den Kopf verdreht hat. Ich würde ihn, glaube ich, erdolchen, Bob.“

„Und ich würde ihm eine Kugel in den Bauch jagen, wenn ich ihn fände“, sagte Mr. Sawyer, nahm einen langen Schluck Bier und sah dabei giftig über den Rand des Kruges hinüber. „Und wenn das noch nicht genügte, würde ich sie ihm wieder mit der Sonde herausholen und ihn dadurch umbringen.“

Mr. Benjamin Allen starrte seinen Freund einige Minuten lang in düsterem Schweigen an und fragte dann:

„Hast du ihr nie direkt einen Antrag gemacht, Bob?“

„Nein. Hätte keinen Zweck gehabt.“

„So mußt du es tun, bevor du vierundzwanzig Stunden älter bist. Sie soll dich nehmen, oder ich will den Grund wissen, warum sie dich nicht mag. – Ich werde meine ganze brüderliche Gewalt anwenden.“

„Also gut“, sagte Mr. Bob Sawyer, „wir werden ja sehen.“

„“Wir werden allerdings sehen, mein Freund“, erwiderte Mr. Ben Allen grimmig, schnappte einige Sekunden nach Luft und fügte dann mit zornbebender Stimme hinzu: „Du hast sie schon als Kind geliebt, Bob. Hast sie geliebt, als wir noch Schuljungen waren, und damals schon hat sie dich nicht mögen. Erinnerst du dich noch, wie du ihr einmal zwei kleine Kümmelbiskuits und einen Apfel mit Gewalt aufdrängen wolltest?“ „Jaja, ich weiß“, erwiderte Mr. Bob Sawyer. „Sie sagte, ich hätte den Apfel so lange in der Tasche meiner Manchesterhose getragen, bis er ganz warm geworden sei.“

„Hm“, nickte Mr. Ben Allen düster. „Wir beide aßen ihn dann zusammen, jeder abwechselnd einen Biß.“

Bob Sawyer gab mit melancholischem Stirnrunzeln zu verstehen, daß er sich auch dieses Umstandes recht wohl entsinne. – Dann versanken beide einige Zeit in dumpfes Grübeln.

Inzwischen war ein Einspänner, dunkelgrün lackiert und von einem dickköpfigen braunen Gaul gezogen, wie ihn alte Damen zu halten heben, und mit einem sauertöpfisch aussehenden Kutscher auf dem Bock ehrbarlich durch die Straßen Bristols gerollt und hielt vor dem Ambulatorium.

„Martin!“ rief eine alte Dame aus dem vorderen Fenster. „Sag dem Laufburschen, er soll herauskommen und das Pferd halten.“

„Werde ich schon selbst besorgen“, sagte Martin und legte seine Peitsche auf das Kutschendach.

„Nein, nein“, eiferte die alte Dame, „unter keinen Umständen. Deine Zeugenschaft ist von höchster Wichtigkeit, und du mußt unbedingt mit ins Haus kommen. Du darfst während der ganzen Unterredung nicht von meiner Seite weichen. Verstanden?“

„Ja, ich verstehe“, erwiderte Martin.

„Nun gut; auf was wartest du dann noch?“

„Auf nichts“, versetzte Martin und stieg gemächlich vom Rade herab, auf dem er sich mit den Zehenspitzen gewiegt hatte, rief den Jungen in der grauen Livree, öffnete den Wagenschlag, streckte seine in einen dunklen waschledernen Handschuh gehüllte Rechte ins Innere der Kutsche und zerrte seine Herrin wie einen schweren Koffer heraus.

„Ach, du mein Gott“, jammerte die alte Dame, „mir ist angst und bange, Martin; ich zittere an allen Gliedern.“

Mr. Martin hustete hinter seinem waschledernen Handschuh, drückte aber weiter kein Mitgefühl aus und geleitete die Alte in den Laden.

Unmittelbar, nachdem sie eingetreten, waren, stürzten Benjamin Allen und Mr. Bob Sawyer, die inzwischen die geistigen Getränke beiseite geschafft und Ammoniak ausgeschüttet hatten, um den Tabaksgeruch zu übertäuben, voll Entzücken, Freundlichkeit und Zärtlichkeit herein.

„Ach, meine gute Tante“, rief Mr. Ben Allen. „Wie lieb, daß du uns auch einmal besuchen kommst! – Mr. Sawyer – meine Tante! Mein Freund, Mr. Bob Sawyer, von dem ich dir schon erzählt habe; du weißt schon, weswegen, Tante.“

Er fügte, da er sich nicht besonders nüchtern fühlte, flüsternd – wie er meinte, aber immerhin noch laut und vernehmlich genug, daß es alle Anwesenden hören mußten – das Wort „Arabella“ hinzu.

„Mein lieber Benjamin“, begann die alte Dame, die sehr mit Asthma zu kämpfen hatte und am ganzen Leibe zitterte, „erschrick nicht, mein guter Junge; aber ich möchte gern Mr. Sawyer auf einen Augenblick allein sprechen – nur auf einen Augenblick.“

„Bitte sehr“, erwiderte Bob in sehr professionellem Ton. „Hier herein, meine verehrteste Madame. Haben Sie nur keine Angst, Madame. Ich zweifle keinen Augenblick, daß wir Sie in kurzer Zeit vollkommen wiederherstellen werden. Hier, meine teuerste Madame, wenn es Ihnen gefällig ist.“ Er geleitete sie zu einem Stuhl, schloß die Tür und wartete auf die Schilderung der Symptome eines langwierigen, gewinnbringenden Leidens.

Das erste, was die alte Dame tat, war, daß sie sehr oft den Kopf schüttelte und dann zu schluchzen begann.

„Nervös“, sagte Bob Sawyer verbindlich. „Kamphor julep mit Wasser, dreimal täglich, und einen beruhigenden Trank vor dem Schlafengehen.“

„Ich weiß nicht, womit ich beginnen soll, Mr. Sawyer“, keuchte die alte Dame. „Es ist so namenlos peinlich und schmerzlich.“

„Ich weiß schon, was Sie sagen wollen“, beruhigte Mr. Sawyer, „der Kopf.“

„Ach nein, das Herz“, stöhnte die alte Dame schwach.

„Das macht nichts, Ma’am“, erwiderte Bob Sawyer. „Der Magen ist die Hauptsache.“

„Mr. Sawyer!“ rief die alte Dame und richtete sich auf.

„Ohne Zweifel, Ma’am“, unterbrach sie Bob mit weiser Miene, „Arznei zur rechten Zeit würde alles verhütet haben, meine teuerste Madame.“

„Mr. Sawyer!“ rief die alte Dame noch aufgeregter, „Ihr Benehmen gegenüber einer Frau in meiner Lage ist entweder eine Impertinenz oder ein Beweis, daß Sie über den Zweck meines Besuches gänzlich im Irrtum sind. Hätte ich das, was geschehen ist, durch Arzneien oder Vorsicht verhüten können, so hätte ich es gewiß getan. Es ist übrigens am besten, ich wende mich unmittelbar an meinen Neffen“, fügte sie hinzu, nahm voll Entrüstung ihren Pompadour und stand auf.

„Bleiben Sie doch noch einen Augenblick, Ma’am“, bat Bob Sawyer. „Ich fürchte, ich habe Sie mißverstanden. Um was handelt es sich denn, Ma’am?“

„Doch um meine Nichte, Mr. Sawyer, um die Schwester Ihres Freundes.“

„Nun und, Ma’am?“ drängte Bob voll Ungeduld, denn die alte Dame sprach trotz ihrer sichtlichen Aufgeregtheit mit peinigender Langsamkeit.

„Nun und, Ma’am?“

„Sie verließ mein Haus vor drei Tagen, Mr. Sawyer, angeblich, um meine Schwester – eine andre Tante von ihr – zu besuchen, die unmittelbar jenseits des dritten Meilensteins die große Pension hält; dort, wo der große Lindenbaum und das eichene Tor stehen“, erklärte die alte Dame und hielt inne, um sich die Augen zu trocknen.

„Der Teufel hole den Lindenbaum, Ma’am“, fluchte Bob, der in seiner Angst seine Amtswürde ganz vergaß. „Ein bißchen schneller, wenn ich bitten darf; wenden Sie ein wenig mehr Dampf an, Ma’am.“

„Heute morgen“, fuhr die alte Dame langsam fort, „heute morgen ist sie …“

„Zurückgekommen, ohne Zweifel?“ fiel Bob sehr aufgeregt ein. „Zurückgekommen?“

„Nein, zurückgekommen nicht. Sie schrieb.“

„Und was schrieb sie denn?“

„Sie schrieb, Mr. Sawyer – und darauf bitte ich Sie, Benjamin allmählich und vorsichtig vorzubereiten –, sie schrieb, sie sei – ich habe den Brief in meiner Tasche, Mr. Sawyer – aber meine Brille liegt noch im Wagen, und es würde zuviel Zeit kosten, wenn ich Ihnen die betreffende Stelle ohne Brille vorlesen wollte; kurz und gut, Mr. Sawyer, sie schrieb, sie sei … verheiratet.“

„Was!“ sagte oder schrie vielmehr Mr. Bob Sawyer.

„Verheiratet“, wiederholte die alte Dame.

Mr. Bob Sawyer wollte nichts mehr hören; er stürzte aus dem Hinterstübchen in den Laden und rief mit Stentorstimme:

„Ben, Ben, denk dir, sie ist durchgegangen!“

Mr. Ben Allen, der, hinter dem Ladentisch eingeschlummert, den Kopf fast auf den Knien hängen hatte, vernahm kaum diese Schreckensnachricht, als er urplötzlich auf Mr. Martin losstürzte, den schweigsamen Diener an seinem Halstuch faßte und die liebenswürdige Absicht ausdrückte, ihn auf der Stelle zu erwürgen, was er auch sogleich mit der Raschheit, die oft nur die Verzweiflung zu verleihen vermag, und dabei mit großer Kraft und chirurgischer Geschicklichkeit auszuführen begann.

Mr. Martin, ein Mann von wenig Worten und geringer Beredsamkeit, unterwarf sich dieser Operation ein paar Sekunden lang mit sehr ruhigem und heiterem Gesicht; als er aber sah, daß sie schnell zu einem Resultat zu führen drohte, das ihn für alle künftigen Zeiten außerstand setzen würde, Trink- oder Schmerzensgelder oder sonst etwas zu beanspruchen, murmelte er eine unartikulierte Gegenvorstellung und schlug Mr. Benjamin Allen zu Boden. Da dieser jedoch die Halsbinde nicht losließ, blieb ihm keine andere Wahl, als mit ihm hinzufallen, und so kämpften die beiden in liegender Stellung weiter, bis die Ladentür aufging und die Gesellschaft durch die Ankunft zweier höchst unerwarteter Gäste, nämlich der Herren Pickwick und Weller, vermehrt wurde.

Der erste Eindruck, den der Anblick auf Mr. Weller machte, war, daß Mr. Martin von dem Etablissement Sawyer, weiland Nockemorf, offenbar gedungen sei, um starke Arzneien einzunehmen, Anfälle zu bekommen und Experimente mit sich anstellen zu lassen, oder auch, um dann und wann ein Gift zu verschlucken, damit sich die Wirksamkeit einiger neuer Gegengifte an ihm erproben ließe, oder sonst etwas zu tun, was die Wissenschaft fördern und den glühenden Wissensdurst befriedigen könnte, der im Busen ihrer zwei jungen Anhänger brannte. Er machte daher keinen Versuch, sich ins Mittel zu legen, sondern blieb ruhig stehen und sah zu, auf das Ergebnis des Experiments äußerst begierig. Nicht so Mr. Pickwick, der sich sogleich mit seiner gewohnten Energie auf die Kämpfer warf und die Umstehenden laut aufforderte, sie auseinanderzureißen.

Sein Geschrei brachte Mr. Bob Sawyer, der bisher wie gelähmt dagestanden, wieder zu sich, und mit vereinten Kräften wurde Ben Allen wieder auf die Beine gestellt. Mr. Martin, der sich nunmehr allein auf dem Boden liegen sah, stand ebenfalls auf und blickte wild um sich.

„Mr. Allen“, rief Mr. Pickwick, „was gibt es denn hier?“

„Das geht Sie einen Schmarrn an“, brummte Mr. Allen trotzig.

„Was ist denn geschehen?“ wendete sich Mr. Pickwick an Bob Sawyer. „Ist er unwohl?“

Doch ehe dieser noch antworten konnte, ergriff Ben Allen Mr. Pickwicks Hand und murmelte wehmütig:

„Meine Schwester, lieber Mr. Pickwick, meine Schwester!“

„Oh, ist das alles?“ rief Mr. Pickwick. „Nun, das werden wir hoffentlich bald ins reine bringen. Ihre Schwester ist wohl und gesund, und ich bin hier, mein lieber Herr, um …“

„Tut mir leid, die schönen Purrparlehs zu unterbrechen, wie der König sagte, als er das Parlament auflöste“, fiel Mr. Weller ein, der inzwischen durch die Glastür in das Hinterzimmer gespäht hatte, „aber da liegt ’ne ehrwürdige alte Dame auf ‚m Teppich und wartet auf ’ne Sektion oder Galvanisierung oder sonst ’ne andre wissenschaftliche Wiederbelebung.“

„Ach, richtig, ich habe ja ganz vergessen“, rief Mr. Ben Allen. „Es ist meine Tante.“

„’ne sonderbare Lage für ’n Familienmitglied“, bemerkte Sam Weller und hob die alte Dame auf einen Stuhl. „Heda, Vizebeinsäger, ’n Riechfläschchen her!“

Die Aufforderung galt dem Laufburschen in der grauen Livree, der den Einspänner der Fürsorge eines Straßenaufsehers überlassen hatte und hereingeeilt war, um zu sehen, was der Lärm zu bedeuten habe, und seinen und den Bemühungen Mr. Bob Sawyers und Benjamin Allens gelang es endlich, die alte Dame wieder zu Bewußtsein zu bringen. Dann wandte sich Mr. Ben Allen verstört an Mr. Pickwick und fragte ihn, was er habe sagen wollen, als er auf eine so beunruhigende Weise unterbrochen worden sei.

„Wir sind doch lauter gute Freunde hier?“ begann Mr. Pickwick, räusperte sich und ließ seinen Blick nachdenklich auf dem wortkargen Mann mit dem sauertöpfischen Gesicht ruhen.

Dies erinnerte den Wundarzt daran, daß der Bursche in der grauen Livree mit weitaufgerissenen Augen und gespitzten Ohren zuschaute. Nachdem daher der junge angehende Chemiker am Rockkragen in die Höhe gehoben und zur Tür hinausgeworfen worden war, versicherte Bob Sawyer Mr. Pickwick, er könne jetzt ohne Rücksicht sprechen.

„Ihre Schwester, mein teurer Sir“, begann Mr. Pickwick zu Mr. Benjamin Allen gewendet, „befindet sich in London und ist wohl und glücklich.“ „Ich habe nichts mit ihrem Glück zu schaffen, Sir“, wehrte Benjamin Allen mit einer ungeduldigen Handbewegung ab.

„Ich aber habe mit ihrem Gatten zu schaffen, Sir!“ fiel Bob Sawyer ein. „Ich will auf zwölf Schritte mit ihm zu schaffen haben, Sir, mit diesem niederträchtigen Schurken!“

„Halt, Sir!“ rief Mr. Pickwick. „Bevor Sie auf den in Rede stehenden Gentleman solche Epitheta anwenden, erwägen Sie einmal leidenschaftslos den Umfang seiner Schuld, und bedenken Sie vor allem, daß er – ein Freund von mir ist.“

„Was?“ rief Mr. Bob Sawyer.

„Wie heißt er? Wer ist er?“ sehne Ben Allen.

„Mr. Nathaniel Winkle“, erklärte Mr. Pickwick mit Festigkeit.

Benjamin Allen zertrat bedächtig seine Brille mit dem Stiefelabsatz, las die Stücke auf und steckte sie in drei verschiedene Taschen; dann verschränkte er die Arme, biß sich in die Lippen und blickte mit drohender Gebärde in das sanfte Gesicht Mr. Pickwicks.

„Dann haben also Sie, Sir, und niemand anders als Sie diese Verbindung gutgeheißen und womöglich zustande gebracht?“ brachte er endlich heraus.

„Und dann ist es“, fiel die alte Dame ein, „vermutlich der Bediente dieses Herrn gewesen, der um mein Haus herumgeschlichen ist und mein Gesinde zu einer Verschwörung gegen mich zu verleiten suchte. – Martin!“

„Ma’am?“ sagte der sauertöpfische Groom und trat vor.

„Ist dies der junge Mann, den Sie in der Gasse gesehen und von dem Sie mir heute früh erzählt haben?“

Mr. Martin, der, wie bereits erwähnt, ein kurz angebundner, wortkarger Mann war, sah Sam Weller an, nickte mit dem Kopfe und brummte:

„Ja, der ist’s.“

Mr. Weller, der nie stolz war, lächelte freundlich, als seine Augen denen des griesgrämigen Stallknechtes begegneten, und gestand in höflichen Ausdrücken, daß er ihn schon von früher her kenne.

„Und diesen treuen Menschen“, rief Mr. Ben Allen, „hätte ich beinahe erwürgt! Mr. Pickwick, wie konnten Sie es wagen, Ihrem Kerl zu erlauben, daß er sich bei der Entführung meiner Schwester gebrauchen ließ? Ich verlange Aufklärung von Ihnen, Sir.“

„Jaja, erklären Sie sich, Sir“, schrie Bob Sawyer wild.

„Es ist eine Verschwörung!“ sagte Ben Allen.

„Ein hinterlistiger, niederträchtiger Betrug!“

„Eine schändliche Büberei“, bemerkte die alte Dame.

„Ein echtes Bubenstück“, meinte Martin.

„Bitte, hören Sie mich doch an“, flehte Mr. Pickwick, als Mr. Ben Allen in den Stuhl sank, in dem gewöhnlich die Patienten zur Ader gelassen wurden, und seine Zuflucht zu seinem Taschentuch nahm. „Ich war bei der Sache durchaus unbeteiligt, außer daß ich einer Zusammenkunft der beiden jungen Leute beiwohnte, die ich nun einmal nicht verhindern konnte. Und zwar tat ich es in der Überzeugung, daß meine Anwesenheit auch den geringsten Schein von Unschicklichkeit, den die Sache sonst gehabt hätte, beseitigen müßte. Weiter habe ich die Hand nicht im Spiele gehabt. Ich hatte sogar nicht einmal eine Ahnung davon, daß eine so schnelle Verbindung beabsichtigt war. Im übrigen will ich nicht sagen, daß ich sie verhindert haben würde, wenn ich etwas davon gewußt hätte.“

„Sie hören es alle! Sie hören es!“ stöhnte Mr. Benjamin Allen.

„Hoffentlich“, fuhr Mr. Pickwick milde fort, während ihm die Röte ins Gesicht stieg. „Sie hören hoffentlich auch noch, Sir, daß ich Ihnen, nach allen eingezogenen Erkundigungen, versichern muß, daß Sie keineswegs berechtigt waren, den Neigungen Ihrer Schwester einen Zwang anzutun, und sich vielmehr hätten befleißigen sollen, ihr durch freundliches, zärtliches Benehmen alle andern näheren Verwandten zu ersetzen, deren sie von Kindheit an keine gehabt hat. Was meinen jungen Freund betrifft, so erlaube ich mir hinzuzusetzen, daß er in bezug auf Glücksgüter und materielle Verhältnisse zum mindesten auf gleichem Fuße mit Ihnen steht, wo nicht auf einem weit besseren, und daß ich übrigens nichts mehr über die Sache reden werde, wenn sie nicht mit geziemender Mäßigung und dem gebührenden Anstand verhandelt wird.“

„Ich möchte ja auch noch „n paar Bemerkungen machen; nämlich zu die Sache, wo der ehrenwerte Schendlmän vorhin von gesprochen hat“, fiel Mr. Weller ein, „nämlich da hat doch ein Gewisser auf mich ,Kerl‘ gesagt.“

„Das hat nichts mit dieser Sache zu tun, Sam“, verwies Mr. Pickwick. „Sei so gut und schweig.“

„Ich wollte auch weiter nichts sagen“, lenkte Sam ein, „als bloß noch den Klecks: Vielleicht denkt der Schändlmän, daß eine frühere Zuneigung bestanden hat; es is aber durchaus nich der Fall, weil nämlich die junge Dame gleich anfangs bei unserer Bekanntschaft sagte, sie kann ihm nich leiden. Keiner hat ihn ausgestochen, und es wäre ganz egal für ihm gewesen, wenn die junge Dame den Mr. Winkle überhaupt nich gesehen haben würde. Das wollte ich bloß sagen, Sir, und ich hoffe, der Schendlmän wird sich nu beruhigen.“

Auf diese trostreichen Worte Mr. Wellers folgte eine tiefe Stille; dann sprang Mr. Ben Allen von seinem Stuhl auf und schwor, Arabella dürfe ihm nie wieder vor die Augen treten, indes Mr. Bob Sawyer, trotz Sams schmeichelhafter Versicherung, dem glücklichen Nebenbuhler schreckliche Rache gelobte.

Doch gerade in dem Augenblick, als die Sache das feindseligste Aussehen gewann und zu behalten drohte, fand Mr. Pickwick einen mächtigen Beistand an der alten Dame, der die Art, wie er die Sache ihrer Nichte verfochten hatte, offenbar sehr gefiel, und die es daher wagte, Benjamin Allen einige tröstliche Betrachtungen vorzuhalten, worunter die erheblichsten die waren, es sei doch vielleicht gut, daß es nicht noch schlimmer gekommen sei. Bei Licht betrachtet, stünden die Sachen doch nicht gar so böse; geschehene Dinge müsse man eben hinnehmen, und was man nicht abändern könne, darein müsse man sich in Geduld fügen; nebst verschiedenen andern ebenso neuartigen wie auch tröstlichen Versicherungen.

Mr. Benjamin Allen erwiderte bloß, er habe jeden möglichen Respekt vor seiner Tante und vor jedermann; das ändere aber an der Sache nichts, und man müsse ihm schon erlauben, daß er seinem eigenen Kopf folge. Er werde sich das Vergnügen machen, seine Schwester bis zu ihrem Tode und noch über das Grab hinaus zu hassen.

Als er diesen felsenfesten Entschluß wohl noch fünfzigmal beschworen, brauste die alte Dame plötzlich auf, blickte höchst majestätisch um sich und verlangte zu wissen, was sie denn getan habe, um so wenig Ehrerbietung zu verdienen, wo sie doch ihren Neffen seit fünfundzwanzig Jahren, von seiner Geburt angefangen, stets im Auge behalten, noch ehe er einen Zahn im Munde gehabt, nicht zu gedenken ihrer Anwesenheit, als man ihm zum erstenmal das Haar geschnitten, und ihrer tätigen Mitwirkung bei vielen andern Vorgängen und Feierlichkeiten während seiner Kindheit – lauter Dinge, die denn doch wichtig genug seien, um ihre Ansprüche auf seine Liebe und seinen Gehorsam für immer zu begründen. Während die gute Dame solchergestalt Mr. Ben Allen den Text las, hatten sich Mr. Bob Sawyer und Mr. Pickwick in eifriger Unterhaltung in das Hinterstübchen zurückgezogen. Der unglückliche Brautwerber hatte dabei zu wiederholten Malen eine schwarze Flasche angesetzt, und unter deren Einfluß hatten seine Züge allmählich einen vergnügteren und schließlich sogar heiteren Ausdruck gewonnen. Endlich trat er sogar mit der Flasche in der Hand aus der Stube heraus, erklärte, es tue ihm sehr leid, sich so albern benommen zu haben, trank auf die Gesundheit und das Wohlergehen Mr. Winkles und seiner Gattin und sagte, daß er sie nicht nur nicht um ihr Glück beneide, sondern auch der erste sein wolle, der ihnen dazu gratuliere.

Als Mr. Ben Allen dies hörte, sprang er von seinem Stuhl auf, ergriff die schwarze Flasche und trank gleichfalls den Toast so herzhaft, daß er von dem starken Inhalt beinahe ebenso schwarz im Gesicht wurde wie die Flasche selbst. Endlich machte die Bouteille die Runde, bis nichts mehr darin war, und dann gab es ein Händeschütteln und eine allgemeine Beglückwünschung, daß selbst Mr. Martin mit dem steinernen Gesicht sich herabließ, zu lächeln.

„Und jetzt“, rief Bob Sawyer und rieb sich die Hände, „jetzt wollen wir eine lustige Nacht haben.“

„Es tut mir leid“, entschuldigte sich Mr. Pickwick, „daß ich in meinen Gasthof zurückkehren muß, aber ich bin seit längerer Zeit an keine Strapazen mehr gewöhnt, und die Reise hat mich sehr angegriffen.“

„Aber eine Tasse Tee werden Sie doch annehmen, Mr. Pickwick?“ schmeichelte die alte Dame mit gewinnendem Lächeln.

„Danke sehr, aber ich kann wirklich nicht“, lehnte der Gelehrte ab.

In Wirklichkeit war das sichtlich zunehmende Wohlwollen der alten Dame für ihn ein Hauptgrund, zu gehen. Er mußte an Mrs. Bardell denken, und jeder Strahl aus den Augen der Dame brachte ihn in kalten Schweiß.

Da er sich daher unter keinen Umständen bewegen ließ zu bleiben, wurde auf seinen eignen Antrag beschlossen, Mr. Benjamin Allen solle ihn auf seiner Reise zu Mr. Winkle senior begleiten. Die Kutsche werde am nächsten Morgen um neun Uhr vor der Tür stehen. Er nahm sodann Abschied und ging in Begleitung Samuel Wellers nach dem „Busch“ zurück.

Siebenundvierzigstes Kapitel


Siebenundvierzigstes Kapitel

Wie Mr. Pickwick nach Birmingham reiste und Verstärkung an einem höchst unerwarteten Bundesgenossen erhielt.

Am nächsten Morgen pünktlich um drei Viertel auf neun Uhr waren die Pferde angespannt. Mr. Pickwick und Sam Weller nahmen ihre Plätze wieder ein, der eine in der Kutsche, der andre draußen auf dem Hintersitz, und dem Postillion wurde die Weisung erteilt, zunächst vor Mr. Bob Sawyers Hause vorzufahren, um daselbst Benjamin Allen abzuholen.

Als die Kutsche vor der Tür mit der roten Lampe und der ins Auge stechenden Inschrift: „Sawyer, weiland Nockemorf“ anhielt und Mr. Pickwick seinen Kopf zum Fenster hinaussteckte, bemerkte er mit nicht geringer Verwunderung den Jungen in der grauen Livree eifrig beschäftigt, die Läden vor die Fenster zu setzen. Da dies zu so früher Stunde ein höchst ungewöhnliches und für einen Geschäftsmann keineswegs empfehlenswertes Verfahren bedeutete, verfiel Mr. Pickwick sogleich auf die Vermutung, entweder müsse irgendein guter Freund oder Patient Mr. Bob Sawyers gestorben sein oder Mr. Bob Sawyer selbst bankrott gemacht haben.

„Was ist denn geschehen?“ fragte er daher den Jungen.

„Nix, Herr“, erwiderte dieser und grinste von einem Ohr bis zum andern.

„Alles in Ordnung“, rief Bob Sawyer, der plötzlich, mit einem kleinen, magern, schmutzigen ledernen Schnappsack in der Hand und einem groben Überzieher nebst Schal über den Arm geworfen, an der Tür erschien. „Ich komme gleich, alter Freund.“

„Sie?“ rief Mr. Pickwick.

„Ja, ich! Ein Hauptspaß, was?“ sagte Bob, lachte wie toll, warf Sam seinen Reisesack auf den Wagen hinauf und wischte sich mit einem Ärmel seines zottigen Überrocks die Tränen aus den Augen.

„Mein lieber Herr“, wendete Mr. Pickwick ziemlich verlegen ein, „ich erwartete eigentlich nicht, daß Sie uns begleiten würden.“

„Das ist’s ja eben“, lachte Bob. „Das ist ja eben der Spaß. Ich lasse einfach das Geschäft für sich selbst sorgen, da es nun mal für mich nicht sorgen zu wollen scheint.“

Bei dieser Erklärung des Phänomens mit den Fensterläden deutete Bob Sawyer auf sein Ambulatorium und verfiel aufs neue in Lachkrämpfe.

„Sie werden doch nicht so wahnsinnig sein, Ihre Patienten zu verlassen, ohne sie der Pflege eines andern übergeben zu haben?“ stellte ihm Mr. Pickwick in sehr ernstem Ton vor.

„Nun, warum nicht?“ meinte Bob dagegen. „Ich spare dadurch, müssen Sie wissen. Es zahlt ja doch keiner. Zudem“, setzte er hinzu und dämpfte seine Stimme zu vertraulichem Flüstern, „wird es ihnen um kein Haar schlechter gehen; meine Arzneien sind bereits auf der Neige, und da ich gerade jetzt nicht imstande bin, neue Einkäufe zu machen, so müßte ich dem einen wie dem andern nichts wie Kalomel geben.“

In dieser Antwort lag so viel Philosophie und Logik, daß Mr. Pickwick betroffen schwieg und nur noch unentschlossen bemerkte, daß der Wagen bloß zweisitzig sei und er doch Ben Allen mitnehmen müsse.

„Seien Sie meinetwegen ohne Sorgen“, lachte Bob. „Ich habe mir alles genau überlegt; Sam und ich werden den Rücksitz miteinander teilen. Sehen Sie hier: diesen Anschlag hefte ich an die Ladentür: ,Sawyer, weiland Nockemorf. Zu erfragen gegenüber bei Mrs. Cripps.‘ – Mrs. Cripps ist die Mutter meines Burschen. – ,Es tut Mr. Sawyer sehr leid‘, sagt dann Mrs. Cripps, ,aber er wurde heute früh zu einem Konsilium mit den berühmtesten Wundärzten auf das Land geholt – konnten ohne ihn nicht fertig werden – wollten ihn um jeden Preis haben; eine schreckliche Operation.‘ Die Folge davon kann sein“, schloß Bob, „daß die Sache in eines der Lokalblätter kommt und ich ein gemachter Mann bin. Apropos, da kommt Ben. Vorwärts, Ben, hineingesprungen!“

Mit diesen Worten stieß Mr. Bob Sawyer den Postillion auf die Seite, half seinem Freund in den Wagen, warf den Schlag zu, klebte seinen Anschlag an die Haustür, verschloß sie, steckte den Schlüssel in die Tasche, schwang sich auf den äußeren Rücksitz und gab das Signal zum Abfahren, und tat das alles mit so außerordentlicher Schnelligkeit, daß, bevor noch Mr. Pickwick recht zur Besinnung gekommen war, der Wagen bereits davonrollte.

Solange sich die Fahrt auf die Straßen von Bristol beschränkte, behielt der lustige Bob seine grüne Doktorbrille auf der Nase und benahm sich überhaupt mit gebührender Ernsthaftigkeit, wobei er jedoch zum größten Gaudium Mr. Samuel Wellers verschiedene Witze zu reißen nicht unterlassen konnte; als sie jedoch auf die offne Landstraße gelangten, legte er mit seiner grünen Brille auch seine Würde ab und führte eine Menge Spaße aus, die wohl geeignet waren, die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden zu erregen und den Wagen wie die Reisenden selbst zu Gegenständen einer ungewöhnlichen Neugierde und Heiterkeit zu machen. Zu seinen geringsten und noch am wenigsten auffallenden Taten gehörte die lärmende Nachahmung der schrillen Töne eines Klapphorns sowie die prunkvolle Entfaltung eines karmesinroten Taschentuches, das er an seinen Spazierstock band und mit herausfordernden Gebärden gelegentlich in der Luft schwenkte.

„Ich möchte doch wissen“, unterbrach sich Mr. Pickwick mitten in einer höchst gesetzten Unterredung mit Ben Allen, die sich auf die zahlreichen guten Eigenschaften Mr. Winkles und seiner jungen Frau bezog, „ich möchte doch wissen, was die Leute an uns sehen können, daß sie uns alle so anstarren.“

„Na, das kann ich mir ganz gut denken“, erwiderte Ben Allen stolz. „Eine solche Equipage sehen sie eben nicht alle Tage.“

„Möglich“, gab Mr. Pickwick zu, „das könnte sein.“

Er hätte sich sehr wahrscheinlich sogar in die Überzeugung hineinräsoniert, daß es wirklich so sei, hätte er nicht zufällig zum Kutschenfenster hinausgesehen und bemerkt, daß die Blicke der Vorübergehenden keineswegs ehrfurchtsvolle Bewunderung verrieten und daß verschiedene telegrafische Verständigungsmethoden zwischen ihnen und den Personen auf dem Außensitz des Wagens obzuwalten schienen, was ihm sofort klarmachte, diese Demonstrationen müßten irgendeine entfernte Beziehung auf ein gewisses humorvolles Benehmen Mr. Robert Sawyers haben.

„Ich will doch hoffen“, sagte er, „daß unser leichtfertiger Freund sich da draußen nicht etwa auffallend benimmt.“

„Gott behüte“, versicherte Ben Allen. „Bob ist das ruhigste Geschöpf von der Welt, wenn er nicht gerade ein Gläschen zuviel getrunken hat.“ In diesem Augenblick traf eine länger dauernde Nachahmung des Klapphorns, gefolgt von einem lustigen Gejohle, alles offenbar aus der Kehle des „ruhigsten Geschöpfes von der Welt“, ihre Ohren. Mr. Pickwick nahm sofort den Hut ab und lehnte sich beinahe mit dem halben Leib zum Kutschenfenster hinaus, was ihn endlich instand setzte, seines spaßhaften Freundes ansichtig zu werden.

Mr. Bob Sawyer saß, wie es sich zeigte, nicht auf dem Rücksitz, sondern auf dem Kutschendach und hatte seine Beine so weit ausgespreizt, wie es sich nur immer tun ließ. Er hatte Mr. Samuel Wellers Hut schief auf dem Ohr, hielt in der einen Hand ein ungeheures Stück Butterbrot, in der andern eine stattliche strohumflochtene Flasche und sprach beiden mit innigem Behagen abwechselnd zu, wobei er sich die Eintönigkeit seiner Beschäftigung durch ein gelegentliches Geheul oder durch den Austausch einiger lustiger, kurzweiliger Worte mit den nächstbesten Vorübergehenden unterhaltender zu gestalten suchte. Die karmesinrote Flagge war mit großer Sorgfalt an die Lehne des Hintersitzes festgebunden, und Mr. Samuel Weller saß, mit Bob Sawyers Hut geschmückt, im Zentrum desselben, ein zweites Butterbrot bearbeitend, und zwar mit so behaglichem Gesicht, daß seine vollkommene Zustimmung zu der ganzen Anordnung darin geschrieben stand.

Das war genug, um auf die Galle eines Mannes von Mr. Pickwicks Schicklichkeitsgefühl zu wirken; aber es kamen noch mehr erschwerende Umstände hinzu, denn in diesem Augenblick fuhr eine sowohl innen wie außen wohlbesetzte Postkutsche an ihnen vorüber, und die Passagiere gaben ihr Erstaunen auf eine sehr unzweideutige Art zu erkennen. Ebenso unangenehm waren die Gratulationen einer irischen Bettlerfamilie, die mit der Chaise gleichen Schritt hielt, besonders des männlichen Hauptes derselben, das zu glauben schien, es werde hier ein Triumphzug politischer Art gefeiert.

„Mr. Sawyer“ rief Mr. Pickwick daher in großer Aufregung. „Mr. Sawyer! – Sir!“

„Was beliebt?“ fragte Bob mit der größten Kaltblütigkeit von dem Wagendach herunter.

„Sind Sie toll, Sir?“

„Durchaus nicht“, erwiderte Bob, „bloß lustig.“

„Lustig, Sir, nennen Sie das?“ rief Mr. Pickwick. „Nehmen Sie dieses skandalöse rote Tuch da herunter. Ich bitte – ich bestehe darauf. Sam, nimm es weg. – Sofort!“

Ehe noch Sam in Tätigkeit treten konnte, strich jedoch Mr. Bob Sawyer gutwillig die Flagge, steckte sie in die Tasche, nickte Mr. Pickwick freundlich zu, wischte den Mund der Flasche ab und setzte ihn an seinen eigenen, wodurch er Mr. Pickwick ohne allen unnötigen Wortaufwand zu verstehen gab, daß er ihm mit diesem Trunk alles nur erdenkliche Glück und Heil wünsche. Sodann pfropfte er mit großer Sorgfalt die Flasche wieder zu, sah mit holdseliger Freundschaft auf Mr. Pickwick hernieder, tat einen großen Biß in das Butterbrot und lächelte.

„Schon gut“, sagte Mr. Pickwick, dessen augenblicklicher Ärger gegen Bobs unerschütterliche Seelenruhe nicht standzuhalten vermochte, „aber ich bitte, lassen Sie jetzt diese Albernheiten sein, Sir.“

„Ja, das will ich“, erwiderte Bob und gab Mr. Weller seinen Hut zurück, „’s war weiter nicht böse gemeint, aber die Fahrt hat mich so lustig gemacht, daß ich nicht anders konnte.“

„Bedenken Sie nur, was die Leute sagen werden“, stellte ihm Mr. Pickwick vorwurfsvoll vor, „Sie müssen doch auch den Schein wahren.“

„Ja, gewiß“, gab Bob zu, „ich will es nicht wieder tun und midi ganz ruhig verhalten, mein Verehrtester.“

Zufrieden mit dieser Versicherung, zog Mr. Pickwick seinen Kopf wieder zurück und ließ das Fenster herab; kaum aber hatte er die unterbrochene Unterhaltung mit Mr. Allen wieder aufgenommen, als er einigermaßen erschreckt wurde durch das Erscheinen eines kleinen dunklen Körpers von länglicher Gestalt an der Außenseite des Fensters, der wiederholt dagegenschlug, als ob er ungeduldig Einlaß begehrte.

„Was ist denn das?“ rief er erstaunt.

„Sieht aus wie eine Flasche“, meinte Ben Allen und betrachtete den Gegenstand voll Interesse durch seine Brille. „Ich glaube, sie gehört Bob.“

Die Vermutung war vollkommen richtig; denn Mr. Bob Sawyer hatte die Flasche an das Ende seines Stockes gebunden und schlug damit an das Fenster, zum Zeichen, daß er seine Freunde drinnen kameradschaftlich an ihrem Inhalt teilnehmen zu lassen wünschte.

„Was ist da zu tun?“ fragte Mr. Pickwick mit einem Blick auf den länglichen Gegenstand. „Dies Benehmen ist noch weit abgeschmackter als das vorige.“

„Es wird wohl das beste sein“, riet Mr. Ben Allen, „wir nehmen die Flasche herein und behalten sie. Das ist die beste Strafe.“

„Ja, allerdings“, meinte Mr. Pickwick. „Soll ich?“

„Wird sich wohl nichts anderes tun lassen.“

Da der Rat sich vollkommen mit seiner eignen Ansicht deckte, ließ Mr. Pickwick das Fenster leise herab und machte die Flasche von dem Stocke los, worauf dieser wieder hinaufgezogen wurde und man Bob Sawyer fröhlich lachen hörte.

„Ein unglaublich lustiger Bursche“, sagte Mr. Pickwick mit der Flasche in der Hand zu seinem Gefährten. „Man kann ihm nicht böse sein.“

„Nein, schlechterdings nicht“, stimmte Benjamin Allen ein.

Während dieses kurzen Gesinnungsaustausches hatte Mr. Pickwick in der Zerstreutheit den Korken herausgezogen.

„Was ist drin?“ fragte Ben Allen gleichgültig.

„Ich weiß es nicht“, meinte Mr. Pickwick. „Dem Geruch nach scheint es Punsch zu sein.“

„Wahrscheinlich“, bestätigte Ben.

„Es scheint mir wenigstens so“, fuhr Mr. Pickwick, der jederzeit gern bei der Wahrheit blieb, fort. „Gewiß kann ich es zwar nicht zu behaupten wagen, ohne es versucht zu haben.“

„Nun, so tun Sie es“, riet Ben, „dann kommen wir der Sache auf den Grund.“

„Meinen Sie? Nun gut, wenn Sie es gerne wissen möchten, habe ich weiter nichts dagegen.“ – Und stets bereit, seine eigenen Gefühle den Wünschen seiner Freunde unterzuordnen, nahm Mr. Pickwick einen ziemlich langen Schluck.

„Was ist es also?“ forschte Mr. Ben Allen ungeduldig.

„Sonderbar!“ meinte Mr. Pickwick und schmatzte mit den Lippen. „Ich weiß es selbst noch nicht. Doch ja“, fügte er nach einem zweiten Schluck hinzu, „es ist wirklich Punsch.“

Mr. Ben Allen sah Mr. Pickwick an, Mr. Pickwick Ben Allen. Mr. Ben Allen lächelte, Mr. Pickwick hingegen nicht.

„Es würde ihm recht geschehen“, sagte er dann streng, „es würde ihm recht geschehen, wenn wir ihm alles bis auf den letzten Tropfen austränken.“

„Das meine ich auch“, nickte Ben Allen.

„Jaja“, versetzte Mr. Pickwick. „Nun, so lassen Sie uns auf seine Gesundheit trinken.“

Mit diesen Worten nahm der Treffliche einen höchst energischen Schluck und reichte dann Ben Allen die Flasche, der nicht säumte, sein Beispiel nachzuahmen. Das Lächeln wurde gegenseitig und der Punsch allmählich und mit vielem Vergnügen ausgetrunken.

„Bei Licht besehen“, meinte Mr. Pickwick, als er den letzten Tropfen ausschlürfte, „sind seine Possen eigentlich sehr lustig und unterhaltend.“

„Ja, kann man nicht anders sagen“, bekräftigte Mr. Ben Allen.

Und zum Beweis, daß Bob Sawyer einer der drolligsten Burschen sei, die man finden könne, begann er Mr. Pickwick mit einer langen und umständlichen Erzählung zu unterhalten, wie Bob sich einmal ein Fieber an den Hals getrunken und sich dann den ganzen Kopf kahlgeschoren habe – eine wirklich ergötzliche und anmutige Geschichte, deren Vortrag nur durch das Anhalten der Kutsche vor der „Glocke“ in Berkeley Heath unterbrochen wurde, wo die Pferde gewechselt werden sollten.

„Wir werden hier doch natürlich zu Mittag speisen?“ fragte Mr. Sawyer zum Fenster hinein.

„Zu Mittag speisen?“ rief Mr. Pickwick. „Wir haben doch erst neunzehn Meilen zurückgelegt und müssen im ganzen siebenundachtzig und eine halbe machen.“

„Eben deswegen sollten wir uns instand setzen, die Strapazen der Reise zu ertragen“, wendete Bob Sawyer ein.

„Aber es ist ja rein unmöglich, um halb zwölf Uhr zu Mittag zu essen“, stellte Mr. Pickwick vor und sah auf die Uhr.

„Nun, meinetwegen“, versetzte Bob, „so will ich es einen Lunch nennen. Heda, Kellner! Einen Lunch für drei Personen! Die Pferde können noch eine Viertelstunde im Stall bleiben. Man soll alles, was in der Küche ist, auf den Tisch stellen, auch einige Flaschen Ale und euren besten Madeira!“

Die Qualität des Lunchs rechtfertigte vollkommen die Anpreisungen des Kellners, und das Trifolium ließ es sich aufs beste schmecken. Die Flaschen Ale und Madeira waren bald geleert, und als sämtliche Passagiere ihre Sitze eingenommen und Bob die strohumflochtene Flasche mit dem stärksten Punsch, den er in so kurzer Zeit bekommen konnte, angefüllt, erschallte das Klapphorn aufs neue, und die rote Flagge wehte ohne die geringste Einrede von seiten Mr. Pickwicks.

In der „Hopfenstange“ in Tewkesbury wurde Mittag gemacht. Wiederum wurden Ale, ein paar weitere Flaschen Madeira und überdies Portwein getrunken und auch die strohumflochtene Flasche zum vierten Male gefüllt. Unter dem Einfluß dieser vereinigten Stimulantien schlummerten Mr. Pickwick und Mr. Ben Allen dreißig Meilen weit, indes Bob und Mr. Weller auf dem Rücksitz Duette sangen.

Es war schon ganz dunkel, als Mr. Pickwick sich so weit aufraffte, um aus dem Fenster sehen zu können. Die vereinzelten Hütten an der Straße, die tiefen Schatten, aber auch die trübe Atmosphäre und die mit Schmiedekohlenasche und Ziegelmehl bestreuten Wege sowie das tiefrote Glühen der Ofenfeuer in der Ferne, die dicken Rauchwolken, die sich schwerfällig aus den hohen Kaminen wälzten, alles ringsum berußend und verdunkelnd, und schließlich die schweren Wagen, die sich, mit klirrenden Eisenstangen beladen oder mit sonstigen Frachtwaren bis oben angehäuft, langsam auf der Straße hinquälten – alles verkündete ihre schnelle Annäherung an die große Fabrikstadt Birmingham.

Als die Kutsche durch die engen Tore rasselte, die mitten in das Getümmel führten, wurden die Sinne der Herren gewaltsam erweckt durch den Anblick und das Getöse ernster Tätigkeit. Die Straßen waren vollgedrängt von Arbeitern. Lärm drang aus jedem Hause hervor, Lichter glänzten von den langen Fensterflügeln der Dachstöcke her, und das Rumpeln der Räder und das Dröhnen der Maschinen erschütterte die zitternden Wände. Die Feuer, deren trübseligbleicher Schein meilenweit sichtbar gewesen, brannten lodernd in den großen Fabriken und Arbeitshäusern der Stadt. Der Postillion fuhr rasch an den hübschen, hell beleuchteten Läden vorbei, die zwischen den Vorstädten und dem alten Royal-Hotel liegen, ehe noch Mr. Pickwick angefangen hatte, über die höchst heikle Natur des Geschäftes nachzusinnen, das ihn hierhergeführt.

Das Schwierige der Lage wurde durch die freiwillige Mitfahrt Mr. Bob Sawyers keineswegs verringert; im Gegenteil fühlte Mr. Pickwick, daß seine Anwesenheit, so gut gemeint und angenehm sie auch sein mochte, eine Ehre bedeutete, auf die er ganz gern verzichtet hätte.

Er kannte Mr. Winkle senior nicht persönlich und fühlte deutlich, daß, wenn er ihn das erste Mal in Begleitung Bob Sawyers und Ben Allens, die beide etwas benebelt waren, besuchte, dies eben nicht das zweckmäßigste Mittel sein dürfte, ihn zu seinen Gunsten einzunehmen.

„Aber so oder so“, suchte er sich zu beruhigen, „ich muß es so gut machen, wie ich kann. Ich will noch heute abend zu ihm gehen, denn ich habe es heilig versprochen, und wenn die beiden darauf bestehen, mich zu begleiten, so muß ich den Besuch möglichst abkürzen und mich inzwischen mit der Hoffnung begnügen, daß sie sich schon um ihrer selbst willen anständig aufführen werden.“

Während er sich mit solchen Betrachtungen tröstete, hielt der Wagen vor dem „Old Royal“ an. Ben Allen wurde dadurch teilweise aus seinem merkwürdig tiefen Schlafe geweckt und von Mr. Weller am Kragen herausgezogen. Mr. Pickwick war selbst imstande, auszusteigen. Sie wurden in ein behagliches Zimmer gewiesen, und Mr. Pickwick fragte den Kellner sogleich nach Mr. Winkles Wohnung.

Ganz in der Nähe, hieß es. Nicht über fünfhundert Schritte. Mr. Winkle sei Kaimeister am Kanal.

„Bringen Sie auch etwas Sodawasser!“ rief Bob Sawyer dem Kellner nach, frischte damit seine Lebensgeister wieder auf und ließ sich sogar überreden, sich Gesicht und Hände zu waschen und von Sam ausbürsten zu lassen. Dann brachen alle drei Arm in Arm auf, um zu Mr. Winkle senior zu gehen, wobei Bob Sawyer unterwegs die Atmosphäre mit Tabakrauch schwängerte.

Etwa eine Viertelmeile vom Gasthause entfernt, in einer ruhigen, solid aussehenden Straße stand ein altes, aus roten Backsteinen gebautes Haus mit drei Stufen vor der Tür und einer messingnen Platte darüber, die in großen lateinischen Buchstaben das Wort „Winkle“ zeigte.

Die Stufen waren sehr weiß, die Ziegel sehr rot, das Haus sehr niedlich, und Mr. Pickwick, Benjamin Allen und Bob Sawyer standen davor, als die Glocke bereits zehn Uhr schlug.

Ein hübsches Dienstmädchen erschien auf ihr Klopfen und fuhr zurück, als sie die drei Fremdlinge erblickte.

„Ist Mr. Winkle zu Hause, mein liebes Kind?“ fragte Mr. Pickwick.

„Er hat sich soeben zu Tisch gesetzt, Sir“, erwiderte das Mädchen.

„Geben Sie ihm doch gefälligst diese Karte und sagen Sie ihm, es tue mir leid, ihn so spät noch stören zu müssen, allein es liege mir so viel daran, ihn heute nacht noch zu sehen, und ich sei soeben erst angekommen.“

Das Mädchen blickte schüchtern an Mr. Bob Sawyer hinauf, der durch allerhand wunderliche Grimassen seine Bewunderung für ihre persönlichen Reize ausdrückte, warf dann einen besorgten Blick auf die im Gange hängenden Hüte und Überröcke und rief einem andern Mädchen zu, achtzugeben, indes sie hinaufginge. Im Augenblick kehrte sie jedoch zurück, bat die Herren um Entschuldigung, daß sie sie habe auf der Straße warten lassen, und führte sie in einen mit Läufern belegten Warteraum, der halb eine Amtsstube, halb ein Toilettenzimmer zu sein schien. „Es tut mir sehr leid, daß ich Sie vor der Tür hab stehenlassen“, sagte sie nochmals und zündete eine Lampe an, „aber es gibt so viele Landstreicher, die immer was wegfischen wollen, so daß ich wirklich …“

„Sie brauchen sich nicht im geringsten zu entschuldigen, liebes Kind“, unterbrach sie Mr. Pickwick freundlich.

„Nein, durchaus nicht, mein Schätzchen“, setzte Bob Sawyer hinzu, breitete scherzend die Arme aus und hüpfte von einer Seite auf die andre, um sie nicht hinauszulassen.

Die junge Dame ließ sich jedoch durch alle diese Lockungen nicht im mindesten zur Milde stimmen, drückte ein für allemal ihre Meinung dahin aus, Mr. Bob Sawyer sei ein höchst widerwärtiger, unverschämter Mensch, und als er mit seinen Aufmerksamkeiten immer zudringlicher wurde, schlug sie ihm ihre schönen Finger ins Gesicht und rannte unter vielen Ausdrücken der Abneigung und Verachtung aus dem Zimmer.

Nachdem Mr. Bob Sawyer der Gesellschaft der jungen Dame beraubt war, begann er sich die Zeit damit zu vertreiben, daß er in ein Pult hineinschaute, sämtliche Schubfächer durchsuchte, scheinbar Anstalten machte, das Schloß der eisernen Geldkiste aufzudrücken, den Kalender umdrehte, Mr. Winkle seniors Stiefel über seine eigenen anprobierte und mit den andern Hausgerätschaften auch sonst noch allerlei humoristische Experimente anstellte, die Mr. Pickwick mit unaussprechlicher Angst und wahrem Schauder erfüllten, ihn selbst aber ungemein zu ergötzen schienen.

Endlich ging die Tür auf, und herein wackelte, Mr. Pickwicks Karte in der einen Hand und einen silbernen Leuchter in der anderen haltend, ein kleiner alter Herr mit kahlem Kopf und einem Gesicht, das ein getreues Gegenstück zu dem seines Sohnes war.

„Ah, wie befinden Sie sich, Mr. Pickwick?“ begann er sofort, stellte den Leuchter weg und streckte die Hand aus. „Ich hoffe, Sie recht wohl zu sehen. Freut mich sehr. Setzen Sie sich doch, Mr. Pickwick; ich bitte, Sir. Dieser Herr ist –“

„– mein Freund, Mr. Sawyer“, fiel Mr. Pickwick ein, „auch ein Freund Ihres Sohnes.“

„Hm!“ meinte Mr. Winkle senior mit einem ziemlich grämlichen Blick auf Bob. „Sie befinden sich doch wohl, Sir?“

„Wie der Fisch im Wasser“, erwiderte Bob Sawyer.

„Der andere Herr hier“, fuhr Mr. Pickwick fort, „ist, wie Sie aus dem mir anvertrauten Briefe ersehen werden, ein sehr naher Verwandter, oder, ich sollte vielmehr sagen, ein ganz intimer Freund Ihres Sohnes. Er heißt Allen.“

„Dieser Herr da?“ fragte Mr. Winkle, mit der Karte auf Ben Allen deutend, der auf einem Stuhl eingeschlafen war, so daß man nichts von ihm sah als seinen Rücken und seinen Rockkragen.

Mr. Pickwick war im Begriff, die Frage zu beantworten und Mr. Benjamin Allens ehrenwerten Stand und andere ausgezeichnete Eigenschaften lang und breit herzuzählen, als Mr. Bob Sawyer in seinem Mutwillen seinen Freund, um ihn zum Bewußtsein seiner Lage zu bringen, dermaßen in den fleischigen Teil seines Armes kniff, daß er zusammenschrak und mit einem lauten Schrei in die Höhe fuhr. Als er bemerkte, daß ein Unbekannter anwesend war, sprang er auf, schüttelte Mr. Winkle äußerst verbindlich fünf Minuten lang beide Hände, murmelte in einigen halbverständlichen Satzfragmenten sein unendliches Vergnügen, ihn zu sehen, und die gastfreundliche Frage, ob er nicht vielleicht nach seiner weiten Reise eine Erfrischung annehmen wolle oder es vorziehe, bis zum Mittagessen zu warten, setzte sich dann wieder und starrte mit verglasten Augen umher. Dies alles brachte Mr. Pickwick natürlich in die peinlichste Verlegenheit, zumal da Mr. Winkle senior das unverkennbarste Erstaunen über das exzentrische Benehmen seiner zwei Gefährten an den Tag legte. Um der Sache ein schnelles Ende zu machen, zog er einen Brief aus der Tasche und überreichte ihn mit den Worten:

„Hier ist ein Brief von Ihrem Sohne, Sir. Sie werden daraus ersehen, daß sein ganzes Lebensglück und seine ganze fernere Existenz von Ihrer wohlwollenden und väterlichen Erwägung seines Inhalts abhängen. Haben Sie die Güte, ihn ruhig durchzulesen und nachher den Gegenstand in dem Tone und Geist mit mir zu besprechen, in dem dergleichen Dinge allein besprochen werden dürfen. Wie hochwichtig Ihre Entscheidung für Ihren Sohn ist und mit welcher Angst er derselben entgegensieht, mögen Sie daraus schließen, daß ich Ihnen in so später Stunde ohne vorhergegangene Anmeldung und“ – fügte Mr. Pickwick mit einem flüchtigen Blick auf seine zwei Begleiter hinzu – „unter so ungünstigen Umständen meine Aufwartung mache.“

Nach dieser Einleitung legte Mr. Pickwick vier enggeschriebene Seiten extrasuperfeinen flordünnen Briefpapieres in die Hände des erstaunten Mr. Winkle senior, setzte sich sofort wieder auf seinen Stuhl und beobachtete Mienen und Benehmen des Kaimeisters zwar einigermaßen ängstlich, jedoch mit der Offenheit eines Mannes, der sich bewußt ist, nichts getan zu haben, was einer Entschuldigung oder Bemäntelung bedurft hätte.

Der alte Herr drehte den Brief um und um, besah ihn von vorn, von hinten und von der Seite, stellte eine mikroskopische Untersuchung des dicken Bübchens auf dem Siegel an, warf einen durchdringenden Blick auf Mr. Pickwick, setzte sich dann an das Schreibpult, zog die Lampe näher heran, erbrach das Siegel, öffnete den Brief, hielt ihn hoch an das Licht und schickte sich an zu lesen.

Gerade in diesem Augenblick stützte Mr. Bob Sawyer, dessen Witz einige Minuten lang geruht hatte, die Hände auf seine Knie und schnitt ein Gesicht, wie man es ungefähr auf den Porträts des seligen Mr. Grimaldi als Clown sehen kann. Statt daß aber Mr. Winkle senior, wie er meinte, tief im Lesen des Briefes versunken war, blickte er über den Rand desselben hinaus. Da er nun einigermaßen mit Recht schloß, besagte Grimasse habe den Zweck, ihn zu verhöhnen, so heftete er seine Augen mit solch ausdrucksvoller Strenge auf Bob, daß die Züge des seligen Mr. Grimaldi sich allmählich wieder in einen Ausdruck der Demut und Beschämtheit auflösten.

„Haben Sie etwas gesagt, Sir?“ fragte Mr. Winkle senior nach einer unheimlichen Pause.

„Nein, Sir“, erwiderte Bob, der nichts mehr von dem Clown an sich hatte, als einzig und allein die feurige Röte seiner Wangen.

„Sie haben wirklich nichts gesagt, Sir?“

„O nein, ganz gewiß nicht, Sir“, erwiderte Bob.

„Ich meinte doch, Sir“, versetzte der alte Herr mit unwilligem Ausdruck. „Sie haben mich doch angesehen, Sir?“

„Bitte um Verzeihung, Sir; ganz und gar nicht“, erwiderte Bob mit äußerster Höflichkeit.

„Na, das freut mich, Sir“, brummte Mr. Winkle senior, und nachdem er dem gedemütigten Bob mit großer Würde noch einen Zornblick zugeworfen, hielt er den Brief wieder ans Licht und begann mit vielem Ernst zu lesen.

Mr. Pickwick beobachtete ihn mit großer Spannung, als er von der untersten Linie der ersten Seite auf die oberste der zweiten und von der untersten der zweiten auf die oberste der dritten und von der untersten der dritten auf die oberste der vierten überging; aber nicht die geringste Veränderung in seinen Mienen gab ihm einen Schlüssel, mit welchen Gefühlen er die Nachricht von seines Sohnes Verheiratung aufnahm, die, wie Mr. Pickwick wußte, gleich in den ersten sechs Zeilen stehen mußte.

Er las den Brief vielmehr bis zum letzten Wort, legte ihn mit der ganzen Sorgfalt und Pünktlichkeit eines Geschäftsmannes wieder zusammen, und als Mr. Pickwick endlich einen Gefühlsausbruch erwartete, tunkte er seine Feder in das Tintenfaß und sagte so ruhig, als ob es sich um das allergewöhnlichste geschäftliche Ereignis handelte:

„Nathaniels Adresse, Mr. Pickwick?“

„Gegenwärtig ,Georg und Geier‘.“

„,Georg und Geier‘? Wo ist das?“

„George Yard, Lombardstreet.“

„In der City?“

„Ja.“

Der alte Herr schrieb methodisch die Adresse auf den Rücken des Briefes, legte ihn dann in sein Pult, verschloß es und sagte, als er aufstand und den Schlüsselbund in seine Tasche steckte:

„Sie haben ohne Zweifel nichts mehr hinzuzufügen, was uns aufhalten könnte, Mr. Pickwick?“

„Ganz und gar nichts, mein werter Herr“, bemerkte der warmherzige Mann in unmutigem Erstaunen, „ganz und gar nichts! – Aber beliebt es Ihnen nicht vielleicht, Ihre Meinung über dieses wichtige Ereignis im Leben unseres jungen Freundes mir gegenüber auszusprechen? Wollen Sie ihm nicht vielleicht durch mich die Versicherung Ihrer fortdauernden Liebe und väterlichen Unterstützung zukommen lassen? Haben Sie ihm nichts zu sagen, was ihn und die junge Dame, die angstvoll auf Trost und Ermutigung hofft, erfreuen und aufrecht halten könnte. Überlegen Sie es doch, mein werter Herr.“

„Ich werde es mir allerdings überlegen“, antwortete der alte Herr. „Für den Augenblick aber habe ich nichts zu sagen. Ich bin Geschäftsmann, Mr. Pickwick, und lasse mich nie Hals über Kopf über eine Sache aus; aber soweit sie mir jetzt bekannt ist, will sie mir durchaus nicht gefallen. Tausend Pfund ist nicht viel, Mr. Pickwick!“

„Sie haben vollkommen recht, Sir“, fiel Ben Allen ein, der gerade wach genug war, um sich zu erinnern, daß er seine tausend Pfund ohne die geringste Schwierigkeit durchgebracht hatte. „Sie sind ein gescheiter Mann. Bob, der Herr da ist wahrhaftig nicht auf den Kopf gefallen.“ „Ich schätze mich sehr glücklich, daß Sie mir diese Gerechtigkeit widerfahren lassen, Sir“, sagte Mr. Winkle senior mit einem verächtlichen Blick auf Ben Allen, der eben weise den Kopf schüttelte. „Die Sache ist die, Mr. Pickwick: Als ich meinem Sohn die Erlaubnis gab, auf ein Jahr zu reisen und sich in der Welt umzusehen – was er unter Ihren Auspizien getan hat –, damit er nicht wie ein soeben aus der Schule gekommener Gelbschnabel ins Leben treten und sich vom nächsten besten übers Ohr hauen lassen sollte, da habe ich dies durchaus nicht mit in Berechnung gezogen. Er weiß das sehr gut, und wenn ich jetzt die Hand von ihm abziehe, hat er kein Recht, sich zu wundern. Er soll von mir hören, Mr. Pickwick. Gute Nacht, Sir. Margarethe, öffnen Sie die Tür.“

Bob Sawyer hatte die ganze Zeit über seinen Freund mit dem Ellenbogen gestoßen, damit er ein begütigendes Wort einlegen solle, und demgemäß brach jetzt Ben, ohne die geringste Einleitung, in eine Art kurzer, aber nachdrucksvoller Beredsamkeit aus.

„Sir“, sagte er und sah dabei den alten Herrn mit höchst trüben Augen an. „Sir, Sie sollten sich schämen.“

„Als der Bruder der jungen Dame sind Sie natürlich ein vortrefflicher Richter in der Sache“, unterbrach ihn Mr. Winkle senior. „Gut, schon genug. Ich bitte, kein Wort mehr, Mr. Pickwick. Gute Nacht, meine Herren.“

Mit diesen Worten nahm der Alte den Leuchter, öffnete die Tür und bewegte sich gemessen dem Gang zu.

„Sie werden diesen Schritt noch bereuen, Sir“, sagte Mr. Pickwick und biß die Zähne zusammen, um seinen Zorn niederzuhalten, denn er fühlte, wie wichtig dieser Auftritt für seinen jungen Freund sein mußte.

„Ich bin vorderhand andrer Meinung“, erwiderte Mr. Winkle senior kaltblütig. „Noch einmal, meine Herren, ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.“

Mr. Pickwick ging mit zornigen Schritten auf die Straße. Bob Sawyer, durch die Entschiedenheit des alten Herrn gänzlich niedergedrückt, nahm denselben Weg; Mr. Ben Allens Hut war unmittelbar darauf die Treppe hinuntergerollt, und sein Körper folgte sogleich nach. Alle drei gingen dann stumm und ohne Abendessen zu Bett, und Mr. Pickwick sagte sich vor dem Einschlafen, wenn er gewußt hätte, daß Mr. Winkle senior so durch und durch Geschäftsmann sei, würde er höchstwahrscheinlich niemals mit einem solchen Auftrag zu ihm gefahren sein.

Achtundvierzigstes Kapitel


Achtundvierzigstes Kapitel

Mr. Pickwick trifft einen alten Bekannten.

Der Morgen, der um acht Uhr über Mr. Pickwicks Haupt hereinbrach, war keineswegs danach angetan, seinen Mut zu heben oder die Niedergeschlagenheit, in die ihn sein unvorhergesehener Mißerfolg versetzt hatte, zu vermindern. Der Himmel war düster und trübe, die Luft feucht und rauh, die Straße naß und kotig. Schwerfällig hing der Rauch über den Schornsteinen, als gebräche es ihm an Mut, aufzusteigen, und der Regen fiel langsam und verdrossen herab, als hätte er keine rechte Lust, sich zu ergießen. Im Hof stand der Haushahn, ohne einen Funken seiner gewöhnlichen Lebhaftigkeit, verdrießlich auf einem Bein in einem Winkel, lind der Eselhengst döste gesenkten Hauptes unter dem schmalen Dach des Holzschuppens; nach seinem grüblerischen, jammervollen Gesichtsausdruck zu urteilen, erwog er Selbstmord. Auf der Straße sah man nichts als Regenschirme, und die einzigen Töne, die sich vernehmen ließen, waren das Schlapfen von Überschuhen und das Plätschern der Dachrinnen.

Das Frühstück wurde sehr wenig durch Unterhaltung gewürzt, und selbst Mr. Bob Sawyer empfand den Einfluß des Wetters und die Nachwehen des letzten Tages. Er war, wie er sich ausdrückte, zerschmettert. Ebenso ging es Mr. Ben Allen und besonders Mr. Pickwick.

In der Erwartung, das Wetter werde sich aufhellen, wurde das neueste Londoner Abendblatt mit einem Eifer und Interesse gelesen, wie sich dies nur in Fällen äußerster Verwahrlosung denken läßt; mit gleicher Beharrlichkeit wurde jeder Zoll des Bodens auf und ab geschritten, alle Augenblicke zum Fenster hinausgesehen und jedes mögliche Zerstreuungsmittel ausfindig gemacht. Endlich, zu Mittag, ohne daß das Wetter sich geändert hätte, zog Mr. Pickwick entschlossen die Klingel und bestellte einen Wagen.

Obgleich die Straßen schmutzig waren, der Sprühregen heftiger als bisher fiel und Kot und Nässe durch die offenen Fenster des Wagens hereinspritzten, so daß die drinnen Sitzenden fast ebensosehr dadurch belästigt wurden wie die beiden auf dem Rücksitz, war man doch jedenfalls in frischer Luft, und das Gefühl, unterwegs zu sein und Bewegung zu haben, was so unendlich angenehmer ist als das Eingeschlossensein in einer trüben Stube, von der aus man nur den Regen herabträufeln sehen kann, nötigte ihnen allen das Geständnis ab, daß sie durch den Tausch viel gewonnen hätten und eigentlich selbst nicht wüßten, wie sie dazu gekommen waren, solange mit dem Aufbruch zu zögern.

Als sie in Coventry anhielten, um die Relais zu wechseln, stieg der Dampf in solchen Wolken von den Pferden auf, daß der Hausknecht ganz unsichtbar wurde und man ihn wie aus dem Nebel heraus erklären hörte, er erwarte bei der nächsten Preisverteilung die erste goldene Medaille von dem Rettungsverein dafür, daß er dem Postillion den Hut abgenommen habe; denn von dem Rande desselben ströme, versicherte er, eine solche Wassermasse herab, daß er unfehlbar ertrunken wäre, wenn er ihm ihn nicht, kraft großer Geistesgegenwart, schnell vom Kopfe gerissen und das Gesicht mit einem Strohwisch abgetrocknet hätte.

„Eine erbauliche Fahrt das“, meinte Bob Sawyer, schlug sich den Rockkragen hoch und verhüllte sich den Mund mit dem Schal, um die Düfte eines soeben heruntergeschluckten Glases Branntwein zu kondensieren.

Die nächste Station war Daventry, die folgende Towcester, und es regnete immer heftiger.

„Ich konstatiere“, bemerkte Bob Sawyer zum Kutschenfenster hinein, als sie vor dem „Türkenkopf“ in Towcester anhielten, „ich konstatiere, daß man so nicht Weiterreisen kann.“

„Ja, wahrhaftig“, bestätigte Mr. Pickwick, der eben aus einem Schläfchen erwachte, „ich fürchte, Sie sind durch und durch naß.“

„Ja, das bin ich“, knurrte Bob und schüttelte sich, daß es nur so sprühte, „naß wie ein Neufundländer, den man ins Wasser geworfen hat.“

„Ich halte es auch für rein unmöglich, heute nacht weiterzureisen“, mischte sich Ben ein.

„Also gut“, gab Mr. Pickwick nach, „bleiben wir hier; aber irgendwie muß ich einen Brief nach London absenden, damit er morgen in aller Frühe bestellt wird. Wenn das nicht möglich sein sollte, müssen wir unter allen Umständen weiterfahren.“

Der Wirt lächelte vergnügt. Nichts sei leichter, als einen Brief in einen Bogen Packpapier einzuschlagen und entweder mit der Post oder mit der Nachtdiligence nach Birmingham weiterzubefördern, meinte er.

„Gut“, sagte Mr. Pickwick, „dann bleiben wir also hier.“

Licht wurde gebracht, die Glut geschürt und ein frisches Scheit hineingeworfen. In zehn Minuten deckte ein Kellner den Tisch zum Mittagessen, das Feuer flackerte lustig, und alles sah aus, als ob die Reisenden schon seit mehreren Tagen erwartet worden wären.

Mr. Pickwick setzte sich an einen Seitentisch und schrieb schnell ein paar Zeilen an Mr. Winkle, in denen er ihm kurz meldete, er sei durch das Unwetter zurückgehalten worden, werde sich aber unfehlbar am folgenden Tag in London einfinden. Dort wolle er ihm über den Erfolg seiner Reise weiterberichten.

Sam übergab den Brief der Wirtin, und nachdem er sich selbst am Küchenfeuer getrocknet hatte, wollte er zurückkehren, um seinem Herrn die Stiefel auszuziehen; da erblickte er zufällig durch eine halboffene Tür hindurch einen rothaarigen Herrn, der einen großen Pack Zeitungen auf dem Tisch vor sich liegen hatte und den Leitartikel in einer derselben mit sichtlichem Ingrimm las, wobei seine Nase und sein ganzes Gesicht sich zu einem geringschätzigen Ausdruck von Verachtung verzogen.

„Hallo!“ rief Sam. „Ich nehme an, den Kopf und das Gesicht da sollte ich wohl kennen; auch das Augenglas und den breitkrempigen Deckel! Das war doch in Eatanswill – oder ich will katholisch werden.“

Dann wurde er plötzlich von einem heftigen Husten befallen, der die Aufmerksamkeit des Herrn erregte und die gedankentiefen, durchgeistigten Züge Mr. Potts, Herausgebers der „Eatanswiller Gazette“, sehen ließ.

„Pardon, Sir“, sagte Sam, „mein Herr ist hier, Mr. Pott.“

„Pst, pst!“ rief der Publizist, zog Sam ins Zimmer und schloß die Tür, wobei sich geheimnisvolle Besorgnis in seinen Mienen abmalte. „Nennen Sie meinen Namen nicht. Hier ist alles gelb. Wenn der leicht erregbare Pöbel wüßte, daß ich hier bin, er würde mich in Stücke reißen.“

„Meinen Sie wirklich?“

„Ja, ich würde das Opfer der Volkswut werden. Übrigens, junger Mann, was macht Ihr Herr?“

„Er is auf der Reise nach London begriffen und übernachtet hier mit ’n paar Freunden.“

„Ist Mr. Winkle dabei?“ fragte Pott mit leichtem Stirnrunzeln.

„Nö“, erwiderte Sam, „Mr. Winkle bleibt jetzt zu Hause; er is verheiratet.“

„Verheiratet?“ rief Pott mit schreckenerregender Heftigkeit, schwieg dann eine Weile, lächelte düster und ’setzte in tiefem, rachsüchtigem Tone hinzu: „Das geschieht ihm recht.“

Da seine Frage, ob Mr. Pickwicks Freunde blau seien, von Sam, der so wenig von der Sache wußte wie irgend jemand, bejahend beantwortet wurde, entschloß er sich, ihn zu Mr. Pickwick zu begleiten, der ihn aufs herzlichste begrüßte und darauf bestand, daß sie alle gemeinsam zu Mittag speisen sollten.

„Und wie steht’s denn in Eatanswill?“ fragte der liebenswürdige alte Herr, als Pott einen Stuhl ans Feuer gerückt und die ganze Gesellschaft die nassen Stiefel aus- und trockene Pantoffeln angezogen hatte. „Existiert der ,Independent‘ noch?“

„Der ,Independent, Sir“, erwiderte Pott, „schleppt noch immer sein elendes, erlöschendes Dasein hin, verabscheut und verachtet selbst von den Wenigen, denen seine schmachvolle, erbärmliche Existenz bekannt ist, erstickt in demselben Schmutz, mit dem er so reichlich um sich wirft.

Taub und blind gemacht durch die faulen Dünste seines eigenen Unrats, versinkt dieses Mistblatt, sich seiner Verkommenheit nicht einmal bewußt, rasch in dem verräterischen Schlamme, der, obgleich er ihm bei den niedrigen und verderbten Klassen der Gesellschaft einen festen Standpunkt zu geben scheint, gleichwohl über sein verruchtes Haupt hinauswächst und es bald auf ewig verschlingen wird.“

Nachdem der Zeitungsheld dieses Manifest – einen Teil seines Leitartikels der letzten Woche – mit Heftigkeit von sich gegeben, schwieg er, um Atem zu schöpfen, und blickte Bob Sawyer majestätisch an.

„Sie sind ein noch junger Mann, Sir“, sagte er nach einer Weile.

Bob Sawyer nickte.

„Und Sie auch, Sir“, fuhr Pott, zu Mr. Ben Allen gewendet, fort.

Ben lächelte stumm.

„Und Sie sind auch beide tief durchdrungen von den blauen Prinzipien, zu deren Aufrechterhaltung und Verfechtung ich mich, solange ich lebe, der Bevölkerung dieser vereinigten Königreiche gegenüber anheischig gemacht habe?“

„Natürlich“, erwiderte Bob Sawyer, „ich verstehe nur die Sache nicht recht, ich bin …“

„Doch nicht gelb, Mr. Pickwick?“ unterbrach ihn Pott und wich mit seinem Stuhl zurück. „Ihr Freund ist doch nicht gelb, Sir?“

„Nein, nein“, versicherte Bob, „ich bin in diesem Augenblick mehr schottisch – gewürfelt, sozusagen ein Gemisch von allen möglichen Farben.“

„Also ein Schwankender“, erklärte Pott feierlich, „ein Schwankender. Ich möchte Ihnen eine Reihe von acht Artikeln vorlegen, Sir, die in der ,Eatanswiller Gazette‘ erschienen sind. Ich glaube behaupten zu dürfen, daß Sie dann bald Ihre Ansichten auf eine feste und solide Basis gründen würden, Sir.“

„Und ich“, antwortete Bob, „glaube behaupten zu dürfen, daß ich sehr blau würde, noch lange, ehe ich sie ganz gelesen hätte.“

Mr. Pott blickte Bob Sawyer noch einige Sekunden lang zweifelnd an, wandte sich dann zu Mr. Pickwick und fragte:

„Sie haben doch die literarischen Artikel gelesen, die im Laufe der letzten drei Monate in der ,Eatanswiller Gazette‘ erschienen sind und eine allgemeine, ich kann wohl sagen universelle Aufmerksamkeit und Bewunderung erregt haben?“

„Ich muß gestehen“, entschuldigte sich Mr. Pickwick, durch die Frage einigermaßen verlegen, „ich muß gestehen, ich war anderweitig so in Anspruch genommen, daß ich wirklich keine Zeit hatte, sie zu lesen.“

„Sie sollten so etwas nicht unterlassen, Sir“, ermahnte Pott mit strenger Miene.

„Ja, Sie haben recht“, gestand Mr. Pickwick.

„Sie sind in der Form einer ausführlichen Kritik eines Werkes über die chinesische Metaphysik erschienen“, fuhr Pott fort.

„Was Sie sagen?! Und hoffentlich aus Ihrer Feder?“

„Aus der meines Rezensenten, Sir“, antwortete Pott mit Würde.

„Und wahrscheinlich sehr gelehrt abgefaßt?“

„Ja, ungeheuer“, antwortete Pott, unendlich weise um sich blickend. „Er ochste aber auch gehörig, um sich eines technischen, aber bezeichnenden Terminus zu bedienen; er las zu diesem Behuf auf mein Verlangen in, der ,Encyclopaedia britannica‘ nach.“

„Wirklich?“ staunte Mr. Pickwick. „Ich wußte gar nicht, daß dieses unschätzbare Werk auch Nachweise über die chinesische Metaphysik enthält.“

„Ja, Sir“, erklärte Pott, legte seine Hand auf Mr. Pickwicks Knie und blickte mit einem Lächeln geistiger Überlegenheit um sich, „er las über die Metaphysik unter dem Buchstaben M und über China unter dem Buchstaben C nach und machte so einen eigenen Artikel zurecht.“

Die Züge des Publizisten nahmen bei dieser Erinnerung an den gelehrten Erguß etwas so Überwältigendes an, daß einige Minuten verstrichen, bevor Mr. Pickwick sich kühn genug fühlte, das Gespräch fortzusetzen. Endlich, als sich das Gesicht Potts allmählich wieder zu seinem gewöhnlichen Ausdruck geistiger Überlegenheit glättete, wagte er es, die Unterhaltung durch die Frage anzuknüpfen:

„Dürfte ich wohl erfahren, welch großer Zweck Sie so weit von Hause weggeführt hat?“

„Derselbe Zweck, der mich bei all meiner Arbeitslast anstachelt und beseelt“, erwiderte Pott mit ruhigem Lächeln, „das Wohl meines Vaterlandes.“

„Ich dachte mir gleich, es sei irgendeine öffentliche Mission.“

„Ja, Sir, das ist es auch“, bejahte Pott, beugte sich zu Mr. Pickwick nieder und flüsterte ihm mit tiefer, hohler. Stimme zu:

„Die Gelben haben morgen abend in Birmingham einen Ball.“

„Was Sie nicht sagen!“ rief Mr. Pickwick.

„Ja, Sir, und ein Souper.“

„Ah.“

Pott nickte mit unheilverkündender Miene.

Obgleich sich Mr. Pickwick stellte, als wäre er durch diese Eröffnungen sehr überrascht, so war er doch mit der Lokalpolitik zuwenig vertraut, als daß er sich schlechterdings von der Wichtigkeit der schrecklichen Verschwörung einen richtigen Begriff hätte machen können, auf die hier angespielt wurde. Mr. Pott bemerkte es auch, zog die letzte Nummer der „Eatanswiller Gazette“ aus der Tasche und las zur näheren Aufklärung seines Freundes folgenden Artikel vor:

„WINKELGELBTUM

Ein Ungeziefer, ein böser, schädlicher Wurm von Kollega hat vor kurzem sein schwarzes Gift ausgespien, in dem eitlen, hoffnungslosen Versuch, den guten Namen unseres ausgezeichneten und vortrefflichen Deputierten, Mr. Slumkeys, Hochwohlgeboren, zu besudeln – desselben Slumkey, von dem wir lange, bevor er seine gegenwärtige hohe Stellung errungen, vorausgesagt, er werde werden, was er jetzt ist, ein Ehrenpfeiler seines Landes, sein stolzester Ruhm, sein kühnster Verteidiger und seine herrlichste Zierde. Unser ungezieferartig denkender Kollega, sagen wir, hat sich lustig gemacht über einen plattierten, herrlich gearbeiteten Kohlenkübel, der diesem glorreichen Mann von seinen begeisterten Wählern überreicht worden ist und zu dessen Ankauf, wie der namenlose Wicht lästert, Mr. Slumkey, Hochwohlgeboren, selbst heimlich mehr als drei Viertel der ganzen Summe zugeschossen habe. Wie!? Sieht denn dieses kriechende Geschmeiß nicht, daß selbst wenn dies wahr wäre, Mr. Slumkey, Hochwohlgeboren, uns in einem um so freundlicheren und strahlenderen Lichte erscheinen müßte? Sieht sein Stumpfsinn nicht einmal so viel ein, daß der liebenswürdige, rührende Wunsch, dem Sehnen seiner Wähler entgegenzukommen, ihn den Herzen und Seelen derjenigen seiner Mitbürger nur noch teurer machen muß, die nicht verächtlicher sind als Schweine, oder, mit anderen Worten, die nicht ebenso niederträchtig sind wie unser Kollega? Aber das sind eben die elenden, betrügerischen Kunstgriffe des Winkelgelbtums! Verrat ist sein Losungswort. Wir verkünden es kühnlich und sagen es frei heraus, jetzt, wo wir uns unter den Schutz des ganzen Landes und seiner Behörden stellen dürfen – wir verkünden es kühnlich, daß in diesem Augenblick geheime Vorbereitungen getroffen werden zu – einem Balle der Gelben, der in einer gelben Stadt mitten im Herzen und Zentrum einer gelben Bevölkerung gehalten, von einem gelben Arrangeur geleitet, von vier ultragelben Parlamentsmitgliedern besucht werden soll, und zu dem man den Zutritt nur vermöge gelber Einlaßkarten erlangen kann. Möge unser feindlicher Kollega sich winden in unmächtigem Grimm, wenn wir es niederschreiben: ,Wir werden auch dabeisein.‚“

„Sehen Sie, Sir“, sagte Pott und faltete ganz erschöpft das Blatt zusammen, „so stehen die Sachen.“

In diesem Augenblick fingen der Wirt und der Kellner an, das Mittagessen aufzutragen, was Mr. Pott nötigte, den Finger auf die Lippen zu legen, zum Zeichen, daß er sein Leben in Mr. Pickwicks Hände gelegt habe. Die Herren Bob Sawyer und Benjamin Allen, die während der Verlesung des Artikels und der darauf folgenden Erörterung unehrerbietigerweise eingeschlafen waren, wurden durch das bloße Geflüster des Zauberwortes „Mittagessen“ erweckt und entwickelten dabei einen gesegneten Appetit.

Im Verlauf des Essens und der darauffolgenden Sitzung erklärte Mr. Pott, der sich zuweilen zu häuslichen Themen herabließ, seinem Freunde Mr. Pickwick, die Luft in Eatanswill sei seiner Gemahlin nicht gut bekommen, und sie mache deswegen eine Reise in die verschiedenen fashionablen Bäder, um ihre gewohnte Gesundheit und Munterkeit wiederzuerlangen – eine höchst zarte Verschleierung der Tatsache, daß Mrs. Pott ihre oft wiederholte Scheidungsdrohung endlich ausgeführt und ihr Bruder, der Leutnant, mit ihrem Manne eine Übereinkunft abgeschlossen hatte, kraft deren sie sich nebst ihrer getreuen Leibwache von ihrem Gatten trennte und die Hälfte seines jährlichen Einkommens aus dem Verlag der „Eatanswiller Gazette“ erhielt.

Während der große Publizist bei diesen und ähnlichen Themen verweilte und die Unterhaltung von Zeit zu Zeit mit verschiedenen Auszügen aus den Resultaten seiner nächtlichen Studien belebte, fragte ein griesgrämiger Passagier aus dem Fenster einer von London angelangten Postkutsche heraus, ob er, für den Fall, daß er übernachten wolle, die nötigen Bequemlichkeiten, nämlich Bett und Bettstelle, bekommen könne. „Gewiß, Sir“, erwiderte der Wirt.

„Bestimmt?“ fragte der Fremde, der von Natur aus ungemein argwöhnisch zu sein schien.

„Sie können sich darauf verlassen, Sir“, beteuerte der Wirt.

„Nun gut, Postillion, ich bleibe hier. Schaffner, meinen Mantelsack.“

Der fremde Gentleman wünschte sodann den andern Passagieren auf eine etwas spitze Weise gute Nacht und stieg aus.

Er war von untersetzter Statur und hatte straffes schwarzes Haar, das nach Stachelschweins- oder Stiefelbürstenart zugeschnitten war und wie gesträubt emporstand. Sein Auftreten war pomphaft und drohend, sein Benehmen gebieterisch, die Augen blickten scharf und unruhig, und sein ganzes Wesen verkündete große Zuversichtlichkeit sowie das Bewußtsein unermeßlicher Überlegenheit über alle Menschen.

Man wies ihn in das Zimmer, das ursprünglich für den patriotischen Mr. Pott bestimmt gewesen war, und der Kellner konstatierte, als er kaum die Lichter angezündet hatte, in dumpfem Erstaunen das sonderbare Zusammentreffen, daß der Gentleman in seinen Hut griff, eine Zeitung hervorzog und mit demselben Ausdruck unwilliger Verachtung, die eine Stunde zuvor auf Potts majestätischen Zügen gelegen, zu lesen begann. Er bemerkte auch, daß, während Mr. Potts Verachtung durch eine Zeitung, betitelt „Eatanswiller Independent“, rege gemacht worden war, der zermalmende Hohn dieses Gentlemans durch eine Zeitung erweckt wurde, die sich die „Eatanswiller Gazette“ nannte.

„Schicken Sie den Wirt!“ befahl der Fremde.

„Sehr wohl, Sir.“

Der Wirt wurde gerufen und erschien.

„Sind Sie der Wirt?“ fragte der Gentleman.

„Zu dienen, Sir.“

„Kennen Sie mich?“

„Habe nicht das Vergnügen, Sir“, erklärte der Wirt.

„Mein Name ist Slurk!“

Der Wirt neigte den Kopf ein wenig.

„Slurk, Sir“, wiederholte der Gentleman hochmütig. „Kennen Sie mich jetzt, Mann?“

Der Wirt kratzte sich am Kopf, blickte zur Decke empor, sah dann den Fremdling an und lächelte gezwungen.

„Kennen Sie mich, Mann?“

Der Wirt strengte sich gewaltig an und erwiderte endlich: „Nein, Sir, ich kenne Sie nicht.“

„Gott im Himmel“, rief der Fremde und schlug mit der Faust auf den Tisch, „und das nennt man Popularität! – Das also – das ist der Dank für jahrelange Mühe und Arbeit zu Nutz und Frommen der Massen. Ich steige durchnäßt und müde aus; keine enthusiastische Menge drängt sich, ihren Vorkämpfer zu begrüßen; die Glocken der Kirchen sind stumm; selbst der Name erweckt kein Echo in der erstarrten Brust. Es ist genug“, setzte Mr. Slurk hinzu und ging in großer Aufregung auf und ab. „Soll die Tinte in der Feder vertrocknen und die Sache den Gang des Verderbens gehen!“

„Haben Sie Brandy mit Wasser befohlen, Sir?“ wagte der Wirt eine Andeutung.

„Rum!“ erwiderte Mr. Slurk verbittert. „Haben Sie irgendwo ein Feuer?“

„Man kann sogleich eins anzünden“, beeilte sich der Wirt zu erwidern.

„Das wird aber erst heizen, wenn es Zeit ist, ins Bett zu gehen“, unterbrach ihn Mr. Slurk. „Ist jemand in der Küche?“

„Keine Seele. – Es war hübsch warm dort. Die Leute sind alle fort und haben die Tür für die Nacht geschlossen.“

„Dann will ich“, sagte Mr. Slurk, „meinen Grog am Küchenfeuer trinken“, nahm seinen Hut und die Zeitung, folgte feierlich dem Wirt nach diesem niederen Gelasse, warf sich auf eine Bank am Herde, nahm seine höhnische Miene wieder an und begann in Ruhe zu lesen und zu trinken. In diesem Augenblick flog der Dämon der Zwietracht über den „Türkenkopf“, erblickte zufällig den behaglich am Küchenfeuer gelagerten Slurk, während Mr. Pott, vom Wein erhitzt, in einem andern Zimmer saß, schoß mit unbegreiflicher Schnelligkeit herab, fuhr Mr. Bob Sawyer in den Kopf und stiftete ihn an, folgendermaßen zu sprechen:

„Wir haben das Feuer ausgehen lassen. Nach dem Regen ist es unangenehm kalt hier.“

„Ja, das ist wahr“, gab Mr. Pickwick schauernd zu.

„Es wäre, meine ich, kein schlechter Einfall, am Küchenfeuer eine Zigarre zu rauchen“, fuhr Bob Sawyer fort, in dem der Dämon immer stärker wirkte.

„Ich denke auch, es müßte ganz behaglich sein“, meinte Mr. Pickwick. „Was sagen Sie dazu, Mr. Pott?“

Mr. Pott nickte bereitwillig, und sämtliche vier Reisende begaben sich, jeder mit seinem Glas in der Hand, nach der Küche, indes Sam Weller die Prozession anführte, um den Weg zu zeigen.

Der Fremdling las noch immer, sah plötzlich auf und fuhr zusammen. Mr. Pott desgleichen.

„Was ist denn?“ fragte Mr. Pickwick flüsternd.

„Da! Das Ungeziefer!“ erwiderte Pott.

„Was für ein Ungeziefer?“ fragte Mr. Pickwick, besorgt, er könne auf eine greise Küchenschabe oder eine wassersüchtige Spinne getreten sein. „Dort, das Ungeziefer!“ flüsterte Pott wieder, faßte Mr. Pickwick am Arm und deutete auf den Fremden. „Das Ungeziefer da – Slurk vom ,Independenten‘.“

„Wir würden vielleicht besser tun, uns zurückzuziehen“, meinte Mr. Pickwick halblaut.

„Niemals, Sir, niemals!“ erwiderte Pott giftig, setzte sich schnell auf die gegenüberliegende Bank, zog aus einem kleinen Pack Zeitungen eine heraus und begann, wie sein Feind, zu lesen.

Er las natürlich den „Independenten“, Mr. Slurk ebenso natürlich die „Gazette“, und jeder der Herren drückte unverhohlen seine Verachtung durch bitteres Gelächter und sarkastische Ausrufe aus. Bald schritten sie zu noch offeneren Meinungsäußerungen, wie „abgeschmackt“ – „erbärmlich“ – „ekelhaft“ – „Lumperei“ – „Schmutz“ – „Mist“ – „Schlamm“ – „Sumpfwasser“ und dergleichen.

Mr. Sawyer sowohl wie Ben Allen hatten diese Symptome von Eifersucht und Haß mit großem Ergötzen mit angesehen, und als die beiden Gegner zu ermatten begannen, wandte sich der boshafte Bob Sawyer mit großer Höflichkeit an Slurk und sagte:

„Dürfte ich vielleicht um das Blatt bitten, Sir, wenn Sie es gelesen haben?“

„Sie werden in dem elenden Ding da sehr wenig finden, was des Lesens lohnt“, erwiderte Slurk mit einem satanischen Stirnrunzeln gegen Pott. „Sie können dieses da inzwischen haben“, sagte Pott leichenblaß und mit vor Wut zitternder Stimme. „Haha! Die Frechheit dieser Bagage wird Ihnen viel Spaß machen.“

Die Worte „Frechheit“ und „Bagage“ waren förmlich herausgeschrien, und die Mienen der beiden Publizisten wurden immer herausfordernder.

„Die Gemeinheit dieses Lumpenhundes ist geradezu ekelhaft“, fuhr Pott, zu Bob Sawyer gewendet, fort und warf dabei Slurk einen giftigen Blick zu.

Slurk lachte nur schrill, blätterte seine Zeitung um und sagte, der Schafskopf amüsiere ihn köstlich.

„Was für ein schamloser Ignorant der Kerl ist!“ rief Pott, dessen Gesicht allmählich blaurot vor Wut wurde.

„Haben Sie von den Albernheiten dieses Menschen schon etwas gelesen, Sir?“ fragte Slurk Mr. Bob Sawyer.

„Nein“, erwiderte Bob, „ist es so schlecht?“

„Wenn es Ihnen möglich ist, sich durch ein paar Sätze voll Gemeinheit, Niedertracht, Verlogenheit, Infamie, Schurkerei und Unsinn durchzulesen“, sagte Slurk und reichte das Blatt Mr. Sawyer hinüber, „so werden Sie sich vielleicht dadurch belohnt finden, daß Ihnen der Stil dieses ungrammatikalischen Schwätzers ein Lachen abnötigt.“

„Was haben Sie da gesagt, Sir?“ fuhr Pott auf, am ganzen Leibe zitternd.

„Was geht denn das Sie an, Sir?“ erwiderte Slurk.

„Ungrammatikalischer Schwätzer haben Sie gesagt, nicht wahr, Sir?“ keuchte Pott.

„Ja, Sir, das habe ich gesagt, und blauer Idiot füge ich hinzu, Sir, wenn Sie das lieber hören. Hahaha!“

Mr. Pott erwiderte auf diese Beleidigung kein Wort, faltete nur bedächtig seine Nummer des „Independenten“ auseinander, legte sie sorgfältig flach auf den Boden, trampelte mit den Füßen darauf herum, spuckte dann feierlich darauf und warf sie ins Feuer.

„Sehen Sie, Sir“, sagte er dann, als er vom Kamin zurückkam, „ebenso würde ich auch die Viper behandeln, die dieses Gift erzeugt, wäre ich nicht zu ihrem Glück durch die Gesetze des Landes daran gehindert.“

„Bitte, genieren Sie sich gar nicht, Sir“, rief Slurk dagegen und sprang auf. „Es wird niemandem einfallen, die Gesetze wegen einer solchen Sache anzurufen. Versuchen Sie es doch, Sir!“

„Hört, hört!“ johlte Bob Sawyer.

„Prachtvoll, ausgezeichnet!“ rief Ben Allen.

„Versuchen Sie es doch, Sir“, wiederholte Slurk mit lauter Stimme.

Mr. Pott warf ihm einen verachtungsvollen Blick zu, der einen Amboß hätte zermalmen können.

„Versuchen Sie es doch, Sir!“ rief Slurk noch lauter.

„Ich will nicht, Sir“, versetzte Pott.

„So, so! Sie wollen nicht?“ höhnte Slurk. „Sie haben es gehört, meine Herren! Er will nicht. Nicht etwa, daß er sich fürchtete; ah, woher denn; er will bloß nicht. Hahaha!“

„Ich betrachte Sie, Sir“, schäumte Mr. Pott, „ich betrachte Sie als eine Viper. Ich halte Sie für einen Menschen, der sich durch sein freches, schandbares und widerliches Benehmen in der Öffentlichkeit seines Rechtes in der Gesellschaft begeben hat. In meinen Augen, Sir, sind Sie sowohl persönlich wie politisch weiter gar nichts als eine Viper.“

Der entrüstete Independent wartete das Ende dieser persönlichen Anklage nicht ab, sondern nahm seinen wohlgefüllten Mantelsack, schwang ihn, als Pott sich eben abwandte, über dem Kopf und ließ ihn dann gerade mit der Ecke, in der eine dicke Haarbürste eingepackt lag, auf das Haupt seines Gegners niedersausen, so daß dieser mit furchtbarem Getöse zu Boden stürzte.

„Meine Herren!“ rief Mr. Pickwick, als Pott wieder aufsprang und sich der Kohlenschaufel bemächtigte. „Meine Herren, bedenken Sie doch um Himmels willen – Hilfe – Sam! Aber ich bitte Sie, meine Herren, vergessen Sie sich doch nicht so weit!“

Dabei warf sich der menschenfreundliche alte Herr heldenmütig zwischen die wutentbrannten Streiter, gerade im rechten Augenblick, um auf die eine Seite seines Leibes den Mantelsack und auf die andre die Kohlenschaufel zu bekommen. Ob nun die Repräsentanten der öffentlichen Meinung von Eatanswill ganz blind vor Leidenschaft waren, oder ob sie als kluge, scharfsinnige Köpfe sogleich den Vorteil einsahen, einen Dritten, der die Streiche auffing, zwischen sich zu haben – eines ist gewiß, sie nahmen nicht die mindeste Notiz von Mr. Pickwick und handhabten Mantelsack wie Kohlenschaufel auf das furchtbarste. Mr. Pickwick hätte sein menschenfreundliches Dazwischentreten ohne Zweifel schwer büßen müssen, wäre nicht Mr. Weller auf sein Geschrei hereingestürzt, um dem Kampf sofort dadurch ein Ende zu machen, daß er einen leeren Sack ergriff und ihn dem rasenden Pott über Kopf und Schultern zog.

„Nehmen Sie dem andern Tollhäusler den Mantelsack weg“, rief er dabei Bob Sawyer zu, der entzückt zugesehen und nur eine Lanzette hervorgeholt hatte, um dem ersten, der ohnmächtig werden würde, zur Ader zu lassen. „Wollen Sie endlich aufhören, Sie Jammerlappen, oder ich drehe Ihnen den Kragen um.“

Atemlos und eingeschüchtert durch diese fürchterliche Drohung ließ sich der Independent entwaffnen, und Mr. Weller schüttelte vorsichtig Mr. Pott wieder aus dem Sack.

„So, jetzt gehen Sie beide ruhig ins Bett“, sagte er, „oder ich stecke Sie beide mitnander in den Sack und binde ihn oben zu. Von eurer Sorte werde ich noch mit ’nem ganzen Dutzend fertig. – Und Sie, Herr, haben vielleicht die Jüte, jefälligst mitzukommen.“

Mit diesen Worten nahm Sam seinen Herrn beim Arm und führte ihn fort, während die beiden feindlichen Journalisten vom Wirt und dem Kellner in ihre Schlafzimmer eskortiert wurden. Sie stießen dabei die blutdürstigsten Drohungen aus und ließen vage Andeutungen auf ein Duell am nächsten Tage fallen, waren jedoch am andern Morgen in aller Frühe, jeder in einer besonderen Kutsche, abgereist, als alles noch in tiefstem Schlaf lag.

Neunundvierzigstes Kapitel


Neunundvierzigstes Kapitel

Eine wichtige Veränderung in der Familie Weller. Mr. Stiggins fällt in Ungnade.

Mr. Pickwick hielt es für unzart, Bob Sawyer oder Ben Allen so ohne weiteres zu dem jungen Paare zu führen, und da er Arabellas Gefühle möglichst zu schonen wünschte, machte er den Vorschlag, er und Sam sollten in der Nähe des „Georg und Geier“ absteigen, während beide jungen Herren sich vorderhand irgendwo anders einquartierten. Mr. Ben Allen und Bob Sawyer begaben sich daher in ein abgelegenes Bierhaus am äußeren Ende des Borough, wo ihre Namen in früheren Tagen sehr häufig an der Spitze langer und verwickelter Rechnungen, mit weißer Kreide geschrieben, hinter der Schenkverschlagtür zu lesen gewesen waren.

„Potztausend, Mr. Weller!“ rief das hübsche Hausmädchen, als ihr Sam an der Tür begegnete.

„Jawohl, wie er leibt und lebt, mein schönes Kind“, erwiderte Sam und blieb ein wenig zurück, um seinen Herrn außer Hörweite kommen zu lassen. „Was für ’n süßes, angenehmes Geschöpf Sie sin, Mary.“

„Jaja, weiß schon, Mr. Weller; schwatzen Sie nicht solchen Unsinn“, wehrte Mary ab. „Es liegt schon seit vier Tagen ein Brief für Sie da; Sie waren kaum eine halbe Stunde fort, als er kam, und auf der Adresse steht: ,Höchst dringend‘.“

„Wo is er denn, meine Liebe?“ fragte Sam.

„Ich habe ihn zu mir gesteckt, damit er nicht verlorengeht“, erwiderte Mary. „Da ist er; ’s is mehr, als Sie verdient haben.“ – Dabei zog sie den Brief hinter einem wunderhübschen kleinen Musselinbusenstreif hervor und überreichte ihn Sam, der ihn mit ebensoviel Galanterie wie Innigkeit küßte, sich neben die Angebetete auf eine Fensterbank setzte, den Brief erbrach und einen Blick auf seinen Inhalt warf. „Hallo!“ rief er plötzlich. „Was is denn das?“

„Doch nichts Schlimmes?“ fragte Mary und blickte ihm über die Schulter.

„Gott, haben Sie schöne Augen!“ rief Sam.

„Kümmern Sie sich nicht um meine Augen. Lesen Sie lieber Ihren Brief“, sagte das hübsche Stubenmädchen und lächelte dabei schelmisch.

Sam aber stärkte sich mit einem Kuß und las wie folgt:

„Markih Grännbih
in Dorking
am Mittfoch.

Mein liber Semmih!

Es tuht mier sehr leit aber ich habe daß fergnügen das ich dir eine schlechte nachricht fön deiner Stiefmutter geben muss aber si hat sich erkeltit weil si dummerweise im nassen grass im rehgen geseßen hat um ein schefer zu zu hören woh ehrst in dehr sinkenden nacht auf hören konnte weil er sich mitt Brendi unt Wasser angefoichtet hatte unt sich nicht senkrecht halten konnte als biß ehr wihder ettwaß klahr geworden wahr waß mehere stunden dauerte unt der Dokter sahgte wen si gleich warmen Brendi unt Wasser drauf getrunken hette stadt fohrhehr denn hette eß ihr Nichts gemacht nu haben wihr tzwahr iere reder augenblicklig geschmiehrt unt alleß angewant um ier wihder in gank zu bringen unt dein fahter hatte di hoffnunk das si wihder aufn Damm komm würde wie gewönlich aber alß es si wider um der Egge bog da kariolte si dehn Berg runter mit eine geschwindichkeit woh mann noch nihmals gesehen hat unt trozdehm der Dokter ier gleich den hemmschu anlehgen taht half eß doch alleß nich den si betzahlte di letzte runde tzwantzich Minuten fohr seks Ur gestern ahbent unt hatt allso di grooße reise weit unter dehr gewönlichen zeit gemacht waß filleicht auch dafon gekomm is das si unterwehks nichts eingepakt hat dein fahter meint wenn du komm willst unt mihr Besuchen Semmih denn wirt ehr eß alls eine grohße froide ansen denn ich bin so gantz aleine Semmih Nohtabehne weil wihr so nie Sachen mitnander abtzumachen haben da wirt dein Prinntzpahl dihr gewiß nichts in wehk lehgen Semmih denn ich kenne ihm beßer unt sennde im meinen Rehßpeckt unt bin auf Ewich dein

Toby Veller.“

„Was für ’n unverständlicher Brief!“ murmelte Sam, versank in tiefes Nachdenken und las das Schreiben noch einmal genau durch, von Zeit zu Zeit innehaltend. Dann faltete er es langsam zusammen und sagte traurig:

„So is also das arme Geschöpf tot! Tut mir leid um sie. Sie war kein böses Weib nich; wenn sie nur die Hirten in Frieden gelassen hätten. Bin recht betrübt drüber.“

Mr. Weller sagte diese Worte in so ernstem Ton, daß das hübsche Stubenmädchen die Augen niederschlug und gleichfalls eine sehr traurige Miene annahm.

„Und doch“, fuhr Sam fort und steckte den Brief mit einem Seufzer in die Tasche, „es hat mal so sein müssen. – Läßt sich nich mehr ändern, wie die alte Dame sagte, als sie den Bedienten geheiratet hatte – was, Mary?“

Mary schüttelte den Kopf und seufzte nur.

„Ich muß meinen Herrn um Urlaub bitten“, sagte Sam nach einer Weile. „Adje, Mary.“

„Adieu!“ seufzte das hübsche Stubenmädchen und wandte den Kopf ab.

„Was, Sie geben mir nich mal zum Abschied die Hand?“ sagte Sam vorwurfsvoll.

Das hübsche Mädchen reichte ihm die Hand, die, wenn auch die Hand eines Stubenmädchens, dennoch eine sehr kleine Hand war, und stand auf, um zu gehen.

„Ich werde nich lange wegbleiben“, tröstete sie Sam.

„Ach, Sie sind immer weg“, schmollte Mary. „Kaum kommen Sie, Mr. Weller, da gehen Sie auch schon wieder.“

Sam zog die kleine Schönheit näher an sich und knüpfte ein flüsterndes Gespräch mit ihr an, das sie veranlaßte, ihr Gesichtchen abzuwenden. Als sie sich trennten, war es unumgänglich notwendig für sie geworden, auf ihr Zimmer zu gehen und ihre Haube und ihre Locken zu ordnen, bevor sie daran denken konnte, sich vor ihrer Gebieterin sehen zu lassen, und als sie zu dieser vorbereitenden Zeremonie die Treppe hinaufhuschte, beglückte sie Sam noch mit einem freundschaftlichen Lächeln über das Geländer hinab.

Es schlug gerade sieben Uhr, als Samuel Weller vom Bock einer Postkutsche in Dorking, einige hundert Schritte vom „Marquis von Granby“ entfernt, abstieg. Der Abend war kalt und trübe, die kleine Straße sah düster und traurig aus, und das mahagonifarbige Gesicht des edlen und tapfern Marquis schien einen finstereren und melancholischeren Ausdruck zu haben als sonst, wenn es wehmütig knarrend vom Winde hin und her geworfen wurde. Die Fenstervorhänge waren herabgelassen, die Läden teilweise geschlossen und von dem Haufen Müßiggänger, die gewöhnlich an der Tür versammelt herumstanden, war keine Spur zu sehen.

Da Sam niemand erblickte, den er vorher hätte ausholen können, ging er leise ins Haus, schaute sich um und erblickte in der Dämmerung seinen Vater.

Der Witwer saß in dem kleinen Zimmer hinter dem Schenkverschlag an einem kleinen runden Tisch, rauchte eine Pfeife und starrte mit unverwandtem Blick ins Feuer. Offenbar hatte das Begräbnis erst an diesem Tage stattgefunden, denn von seinem Hut, den er aufbehalten hatte, wallte ein etwa anderthalb Ellen langes Band nachlässig über die Stuhllehne herab.

Mr. Weller war offenbar in sehr tiefe Betrachtungen versunken, denn obgleich ihn Sam mehrere Male beim Namen rief, fuhr er doch mit demselben starren Gesicht zu rauchen fort und blickte erst auf, als ihm sein Sohn endlich die Hand auf die Schulter legte.

„Ich habe dir schon ’n halbdutzendmal gerufen“, sagte Sam leise und hängte seinen Hut an einen Nagel, „aber du hörtest mir nich.“ „Nein, Sam, habe dir nich gehört“, erwiderte Mr. Weller und sah aufs neue gedankenschwer ins Feuer. „War ganz in eine Träumerei versunken.“ „Worüber hast du denn nachgesonnen?“ fragte Sam und zog seinen Stuhl ans Feuer.

„Habe an sie gedacht, Sammy“, erwiderte Mr. Weller senior und nickte mit dem Kopf in Richtung des Friedhofs von Dorking. „Dachte eben daran, Sammy“, fuhr er in tiefem Ernst fort, „daß es mir im ganzen sehr leid tut, daß sie abgefahren is.“

„Gehört sich auch“, meinte Sam.

Mr. Weller nickte, richtete seine Augen abermals auf die Glut, hüllte sich in eine Wolke und versank wiederum in tiefes Nachdenken. Nach einer langen Pause lichtete er mit einer Handbewegung den Rauch und sagte: „Sie hat noch so sehr vernümftig gesprochen, Sammy. ,Weller‘, sagte sie, ,ich fürchte, ich habe nich ganz an dir gehandelt wie ich hätte sollen; du bist ’n sehr guter Mann, und ich hätte dir dein Leben angenehmer machen sollen. Jetzt, wo es zu spät is, da fange ich an einzusehen, wenn ’ne verheirate Frau fromm sein will, denn soll sie damit anfangen, ihre häuslichen Pflichten zu erfüll’n und die, wo mit ihr leben, glücklich und fröhlich zu machen. Ich habe Zeit und Geld an Leute verschwendet, wo noch weniger wert waren als wie ich; aber ich hoffe, wenn ich nicht mehr sein werde, Weller, denn wirstu an mir denken, wie ich war, bevor daß ich diese Leute kennengelernt habe und wie ich eigentlich von Natur aus gewesen bin.‘ – ‚Susanne‘, sagte ich, denn ich war sehr ergriffen, Samuel, kann es nich leugnen, mein Junge, ,Susanne‘, sagte ich, ,du bist mir ’n sehr gutes Weib gewesen, deswegen sprich nich mehr von. Kopf hoch, mein Schatz, du wirst es gewiß noch erleben, daß ich diesem Stiggins den Schädel poliere.‘ – Sie lächelte darüber, Samuel“, fuhr der alte Herr fort und erstickte einen Seufzer, „aber denn starb sie doch!“

„Na“, sagte Sam nach einer langen Pause, die damit hinging, daß der alte Herr beständig den Kopf schüttelte und in stummer Feierlichkeit rauchte, „sterben müssen wir ja alle, Gouverneur! Die Vorsehung hat es nun mal so eingerichtet.“

„Jaja“, versetzte sein Vater mit ernstem Gesicht. „Was würde auch sonst aus den Totengräbern werden, Sammy!“

Verloren in dem durch diese Betrachtungen sich eröffnenden unermeßlichen Feld von Vermutungen, legte er seine Pfeife auf den Tisch und schürte mit nachdenklichem Gesicht das Feuer; da öffnete sich leise die Tür und eine wohlbeleibte Köchin in Trauerkleidung, die bisher in der Schenkstube beschäftigt gewesen, trat ins Zimmer, nickte Sam mehrere Male freundlich zu und kündigte ihre Anwesenheit durch ein leises Husten an.

„Hallo!“ rief Mr. Weller senior, ließ das Schüreisen fallen und rückte hastig mit seinem Stuhl weg. „Was gibt’s?“

„Trinken Sie doch eine Tasse Tee“, schmeichelte das wohlbeleibte Frauenzimmer.

„Ach was“, versetzte Mr. Weller in barschem Tone. „Ich wollte, Sie wären – wo der Pfeffer wächst“, fügte er leise hinzu.

„Ach du meine Güte! Wie doch das Unglück die Leute verändert!“ sagte das Frauenzimmer mit einem verzweifelten Blick zur Decke.

„Jaja, schon gut“, murmelte Mr. Weller.

„Ich habe in meinem Leben noch keinen so übellaunischen Menschen gesehen, seit mein seliger Mann tot ist“, fing das wohlbeleibte Frauenzimmer wieder an, hüstelte abermals und blickte Mr. Weller senior liebreich an.

„Halten Sie den Schnabel, ich kann jetzt ihr Gesabbel nicht hören“, fuhr der alte Herr auf, „vielleicht haben Sie die Freundlichkeit, uns alleine zu lassen, ja? – Samuel, zeig ihr den Weg und mach die Tür hinter ihr zu.“

Das wohlbeleibte Frauenzimmer verstand diesen zarten Wink, ging schnell hinaus und machte selbst die Tür hinter sich zu. Mr. Weller senior, dem große Schweißtropfen auf der Stirn standen, warf sich in seinen Stuhl zurück und sagte:

„Sammy, wenn ich hier noch ’ne Woche alleine bleiben würde, bloß ’ne Woche, mein Junge, denn würde mich das Weibsbild, noch bevor die Woche um is, mit aller Gewalt heiraten.“

„Soso, is sie denn so verliebt in dich?“ fragte Sam.

„Ach was, verliebt!“ antwortete der alte Herr, „ich kann sie mir einfach nich vom Leibe halten. Wenn ich mich in ein feuerfesten Kasten mit Patentschloß einsperren würde, die würde doch Mittel und Wege finden, an mich ranzukommen, Sammy.“

„Is doch was Feines, wenn man so umworben wird“, meinte Sam lächelnd.

„Darauf bilde ich mir aber nu gar nichts ein, Sammy“, erwiderte Mr. Weller und schürte heftig das Feuer, „es is eine schauderhafte Lage. Man vertreibt mich von Haus und Hof. Kaum daß deiner armen Stiefmutter die Luft ausgegangen war, da schickt mir auch schon so ’n altes Weib „n Topf mit Marmelade und ’ne andre ’nen Krug mit Schelee und noch ’ne andre kocht mir ’ne großmächtige Kanne voll Kamillentee und bringt sie mir auch noch eigenhändig.“ Mr. Weller schwieg einen Augenblick verdrossen, blickte sich dann um und flüsterte: „Das waren alles Witwen, Sammy, eine wie die andere; bloß die Kamillenfee nich, die war ’ne unverheiratete junge Dame von dreiundfünfzig.“

Sam antwortete nur mit einem schalkhaften Lächeln.

„Kurz und gut, Sammy, ich sage dir, ich fühle, ich bin nirgends mehr sicher wie auf ‚m Bock.“

„Und warum denkst du, daß du da sicherer bist als sonstwo?“

„Weil ein Kutscher ein prifilegiertes Individjum is“, erwiderte Mr. Weller und sah seinen Sohn fest an. „Weil ein Kutscher machen kann, was andere Leute nich können, weil ein Kutscher auf achtzig Meilen in der Runde mit allen Frauenzimmern auf freundschaftlichstem Fuß stehen kann, ohne daß es ein Menschen einfällt, daß er eine davon heiraten will. Welcher andere Mann kann das von sich sagen, Sammy?“

„Ja, es is was dran“, gab Sam zu.

„Wenn dein Gouverneur Kutscher gewesen wäre“, räsonierte Mr. Weller weiter, „bildest du dir ein, die Geschworenen würden ihn denn verurteilt haben? Warum nich? Weil es gegen ihr Gewissen gewesen wäre. Ein orntlicher Kutscher is eine Art Verbindungsglied zwischen dem ledigen und dem ehelichen Stande. Jeder richtige Mann weiß das.“

Mit diesen Worten stopfte Mr. Weller seine Pfeife aufs neue, zündete sie an, verlieh seinem Gesicht abermals einen gedankenvollen Ausdruck und fuhr gelassen fort: „Also, was ich sagen wollte, mein Junge, weil ich es nu mal nich für ratsam ansehe, daß ich hierbleiben tue und mich mit Gewalt heiraten lasse, weil ich aber auch nich aus die menschliche Gesellschaft raustreten will, bin ich zu den Entschluß gekommen, wieder meine alte Droschke zu fahren, und mein Quartier werde ich wieder in Bell-Savage aufschlagen. Das is und bleibt mein angeborenes Element, Sammy.“

„Und was soll aus dem Geschäft hier werden?“ fragte Sam.

„Das Geschäft, Samuel? Das Haus und alles, was niet- und nagelfest is, wird verscheuert, und von dem Erlös, da wollte deine Stiefmutter kurz vor ihren Tod, daß davon zweihundert Fund für dich angelegt werden in … in … wie heißen bloß die Dinger?“

„Was für Dinger?“ fragte Sam.

„Na die Dinger, wo immer so schwanken.“

„Omnibusse“, riet Sam.

„Unsinn, Omnibusse!“ brummte Mr. Weller. „Die Dinger, wo mit der Nationalschuld und den Schatzanweisungen zu tun haben.“

„Ach so, die Fonds?“

„Jawohl ja“, erwiderte Mr. Weller, „die Fonds; zweihundert Fund von dem Geld sollen für dich in Fonds angelegt werden, Samuel; in Obligatschonen zu viereinhalb Prozent.“

„Sehr gütig von der alten Dame, daß sie an mich gedacht hat“, sagte Sam. „Bin ihr sehr dankbar.“

„Der Rest wird auf meinen Namen angelegt“, fuhr Mr. Weller senior fort, „und wenn ich mal von der Heerstraße abberufen werde, denn fällt es dir auch zu. Also, mein Junge, bring nich alles auf einmal durch und nimm dir in acht, daß dir keine Witwe nich ausfindig machen tut, denn bist du nämlich verloren.“ Mr. Weller widmete sich nun wieder seiner Pfeife; sein Gesicht hatte sich etwas aufgehellt. Ganz offensichtlich hatte diese Eröffnung sein Gemüt beträchtlich erleichtert.

„Irgendwas klopft an die Tür“, sagte Sam.

„Laß ’n nur klopfen“, versetzte Mr. Weller senior mit Würde, „es sin nur Witwen.“

Das Klopfen wiederholte sich, wurde immer lauter, und da niemand „herein“ rief, wagte es der unsichtbare Gast nach einer Weile, die Tür zu öffnen und hereinzuspähen. Es war aber kein Frauenkopf, der sich da hereinstreckte, sondern die langen schwarzen Locken und das rote Gesicht Mr. Stiggins‘.

Mr. Weller fiel die Pfeife aus der Hand.

Der ehrwürdige Gentleman öffnete beinahe unmerklich nach und nach die Tür, bis die Öffnung weit genug war, um seinen langen Leib durchzulassen, und schlüpfte dann herein. Sofort wandte er sich zu Sam, hob zum Zeichen seiner unaussprechlichen Bekümmernis Hände und Augen empor, rückte den hochlehnigen Stuhl in seinen alten Winkel am Kamin, setzte sich auf die Ecke desselben und zog ein braunes Taschentuch hervor.

Alles das hatte Mr. Weller senior mit weit aufgerißnen Augen, die Hände auf die Knie gestemmt, und einem Gesicht, das das grenzenloseste Erstaunen ausdrückte, stumm mit angesehen. Sam saß ihm wortlos gegenüber und wartete mit brennender Neugier der Dinge, die da kommen sollten. Mr. Stiggins hielt sich sein braunes Taschentuch mehrere Minuten lang vor die Augen, stöhnte laut, bemeisterte aber endlich durch eine gewaltige Kraftanstrengung seine Gefühle, steckte das Tuch ein und knöpfte seinen Rock auf. Dann schürte er das Feuer, rieb sich die Hände und blickte Sam an. „Ach, mein junger Freund!“ brach er nach einer Pause mit sehr leiser Stimme das Stillschweigen. „Trauer und Betrübnis haben hier ihren Einzug gehalten.“ Sam nickte unmerklich.

„Auch für den Mann des Zorns! Es macht das Herz eines Auserwählten bluten.“

Sam hörte seinen Vater so etwas murmeln wie: er habe Lust, auch die Nase eines Auserwählten bluten zu machen. Mr. Stiggins aber achtete offenbar nicht darauf.

„Wissen Sie nicht, junger Mann“, flüsterte der Seelenhirt und rückte mit seinem Stuhl näher zu Sam, „ob sie dem Immanuel etwas vermacht hat?“

„Wer ist das?“ fragte Sam.

„Die Kapelle. Unsrer Kapelle, unsrer Herde, Mr. Samuel.“ „Sie hat dem Hirten nichts vermacht und dem Pferch auch nichts und den Tieren drin ebensowenig; nicht mal den Hunden hat sie was vermacht.“

Mr. Stiggins blickte Sam listig an, warf einen Seitenblick auf den alten Herrn, der mit geschloßnen Augen dasaß und zu schlafen schien, rückte seinen Stuhl langsam näher und flüsterte:

„Auch mir nichts, Mr. Samuel?“

Sam schüttelte den Kopf.

„Ich sollte doch denken, irgend etwas“, sagte Stiggins erblassend. „Besinnen Sie sich, Mr. Samuel, nicht einmal ein kleines Andenken?“ „Nicht mal soviel, wie Ihr oller Schirm da wert is.“ „Aber vielleicht“, fuhr Mr. Stiggins nach einigen Augenblicken tiefen Nachdenkens zögernd fort, „vielleicht hat sie mich dem Mann des Zornes zur Fürsorge empfohlen, Mr. Samuel?“

„Nach allem, was er mir gesagt hat, könnte das wohl der Fall sein“, erwiderte Sam, „er hat soeben von Ihnen gesprochen.“

„Wirklich?“ rief Stiggins strahlend. „Ah, gewiß ist eine Wandlung mit ihm vorgegangen! Wir könnten so gut miteinander leben; nicht wahr, Mr. Samuel? Ich würde für seine Geschäfte sorgen, solange Sie fort sind, und ganz gewiß gut sorgen. Nicht? Wie?“

Sam nickte, und Mr. Weller senior gab eine sonderbare Art Gekrächz von sich.

Stiggins deutete diesen Ton als ein Zeichen der Reue und Gewissensangst, blickte ermutigt umher, rieb sich die Hände, weinte, lächelte, weinte wieder, ging dann leise auf den Fußspitzen durch das Zimmer nach dem ihm wohlbekannten Schrank in der Ecke, nahm ein Glas heraus und warf bedachtsam vier Stück Zucker hinein. Dann blickte er abermals um sich, stöhnte jämmerlich, schlich hinaus in die Speisekammer, füllte das Glas halb mit Ananasrum, kam schnell zurück, trat an den Kessel, der lustig über dem Feuer brodelte, mischte seinen Grog, rührte um, schlürfte, setzte sich, tat sofort einen langen herzhaften Schluck und hielt inne, um Atem zu schöpfen.

Mr. Weller senior, der bisher immer noch verschiedne kuriose Versuche gemacht hatte, sich schlafend zu stellen, sprach bei dem allen kein Wort. Als aber Mr. Stiggins innehielt, um Atem zu holen, stürzte er auf ihn zu, riß ihm das Glas aus der Hand, schüttete ihm den Rest ins Gesicht, packte ihn am Kragen und fing an, ihn mit Fußtritten und Faustschlägen zu traktieren.

„Sammy!“ rief er dabei seinem Sohn zu. „Drück mir den Hut fest auf den Kopf.“

Samuel gehorchte, und der alte Gentleman mit dem langen wehenden Trauerbande hämmerte mit erneuter Munterkeit auf Mr. Stiggins los und jagte ihn durch das ganze Zimmer, durch den Gang und zur Haustür hinaus auf die Straße, wobei seine Wut sich immer mehr steigerte, sooft er seinen Stulpenstiefel zu einem neuen Tritt erhob.

Es war ein schöner erheiternder Anblick, den rotnasigen Herrn unter Mr. Wellers Griffen sich winden und vor Angst zittern und beben zu sehen, als in rascher Reihenfolge Schlag auf Schlag fiel. Noch prächtiger aber war es anzuschauen, wie ihn Mr. Weller gewaltsam den Kopf in einen vollen Pferdetrog tunkte und ihn so lang unter Wasser hielt, bis er halb erstickt war.

„Da!“ sagte Mr. Weller und legte seine ganze Energie in einen höchst kunstvollen letzten Fußtritt, als Mr. Stiggins luftschnappend aus dem Trog emportauchte, „jetzt schick mir noch einen von den faulen Hirten her, daß ich den auch zu Brei schlage und nachher ersäufe. Sammy, hilf mir in die Stube und reich mir ’n Gläschen Brandy. Ich bin ganz außer Atem, mein Junge.“

Fünfzigstes Kapitel


Fünfzigstes Kapitel

Mr. Jingles und Hiob Trotters letzter Austritt. Abwicklung eines Geschäfts in Grays Inn Square und ein lautes Klopfen an Mr. Perkers Tür.

Als Arabella nach mancherlei zarten Vorbereitrungen und vielen Versicherungen von Mr. Pickwick, daß durchaus kein Grund vorhanden sei, den Mut sinken zu lassen, das unbefriedigende Resultat seines Besuchs in Birmingham erfahren hatte, brach sie in Tränen aus und klagte sich laut schluchzend an, die unglückselige Ursache einer Entfremdung zwischen Vater und Sohn geworden zu sein.

„Aber, mein liebes Kind“, tröstete sie Mr. Pickwick freundlich, „es ist doch nicht Ihre Schuld. Man konnte unmöglich voraussehen, daß der alte Herr die Verheiratung seines Sohnes so übel aufnehmen würde. Gewiß“, fügte er hinzu und schaute Arabella in das hübsche Gesichtchen, „gewiß hat er nicht die entfernteste Idee von dem Vergnügen, dessen er sich beraubt.“

„Ach, mein lieber Mr. Pickwick“, jammerte Arabella, „was sollen wir nur tun, wenn er fortfährt, uns zu grollen?“

„Warten Sie es mit Geduld ab, liebes Kind, bis er besser von der Sache denkt“, erwiderte Mr. Pickwick in vergnügtem Ton.

„Aber was soll aus Nathaniel werden, wenn sein Vater die Hand von ihm abzieht?“ schluchzte Arabella.

„Für diesen Fall, meine Liebe, will ich zu prophezeien wagen, daß er schon irgendeinen Freund finden wird, der ihm mit Vergnügen dabei behilflich sein wird, sich in der Welt fortzubringen.“

Das war zu deutlich, als daß es Arabella nicht hätte verstehen sollen. Sie schlang die Arme um Mr. Pickwicks Nacken, küßte ihn zärtlich und schluchzte noch lauter als zuvor.

„Nur Mut gefaßt!“ tröstete der alte Herr und faßte ihre Hand. „Wir wollen hier noch einige Tage verweilen und sehen, ob er schreibt oder den Brief Ihres Mannes in einem andern Licht auffaßt. Wo nicht, so habe ich schon ein Dutzend Pläne ausgesonnen, von denen jeder einzelne zu Ihrem Glück führen muß. Also, seien Sie ganz ruhig, mein Kind.“

Die jungen Leute befinden sich wirklich in einer peinlichen Lage, sagte sich Mr. Pickwick, als er sich am folgenden Morgen ankleidete. Ich will mal zu Perker gehen und ihn in der Sache um Rat fragen.

Da er noch einen andern sehnlichen Wunsch hatte, der ihn nach dem Grays Inn Square trieb, nämlich unverzüglich mit dem braven kleinen Anwalt seine Rechnung abzuschließen, nahm er in aller Geschwindigkeit sein Frühstück ein und führte seine Absicht so schleunig aus, daß es noch nicht zehn Uhr geschlagen hatte, als er Grays Inn erreichte.

Die Schreiber waren noch nicht da, und so vertrieb er sich die Zeit mit Hinaussehen aus dem Treppenfenster.

Das klare Licht eines schönen Oktobermorgens verlieh sogar den trüben alten Häusern ein wenig Glanz; einige der staubüberzogenen Fenster sahen fast fröhlich aus, als die Sonnenstrahlen auf ihnen glühten. Schreiber um Schreiber eilte durch die Eingänge, und alle blickten auf die Uhr der Halle und beschleunigten oder verlangsamten ihre Schritte, je nach der Zeit, zu der ihre Kanzleistunden begannen. Das Geräusch sich öffnender und schließender Türen hallte von allen Seiten wider, Köpfe erschienen wie durch Zauberschlag an den Fenstern; die Portiers stellten sich auf ihre Posten, die Scheuerfrauen mit ihren abgetretenen Schuhen schlurften davon, der Briefträger eilte von Haus zu Haus, und der ganze juristische Bienenschwarm war in geschäftiger Aufregung.

Nach einigen Minuten erschien Mr. Lowten, begrüßte Mr. Pickwick und schloß die Kanzlei auf.

„Das Geschäft ist in Ordnung, das wissen Sie doch“, sagte er, als er mit großer Umständlichkeit sein Pult aufgeräumt, die Federn geschnitten und seinen Arbeitsrock angezogen hatte.

„Welches Geschäft?“ fragte Mr. Pickwick. „Die Kostensache für die Bardell?“

„Nein, das wegen des Burschen, den wir auf Ihre Rechnung aus der Fleet auslösten und der nach Demerara soll.“

„Ach so, Mr. Jingle“, sagte Mr. Pickwick hastig. „Nun, wie ist es gegangen?“

„Alles in schönster Ordnung. Der Agent in Liverpool schreibt, Sie hätten ihm früher so viele Gefälligkeiten erwiesen, daß es ihm ein Vergnügen sei, ihn auf Ihre Empfehlung hin unterzubringen.“

„Bravo, das freut mich“, frohlockte Mr. Pickwick.

„Aber der andre ist ein Mordspinsel.“

„Welcher andre?“

„Na, der Bediente oder Freund Jingles, oder was er sonst ist; Sie wissen doch, der Trotter.“

„Ah so“, sagte Mr. Pickwick lächelnd. „Den hätte ich gerade für das Gegenteil gehalten.“

„Ich auch. – Schon nach dem wenigen, was ich von ihm gesehen habe“, erwiderte Lowten. „Aber was sagen Sie dazu, daß er ebenfalls nach Demerara geht? Perkers Anerbieten von achtzehn Schilling wöchentlich mit der Aussicht auf mehr, wenn er sich gut aufführe, machte nicht den geringsten Eindruck auf ihn. Er sagte, er müsse unbedingt mit Jingle gehen. Sie baten beide Mr. Perker, noch einmal zu schreiben, und jetzt ist er glücklich nicht halb so gut untergebracht wie ein Verbrecher in Neusüdwales.“

„Ein närrischer Kerl“, sagte Mr. Pickwick mit strahlendem Gesicht, „wahrhaftig, ein ganz närrischer Kerl.“

„Oh, es ist noch mehr als närrisch, es ist einfach blödsinnig“, erwiderte Lowten verächtlich und schnitzelte an seiner Feder herum. „Er sagt, Jingle sei der einzige Freund, den er je gehabt habe, deswegen könne er ihn jetzt nicht verlassen, und ähnliches dummes Zeug. Freundschaft ist ja recht schön, wir zum Beispiel sind in der ,Elster‘ alle gut befreundet, aber jeder zahlt für sich selbst. Das fehlte einem noch, daß man sich eines andern wegen etwas abgehen lassen sollte. Der Mensch darf meiner Ansicht nach nur zwei Neigungen haben: die erste, zu Nummer eins, das heißt, zu sich selbst, und die zweite zu den Weibern. Das ist meine Meinung. Hahaha!“

Mr. Lowten schloß mit einem lauten, halb lustigen und halb höhnischen Gelächter, das er jedoch schnell abbrach, als er Mr. Perker kommen hörte. Mit merkwürdiger Behendigkeit schwang er sich auf seinen Stuhl und schrieb eifrig.

Die Begrüßung zwischen Mr. Pickwick und seinem Anwalt war warm und herzlich. Der Gelehrte hatte sich indes kaum in den Armstuhl geworfen, als Jingle und Hiob Trotter gemeldet wurden.

„Na“, sagte Perker, „Sie kennen diesen Herrn wohl nicht?“ als beide eintraten und bei Mr. Pickwicks Anblick verlegen auf der Schwelle stehenblieben.

„Guten Grund dazu“, versetzte Jingle und trat vor. „Mr. Pickwick – aufs tiefste Dankgefühl verpflichtet – Leben gerettet – einen Menschen aus mir gemacht – sollen es nie bereuen, Sir.“

„Es freut mich, Sie so reden zu hören“, sagte Mr. Pickwick. „Sie sehen bereits viel besser aus.“

„Alles Ihr Werk – Sir – große Veränderung, Fleet – ungesunder Ort – sehr ungesund“, versetzte Jingle und schüttelte den Kopf. Er war anständig und reinlich gekleidet, ebenso Hiob, der kerzengerade hinter ihm stand und Mr. Pickwick wie versteinert anstarrte. „Wann gehen sie nach Liverpool?“ fragte Mr. Pickwick halblaut seinen Anwalt.

„Heute abend, Sir, um sieben Uhr“, erwiderte Hiob und trat einen Schritt vor. „Mit der City-Postkutsche, Sir.“

„Haben Sie Ihre Plätze schon?“

„Ja, Sir.“

„So sind Sie also fest entschlossen, zu gehen?“

„Ja, Sir.“

„Was die nötige Ausrüstung für Jingle betrifft“, sagte Perker laut zu Mr. Pickwick, „so habe ich veranlaßt, daß ihm eine kleine Summe von seinem Vierteljahrsgehalt abgezogen wird, um diese Ausgabe zu decken, was in einem Jahre geschehen sein wird. Ich bin entschieden dagegen, mein lieber Herr, daß Sie irgend etwas für ihn tun, wofern er es nicht durch Fleiß und gute Aufführung verdient.“

„Wird gewiß geschehen“, unterbrach ihn Jingle mit großer Entschiedenheit. „Klarer Kopf jetzt – Mann von Welt – werden schon durchkommen.“

„Durch die Befriedigung seiner Gläubiger, die Auslösung seiner Garderobe, die Unterstützung, die Sie ihm im Gefängnis zukommen ließen, –und die Bezahlung der Überfahrtskosten“, fuhr Perker, ohne die mindeste Rücksicht auf Jingles Bemerkung zu nehmen, fort, „haben Sie bereits über fünfzig Pfund verloren.“

„Nicht verloren“, rief Jingle hastig. „Alles bezahlen – fleißig arbeiten – sparen – jeden Heller. Gelbes Fieber vielleicht – wäre etwas anderes – aber sonst …“

Mr. Jingle versagte die Stimme, er schlug sich heftig auf die Brust, fuhr mit der Hand über die Augen und setzte sich wieder.

„Er will damit sagen“, erläuterte Hiob und trat wieder einen Schritt vor, „daß er, wenn ihn das Fieber nicht wegrafft, das Geld zurückbezahlen wird. Bleibt er am Leben, so tut er es gewiß, Mr. Pickwick. Ich will selbst darauf sehen, daß es geschieht; aber ich weiß, daß er es tun wird, Sir“, fügte er mit großem Nachdruck hinzu. „Ich könnte darauf schwören.“

„Schon gut, schon gut“, wehrte Mr. Pickwick ab, der bereits Perker ein ganzes Dutzend zorniger Blicke zugeworfen, um ihm zu bedeuten, er möge doch die Aufzählung seiner Wohltaten unterlassen, was jedoch der kleine Anwalt geflissentlich nicht beachtet hatte. „Sie müssen sich nur hüten, keine so verzweifelten Kricketmatches mehr einzugehen, Mr. Jingle, oder Ihre Bekanntschaft mit Sir Thomas Blazo zu erneuern; dann zweifle ich nicht, daß Sie Ihre Gesundheit erhalten werden.“

Mr. Jingle lächelte über diesen Scherz, sah aber doch ein wenig verlegen aus, und so gab Mr. Pickwick dem Gespräch rasch eine andre Wendung. „Wissen Sie nicht vielleicht“, fragte er, „was aus Ihrem andern Freunde geworden ist, den ich in Rochester kennenlernte?“

„Trübsinns-Jemmy?“ fragte Jingle.

„Ja.“

Jingle schüttelte den Kopf. – „Ein geriebener Bursche – ein närrischer Kauz – ein Lügengenie – Hiobs Bruder.“

„Mr. Trotters Bruder?!“ rief Mr. Pickwick. „Ja, wahrhaftig, wenn ich Hiob so in der Nähe ansehe, entdecke ich eine gewisse Ähnlichkeit.“

„Man hat uns immer für ähnlich gehalten, Sir“, sagte Hiob mit einem verschmitzten Blick, „nur war ich von jeher ernsthafter Natur, und er niemals. Er wanderte nach Amerika aus, Sir, weil man ihm hier zu sehr auf die Finger sah, als daß er sich hätte behaglich fühlen können, und seitdem hat man nichts wieder von ihm gehört.“

„Deswegen habe ich also die ,Seite aus dem Roman des wirklichen Lebens‘ nicht bekommen, die er mir eines Morgens versprach, als er auf der Rochesterbrücke stand und offenbar mit Selbstmordgedanken umging?“ sagte Mr. Pickwick lächelnd. „Ich brauche wohl nicht zu fragen, war sein trübseliges Benehmen natürlich oder bloß erkünstelt?“

„Er konnte sich in jede Rolle hineinfinden, Sir“, sagte Hiob, „und Sie dürfen von Glück sagen, daß Sie so mit heiler Haut davongekommen sind. Bei näherem Umgang würde er noch ein weit gefährlicherer Bekannter für Sie geworden sein, als“ – er blickte auf Jingle, stockte und setzte endlich hinzu – „als – als – ich selbst sogar.“

„Sie haben ja eine recht hoffnungsvolle Familie, Mr. Trotter“, sagte Perker und versiegelte den Brief, den er soeben beendet hatte.

„Jawohl, Sir, allerdings“, versetzte Hiob. „Na“, fuhr der kleine Mann lachend fort, „Sie werden hoffentlich aus der Art schlagen. Übergeben Sie diesen Brief dem Agenten, wenn Sie nach Liverpool kommen, und nehmen Sie den Rat von mir an, meine Herren, in Westindien nicht gar zu gerissen aufzutreten. Verscherzen Sie sich diese Gelegenheit, so verdienen Sie beide gehenkt zu werden, und ich glaube auch fest, daß dies geschehen wird. Jetzt aber muß ich bitten, mich mit Mr. Pickwick allein zu lassen, denn wir haben noch vieles zu besprechen, und unsere Zeit ist kostbar.“

Bei diesen Worten sah Perker nach der Tür mit einer Miene, die deutlich den Wunsch ausdrückte, die Herren möchten den Abschied so kurz wie möglich machen.

Von Mr. Jingles Seite war er auch kurz genug. Er dankte dem kleinen Anwalt in wenigen herausgestoßenen Worten für die Güte und Bereitwilligkeit, mit der er ihm Beistand geleistet, wandte sich dann an seinen Wohltäter und stand einige Sekunden da, unentschlossen, was er sagen oder wie er sich benehmen solle. Hiob Trotter erlöste ihn aus seiner Verlegenheit, indem er ihn, mit einer demütigen, dankbaren Verbeugung gegen Mr. Pickwick, sachte am Arme nahm und hinausführte.

„Ein würdiges Paar“, sagte Perker, als sich die Tür hinter ihnen schloß.

„Ich hoffe, daß sie es werden“, erwiderte Pickwick. „Was meinen Sie? Ist Aussicht auf bleibende Besserung vorhanden?“

Perker zuckte die Achseln; als er aber Mr. Pickwicks unruhigen und mißvergnügten Blick bemerkte, sagte er:

„Aussicht ist allerdings vorhanden, und ich hoffe, es wird alles gut ausgehen. Sie sind jetzt fraglos sehr zerknirscht, aber Sie müssen doch bedenken, daß die Erinnerung an ihre kürzlich erstandenen Leiden noch ganz frisch bei ihnen ist. Was aus ihnen werden wird, wenn sie nach und nach verschwindet, ist eine Frage, die ich sowenig beantworten kann wie Sie. Selbst indes, mein lieber Herr“, fügte er hinzu und legte seine Hand auf Mr. Pickwicks Schulter, „mag es ausfallen, wie es will, Ihre Absicht bleibt immer gleich ehrenhaft. Ob jene Art von Wohlwollen, die so unendlich behutsam und vorsichtig zu Werke geht, daß sie sich nur selten in Anwendung bringen läßt – damit der Wohltäter nur ja nicht betrogen und dadurch in seiner Eigenliebe gekränkt werde –, wirkliche Menschenfreundlichkeit ist oder bloß ein verfälschter Nachdruck davon, überlasse ich klügeren Köpfen zu ermitteln. Wenn übrigens die zwei Burschen morgen schon einen nächtlichen Einbruch begingen, meine Meinung von Ihrer Handlungsweise, Pickwick, würde dieselbe bleiben.“

Mit diesen Bemerkungen, die mit weit mehr lebhaftem Mitgefühl und Ernst gesprochen waren, als es bei den Herren Juristen sonst der Fall zu sein pflegt, rückte Mr. Perker seinen Stuhl an sein Pult und ließ sich von Mr. Pickwick erzählen, wie die Sache mit Mr. Winkle senior ausgefallen war.

„Lassen Sie ihm eine Woche Zeit“, sagte er und nickte prophetisch mit dem Kopf.

„Meinen Sie, er wird mürbe werden?“ fragte Mr. Pickwick.

„Hoffentlich. Wenn nicht, so müssen wir auf die Überredungsgabe der jungen Dame bauen, etwas, was jeder andre, bloß Sie nicht, gleich im Anfang getan hätte.“

Mr. Perker nahm eine Prise und schnitt groteske Gesichter, mit denen er offenbar andeuten wollte, was die Überredungskünste junger Damen alles zuwege zu bringen imstande wären, als man in der Schreibstube reden hörte und unmittelbar darauf Lowten klopfte, mit sehr geheimnisvoller Miene eintrat und die Tür vorsichtig hinter sich zumachte.

„Was gibt’s denn?“ fragte Perker.

„Man fragt nach Ihnen, Sir.“

„Wer?“

Lowten sah Mr. Pickwick an und hustete.

„Wer fragt nach mir? Können Sie denn nicht sprechen, Mr. Lowten?“

„Hm, ja, Sir. Es sind die Herren Dodson und Fogg.“

„Richtig, ja!“ sagte der kleine Anwalt und sah hastig auf die Uhr. „Ich habe sie auf halb zwölf hierher bestellt, um Ihre Angelegenheit mit ihnen abzumachen, Mr. Pickwick. Ich gab ihnen eine Anweisung, gegen die sie mir Ihr Entlassungsdekret aus dem Gefängnis schickten. Die Leute kommen sehr ungelegen, mein lieber Herr, was wollen Sie tun? Gehen Sie vielleicht einen Augenblick in das andre Zimmer, nicht?“

Das andre Zimmer war indes dasselbe, in dem sich die Herren Dodson und Fogg befanden, und Mr. Pickwick erklärte daher entschlossen, er werde bleiben, wo er sei, zumal die Herren Dodson und Fogg allen Grund hätten, sich vor ihm zu schämen, und er nicht die geringste Ursache, vor ihnen die Flucht zu ergreifen.

„Ganz gut, mein lieber Herr, ganz gut“, erwiderte Perker, „soviel muß ich Ihnen jedoch sagen: Wenn Sie glauben, daß Dodson oder Fogg auch nur die geringste Verlegenheit an den Tag legen wird, so sind Sie der sanguinischste Mensch, der mir je vorgekommen ist. Führen Sie die Leute herein, Lowten.“

Mr. Lowten verschwand mit einem Grinsen und öffnete sogleich der Firma Dodson und Fogg die Tür.

„Sie kennen Mr. Pickwick bereits, dächte ich“, begann Perker zu Dodson und wies mit der Feder nach der Richtung, wo der Gelehrte saß. „Ah, Mr. Pickwick, wie befinden Sie sich?“ sagte sofort Dodson mit lauter Stimme.

„Oh, Mr. Pickwick! Wie geht’s“, rief Fogg. „Doch wohl, wie ich hoffe, Sir? Will’s meinen, daß ich den Herrn kenne“, wendete er sich zu Perker, nahm einen Stuhl und lächelte.

Mr. Pickwick nickte zur Erwiderung auf diese Begrüßung nur unmerklich mit dem Kopf, und als er Fogg einen Pack Akten aus der Rocktasche ziehen sah, stand er auf und trat ans Fenster.

„Mr. Pickwick braucht sich nicht zu entfernen, Mr. Perker“, sagte Fogg, löste den roten Bindfaden, der das Paket zusammenhielt, und lächelte noch süßer als zuvor. „Mr. Pickwick kennt unsre Verhandlungen ziemlich genau, und ich dächte, wir haben hier keine Geheimnisse voreinander. Hihihi!“

„Hahaha!“ lachte Dodson.

„Mr. Pickwick wird sich gewiß sehr freuen“, fuhr Fogg aufgeräumt fort und ordnete die Papiere, „zu hören, daß unsere Kosten auf hundertunddreiunddreißig Pfund, sechs Schilling und vier Pence festgesetzt wurden, Mr. Perker. – Bitte, wollen Sie sich überzeugen.“

Während Fogg und Perker die Köpfe zusammensteckten und ihre Akten verglichen, wandte sich Dodson in verbindlichem Tone zu Mr. Pickwick:

„Sie scheinen mir nicht mehr ganz so kräftig auszusehen wie damals, als ich zum letztenmal das Vergnügen hatte, Sie zu sehen, Mr. Pickwick.“

„Kann schon sein, Sir“, erwiderte Mr. Pickwick, der die ganze Zeit über die beiden Associés zornig angefunkelt hatte, ohne daß dies den mindesten Eindruck auf sie gemacht hätte. „Es ist auch kein Wunder, Sir, denn ich bin in der letzten Zeit der Spielball von ein paar Schurken gewesen, Sir.“

Perker hustete heftig und fragte Mr. Pickwick, ob er nicht vielleicht die Zeitung lesen wolle – eine Zumutung, die dieser auf das entschiedenste zurückwies.

„Jaja“, sagte Dodson, „das will ich gern glauben, es ist eine sehr gemischte Gesellschaft in der Fleet. Wo haben Sie dort gewohnt, Mr. Pickwick?“

„Mein Zimmer“, erwiderte der schwer gekränkte Gelehrte, „befand sich im Restaurationsgang.“

„So, so“, sagte Dodson. „Meines Wissens ist dies ein sehr angenehmer Teil des Gebäudes.“

„Ja, sehr“, entgegnete Mr. Pickwick trocken.

Die Unterhaltung war ganz danach angetan, einen Mann von erregbarem Temperament aufs äußerste zu reizen, aber Mr. Pickwick bezwang heldenhaft seinen Ingrimm. Als aber Perker einen Scheck ausfüllte und Fogg ihn mit einem triumphierenden Lächeln, das sich sogar dem strengen Gesichte Dodson mitteilte, einsteckte, da fühlte er, wie ihm das Blut vor Zorn in die Wangen stieg.

„Wir sind fertig, Mr. Dodson“, sagte Fogg und zog seine Handschuhe an. „Wir können gehen.“

„Gut“, sagte Dodson und stand auf, „ich bin bereit.“

„Ich schätze mich ungemein glücklich“, bemerkte Fogg, durch die Anweisung sichtlich in die beste Laune versetzt, „Mr. Pickwicks werte Bekanntschaft gemacht zu haben. Ich hoffe, Sie werden von uns nicht mehr ganz so übel denken, Mr. Pickwick, wie damals, als ich das erstemal das Vergnügen hatte.“

„Das hoffe ich ebenfalls“, fügte Dodson edelmütig hinzu. „Mr. Pickwick kennt uns jetzt ohne Zweifel besser. Was auch Ihre Meinung von Leuten unseres Standes sein mag, Sir, ich kann Ihnen versichern, daß ich wegen der Ausdrücke, deren Sie sich gegen uns in unserer Kanzlei bedienen zu müssen glaubten, keinen Groll gegen Sie hege.“

„Auch ich nicht, seien Sie versichert. – Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen, mein Herr“, fiel Fogg ein, nahm seinen Regenschirm unter den Arm und streckte die Hand zur Versöhnung dem ergrimmten Gelehrten hin, der sofort beide Hände unter seine Rockschöße steckte und den Advokaten mit Verachtung von oben bis unten maß.

„Lowten!“ rief Perker. „Begleiten Sie die Herren hinaus.“

„Warten Sie noch einen Augenblick, Perker“, sagte Mr. Pickwick, „ich will sprechen.“

„Mein lieber Herr, bitte, lassen Sie die Sache doch schon auf sich beruhen“, bat der kleine Anwalt, der während der ganzen Szene wie auf Nadeln gesessen hatte. „Bitte, Mr. Pickwick …“

„Ich lasse mir nicht den Mund verbieten, Sir“, fuhr Mr. Pickwick heftig auf. „Mr. Dodson, Sie haben soeben einige Bemerkungen an mich gerichtet!“

Dodson drehte sich um, neigte verbindlich das Haupt und lächelte freundlich.

„Bemerkungen!“ wiederholte Mr. Pickwick atemlos. „Und Ihr Associe hat mir die Hand hingereicht, und Sie haben beide einen verzeihenden, infamen Ton gegen mich angeschlagen, der denn doch jedes Maß von Unverschämtheit übersteigt!“

„Was sagen Sie da, Sir?“ riefen Dodson und Fogg wie aus einem Munde.

„Sie wissen ganz gut, daß ich das Opfer Ihrer Ränke und Kniffe geworden bin!“ fuhr Mr. Pickwick erregt fort. „Wissen Sie, daß Sie mich ins Gefängnis gebracht und ausgeplündert haben? Wissen Sie, daß Sie die Anwälte für die Klägerin im Prozeß Bardell kontra Pickwick waren?“ „Ja, Sir, das wissen wir“, erwiderte Dodson gelassen.

„Gewiß, gewiß, Sir“, fügte Fogg hinzu und schlug – vielleicht zufällig – auf seine Tasche.

„Ich sehe, daß Sie sich mit Vergnügen daran erinnern“, sagte Mr. Pickwick und versuchte zum erstenmal in seinem Leben zu hohnlächeln, was ihm jedoch gänzlich mißlang. „So sehr ich mir schon längst gewünscht habe, Ihnen mit dürren Worten sagen zu können, was ich von Ihnen denke, so würde ich dennoch mit Rücksicht auf die Anwesenheit meines Freundes Perker sogar diese Gelegenheit haben vorübergehen lassen, hätten Sie nicht diesen unverantwortlichen Ton gegen mich angeschlagen und sich diese schamlose Vertraulichkeit erlaubt; ich sage schamlose Vertraulichkeit, Sir!“

Mr. Pickwick wandte sich dabei mit so wütender Gebärde gegen Fogg, daß dieser eiligst an die Tür retirierte.

„Nehmen Sie sich in acht, Sir!“ rief Dodson, verschanzte sich, obgleich er der größte von allen Anwesenden war, dennoch wohlweislich hinter Fogg und sprach mit käsebleichem Gesicht über dessen Kopf hinweg. „Lassen Sie sich nicht verleiten, Mr. Fogg, zurückzuschlagen!“

„Nein, nein, ich werde mich hüten“, hauchte Fogg und wich ängstlich zurück, zum offenbaren Vorteil seines Associés, der dadurch, immerwährend gedeckt, immer mehr instand gesetzt wurde, die Ausgangstür zu gewinnen.

„Sie sind“, nahm Mr. Pickwick seine Strafpredigt wieder auf, „Sie sind ein vortreffliches Paar von niederträchtigen, spitzbübischen, rechtsverdreherischen Gaunern!“

„Nun, sind Sie nicht endlich fertig?“ fiel Perker ein.

„Ja“, versetzte Mr. Pickwick, „ich bin fertig. Es ist alles in den Worten Inbegriffen: es sind ein paar niederträchtige, spitzbübische, rechtsverdreherische Gauner.“

„Jetzt“, sagte Perker in versöhnlichem Ton, „jetzt, meine werten Herren, hat er alles gesagt, was er zu sagen hatte; ich bitte, gehen Sie endlich. – Lowten, ist die Tür offen?“

Mr. Lowten konnte ein Lachen kaum unterdrücken und nickte bloß.

„Also – guten Morgen! – Guten Morgen! – Bitte, meine verehrten Herren! – Mr. Lowten, die Tür!“ rief der kleine Mann, die Herren Dodson und Fogg hastig aus dem Zimmer treibend. „Dahin, meine verehrten Herren! – Bitte, halten Sie sich nicht länger auf! – Aber zum Donnerwetter, Mr. Lowten! – Die Tür! Die Tür! – Warum öffnen Sie nicht?“

„Wenn es Gesetze in England gibt, Sir“, rief Dodson und setzte seinen Hut auf, „so sollen Sie mir dafür büßen.“

„Sie sind ein paar niederträchtige –“

„Das werden Sie uns teuer bezahlen, Sir“, sagte Fogg und drohte Mr. Pickwick mit der Faust.

„– diebische, rechtsverdreherische Gauner“, wiederholte der Gelehrte, ohne sich im geringsten einschüchtern zu lassen.

„Gauner!“ rief er den beiden Advokaten noch über das Treppengeländer nach, riß sich von Lowten und Perker los, sprang ans Fenster und schrie noch einmal hinaus: „Gauner!“

Als er den Kopf wieder zurückzog, umschwebte ein mildes Lächeln seine Züge; ruhig setzte er sich nieder und erklärte, er habe sich jetzt von einer großen Last befreit und fühle sich wieder vollkommen behaglich und vergnügt.

Perker sprach kein Wort, bis er seine Dose geleert und Lowten fortgeschickt hatte, um sie wieder füllen zu lassen; dann aber brach er in ein lautes Gelächter aus, das volle fünf Minuten dauerte, und sagte, als er wieder zu Atem kam, er sollte eigentlich sehr unwillig sein, aber für den Augenblick könne er der Sache keine ernste Seite abgewinnen; er werde übrigens schon noch einmal wirklich böse werden.

„Jetzt will ich auch mit Ihnen abrechnen“, sagte Mr. Pickwick.

„Etwa auch auf diese Weise?“ fragte Perker lachend. „Aber was ist denn nur heute los?“

Ein wütendes Klopfen ertönte nämlich an der Entreetür. Es war kein gewöhnliches doppeltes Klopfen, sondern eine fortlaufende ununterbrochene Kette von lauten Schlägen, die gar nicht aufhören wollten.

„Jaja, ich komme ja schon“, rief Mr. Lowten, der sich eben in einer dunkeln Nebenkammer die Hände gewaschen hatte. „Der schlägt ja rein die Tür ein“, lief hinaus, öffnete und erblickte …

Sechstes Kapitel


Sechstes Kapitel

Ein kurzes Kapitel, in dem unter anderem berichtet wird, wie Mr. Pickwick sich verleiten ließ, zu kutschieren, und Mr. Winkle, zu reiten, und wie sie beide damit zurechtkamen.

Hell und heiter war der Himmel, balsamisch war die Luft, und alles ringsum lieblich anzuschauen, als Mr. Pickwick, in den Anblick der herrlichen Natur versunken, an dem Geländer der Brücke von Rochester lehnte und auf das Frühstück wartete. Die Landschaft bot in der Tat einen so reizenden Anblick, daß sie wohl auch auf ein weniger beschauliches Gemüt einen tiefen Eindruck gemacht haben würde.

Dem Beschauer zur Linken lag eine verfallene Mauer, an manchen Stellen zusammengestürzt und an ändern in schweren Massen über das schmale Ufer vorhängend. Die ausgezackten und scharfumrissenen Uferfelsen bedeckten dichte Büschel von Seegras, die in jedem Lufthauch erzitterten, und der grüne Efeu rankte sich melancholisch um das düstere, verfallene Gemäuer. – Im Hintergrund erhob sich das alte Schloß mit seinen dachlosen Türmen, die massiven Mauern zerbröckelt, ebenso stolz von früherer Macht erzählend wie damals, als es vor siebenhundert Jahren von Waffenklang oder festlichen Gelagen widerhallte. Auf beiden Seiten dehnten sich die Ufer der Medway, mit Saatfeldern und Wiesen bedeckt, hier und dort von einer Windmühle oder einer fernen Kirche unterbrochen; soweit das Auge reichte, eine volle und bunte Landschaft, deren Reiz die wechselnden Schatten noch erhöhten, die darüber hineilten, wie die leichten Wolken in dem Licht der Morgensonne fortzogen. – Der geräuschlos dahingleitende Fluß spiegelte das klare Himmelsblau, und die Ruder der Fischer tauchten mit hellem, plätscherndem Ton in das „Wasser, wie die plumpen, aber pittoresken Boote langsam stromabwärts trieben.

Ein tiefer Seufzer und ein leichter Schlag auf die Schulter weckten Mr. Pickwick aus seinen angenehmen Träumen, in die ihn diese Szenerie eingewiegt hatte, und als er sich umwandte, stand der trübsinnige Jemmy vor ihm.

„Sie betrachten die Gegend, Sir?“

„Jawohl“, versetzte Mr. Pickwick.

„Und freuen sich, daß Sie so früh aufgestanden sind?“

Mr. Pickwick nickte stumm.

„Ach, man sollte immer früh aufstehen, um die Sonne in ihrem vollen Glänze zu genießen, denn sie strahlt selten so hell tagsüber. Der Morgen des Tages und der Morgen des Lebens gleichen sich nur zu sehr.“

„Sehr richtig, Sir“, sagte Mr. Pickwick.

„Wie oft pflegt man zu sagen“, fuhr der Trübsinnige fort, „der Tag fängt zu schön an, um so zu bleiben, und wie gut läßt sich das auf unser tägliches Leben anwenden! O Gott, was würde ich darum geben, wenn ich die Tage meiner Kindheit zurückrufen oder sie für immer vergessen könnte!“

„Sie haben viel Trauriges erlebt?“ fragte Mr. Pickwick teilnehmend.

„Allerdings“, versetzte der Trübsinnige hastig, „mehr als jemand, der mich jetzt kennt, für möglich halten sollte.“ Er schwieg einen Augenblick und setzte dann hinzu: „Hat Sie wohl je an einem solchen Morgen schon der Gedanke beschlichen, daß im Ertrinken Friede und Seligkeit liegen könnte?“

„Gott steh mir bei, nein“, erwiderte Mr. Pickwick, einen Schritt von der Balustrade zurücktretend, weil ihn der Gedanke an die Möglichkeit erschreckte, der Trübsinnige könnte ihn hinunterschleudern, um ihn den Versuch machen zu lassen.

„Ich bin schon oft mit dem Gedanken umgegangen“, fuhr der Trübsinnige fort, ohne auf Mr. Pickwicks Bewegung zu achten. „Die stille kühle Flut scheint mir eine Einladung zur Ruhe und zum Frieden zu murmeln. – Ein Sprung – ein Plätschern – ein kurzer Kampf – ein Wasserwirbel, der allmählich abnimmt und immer kleinere Wellen wirft – die Gewässer schließen sich, und alles Erdenleid ist vorüber.“

Die eingesunkenen Augen des Trübsinnigen leuchteten auf, während er so sprach; doch seine momentane Erregung wich sogleich wieder seiner gewohnten Ruhe, und er fuhr gelassen fort:

„Genug davon! Ich möchte wegen etwas ändern mit Ihnen sprechen. Sie baten mich vorgestern abend, Ihnen vorzulesen, und hörten aufmerksam zu …“

„Allerdings“, versetzte Mr. Pickwick, „und ich meinte wirklich …“

„Ich habe nicht gefragt, um Ihr Urteil zu hören, und ich bedarf dessen nicht“, unterbrach ihn der Trübsinnige. „Sie reisen zum Vergnügen und zur Belehrung. Was meinen Sie, wenn ich Ihnen ein interessantes Manuskript mitteilte? – Doch merken Sie wohl, interessant, nicht etwa wegen seines schauerlichen und unwahrscheinlichen Inhalts, sondern als ein Blatt aus der Romantik des wirklichen Lebens. Würden Sie es wohl dem Klub mitteilen, den Sie so häufig erwähnten?“

„Sicherlich“, erwiderte Mr. Pickwick, „wenn Sie es wünschen. Es würde sodann den Klubakten einverleibt werden.“

„Also gut“, sagte der Trübsinnige und fragte nach Mr. Pickwicks Adresse.

Mr. Pickwick nannte seine und seiner Freunde wahrscheinliche Reiseroute, der Trübsinnige notierte sie sorgfältig in einem schmutzigen Taschenbuch, lehnte Mr. Pickwicks Einladung zum Frühstück ab, begleitete ihn bis zum Gasthof und ging dann langsam seines Weges.

Mr. Pickwick wurde bereits von seinen drei Reisegefährten beim Frühstück erwartet, das ihrer, trefflich serviert, im Speisesaal harrte. Sie nahmen Platz, und gekochter Schinken, Eier, Tee und Kaffee begannen mit einer Schnelligkeit zu verschwinden, die sowohl von der Vorzüglichkeit der Speisen wie von dem guten Appetit der Reisenden Zeugnis ablegte.

„Aber jetzt müssen wir an Manor Farm denken“, sagte Mr. Pickwick. „Wie wollen wir die Reise dorthin machen?“

„Es wäre vielleicht das beste, wenn wir den Kellner darüber fragten“, meinte Mr. Tupman, und so wurde denn der Kellner gerufen.

„Dingley Dell – fünfzehn Meilen, meine Herren – Feldwege –. Postpferde, meine Herren?“

„In einer Postchaise würden nur zwei von uns Platz haben“, gab Mr. Pickwick zu bedenken.

„Allerdings, Sir – bitte um Entschuldigung, Sir – sehr hübscher vierrädriger Wagen hier, Sir – Sitze innen für zwei Herren – einer zum Kutschieren – oh, ich bitte um Vergebung, Sir – das würde ja auch nur für drei genügen.“

„Was ist da zu tun?“ fragte Mr. Snodgraß.

„Vielleicht beliebt es einem von den Herren, zu reiten?“ versetzte der Kellner mit einem Blick auf Mr. Winkle. „Sehr gute Reitpferde, Sir. Wenn einer von Mr. Wardles Leuten nach Rochester kommt, kann er die Pferde und den Wagen zurückbringen, Sir.“

„Das läßt sich hören“, meinte Mr. Pickwick. „Winkle, wollen Sie reiten?“

In den verborgensten Tiefen von Mr. Winkles Herzen stiegen große Bedenken auf, aber da er sich um keinen Preis etwas vergeben wollte, erwiderte er sogleich mit der größten Zuversicht:

„Mit Vergnügen. Ich ziehe diese Art zu reisen sogar jeder ändern vor.“

Mr. Winkle hatte sein Schicksal herausgefordert, und jetzt gab es natürlich kein Zurück mehr.

„Also lassen Sie alles für elf Uhr vorbereiten“, befahl Mr. Pickwick.

„Sehr wohl, Sir“, versetzte der Kellner und entfernte sich.

Nach dem Frühstück verfügten sich die Reisenden auf ihre Zimmer, um die Kleider zu wechseln und ihre Effekten einzupacken. Mr. Pickwick hatte seine Vorbereitungen beendigt und betrachtete eben vom Fenster des Gastzimmers aus die Vorübergehenden auf der Straße, da trat der Kellner ein und meldete, der Wagen stünde bereit; wie zur Bestätigung dieser Meldung wurde im gleichen Augenblick der Wagen vor dem Hotel sichtbar.

Es war ein seltsamer, kleiner grüner Kastenwagen auf vier Rädern mit einem Sitz für zwei Personen, so eng und niedrig wie eine Schublade, und einem hohen Bock, der freilich nur einen Sitzplatz aufwies. Er wurde von einem Braunen gezogen, dessen Knochenbau zwar riesenhaft, aber sonst durchaus ebenmäßig war. Daneben stand ein Stallknecht mit einem anderen Riesengaul – offenbar einem nahen Verwandten des ersten –, den man für Mr. Winkle gesattelt hatte.

„Lieber Gott“, rief Mr. Pickwick aus, als er mit seinen Freunden vor die Tür trat, „lieber Gott, wer soll denn kutschieren? Daran habe ich ja gar nicht gedacht.“

„Natürlich Sie“, sagte Mr. Tupman.

„Ich?“

„Bloß keine Angst nicht, Sir“, warf der Stallknecht ein. „Garantiert lammfromm; mit dem würde ja ein Kind fertig werden.“

„Er ist also nicht scheu?“ fragte Mr. Pickwick.

„Scheu, Sir? – Der scheut nicht, und wenn er an einem ganzen Wagen voll Affen mit verbrannten Schwänzen vorbei müßte.“

Diese Versicherung zerstreute die letzten Bedenken; Mr. Tupman und Mr. Snodgraß stiegen ein, und Mr. Pickwick erklomm den Bock.

„Nun, Glanz-Willem“, sagte der Stallknecht zu seinem Adjunkten, „gib dem Herrn die Zügel.“

Der Glanz-Willem, wahrscheinlich wegen seines angepappten Haares und seines fettschimmernden Gesichtes so genannt, legte die Zügel in Mr. Pickwicks linke Hand, und der Stallknecht drückte ihm die Peitsche in die rechte.

„Brrr!“ rief Mr. Pickwick, als der gigantische Vierfüßler eine entschiedene Neigung an den Tag legte, den Wagen nach rückwärts in die Fenster des Gastzimmers zu drängen.

„Brrr!“ wiederholten Mr. Snodgraß und Mr. Tupman aus dem Wagen.

„’s is bloß Stallfeuer, Sir“, sagte der Oberstallknecht ermutigend. „Halt ihn fest, Willem!“

Der Adjunkt tat der Lebhaftigkeit des Tieres Einhalt, und der Stallknecht trat zu Mr. Winkle, um ihm beim Aufsteigen behilflich zu sein.

„Auf der ändern Seite, Sir, wenn’s gefällig ist“, sagte er.

„Mir scheint, gar, der Herr steigt rechts auf“, murmelte grinsend ein Postknecht zur unendlichen Erheiterung des Kellners.

So belehrt, kletterte Mr. Winkle in den Sattel, ungefähr mit der Leichtigkeit, mit der er seitlich an einem Linienschiff aufgeentert wäre.

„Alles in Ordnung?“ fragte Mr. Pickwick mit einem dunkeln Vorgefühl, daß die Verwirrung jetzt erst recht losgehen würde.

„Alles in Ordnung!“ antwortete Mr. Winkle mit beklommener Stimme.

„Also fertig!“ sagte der Stallknecht. „Nur die Zügel nicht loslassen, Sir.“

Und fort rollte der Wagen, und fort sprengte Mr. Winkle, zum größten Gaudium des ganzen dienenden Gasthofpersonals.

„Warum geht er denn immer seitwärts?“ rief Mr. Snodgraß im Wagen Mr. Winkle im Sattel zu.

„Es ist mir unerklärlich“, erwiderte Mr. Winkle, dessen Pferd in der seltsamsten Weise, den Kopf nach der einen und den Schweif nach der ändern Seite der Straße gekehrt, einhertraversierte.

Mr. Pickwick hatte keine Zeit, dies oder sonst irgend etwas zu beachten, da seine gesamten körperlichen und geistigen Fähigkeiten auf die Zügelung seines eignen Pferdes konzentriert waren, das die sonderbarsten Eigenschaften entfaltete, die zwar für jeden Zuschauer äußerst interessant, für die Insassen des Wagens aber nicht im gleichen Maße unterhaltend waren. Abgesehen davon, daß es auf eine höchst lästige und für Mr. Pickwick sehr peinliche Weise den Kopf beständig in die Höhe warf und sich so stark in die Zügel legte, daß der Gelehrte sie kaum festzuhalten vermochte, zeigte es auch eine sonderbare Neigung, bald plötzlich einen Seitensprung zu machen, bald ebenso plötzlich wieder stillzustehen und dann wieder etliche Minuten hindurch so rasch davonzurasen, daß an ein Halten nicht zu denken war.

„Was will es denn eigentlich nur?“ sagte Mr. Snodgraß, als das Pferd dieses Manöver zum zwanzigsten Male wiederholte.

„Das weiß der Himmel!“ versetzte Mr. Tupman. „Es hat ganz den Anschein, als ob es scheute. Meinen sie nicht auch?“

Mr. Snodgraß ‚hatte eine Antwort auf der Zunge, als er durch den Ausruf Mr. Pickwicks: „O Gott, ich habe die Peitsche verloren!“ unterbrochen wurde.

„Heda!“ rief Mr. Snodgraß, als Mr. Winkle auf seinem hohen Roß herantrabte, den Hut über die Ohren gezogen und von der heftigen Bewegung ganz zusammengeschüttelt. „Ach, lieber Winkle, bitte, heben Sie doch die Peitsche auf!“

Mr. Winkle ruderte mit den Zügeln, bis er ganz blau im Gesicht war, und als es ihm endlich gelang, das Schlachtroß zum Stehen zu bringen, stieg er ab, reichte Mr. Pickwick die Peitsche und schickte sich an, wieder aufzusteigen.

Ob nun das Riesentier bei seinem Übermaß an Temperament ein Verlangen fühlte, sich mit Mr. Winkle einen kleinen unschuldigen Scherz zu erlauben, oder ob es ihm plötzlich einfiel, daß es die Reise zu seinem Vergnügen ebensogut ohne Reiter vollenden könnte – sind Fragen, die wir natürlich nicht mit Bestimmtheit zu beantworten imstande sind. So viel ist jedenfalls gewiß, daß, welche Beweggründe auch in seiner Seele wirkten, Mr. Winkle kaum den Fuß in den Steigbügel gesetzt hatte, als es durch eine rasche Bewegung die Zügel über den Kopf schnellte und um ihre volle Länge zurückwich.

„Ruhig, ruhig, mein gutes Tier“, rief Mr. Winkle besänftigend, „komm, gutes altes Pferd!“

Allein „das gute Tier“ war taub gegen Schmeichelei. Je mehr sich Mr. Winkle bemühte, sich ihm zu nähern, desto mehr wich es zurück, allen. Kosenamen, zum Trotz. Wohl zehn Minuten drehten sich Mr. Winkle und das Pferd im Kreise herum und waren nach dieser Zeit noch ebenso weit voneinander entfernt wie bei Beginn – eine höchst peinliche Sache in Anbetracht des Umstandes, daß auf der einsamen Landstraße auf Beistand nicht zu rechnen war.

„Was soll ich nur tun?“ rief Mr. Winkle, nachdem er seine Experimente noch eine geraume Zeit vergeblich fortgesetzt hatte. „Ich kann dem Luder nicht beikommen.“

„Sie werden wohl am besten tun, es zu führen, bis wir zu einem Schlagbaum kommen“, riet ihm Mr. Pickwick.

„Aber wenn es nicht geht!“ rief Mr. Winkle zurück. „Kommen Sie doch und halten Sie es.“

Mr. Pickwick, immer die Güte und Gefälligkeit selbst, warf seinem Gaul die Zügel über den Rücken, stieg vom Bocke und eilte, Mr. Snodgraß und Mr. Tupman im Wagen zurücklassend, seinem unglücklichen Gefährten zu Hilfe.

Kaum sah jedoch das Reitpferd Mr. Pickwick mit der Peitsche in der Hand herankommen, als es seine vorher kreisende Bewegung in eine so entschieden retrograde verwandelte, daß es Mr. Winkle, der immer noch das Ende der Zügel festhielt, fast im Trabe mit sich fortriß. – Mr. Pickwick wollte ihm zu Hilfe eilen, doch je schneller er vorwärts lief, desto schneller ging das Pferd rückwärts. Es scharrte dabei mit den Hufen, wühlte den Staub auf, und endlich mußte Mr. Winkle, dem die Arme fast ausgerissen wurden, die Zügel fahrenlassen. Das Pferd stutzte, schüttelte den Kopf, machte kehrt, trabte ruhig nach Rochester zurück und überließ es Mr. Winkle und Mr. Pickwick, sich gegenseitig in stummer Bestürzung anzustarren. Ein rasselndes Geräusch in einer kleinen Entfernung erregte jetzt ihre Aufmerksamkeit. Sie blickten auf.

„Gott steh mir bei!“ rief Mr. Pickwick, außer sich vor Entsetzen. „Jetzt, geht auch das andre durch.“

Es war nur zu wahr. Das sich selbst überlassene Tier, durch den Lärm erschreckt, jagte mit dem Wagen davon. Mr. Tupman sprang in die Hecke, Mr. Snodgraß folgte seinem Beispiel, und das Pferd schmetterte den Wagen an ein Brückengeländer, daß die Räder von den Achsen fielen und der Kutschkasten von dem Bock getrennt wurde. Dann blieb es stehen und betrachtete mit Seelenruhe die Verheerung, die es angerichtet hatte.

Die erste Sorge Mr. Pickwicks und Mr. Winkles war natürlich, ihren unglücklichen Freunden beizuspringen, wobei sie sich zu ihrer großen Beruhigung davon überzeugten, daß es nur ein paar Risse an den Kleidern und Hautabschürfungen gesetzt hatte. Dann war das Pferd aus seinem Geschirr zu entwirren. – Nach Beendigung dieses komplizierten Geschäftes gingen sie langsam weiter, das Roß am Zaum mit sich führend, und überließen den Wagen seinem Schicksal.

Nach Verlauf einer Stunde erreichten sie ein kleines Wirtshaus, vor dem zwei Ulmen, eine Krippe und ein Pfahl mit einem Schilde standen, dahinter ein kleiner zusammengestürzter Heuschober und daneben ein Küchengarten. Baufällige Scheunen und Nebenbauten zierten die Aussicht. Im Garten arbeitete ein rothaariger Mann.

„He, Sie da! Hallo!“ rief Mr. Pickwick.

Der Rotkopf richtete sich auf, hielt die Hand über die Augen und starrte Mr. Pickwick und seine Gefährten eine geraume Weile gleichgültig an.

„Hallo!“ wiederholte Mr. Pickwick.

„Hallo!“ war die Antwort des Rotkopfs.

„Wie weit ist es bis nach Dingley Dell?“

„So um sieben Meilen rum.“

„Ist der Weg gut?“

„Nein.“

Nach dieser kurzen Antwort fing der rotköpfige Mann gleichgültig wieder an zu arbeiten.

„Wir möchten gern dieses Pferd hier einstellen; das geht doch hoffentlich – wie?“ fragte Mr. Pickwick.

„Das Pferd einstellen möchten Sie, ja?“ wiederholte der Rotkopf, wobei er sich auf seinen Spaten lehnte.

„Ja, natürlich“, erwiderte Mr. Pickwick, der sich unterdessen, das Tier am Zaum, der Gartentür genähert hatte.

„Frau!“ brüllte der Rotkopf, aus dem Garten tretend und das Pferd scharf ins Auge fassend. „Frau!“

Ein großes knochiges Frauenzimmer in einer groben blauen Kittelschürze, deren Taille nur ein paar Zoll unter den Achseln saß, trat aus dem Haus.

„Könnten wir wohl dieses Pferd hier einstellen, gute Frau?“ fragte Mr. Tupman und näherte sich ihr mit verführerischem Lächeln. Die Frau betrachtete unfreundlich die ganze Gruppe, und der Rotkopf flüsterte ihr etwas ins Ohr.

„Nein“, antwortete sie nach einiger Überlegung, „da hab ich Angst vor.“

„Angst?“ rief Mr. Pickwick aus. „Wovor hat die Frau Angst?“

„Letztes Mal haben wir ärger davon gehabt“, sagte die Frau und ging wieder in das Haus zurück. „Ich will damit nichts zu kriegen haben.“

„So etwas ist mir doch in meinem Leben noch nicht vorgekommen!“ sagte Mr. Pickwick höchst verwundert.

„Ich – ich glaube wirklich“, flüsterte Mr. Winkle seinen Freunden zu, „die Leute denken am Ende gar, wir sind auf unehrliche Weise zu dem Pferd gekommen.“

„Wie?“ rief Mr. Pickwick höchlichst entrüstet aus.

Mr. Winkle wiederholte bescheiden seine Vermutung.

„Heda, Sie, Bursche“, sagte Mr. Pickwick zornig, „glauben Sie vielleicht, wir hätten das Pferd gestohlen?“

„Na, was denn sonst“, erwiderte der Rotkopf mit einem Grinsen von einem Ohr bis zum ändern. Dann begab er sich gleichfalls ins Haus und schlug die Tür hinter sich zu.

„Es ist wie ein Traum, wie ein abscheulicher Traum!“ stöhnte Mr. Pickwick. „Sich den ganzen Tag mit dem widerwärtigen Gaul abschleppen zu müssen und ihn nicht einmal loswerden zu können!“

Deprimiert setzten die Pickwickier ihre Wanderung fort, das gewaltige Schlachtroß haßerfüllt immer am Halfter hinter sich herziehend.

Es war bereits spät am Nachmittag, als die vier Freunde mit ihrem vierfüßigen Gefährten in den nach Manor Farm führenden Seitenweg einbogen; aber das Vergnügen, endlich in der Nähe ihres Bestimmungsortes zu sein, das sie sonst

wohl empfunden hätten, wurde ihnen durch den Gedanken an ihren lächerlichen Aufzug arg verleidet. Zerfetzte Kleider, zerkratzte Gesichter, bestaubte Schuhe, erschöpftes Aussehen, und dazu noch das verdammte Pferd. O wie Mr. Pickwick das Tier zu allen Teufeln wünschte! Schon lange hatte er das edle Roß von Zeit zu Zeit mit Blicken des Hasses und der Rachsucht angesehen und mehr als einmal im Geiste überschlagen, wieviel es ihm kosten könnte, wenn er ihm den Hals abschnitte, und mit zehnfach stärkerer Gewalt kam jetzt die Versuchung über ihn, es entweder umzubringen oder in die weite Welt laufen zu lassen. Das plötzliche Erscheinen zweier Gestalten in einer Biegung des Weges weckte ihn aus seinem unheilschwangeren Brüten. Es waren Mr. Wardle und sein treuer Gefährte, der fette Junge.

„Ach Gott, wo haben Sie so lange gesteckt?“ rief der gastfreundliche alte Herr. „Den ganzen Tag haben wir auf Sie gewartet. Und wie strapaziert Sie aussehen! – Was? Schrammen im Gesicht? Doch nicht verletzt, will ich hoffen? Nein? Freue mich sehr, das zu hören. Umgeworfen? – Machen Sie sich nichts draus! – Kommt oft in unsrer Gegend vor. – Joe! – Schläft er schon wieder! – Joe, nimm dem Herrn das Pferd ab und bring es in den Stall!“

Der fette Junge zottelte langsam mit dem Gaul hinterher, und Mr. Wardle bedauerte in schlichten Worten seine Gäste wegen ihrer Abenteuer – das heißt wegen dessen, was sie ihm darüber erzählten. Sodann führte er sie in die Küche.

„Hier wollen wir Sie zunächst mal ein wenig in Ordnung bringen“, sagte der alte Herr, „und Sie dann zu der Gesellschaft in das Wohnzimmer führen. Emma, den Kirschgeist! Jane, Nähnadel und Zwirn! Marie, Waschwasser und Handtücher! Flink, Mädels, rasch, rasch!“

Drei oder vier handfeste Mägde eilten sogleich, um die verschiedenen Requisiten herbeizuschaffen, während zwei männliche Dienstboten mit dicken Köpfen und kreisrunden Gesichtern von ihren Sitzen in der Kaminecke – wo sie, obgleich es Mai war, verfroren am Feuer hockten, wie zu Weihnachten – aufstanden und in dunkeln Winkeln verschwanden, aus denen sie bald nachher mit einem halben Dutzend Bürsten und Schuhwichse wieder auftauchten.

„Tummelt euch!“ sagte der alte Herr nochmals.

Es bedurfte jedoch dieser Mahnung nicht, denn die eine Magd schenkte bereits Kirschgeist ein, eine andre brachte Handtücher, und einer der Diener packte Mr. Pickwick am Bein, auf die Gefahr hin, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen, und fing an, ihm dermaßen die Stiefel zu bürsten, daß dem Gelehrten die Hühneraugen glühten, während der andre Mr. Winkle mit einer mächtigen Kleiderbürste bearbeitete und bei dieser Operation den zischenden Ton von sich gab, den Stallknechte gewöhnlich hören lassen, wenn sie ein Pferd abreiben.

Nachdem Mr. Snodgraß seine Waschungen beendet hatte, stellte er sich mit dem Rücken an das Feuer und überschaute, behaglich seinen Kirschgeist schlürfend, die Küche. Er beschreibt sie als einen großen, mit Backsteinen gepflasterten und mit einem breiten Kamin versehenen Raum, die Decke verziert, mit Girlanden von Schinken, Speckseiten und Zwiebelzöpfen, die Wände mit Hetzpeitschen, Riemen, Bügeln, einem Sattel und einer alten verrosteten Donnerbüchse mit der Anschrift: „Geladen!“ In der einen Ecke tickte eine ehrwürdige alte Wanduhr, und eine silberne von gleichem Alter hing an einem der vielen Haken über dem Anrichttische.

„Fertig?“ fragte der alte Herr, als seine Gäste gewaschen, geflickt, gebürstet und mit Branntwein erquickt waren.,

„Stehen zu Diensten“, versetzte Mr. Pickwick.

„Dann bitte ich Sie, mit mir zu kommen“, fuhr Mr. Wardle fort und führte seine Gäste durch mehrere dunkle Gänge in das Wohnzimmer, gefolgt von Mr. Tupman, der einige Augenblicke gezögert hatte, um von Emma einen Kuß zu erhaschen, wofür er gebührend durch heftiges Zurückstoßen und Kratzen gezüchtigt worden war.

„Willkommen“, rief der gastfreundliche alte Herr, die Tür öffnend und eintretend, um die Herren anzumelden. „Willkommen, Gentlemen, in Manor Farm!“