Zweiundvierzigstes Kapitel

Mr. Winkles geheimnisvolles Benehmen. Der Kanzleigefangene wird endlich erlöst.

Mr. Pickwick war von Sams Treue und Anhänglichkeit zu sehr gerührt, um über seinen raschen Schritt, nämlich Schuldhaft auf unbestimmte Zeit, Zorn oder Mißfallen zu äußern. Der einzige Punkt, worüber er beharrlich Aufschluß verlangte, war der Name des Gläubigers; aber gerade darin wollte sein Diener absolut nicht mit der Sprache heraus.

„Es hat ja doch keinen Zweck, Sir“, sagte Sam immer wieder von neuem. „Er ist ein niederträchtiger, gemeiner, geiziger, rachsüchtiger Kerl, mit einem Herz, das is nich zu erweichen, wie der brave Priester von dem alten wassersüchtigen Schenlemän sagte, der wo sein Geld lieber seiner Frau hinterließ, anstatt daß er eine Kapelle davon bauen ließ. Jedenfalls werde ich mir nich erniedrigen und meinen gewissenlosen Feind um den Gefallen bitten, daß er das Geld annimmt. Ich halte mir an Prinzipien. Sie machen es ja auch nich anders. Das erinnert mich übrigens an den Mann, wo sich aus Prinzip selber umbrachte; Sie werden ja sicher davon wissen, Sir.“ Hier unterbrach sich Mr. Weller und warf seinem Herrn einen eigentümlichen Blick aus den Augenwinkeln zu.

,Das ist durchaus nicht sicher, Sam“, sagte Mr. Pickwick, dem trotz seines Verdrusses über Sams Hartnäckigkeit allmählich ein Lächeln ankam. „Der Ruhm des fraglichen Herrn ist noch nicht bis zu meinen Ohren gedrungen.“

„Nicht doch, Sir!“ rief Mr. Weller. „Da staune ich ja über Sie, Sir; er war Schreiber in einem Regierungsbüro, Sir.“

„War er das?“ fragte Mr. Pickwick.

„Jawoll, war er“, fuhr Sam fort, „und außerdem ein sehr angenehmer Schenlemän. Er sparte sein Geld aus Prinzip, zog jeden Tag ein neues Hemd an, auch aus Prinzip, sprach niemals keinen von seinen Verwandten an, auch aus Prinzip, weil er Angst hatte, daß sie ihn anpumpen möchten; na jedenfalls, er war alles in allem wirklich ein angenehmer Mensch. Weil er also ein sehr orntlicher Schenlemän war, aß er jeden Tag in derselben Kneipe, wo es ein Essen für einen Schilling und neun Pence gab. Aber der aß immer die doppelte Menge, wie der Wirt oft mit Tränen in den Augen sagte, und im Winter schürte er mindestens für vier Pence Feuer an, und denn wollte er alle Zeitungen zuerst haben; na, und denn saß er nach dem Essen noch drei Stunden auf dem besten Platz und verzehrte nichts, sondern schlief. Und denn ging er ’n paar Straßen weiter und aß vier Brezeln zu ’ner Tasse Kaffee, und denn ging er schließlich nach Hause und legte sich ins Bett. Einen Abend wurde er sehr kränklich und schickte nach dem Doktor. ,Was haben Sie zuletzt gegessen?‘ fragte der Doktor. ,Brezeln‘, sagte der Patient. ,Daran liegt’s‘, sagte der Doktor, ,ich schicke Ihnen gleich ’ne Schachtel mit Pillen. Und essen Sie niemals nich keine Brezeln wieder.‘ – ,Soweit kommt das noch!‘ sagt der Patient und richtet sich im Bett auf, ,ich habe fünfzehn Jahre lang jeden Nachmittag vier Brezeln aus Prinzip gegessen. Sie sind gesund und für den Preis sättigen sie gut.‘ – ,Für Sie sind sie aber zu teuer und außerdem ungesund. Wenn Sie nicht mit den Brezeln aufhören, denn is in sechs Monaten Feierabend mit Ihnen. Dafür verbürge ich mich‘, sagt der Doktor. ,Und was glauben Sie, wieviel Brezeln auf einmal tödlich für mir wären? Vielleicht für ’ne halbe Krone?‘ fragt der Patient. ,Essen Sie für drei Schilling Brezeln, Sir, und Sie gehen auf der Stelle ein‘, sagt der Doktor und geht weg. Am andern Morgen steht doch der Patient auf und läßt für drei Schilling Brezeln holen, und denn röstet er sie, ißt sie auf und schießt sich ’ne Kugel in ’n Kopf.“

„Warum tat er denn das?“ fragte Mr. Pickwick erstaunt. „Ja, Sir, warum tat er das?“ wiederholte Sam. „Na, wegen dem Grundsatz, daß Brezeln gesund sind! Und denn wollte er zeigen, daß er sich durch keinen Menschen nich von abbringen ließ!“

Durch solche Schliche und Kniffe umging Mr. Weller die kitzlige Frage.

Mr. Pickwick mußte sich endlich von der Nutzlosigkeit aller seiner Vorstellungen überzeugen und erlauben, daß Sam sich für eine Woche bei einem kahlköpfigen Schuhflicker einlogierte, der in einem der oberen Gänge ein kleines schmales Zimmer bewohnte. In dieses ärmliche Kämmerchen schaffte Mr. Weller junior eine Matratze und ein Bett, die er von Mr. Roker mietete, und als er nachts darauf lag, fühlte er sich so heimisch, als ob er im Kerker aufgewachsen wäre und seit drei Menschenaltern samt Familie darin vegetiert hätte.

„Rauchen Sie immer, nachdem Sie zu Bett gegangen sin, alter Kauz?“ fragte er seinen Stubengenossen, als sie sich beide zur Ruhe gelegt hatten.

„Ja, allerdings, junger Grünschnabel“, versetzte der Schuhflicker.

„Gestatten Sie mir die Frage, warum schlagen Sie eigentlich Ihr Bett unter diesem tannenen Tisch auf?“

„Weil ich immer an ’n Himmelbett gewöhnt war, ehe ich hierher kam.“

Mr. Weller richtete sich aus seiner Lage ein wenig auf und schenkte daraufhin dem Äußern seines Gefährten eine weit längere Aufmerksamkeit, als er ihm bisher zuzuwenden Zeit oder Neigung gehabt hatte.

Es war ein schmutzig aussehender Mann – alle Schuhflicker sind es – und hatte einen starken struppigen Bart – alle Schuhflicker haben ihn –, und sein Gesicht war ein seltsames, gutmütiges Handwerkergesicht, mit einem Paar Augen, die einst sehr jovial dreingesehen haben mußten, denn sie glänzten noch jetzt. Die Zeit hatte den Mann auf sechzig und das Gefängnis auf der Himmel weiß wieviel Jahre gebracht. Er war klein, und da er durch den kuriosen Betthimmel in zwei Hälften erschien, sah er ungefähr gerade so groß aus, als er ohne Beine gewesen wäre. Er hatte eine große rote Tonpfeife im Mund stecken, aus der er kräftige Wolken blies, und starrte mit einem Ausdruck beneidenswerter Behaglichkeit in die brennende Kerze.

„Sin Sie schon lange hier?“ unterbrach Sam das Stillschweigen.

„Zwölf Jahre.“

„Ungehorsam gegen den Gerichtshof?“ Der Schuhflicker nickte.

„Na“, meinte Sam ernst, „warum beharren Sie auf Ihrem Starrsinn, Ihr kostbares Leben hier in diesem großartigen Pfandstall zu vergeuden? Warum kriechen Sie nich zu Kreuz?“

Der Schuhflicker schob lächelnd seine Pfeife in einen Mundwinkel, brachte sie dann wieder an ihren alten Platz zurück und schwieg.

„Warum tun Sie’s nich?“ fragte Sam eindringlich.

„Ach“, erwiderte der Schuhflicker, „das verstehen Sie nicht. Was glauben Sie wohl, hat mich zugrunde gerichtet?“

„Hm“, sagte Sam und schneuzte die Kerze, „vermutlich begann die Sache damit, daß Sie in Schulden kamen, nich wahr?“

„Bin nie einen Heller schuldig gewesen“, versetzte der Schuhflicker, „raten Sie noch mal.“

„Na, spekulierten vielleicht in Häusern, was hierzulande grade ausreicht, um wahnsinnig zu werden; oder haben gebaut, was ’n medizinischer Kunstausdruck für Unheilbarkeit is?“

Der Schuhflicker schüttelte den Kopf und sagte wieder: „Raten Sie noch mal.“

„Hoffentlich doch nich prozessiert?“ riet Sam argwöhnisch.

„In meinem Leben nie. Na also, die Sache ist die: Ich wurde durch eine Erbschaft ruiniert.“

„Ach Blech“, sagte Sam, „dummes Zeug. Ich wünschte mir ’n reichen Feind, wo mir auf diese Art zu ruinieren suchte. Ließe ihm ruhig gewähren.“ „Ich dachte mir’s gleich, Sie würden’s nicht glauben“, fuhr der Schuhflicker, ruhig seine Pfeife rauchend, fort. „An Ihrer Stelle ging’s mir ebenso; aber es ist trotzdem wahr.“

„Nanu!“ sagte Sam, schon durch den Blick, den ihm der Schuhflicker zuwarf, in seiner Zweifelsucht wankend gemacht.

„Es war so“, versetzte der Schuhflicker. „Ein alter Herr im Lande drunten, für den ich arbeitete, und von dem ich eine arme Verwandte heiratete – sie starb, Gott hab sie selig, und Dank sei ihm dafür gesagt –, wurde vom Schlag getroffen und ging heim.“

„Wohin?“ lallte Sam, schlaftrunken und von zahlreichen Eindrücken des Tages schläfrig gemacht.

„Was weiß ich, wohin er ging?“ erwiderte der Schuhflicker, im Hochgenuß seiner Pfeife durch die Nase sprechend. „Er ging zu den Toten.“

„Ach so, hm“, brummte Sam. „Gut.“

„Gut. Und hinterließ fünftausend Pfund, wovon er mir eintausend vermachte, weil ich seine Verwandte geheiratet hatte. Sie verstehen?“

„Ja, hm“, murmelte Sam.

„Und weil er ’ne Menge Nichten und Neffen hatte, die einander unaufhörlich das Vermögen mißgönnten, machte er mich zum Vollstrecker seines letzten Willens und gab mir das übrige in Verwahrung. – Na, und“, fuhr der Schuhflicker fort, „wie ich im Begriff war, einen gerichtlichen Bestätigungsschein ausfertigen zu lassen, legten die Nichten und Neffen, die sehr enttäuscht waren, daß sie nicht alles bekommen sollten, ein Caveat ein.“

„Ein was?“ fragte Sam.

„Eine gerichtliche Eingabe, die soviel sagen will wie: wir dulden’s nicht“, erklärte der Schuhflicker.

„Verstehe“, brummte Sam, „’ne Art Stiefbruder von dem hafis corpus. Gut.“

„Aber“, fuhr der Schuhflicker fort, „als sie fanden, daß sie untereinander selbst nicht einig werden und folglich auch keinen Protest gegen das Testament erheben konnten, zogen sie das Caveat wieder zurück, und ich zahlte sämtliche Vermächtnisse aus. Kaum hatte ich dies getan, als ein Neffe eine Schrift eingab, die Umstoßung des Testaments beantragte. Der Fall kam einige Monate darauf vor einen alten tauben Herrn in einem Hinterzimmer in der Gegend vom Paulskirchhof, und nachdem ihn vier Advokaten einen Tag lang schrecklich überlaufen hatten, um ihn noch künstlich zu betäuben, zog er die Sache acht bis vierzehn Tage lang in Überlegung und entlehnte seine Entscheidung aus sechs Bänden, die dahin ausfiel, daß der Erblasser im Kopf nicht recht in Ordnung gewesen sei und ich daher das ganze Geld wieder herausgeben und alle Kosten bezahlen müsse. Ich appellierte. Die Sache kam vor drei oder vier Schlafmützen, die die Verhandlung schon im ersten Gerichtshof mit angehört hatten, wo sie als Anwälte funktionierten. Das Urteil des alten Herrn wurde pflichtschuldigst bestätigt. Hierauf wanderte ich hierher und werde wohl zeitlebens hierbleiben. Meine Anwälte hatten sich schon lange vorher in den Besitz meiner ganzen tausend Pfund gesetzt, und was den Stand, wie sie es nennen, und die Kosten betrifft, so sitze ich hier für zehntausend, und werde hier sitzen, bis meine letzten Schuhe geflickt sind. Einige Herren haben davon gesprochen, die Sache dem Parlament vorzulegen, und ich glaube, sie würden es auch getan haben; aber sie hatten keine Zeit, zu mir zu kommen, und ich keine Erlaubnis, zu ihnen zu gehen, und der langen Episteln wurden sie müde, und so ließen sie die Sache fallen. Und das ist beim lebendigen Gott die Wahrheit, und kein Jota zuwenig oder zuviel, wie fünfzig Personen, sowohl innerhalb wie außerhalb dieser Mauern, ganz genau wissen.“

Der Schuhflicker schwieg, um zu sehen, welche Wirkung seine Erzählung hervorgerufen hatte; aber da Sam eingeschlummert war, klopfte er seine Pfeife aus, seufzte, legte sie beiseite, zog die Bettdecke über den Kopf und überließ sich gleichfalls dem Schlaf.

Am folgenden Morgen war Sam im Kämmerchen des Schuhflickers eifrig damit beschäftigt, seinem Herrn die Schuhe zu wichsen und die schwarzen Gamaschen auszubürsten, und Mr. Pickwick saß allein beim Frühstück, als jemand an seine Tür klopfte und, ehe er noch „Herein“ rufen konnte, ein Kopf sichtbar wurde, der, mit einem Kranz von Haar eingefaßt und mit einer Mütze von Baumwollsamt bedeckt, ohne große Schwierigkeit Mr. Smangle erkennen ließ.

„Sagen Sie, erwarten Sie nicht jemand?“ fragte der würdige Gentleman mit ein paar Dutzend Bücklingen. „Drei Herren – verteufelt nobel – haben unten nach Ihnen gefragt und auf dem Gang an jede Tür geklopft.“

„Meiner Treu, wie töricht wieder“, sagte Mr. Pickwick aufstehend. „Es sind Freunde von mir, die ich schon gestern erwartete.“

„Freunde von Ihnen?“ rief Smangle und ergriff Mr. Pickwicks Hand. „Sprechen Sie nicht weiter. Bei Gott, von diesem Augenblick an sind es auch Freunde von mir und Freunde von Mivins. Ein infernalisch scharmanter, nobler Bursche, der Mivins, nicht wahr?“

„Ich kenne den Herrn zu wenig“, wich Mr. Pickwick zögernd aus, „als daß ich …“

„Ich weiß“, unterbrach Mr. Smangle und klopfte Mr. Pickwick auf die Schulter. „Ich weiß. Aber Sie werden ihn besser kennenlernen. Sie werden entzückt sein über ihn. Dieser Mann, Sir“, fügte er geheimnisvoll hinzu, „hat Anlagen zum Komiker, die dem Drury-Lane-Theater Ehre machen würden.“

„Das sind alles äußerst merkwürdige Eigenschaften“, sagte Mr. Pickwick, „aber ich fürchte, meine Freunde werden, während wir hier miteinander plaudern, in großer Verlegenheit sein, wenn sie mich nicht finden.“

„Ich will ihnen den Weg zeigen“, erbot sich Smangle, zur Tür eilend. „Guten Tag. Ich möchte sie nicht stören, während sie hier sind, Sie verstehen. – Apropos, könnten Sie mir nicht bis gegen Ende der nächsten Woche eine halbe Krone vorstrecken?“

Mr. Pickwick konnte sich kaum eines Lächelns erwehren, zwang sich jedoch, ernst zu bleiben, legte das Geldstück in Mr. Smangles Handfläche, worauf dieser unter Zwinkern und Gebärden, die auf Geheimhaltung des großen Mysteriums hindeuten sollten, verschwand, um die drei Fremden aufzusuchen, mit denen er im nächsten Augenblick zurückkehrte, und nachdem er dreimal gehustet und ebensooft genickt hatte, um Mr. Pickwick zu verstehen zu geben, er werde nicht vergessen, das Darlehen pünktlich zurückzuzahlen, schüttelte er allen verbindlich die Hand und schraubte sich hinaus.

„Meine lieben, lieben Freunde“, sagte Mr. Pickwick, den Herren Tupman, Winkle und Snodgraß nacheinander immer wieder die Hand drückend, „ich bin entzückt, Sie zu sehen.“

Das Triumvirat war tief ergriffen. Mr. Tupman schüttelte kläglich das Haupt; Mr. Snodgraß zog fassungslos sein Taschentuch hervor, und Mr. Winkle trat ans Fenster und schluchzte laut.

„Morgen, meine Herren“, rief Sam, der in diesem Augenblick mit den Schuhen und Gamaschen eintrat, „nur weg mit die Melancholie, wie der kleine Junge sagte, als seine Schullehrerin starb. Willkommen im Kolleg, meine Herren.“

„Dieser närrische Bursche“, erklärte Mr. Pickwick freundlich, als Sam niederkniete, um ihm die Gamaschen zuzuknöpfen, „dieser närrische Bursche hat sich selbst einsperren lassen, um in meiner Nähe zu sein.“

„Was?“ riefen die drei Freunde.

„Ja, meine Herren“, sagte Sam, „ich bin – halten Sie gefälligst Ihren Fuß ruhig, Sir –, ich bin ’n Gefangener, meine Herren. Pappengeblieben, wie die Dame sagte.“

„Ein Gefangener!“ fuhr Mr. Winkle erschreckt auf.

„Hallo, Sir!“ versetzte Sam und sah auf. „Was gibt’s, Sir?“

„Und ich hatte gehofft, Sam, daß … Nichts, nichts“, stotterte Mr. Winkle verlegen. – In seinem Benehmen lag dabei etwas so Hastiges und Unentschlossenes, daß Mr. Pickwick unwillkürlich einen fragenden Blick auf seine beiden Freunde warf.

„Wir wissen nichts“, antwortete Mr. Tupman laut auf diese stumme Frage. „Er ist schon seit zwei Tagen außerordentlich aufgeregt und überhaupt wie ausgewechselt. Wir fürchteten, es könnte etwas vorgefallen sein, aber er leugnet hartnäckig.“

„Nein, nein“, beteuerte Mr. Winkle, unter Mr. Pickwicks durchdringendem Blick errötend, „es ist wirklich nichts; ich versichere Ihnen, es ist nichts, werter Freund. Ich werde wegen einer Privatangelegenheit binnen kurzem die Stadt verlassen müssen und hatte gehofft, Sie würden erlauben, daß Sam mich begleitet.“

Mr. Pickwicks Gesicht drückte noch größeres Erstaunen aus als zuvor.

„Ich glaubte“, stammelte Mr. Winkle, „Sam würde nichts dagegen haben; aber natürlich, wenn er Gefangener ist, so ist die Sache unmöglich, und ich muß eben allein reisen.“

Noch während Mr. Winkle sprach, fühlte Mr. Pickwick mit einigem Erstaunen, daß die Finger seines Dieners an den Gamaschen zitterten, als ob er überrascht oder bestürzt wäre. Sam sah auch auf Mr. Winkle, als dieser schwieg, und wenn auch der Blick, den die beiden wechselten, nur eine Sekunde dauerte, so schienen sie einander doch zu verstehen.

„Weißt du etwas von dieser Sache, Sam?“ fragte er daher mit scharfem Ton.

„Nö, nichts, Sir“, versetzte Mr. Weller, mit außerordentlicher Emsigkeit mit den Gamaschen beschäftigt.

„Bestimmt nicht, Sam?“

„Nun, Sir“, antwortete Mr. Weller, „so viel ist gewiß, daß ich bis jetzt noch nie etwas darüber gehört habe. Wenn ich auch manches errate“, fügte er mit einem Blick auf Mr. Winkle hinzu, „so bin ich nicht befugt, es zu sagen, denn ich könnte auch falsch geraten haben.“

„Und ich habe kein Recht, weiter in die Privatangelegenheiten meines Freundes zu dringen, und wenn wir auch noch so vertraut sind“, meinte Mr. Pickwick nach kurzem Stillschweigen. „Laßt mich nur noch so viel sagen, daß ich von all dem nicht das mindeste verstehe. Nun damit genug über diesen Punkt.“

Nun war aber noch so viel zu besprechen, daß der Vormittag schnell verfloß, und als Mr. Weller um drei Uhr auf dem kleinen Tisch eine Hammelkeule und eine ungeheure Fleischpastete mit verschiedenen Platten Gemüse und Flaschen Porter aufstellte, fühlte sich jeder in die Stimmung versetzt, dem Mahle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, wenn es auch die unappetitliche Küche des Gefängnisses war, in der das Fleisch gekauft und zubereitet und die Pastete gebacken worden war.

Den Nachtisch bildeten ein paar Flaschen vorzüglichen Weines, die Mr. Pickwick aus dem Kaffeehaus Hörn in Doktors Commons hatte holen lassen. Die paar Flaschen hätte man eigentlich richtiger ein halbes Dutzend nennen können, und als der Wein getrunken und der Tee vorüber war, läutete die Gefängnisglocke zum Zeichen, daß sich die Besuche zu entfernen hätten.

War nun Mr. Winkles Benehmen am Morgen unerklärlich gewesen, so wurde es jetzt geradezu unirdisch und feierlich, als er sich, von Gefühl und Anteilnahme überwältigt, wohl ein halbes dutzendmal zum Abschied anschickte.

Er blieb zurück, bis Tupman und Snodgraß verschwunden waren, und drückte Mr. Pickwick mit einem Gesicht die Hand, auf dem feste Entschlossenheit mit der Quintessenz des Grames einen furchtbaren Bund geschlossen hatte.

„Gute Nacht, lieber, lieber Freund“, murmelte er dabei Zwischen den Zähnen.

„Gott segne Sie, mein guter Junge“, rief gerührt Mr. Pickwick.

„Nun also, was ist denn?“ erscholl Mr. Tupmans Stimme im Gang.

„Jaja, gleich, gleich“, antwortete Mr. Winkle. „Gute Nacht.“

„Gute Nacht.“

Noch einmal wurde gute Nacht gesagt, und noch einmal, und nach diesem noch ein halbes dutzendmal, und immer noch hielt Mr. Winkle die Hand seines Freundes fest und sah ihm mit demselben seltsamen Ausdruck ins Gesicht.

„Ist denn wirklich nichts vorgefallen?“ fragte Mr. Pickwick, als ihm vor lauter Schütteln schon der Arm weh tat. „Nichts“, erwiderte Mr. Winkle.

„Nun denn, gute Nacht“, sagte Mr. Pickwick, bemüht, seine Hand loszumachen.

„Mein Freund, mein Wohltäter, mein verehrter Meister!“ murmelte Mr. Winkle, ihn noch am Handgelenk erwischend, „beurteilen Sie mich nicht zu hart, wenn Sie hören, daß ich, durch unüberwindliche Hindernisse dazu genötigt …“

„Wird’s bald!“ rief Mr. Tupman, sich wieder an der Tür zeigend. „Kommen Sie, oder sollen wir eingeschlossen werden?“

„Jaja, ich bin bereit“, erwiderte Mr. Winkle und riß sich mit furchtbarer Anstrengung los.

Als Mr. Pickwick den Herren mit stummem Erstaunen den Gang nachblickte, erschien Sam Weller oben an der Treppe und flüsterte einen Augenblick Mr. Winkle etwas ins Ohr.

„Gewiß, gewiß, verlassen Sie sich auf mich“, war die laute Antwort.

„Danke Ihnen, Sir; aber Sie vergessen es doch nich, Sir?“ bemerkte Sam eindringlich.

„In keinem Fall“, erwiderte Mr. Winkle.

„Na, also viel Glück, Sir“, sagte Sam und griff an seinen Hut. „Hätte mir riesig gefreut, es Ihnen gleichtun zu können, Sir, aber die Herrschaft kommt natürlich zuerst.“

„Es ist sehr brav von Ihnen, Sam, daß Sie hierbleiben“, versetzte noch Mr. Winkle, und dann ging das Kleeblatt die Treppe hinunter und verschwand.

„Höchst sonderbar“, brummte Mr. Pickwick, kehrte in sein Zimmer zurück und setzte sich nachdenklich an den Tisch. „Was kann der junge Mann nur vorhaben?“

Er hatte eine Weile nachgegrübelt, als die Summe Mr. Rokers, des Schließers, fragte, ob man eintreten dürfe. „Ich bringe Ihnen hier ein weicheres Kissen, Sir“, sagte er, „statt des einstweiligen, das Sie gestern nacht gehabt haben.“

„Danke bestens. Wollen Sie nicht ein Glas Wein trinken?“

„Sie sind sehr gütig, Sir“, erwiderte Mr. Roker. „Ihre Gesundheit, Sir.“

„Danke.“

„Ich bedaure, Ihnen Sagen zu müssen, daß es mit Ihrem Gefährten diesen Abend sehr schlecht steht, Sir“, bemerkte Roker, stellte das geleerte Glas nieder und betrachtete aufmerksam das Futter seines Hutes.

„Was? Mit dem Kanzleigefangenen?“

„Er wird nicht mehr lange Kanzleigefangener sein, Sir.“

„Das Blut gerinnt in meinen Adern“, rief Mr. Pickwick. „Was meinen Sie damit?“

„Er ist schon lange schwindsüchtig gewesen, und diesen Abend hat er außerordentlich“ Atembeschwerden bekommen. Der Arzt sagt schon seit einem halben Jahre, nur eine Luftveränderung könne ihn retten.“

„Großer Gott, so ist dieser Mann ein halbes Leben lang von der Gerechtigkeit langsam hingemordet worden?“

„Davon verstehe ich nichts, Sir“, erwiderte Roker, den Hut zwischen beiden Händen an der Krempe wägend. „Es wäre ihm vermutlich an jedem andern Orte auch so gegangen. Diesen Morgen kam er ins Krankenzimmer. Der Doktor sagte, man müsse ihm soviel wie möglich stärkende Sachen geben, und der Vorsteher schickte ihm Wein, Fleischbrühe und dergleichen aus seinem eignen Hause. Des Vorstehers Schuld ist es nicht, das wissen Sie, Sir.“

„Natürlich nicht“, erwiderte Mr. Pickwick schnell.

„Ich befürchte aber“, meinte Roker kopfschüttelnd, „es ist alles umsonst. Ich hab eben Neddy eine Wette von zwei Gläsern Schnaps gegen eins angeboten; aber er wollte nicht und hatte auch ganz recht. – Gute Nacht, Sir.“

„Halt“, rief Mr. Pickwick mit ernstem Ton. „Wo ist das Krankenzimmer?“

„Gerade über Ihrem Schlafgemach, Sir. Ich will’s Ihnen zeigen, wenn Sie mitkommen wollen.“

Mr. Pickwick nahm in Eile schweigend seinen Hut.

Der Schließer ging still voran, drückte leise eine Türklinke auf und forderte ihn auf, einzutreten. Es war ein großes, kahles, ödes Zimmer mit einer Menge eiserner Halbbettstellen, auf deren einer der Schatten eines Menschen lag – bleich und geisterhaft. Er atmete hart und schwer und ächzte vor Schmerzen, sooft sich seine Brust hob und senkte. Am Bette saß ein kleiner alter Mann in einer Schuhflickerschürze und las mit Hilfe einer Hornbrille laut in der Bibel. Es war der unglückliche Erbe.

„Öffnen Sie das Fenster“, flüsterte der Kranke.

Das Gepolter der Wagen und Karren, das Gerassel der Räder, das Geschrei der Männer und Kinder, der ganze Lärm des Lebens und Webens einer geschäftigen Menge wogte in dumpfem Gemurmel in das Zimmer. Wie fernes Summen erhob sich von Zeit zu Zeit ein schallendes Gelächter oder schlug das Bruchstück eines fröhlichen Liedes, von einem lustigen Haufen gesungen, auf einen Augenblick ans Ohr und verhallte dann im allgemeinen Lärm der Stimmen und Fußtritte – die Brandung der rastlosen See des Lebens da draußen. Es sind jederzeit melancholische Töne für einen ruhigen Zuhörer; aber wie trübselig müssen sie dem Ohre eines Menschen klingen, der an einem Sterbebette wacht.

„Es fehlt an Luft hier“, stöhnte der Kranke mit schwacher Stimme. „Der Ort verpestet sie. Sie war ringsum frisch, als ich vor Jahren hierher kam; aber sie wird schwül und drückend auf ihrem Wege durch diese Mauern. Ich kann sie nicht atmen.“

„Wir haben sie lange miteinander geatmet“, tröstete der Schuhflicker, „es wird schon wieder besser kommen.“

Es folgte eine kurze Pause, während deren die beiden Zuschauer näher an das Lager traten. Der Kranke zog die Hand seines alten Mitgefangenen an sich, drückte sie zärtlich zwischen den seinigen und hielt sie lange fest.

„Ich hoffe“, ächzte er nach einer Weile mit so schwacher Stimme, daß man scharf hinhören mußte, um die halben Laute zu vernehmen, die zitternd über die blauen Lippen des Sterbenden kamen, „ich hoffe, mein gnädiger Richter wird meiner schweren Buße auf Erden gedenken. Zwanzig Jahre, mein Freund, zwanzig Jahre in diesem scheußlichen Grab! Mein Herz brach, als mein Kind starb, und ich konnte es nicht einmal küssen in seinem kleinen Sarge! Meine Verlassenheit seitdem ist, trotz all dieses Lärmens und Tosens, wahrhaft fürchterlich gewesen. Möge mir Gott vergeben! Er hat meine Einsamkeit, meinen langsamen Tod gesehen.“

Er faltete die Hände, und noch etwas murmelnd, was man nicht verstehen konnte, fiel er in Schlaf; nur in Schlaf anfangs, denn man sah ihn lächeln.

Eine kurze Zeit flüsterten die Anwesenden miteinander; dann fuhr der Schließer, als er die Kissen ordnen wollte, schnell zurück.

„Bei Gott, er ist erlöst!“ sagte er leise.

Und er war es. Aber er hatte schon im Leben so totenähnlich ausgesehen, daß sie nicht wußten, wann er gestorben war.