Dreizehntes Kapitel.


Dreizehntes Kapitel.

Mr. Dombeys Bureau.

Mr. Dombeys Geschäftslokale befanden sich in einem Hofraum, an dessen Ecke eine altmodische Bude stand, wo auserlesene Früchte feilgeboten wurden. Man sah daselbst herumziehende Händler beiderlei Geschlechts, die zwischen den Stunden zehn und fünf unaufhörlich Pantoffel, Taschentücher, Schwämme, Hundehalsbänder und Windsor-Seife, bisweilen auch einen Hühnerhund oder ein Ölgemälde verkaufen wollten.

Der Hühnerhund mußte stets diesen Weg machen als Spekulation auf die Stockbörse, weil daselbst eine gewisse Wettlust, die ursprünglich aus dem Halten auf neue Hüte hervorging, sehr im Schwung ist. Die übrigen Handelsartikel galten dem Publikum im allgemeinen, wurden aber von den Verkäufern nie Mr. Dombey angeboten. Im Gegenteil, wenn er auftrat, zogen sich diejenigen, die in solchen Waren Geschäfte machten, achtungsvoll zurück. Der Haupt-Pantoffel- und Hundehalsbandmann, der sich selbst für einen öffentlichen Charakter hielt, und dessen Porträt an der Tür eines Künstlers in Cheapside befestigt war, fuhr mit dem Zeigefinger an den Rand seines Hutes, so oft Mr. Dombey vorbeiging, und der Zettelträger, falls er nicht eben in einem Geschäft abwesend war, lief stets diensteifrig voraus, um Mr. Dombeys Bureautür so weit als möglich zu öffnen, und sie mit abgezogenem Hut offen zu halten, bis der große Mann eingetreten war. Die Angestellten im Innern blieben gleichfalls nicht um ein Tüpfelchen zurück in ihren Achtungsbezeugungen. Feierliches Schweigen herrschte, wenn Mr. Dombey durch das äußere Bureau kam, und der Witzling des Kontors wurde im Nu so stumm, wie die Reihe lederner Feuereimer, die hinter ihm hing. Das schale, dumpfe Licht, das durch die Fenster sickerte und auf den Scheiben einen schwarzen Bodensatz zurückließ, zeigte die Bücher, die Papiere und die darüber hingebeugten Gestalten in ein eifriges Halbdunkel gehüllt und dem Anschein nach von der Außenwelt so abgeschieden, als wären sie auf dem Boden des Meeres versammelt, während ein modriger kleiner Raum in dunkler Perspektive, wo stets eine beschirmte Lampe brannte, die Höhle irgendeines Seeungeheuers darstellen konnte, das mit rotem Auge alle diese Geheimnisse der Tiefe betrachtete.

So oft Perch, der Ausläufer, dessen Platz auf einem kleinen Tritt von der Größe eines Zifferblattes war, Mr. Dombey hereinkommen sah – oder vielmehr, so oft er fühlte, daß er komme, denn gewöhnlich empfand er instinktartig dessen Annäherung – so eilte er in das Zimmer des Prinzipals, schürte das Feuer, brachte frische Kohlen aus der Kohlentruhe, hing die Zeitung zum Lüften über den Ständer, rückte den Stuhl zurecht, brachte den Schirm an seinen Platz und hatte bei Mr. Dombeys Eintritt schon rechtsum gemacht, um ihm sternchenland.com Hut und Überrock abzunehmen. Dann griff er nach der Zeitung, faltete sie vor dem Feuer zurecht und legte sie ehrerbietig neben Mr. Dombey hin. Ja, Perch hatte so wenig dagegen, im höchsten Grad unterwürfig zu sein, daß er nur um so glücklicher gewesen sein würde, wenn er sich selbst zu Mr. Dombeys Füßen legen oder ihn mit einem Titel hätte anreden können, wie er vorzeiten dem Kalifen Harun al Raschid verliehen wurde.

Da übrigens eine solche Ehrenbezeugung eine Neuerung und ein Experiment gewesen wäre, so mußte sich Perch zufrieden geben, die Phrase »du bist das Licht meiner Äugen – du bist der Atem meiner Seele – du bist der Beherrscher des gläubigen Perch!« so gut er konnte, in seiner eigenen Weise auszudrücken. Mit diesem nur unvollkommen ermutigenden Glücksgefühl pflegte er sachte die Tür zu schließen, auf den Zehen hinwegzuschleichen und seinen großen Häuptling zurückzulassen, damit derselbe durch ein gotisch geformtes Fenster in den Bleidächern, durch häßliche Schornsteinfirste und Hinterhäuser, namentlich aber durch das kecke Fenster eines Haarschneidesalons auf dem ersten Stock angestiert werden könne, wo eine Wachsfigur, am Morgen kahl wie ein Muselmann und mittags nach elf Uhr mit üppigem Haar und Backenbart in der neuesten christlichen Mode, ihm stets die Hinterseite seines Kopfes zeigte.

Zwischen Mr. Dombey und der gemeinen Außenwelt, sofern sie zugänglich war durch das Medium des äußeren Bureaus, auf das Mr. Dombeys Gegenwart in seinem eigenen Zimmer sozusagen wie feuchte oder kalte Luft einwirkte, gab es zwei Höhenabstufungen. Mr. Carker in seinem Geschäftszimmer bildete die erste, Mr. Morfin in dem seinigen die zweite. Jeder von diesen Gentlemen nahm ein kleines Gemach ähnlich einem Badstübchen ein, die beide an der Außenseite von Mr. Dombeys Tür nach dem Flur hinausgingen. Mr. Carker bewohnte als Großvezier dasjenige Gelaß, das dem des Sultans am nächsten war, und Mr. Morfin als ein Beamter von untergeordneter Stellung behauptete das Stübchen, das an das Geschäftslokal der Angestellten grenzte.

Der letztgenannte Gentleman war ein heiter aussehender ältlicher Junggeselle mit nußbraunem Auge, der seine oberen Partien in Schwarz, die Beine aber gewöhnlich in eine Pfeffer- und Salzfarbe kleidete. Sein dunkles Haar zeigte da und dort einen Anflug von Grau, als hätte der Tritt der Zeit seine Sprenkeln zurückgelassen, und sein Backenbart war bereits schneeweiß. Er hatte gewaltigen Respekt vor Mr. Dombey und zollte ihm die gebührende Huldigung; da er aber ein heiteres Temperament hatte und sich in der stattlichen Gegenwart seines Prinzipals nie recht behaglich fühlen konnte, so quälte ihn keine Eifersucht wegen der vielen Konferenzen, deren sich Mr. Carker zu erfreuen hatte. Im Gegenteil, er fühlte sich in seinem Innern befriedigt, daß er Obliegenheiten zu verrichten hatte, die ihm nur selten eine derartige Auszeichnung zukommen ließen. Nach den Geschäftsstunden zeigte er sich als eifriger musikalischer Dilettant, und er hatte eine wahrhaft väterliche Zuneigung zu seinem sternchenland.com Violoncello, das jede Woche einmal aus seiner Wohnung zu Islington nach einem gewissen Klubzimmer in der Nähe der Bank geschafft wurde, wo an Dienstagabenden von einer Privatgesellschaft die ohrzerreißendsten Quartette aufgeführt wurden.

Mr. Carter mochte etwa achtunddreißig oder vierzig Jahre zählen. Er war ein Mann von blühender Gesichtsfarbe und hatte zwei ununterbrochene Reihen glänzender Zähne, deren Regelmäßigkeit und Weiße einem eigentlich Besorgnisse einflößten. Es war unmöglich, daß sie sich dem Beobachter entzogen; denn der Besitzer zeigte sie stets, so oft er sprach, und hatte in seinem Gesicht ein so breites Lächeln – ein Lächeln, das sich übrigens selten über die Grenzen seines Mundes hinaus erstreckte – daß man unwillkürlich an das Pfauchen einer Katze erinnert wurde. Nach dem Beispiel seines Prinzipals hatte er eine große Vorliebe für eine steife, weiße Halsbinde; auch war er stets in einen knapp anliegenden und vollständig zugeknöpften Anzug gekleidet. Sein Benehmen gegen Mr. Dombey war tief durchdacht und darnach abgemessen; er stand vertraut mit ihm bis an die äußerste Grenze seines Gefühls der Entfernung, die zwischen ihnen stattfand. »Mr. Dombey, einem Mann von Eurer Stellung gegenüber gibt es für einen Mann von der meinigen in Geschäftssachen keinen Grad von Dienstwilligkeit, den ich für zureichend halten könnte, und sage Euch daher offen, Sir, daß ich das Erforderliche lieber vornweg aufgebe. Ich empfinde, daß ich mein inneres Gefühl doch nicht befriedigen kann, und der Himmel weiß, Mr. Dombey, Ihr seid in der Lage, mir die Mühe zu erlassen.« Wenn er diese Worte auf einem Plakat gedruckt mit sich herumgetragen und auf der Brust seines Rockes unaufhörlich Mr. Dombey zum Lesen dargeboten haben würde, so hätte er sich unmöglich bestimmter erklären können, als dies in seinem ganzen Verhalten ausgedrückt war. Dies war Mr. Carker, der Geschäftsführer, Mr. Carker junior, Walters Freund, war sein Bruder und zwei oder drei Jahre älter als der erstgenannte, stand aber vermöge seiner Stellung weit unter ihm. Der Posten des jüngeren Bruders bildete den obersten Teil in der offiziellen Leiter, die des ältesten den untersten. Der ältere Bruder hatte nie eine Sprosse errungen oder auch nur einen Fuß erhoben, um sie zu ersteigen. Junge Menschen gingen ihm über den Kopf weg, stiegen und fielen; er aber befand sich stets zu unterst. Er hatte sich vollkommen in dieses niedrige Verhältnis gefügt, beklagte sich nie darüber und hoffte auch sicherlich nicht, ihm je zu entkommen.

»Wie befindet Ihr Euch heute morgen?« fragte Mr. Carker eines Tages, als er bald nach Mr. Dombeys Ankunft mit einer Handvoll Papiere in dessen Zimmer trat.

»Wie geht’s Euch, Carker?« versetzte Mr. Dombey, sich von seinem Stuhl erhebend und den Rücken gegen das Feuer kehrend. »Habt Ihr da etwas für mich?«

»Ich weiß nicht, ob ich Euch behelligen muß«, entgegnete Carker, indem er in den Papieren blätterte. »Ihr wißt, heute um drei Uhr sollt Ihr einem Komitee beiwohnen.«

»Und einem anderen um dreiviertel auf vier«, fügte Mr. Dombey bei.

»Ja, ehe Ihr etwas vergeßt!« rief Carker noch immer in seinen Papieren blätternd. »Wenn Mr. Paul Euer Gedächtnis erbt, so wird er in diesem Hause ein lästiger Patron werden. Ein einziger ist schon genug.«

»Ihr habt ja selbst ein so gutes Gedächtnis«, sagte Mr. Dombey.

»O, ich?« erwiderte der Geschäftsführer. »Nun, es ist das einzige Kapital eines Mannes von meiner Stellung.«

Mr. Dombey sah nicht weniger pomphaft oder überhaupt mißvergnügt aus, als er so dastand, den Rücken gegen den Kaminsims gelehnt und seinen nichts ahnenden Buchhalter vom Kopf bis zu den Füßen musternd. Das Steife, die Nettigkeit in Mr. Carkers Anzug und eine gewisse Anmaßung in seinem Wesen, mochten diese nun natürlich oder einem nicht fernliegenden Vorbilde nachgeahmt sein, verliehen seiner Demut einen gewissen Nachdruck. Er sah wie ein Mann aus, der, wenn er könnte, gern ankämpfen möchte gegen die Gewalt, die ihn besiegte, sich aber dennoch durch die Größe und Überlegenheit Mr. Dombeys völlig niedergedrückt fühlte.

»Ist Morfin da?« fragte Mr. Dombey nach einer kurzen Pause, während der Mr. Carker mit seinen Papieren gerasselt und einiges aus deren Inhalt vor sich hin gemurmelt hatte.

»Jawohl«, antwortete er, mit einem sehr breiten plötzlichen Lächeln aufblickend; »er summt musikalische Reminiszenzen – wahrscheinlich von der Quartett-Partie des gestrigen Abends – durch die uns trennenden Wände und macht mich dadurch halb toll. Ich wünschte, er brauchte sein Violoncello zu einem Freudenfeuer und verbrennte seine Notenhefte darin.«

»Ich glaube, Ihr habt vor niemand Achtung, Carker«, sagte Mr. Dombey.

»Meint Ihr?« entgegnete Carker mit einem abermaligen breiten, katzenartigen Zeigen seiner Zähne. »Nun ja – ich glaube selbst auch, vor nicht vielen. Ich möchte vielleicht« – fügte er murmelnd hinzu, als spreche er nur in Gedanken für sich hin – »nicht für mehr als für Einen einstehen.«

Eine gefährliche Eigenschaft, wenn sie wirklich, und nicht minder gefährlich, wenn sie geheuchelt war. Aber Mr. Dombey, wie er so dastand, in voller Höhe aufgerichtet, den Nacken gegen das Feuer gekehrt und den Geschäftsführer mit einer würdevollen Fassung musternd, aus der mehr als gewöhnlich das verborgene Bewußtsein der Macht hervorzulauern schien – kam wohl kaum auf diesen Gedanken.

»Da wir eben von Morfin sprechen«, nahm Mr. Carker wieder auf, indem er aus den übrigen eines der Papiere sonderte – »er meldet, daß ein jüngerer Angestellter zu Barbados gestorben sei, und bittet darum, daß man in dem Sohn und Erben, der nach einem Monat ungefähr aussegeln wird, einen Platz als dessen sternchenland.com Nachfolger freihalten möchte. Ich kann mir denken, daß es Euch gleichgültig ist, wer geht. Hier haben wir niemand der Art.«

Mr. Dombey schüttelte mit supremer Gleichgültigkeit den Kopf.

»Es ist kein sehr schätzenswerter Posten«, bemerkte Mr. Carker, indem er eine Feder nahm, um auf der Hinterseite des Papiers eine Bemerkung aufzuzeichnen. »Ich hoffe, er wird sie einem verwaisten Neffen eines seiner musikalischen Freunde übertragen. Diesem kann auf solche Weise vielleicht das Fiedeln gelegt werden, wenn er etwa eine derartige Gabe besitzt. Wer ist da? Herein!«

»Ich bitte um Verzeihung, Mr. Carker. Ich wußte nicht, daß Ihr hier seid, Sir«, entgegnete Walter, der mit einigen unerbrochenen, neuangelangten Briefen hereinkam. »Mr. Carker junior, Sir – Sir –«

Bei Erwähnung dieses Namens durchzuckte es – wenigstens hatte es so den Anschein – Mr. Carker, den Geschäftsführer, bis ins Mark vor Scham und Demütigung. Er heftete seine Augen mit einem ganz veränderten abbittenden Blick auf Mr. Dombey, schlug sie sodann zu Boden und blieb für eine Weile stumm.

»Ich glaubte, Sir«, sagte er plötzlich in ärgerlicher Aufwallung zu Walter, »man habe Euch schon früher ersucht, Mr. Carker junior nicht in Eure Konversation zu mischen.«

»Ich bitte um Verzeihung«, entgegnete Walter. »Meine Absicht war bloß zu sagen, Mr. Carker junior habe mir mitgeteilt, er glaube, Ihr wäret ausgegangen, sonst würde ich mir nicht die Freiheit genommen haben, an die Tür zu klopfen, während Ihr mit Mr. Dombey etwas zu verhandeln hattet. Hier sind Briefe für Mr. Dombey.«

»Gut, Sir«, erwiderte Mr. Carker, der Geschäftsführer, indem er sie hastig seiner Hand entriß. »Geht wieder an Euer Geschäft.«

Als übrigens dem Überbringer die Briefschaften mit so wenig Umständen abgenommen wurden, entfiel ein Stück davon Carkers Hand, ohne daß es dieser bemerkte, und auch Mr. Dombey wurde des Papiers nicht gewahr, obschon es unmittelbar vor seine Füße hingeflogen war. Walter zögerte einen Augenblick, weil er glaubte, einer oder der andere werde darauf achthaben; da jedoch dies nicht geschah, machte er halt, kam zurück, hob den Brief auf und legte ihn auf Mr. Dombeys Pult. Die Briefe waren mit der Post eingelaufen, und zufälligerweise enthielt der letztere Mrs. Pipchins regelmäßigen Bericht, der, weil die gedachte Dame sich nicht gern mit der Feder abgab, wie gewöhnlich von Florence überschrieben war. Mr. Dombey, dessen Aufmerksamkeit in dieser stummen Weise von Walter auf die Handschrift seiner Tochter gelenkt worden war, wurde betroffen und warf dem jungen Menschen einen finstern Blick zu, als glaubte er, derselbe habe ihn absichtlich von den übrigen ausgelesen.

»Ihr könnt das Zimmer verlassen, Sir«, sagte Mr. Dombey stolz und zerknitterte den Brief in seiner Hand; sobald Walter das Zimmer verlassen hatte, steckte er ihn in die Tasche, ohne das Siegel zu erbrechen.

»Ihr sagtet«, bemerkte Mr. Dombey hastig, »man brauche jemand nach Westindien?«

»Ja«, versetzte Mr. Carker.

»So schickt den jungen Gay.«

»Gut – in der Tat sehr gut. Nichts leichter«, sagte Mr. Carker, ohne eine Spur von Überraschung zu zeigen. Er nahm die Feder abermals auf, um mit derselben Gelassenheit wie früher auf der Hinterseite des Schreibens die Bemerkung aufzuzeichnen: ›Der junge Gay soll geschickt werden‹.

»Ruft ihn zurück«, sagte Mr. Dombey.

Mr. Carker zögerte nicht, und Walter war ebenso schnell wieder im Zimmer.

»Gay«, sagte Mr. Dombey, indem er sich ein wenig drehte, um über die Achsel nach ihm hinzusehen. »Es gibt hier einen –«

»Guten Anfang«, fügte Mr. Carker bei, während sich sein Mund so weit wie möglich verzog.

»In Westindien. Zu Barbados. Ich habe im Sinne, Euch hinzuschicken«, fuhr Mr. Dombey fort, indem er es verschmähte, die kahle Wahrheit zu bemänteln, »damit Ihr die Stelle eines jüngeren Angestellten in dem Kontor zu Barbados ersetzet. Bemerkt Eurem Onkel, ich lasse ihm sagen, daß ich Euch dazu ausersehen habe, nach Westindien zu gehen.«

Das Erstaunen benahm Walter so vollständig den Atem, daß er kaum die Worte hervorzubringen vermochte: »Nach Westindien!«

»Irgend jemand muß gehen«, sagte Mr. Dombey. »Ihr seid jung und gesund – Euer Onkel aber befindet sich in keinen guten Umständen. Bedeutet Eurem Onkel, daß ich Euch für den Posten ausersehen habe. Jetzt braucht Ihr noch nicht zu gehen – es dauert möglicherweise noch einen Monat, vielleicht noch zwei.«

»Soll ich dort bleiben, Sir?« fragte Walter.

»Ob Ihr dort bleiben sollt, Sir?« wiederholte Dombey, sich ein wenig mehr zu ihm hinwendend. »Was wollt Ihr damit sagen? Was meint er damit, Carker?«

»Dort leben, Sir«, stotterte Walter.

»Allerdings«, erwiderte Mr. Dombey.

Walter verbeugte sich.

»Genug jetzt«, sagte Mr. Dombey, seine Briefe nehmend. »Ihr werdet ihn natürlich zur Zeit über die gewöhnliche Ausstattung usw. belehren, Carker. Er braucht nicht zu warten, Carker.«

»Ihr braucht nicht zu warten, Gay«, bemerkte Mr. Carker, die Zähne bis zum Zahnfleisch weisend.

»Es sei denn«, versetzte Mr. Dombey, der in seinem Lesen innehielt, ohne übrigens von dem Brief aufzuschauen, gleichsam als wollte er hören – »es sei denn, daß er etwas zu sagen hätte.«

»Nein, Sir«, erwiderte Walter in großer Verwirrung, Aufgeregtheit und halber Betäubung, da sich eine endlose Abwechslung von Bildern seinem Geiste vergegenwärtigte. Unter diesen befanden sich namentlich Kapitän Cuttle mit seinem Glanzhut, wie er vor sternchenland.com Überraschung fast versteinert in Mrs. Mac Stingers Wohnung die Kunde vernahm, und sein Onkel, wie er in dem kleinen Hinterstübchen den Verlust seines Neffen beklagte. »Ich weiß kaum – ich – ich bin Euch sehr verbunden, Sir.«

»Er braucht nicht zu warten, Carker«, sagte Mr. Dombey.

Da nun Mr. Carker die Worte abermals wiederholte und seine Papiere sammelte, als wolle er gleichfalls gehen, so fühlte Walter, daß sein längeres Zögern als eine unverzeihliche Aufdringlichkeit erscheinen mußte, namentlich da er nichts zu sagen wußte. Er verließ daher in großer Verwirrung das Zimmer.

Mit dem gemischten Bewußtsein und der Hilflosigkeit eines Traums den Flur entlang gehend, hörte er Mr. Dombeys Tür abermals zugehen, und unmittelbar darauf lief ihm Mr. Carker, der herausgekommen war, zu:

»Seid so gut, Sir, Euern Freund Mr. Carker junior in mein Zimmer zu bringen.«

Walter begab sich nun nach dem äußeren Bureau und richtete Mr. Carker junior seinen Auftrag aus. Dieser kam sofort hinter der Scheidewand, neben der er allein in einer Ecke saß, hervor und begab sich mit dem jungen Gay nach dem Zimmer Mr. Carkers, des Geschäftsführer«.

Der letztgenannte Gentleman stand, die Hände unter den Schößen seines Fracks, mit dem Nacken gegen das Feuer gekehrt, und sah über seiner weißen Krawatte so unverheißungsvoll weg, wie es kaum jemand anders als Mr. Dombey möglich war. Er empfing die Eintretenden, ohne seine Stellung zu wechseln oder den rauhen düstern Ausdruck irgendwie zu mildern, indem er Walter nur durch einen Wink bedeutete, die Tür zu schließen.

»John Carker«, begann der Geschäftsführer, der sich, nachdem sein Geheiß erfüllt war, mit seinen zwei Reihen Zähnen plötzlich so wild gegen seinen Bruder wandte, als hätte er ihn beißen mögen, »was ist dies für ein Komplott zwischen Euch und diesem jungen Manne, kraft dessen ich durch die Erwähnung Eures Namens gehetzt und geplagt werden muß? Ist es nicht genug für Euch, John Carker, daß ich Euer naher Verwandter bin und mich nicht entschlagen kann dieses –«

»Sage immerhin ›dieses Schimpfes‹, James«, entgegnete der andere in gedämpfter Stimme, als er fand, daß der Geschäftsführer um ein Wort verlegen war. »Es liegt dir auf der Zunge, und du hast ein Recht, diesen Ausdruck zu gebrauchen.«

»Ja, dieses Schimpfes«, pflichtete sein Bruder mit scharfem Nachdruck bei. »Aber muß diese Tatsache austrompetet und ohne Unterlaß vor dem ganzen Hause ausgeschrien werden? Und noch dazu in Augenblicken des Vertrauens! Glaubt Ihr, Euer Name sei darauf berechnet, an diesem Platze mit Verantwortlichkeit und Vertrauen im Einklang zu stehen, John Carker?« »Nein«, erwiderte der andere, »nein, James. Gott weiß, ich habe keinen solchen Gedanken.«

»Und was denkt Ihr sonst?« entgegnete der Bruder. »Warum drängt Ihr Euch mir in den Weg? Habt Ihr mir nicht bereits genug Schaden zugefügt?«

»Mit Willen ist dies nie geschehen, James.«

»Ihr seid mein Bruder«, sagte der Geschäftsführer. »Dieser Umstand allein steht mir überall im Wege.«

»Ich wollte, ich könnte es ungeschehen machen, James.«

»Auch mir wäre es lieb, wenn Ihr’s könntet und wolltet.«

Während dieses Gesprächs hatte Walter mit den Gefühlen schmerzlichen Erstaunens abwechselnd die beiden Brüder angesehen. Der eine, den Jahren nach der ältere, aber in dem Hause der Junior, stand mit zu Boden geschlagenen Augen und gesenktem Kopfe da, um in aller Demut die Vorwürfe des anderen anzuhören. Sie wurden sowohl durch den Ton, als durch den Blick, womit sie über ihn hereinbrachen, sehr bitter; da aber Walter, den sie in gleicher Weise überraschten und erschütterten, zugegen war, so ließ sich der Gekränkte auf nichts anderes ein, als daß er in bittender Weise die rechte Hand erhob, als wollte er sagen: »Schone mich!« So hätte sich vielleicht ein tapferer Soldat, gebunden und durch körperliche Leiden erschöpft, unter den Händen eines prügelnden Profosen benommen.

Edel und rasch in allen seinen Erregungen ergriff nun Walter, der sich selbst für die unschuldige Ursache dieser Beschimpfungen hielt, mit dem ganzen Ernste seiner Gefühle das Wort.

»Mr. Carker«, sagte er, sich an den Geschäftsführer wendend, »in der Tat, die Schuld liegt ganz allein an mir. In einer Unbedachtsamkeit, die ich mir selbst nicht genug vorwerfen kann, habe ich ohne Zweifel den Namen des Mr. Carker junior weit öfter erwähnt, als nötig war, und ihn bisweilen über meine Lippen gleiten lassen, obschon ich mich dadurch gegen Euren ausgesprochenen Wunsch verfehlte. Der Irrtum liegt übrigens nur auf meiner Seite, Sir – wir haben überhaupt nie über den Gegenstand gesprochen – ja, im ganzen nur noch sehr wenige Worte miteinander gewechselt. Ich muß zwar sagen,« fügte Walter nach einer kurzen Pause hinzu, »ganz aus Unachtsamkeit geschah es nicht, Sir, denn seit meinem Hiersein fühlte ich stets ein Interesse für Mr. Carker, und da ich so viel an ihn dachte, war es kaum anders möglich, als daß ich auch zuweilen von ihm sprach.«

Walter sprach dies aus voller Seele und mit der innigsten Ehrlichkeit. Er sah auf das gebeugte Haupt, die niedergeschlagenen Blicke, die erhobene Hand und dachte: ›Ich habe es gefühlt, und warum sollte ich es nicht zugestehen um dieses freundlosen, unglücklichen Mannes willen‹!

»Um die Wahrheit zu sagen. Ihr habt mich sogar gemieden, Mr. Carker«, sagte Walter, dem in der Wärme seines Mitleids Tränen in die Augen traten. »Ich bemerkte es wohl, und es tat mir schmerzlich leid. Von meinem Eintritt im Hause an und stets habe ich mir Mühe gegeben. Euch ein Freund zu sein, wie dies ein sternchenland.com Mensch in meinem Alter sich herausnehmen durfte; aber alle meine Versuche sind vergeblich gewesen.«

»Und merkt Euch wohl«, entgegnete nun der Geschäftsführer, ihm rasch ins Wort fallend, »es wird noch unnützer sein, Gay, wenn Ihr darauf besteht, Mr. John Carkers Namen der Aufmerksamkeit der Leute aufzudringen. Dies ist nicht die Art, sich mit Mr. John Carker zu befreunden. Fragt ihn selbst, ob er nicht auch dieser Ansicht ist.«

»Ein Dienst erwächst mir nicht daraus«, sagte der Bruder, »sondern es führt im Gegenteil zu Erörterungen, wie die gegenwärtige, und ich brauche nicht zu sagen, daß ich sie recht gern hätte missen mögen. Man kann mir keinen besseren Freundschaftsdienst leisten«, fügte er mit großer Bestimmtheit hinzu, als wolle er seine Worte Walter besonders ans Herz legen, »als wenn man mich vergißt und mich ohne Beachtung oder Frage meiner Wege gehen läßt.«

»Da Ihr für das, was Euch andere zu verstehen geben, ein so kurzes Gedächtnis habt, Gay«, sagte Mr. Carker der Geschäftsführer, der in einer sich steigernden Selbstzufriedenheit wärmer wurde, »so hielt ich es für gut, daß Euch das, um was es sich handelt, von der besten Autorität bedeutet werde« – er nickte dabei nach seinem Bruder hin. »Hoffentlich werdet Ihr’s jetzt nicht mehr vergessen. Damit gut, Gay. Ihr könnt gehen.«

Walter trat ab und war eben im Begriff, die Tür hinter sich zu schließen, als er aufs neue die Stimmen der Brüder vernahm und dabei auch seinen Namen nennen hörte; er blieb daher, die Hand auf der Klinke und bei halb offener Tür unschlüssig stehen, nicht wissend, ob er umkehren oder sich entfernen sollte. In dieser Stellung konnte ihm das, was nun folgte, nicht wohl entgehen.

»Denke milder von mir, wenn du kannst, James«, sagte John Carker, »wenn ich dir sage, daß mein ganzes Herz wieder aufwachte – wie konnte es auch anders sein bei der Geschichte, die hier geschrieben steht« – er schlug sich dabei auf die Brust – »als mir dieser junge Mensch, der Walter Gay, in den Weg kam. Ich betrachtete ihn, als er zum erstenmal hierher kam, fast wie mein anderes Ich.«

»Dein anderes Ich!« wiederholte der Geschäftsführer im Tone der Verachtung.

»Nicht wie ich bin, sondern wie ich war beim Eintritt in dies Haus – so hoffnungsvoll, so schwindelig und in so frischer unerfahrener Jugend – glühend von denselben rastlosen abenteuerlichen Vorstellungen, voll von denselben Eigenschaften und reich an der gleichen Befähigung, zum Guten oder Schlimmen vorwärts zu schreiten.«

»Will nicht hoffen«, sagte sein Bruder mit einem geheimen sarkastischen Sinn in seiner Betonung.

»Du triffst mich schwer. Deine Hand ist fest, und dein Stoß geht tief«, entgegnete der andere mit einer Stimme – wenigstens kam es Walter so vor – als habe ihn bei diesen Worten irgendeine sternchenland.com grausame Waffe durchbohrt. »Ich vergegenwärtigte mir all dieses, als er noch ein Knabe war. Ich glaubte es. Für mich war es eine Wahrheit. Ich sah ihn leichten Fußes hineilen an dem Rande eines unbemerkten Abgrundes, an dem so viele andere mit gleicher Heiterkeit hingleiten und von dem –«

»Die alte Entschuldigung«, unterbrach ihn sein Bruder, in dem Feuer schürend. »So viele. Nur weiter. Sage: so viele stürzten.«

»Von dem ein Wanderer hinabstürzte«, erwiderte der andere, »der, gleich ihm ein Knabe, seine Bahn angetreten hatte, aber immer mehr das sichere Fußen verlor, allmählich weiter und weiter glitt und endlich abwärts rollte, bis kein Halt mehr war und er unten anlangte als ein Zerschmetterter. Denke dir, was ich litt, wenn ich diesen Knaben betrachtete.«

»Du hast alles nur dir selbst zu danken«, versetzte der Bruder.

»Nur mir selbst«, pflichtete er mit einem Seufzer bei. »Ich suche die Schuld ebenso wenig zu teilen, als die Schmach.«

»Die Schande hast du gleichwohl auf andere übertragen«, murmelte James Carter durch seine Zähne, und zwar durch so viele und festgeschlossene Zähne, als bei dem Murmeln nur möglich war.

»Ach, James«, erwiderte sein Bruder, zum ersten Male im Tone des Vorwurfs sprechend, und dem Tone der Stimme nach hatte es den Anschein, als habe er sein Gesicht mit den Händen bedeckt, »seitdem bin ich für dich ein nützliches Stichblatt gewesen. Bei deinem Hinanklettern hast du mich ohne Umstände niedergetreten – tritt mich nicht noch obendrein mit deiner Ferse.«

Es folgte eine Pause. Nach einer Weile hörte man Mr. Carker, den Geschäftsführer, mit seinen Papieren knistern, als sei er willens, die Unterhaltung zum Schlusse zu bringen. Zu gleicher Zeit näherte sich sein Bruder der Tür.

»Weiter ist nichts an der Sache«, sagte er. »Ich beobachtete ihn mit so viel Furcht und Zittern, daß es mir eigentlich zur Strafe wurde, bis er die Stelle überschritten hatte, wo ich das erstemal zu Fall kam; und dann – ich glaube, wenn ich sein Vater gewesen wäre, hätte ich Gott nicht inbrünstiger danken können. Ich wagte es nicht, ihn zu warnen und ihm zu raten; aber wenn ich irgendeine unmittelbare Ursache wahrgenommen hätte, so würde ich ihm mein Beispiel vor Augen geführt haben. Ich scheute mich, auch nur im Gespräch mit ihm gesehen zu werden, damit man nicht glauben möge, ich verlockte ihn zu etwas Schlimmem oder verderbe ihn – ja, ich vermied jede Annäherung, damit dies nicht etwa wirklich geschehe. Ich weiß nicht, aber es kann ein solcher Ansteckungsstoff in mir liegen. Vergleiche meine Geschichte mit der des jungen Walter Gay, vergegenwärtige dir, welche Gefühle er mir einflößen mußte – und denke milder von mir, James, wenn du kannst.«

Mit diesen Worten trat er in den Flur hinaus, wo Walter stand. Er wurde blaß, als er ihn dort sah, und erblaßte noch mehr, als ihn Walter bei der Hand faßte und in Flüsterlauten zu ihm sagte:

»Mr. Carker, ich bitte, erlaubt mir. Euch zu danken, und laßt sternchenland.com mich Euch sagen, wie sehr ich für Euch fühle, wie leid es mir tut, daß ich von alledem die unglückliche Ursache war! Ich betrachte Euch jetzt fast als meinen Beschützer und Hüter! Wie sehr, wie sehr fühle ich mich Euch verpflichtet und wie innig bemitleide ich Euch!« sagte Walter, ihm beide Hände drückend und in seiner Aufregung kaum wissend, was er tat oder sprach.

Mr. Morfins Zimmer befand sich in der Nähe und war leer. Da die Tür weit offen stand, so begaben sie sich wie aus gemeinschaftlichem Antrieb dahin, weil der Flur selten von Vorübergehenden frei war. Dort angelangt, bemerkte Walter in Mr. Carkers Gesicht einige Spuren von innerer Erregung und eine so große Veränderung desselben, daß er fast meinte, er habe dieses Antlitz nie zuvor gesehen.

»Walter«, sagte er, seine Hand auf die Schulter des Jünglings legend, »zwischen uns ist ein weiter Abstand, und möge dieser immer stattfinden. Wißt Ihr, was ich bin?«

»Was Ihr seid?« schien auf Walters Lippen zu schweben, als er den Sprecher aufmerksam betrachtete.

»Es nahm seinen Anfang vor meinem 21. Geburtstag«, sagte Carker – »in Gedanken viel früher vorbereitet, aber erst angefangen um diese Zeit. Ich bestahl sie, als ich volljährig wurde. Ich bestahl sie nachher. Noch vor meinem 22jährigen Geburtstag war alles entdeckt, und damals, Walter, starb ich für die menschliche Gesellschaft.«

Wieder schwebten die letzten Worte zitternd auf Walters Lippen, aber er konnte weder ihnen noch seinen eigenen Gedanken Laute verleihen.

»Das Haus war sehr wohlwollend gegen mich. Möge der Himmel den alten Mann für seine Nachsicht belohnen! Auch dieser eine, sein Sohn – damals noch ein Neuling in der Firma, die mir großes Vertrauen geschenkt hatte! Ich wurde in das Zimmer berufen, das jetzt seins ist – seitdem habe ich’s nie wieder betreten – und kam heraus als der Mensch, den Ihr jetzt in mir kennt. Viele Jahre saß ich an meinem gegenwärtigen Platze, allein wie jetzt, aber damals ein bekanntes und entlarvtes Beispiel für die übrigen. Sie hatten alle Erbarmen mit mir, und ich lebte. Die Zeit hat diesen Teil meiner jammervollen Sühne getilgt, und ich glaube, außer den drei Häuptern des Hauses ist niemand hier, der von meiner Geschichte genau unterrichtet wäre. Ehe der kleine Knabe heranwächst und ihm Mitteilung davon gemacht wird, ist vielleicht meine Ecke erledigt. Gebe Gott, daß es so sei. Dies ist der einzige Wechsel, den ich mir wünschen kann seit jener Zeit, als ich meine Jugend, die Hoffnung und die Gesellschaft aller guten Menschen in jenem Zimmer hinter mir zurückließ. Gott behüte Euch, Walter! Bleibt ehrlich und haltet alle, die Euch lieb sind, zur Redlichkeit an, oder schlagt sie lieber tot!«

Eine schwache Erinnerung, als habe der Redende vom Kopf bis zu den Füßen gezittert, wie bei überwältigendem Frost, und als sei er in Tränen ausgebrochen – dies war alles, dessen Walter sich noch erinnern konnte, wenn er es versuchte, das, was zwischen ihnen vorgefallen war, sich wieder genau ins Gedächtnis zu rufen.

Als ihn Walter wiedersah, hatte er sich in seiner früheren stummen, demütigen Weise über sein Pult gebeugt. Er entnahm daraus, daß der arme Mann fest entschlossen war, allen weiteren Verkehr mit ihm zu vermeiden, und wie er zu wiederholten Malen alles bei sich erwog, was er am Morgen in so kurzer Zeit von der Geschichte der beiden Carker gesehen und gehört hatte, konnte er kaum glauben, daß er für Westindien bestimmt sei und so bald für Onkel Sol und Kapitän Cuttle verloren sein werde. Er dachte dabei auch an Florence Dombey – nein, nicht an Florence, sondern an Paul, wie er sich einreden wollte, und an alle, die er liebte und die ihm im täglichen Leben nahestanden.

Dennoch hatte es seine Richtigkeit, und die Kunde war bereits bis ins äußere Bureau gedrungen; denn während er mit schwerem Herzen dasaß, seinen Betrachtungen nachhing und dabei den Kopf auf den Arm stützte, kam der Ausläufer Perch von seinem Mahagonidreifuß heruntergestiegen, berührte seinen Ellenbogen und bat um Entschuldigung, daß er ihm etwas ins Ohr zu sagen wünsche: ob er nämlich nicht glaube, er könne es einleiten, einen Krug eingemachten Ingwers wohlfeil nach England zu schicken – für Mrs. Perch, damit sie sich nach ihrem nächsten Wochenbett daran erlaben möge.

Das zweite Viertel


Das zweite Viertel

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Der Brief, den Toby von Alderman Cute erhalten hatte, war an einen großen Mann in dem großen Distrikt der Stadt adressiert. Der größte Distrikt der Stadt. Er mußte es auch wohl sein, weil er allgemein von seinen Einwohnern die ›Welt‹ genannt wurde.

Der Brief kam entschieden Tobys Hand weit schwerer vor, als ein andrer Brief – nicht weil ihn der Alderman mit einem sehr großen Wappen und einer endlosen Lackverschwendung gesiegelt hatte, sondern wegen des wichtigen Namens auf dem Umschlag und der schweren Menge von Gold und Silber, an die er erinnerte.

»Wie ganz verschieden von uns!« dachte Toby in aller Einfalt, als er die Adresse las. »Wenn man die zum Tod bestimmten Schildkröten durch die Anzahl der vornehmen Leute teilte, die sie kaufen könnten, würde er nur seinen eignen Anteil beanspruchen und würde es verachten, irgendeinem Menschen die Kuttelflecke vor dem Mund wegzuschnappen!«

Mit der unwillkürlichen Huldigung, die einem so hochstehenden Charakter gebührte, brachte Toby einen Zipfel seiner Schürze zwischen den Brief und seine Finger.

»Seine Kinder,« fuhr Trotty fort, und ein Nebel legte sich vor seine Augen, »seine Töchter – vornehme Herren können kommen, ihre Herzen gewinnen und sie heiraten. Sie dürfen glückliche Weiber und Mütter werden – sind vielleicht schön, wie meine liebe M – e –.«

Er konnte den Namen nicht zu Ende bringen, denn der letzte Buchstabe schwoll in seiner Kehle zum Umfang des ganzen Alphabets an.

»Doch gleichviel,« dachte Trotty. »Ich weiß, was ich meine, und das ist mehr als genug für mich.«

Und mit dieser tröstlichen Betrachtung trabte er weiter.

Es hatte an diesem Tag hart gefroren, und die Luft war stärkend, frisch und klar. Die winterliche Sonne gab zwar keine Wärme, blickte aber glänzend auf das Eis nieder, das sie nicht schmelzen konnte, und ließ darin ihre Strahlen spiegeln. Zu andern Zeiten hätte Trotty vielleicht dieser Wintersonne eine Lehre für den armen Mann abgewinnen können, aber er war jetzt darüber hinaus.

Das Jahr war sterbensalt an diesem Tag. Das geduldige Jahr hatte die Vorwürfe und Schmähungen seiner Lästerer überlebt und war getreulich mit seinem Werk zustande gekommen. Frühling, Sommer, Herbst, Winter. Es hatte sich durch den ihm angewiesenen Kreislauf gearbeitet und legte jetzt sein müdes Haupt nieder, um zu sterben. Abgeschnitten von aller Hoffnung, von allen starken Impulsen, von allem Lebendigen, und nur noch ein Bote vieler Freuden für andre, verlangte es weiter nichts, als daß man sich seiner vielen mühsamen Tage und geduldigen Stunden erinnere und es dann in Frieden hinscheiden lasse. Trotty hätte aus dem entschwindenden Jahr ein Sinnbild des armen Mannes lesen können – aber er war jetzt darüber hinaus.

Und nur er? Oder war vielleicht seit siebzig Jahren derselbe Aufruf zumal an jeden englischen Arbeiter ergangen, aber vergeblich?

Die Straßen waren sehr belebt und die Läden prunkhaft ausgestattet. Wie einem jugendlichen Erben der ganzen Welt sah man dem neuen Jahr mit Freude, Willkomm und Geschenken entgegen. Da lagen Bücher und Spielzeug für das neue Jahr, funkelndes Geschmeide für das neue Jahr, Anzüge für das neue Jahr, Glücksentwürfe für das neue Jahr; neue Erfindungen, um es um seine Zeit zu betrügen. Sein Leben war in Kalendern und Taschenbüchern haargenau eingeteilt; das Erscheinen der Monde, der Sterne und der Gezeiten war im voraus bis auf die Sekunde bekannt; ja sogar das Wirken der Jahreszeiten bei Tag und bei Nacht war mit ebenso großer Genauigkeit berechnet, wie Herr Filer aus Männern und Weibern Summen herausarbeiten konnte.

Das neue Jahr, das neue Jahr – überall das neue Jahr! Das alte betrachtete man schon als tot, und seine Effekten wurden spottbillig verkauft, wie die eines ertrunkenen Matrosen an Bord. Seine Moden wurden schon der Vergangenheit beigezählt und fielen als Opfer, ehe noch sein Atem ausgegangen war. Seine Schätze waren bloßer Schmutz neben den Reichtümern des neugeborenen Nachfolgers!

Trotty dachte für sich: »Du hast doch keinen Teil weder an dem neuen noch an dem alten Jahr.«

»Leg es ihnen, leg es ihnen! Tatsachen und Zahlen, Tatsachen und Zahlen. Gute alte Zeiten, gute alte Zeiten! Leg es ihnen, leg es ihnen!« – sein Trab ging nach diesem Takt und wollte sich in keinen andern schicken.

Doch auch dieser, so traurig er war, brachte ihn endlich ans Ende seiner Wanderung nach der Wohnung des Sir Joseph Bowley, Parlamentsmitglied.

Die Tür wurde durch einen Portier geöffnet. Und noch dazu durch was für einen Portier! Kein Porter2 von Tobys Rang. Etwas ganz andres. Und bei seiner Stellung konnte er die Botengänge wohl entbehren; nicht aber Toby.

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Dieser Portier mußte zuvor schwer schnauben, ehe er sprechen konnte; denn er hatte sich außer Atem gehetzt, weil er unvorsichtigerweise von seinem Stuhl aufgestanden war, ohne daß er sich zuvor Zeit genommen hatte, darüber nachzudenken und sein Gemüt zu beruhigen. Als er endlich seine Stimme gefunden hatte – freilich dauerte dies eine geraume Zeit, denn sie war weg und unter einer Last Fleisch verborgen – begann er in fettem Geflüster:

»Von wem ists?«

Toby sagte es ihm.

»Ihr müßt es selbst hineintragen,« sagte der Portier, nach einem Zimmer am Ende eines langen Ganges deutend, der an die Halle stieß. »An diesem Tag des Jahres geht alles direkt hinein. Ihr kommt nicht eine Sekunde zu früh, denn der Wagen steht schon vor der Tür, und sie sind ausdrücklich nur für ein paar Stunden nach der Stadt gekommen.«

Toby wischte sich sorgfältig die Füße ab, obschon sie ganz trocken waren, und schlug den ihm angedeuteten Weg ein. Während er durch die Halle trottete, bemerkte er, daß es ein schauerlich großartiges Haus war, aber alles so still und verhüllt, als befände sich die Familie auf dem Land. Er klopfte an die Zimmertür, und als er auf ein ›Herein!‹ eintrat, gelangte er in ein geräumiges Bibliothekzimmer, in dem vor einem mit Papieren bedeckten Tisch eine stattliche Dame im Hut saß. Ein nicht sehr stattlicher, schwarz gekleideter Gentleman schrieb, was sie diktierte, und ein andrer älterer und viel stattlicherer Gentleman, dessen Hut und Stock auf dem Tisch lagen, ging auf und ab, die eine Hand in die Brust steckend und von Zeit zu Zeit sein eignes Porträt in Lebensgröße, das über dem Kamin hing, betrachtend.

»Was ist dies?« fragte der letzterwähnte Gentleman. »Herr Fish, wollen Sie nicht die Güte haben, sich darum zu kümmern?«

Herr Fish bat um Verzeihung, nahm Toby den Brief ab und überreichte ihn mit großer Ehrfurcht.

»Von Alderman Cute, Sir Joseph.«

»Ist dies alles? Habt Ihr sonst nichts, Austräger?« fragte Sir Joseph.

Toby antwortete verneinend.

»Habt Ihr keinen Wechsel, keine Forderung an mich, von welcher Seite her es auch sein mag?« sagte Sir Joseph. »Mein Name ist Bowley – Sir Joseph Bowley; wenn Ihr etwas habt, so gebt es her. Herr Fish hat ein Scheckbuch neben sich liegen. Ich lasse nichts ins neue Jahr hinübergehen. Jede Art Rechnung muß in diesem Haus am Schluß des alten beglichen werden, damit, wenn der Tod – wenn der Tod …«

»Mich wegraffen sollte,« ergänzte Herr Fish.

»Die Saite meines Daseins zerreißen sollte, Sir,« erwiderte Sir Joseph mit großer Strenge – »meine Angelegenheiten hoffentlich im Zustande der Vorbereitung gefunden werden.«

»Mein teurer Sir Joseph!« sagte die Dame, die viel jünger war als der Gentleman. »Wie entsetzlich!«

»Mylady Bowley,« entgegnete Sir Joseph, der wie unter der ungeheuerlichen Tiefsinnigkeit seiner Bemerkungen hin und wieder stockte, »zu dieser Zeit des Jahres müssen wir an – an – uns selbst denken. Wir sollten Einsicht nehmen in – in unsre Rechnungen. Wir sollten fühlen, daß jede Wiederkehr einer so ereignisvollen Periode im menschlichen Leben Dinge mit sich führt – Dinge von tiefer Bedeutung zwischen dem Menschen und seinem – und seinem Bankier.«

Sir Joseph entledigte sich dieser Worte in einer Weise, als fühle er die volle Moralität derselben und wünsche, daß sogar Trotty Gelegenheit habe, sich an einem derartigen Gespräch zu erbauen. Vielleicht lag dies in seiner Absicht, weil er immer das Siegel des Briefes noch uneröffnet ließ und zu Trotty sagte, er solle noch eine Minute warten.

»Mylady, Sie wollten Herrn Fish schreiben lassen…«, bemerkte Sir Joseph.

»Herr Fish hat es, glaube ich, schon geschrieben,« versetzte die gnädige Frau, nach dem Brief hinsehend. »Aber auf mein Wort, Sir Joseph, ich glaube nicht, daß ich es zulassen kann. Es ist so kostspielig.«

»Was ist kostspielig?« fragte Sir Joseph.

»Dieser Wohltätigkeitsverein, mein Lieber. Sie gestatten nur zwei Stimmen für eine Unterzeichnung von fünf Pfund. Das ist in der Tat zu arg.«

»Mylady Bowley,« entgegnete Sir Joseph, »Ihr setzt mich in Erstaunen. Steht der Hochgenuß des Gefühls im Verhältnis zu der Anzahl der Stimmen, oder steht er für eine edle Seele im Verhältnis zu der Anzahl der Bewerber und der ganzen Gesinnung, in die sie durch ihre Bewerbung versetzt werden? Liegt nicht Aufregung der reinsten Art in dem Umstand, unter fünfzig Personen über zwei Stimmen zu verfügen?«

»Ich gestehe, für mich nicht, denn man langweilt sich dabei,« entgegnete die gnädige Frau. »Außerdem kann man sich keine Freunde verbinden. Doch ich weiß ja, Ihr seid des armen Mannes Freund, Sir Joseph, und denkt anders.«

»Ich bin allerdings des armen Mannes Freund,« bemerkte Sir Joseph, nach dem anwesenden armen Mann hinblickend. »Als solchen mag man mich immerhin verhöhnen, wie man mich schon verhöhnt hat; ich verlange dennoch keinen ändern Titel!«

»Gott segne diesen edlen Gentleman!« dachte Trotty.

»Mit Cute da zum Beispiel bin ich nicht einverstanden,« sagte Sir Joseph, indem er den Brief ausstreckte. »Ebensowenig sagt mir Filers Partei zu. Ich will nichts von einer Partei wissen. Mein Freund, der arme Mann, hat nichts mit irgend etwas dieser Art zu schaffen, und solche Dinge gehen ihn auch durchaus nichts an. Mir liegt mein Freund, der arme Mann in meinem Distrikt, am Herzen, und kein Mensch und keine Parteigruppe, mögen ihrer auch noch so viele sein, haben ein Recht, sich zwischen mich und meinen Freund zu drängen. Dies ist das Feld, von dem ich nicht weiche. Ich stehe meinem Freunde in der – in der Eigenschaft eines Vaters gegenüber und sage zu ihm: »mein guter Bursche, ich will väterlich an dir handeln.«

Toby hörte mit großem Ernst zu – es wurde ihm nachgerade wohler zumute.

»Mein guter Freund,« fuhr Sir Joseph fort, indem er zerstreut nach Toby hinblickte, »du hast in diesem Leben nichts – ganz und gar nichts zu tun, als dich auf mich zu verlassen, und brauchst dich nicht zu bemühen, über irgend etwas nachzudenken. Ich will für dich denken, denn ich weiß, was gut für dich ist, und bin stets dein Vater. Dies ist die Fügung einer allweisen Vorsehung! Du bist nicht dazu geschaffen, um zu schlemmen, zu trinken und wie das Vieh deine Lust im Essen zu suchen« – Toby dachte mit Gewissensbissen an seine Kuttelflecke – »du sollst nur die Würde der Arbeit fühlen. Geh aufrecht hinaus in die erfrischende Morgenluft und – und bleibe daselbst. Lebe spärlich und mäßig, benimm dich respektvoll, übe dich in der Selbstverleugnung, erziehe deine Familie mit fast nichts, zahle deine Steuer so regelmäßig als die Uhr schlägt, sei pünktlich in deinem Verkehr – ich gebe dir darin ein gutes Beispiel, denn du wirst Herrn Fish, meinen Geheimschreiber, stets mit einer Geldtruhe vor sich sehen – und du kannst auf mich als auf deinen Freund und Vater bauen.«

»In der Tat, saubere Kinder, Sir Joseph,« sagte die Dame mit einem Schauder. »Rheumatismen, Fieber, verkrümmte Beine, Asthma und dergleichen Schrecken.«

»Mylady,« versetzte Sir Joseph mit Feierlichkeit, »nichtsdestoweniger bin ich des armen Mannes Freund und Vater. Nichtsdestoweniger soll er aus meinen Händen Ermutigung erhalten. An jedem Vierteljahrstag kann er sich mit Herrn Fish besprechen. An jedem Neujahrstag werde ich mit Freunden auf seine Gesundheit trinken. Einmal im Jahr werden ich selbst und meine Freunde tief empfundene Worte an ihn richten. Einmal in seinem Leben kann er vielleicht öffentlich und in Anwesenheit der Honoratiorenschaft sogar eine Kleinigkeit von einem Freund erhalten. Und wenn er, nicht mehr durch derartige Antriebe und durch die Würde der Arbeit aufrechtgehalten, in sein trostreiches Grab sinkt, dann, Mylady« – hier blies Sir Joseph seine Nase auf – »werde ich unter denselben Bedingungen ein Freund und Vater sein – seinen Kindern.«

Toby fühlte sich tief bewegt.

»O! Da habt Ihr auch eine dankbare Familie, Sir Joseph!« rief seine Gattin.

»Mylady,« versetzte Sir Joseph in majestätischem Ton, »Undank ist bekanntermaßen die Sünde dieser Klasse. Ich erwarte keinen andern Lohn.«

»Ah! schon als schlecht geboren!« dachte Toby. »Nichts kann unser verhärtetes Gemüt rühren.«

»Was ein Mensch tun kann, geschieht von meiner Seite aus,« fuhr Sir Joseph fort. »Ich erfülle meine Pflicht als des armen Mannes Freund und Vater und bemühe mich, seinen Geist zu bilden, indem ich ihm bei allen Gelegenheiten die eine große moralische Lehre, die diese Klasse braucht, ans Herz lege. Das heißt, unbedingte Abhängigkeit von mir. Sie haben durchaus nichts mit – mit sich selbst zu schaffen. Aber auch wenn gottlose und hinterlistige Personen sie eines andern belehren wollen – wenn sie ungeduldig und unzufrieden werden, sich eines unbotmäßigen Betragens und schwarzen Undanks schuldig machen, was ohne Zweifel der Fall sein wird, bleibe ich dennoch ihr Freund und Vater. Es ist so von der Vorsehung verordnet und liegt in der Natur der Dinge.«

Mit diesem großartigen Gefühl öffnete er den Brief des Alderman und las ihn.

»In der Tat sehr höflich und aufmerksam!« rief Sir Joseph. »Mylady, der Alderman ist so verbindlich, mich zu erinnern, daß er die ›ausgezeichnete Ehre‹ hatte – er ist sehr gütig – mich in dem Haus unsres gemeinschaftlichen Freundes, des Bankiers Deedles, zu treffen, und erweist mir die Gunst, anzufragen, ob es mir angenehm sei, wenn er Will Fern das Handwerk lege.«

»Höchst angenehm!« versetzte Lady Bowley. »Der Schlimmste von allen! Hoffentlich hat er einen Raub begangen.«

»Ei nein,« entgegnete Sir Joseph, in den Brief blickend. »Nicht ganz. Zwar nahe daran, aber nicht ganz. Es scheint, daß er nach London kam, um sich nach Arbeit umzusehen (sich zu verbessern, sagt er), und da wurde er denn nachts in einem Schuppen schlafend gefunden, in Haft genommen und am andern Morgen vor den Alderman gebracht. Der Alderman bemerkt (und zwar sehr richtig), daß er fest entschlossen sei, mit derartigen Vorkommnissen aufzuräumen, und wenn es mir angenehm sei, daß man es Will Fern endlich lege, so schätze er sich glücklich, mit ihm den Anfang zu machen.«

»Jedenfalls soll ein Exempel an ihm statuiert werden,« entgegnete die gnädige Frau. »Als ich letzten Winter unter den Männern und Knaben des Dorfes als eine hübsche Abendbeschäftigung das Spitzen und Öhren der Nadeln einführte und bei dieser Gelegenheit den Vers

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O laßt uns unsre Arbeit üben,
Den Squire und dessen Haus stets lieben,
Von unserm Tagsverdienste leben,
Uns unsres Stands nicht überheben

in Musik setzte, damit sie ihn dazu sängen, langte derselbige Fern – ich kann ihn noch sehen – an seinen Hut und sagten ›Bitt demütig um Verzeihung, Mylady, aber ist nicht doch noch ein Unterschied zwischen mir und einem großen Mädchen?‹ Natürlich erwartete ich dies, denn von dieser Klasse ist doch nichts als Unverschämtheit und Undank vorauszusehen. Doch warum sollte ich mich auch ereifern! Sir Joseph, laßt ein Exempel an ihm statuieren.«

»Hm!« hustete Sir Joseph. »Herr Fish, wollen Sie so gut sein, aufzumerken …«

Herr Fish ergriff augenblicklich seine Feder und schrieb, wie ihm Sir Joseph diktierte.

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»Privat.

Mein teurer Sir!

Ich bin Euch für Eure Höflichkeit in der Sache dieses William Fern, von dem ich leider nichts Günstiges sagen kann, sehr verpflichtet. Ich habe mich ihm gegenüber stets im Lichte eines Vaters und Freundes gesehen, bin aber (wie es leider nur zu gewöhnlich der Fall ist) mit Undank und beharrlicher Opposition gegen meine Pläne belohnt worden. Er ist ein unruhiger, rebellischer Geist. Sein Charakter duldet kein Erforschen. Nichts wird ihn dazu vermögen, glücklich zu sein, da er es doch so gut könnte. Unter diesen Umständen gestehe ich, daß Ihr meiner Ansicht nach der Gesellschaft einen Dienst leisten und ein heilsames Beispiel in einem Land geben würdet – wo, sowohl um derer willen, die im guten oder im bösen Ruf eines Vaters und Freundes der Armen stehen, als auch mit Rücksicht auf die irregeleitete Klasse selbst, Beispiele so nötig sind – wenn Ihr diesen Mann für einige Zeit als Vagabunden einsperren ließet, falls sich derselbe, wie er Euch in dem Verhör versprochen hat (und ich zweifle nicht, daß er Wort halten wird), wieder bei Euch einstellen sollte. Ich verbleibe« usw.

»Es kommt mir vor,« bemerkte Sir Joseph, als er diesen Brief unterzeichnet hatte und Herr Fish ihn eben versiegelte, »als ob dies wahrhaftig eine Verordnung der Vorsehung sei. Am Schluß des Jahres kann ich sogar mit William Fern meine Rechnung begleichen und meine Bilanz aufstellen.«

Trotty, dem der Mut schon längst wieder ganz und gar entsunken war, trat jetzt mit einer Jammermiene vor, um den Brief in Empfang zu nehmen.

»Mit meinem Kompliment und meinem Danke,« sagte Herr Joseph. »Halt!«

»Halt!« wiederholte Fish.

»Ihr habt vielleicht gewisse Bemerkungen gehört,« fuhr Sir Joseph orakelhaft fort, »zu denen ich mich durch den feierlichen Zeitpunkt, an dem wir angelangt sind, und durch die gebieterische Pflicht, in einem solchen Augenblick alle häuslichen Angelegenheiten zu ordnen, verleiten ließ. Ihr habt bemerkt, daß ich mich nicht hinter meine hohe Stellung in der Gesellschaft verschanze, sondern daß Herr Fish – dieser Gentleman da – ein Scheckbuch neben sich liegen hat und nur dazu hier ist, um mich in den Stand zu setzen, ein vollkommen neues Blatt aufzuschlagen, damit die neue Epoche mit einem vollkommen reinen Buche angetreten werden kann. Nun, mein Freund, seid Ihr gleichfalls imstande, Eure Hand aufs Herz zu legen und zu sagen, daß Ihr Eure Vorbereitungen für ein neues Jahr getroffen habt?«

»Ich fürchte, Sir,« stammelte Trotty, ihn demütig anblickend, »daß ich mit der Welt ein – ein – wenig im Rückstand bin.«

»Im Rückstand mit der Welt?« wiederholte Sir Joseph Bowley in einem Ton von erschreckender Deutlichkeit.

»Ich fürchte, Sir,« stotterte Trotty, »daß da noch zehn oder zwölf Schilling sind, die ich Frau Chickenstalker schuldig bin.«

»Frau Chickenstalker schuldig?« wiederholte Sir Joseph in demselben Ton wie zuvor.

»Sie hält einen Laden, in dem alles zu haben ist,« entgegnete Toby. »Auch ein – ein wenig fehlt noch an der Hausmiete. Nur sehr wenig, Sir. Ich weiß, wir sollten nichts schuldig sein, aber es ist uns wahrhaftig recht schlimm ergangen.«

Sir Joseph musterte zweimal seine Gattin, Herrn Fish und Trotty im Kreis, worauf er mit beiden Händen eine trostlose Gebärde machte, als gebe er die Sache ganz und gar auf.

»Wie kann ein Mann, sogar einer aus dieser unbekümmerten und unpraktischen Rasse – ein alter Mann, ein grauer Mann, einem neuen Jahre ins Gesicht sehen, während seine Angelegenheiten sich in einem solchen Zustand beenden! Wie kann er sich nachts zu Bett legen und am Morgen wieder aufstehen, während – da!« fügte er bei, indem er Trotty den Rücken zuwandte – »nehmt den Brief, nehmt den Brief!«

»Wollte Gott, es wäre anders, Sir,« sagte Trotty, der sich sehnlichst zu entschuldigen wünschte. »Aber wir sind bitter heimgesucht worden.«

Da Sir Joseph noch immer sein »Nehmt den Brief, nehmt den Brief!« wiederholte, und Herr Fish nicht nur das gleiche sagte, sondern auch der Aufforderung dadurch einen weitern Nachdruck gab, daß er gegen die Tür wies, blieb dem armen Trotty nichts übrig, als daß er seine Verbeugung machte und das Haus verließ. Auf der Straße angelangt, zog er seinen alten, abgenützten Hut ins Gesicht, um den Schmerz zu verbergen, den er darüber fühlte, daß er nirgends dem Neujahr einen Halt abgewinnen konnte.

Er hob seine Kopfbedeckung nicht einmal, um an dem Glockenturm hinaufblicken zu können, als er auf dem Rückweg an der alten Kirche vorbeikam. Für einen Augenblick blieb er gewohnheitshalber stehen. Er wußte, daß es dunkel wurde und der Kirchturm schwach und undeutlich über ihm in die trübe Luft stieg; auch wußte er, daß die Glocken alsbald erschallen würden, und daß sie zu einer solchen Zeit wie Stimmen aus den Wolken in seine Ohren zu tönen pflegten. Aber er beeilte sich nur um so mehr, den Brief an den Alderman abzuliefern und ihnen aus dem Wege zu kommen, ehe sie anfingen, denn er fürchtete, in ihrem Bimmeln nichts andres als den ewigen Refrain »Freunde und Väter, Freunde und Väter« zu hören.

Toby sputete sich daher nach Kräften, seinen Auftrag auszurichten, und trabte dann nach Hause. Sein Gang war aber im besten Fall linkisch und wurde durch den tief ins Gesicht gedrückten Hut nicht verbessert, weshalb er nach kurzer Zeit gegen jemand anprallte, der ihn taumelnd auf den Fahrweg hinausschleuderte.

»Ich bitte um Verzeihung !« sagte Trotty, in großer Verwirrung seinen Hut in die Höhe ziehend, dessen zerrissenes Futter aber auf der Stirn sitzen blieb, so daß sein Kopf wie in einem Bienenkorb steckte. »Hoffentlich habe ich Euch nicht verletzt?«

Toby war kein so absoluter Samson, daß er möglicherweise irgend jemand hatte beschädigen können; dagegen lag die Wahrscheinlichkeit weit näher, daß er selbst Schaden genommen hatte, denn er war wie ein Feuerball auf die Straße hinausgeflogen. Dennoch hatte er eine so hohe Meinung von seiner eignen Kraft, daß er um den andern wirklich besorgt war und noch einmal fragte:

»Hoffentlich habe ich Euch nicht verletzt?«

Der Mann, gegen den er angerannt war, ein sonnverbrannter, muskulöser Bauer mit grauen Haaren und rauhem Kinn, stierte ihn einen Augenblick an, als glaube er, Toby wolle sich mit ihm einen Scherz erlauben. Sobald er jedoch dessen ehrliche Miene gesehen hatte, antwortete er:

»Nein, mein Freund, Ihr habt mich nicht verletzt.«

»Und auch das Kind nicht?« fragte Trotty.

»Auch das Kind nicht,« erwiderte der Mann. »Ich danke Euch sehr.«

Bei diesen Worten blickte er auf das kleine Mädchen, das er schlafend in seinen Armen trug, beschattete ihr Gesicht mit dem langen Ende seines zerrissenen Halstuches und ging langsam weiter.

Der Ton, in dem er sagte: »Ich danke Euch sehr,« drang in Tobys Herz. Der Mann war so ermattet, von der Wanderung beschmutzt und sah so seltsam und betrübt umher, daß es ihm wohl ein Trost sein mußte, jemand danken zu können, für wie wenig es auch sein mochte. Toby blieb stehen und schaute ihm nach, wie er mit wunden Füßen weiter ging, während das Kind den Arm um seinen Hals geschlungen hatte.

Trotty hatte nur noch Augen für die Gestalt in den abgenutzten Schuhen – jetzt nur noch die Schatten und Gespenster einer Fußbekleidung – in den rauhen Lederhosen, dem Zwilchkittel und dem breitkrempigen Hute, wie sie, das an ihren Hals sich anklammernde Kind auf ihrem Arm, dahinglitt. Ehe der Wanderer in der Dunkelheit verschwand, machte er halt und blickte umher. Als er Trotty noch dastehen sah, schien er unschlüssig zu sein, ob er weitergehen oder umkehren sollte. Nachdem er zuerst das eine, dann das andre getan hatte, kam er wieder zurück, und Trotty ging ihm auf halbem Weg entgegen.

»Könnt Ihr mir vielleicht sagen,« begann der Mann mit einem matten Lächeln, »wo Alderman Cute wohnt? Wenn Ihrs wißt, werdet Ihr mir gewiß Auskunft geben. Ich frage lieber Euch, als irgend jemand andern.«

»Ganz in der Nähe,« versetzte Toby. »Ich will Euch mit Freuden sein Haus zeigen.«

»Ich sollte morgen an einem andern Ort mit ihm zusammentreffen,« sagte der Mann, neben Toby hergehend, »aber man hat einen Argwohn auf mich, und ich möchte mich von ihm reinigen, damit ich frei ausgehen und mein Brot suchen kann, obschon ich nicht weiß, wo ichs zu finden habe. Er wird mir daher wohl vergeben, wenn ich heute abend in sein Haus komme.«

»Wie – nein, unmöglich!« rief Toby zusammenfahrend. »Ihr werdet doch nicht Fern heißen?«

»He?« entgegnete der andre, sich erstaunt gegen den Dienstmann umwendend.

»Fern? Will Fern?« sagte Trotty.

»Das ist mein Name,« versetzte der Mann.

»Dann, ums Himmels willen, geht nicht zu ihm!« rief Trotty, ihn am Arm fassend und vorsichtig umherblickend. »Geht nicht zu ihm! Er wird Euch hopp nehmen, so wahr Ihr geboren seid. Da – kommt in dieses Gäßchen herauf; ich will Euch dann sagen, was ich meine. Aber zu ihm müßt Ihr nicht gehen.«

Der Mann sah Toby an, als halte er ihn für toll, folgte ihm aber demungeachtet. Sobald sie sich aller Beobachtung entzogen hatten, teilte ihm Trotty alles mit, was er im Hause des Sir Joseph Bowley über ihn vernommen und was man über seinen Charakter gesagt hatte.

Der Fremde hörte mit einer Ruhe zu, die unsern armen Trotty in Erstaunen setzte. Er widersprach auch nicht ein einziges Mal, sondern nickte nur hin und wieder, mehr wie zur Bekräftigung einer alten Alltagsgeschichte, wie es schien, als in der Absicht, sie von sich abzuweisen. Ein- oder zweimal schob er seinen Hut zurück und fuhr mit der sommersprossigen Hand über eine Stirn, wo jede Furche, die er gepflügt hatte, ihr Bild im kleinen abgedrückt zu haben schien. Doch dies war alles.

»Es ist in der Hauptsache wahr genug,« sagte er. »Ich könnte zwar da und dort den Weizen von der Spreu sichten – aber lassen wirs lieber. Wozu auch? Ich habe gegen seine Pläne gehandelt, und das ist mein Unglück, obschon ich nicht anders konnte und es morgen wieder ebenso machen würde. Was den Charakter betrifft, so spähen und spähen diese vornehmen Leute und wollen ihn frei von allem Makel haben, ehe sie uns mit einem dürren, guten Worte aushelfen! Na, ich hoffe, daß sie ihren guten Leumund nicht so leicht verlieren als wir, denn ihr Leben wäre dann schlimm genug, und es verlohnte sich kaum der Mühe, es zu erhalten. Was mich betrifft, Herr, so hat diese Hand« – er streckte sie vor sich aus – »nie etwas angetastet, das nicht mein Eigentum war, und ist nie zurückgeschreckt vor der Arbeit, wie schwer sie auch und wie ärmlich der Lohn sein mochte. Wer dies leugnen kann, der soll sie mir abhacken. Aber wenn mich die Arbeit nicht wie ein menschliches Geschöpf erhält – wenn ich so schlecht leben muß, daß ich in und außer dem Haus hungere – wenn ich sehe, daß ein ganzes Leben voll Tätigkeit so beginnt, so fortmacht und so endet, ohne eine Aussicht auf einen Wechsel, dann sage ich zu dem vornehmen Volk: ›Haltet euch fern von mir und laßt meine Hütte ungeschoren! Meine Türen sind dunkel genug, ohne daß noch euer Schatten dazu kommt. Von mir dürft ihr nicht verlangen, daß ich in dem Park die Schaustellung vermehren helfe, wenns da einen Geburtstag, eine schöne Rede oder weiß der Himmel was gibt. Führt eure Komödien ohne mich auf, und mögen sie euch wohl bekommen. Wir haben nichts miteinander zu schaffen, und ’s ist am besten, wenn man mich gehen läßt!‹«

Da er bemerkte, daß das Kind in seinen Armen jetzt die Augen geöffnet hatte und verwundert umhersah, hielt er inne, plauderte ein bißchen in seinem Kinderkauderwelsch mit ihm und stellte es neben sich auf die Erde. Dann wand er sich langsam eine der langen Locken des Mädchens wie einen Ring um den Finger, und während die Kleine sich an sein staubiges Bein anklammerte, sagte er zu Trotty.

»Ich bin, glaub ich, nicht von Natur aus widerhaarig und lasse mich leicht zufriedenstellen. Auch trage ich niemand einen Groll nach und wünsche nur zu leben, wie die andern Geschöpfe Gottes. Das kann ich nicht – das tu ich nicht, und so liegt denn eine tiefe Kluft zwischen mir und denen, die es können und tun. Es gibt noch viele, denen es geradeso ergeht wie mir, und Ihr könnt sie eher zu Hunderten und Tausenden abzählen als zu Einern.«

Trotty wußte, daß der Mann hierin die Wahrheit sprach, und nickte zustimmend.

»Ich habe dadurch einen schlimmen Namen erhalten«, sagte Fern, »und fürchte, daß ich wahrscheinlich nie zu einem bessern kommen werde. Es ist gesetzwidrig, unmutig zu sein, und ich bin wirklich unmutig, obgleich Gott weiß, daß ich weit lieber frohgemut wäre, wenn ichs sein könnte. Nun, ich weiß nicht, ob dieser Alderman mir weh tun könnte, wenn er mich ins Gefängnis schickte; aber falls nicht ein Freund ein Wort für mich spräche, so wär ers wohl imstande, und Ihr seht…!«

Er deutete mit dem Finger auf das Kind.

»Sie hat ein schönes Gesicht,« sagte Trotty.

»Ei ja!« entgegnete der Mann mit gedämpfter Stimme, indem er das kleine Gesichtchen mit beiden Händen sanft zu sich emporrichtete und es unverwandt anschaute, »Das habe ich mir schon oft gedacht. Daran dachte ich, wenn mein Herd sehr kalt und mein Schrank leer war. Daran dachte ich erst gestern nacht, als wir wie zwei Diebe aufgegriffen wurden. Aber sie – sie sollten das kleine Gesicht nicht zu oft vor Gericht bringen – meinst nicht, Lilian? Das ist kaum einem Mann erwünscht!«

Er dämpfte feine Stimme fast bis zur Lautlosigkeit und starrte das Kind so seltsam und ernst an, daß Toby, um seinen Gedanken eine andre Richtung zu geben, die Frage stellte, ob sein Weib noch am Leben sei.

»Ich habe nie ein Weib gehabt,« entgegnete er mit Kopfschütteln. »Sie ist meines Bruders Kind – eine Waise – neun Jahre alt, obschon Ihrs kaum glauben würdet; aber sie ist jetzt müde und abgezehrt. Die Union wollte die Sorge für sie übernehmen und sie achtundzwanzig Meilen von dem Orte, wo wir wohnen, zwischen vier Wände einsperren, wie sie‹s auch meinem alten Vater machten, als er nicht mehr arbeiten konnte, obschon er ihnen nicht lange lästig fiel. Da hab denn ich sie zu mir genommen, und sie lebt bei mir. Ihre Mutter hatte einmal eine Freundin hier in London. Wir wollen versuchen, ob wir sie nicht entdecken und zugleich Arbeit finden können; aber ’s ist ein großer Platz. Nun ja, ’s ist auch recht – wir haben dafür um so mehr Raum umherzugehen, Lilly!«

Er sah das Kind mit einem Lächeln an, das Toby mehr als zu Tränen rührte, und drückte dann dem armen Austräger die Hand.

»Ich kenne Euch zwar nicht einmal dem Namen nach,« sagte er, »aber ich habe Euch mein Herz ausgeschüttet, denn ich bin Euch dankbar – und zwar aus gutem Grund. Ich will Euern Rat befolgen und mich fern halten von diesem …«

»Friedensrichter,« ergänzte Toby.

»Ah!« fuhr er fort; »wenn dies der Name ist, den man ihm gibt. Von diesem Friedensrichter. Und morgen will ich versuchen, ob mir nicht irgendwo in der Nähe von London ein besseres Glück blüht. Gute Nacht. Ein glückliches Neujahr!«

»Halt!« rief Trotty, die Hand des andern fest umklammernd, als sie sich losmachen wollte. »Halt! das Neujahr kann nicht glücklich für mich sein, wenn wir uns so trennen. Wie könnte ich auch von einem glücklichen Neujahr sprechen, wenn ich mit ansehen müßte, wie Ihr mit dem Kind weiter zieht, ohne zu wissen, wohin, und ohne ein Obdach für die Nacht. Kommt mit mir nach Hause! Ich bin zwar nur ein armer Mann und habe bloß ein elendes Quartier; aber ich kann Euch doch für eine Nacht ein Lager geben, ohne es zu entbehren. Kommt mit mir! So, ich will sie nehmen!« fügte Trotty bei, indem er das Kind aufhob. »Eine hübsche Kleine! Ich wollte mir zwanzigfach ihr Gewicht aufladen lassen, ohne daß ich es besonders spürte. Sagt mir, ob ich vielleicht zu schnell für Euch gehe – ’s ist meine Gewohnheit zu eilen!«

Während Trotty dies sagte, mußte er stets sechs von seinen kurzen Trabschritten während eines einzigen langen seines müden Gefährten hopsen; und seine dünnen Beine zitterten unter der Last, die er trug.

»Ei, sie ist so leicht,« sagte Trotty, dessen Worte ebenso rasch und stoßweise kamen, wie sein Schritt war, denn er wollte auf keine Danksagung hören und scheute sich, eine Pause eintreten zu lassen; »so leicht wie eine Feder, leichter als eine Pfauenfeder – viel leichter. So, da sind wir – jetzt geht’s da hinein, um die erste Ecke rechts, Onkel Will, an dem Brunnen vorbei und dann den Weg hinauf, dem Wirtshaus gegenüber. Jetzt über den Weg hinüber, Onkel Will, und dort auf den Nierenpastetenmann an der Ecke zu! Da wären wir! Nun an den Ställen hinunter, Onkel Will, und dann macht Ihr an der schwarzen Tür halt, über der ›Toby Veck, Dienstmann‹ auf einem Brett geschrieben steht. So, und jetzt sind wir da, jetzt sind wir wirklich da, und jetzt wirst du dich wundern, liebe Meg!«

Mit diesen Worten setzte der atemlose Trotty das Kind unten in der Stube zu den Füßen seiner Tochter nieder. Der kleine Gast sah Meg an und lief, da er in ihrem Gesicht nichts zweifelerregendes fand, vertrauensvoll in ihre Arme.

»So, da sind wir und da bleiben wir!« rief Toby, keuchend im Zimmer umherlaufend. »Hier, Onkel Will – Ihr seht, hier ist ein Feuer! Warum kommt Ihr nicht ans Feuer? Ha, da sind wir und da bleiben wir! Meg, mein Herz, wo ist der Kessel? So – er wird augenblicklich kochen!«

Trotty hatte wirklich während seines wilden Hin- und Herrennens den Kessel aufzuheben gewußt und über das Feuer gesetzt, während Meg in einer warmen Ecke vor dem Kind niedergekniet war, um ihm die Schuhe auszuziehen und mit einem Tuch die nassen Füßchen zu trocknen. Ja, und sie lachte auch über Trotty – so vergnügt, so herzlich, daß Trotty sie augenblicklich hätte segnen mögen, denn er hatte ja beim Eintreten gesehen, wie sie in Tränen vor dem Feuer saß.

»Ei, Vater,« sagte Meg, »du bist, glaube ich, diesen Abend ganz närrisch. Ich weiß nicht, was die Glocken dazu sagen würden. Die armen Füßchen – wie kalt sie sind!«

»O, sie sind jetzt wärmer!« rief das Kind. »Sie sind jetzt ganz warm!«

»Nein, nein, nein,« sagte Meg. »Wir haben sie noch nicht halb genug gerieben. Wir sind ja so fleißig! So fleißig! Und wenn sie ganz warm sind, dann wollen wir das feuchte Haar auskämmen. Sind wir damit fertig, so wollen wir mit ein bißchen frischem Wasser einige Farbe in das arme blasse Gesicht bringen, und dann wollen wir so froh, so heiter und glücklich sein!«

Das Kind umschlang in einem Anfall von Schluchzen ihren Hals, streichelte mit seinen Händchen ihre Wange und sagte:

»O Meg! o liebe Meg!«

Tobys Segen hätte nicht mehr tun können. Wer wäre auch imstande gewesen, mehr zu tun?

»Ei, Vater!« rief Meg nach einer Pause.

»Da bin ich und da steh ich, mein Lieb!« sagte Trotty.

»Gütiger Himmel!« rief Meg, »er ist ganz von Sinnen! Setzt er da das Hütlein des lieben Kindes auf den Kessel und hängt den Deckel hinter die Tür!«

»Ich habe dies nicht mit Absicht getan, mein Lieb,« entgegnete Trotty, indem er hastig sein Versehen wieder gutmachte. »Meg, mein Kind?«

Meg blickte nach ihm hin und sah, daß er sich mit Vorbedacht hinter den Stuhl seines männlichen Gastes gestellt hatte, wo er mit vielen geheimnisvollen Gebärden das Sechspencestück, das er eingenommen, in die Höhe hielt.

»Als ich hereinkam,« sagte Trotty, »habe ich irgendwo auf der Treppe eine halbe Unze Tee liegen sehen; auch glaube ich wahrhaftig, daß ein Stückchen Speck dabei lag. Ich entsinne mich nicht mehr recht auf den Platz, will aber hingehen und sehen, ob ich’s nicht finde.«

Unter diesem unergründlich scharfsinnigen Vorwande entfernte sich Toby, um die besprochenen Lebensmittel für bares Geld bei Frau Chickenstalker zu kaufen. Er kam bald wieder zurück und sagte, er habe die Sachen anfangs in der Dunkelheit nicht finden können.

»Aber da sind sie endlich,« sagte Trotty, das Teegeschirr aufsetzend – »alles richtig! Ich wußte es ja, daß es Tee und eine schöne Schnitte war. Da, seht selbst. Meg, mein Herzchen, wenn du den Tee zurichten willst, während dein unwürdiger Vater den Speck röstet, so wird alles bald fertig fein. Es ist eine kuriose Sache,« fuhr Trotty fort, indem er mit Hilfe der Röstgabel seine Kochkunst betrieb, »kurios, aber allen meinen Freunden wohlbekannt, daß ich für meine Person mir niemals weder aus Tee noch aus Speck etwas machte. Ich sehe es nur gern, wenn andre Leute sich’s dabei wohl sein lassen,« Sagte er in sehr lautem Tone, um seinem Gast die Tatsache recht bemerklich zu machen, »obschon diese Nahrung mir selbst durchaus nicht behagt.«

Doch schnüffelte Trotty den Wohlgeruch des zischenden Specks ein – ah! – als ob er mit Freuden selbst hätte zulangen mögen, und als er das kochende Wasser in den Teetopf goß, blickte er sehnsüchtig in dessen Tiefe hinunter und ließ sich gern den würzigen Dampf um die Nase kräuseln und den Kopf von einer dichten Wolke bekränzen. Aber trotzdem genoß er nichts weiter davon, als im Anfang der Höflichkeit halber einen einzigen Bissen, der ihm ungemein gut zu schmecken schien, obschon er erklärte, daß er sich nicht das mindeste daraus mache.

Nein, Trottys Beschäftigung bestand darin, Will Fern und Lilian essen und trinken zu sehen, und das gleiche war bei Meg der Fall. Und nie fand ein Zuschauer bei einem Stadt- oder Hofbankett einen solchen Hochgenuß darin, andre – ja, wäre es sogar ein König oder ein Papst gewesen – schmausen zu sehen, als unser Pärlein an jenem Abend. Meg lächelte zu Trotty hinüber, Trotty lachte Meg an. Meg nickte und tat, als klatsche sie mit den Händen, um Trotty ihren Beifall zu erkennen zu geben, während Trotty in stummer Zeichensprache Meg eine unverständliche Geschichte erzählte, wann und wo er seine Gäste gefunden hatte. Und sie waren glücklich – sehr glücklich.

»Obgleich ich sehen muß, daß Megs Verlobung gelöst ist,« dachte Trotty bekümmert, als er Megs Gesicht betrachtete.

»Nun, jetzt werde ich Euch was sagen,« begann Trotty nach dem Tee. »Die Kleine schläft bei Meg.«

»Bei der guten Meg!« rief das Kind, sie liebkosend. »Bei Meg.«

»So ist’s recht,« sagte Trotty. »Und es sollte mich nicht wundern, wenn sie Megs Vater einen Kuß gäbe. Was meinst du, Kind? Ich bin Megs Vater.«

Trotty war hochentzückt, als sich ihm das Kind schüchtern näherte, ihn küßte und dann wieder zu Meg zurückkehrte.

»Sie ist so verständig wie Salomo,« sagte Trotty. »Da kommen und da gehen – nein, das meinte ich nicht – ich – was wollte ich denn sagen, meine liebe Meg?«

Meg blickte auf ihren Gast, der sich an ihren Stuhl gelehnt hatte und, während er das Gesicht von ihr abwandte, den in ihrem Schoß verborgenen Kopf der Kleinen streichelte.

»Natürlich,« sagte Toby. »Natürlich! Weiß ich doch wahrhaftig nicht, was ich heute abend treibe. Ich bin heute ganz zerstreut, glaube ich. Will Fern, Ihr kommt mit mir, denn Ihr seid todmüde und völlig erschöpft, weil Ihr so lange nicht geruht habt. Kommt mit mir.«

Der Mann spielte noch immer mit den Locken des Kindes, lehnte noch immer mit abgewandtem Gesicht an Megs Stuhl. Er sprach kein Wort , aber in seinen rauhen Fingern , die sich im Haar des Kindes ballten und wieder lösten, lag eine Beredsamkeit, die mehr als alle Worte sagte.

»Ja, ja,« fuhr Trotty fort, der unwillkürlich die Frage beantwortete, die auf Megs Gesicht stand. »Nimm sie mit dir, Meg. Bring sie zu Bett. So! jetzt will ich Euch zeigen, wo Ihr liegen könnt, Will. ’s ist zwar nicht viel Platz, sondern nur Heuboden; aber ein Heuboden ist, wie ich immer sage, die größte Bequemlichkeit, wenn man in Ställen wohnt; und bis dieser Schuppen und der Stall besser vermietet werden, leben wir hier sehr billig. Droben ist viel vortreffliches Heu, das einem Nachbar gehört und ein so reinliches Lager bietet, als es Hände und Meg nur machen können. Frischauf! laßt’s Euch nicht nahe gehen. Für jedes neue Jahr ein neues Herz!«

Die Hand, die sich aus dem Haar des Kindes losgemacht hatte, war zitternd in die unsers Toby gefallen, und letzterer führte nun seinen Gast, in einem fort sprechend, so zärtlich hinaus, als wäre dieser gleichfalls ein Kind.

Da er vor Meg wieder zurückkam, so horchte er einen Augenblick an der Tür ihrer an die Stube stoßenden kleinen Kammer. Die Kleine murmelte ein einfaches Nachtgebet , mit dem sie auch den Namen der »lieben Meg« in Verbindung brachte – dann hörte Trotty, wie sie innehielt und nach dem seinigen fragte.

Es dauerte eine kleine Weile, bis der törichte alte Knabe sich so weit fassen konnte, um das Feuer nachzuschüren und seinen Stuhl an den warmen Herd zu ziehen. Als es aber endlich geschehen war und er das Licht geputzt hatte, nahm er seine Zeitung auf der Tasche und begann zu lesen, anfangs gleichgültig, indem er rasch über die Spalten hinflog, sehr bald aber mit großem Ernst und trauriger Aufmerksamkeit.

Denn diese schreckliche Zeitung lenkte Trottys Gedanken abermals auf den nämlichen Pfad, auf dem sie den ganzen Tag über, namentlich infolge der erlebten Ereignisse, gewandert waren. Sein Interesse an den beiden Wanderern hatte ihn zwar für eine Weile in eine glücklichere Stimmung versetzt; sobald er aber wieder allein war und die Verbrechen und Gewalttaten der Leute las, versank er wieder in die frühere zurück.

Endlich kam er zu einem Bericht (und es war nicht der erste derartige, den er las) von einer Frau, die verzweiflungsvoll Hand nicht nur an ihr eignes Leben, sondern auch an das ihres jungen Kindes gelegt hatte. Dieses schreckliche Verbrechen wirkte so empörend auf ihn, daß er, als er dabei an Megs Liebe dachte, das Zeitungsblatt fallen ließ und entsetzt in seinen Stuhl zurücksank.

»Unnatürlich und grausam!« rief Toby. »Unnatürlich und grausam! Nur Leute von ganz verstocktem Herren, die schon schlecht geboren werden und auf Erden eigentlich nichts zu schaffen haben, können solche Taten verüben. Was ich heute den Tag über gehört habe, ist nur zu wahr, nur zu erwiesen. Wir sind schlecht!«

Die Glocken nahmen die Worte so plötzlich auf und ertönten so laut, so klar und voll, daß er meinte, ihre Stimme dringe aus seinem Stuhl hervor.

Und was sagten sie?

»Toby Veck, Toby Veck, wir warten auf dich, Toby! Toby Veck, Toby Veck, wir warten auf dich, Toby! Komm, besuch uns; komm, besuch uns! – Schleppt ihn zu uns, schleppt ihn zu uns – hetzt und jagt ihn, hetzt und jagt ihn! Soll nicht schlafen! Soll nicht schlafen! Toby Veck, Toby Veck, die Tür steht offen, Toby – dann begannen sie diesen Gesang wieder von vorn und klangen dermaßen, daß die Töne sogar aus den Ziegeln und dem Mörtel hervorzuquellen schienen.

Toby lauschte. Einbildung, Einbildung! Das waren wohl nur die Gewissensbisse, weil er ihnen diesen Abend entlaufen war? Nein, nein. Nichts der Art. Aber wieder und wieder, ja noch dutzendmal erklang es: »Hetzt und jagt ihn – schleppt ihn zu uns, schleppt ihn zu uns!« die ganze Stadt betäubend.

»Meg,« sagte Trotty leise, indem er an ihre Tür klopfte. »Hörst du nichts?«

»Ich höre die Glocken, Vater. Sie sind heute abend sehr laut.«

»Schläft sie?« fuhr Toby fort, diese Frage als Vorwand benutzend, um hineinschauen zu können.

»So ruhig und glücklich! Aber ich kann sie noch nicht verlassen, Vater – schau nur, wie sie meine Hand festhält!«

»Meg!« flüsterte Trotty. »Höre nur auf die Glocken!«

Sie kehrte ihrem Vater das Gesicht zu und lauschte; aber in ihren Zügen ließ sich keine Veränderung bemerken, da sie die Glockenstimmen nicht verstand.

Trotty entfernte sich, nahm wieder bei dem Feuer Platz und lauschte abermals allein. So verblieb er eine Weile.

Aber nein, unmöglich konnte er es länger ertragen; denn ihre Ausdruckskraft war zu schrecklich.

»Wenn die Turmtür wirklich offen ist,« sagte Toby, indem er hastig seine Schürze beiseite legte, ohne jedoch an Seinen Hut zu denken, »was hindert mich dann, hinaufzugehen und mich zu überzeugen? Ist sie aber geschlossen, so brauche ich keinen weitern Beweis mehr. Dann ists genug.«

Er glitt ruhig auf die Straße hinaus, fest überzeugt, daß er die Turmtür geschlossen und verriegelt finden werde; denn er kannte die Tür wohl und hatte sie selten, vielleicht in seinem ganzen Leben nicht mehr als dreimal, offen stehen sehen. Es war ein niederes Bogenportal außerhalb der Kirche, das in einer dunkeln Nische hinter einer Säule stand, und hatte so schwere Eisenbeschläge und ein so ungeheures Schloß, daß von der Tür fast nichts zu sehen war.

Aber wie groß war sein Erstaunen, als er barhäuptig zu der Kirche kam, mit der Hand in die dunkle Nische tastete – wiewohl er gute Lust hatte, sie schaudernd wieder zurückzuziehen, weil er fürchtete, sie möchte unerwartet gepackt werden – und nun bemerkte, daß die Tür, die nach außen aufging, wirklich halb offen stand!

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In der ersten Überraschung wollte er wieder zurückgehen oder doch ein Licht oder einen Begleiter holen; sein Mut kam ihm jedoch bald zu Hilfe, und er beschloß, allein hinaufzusteigen.

»Was habe ich zu fürchtend fragte Trotty. »Es ist eine Kirche! Außerdem sind vielleicht noch die Läuter da und haben vergessen, die Tür zu schließen.«

Er ging daher hinein und tastete sich weiter wie ein blinder Mann, denn es war sehr dunkel – dazu herrschte tiefe Stille, denn die Glocken ließen keinen Laut mehr vernehmen.

Der Straßenstaub war überallhin gedrungen und lag so dicht aufgehäuft, daß der Fuß wie auf weichen Samt trat. Auch hierin lag etwas Befremdliches. Ungleich befand sich die enge Treppe so nahe an der Tür, daß er auf der ersten Stufe strauchelte. Dadurch stieß er mit dem Fuß an die Tür, daß sie anprallte und schwerfällig in ihr Schloß zurückflog, und als er sie wieder zu öffnen versuchte, war all seine Bemühung vergeblich.

Dies war jedoch nur ein Grund mehr, weiter zu gehen. Trotty tastete sich vorwärts – hinauf, hinauf, hinauf – stets kreisend hinauf, hinauf, hinauf – höher, höher und höher hinauf!

Fürs Tasten war es ein sehr unangenehmes Treppenhaus , so niedrig und so schmal, daß die untersuchende Hand stets etwas berührte. Ja, es dünkte ihn oft, als stehe ein Mensch oder eine gespenstige Gestalt aufrecht da und mache Platz für ihn, damit sie unentdeckt an ihm vorbeigleiten könne. Dabei strich er mit der Hand an der glatten Mauer aufwärts, um deren Gesicht, und abwärts, um deren Füße zu suchen, während zugleich ein eisiger Schauer seinen Körper durchrieselte. Zwei- oder dreimal unterbrach eine Tür oder eine Nische die einförmige Oberfläche, und dann kam es ihm vor, als sei eine Öffnung da, so weit wie die ganze Kirche. Er meinte bei solcher Gelegenheit am Rand eines Abgrundes zu stehen, in den er kopfüber hinunterstürzen müsse, bis er die Mauer wieder gefunden hatte.

Dennoch ging es hinauf, hinauf, hinauf – im Kreis hinauf, hinauf, hinauf – höher, höher, höher hinauf!

Endlich begann die dumpfe, erstickende Atmosphäre frischer zu werden. Der Wind strömte durch und blies bald so stark, daß er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Aber er gelangte an ein gewölbtes, brusthohes Fenster in dem Turm, hielt sich an demselben fest und schaute hinunter auf die Hausgiebel, die rauchenden Schornsteine und das Gewirr von Lichtern (in die Richtung, wo Meg sich jetzt vielleicht über seine Abwesenheit wunderte und nach ihm rief) – alles zu einer Teigmasse von Nebel und Dunkelheit zusammengeknetet.

Dies war der Teil des Glockenhauses, zu dem die Läuter kamen.

Er hatte eines der abgeriebenen Seile gefaßt, die durch Öffnungen in dem Eichendach niederhingen. Anfangs fuhr er zusammen, denn es kam ihm vor, als hätte er Haare ergriffen, dann aber zitterte er schon bei dem Gedanken, die tiefe Glocke zu wecken. Die Glocken selbst hingen höher, und auch Trotty tastete sich höher hinauf, dem Räuber folgend, der ihn lockte. Der Weg wurde jetzt mühsamer und führte auf steilen Leitern weiter, die dem Fuß keinen allzu sichern Halt boten.

Hinauf, hinauf, hinauf geht es, klimmend und kletternd; hinauf, hinauf, hinauf – höher, höher, höher hinauf!

Endlich kam er auf den obern Boden und gelangte, wie er den Kopf über das Gebälk erhob, unter die Glocken. Kaum vermochte er die großen Formen im Dunkel zu unterscheiden; aber da waren sie – schattenhaft, stumm und nachtumhüllt.

Ein banges Gefühl von Furcht und Einsamkeit bemächtigte sich seiner augenblicklich , als er in dieses luftige Nest von Stein und Metall hineinkletterte. Sein Kopf schwindelte – er lauschte und erhob dann seine Stimme zu einem wilden: »Hallo!«

»Hallo!« schalle kläglich das gedehnte Echo nach.

Wirr, schwindlig, erschreckt und atemlos stierte Toby um sich her und brach dann ohnmächtig zusammen.

Das dritte Viertel


Das dritte Viertel

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Schwarz sind die brütenden Wolken und aufgerührt die tiefen Grundwasser, wenn das Meer der Gedanken nach einer Windstille zu rollen beginnt und seine Toten herausgibt. Wilde, gräßliche Ungeheuer erheben sich in voreiliger, unvollkommener Auferstehung; die Teile und Gestalten verschiedener Dinge mischen und vereinigen sich nach dem Walten des Zufalls; und wann und wie und durch welche wunderbaren Abstufungen sich eines von dem andern trennt oder jedes Gefühl oder jeder Gegenstand des Geistes die gewöhnliche Form, das gewöhnliche Leben wieder annimmt, weiß niemand zu sagen, obgleich der Mensch jeden Tag das Abbild dieses großen Geheimnisses in sich selbst beobachten kann.

Wann und wie also die Dunkelheit des nachtschwarzen Kirchturms sich in helles Licht umwandelte – wann und wie der einsame Raum sich mit Myriaden Gestalten bevölkerte – wann und wie das geflüsterte: »Hetz und jag ihn,« das eintönig durch seinen Schlummer oder seine Ohnmacht zog, zu einer Stimme wurde, die in Trottys erwachendes Ohr rief. »Sollst nicht Schlafen!« – wann und wie er aufhörte, eine träge und wirre Vorstellung zu hegen, daß es solche Dinge gebe, die sich mit einer Schar andrer nicht vorhandener verbündeten – dafür gibt es keine bestimmten Angaben. Aber wachend stand er jetzt da auf den Brettern, auf denen er kurz vorher gelegen hatte, und sah dieses Gespenstergesicht.

In dem Turm, wohin ihn seine behexten Schritte gebracht hatten, umschwärmten ihn zwerghafte Phantome, Geister und Elfengestalten der Glocken. Er sah, wie sie ohne Unterlaß aus den Glocken herausquollen, sprangen, flogen oder niederfielen. Sie umringten ihn auf dem Boden, in der Luft, kletterten an den Glockenseilen abwärts, schauten von den massiven, eisenbeschlagenen Balken auf ihn nieder, blickten durch die Spalten und Öffnungen der Mauern nach ihm hin und umflatterten ihn in immer weiter werdenden Kreisen, ähnlich denen im Wasser, wenn plötzlich ein großer Stein hineingeworfen wird. Er sah sie in allen Gestalten, mit allen möglichen Gesichtszügen. Er sah unter ihnen Häßliche, Hübsche, Krüppel und wundervolle Gebilde. Er sah unter ihnen Junge, sah Alte, Sah Gütige, sah Grausame, sah Fröhliche, sah Grimmige, er sah sie tanzen, hörte sie singen, sah sie ihre Haare raufen und hörte sie heulen. Er sah, daß die Luft von ihnen erfüllt war. Er sah sie unablässig kommen und gehen. Er sah sie hinabgleiten, sich emporschwingen, in die Ferne schweben, neben sich kauern – ruhelos, in wilder Bewegung. Steine, Ziegel und Schiefer wurden für ihn so durchsichtig wie für sie. Er sah sie in den Häusern geschäftig an den Betten der Schläfer. Da brachten sie den Leuten beruhigende Träume, dort schlugen sie dieselben mit knotigen Peitschen. Er sah, wie sie den Schlummernden in die Ohren zeterten oder über ihren Pfühlen die sanfteste Musik spielten. Er sah, wie sie einige mit dem jubelnden Gesang der Vögel und mit dem Duft von Blumen beglückten und erheiterten; sah, wie sie aus Zauberspiegeln, die sie mit sich führten, gräßliche Fratzen in den unruhigen Traum andrer blitzen ließen.

Aber er sah diese Gestalten nicht nur unter den Schlafenden, sondern auch unter den Wachenden, wo sie in unversöhnlichem Haß gegeneinander kämpften und ihre verschiedenen Naturen bezeugten, die entweder echt oder auch nur, ihrem Zweck entsprechend, angenommen waren. Dort hatte sich ein Phantom zahllose Schwingen angeschnallt, um seine Eile zu vergrößern, während ein andres sich mit Ketten und Gewichten belud, um die seinige zu mäßigen. Einige trieben die Uhrzeiger vorwärts, andre drehten sie wieder zurück, während wieder andre bemüht waren, das Räderwerk ganz zum Stillstand zu bringen. Hier stellten sie eine Heiratszeremonie, dort eine Beerdigung, in diesem Saal eine Wahl, in jenem einen Ball dar; aber wo sie auch waren – nichts als rastlose, unermüdliche Bewegung.

Von der Unzahl der wechselnden und ungewöhnlichen Gestalten, wie auch durch das Getöse der Glocken, die alle läuteten, verwirrt, klammerte sich Toby an einen hölzernen Pfeiler und drehte in stummem, betäubtem Erstaunen sein leichenblasses Gesicht bald dahin, bald dorthin.

Wie er umhersah, hielt das Glockengeläute inne. Augenblicklicher Wechsel! Der ganze Schwarm wurde undeutlicher; ihre Gestalten fielen zusammen, und ihre Eile verließ sie. Sie suchten im Flug zu enteilen; aber im Niedersinken erstarben sie und zerflossen in Luft. Keine neue Schar folgte ihnen. Ein einziger Nachzügler sprang noch ziemlich rüstig von der großen Glocke herunter und kam auf seine Füße zu stehen; aber er war tot und dahin, noch ehe er sich umwenden konnte. Einige von den Spätlingen, die sich im Turm umgetrieben hatten, schwirrten noch eine Weile länger umher; sie wurden jedoch bei jedem Kreise schwächer und minder zahlreich, bis auch sie das Ende der übrigen fanden. Der letzte von allen war ein kleiner, buckeliger Kobold, der sich in eine widerhallende Ecke geflüchtet hatte, wo er noch geraume Zeit wirbelte und wirbelte und für sich auf und ab schwebte; dabei zeigte er eine solche Hartnäckigkeit, daß er zuletzt zu einem einzigen Bein, ja zu allerletzt zu einem einzigen Fuß zusammenschmolz, ehe er ganz entschwand, und als dies endlich geschehen, war es stumm und still im Turm.

Jetzt erst und nicht früher bemerkte Trotty in jeder Glocke eine bärtige Gestalt von dem Umfang und der Statur der Glocke – unbegreiflich, eine Figur und die Glocke selbst. Riesenhaft, ernst und ihn düster ins Auge fassend, während er in den Boden festgewurzelt stand.

Geheimnisvolle, grausenhafte Gestalten, die nirgends ausruhten, sondern in der Nachtluft des Turmes schwebten, die verhüllten und mit Kapuzen versehenen Köpfe zu dem dunkeln Dach erhebend – regungslos und schattenhaft. Schattenhaft und finster, obgleich er sie in einem fahlen Schein, den sie selbst verbreiteten, sehen konnte – sonst gab es nirgends Licht – und jede Gestalt hielt die eingehüllte Hand auf den gespenstigen Mund gelegt.

Er konnte sich nicht entsetzt durch die Öffnung im Boden hinabstürzen, denn alle Kraft der Bewegung hatte ihn verlassen. Andernfalls würde er dies getan, ja, sich sogar kopfüber von der Turmspitze auf die Straße hinabgestürzt haben – weit lieber, als daß er sich hier mit Augen betrachten lassen mußte, die da gewacht haben würden, selbst wenn ihnen die Pupillen herausgenommen worden wären.

Wieder und wieder berührte ihn der Schrecken und das Entsetzen des einsamen Ortes sowohl als der wilden, furchtbaren Nacht, die hier herrschte wie eine Gespensterhand. Die Ferne jeglicher Hilfe, der lange, finstere, gewundene und von Geistern belagerte Weg, der zwischen ihm und der von Menschen bewohnten Erde lag; der hohe, hohe, hoch oben gelegene Ort, wo es ihn schon schwindelte, wenn er bei Tag dem Flug der Vögel zusah; abgeschnitten von allen guten Leuten, die zu einer solchen Stunde wohlbehalten zu Hause waren und in ihren Betten schliefen – alles dies durchzuckte ihn kalt, nicht als eine Betrachtung, sondern nur als ein körperliches Gefühl. Mittlerweile waren seine Augen, seine Gedanken und seine gräßliche Furcht auf die wachsamen Gestalten gerichtet. Sie sahen in dem tiefen Düster und in dem sie einschließenden Schatten nicht aus wie Gebilde dieser Welt, um so weniger, da sie so übernatürlich über dem Boden schwebten; aber dennoch waren sie so deutlich zu unterscheiden, wie das alte, eichene Rahmenwerk und das Kreuz- und Quergebälk, das die Glocken unterstützte. Dies engte sie ein wie ein ganzer Wald von geschlagenem Holz, zwischen dessen Verschränkungen sie wie unter Zweigen toter Bäume, die zu ihrem gespenstigen Gebrauch ersterben mußten, ihre düstere unablässige Wache hielten.

Ein Windstoß – wie kalt und schrill! – kam stöhnend durch den Turm. Als er dahinstarb, begann die große Glocke oder vielmehr der Geist der großen Glocke zu sprechen.

»Was ist dies für ein Besuch?« fragte er.

Die Stimme war dumpf und tief, und Trotty meinte, sie ertöne ebensowohl aus den andern Formen.

»Ich glaubte, die Glocken hätten meinen Namen gerufen!« sagte Trotty, seine Hände mit flehentlicher Gebärde erhebend. »Ich weiß kaum, warum ich hier bin oder wie ich heraufkam. Ich habe schon seit vielen Jahren den Glockentönen zugehört, und sie haben mich oft wieder froh gestimmt.«

»Hast du ihnen auch gedankt?« fragte die Glocke.

»O, tausendmal!« rief Trotty.

»Ich bin ein armer Mann«, stotterte Trotty, »und konnte ihnen nur mit Worten danken.«

»War dies auch immer der Fall?« fragte der Geist der Glocke. »Hast du uns nie in Worten unrecht getan?«

»Nein!« rief Trotty hastig.

»Uns nie mit Worten schnödes, falsches, böswilliges Unrecht getan?« fuhr der Glockengeist fort.

Trotty wollte eben antworten: »Nie!«, hielt aber mit einem Male verwirrt inne.

»Die Stimme der Zeit«, sagte das Phantom, »ruft dem Menschen zu: ›Vorwärts!‹ Die Zeit dient seinem Fortschreiten und seiner Verbesserung, der Erhöhung seines Wertes und seines Glückes, der Veredelung seines Lebens, der Annäherung an jenes Ziel, das ihm mit Wohlbedacht bereits damals gesteckt wurde, als die Zeit und er ihren Anfang nahmen. Jahrhunderte der Finsternis, der Gottlosigkeit und der Gewalttat sind gekommen und gegangen; unzählige Millionen haben geduldet, gelebt und sind gestorben, um ihm den Weg, der vor ihm liegt, zu zeigen. Wer ihn zur Umkehr zu bewegen sucht oder in seinem Lauf anhalten will, vergeht sich an einer gewaltigen Maschine, die den Unberufenen erschlägt und nur um so ungestümer und wilder wieder losbricht, weil sie für einen Augenblick gestört wurde!«

»Meines Wissens habe ich dies nie getan,« Sagte Trotty, »und wenn es geschah, muß es ganz unabsichtlich geschehen sein. Ich würde mich sicherlich nicht einmengen.«

»Wer in den Mund der Zeit oder ihrer Diener einen Klageruf über Tage legt,« fuhr der Glockengeist fort, »die ihre Heimsuchungen und Täuschungen gehabt und so tiefe Spuren zurückgelassen haben, daß sie sogar die Blinden Sehen können – einen Klageruf, der nur insofern der Gegenwart dient, als er den Menschen sagt, wie sehr ihre Hilfe notwendig ist, wenn ein Ohr eine solche Klage um Vergangenes zu hören glaubt – wer dies tut, begeht ein Unrecht. Und du hast uns, den Glocken, ein solches Unrecht angetan.«

Trottys größte Furcht war jetzt vorüber. Aber, wie wir wissen, hatte er Liebe und Dankbarkeit für die Glocken empfunden , und als er sich als einen Menschen anklagen hörte, der sie so schwer beleidigt hatte, wurde sein Herz von Reue und Kummer schwer.

»Wenn ihr wüßtet,« sagte Trotty, seine Hände zusammenschlagend – »oder vielleicht wißt ihr es – wenn ihr also wißt, wie oft ihr mir Gesellschaft geleistet, wie oft ihr mich aufgeheitert habt, wenn ich niedergeschlagen war, und wie ihr meiner kleinen Tochter Meg fast als ein Spielzeug dientet (beinahe das einzige, das sie je hatte), da ihre Mutter starb und uns allein zurückließ, so würdet ihr mir wegen eines übereilten Wortes keinen Groll nachtragen!«

»Wer in uns, den Glocken, nur einen einzigen Ton hört, der Lieblosigkeit oder finsteren Zweifel ausdrückt an den Hoffnungen, Freuden und Schmerzen der vielbedrängten Menge; wer uns antworten hört auf Gesinnungen, die die menschlichen Leidenschaften und Gefühle abmessen, gleich der Menge der erbärmlichen Nahrung, an der die Menschheit dahinsiecht – tut uns unrecht. Dieses Unrecht hast du uns angetan!« sagte die Glocke.

»Ja, ich habe!« versetzte Trotty. »O vergib mir!«

»Wer uns dem schlechten Gewürm der Erde nachlallen hört – den Unterdrückern bereits gebeugter und gebrochener Wesen, die geschaffen sind, um sich viel höher zu erheben, als solche Maden der Zeit klettern oder denken können,« fuhr der Glockengeist fort – »wer dies tut, begeht ein Unrecht an uns. Du hast uns unrecht getan!«

»Nicht mit Absicht!« sagte Trotty. »Nur in meiner Unwissenheit – nicht mit Absicht.«

»Zuletzt und vor allem« – nahm die Glocke wieder auf – »wer den Gefallenen seines Geschlechts den Rücken kehrt, sie als schlecht aufgibt und nicht mit mitleidigem Auge den offenen Abgrund mißt, durch den sie vom Guten abfielen, obschon sie noch in ihrem Sturz nach einigen Schollen des verlorenen Bodens griffen und sich an dieselben anklammerten, selbst als sie schon zerquetscht und sterbend in der Kluft unten lagen – wer dies tut, begeht ein Unrecht an dem Himmel, an der Menschheit, an Zeit und Ewigkeit. Du hast dieses Unrecht getan!«

»Schone mich!« rief Trotty, auf seine Knie niederfallend; »um aller Barmherzigkeit willen!«

»Höre!« sagte der Schatten.

»Höre!« riefen die übrigen Schatten.

»Höre!« sagte eine klare, kindliche Stimme, die Trotty schon früher gehört zu haben vermeinte.

Die Orgel tönte leise in der Kirche unten. Nach und nach anschwellend, stieg die Melodie bis zu dem Dach hinan und erfüllte Chor und Schiff. Mehr und mehr sich ausbreitend , schwang sie sich hinauf, immer höher und höher hinauf, wobei sie in dem derben Eichengebälk, den hohlen Glocken, den eisenbeschlagenen Türen und den steinernen Treppen erregte Herzen weckte, bis die Turmmauern sie nicht mehr fassen konnten und sie gen Himmel schwebte.

Kein Wunder, daß das Herz eines alten Mannes einen so ungeheuren, gewaltigen Ton nicht einzuschließen vermochte. Er brach aus diesem schwachen Gefängnis in einem Strom von Tränen, und Trotty preßte seine Hände vor das Gesicht.

»Höre!« sagte der Schatten.

»Höre!« riefen die andern Schatten.

»Höre!« sagte die Kinderstimme.

Feierliche Akkorde gemischter Stimmen erhoben sich nun in dem Turm.

Es war eine gedämpfte, wehmütige Melodie – ein Totengesang; und wie Trotty lauschte, hörte er sein Kind unter den Sängern.

»Sie ist tot!« rief der alte Mann. »Meg ist tot! Ihr Geist ruft mich – ich höre ihn!«

»Der Geist deines Kindes beklagt die Toten und mischt sich unter die Toten – die erstorbenen Hoffnungen und erstorbenen Jugendträume,« erwiderte die Glocke. »Aber sie lebt. Lerne aus ihrem Leben eine lebendige Wahrheit. Lerne aus dem Wesen, das deinem Herzen am teuersten ist, wie schlecht die schlecht Geborenen sind. Sieh, wie jede Knospe und jedes Blatt nacheinander von dem schönsten Stengel gepflückt wurde, und erkenne daraus, wie kahl und elend er dann sein mag. Folge ihr – in die Verzweiflung!«

Jede von den Schattengestalten streckte ihren rechten Arm aus und deutete nach unten.

»Der Geist der Glocken ist dein Begleiter,« sagte die Gestalt. »Geh! er steht hinter dir!«

Trotty wandte sich um und sah – das Kind? das Kind, das Will Fern in der Straße getragen hatte; das Kind, das jetzt schlief und an dessen Bett Meg wachte!

»Ich habe es selbst diesen Abend getragen,« sagte Trotty. »In diesen meinen Armen!«

»Zeigt ihm, was er sein Selbst nennt,« sagten die dunkeln Gestalten im Chor.

Der Turm öffnete sich unter seinen Füßen. Er sah hinab und sah seine Gestalt außen auf dem Boden liegen – zerschmettert und regungslos.

»Nicht mehr ein lebendiger Mensch!« rief Trotty. »Tot!«

»Tot!« sagten die Gestalten alle zugleich.

»Barmherziger Himmel! Und das Neujahr …«

»Vergangen,« sagten die Gestalten.

»Wie?« rief er schaudernd. »So verfehlte ich wohl meinen Weg, gelangte in der Dunkelheit an die Außenseite dieses Turmes und fiel hinunter – vor einem Jahr?«

»Vor neun Jahren!« versetzten die Schatten.

Während sie diese Antwort gaben, nahmen sie ihre ausgestreckten Hände wieder an sich, und wo ihre Gestalten geschwebt hatten, befanden sich jetzt die Glocken.

Und sie erklangen – ihre Zeit war wieder gekommen. Und abermals sprangen zahllose Phantome ins Dasein, die dieselbe Zusammenhangslosigkeit zeigten wie früher; abermals verblichen sie, sobald die Glockenzungen ruhten, und fielen in ein Nichts zusammen.

»Wer sind diese?« fragte er seinen Führer. »Wenn ich nicht verrückt werden soll, wer sind diese?«

»Es sind Geister der Glocken – ihr Ton in der Luft,« entgegnete das Kind. »Sie nehmen dieselben Gestalten und Beschäftigungen an, die ihnen von den Hoffnungen, Gedanken und Erinnerungen der Sterblichen gegeben werden.«

»Und du,« rief Trotty außer sich – »wer bist du?«

»Still, still!« erwiderte das Kind. »Sieh da hin!«

In einem schlechten, ärmlichen Gemach arbeitete an derselben Art von Stickerei, wie er es oft gesehen hatte, seine liebe Tochter Meg. Er versuchte nicht, Küsse auf ihr Gesicht zu drücken oder sie an sein klopfendes Herz zu pressen, denn er wußte, daß es für ihn keine solchen Liebkosungen mehr gab. Aber er hielt seinen zitternden Atem an und wischte die blendenden Tränen weg, um sie sehen, nur sehen zu können.

Ach! verändert – und wie verändert! Wie trüb war das Licht des klaren Auges, wie verblichen der Schmelz ihrer Wangen! Zwar war sie noch so schön wie immer, aber die Hoffnung, die Hoffnung, die Hoffnung – ach, wo war die frische Hoffnung, die ihn wie eine Stimme angerufen hatte!

Sie blickte von ihrer Arbeit auf nach einer Gefährtin. Der alte Mann folgte ihren Augen und fuhr betroffen zurück.

In dem erwachsenen Mädchen erkannte er sie auf den ersten Blick. Er sah in den langen seidenen Haaren noch dieselben Locken, und um die Lippen noch immer den kindlichen Ausdruck. Ja, in den Augen, die sich jetzt fragend an Meg wandten, leuchtete noch derselbe Blick, wie zur Zeit, als er sie nach Hause brachte.

Was war denn dies neben ihm?

Mit Grausen sah er sich nach dem Kinde um und bemerkte in dessen Gesicht etwas Überirdisches , Unbestimmtes, Undeutliches, das kaum mehr an jenes Kind erinnerte als die andre Gestalt; und doch war es dieselbe – dieselbe – und trug auch das nämliche Kleid.

Horch! Sie sprachen.

»Meg,« sagte Lilian stockend. »Wie oft du von deiner Arbeit aufschaust, um mich anzusehen!«

»Sind meine Blicke so verändert, daß sie dich erschrecken?« sagte Meg.

»Nein, meine Liebe! Aber du lächelst selbst darüber! Warum lächelst du nicht, wenn du mich ansiehst?«

»Ich tue es ja. Oder nicht?« antwortete sie, ihr zulächelnd.

»Jetzt wohl,« sagte Lilian, »aber gewöhnlich nicht. Wenn du denkst, ich sei beschäftigt und sehe dich nicht, ist deine Miene so ängstlich und bekümmert, daß ich kaum meine Augen zu erheben wage. Man hat wohl in diesem harten und mühsamen Leben wenig Grund zum Lächeln; aber du warst einst so heiter.«

»Bin ichs nicht noch?« rief Meg im Ton seltsamer Unruhe und erhob sich, um ihre Gefährtin zu umarmen. »Mache ich dir das mühsame Leben noch mühsamer, Lilian?«

»Du warst das Einzige, das unser Leben überhaupt zu einem Leben machte,« sagte Lilian, sie glühend küssend, »und auch das Einzige, das mir bisweilen noch ein solches Leben wert macht, Meg. Ach, diese Arbeit, diese Arbeit! So viele Stunden, so viele Tage, So viele lange, lange Nächte hoffnungsloser, ertötender und nie endender Arbeit – nicht um Reichtümer aufzuhäufen , nicht um herrlich und in Freuden zu leben, nicht um auch bloß sorglos leben zu können, so einfach auch unsre Kost sein mag, sondern nur, um das trockene Brot zu verdienen, just um so viel zusammenzuscharren, damit wir weiterleben und weiter Not leiden und in uns das Bewußtsein unsres harten Schicksals lebendig erhalten können! O Meg, Meg!«

Sie erhob ihre Stimme und schlang ihre Arme um sie, wie in herbem Schmerze. »Wie kann die grausame Welt ihren Kreislauf gehen und den Anblick solcher Leben ertragen!«

»Lilly!« sagte Meg beschwichtigend, indem sie ihr das Haar aus dem feuchten Gesicht strich. »Ach Lilly! Du! So hübsch und so jung!«

»O Meg!« fiel ihr Lilian ins Wort, indem sie ihre Freundin auf Armeslänge vor sich hinhielt und flehend in ihr Gesicht blickte. »Das ist das Schlimmste, das Schlimmste von allem! Mache mich alt, Meg ! Gib mir Runzeln und einen welken Leib, um mich von den schrecklichen Gedanken zu befreien, die mich in meiner Jugend zu verlocken suchen !«

Trotty wandte sich, um nach seinem Führer zu sehen. Aber der Geist des Kindes war entflohen – fort.

Aber auch er blieb nicht an demselben Platze. Sir Joseph Bowley, der Freund und Vater der Armen, hielt in Bowley Hall zu Ehren des Geburtstags der Lady Bowley ein großes Festgelage; und da Lady Bowley am Neujahrstag geboren war – ein Umstand, den die Lokalzeitungen als einen ausdrücklichen Wink der Vorsehung bezeichneten, daß Lady Bowley in der Zahlenreihe der Schöpfung für Nummer Eins bestimmt sei – fand auch dieses Gelage an einem Neujahrstag statt.

Bowley Hall strotzte von Gästen. Der rotgesichtige Gentleman war da, Herr Filer war da, der große Alderman Cute war da – Alderman Cute empfand ein sehr wohltuendes Gefühl im Verkehr mit vornehmen Leuten und hatte vermöge seines aufmerksamen Briefes große Fortschritte in Sir Joseph Bowleys Bekanntschaft gemacht, indem er seitdem eigentlich zu einem Familienfreund wurde – und noch viele andre Gäste waren da. Auch Trottys Geist war zugegen und wanderte traurig als ein armes Phantom auf der Suche nach seinem Führer umher.

In der großen Halle sollte ein prachtvolles Festmahl gegeben werden, und Sir Joseph Bowley in seinem gefeierten Charakter als Freund und Vater der Armen sollte eine bedeutsame Rede dabei halten. Seine Freunde und Kinder durften zuerst in einer andern Halle eine gewisse Anzahl von Pflaumenpuddingen verzehren und sollten dann auf ein gegebenes Signal zu ihren Freunden und Vätern hineinströmen, um eine Familienversammlung zu bilden, bei der kein Männerauge von Tränen unbefeuchtet bleiben sollte.

Aber noch mehr als dies sollte geschehen. Sogar noch mehr. Sir Joseph Bowley, Baronet und Parlamentsmitglied, hatte sich vorgenommen, mit seinen Pächtern eine Kegelpartie – eine wirkliche Kegelpartie – zu machen.

»Das erinnert mich ganz an die Tage des alten Königs Heinz, des wackern Königs Heinz, des leutseligen Königs Heinz,« sagte Alderman Cute. »Ah! ein prächtiger Mann!«

»Sehr,« bemerkte Herr Filer trocken, »um Weiber zu heiraten und sie umzubringen. Und noch obendrein beträchtlich mehr als die Durchschnittszahl der Weiber.«

»Ihr werdet die schönen Damen heiraten und sie nicht umbringen, he?« sagte Alderman Cute zu dem Erben von Bowley, einem zwölfjährigen Jungen. »Ein süßer Knabe! Wir werden diesen kleinen Gentleman im Parlament haben,« fügte er bei, indem er ihn bei der Schulter faßte und ihn so aufmerksam als nur möglich ansah, »ehe wir wissen, wo wir sind. Wir werden hören von seinen Erfolgen bei den Wahlen , von seinen Reden im Hause, von den Anträgen, die ihm die Regierung macht, von seinen herrlichen Kenntnissen auf allen Gebieten! Ja, ich stehe dafür, wir werden im Gemeinderat gleichfalls kleine Reden über ihn halten, ehe wir Zeit haben, uns umzusehen!«

»O welch ein Unterschied bei Schuhen und Strümpfen!« dachte Trotty. Aber sein Herz sehnte sich nach seinem kleinen Führer um derselben schuh- und strumpflosen Knaben willen, die die Kinder der armen Meg sein konnten und der Prophezeiung des Alderman zufolge schlecht ausfallen mußten.

»Richard,« stöhnte Trotty, unter der Gesellschaft auf- und abgehend; »wo ist er? Ich kann Richard nicht finden! Wo ist Richard?«

Wahrscheinlich nicht hier, wenn er noch am Leben ist ! Aber Trottys Kummer und das Gefühl der Einsamkeit hatten ihn ganz wirr gemacht; er wanderte noch immer unter der prunkenden Gesellschaft umher, spähte nach seinem Führer und rief: »Wo ist Richard? Zeigt mir Richard!«

Auf seinen Kreuz- und Quergängen begegnete er Herrn Fish, dem vertrauten Sekretär, der in großer Aufregung ausrief:

»Gott behüte mich! Wo ist Alderman Cute? Hat niemand den Alderman gesehen?«

Den Alderman gesehen? O Himmel, wer hätte auch den Alderman übersehen können? Er war so rücksichtsvoll, so leutselig und verlangte so sehr danach, den Wunsch der Leute, ihn zu Gesicht zu bekommen, so oft als möglich zu erfüllen, daß – angenommen er hätte einen Fehler – es nur der sein konnte, unaufhörlich präsentiert zu werden. Und wo immer vornehme Leute waren, da durfte man sicher auch auf Cute zählen, weil die verwandtschaftliche Sympathie großer Seelen stets anziehend wirkt.

Mehrere Stimmen riefen, er befände sich in dem Kreise um Sir Joseph. Herr Fish eilte dorthin, fand ihn und nahm ihn heimlich an das nächste Fenster. Trotty näherte sich ihnen – nicht aus eignem Antrieb; er fühlte, daß seine Schritte in diese Richtung gelenkt wurden.

»Mein teurer Alderman Cute,« sagte Herr Fish; »ein wenig mehr hierher. Es hat sich, wie ich in diesem Augenblick erst erfahre, etwas höchst schreckliches zugetragen, und ich glaube, es wird am besten sein, Sir Joseph erst davon in Kenntnis zu setzen, wenn der Tag vorüber ist. Ihr kennt Sir Joseph und werdet mir Eure Ansicht mitteilen. Der Schrecklichste und beklagenswerteste Vorfall!«

»Fish!« entgegnete der Alderman, »Fish, mein guter Freund, was gibt es? Hoffentlich doch nichts Revolutionäres? Nein – doch kein Versuch, sich in die Schritte der Obrigkeit zu mengen?«

»Deedles, der Bankier,« keuchte der Sekretär. »Gebrüder Deedles – der heute hätte kommen sollen – der eine so hohe Stellung in der Genossenschaft der Goldschmiede einnimmt …«

»Hat doch nicht seine Zahlungen eingestellt?« rief der Alderman. »Es kann nicht sein!«

»Sich selbst erschossen.«

»Guter Gott!«

»In seinem eignen Kontor sich eine doppelläufige Pistole an den Mund gesetzt und sich das Gehirn hinausgeblasen. Kein Beweggrund. Fürstliche Verhältnisse!«

»Verhältnisse!« rief der Alderman. »Ein Mann von edlem Vermögen. Einer der achtbarsten Männer. Selbstmord, Herr Fish, durch eigne Hand?«

»Erst diesen Morgen,« erwiderte Herr Fish.

»O das Gehirn, das Gehirn!« rief der fromme Alderman, seine Hände erhebend. »O die Nerven, die Nerven – die Geheimnisse dieser Maschine, die man Mensch nennt ! Welche Kleinigkeit reicht nicht hin, sie in Unordnung zu bringen! Was sind wir nicht für arme Geschöpfe! Vielleicht ein Diner, Herr Fish. Vielleicht die Lebensweise seines Sohnes, der, wie ich gehört habe, etwas über den Strang schlagen und ohne jede Ermächtigung Wechsel auf den Namen seines Vaters ausstellen soll. Ein höchst achtbarer Mann – einer von den achtbarsten Männern, die ich je kannte! Ein beklagenswerter Fall, Herr Fish! Ein öffentliches Unglück! Ich werde mirs zur Ehrensache machen, um ihn die tiefste Trauer zu tragen! Ein höchst achtbarer Mann. Aber es ist einer über uns. Wir müssen uns darein fügen, Herr Fish. Wir müssen uns fügen!«

Wie, Alderman? Kein Wort von »den Selbstmord legen«? Erinnere dich, Friedensrichter, wie du dich stolz deiner hohen Moral rühmtest! Bring diese Wagschalen ins Gleichgewicht, Alderman! Wirf in die leere das fehlende Mittagessen und die Quellen der Natur, die bei irgendeinem armen Weib durch das hungernde Elend ausgetrocknet und zum Widerstand gebracht wurden gegen die Ansprüche, zu denen ihr Sprößling von der heiligen Mutter Eva her berechtigt ist. Wäge mir diese beiden, du richtender Daniel, wenn dein Gerichtstag kommen wird! Wäge sie in den Augen leidender Tausende, die aufmerksam der greulichen Posse, die du spielst, zusehen! Oder angenommen, du hättest deine fünf Sinne verloren – du hast nicht so weit dazu, daß es nicht möglich wäre – und legtest Hand an diese deine Kehle, zur Warnung für deinesgleichen (wenn es noch deinesgleichen gibt), damit sie nicht ihre behagliche Schlechtigkeit den zum Wahnsinn getriebenen Gehirnen und gequälten Herzen vorkrächzen – was dann?

Die Worte erhoben sich in Trottys Brust, als würden sie in seinem Innern von einer andern Stimme gesprochen. Alderman Cute machte sich anheischig, Herrn Fish zu unterstützen, um nach Ablauf des Tages Sir Joseph die traurige Kunde beizubringen. Ehe sie sich trennten, drückte er noch Herrn Fish in bitterm Schmerze die Hand und sagte abermals: »Der achtbarste Mann!« Und dann fügte er noch hinzu, daß er kaum verstehe (nicht einmal er!), warum solche Trübsal auf Erden vorkommen dürfe.

»Wenn mans nicht besser wüßte, so möchte man fast glauben,« fuhr Alderman Cute fort, »daß bisweilen in den Dingen eine Umsturzbewegung vorgehe, die die allgemeine Ordnung des sozialen Baues aus ihren Fugen hebt. Gebrüder Deedles!«

Das Kegelspiel verlief mit ungeheurem Erfolg. Sir Joseph warf die Kegel mit wunderbarer Geschicklichkeit um; Master Bowley machte aus kürzerer Entfernung gleichfalls einen Anfangsversuch, und jedermann sagte, daß nun, da ein Baronet und der Sohn eines Baronets Kegel spielten, die Verhältnisse des Landes eine rasche Wendung zum Bessern nehmen müssen.

Im richtigen Moment wurde das Festmahl aufgetragen. Trotty begab sich unwillkürlich mit den übrigen nach der Halle, denn er fühlte sich durch eine stärkere Gewalt, als die seines eignen freien Willens, dahin gedrängt. Der Anblick war ein ungewöhnlich glänzender; die Damen waren sehr hübsch und alle Gäste entzückt, fröhlich und heiter gestimmt. Als die untern Türen geöffnet wurden und die Leute in ihrer ländlichen Kleidung hereinschwärmten, erreichte die Schönheit des Schauspiels ihren Höhepunkt; aber Trotty murmelte nur um so angelegentlicher: »Wo ist Richard? er sollte ihr helfen und sie trösten! Ich kann Richard nicht sehen!«

Es wurden einige Reden gehalten. man trank auf die Gesundheit Lady Bowleys; Sir Joseph hatte sich bedankt und hielt eben seine große Rede, indem er an mancherlei Tatsachen bewies, daß er der geborene Freund und Vater usw. der Armen sei, und brachte ein Hoch auf seine Freunde und Kinder und auf die Würde der Arbeit aus, als eine kleine Unruhe unten in der Halle Tobys Aufmerksamkeit fesselte. Nach einiger Verwirrung, etwas Lärm und Widerstand brach ein einzelner Mann durch die Reihen der übrigen und trat vor.

Nicht Richard. Nein. Aber einer, an den er auch schon gedacht und nach dem er sich oftmals umgesehen hatte. Bei einer spärlicheren Beleuchtung würde er die Identität des alten, grauen, gebeugten und abgelebten Mannes bezweifelt haben; so aber fiel ein heller Lampenglanz auf dessen verwitterten Kopf, und er erkannte in der Person, sobald sie sich vorgedrängt hatte, augenblicklich Will Fern.

»Was soll das?« rief Sir Joseph aufstehend. »Wer hat diesen Mann eingelassen? Dies ist ein Verbrecher aus dem Gefängnis! Herr Fish, Sir, wollen Sie die Güte haben …«

»Eine Minute!« sagte Will Fern. »Eine Minute! Gnädige Frau, Ihr seid an diesem Tag mit einem neuen Jahr geboren worden. Laßt mich eine einzige Minute sprechen!«

Sie legte eine Fürbitte für ihn ein, und Sir Joseph nahm mit angeborener Würde wieder Platz.

Der zerlumpte Gast – denn er war erbärmlich gekleidet – blickte in der Gesellschaft umher und bezeigte ihr seine Huldigung mit einer demütigen Verbeugung.

»Ihr vornehmen Leute,« sagte er, »ihr habt auf die Gesundheit des Arbeiters getrunken. Seht mich an!«

»Kommt just aus dem Gefängnis,« sagte Herr Fish.

»Ja, ich komme aus dem Gefängnis,« versetzte Will. »Und zwar nicht zum ersten, zweiten, dritten – ja nicht einmal zum viertenmal.«

Man hörte Herrn Filer verdrießlich bemerken, daß viermal die Durchschnittszahl übersteige, und er sollte sich vor sich selbst schämen.

»Seht mich immerhin an, ihr vornehmen Leute,« wiederholte Will Fern. »Ihr seht, ich bin bis zum Ärgsten herabgesunken. Man kann mir nichts Schlimmeres mehr anhaben, und ich bin außer dem Bereich eurer Hilfe, denn die Zeit, in der eure freundlichen Worte oder eure freundlichen Handlungen mir hätten guttun können« – er schlug dabei mit der Hand auf die Brust und schüttelte seinen Kopf – »ist vorbei, wie der Duft des Klees vom vorigen Jahr. Aber laßt mich ein Wort für diese sprechen« – er deutete auf die Arbeiter in der Halle – und hört, da ihr wieder zusammengekommen seid, wenigstens einmal die reine Wahrheit!«

»Es ist niemand hier,« sagte der Wirt, »der ihn zum Sprecher haben möchte.«

»Wahrscheinlich genug, Sir Joseph. Ich glaube es. Aber darum ist das, was ich sage, nicht weniger wahr. Vielleicht dient mir das nur zum Beweis meiner Wahrheitstreue. Ihr vornehmen Leute, ich habe manches Jahr an diesem Ort gelebt, und ihr könnt dort meine Hütte mit dem eingefallenen Zaune sehen. Hundertmal war ich Zeuge, wie die Damen sie in ihre Bücher zeichneten. Ich habe sagen hören, sie nehme sich gut auf einem Bilde aus; aber auf Bildern gibt es kein Wetter, und sie mag sich daher besser dazu eignen, als zu einem Wohnplatz. Also! Dort habe ich gelebt. Wie hart – wie bitterhart es mir dort erging, will ich nicht sagen. Ihr könnt es jeden Tag im Jahr selber beurteilen.«

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Er sprach, wie er in der Nacht gesprochen hatte, als ihn Trotty in der Straße traf. Seine Stimme klang tiefer und heiserer und zitterte dann und wann ein wenig. Aber er ließ sie niemals leidenschaftlich werden, und selten sprach er lauter, als es die schlichten Dinge und Tatsachen forderten, die er berichtete.

»Es ist schwerer, als ihr vornehmen Leute denken mögt, an einem solchen Platz als ordentlicher Mensch zu leben. Daß ich zu einem Mann und nicht zu einem Vieh darin heranwuchs – damals – sagt schon etwas für mich. Über meine jetzige Lage läßt sich nichts mehr sagen, wie denn auch nichts mehr für mich getan werden kann. Ich bin darüber hinaus.«

»Ich freue mich, daß dieser Mann eingetreten ist,« sagte Sir Joseph, heiter im Kreis umherblickend. »Stört ihn nicht. Es scheint Bestimmung zu sein. Er ist ein Beispiel – ein lebendiges Exempel. Ich hoffe und erwarte zuversichtlich, daß es an meinen Freunden hier nicht verloren geht.«

»Ich schleppte mich fort,« sagte Fern nach einer kurzen Pause, »wie es eben gehen mochte. Weder ich noch irgendein andrer Mensch weiß, wie – jedenfalls aber so schwer, daß ich kein heiteres Gesicht dazu schneiden oder andern glauben machen konnte, ich sei etwas andres, als was ich war. Nun, Gentlemen – ihr Gentlemen, die ihr in den Parlamentssitzungen zusammentrefft – wenn ihr einen Mann mit einem unzufriedenen Zug im Gesicht seht, so sagt ihr zueinander. ›Er ist verdächtig. Ich habe meine Bedenken‹, sagt ihr, ›über Will Fern. Faßt diesen Burschen ins Auge.‹ Ich will nicht behaupten, Gentlemen, daß dies nicht ganz natürlich sei – aber ich sage, es ist so, und von dieser Stunde an wird alles auf sein Schuldkonto gebucht, mag nun Will Fern tun oder lassen, was er will.«

Alderman Cute steckte seine Daumen in seine Westentaschen, lehnte sich lächelnd in seinem Stuhl zurück und blinzelte einem benachbarten Leuchter zu, als wollte er sagen: »Natürlich! ich Sagte es ja. Das gewöhnliche Geschrei! Gott behüte, wir sind derartigen Dingen längst gewachsen – ich selbst und die menschliche Natur.«

»Wohlan, Gentlemen,« fuhr Will Fern fort, indem er seine Hände ausstreckte und ein flüchtiges Rot sein hageres Gesicht einen Augenblick überflammte. »Seht, wie eure Gesetze gemacht sind, um uns einzufangen und zu hetzen, wenn es einmal so weit mit uns gekommen ist. Ich versuche, anderswo meinen Unterhalt zu finden, und man behandelt mich als einen Landstreicher. Ins Gefängnis mit ihm! Ich komme hierher zurück, sammle in den Wäldern Nüsse und breche – wer täte es nichts – ein paar dünne Zweige ab. Ins Gefängnis mit ihm! Einer von den Förstern sieht mich am hellen Tag in der Nähe meines eignen Gartens mit einem Gewehr. Ins Gefängnis mit ihm! Sobald ich wieder frei bin, kommts natürlich zu einem zornigen Wortwechsel mit diesem Mann. Ins Gefängnis mit ihm! Ich schneide mir einen Stock. Ins Gefängnis mit ihm! Ich esse einen faulen Apfel oder eine Rübe. Ins Gefängnis mit ihm! Es ist zwanzig Meilen entfernt, und als ich wieder zurückkomme, bettle ich an der Straße um eine Kleinigkeit. Ins Gefängnis mit ihm! Kurz, der Polizeimann oder der Wildhüter oder sonst jemand findet immer, daß ich hier oder dort irgend etwas anstelle. Ins Gefängnis mit ihm, denn er ist ein Landstreicher und bekannter Zuchthausvogel. So ist denn das Zuchthaus zu seiner einzigen Heimat geworden!«

Der Alderman nickte wohlweise, als wollte er sagen. »Und obendrein eine recht gute Heimat!«

»Glaubt ja nicht, daß ich dies sage, um meiner Sache zu dienen!« rief Fern. »Wer kann mir meine Freiheit, meinen guten Namen und meine unschuldige Nichte zurückgeben? Alle Lords und Ladies in dem weiten England sind es nicht imstande. Aber ihr Gentlemen, wenn ihr mit andern zu tun bekommt, wie mit mir, fangt die Sache an dem rechten Ende an. Seid so barmherzig, uns, wenn wir in unsern Wiegen liegen, eine bessere Heimat zu geben; reicht uns bessere Kost, wenn wir für unsern Unterhalt arbeiten, und gebt uns wohlwollende Gesetze, die uns auf den rechten Weg zurückbringen können, wenn wir von demselben abweichen; aber stellt uns nicht überall, wohin wir uns auch wenden mögen, ewig nur das Gefängnis, das Gefängnis, das Gefängnis vor die Augen! Jede Herablassung, die ihr dem Arbeiter erweisen mögt, wird er so bereitwillig und dankbar hinnehmen, wie nur ein Mensch kann, denn er hat ein geduldiges, friedliches und williges Herz; aber ihr müßt zuerst den rechten Geist in ihm fassen, denn bis jetzt noch ist der seinige von euch getrennt, mag er nun eine solche Ruine oder ein Wrack sein wie ich, oder denen gleichen, die hier herumstehen. Bringt ihn zurück, bringt ihn zurück, ihr vornehmen Leute! bringt ihn zurück, ehe der Tag kommt, da in seiner veränderten Gesinnung auch die Bibel eine andre Gestalt gewinnt und ihm die Worte derselben erscheinen, wie sie mir bisweilen in dem Gefängnis vorkamen: ›Wohin du gehst, kann ich nicht hingehen; wo du wohnst, wohne ich nicht; dein Volk ist nicht mein Volk und dein Gott nicht der meinige!‹«

In der Halle fand nun eine plötzliche Bewegung und Aufregung statt. Trotty meinte anfangs, es hätten sich einige aufgerafft, um den Mann hinauszuwerfen, und daher rühre der Wechsel in der Szene. Aber der nächste Augenblick belehrte ihn, daß der Saal mit der ganzen Gesellschaft seinen Augen entschwunden war und seine Tochter wieder vor ihm saß, wie sie sich bei ihrer Arbeit abmühte. Ihr Dachstübchen war armseliger und schlechter als das frühere, und Lilian befand sich nicht an ihrer Seite.

Der Rahmen, an dem letztere gearbeitet hatte, lag auf einem Sims und war zugedeckt, ihr Stuhl stand gegen die Wand gelehnt. In diesen kleinen Dingen und in Megs gramvollem Gesicht sprach sich eine lange Geschichte aus – o, wer hätte sie nicht zu lesen vermocht!

Meg hatte die Augen auf ihre Arbeit geheftet, bis es zu dunkel war, um den Faden zu sehen, und als die Nacht hereinbrach, zündete sie ihre dünne Kerze an, um weiter zu arbeiten. Noch immer befand sich ihr alter Vater unsichtbar in ihrer Nähe, schaute auf sie nieder und sprach mit ihr – o, mit welch inniger Liebe! – mit leiser Stimme über alte Zeiten und über die Glocken, obschon der arme Trotty wohl wußte, daß sie ihn nicht hören konnte.

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Der größere Teil des Abends war bereits entschwunden, als an ihre Tür gepocht wurde. Sie öffnete. Ein Mann stand auf der Schwelle – ein mürrischer, schlottriger, schmutziger Trunkenbold, den Laster und Unmäßigkeit gezeichnet hatten und dem die wirren Haare und der ungeschorene Bart ein wildes Aussehen verliehen; aber dennoch waren einige Spuren an ihm zu bemerken, die zeigten, daß er in seiner Jugend gut gebaut und hübsch gewesen war.

Er blieb stehen und wartete, bis ihm Meg einzutreten erlaubte; sie aber wich ein paar Schritte von der offenen Tür zurück und sah ihn stumm und bekümmert an. Trottys Wunsch war erfüllt – er hatte Richard vor sich.

»Darf ich hereinkommen, Margaret?«

»Ja! komm herein. Komm herein!«

Es war gut, daß ihn Trotty erkannt hatte, ehe er sprach; denn wenn auch nur ein Zweifel in ihm geherrscht hätte, so würde ihn die rauhe, mißtönige Stimme überzeugt haben, daß es nicht Richard, sondern ein andrer Mann sei.

Es waren nur zwei Stühle in der Stube. Sie gab ihm den ihrigen und blieb eine Weile in einiger Entfernung stehen, wartend, was er ihr zu sagen habe.

Er setzte sich nieder und blickte mit glanzlosem, blödsinnigem Lächeln stier auf den Boden – ein Anblick so tiefer Verkommenheit, gänzlicher Hoffnungslosigkeit und kläglicher Verwahrlosung, daß sie die Hand vor das Gesicht hielt und sich ab wandte, um ihn nicht sehen zu lassen, wie sehr sie sein Wesen erschütterte.

Durch das Rauschen ihres Kleides oder irgendein andres unbedeutendes Geräusch aus seinem Stumpfsinn geweckt, erhob er seinen Kopf und begann zu sprechen, als ob seit seinem Eintritt keine Pause gewesen wäre.

»Noch immer bei der Arbeit, Margaret? Du arbeitest spät.«

»Das geschieht gewöhnlich so.«

»Und früh?«

»Und früh.«

»Das hat sie mir gesagt. Sie sagte, du seiest unablässig tätig und gestehest nie deine Müdigkeit. Nie, solange ihr beisammen lebtet – nicht einmal, als du von Arbeit und Fasten ohnmächtig wurdest. Doch ich habe dir dies bereits gesagt, als ich das letzte Mal hier war.«

»Das tatest du,« antwortete sie; »und ich beschwor dich, mir nichts mehr darüber zu sagen. Auch hast du mirs feierlich versprochen, Richard.«

»Feierlich versprochen,« wiederholte er mit einem kindischen Lachen und einem blöden Blick ins Leere. »Feierlich versprochen, natürlich. Feierlich versprochen!«

Nach einer Weile schien er sozusagen in den früheren Zustand aufzuwachen, denn er fügte mit plötzlicher Lebhaftigkeit bei:

»Aber was kann ich dafür, Margaret? Was soll ich tun? Sie ist wieder bei mir gewesen!«

»Wieder?« rief Meg, ihre Hände zusammenschlagend. »O denkt sie so oft an mich? Schon wieder?«

»O schon zwanzigmal,« sagte Richard. »Margaret, sie läßt mir keine Ruhe. Sie kommt aus der Straße hinter mir her und steckt mirs in die Hand. Ich höre ihren Fuß in der Asche, wenn ich bei meiner Arbeit bin (ha ha! das ist nicht oft), und ehe ich meinen Kopf umwenden kann, tönt mir ihre Stimme ins Ohr. ›Richard, dreh dich nicht um. Gib ihr das, um aller Barmherzigkeit willen!‹ Sie bringt es mir in die Wohnung, schickt es in Briefen, klopft an das Fenster und legt es auf den Sims. Was kann ich tun? Schau her!« Er hielt ihr in der Hand eine kleine Börse entgegen und klimperte mit dem darin enthaltenen Gelde.

»Steck es ein,« sagte Meg, »steck es ein! Wenn sie wiederkommt, so Sage ihr, Richard, daß ich sie von ganzem Herren liebe – daß ich mich nie schlafen lege, ohne sie zu segnen und für sie zu beten – daß ich bei meiner einsamen Arbeit nie aufhöre, an sie zu denken, daß ich Tag und Nacht bei ihr bin und daß ich, wenn ich morgen sterbe, mit meinem letzten Atemzug noch ihrer gedenken will, daß ich aber dies nicht ansehen kann!«

Er zog die Hand langsam wieder an sich, knitterte den Beutel zusammen und sagte mit einer Art schläfriger Nachdenklichkeit:

»Ich sagte ihr dies. Ich sagte ihrs so deutlich, als es sich durch Worte nur aussprechen läßt. Dutzendmal nahm ich seitdem diese Gabe wieder zurück und ließ sie an ihrer Tür liegen. Aber als sie zum letzenmal kam und Angesicht gegen Angesicht vor mich hintrat, was konnte ich tun?«

»Du hast sie gesehen?« rief Meg. »Du hast sie gesehen? O Lilian, mein süßes Mädchen! O Lilian, Lilian!«

»Ich habe sie gesehen,« fuhr er fort, nicht gerade als Antwort, sondern seinem Gedankengang folgend. »Sie stand zitternd da – ›Wie sieht sie aus, Richard? Spricht sie nie von mir? Ist sie schmächtiger geworden? Mein alter Platz an dem Tisch – was ist an meinem alten Platz? Und der Rahmen, an dem sie mich unsre frühere Arbeit lehrte – hat sie ihn verbrannt, Richard?‹ Sie war da, und ich hörte sie so sprechen.«

Meg unterdrückte ihr Schluchzen und beugte sich mit hervorstürzenden Tränen über ihn, um ihm zuzuhören und ja keinen Laut von seinen Worten zu verlieren.

Seine Arme waren auf die Knie aufgestützt, und er lehnte sich in seinem Stuhl vornüber, als sei das, was er sagte, in halb leserlichen Zügen, so daß er Mühe hätte sie zu entziffern, auf den Boden geschrieben. Er fuhr fort:

»›Richard, ich bin sehr tief gefallen, und du kannst dir denken, wie viel ich gelitten habe, als mir dies zurückgeschickt wurde, wenn ich es über mich gewinnen konnte, es eigenhändig dir wiederzubringen. Aber soviel ich mich erinnern kann, hast du sie einmal zärtlich geliebt. Andre sind zwischen euch getreten. Furcht, Eifersucht, Zweifel und Eitelkeit entfremdeten dich ihr. Doch du liebtest sie, soweit ich mich erinnern kann.‹ Ich glaube, sie hat darin recht,« sagte er, sich für einen Augenblick unterbrechend. »Es war wirklich der Fall! Doch das gehört nicht hierher. ›O Richard, wenn du sie jemals lieb hattest, wenn du noch ein Gedächtnis hast für das, was dahin ist und verloren, so bring es ihr noch einmal. Nur noch ein einziges Mal! Sag ihr, wie ich gebeten und gebettelt habe. Sag ihr, wie ich meinen Kopf auf deine Schulter legte, wo ihr eigner Kopf hätte ruhen können, und wie ich so demütig gegen dich war, Richard. Sag ihr, du hast mir ins Gesicht gesehen und gefunden , daß meine Schönheit, die sie sonst so zu preisen pflegte, völlig entschwunden sei – völlig dahin – und an ihrer Stelle nur eine so arme, abgezehrte hohle Wange, daß sie weinen würde, wenn sie ihr zu Gesicht käme. Sag ihr alles dies und nimm es wieder mit, sie wird es nicht aufs neue zurückweisen. Nein, sie wird nicht das Herz haben!‹«

Er blieb nachsinnend sitzen und wiederholte die letzten Worte, bis er wieder erwachte und sich erhob.

»Du willst es nicht nehmen, Margaret?«

Sie schüttelte den Kopf und bat ihn mit stummer Gebärde, sich zu entfernen.

»Gute Nacht, Margaret.«

»Gute Nacht!«

Er wandte sich wieder nach ihr um, betroffen von dem Schmerz und vielleicht auch von dem Mitleid mit ihm, das in ihrer Stimme zitterte. Die Bewegung war rasch und hastig, und für einen Augenblick schien etwas von seinem frühern Wesen in seiner Haltung aufzuzucken. Im nächsten Moment aber ging er, wie er gekommen war. Dieses Aufblitzen eines erloschenen Feuers schien in ihm kein lebendigeres Bewußtsein seiner Würdelosigkeit zu entflammen.

Meg mußte in jeder Stimmung, bei schwerem Kummer, bei körperlichen wie seelischen Qualen ihre Arbeit vollenden. So setzte sie sich daher wieder und nähte fort. Abend, Mitternacht – sie arbeitete noch immer.

Ein schwaches Feuer brannte auf ihrem Herd, denn die Nacht war sehr kalt. Sie stand von Zeit zu Zeit auf, um es zu schüren. Während sie so beschäftigt war, schlugen die Glocken halb eins, und als sie ausgetönt hatten, hörte sie ein leises Pochen an der Tür. Sie öffnete sich, noch ehe Meg Zeit hatte, sich Gedanken darüber zu machen, wer sie wohl zu einer so ungewöhnlichen Stunde besuchen möge.

O Jugend und Schönheit, die ihr glücklich sein sollt, schaut hierher! O Jugend und Schönheit, die ihr selbst gesegnet seid und alles segnet, was in euerm Bereich ist, die ihr die Absichten eures Schöpfers erfüllt, schaut hierher!

Sie sah die eintretende Gestalt und schrie auf: »Lilian!«

Die Gestalt trat schnell vor, fiel vor ihr auf die Knie nieder und klammerte sich an ihr Kleid.

»Ach Himmel, steh auf – steh auf, Lilian! meine teure Lilian!«

»Nie, Meg; nimmermehr! Hier! hier! zu deinen Füßen will ich mich an dich klammern, damit ich deinen teuern Atem auf meinem Gesicht fühle!«

»Süße Lilian! meine teure Lilian! Kind meines Herzens – die Liebe einer Mutter kann nicht zärtlicher sein. Lege dein Haupt an meine Brust!«

»Nie, Meg. Nimmermehr! Als ich zum erstenmal zu deinem Gesicht aufblickte, knietest du vor mir. Laß mich auf den Knien vor dir sterben. Laß – laß mich!«

»Du bist zurückgekommen. Mein Kleinod, wir wollen wieder beisammenleben, miteinander arbeiten, miteinander hoffen und miteinander sterben.«

»Ach, küsse mich, Meg; schlinge deine Arme um mich und drücke mich an dein Herz! Sieh mich freundlich an – aber laß mich hier liegen! Laß mich zum letztenmal dein liebes Gesicht auf den Knien betrachten!«

O glückliche Jugend und Schönheit, blickt hierher! O Jugend und Schönheit, die ihr den Zwecken eures wohltätigen Schöpfers dient, blickt hierher!

»Vergib mir, Meg! Teure liebe Meg! vergib mir! Ich weiß, du tust es – ich sehe, daß du es tust; aber sprich es auch aus, Meg!«

Sie sprach es aus, ihre Lippen auf Lilians Wange gedrückt. Und mit ihren Armen umschlang sie – sie wußte es jetzt – ein gebrochenes Herz!

»Gottes Segen über dich, meine Teure. Küsse mich noch einmal! Er duldete es, daß die Sünderin sich zu seinen Füßen niedersetzte und sie mit ihren Haaren abtrocknete. O Meg, welch ein Erbarmen – welch ein Mitleid!«

Als sie starb, berührte der Geist des zurückkehrenden Kindes strahlend und unschuldig den alten Mann mit seiner Hand und winkte ihm weiterzugehen.

Das vierte Viertel


Das vierte Viertel

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Eine neue Erinnerung an die gespenstischen Gestalten in den Glocken, ein unbestimmtes Gefühl, als ob letztere wieder läuteten, ein schwindelndes Bewußtsein, den Phantomenschwarm erneut und wieder erneut gesehen zu haben, bis sich das Bild desselben in dem wirren Durcheinander zahlloser Gestalten verloren hatte – eine sekundenlange Erkenntnis, obwohl er nicht wußte, woher sie kam, daß noch mehr Jahre entschwunden waren – und Trotty stand, von dem Geist des Kindes begleitet, wieder vor menschlicher Gesellschaft.

Eine beleibte Gesellschaft, eine rosenwangige Gesellschaft, eine behagliche Gesellschaft. Es waren ihrer nur zwei, aber sie waren rot genug für zehn. Sie saßen vor einem lustig prasselnden Feuer, zwischen sich einen kleinen, niedrigen Tisch, und wenn nicht der Duft von heißem Tee und Semmeln in diesem Gemach länger weilte als in den meisten andern, so mußte der Tisch kurz zuvor eine Mahlzeit gesehen haben. Aber die Tassen waren rein und standen an ihren Plätzen in dem Eßschrank; die Messingröstgabel hing in ihrem gewöhnlichen Winkel und breitete ihre vier müßigen Finger aus, als wolle sie sich einen Handschuh anmessen lassen, und es waren keine weiteren erkennbaren Merkmale eines eben beendigten Mahles vorhanden als diejenigen, die sich in dem Schnurren und Bartputzen der sich wärmenden Katze und in den lieblich (um nicht zu sagen fettig) glänzenden Gesichtern der beiden Personen aussprachen.

Dieses behäbige Paar (augenscheinlich verheiratet) hatte das Feuer ehrlich zwischen sich geteilt und sah den sprühenden Funken zu, die in den Rost fielen, bald ein wenig einnickend, bald wieder aufwachend, wenn etwa ein ungewöhnlich großes glühendes Fragment prasselnd niederkam, als wollte ihm das Feuer nachfolgen.

Es lief jedoch nicht Gefahr, bald zu verlöschen, denn es erglänzte nicht nur in dem kleinen Zimmer, an den Glasscheiben in der Tür und an dem darüber gezogenen Vorhang, sondern auch in dem kleinen Laden draußen. Ein kleiner Laden, zum Ersticken vollgestopft mit dem Überfluß seiner Vorräte – ein wahrhaft gefräßiger kleiner Laden mit einem Magen so bequem und voll wie der eines Haifisches. Käse, Butter, Brennholz, Seife, Pökelfleisch, Schwefelhölzer, Speckseiten, Tafelbier, Schnurrkreisel, Eingemachtes, Papierdrachen, Hanfsamen, kalter Schinken, Birkenbesen, Herdsteine, Salz, Weinessig, Stiefelwichse, Heringe, Schreibmaterialien, Schweinefett, Champignonsauce, Schnürbänder, Brotlaibe, Federbälle, Eier und Schieferstifte – alles war Fisch, was in das Netz dieses gierigen kleinen Ladens kam, und alle diese Gegenstände befanden sich in seinem Netz. Was für andre kleine Waren noch vorhanden waren, würde sich schwer aufzählen lassen; aber da befanden sich noch Bindfadenrollen, Zwiebelreihen, Lichterbündel, Kohlnetze und Bürsten, die traubenförmig wie eine außerordentliche Frucht von der Decke niederhingen, während verschiedene Büchsen, denen ein aromatischer Duft entströmte, den Wahrheitsbeweis der Aufschrift über der Ladentür lieferten , die dem Publikum kundtat , daß der Inhaber dieses Kramladens auch ein privilegierter Tee-, Kaffee-, Tabak-, Pfeffer- und Schnupftabakshändler sei.

Diese Artikel, die in dem Licht des Feuers und in dem weniger lieblichen Glanze zweier rauchender Lampen unterscheidbar wurden, welche düster in dem Laden brannten, als wenn ihnen dessen Vollblütigkeit schwer auf den Lungen läge, und dann ein Blick auf eines von den beiden Gesichtern bei dem Stubenfeuer ließen Trotty leicht die stämmige alte Dame Frau Chickenstalker erkennen. Sie hatte stets zur Korpulenz geneigt, schon in den Tagen, als er sie gekannt und ein kleines Pöstchen in ihren Büchern stehen hatte.

Die Züge ihres Gesellschafters waren ihm nicht so vertraut. Das große breite Kinn mit Falten, groß genug, daß man einen Finger hineinlegen konnte; die erstaunten Augen, die sich selbst Vorwürfe zu machen schienen , daß sie immer tiefer und tiefer in das nachgiebige Fett seines schwammigen Gesichts einsanken; die Nase, die mit jener Funktionsstörung behaftet war, die man in der Regel Stockschnupfen nennt; den kurzen, dicken Hals und die asthmatische Brust mit andern derartigen Schönheiten konnte Trotty, wie sehr sie auch geeignet sein mochten, sich dem Gedächtnis einzuprägen, anfangs niemand zuschreiben, den er gekannt hatte, obschon es ihm vorkam, als hätte er alles dies schon gesehen. Endlich aber erkannte er in Frau Chickenstalkers Lebens- und Handelsassocié den vormaligen Portier des Sir Joseph Bowley – eine apoplektische Unschuld, die in Trottys Geist vor Jahren schon in eine Beziehung zu Frau Chickenstalker getreten war, weil sie ihm Zutritt zu dem Herrenhaus gegeben, wo er seine Verbindlichkeiten gegen diese Dame bekannt und sich dadurch einen so ernsten Vorwurf auf sein unglückliches Haupt geladen hatte.

Nach den Veränderungen, die Trotty bereits gesehen hatte, interessierte er sich wenig für einen derartigen Wechsel; indes sind die Ideenverknüpfungen doch bisweilen sehr stark, und er sah unwillkürlich hinter die Stubentür, wo gewöhnlich die Posten der borgenden Kunden aufgekreidet waren. Sein Name war nicht mehr dabei. Es standen einige Namen da, doch waren sie Trotty fremd und außerdem in beträchtlich geringerer Anzahl als in früherer Zeit, woraus er schloß, daß der Portier die Barzahlung bevorzuge und daß er bei seinem Eintritt ins Geschäft den säumigen Kunden ziemlich scharf zugesetzt haben mußte.

Trotty fühlte ein solches Herzweh und trauerte so sehr um die Jugend und die Aussichten seines armen Kindes, daß es ihm sogar leid tat, keinen Platz mehr in Frau Chickenstalkers Schuldbuch einzunehmen.

»Was ists für eine Nacht, Anna?« fragte der vormalige Portier des Sir Joseph Bowley, indem er seine Beine vor dem Feuer ausstreckte und sie so weit rieb, als er mit seinen kurzen Armen reichen konnte, während seine Miene deutlich zu sagen schien. »Ich sitze da, wenns schlecht ist, und verlange nicht auszugehen, wenns gut ist.«

»Es stürmt, graupelt und droht mit Schnee,« entgegnete seine Frau. »Dunkel. Und sehr kalt.«

»Es freut mich, daran zu denken, daß wir Wecken hatten,« sagte der vormalige Portier in dem Ton eines Mannes, der sein Gewissen zur Ruhe gebracht hat. ’s ist eine Nacht, wie für Wecken gemacht; auch für Pfannkuchen und Teegebäck.«

Der ehemalige Portier brachte die Namen dieser aufeinander folgenden Leckerbissen vor, als ob er nachdenklich seine guten Taten aufzählte. Dann rieb er sich wieder seine fetten Beine, drehte sie in den Kniegelenken vor dem Feuer, um die strahlende Hitze auch den bisher ungerösteten Teilen zuzuführen, und lachte, als ob ihn jemand gekitzelt hätte.

»Du bist ja recht heiter, mein lieber Tugby,« bemerkte seine Frau.

Die Firma hieß jetzt Tugby, vormals Chickenstalker.

»Nein,« versetzte Tugby, »nein. Nicht besonders. Bin nur in etwas gehobener Stimmung. Die Wecken kamen so gelegen!«

Dabei kicherte er, bis er ganz schwarz im Gesicht war, und hatte so viel Not, wieder eine andre Farbe zu kriegen, daß seine fetten Beine die seltsamsten Exkursionen in die Luft machten. Auch wollten sie erst wieder einigermaßen Vernunft annehmen, als ihn Frau Tugby heftig auf den Rücken geklopft und wie eine große Flasche geschüttelt hatte.

»O du grundgütiger Himmel über diesen Mann!« schrie Frau Tugby entsetzt. »Was er nur treibt!«

Herr Tugby wischte sich die Augen und wiederholte mit matter Stimme, daß er sich ein wenig in gehobener Stimmung befinde.

»Na, sei so gut und laß es in Zukunft bleiben,« versetzte Frau Tugby, »wenn du mich mit deinem Rappeln und Herumfechten nicht zu Tod erschrecken willst!«

Herr Tugby erklärte, es nicht mehr tun zu wollen. Aber seine ganze Existenz war ein Fechtgang, bei dem er, wenn man nach seinem stets kürzer werdenden Atem und dem tiefen Purpur seines Gesichtes urteilen durfte, immer den kürzern zog.

»So stürmts also und graupelts und drohts mit Schnee; ists dunkel und sehr kalt, meine Liebe!« sagte Herr Tugby, indem er nach dem Feuer sah und wieder auf die Ursache und den Kern seiner momentanen gehobenen Stimmung kam.

»Bei Gott, ein rauhes Wetter,« erwiderte seine Frau, den Kopf schüttelnd.

»Ja, ja!« sagte Herr Tugby. »Jahre sind in dieser Hinsicht wie die Christen: Einige von ihnen sterben schwer, und bei andern geht es leicht ab. Das gegenwärtige hat nicht mehr weit hin und wehrt sich deshalb; aber es gefällt mir dafür nur um so besser. Es ist ein Kunde da, meine Liebe!«

Frau Tugby hatte das Knarren der Tür bereits vernommen und sich erhoben.

»Nun, was solls?« fragte die Dame, in den kleinen Laden hinausgehend. »O! ich bitt‹ um Verzeihung, Sir; wahrhaftig, ich wußte nicht, daß Sie es wären.«

Diese Entschuldigung galt einem Gentleman in Schwarz, der mit zurückgeschlagenen Ärmeln, den Hut seitwärts auf den Kopf gedrückt und die Hände in seinen Rocktaschen, rittlings auf dem Tafelbierfäßchen saß und ihr entgegennickte.

»Das ist eine schlimme Geschichte da oben, Frau Tugby,« sagte der Gentleman. »Der Mann kann nicht leben.«

»Wie, der aus dem hintern Dachstübchen?« rief Tugby, der in den Laden herauskam und sich an dem Gespräch beteiligte.

»Der Dachstübler, Herr Tugby,« entgegnete der Gentleman, »wird demnächst die Treppe herunterkommen und gar bald unter dem Rasen liegen.«

Während er abwechselnd Tugby und dessen Gattin anschaute, klopfte er mit den Knöcheln das Faß ab, um zu untersuchen, wieviel Bier noch darin sei, und sobald er dies ausfindig gemacht hatte, trommelte er einen Marsch auf dem leeren Teil.

»Das hintere Dachstübchen, Herr Tugby,« sagte der Herr, nachdem Tugby eine Zeitlang in stummer Bestürzung vor sich hingestarrt hatte, »ist im Begriff abzufahren.«

»Dann«, sagte Tugby, sich an seine Frau wendend, »muß er abfahren, bevor er abgefahren ist.«

»Ich glaube nicht, daß Ihr ihn fortschaffen könnt,« sagte der Gentleman, den Kopf schüttelnd. »Ich für meinen Teil möchte wenigstens nicht die Verantwortung auf mich nehmen und die Möglichkeit zugestehen. Laßt ihn bleiben, wo er ist. Er kanns nicht mehr lange treiben.«

»’s ist der einzige Gegenstand,« sagte Tugby, die Butterwagschale krachend auf den Ladentisch drückend, indem er seine Faust darin wog, »über den wir je einen Wortwechsel miteinander gehabt haben – sie und ich – und da sieht man, was am Ende dabei herausgekommen ist! Stirbt er zuletzt gar hier – stirbt auf unserm Grund und Boden – stirbt in unserm Haus!«

»Und wo willst du denn, daß er sterben soll, Tugby?« rief seine Frau.

»Im Armenhaus,« entgegnete er. »Wozu hat man denn Armenhäuser?«

»Dazu nicht,« erwiderte Frau Tugby mit großem Nachdruck. »Dazu nicht! Dazu habe ich dich auch nicht geheiratet. Schlag dir diese Gedanken aus dem Kopf, Tugby – ich wills nicht haben. Ich leide es einmal nicht – lieber ließe ich mich zuerst scheiden, um dein Gesicht nie wiederzusehen. Als mein Witwenname noch über dieser Tür stand – und er hat viele, viele Jahre da gestanden – war dieses Haus weit und breit als Frau Chickenstalkers bekannt, und jedermann rühmte es wegen seines ehrlichen Kredits und seines guten Rufs. Als mein Witwenname noch über jener Tür stand, Tugby, kannte ich ihn als einen schönen, kräftigen, männlichen, unabhängigen Jüngling – ich kannte sie als das süßeste und gutmütigste Mädchen, das man je gesehen hat – ich kannte ihren Vater (der arme alte Mann stürzte vom Turm, den er schlafwandelnd erstiegen hatte, und erschlug sich) als den einfachsten, unermüdlichsten und wohlwollendsten Mann, der nur je geatmet hat, und wenn ich sie aus dem Haus stoße, mögen mich die Engel aus dem Himmel stoßen. Das täten sie auch! Und mir würde nur recht geschehen!«

Ihr altes Gesicht, das zu Tobys Zeiten rund und voll Grübchen gewesen, schien wieder aus ihrem jetzigen hervorzuleuchten, als sie diese Worte sprach. Sie trocknete dann die Augen und schüttelte mit einem Ausdruck von Festigkeit, die augenscheinlich keinen Widerstand duldete, den Kopf und ihr Schnupftuch gegen Tugby, so daß Trotty vor sich hinsprach: »Gott segne sie! Gott segne sie!«

Dann horchte er mit klopfendem Herzen auf das, was nun folgen mochte; denn er wußte noch nichts, als daß sie von Meg sprachen.

Wenn Tugby in dem Stübchen ein wenig in gehobener Stimmung gewesen war, so wurde jetzt das Gleichgewicht mehr als erforderlich wieder hergestellt, indem er nun im Laden nicht wenig gedrückt dastand und seine Frau stumm anglotzte. Dabei – sei es in Anwandlung von Zerstreutheit oder als Vorsichtsmaßregel – ließ er heimlich alles Geld aus der Schublade in seine eignen Tasten gleiten.

Der Gentleman aus dem Tafelbierfaß, der augenscheinlich ein autorisierter Armenarzt war, mochte wohl an kleine Meinungsverschiedenheiten zwischen Mann und Weib zu sehr gewöhnt sein, um sich im gegenwärtigen Fall eine Bemerkung zu erlauben. Er blieb pfeifend sitzen und ließ kleine Tropfen aus dem Hahn auf den Boden rinnen, bis vollkommene Stille eingetreten war. Dann hob er seinen Kopf und sagte zu Frau Tugby, vormals Chickenstalker:

»Es ist sogar jetzt noch etwas Interessantes an der Frauensperson. Wie kam sie dazu, ihn zu heiraten?«

»Ach,« versetzte Frau Tugby, ihren Sitz neben ihm nehmend, »das ist ein recht grausamer Teil ihrer Geschichte, Sir. Ihr müßt nämlich wissen, daß sie und Richard vor vielen Jahren miteinander verlobt waren. Als sie noch ein junges und schönes Paar waren, hatten sie alles miteinander ausgemacht, und sie wollten sich an einem Neujahrstag trauen lassen. Da setzte aber ein Gentleman Richard in den Kopf, daß er etwas Besseres tun könne; er werde den Schritt bald bereuen – das Mädchen sei nicht gut genug für ihn, und ein lebensfroher junger Mann habe keinen Grund, zu heiraten. Und der Gentleman schüchterte auch sie ein und machte sie melancholisch, indem er ihr sagte, ihr Mann werde sie dann verlassen, ihre Kinder kämen an den Galgen, und es sei gottlos, zu heiraten, und was dergleichen mehr war. Kurz, sie zögerten und zögerten – ihr Vertrauen zueinander wurde gebrochen, und so ging es auch mit der Verlobung. Aber der Fehler lag an ihm, denn sie würde ihn mit Freuden geheiratet haben, Sir. Oftmals nachher habe ich gesehen, wie ihr fast das Herz brach, wenn er in stolzer, gleichgültiger Weise an ihr vorbeiging, und nie grämte sich ein Mädchen aufrichtiger um einen Mann als sie, wie sie zum erstenmal hörte, daß Richard auf Abwege gerate.«

»O! ist er auf Abwege geraten?« sagte der Gentleman, indem er den Luftzapfen des Fäßchens herauszog und durch das Loch nach dem Bier hinunterzugucken versuchte.

»Ja, seht Ihr, Sir, ich glaube nicht, daß er sich selbst recht verstand. Ich glaube, es bedrückte ihn sehr, daß sie miteinander gebrochen hatten, und hätte er sich nicht vor dem Gentleman geschämt – vielleicht trug er auch Bedenken, weil er nicht wußte, wie sie es aufnehmen würde – so hätte er vielleicht alles über sich ergehen lassen, nur um Megs Versprechen und Hand wiederzugewinnen. So glaube ich wenigstens, obschon er mirs leider nie gesagt hat. Er legte sich dann aufs Trinken, wurde ein Faulenzer und hielt sich an schlechte Gesellschaft – lauter Vergnügungen, die – nach dem Ausspruch des Gentleman – so viel besser für ihn sein würden als das behagliche Heim, das er hätte haben können. So verlor er denn sein gutes Aussehen, seinen guten Ruf, seine Gesundheit, seine Kräfte, seine Freunde, seine Arbeit – kurz alles!«

»Er hat nicht alles verloren, Frau Tugby,« erwiderte der Gentleman, »denn er gewann ja ein Weib, und ich möchte wissen, wie dies zuging.«

»Ich komme sofort dazu, Sir. So trieb ers Jahre um Jahre und sank immer tiefer und tiefer; das arme Ding aber erduldete Elend genug, um sich ganz aufzureiben. Endlich war er so herabgekommen, daß ihm niemand mehr Beschäftigung geben oder auf ihn achten wollte, und wohin er kam, wurde ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen. Er wanderte von einem Ort zum andern und kam zum hundertstenmal zu einem gewissen Herrn, der es oft und oft mit ihm versucht hatte; denn er war bis zu allerletzt ein guter Arbeiter. Und dieser Herr, der seine Geschichte kannte, sagte zu ihm: ›Ich glaube, Ihr seid unverbesserlich; es gibt nur eine einzige Person in der Welt, die Euch möglicherweise noch retten kann. Bittet mich nicht mehr um mein Vertrauen, bevor sie nicht einen Versuch mit Euch gemacht hat.‹ So ähnlich fuhr er ihn in seinem Zorn an.«

»Ah!« entgegnete der Gentleman. »Und was weiter?« »Nun, Sir, er ging zu ihr und kniete vor ihr nieder – sagte, so stehe es und so sei es bisher gegangen, und bat sie dann, ihn zu retten.«

»Und sie? – Laßts Euch nicht so zu Herzen gehen, Frau Tugby.«

»Sie kam noch am nämlichen Abend zu mir und fragte mich, ob sie nicht in meinem Haus wohnen könnten. ›Was er mir einmal gewesen ist‹, sagte sie, ›ist tot und begraben, Seite an Seite mit dem, was ich ihm war. Aber ich habe mir die Sache überlegt und will den Versuch machen – in der Hoffnung, ihn zu retten, und um der Liebe des frohherzigen Mädchens willen, das Ihr noch gekannt habt und das an einem Neujahrstag heiraten sollte; um jener Liebe für ihren Richard willen.‹ Und sie sagte, er sei von Lilian zu ihr gekommen, und Lilian habe ihm vertraut, und sie könne dies nie vergessen. So heirateten sie; und als sie hierherkamen und ich sie sah, hoffte ich, daß sich Prophezeiungen, wie diejenigen, die sie in ihrer Jugend trennten, nicht oft erfüllen möchten, wie in diesem Falle; wenigstens möchte ich sie nicht um ganze Goldberge voraussagen.«

Der Gentleman stieg von dem Faß herunter und streckte sich, indem er zugleich bemerkte:

»Vermutlich mißhandelte er sie, sobald sie verheiratet waren?«

»Ich glaube nicht, daß er dies je getan hat,« versetzte Frau Tugby kopfschüttelnd und sich die Augen trocknend. »Es ging mit ihm eine kurze Zeit besser; aber seine Gewohnheiten waren zu stark und zu festgewurzelt, als daß er sie hätte los werden können. Er wurde ein wenig rückfällig, und das wiederholte sich immer öfter und stärker, bis ihn sein Leiden erfaßte. Ich glaube, er hat sie immer geliebt, und bin fest davon überzeugt. Ich habe gesehen, wie er in seinen Anfällen weinend und zitternd ihre Hand zu küssen versuchte, und hörte, wie er sie Meg nannte und wie er sagte, es sei ihr neunzehnter Geburtstag. Jetzt liegt er schon wochen- und monatelang da. Da sie ihre Zeit zwischen ihm und ihrem Kinde teilen muß, war sie nicht imstande, ihre frühere Arbeit fortzusetzen; sie verlor dieselbe, weil sie sie nicht regelmäßig abliefern konnte, wenn sie auch schließlich mit ihr fertig wurde. Wie sie ihr Leben fortzubringen vermochten, weiß ich kaum zu sagen.«

»Aber ich weiß es,« murmelte Herr Tugby, indem er nach der Geldschublade, im Geschäft umher und auf seine Frau blickte; dann wiegte er mit schlauer Miene den Kopf und sagte: »Wie Kampfhähne!«

Er wurde jetzt durch einen Schrei – einen Klagelaut aus dem obern Stockwerk des Hauses unterbrochen. Der Gentleman eilte hastig zur Tür.

»Mein Freund,« sagte er zurückblickend, »Ihr braucht jetzt nicht mehr zu streiten, ob er fortgeschafft werden soll oder nicht; denn ich glaube, er hat Euch die Mühe erspart.«

Mit diesen Worten eilte er die Treppe hinauf, und Frau Tugby folgte ihm nach, während Herr Tugby hinterdrein keuchte und brummte, denn er war kurzatmiger als gewöhnlich infolge der Beute aus der Geldlade, die eine unbequeme Menge Kupfer enthalten hatte. Trotty schwebte, das Kind an seiner Seite, wie ein Windhauch die Treppe hinauf.

»Folge ihr! folge ihr! folge ihr!« Er hörte beim Hinansteigen die gespenstigen Stimmen in den Glocken ihre Worte wiederholen. »Lerne es von dem Wesen, das deinem Herzen am teuersten ist!«

Es war vorüber. Es war vorüber. Dies also war sie, der Stolz und die Freude ihres Vaters! – dieses hagere, unglückliche Weib, die neben dem Bett, wenn es diesen Namen verdiente, weinte und gesenkten Hauptes ein Kind an ihre Brust drückte? Wie abgezehrt, krank und elend das arme Kind aussah – aber doch, wer kann sagen, wie teuer es ihr war?

»Gott sei Dank!« rief Trotty, die Hände gefaltet in die Höhe haltend. »O, Gott sei gedankt! Sie liebt ihr Kind!«

Der Gentleman war durch täglich sich wiederholende ähnliche Szenen gleichgültig gegen den Anblick geworden und wußte, daß sie nur bedeutungslose Ziffern in Filers Summen waren – nur Striche in den Berechnungen. Er legte seine Hand auf das Herz, das nicht mehr schlug, lauschte auf den Atem und sagte:

»Seine Leiden sind vorüber. Ihm ist wohl!«

Frau Tugby versuchte, die arme Frau mit liebevoller Teilnahme zu trösten, während Herr Tugby mit philosophischen Beruhigungsmitteln angestiegen kam.

»Nun, nun!« sagte er, die Hände in seinen Taschen; »Ihr müßt Euch nicht dem Schmerz hingeben. Es führt zu nichts. Ihr müßt dagegen ankämpfen. Was wäre aus mir geworden, wenn ich mich als Portier hätte so unterkriegen lassen, wo wir wohl sechsmal in der Nacht durch das zweimalige Klopfen, das immer einen Wagen ankündigte, aus dem Schlaf gerissen wurden, um dann zu sehen, daß man uns genarrt hatte. Ich aber besaß Geistesstärke genug und machte nicht auf!«

Abermals hörte Trotty die Stimmen sagen: »Folge ihr!« Er wandte sich nach seinem Führer um und sah , wie dieser sich in die Luft schwang. »Folge ihr!« sagte er und verschwand.

Trotty schwebte um sie her, setzte sich zu ihren Füßen nieder, blickte zu ihrem Gesicht auf, um auch nur eine einzige Spur ihres früheren Aussehens zu finden , und lauschte auf einen Ton ihrer alten lieblichen Stimme. Auch das Kind umwandelte er – es war so abgezehrt, so frühalt, so schrecklich in seinem Ernst, so kläglich in seinem schwachen, traurigen Wimmern. Er betete es beinahe an; er klammerte sich an das kleine Geschöpf als ihren einzigen Schutz, als das letzte lebendige Glied, das sie noch an die Welt fesselte. Er setzte seine Vaterhoffnung, sein ganzes Vertrauen auf dieses hinfällige Kind, bewachte jeden ihrer Blicke, als sie es in ihren Armen hielt, und rief zu tausend Malen:

»Sie liebt es! Gott sei Dank, sie liebt es!«

Er war Zeuge, wie die Frau sie nachts pflegte und zu ihr zurückkehrte, sobald ihr brummender Mann schlief und alles still war, um ihr Nahrung zu bringen, sie zu ermutigen und mit ihr zu weinen. Der Tag kam und dann wieder die Nacht – abermals ein Tag und wieder eine Nacht; die Zeit entschwand. Das Haus des Todes entledigte sich seines Toten, und das Zimmer blieb ihr und dem Kind überlassen. Er hörte es stöhnen und weinen; er sah, wie es die Mutter quälte und ermüdete – ja , die vor Erschöpfung kaum Eingeschlummerte wieder wachrief und sie mit seinen kleinen Händchen auf der Folter erhielt. Aber sie blieb ausdauernd , sanft und geduldig. Geduldig! Sie war seine liebende Mutter von ganzer Seele und ganzem Herzen, und sein Leben war mit dem ihrigen so verknüpft, als sei es noch nicht geboren.

In all dieser Zeit litt sie Not, siechte dahin in schrecklichem, verzehrendem Mangel. Das Kind in ihren Armen, wanderte sie da- und dorthin, um Beschäftigung zu suchen, und während sein hageres Gesichtchen in ihrem Schoß lag und zu ihrem Antlitz aufblickte, verrichtete sie jede Arbeit für den erbärmlichsten Preis – Tag und Nacht sich abmühend für so viele Kreuzer, als da Ziffern sind auf dem Uhrblatt! Wenn sie es gezankt, vernachlässigt, nur einen Augenblick mit Haß angesehen oder gar in hastigem Zornaufwallen geschlagen hätte! Nein. Sein Trost war, daß sie es immer liebte.

Sie teilte niemand ihre äußerste Not mit und wanderte tags draußen umher, um nicht von ihrer einzigen Freundin befragt zu werden; denn jede neue Hilfe, die sie von ihren Händen erhielt, hatte einen neuen Hader zwischen der guten Frau und ihrem Gatten zur Folge. Und der Gedanke, da auch noch die Ursache zu täglichem Zank und Wortwechsel zu werden, wo sie schon so viel schuldete, bereitete ihr neues Leid.

Dennoch liebte sie ihr Kind. Sie liebte es mehr und mehr. Aber es kam eine Nacht, in der auch ihre Liebe sich anders gestaltete.

Damals sang sie es leise in den Schlaf und ging auf und ab, um es einzulullen, als sich sacht die Tür öffnete und ein Mann hereinsah.

,,Zum letztenmal!« sagte er.

»William Fern!«

»Zum letztenmal!«

Er lauschte wie einer, hinter dem die Verfolger her sind, und sprach flüsternd:

»Margarete, meine Uhr ist nahezu abgelaufen. Ich konnte nicht enden, ohne Abschied von dir zu nehmen, ohne dir ein Wort des Dankes zu sagen.«

»Was habt Ihr getan?« fragte sie, ihn mit Entsetzen betrachtend.

Er sah sie an, gab aber keine Antwort.

Nach einem kurzen Schweigen machte er eine Gebärde mit der Hand, als wollte er ihre Frage abwehren, sie beiseite schieben, und sagte:

»Es ist jetzt schon lange her, Margarete; aber jene Nacht ist noch so frisch in meinem Gedächtnis , als wäre es erst gestern gewesen. Damals dachten wir nicht,« fügte er, mit einem Blick auf ihre Umgebung, hinzu, «daß wir uns jemals unter solchen Umständen wiedersehen sollten. Ist das dein Kind, Margarete? Laß es mich umarmen. Gib mir dein Kind.«

Er legte seinen Hut auf den Boden und nahm es auf, zitterte aber dabei vom Kopf bis zum Fuß.

»Ist es ein Mädchen?«

»Ja«

Er hielt seine Hand vor ihr kleines Gesichtchen.

»Schau , wie schwach ich geworden bin, Margarete , wenn ich nicht einmal den Mut habe, es anzusehen! Laß sie mir einen Augenblick. Ich tue ihr nichts. Es ist lange her, aber … Wie heißt die Kleine?«

»Margarete,« antwortete sie rasch.

»Das freut mich,« sagte er. »Das freut mich.«

Er schien freier zu atmen. Nach einer kurzen Pause nahm er seine Hand weg und sah dem Kind ins Antlitz. Dann aber bedeckte er es augenblicklich wieder.

»Margarete!« sagte er und gab ihr das Kind zurück. »Es ist Lilians Gesicht.«

»Lilians?«

»Ich hielt dasselbe Gesicht in meinen Armen, als Lilians Mutter starb und sie zurückließ.«

»Als Lilians Mutter starb und sie zurückließ?« wiederholte sie außer sich.

»Wie schrill du sprichst! Warum starrst du mich so an, Margarete?«

Sie sank in einen Stuhl, preßte das Kind an ihre Brust und weinte. Dann sah sie ihm ängstlich ins Gesicht und drückte es abermals an ihr Herz. Wenn sie es aber so betrachtete, schien sich etwas Wildes und Schreckliches in ihre Liebe zu mischen, und ihr alter Vater begann darob zu zittern.

»Folge ihr!« tönte es durch das Haus. »Lerne es von dem Wesen, das deinem Herzen am teuersten ist!«

»Margarete,« sagte Fern, sich über sie beugend und sie auf die Stirn küssend. »Ich danke dir zum letztenmal. Gute Nacht. Gott behüte dich! Gib mir deine Hand und versprich mir, mich von dieser Stunde an zu vergessen, und bilde dir ein, ich sei hier gestorben.«

»Was habt Ihr getan?« sagte sie abermals.

»Es wird heute nacht ein Feuer geben,« sagte er, von ihr zurücktretend. »Es werden in diesem Winter viele Feuer sein, um die dunkeln Nächte zu erhellen im Osten, Westen, Norden und Süden. Wenn du den fernen Himmel rot siehst, dann wird die Farbe von Flammen herrühren. Wenn du den fernen Himmel rot siehst, denke nicht mehr an mich; oder wenn du nicht anders kannst, so erinnere dich, welche Hölle in meinem Innern angezündet wurde, und denke, es seien ihre Flammen, die sich in den Wolken spiegeln. Gute Nacht. Gott befohlen!«

Sie rief ihm nach; aber er war fort. Dann setzte sie sich betäubt nieder, bis sie durch ihr Kind zum Gefühl des Hungers, der Kälte und der Dunkelheit geweckt wurde. Sie ging die liebe lange Nacht in der Stube auf und ab, es in den Armen wiegend und beschwichtigend, wobei sie mitunter vor sich hinmurmelte: »Es gleicht Lilian, als ihre Mutter starb und sie zurückließ!« Warum war ihr Schritt so hastig, ihr Auge so wild, ihre Liebe so ungestüm und schrecklich, sooft sie diese Worte wiederholte?

»Aber es ist Liebe,« sagte Trotty. »Es ist Liebe. Sie wird nie aufhören, es zu lieben. Meine arme Meg!«

Am andern Morgen kleidete sie das Kind mit ungewöhnlicher Sorgfalt – ach, welch eitle Mühe bei so elenden Fetzen! – und versuchte abermals, irgendeinen Verdienst aufzutreiben. Es war der letzte Tag des alten Jahres. Ohne etwas über die Lippen zu bringen, lief sie bis in die Nacht umher; aber all ihre Bemühungen waren vergeblich!

Sie mischte sich unter eine Gruppe herabgekommener Bittsteller, die im Schnee standen, bis ein Beamter , der zur Verteilung der öffentlichen Almosen – die das Gesetz gebot, nicht aber die Barmherzigkeit, die einst auf einem Berg gepredigt wurde – bestellt worden war, sich gnädigst herbeiließ, die Leute hereinzurufen, ins Verhör zu nehmen, dem einen zu sagen, »er solle da und dahin gehen,« dem andern zu bemerken, »er solle nächste Woche wiederkommen,« oder einen dritten Elenden wie einen Ball von hierher dorthin, von Hand zu Hand, von Haus zu Haus zu schleudern, bis er kraftlos umsank, um zu sterben, oder wieder aufsprang, um einen Diebstahl zu begehen und so zu einer höheren Art von Verbrecher zu werden, dessen Ansprüche keine Zögerung gestatteten. Aber auch hier sollte sie ihre Erwartung trügen. Sie liebte ihr Kind und wünschte, daß es an ihrer Brust läge. Dies war ganz genug.

Es war Nacht – eine kalte, dunkle, schneidende Nacht, als sie, das Kind an ihrem Leib wärmend, an das Haus gelangte, das sie ihr Heim nannte. Sie war so matt und schwindlig, daß sie niemand unter dem Haustor stehen sah, bis sie dicht daran war und eintreten wollte. Jetzt erst erkannte sie den Hausherrn, der sich so aufgepflanzt hatte – bei seiner Beleibtheit war dies nicht schwer – daß er den ganzen Eingang versperrte.

»O!« sagte er halblaut. »Ihr seid zurückgekommen?«

Sie blickte ihr Kind an und schüttelte den Kopf.

»Glaubt Ihr nicht , Ihr habt hier lange genug gewohnt , ohne Miete zu bezahlen? Glaubt Ihr nicht , daß Ihr für jemand, der nichts zahlt, eine recht anhängliche Kundin gewesen seid?« sagte Herr Tugby.

Sie wiederholte dieselbe stumme, flehentliche Bitte.

»Was würdet Ihr dazu sagen, wenn Ihr es versuchtet, woanders einzukaufen«, meinte er, »und Euch ein andres Quartier zu verschaffen? Nun! Glaubt Ihr nicht, es ließe sich machen?«

Sie versetzte mit gedämpfter Stimme, »daß es schon sehr spät sei. Morgen.«

»Ah, ich sehe schon, was Ihr wollt und was Ihr im Sinn habt,« entgegnete Tugby; »Ihr wißt, daß es in diesem Hause wegen Euch zwei Parteien gibt, und es macht Euch Freude, sie gegeneinander zu hetzen. Ich will keinen Streit haben und spreche jetzt so leise, um jeder Zänkerei vorzubeugen; aber wenn Ihr nicht geht, will ich laut reden, und es wird Worte setzen, die stolz und heftig genug sind, um Euch zu gefallen. Aber herein kommt Ihr mir nicht, das steht fest.«

Sie strich sich das Haar mit der Hand zurück und sah plötzlich zum Himmel auf in die düstere, dunkle Ferne.

»Dies ist die letzte Nacht des alten Jahres, und ich will nicht Euch oder irgend jemand anderm zuliebe böses Blut, Händel und Unfrieden ins neue hinübernehmen,« sagte Tugby, der in kleinerem Maßstab ein ›Freund und Berater‹ war. »Es wundert mich, daß Ihr Euch nicht vor Euch selbst schämt, mit solchen Kniffen ein neues Jahr anzufangen. Wenn Ihr in der Welt nichts andres zu tun habt als stets zu heulen und den Samen der Zwietracht zu streuen zwischen Mann und Weib, so tut Ihr besser, aus ihr hinauszugehen. Fort mit Euch!«

»Folge ihr! zur Verzweiflung!«

Abermals hörte der alte Mann die Stimmen. Er blickte auf und sah die Gestalten in der Luft schweben, die ihm den dunkeln Weg zeigten, den sie ging.

»Sie liebt es!« rief er in dringlichem Flehen. »Ihr Glocken, sie liebt es noch immer!«

Die Schatten schwebten in die Richtung, die sie eingeschlagen hatte, gleich einer Wolke.

Er schloß sich den Verfolgern an, hielt sich dicht an die Unglückliche und blickte ihr ins Gesicht. Da war derselbe wilde, schreckliche Ausdruck, der sich in ihre Liebe mengte und aus ihren Augen blitzte. Er hörte sie sagen: »Wie Lilian! So zu werden wie Lilian!« und ihre Eile verdoppelte sich.

O, gab es denn gar nichts, das sie aus ihrem Taumel reißen konnte? Nur ein Anblick, ein Schall, ein Geruch, der in einem Gehirn voll Feuer zartere Erinnerungen heraufbeschwören könnte? O Gott, nur ein einziges friedliches Bild der Vergangenheit sollte sich ihrem Auge zeigen!

»Ich war ihr Vater! ich war ihr Vater!« rief der alte Mann, seine Hand nach den dunkeln Schatten ausstreckend, die in der Luft dahinflogen. »Habt Erbarmen mit ihr und mit mir! Wohin geht sie zurück! Ich war ihr Vater!«

Aber sie deuteten bloß nach ihr hin, während sie weiter eilte, und sagten:

»Zur Verzweiflung! Lerne es an dem Geschöpf, das deinem Herzen am teuersten war!«

Hundert Stimmen hallten es nach, und die ganze Luft war ein für diese Worte verbrauchter Atem. Toby schien sie mit jedem seiner Atemzüge in sich zu saugen. Sie waren überall, und er konnte ihnen nicht entkommen. Dennoch eilte sie weiter – dasselbe unheimliche Licht in ihren Augen, dieselben Laute auf ihren Lippen: »Wie Lilian! So zu werden wie Lilian!«

Mit einem Male machte sie halt.

»O holt sie zurück!« rief der alte Mann, sich das weiße Haar zerraufend. »Mein Kind! Meine Meg! Holt sie zurück! Ewiger Vater, tu ihr Einhalt!«

Sie wickelte das Kind warm in ihr eignes dünnes Halstuch. Mit fieberigen Händen streichelte sie seine Glieder, legte sein Köpflein zurecht und ordnete den armseligen Anzug. Sie umschlang es mit ihren abgezehrten Armen, als wollte sie es nimmer von sich lassen, und mit ihren vertrockneten Lippen küßte sie es im höchsten Schmerz und im letzten langen Kampf der Liebe.

Sie legte des Kindes abgezehrte Hand auf ihren Hals, hielt es unter ihrem Kleid geschützt, drückte es an ihr verzweifeltes Herz und wandte das schlafende Gesichtchen dem ihren zu – dann eilte sie dem Fluß entgegen.

Dem rollenden, raschen und trüben Strom entgegen, auf dem die Winternacht brütend saß wie die letzten düsteren Gedanken vieler, die früher hier eine Zuflucht gesucht hatten. Wo zerstreute Lichter am Ufer unheimlich rot und trübe glommen, als wären sie Fackeln, die den Weg zum Tode wiesen. Wo kein Wohnplatz lebender Menschen seinen Schatten warf auf das tiefe, undurchdringliche, melancholische Schattenreich.

Dem Fluß entgegen! Zu jener Pforte der Ewigkeit lenkte sie ihre verzweifelten Schritte mit derselben Schnelligkeit, mit der seine raschen Wellen dem Meer zuströmten. Er versuchte, sie festzuhalten, als sie auf ihrem Weg nach dem dunkeln Spiegel an ihm vorbeikam; aber die wirre, wahnsinnige Gestalt, die wilde und schreckliche Liebe, die Verzweiflung, die alles menschliche Hindernis weit hinter sich gelassen hatte, rauschte wie der Wind an ihm vorbei.

Er folgte ihr. Sie hielt einen Augenblick an dem Rand inne, ehe sie den entsetzlichen Sprung tat. Er fiel auf seine Knie nieder und rief kreischend den Gestalten in den Glocken zu, die jetzt über ihnen schwebten.

»Ich habe es gelernt!« rief der alte Mann. »Von dem Wesen, das meinem Herzen am teuersten ist! O rettet sie, rettet sie!«

Er konnte seine Finger in ihren Anzug krampfen, konnte ihn halten! Als diese Worte seinen Lippen entschlüpft waren, fühlte er seinen Tastsinn zurückkehren, und er wußte, daß er sie abhielt.

Die Gestalten schauten festen Blickes auf ihn nieder.

»Ich habe es gelernt!« rief der alte Mann. »O habt Erbarmen mit mir in dieser Stunde, wenn ich in meiner Liebe zu ihr, die so jung und so gut ist, die Natur in den Herren der Mütter schmähte und sie zur Verzweiflung brachte! Habt Mitleid mit meiner Anmaßung, mit meinem Frevel und mit meiner Unwissenheit – rettet sie!«

Er fühlte, wie seine Hand kraftloser wurde. Sie schwiegen noch immer.

»Habt Erbarmen mit ihr!« rief er. »Dieses schreckliche Verbrechen wurde nur durch sinnlose Liebe gezeitigt; durch die stärkste, innigste Liebe, die wir gefallenen Menschen kennen! Bedenkt, wie groß ihr Elend gewesen sein muß, wenn solcher Same solche Frucht trägt. Der Himmel hat sie zum Guten bestimmt. Es gibt keine liebende Mutter auf der Erde, die nicht auch so weit getrieben werden könnte, wenn ein solches Leben vorhergegangen. O habt Erbarmen mit meinem Kinde, das selbst in diesem Augenblick Erbarmen mit dem ihren hegt und selber stirbt und ihre unsterbliche Seele dem Verderben preisgibt, um es zu erlösen!«

Sie lag in seinen Armen. Er hielt sie fest. Er hatte die Kraft eines Riesen.

»Ich sehe den Geist der Glocken unter euch,« sagte der alte Mann, das Kind erblickend, mit einer Art von Begeisterung, die dessen Blicke in ihm entzündeten. »Ich weiß, daß die Zeit unser Erbteil uns verwaltet. Ich weiß, daß eines Tages ein Meer der Zeit sich erheben und alle wie Blätter wegspülen wird, die uns unrecht tun und uns unterdrücken. Ich sehe, wie es heranflutet! Ich weiß, daß wir vertrauen und hoffen müssen und weder an uns noch an andern das Gute bezweifeln dürfen. Ich habe es von dem Wesen gelernt, das meinem Herzen am teuersten. Ich halte es wieder in meinen Armen. O ihr gnädigen und gütigen Geister, ich verschließe eure Lehre in die Brust, an der ich sie halte. O ihr gnädigen und guten Geister, ich danke euch!«

Er hätte vielleicht noch mehr gesagt, wenn nicht die Glocken, die alten, lieben Glocken, seine guten, treuen, beständigen Freunde, ihr Freudengeläut zum neuen Jahr so munter, so fröhlich und so schwellend begonnen hätten, daß er auf die Füße sprang und so den Zauber löste, der ihn fesselte. –

 

»Und was du auch tust, Vater,« sagte Meg, »du mußt jedenfalls den Arzt befragen, bevor du wieder Kuttelflecke ißt, damit er dir sagen kann, ob sie dir zuträglich sind. Denn was du getrieben hast! Du lieber Gott!«

Sie saß an dem kleinen Tisch am Feuer und nähte an ihrem einfachen Hochzeitskleide, das sie mit Bändern schmückte, und war so stillselig, so blühend und jugendlich, so voll schöner Verheißung, daß er laut aufschrie, als wenn ein Engel in seinem Haus wäre. Dann stürzte er auf sie zu, um sie in seine Arme zu schließen. Doch er verwickelte sich mit den Füßen in die Zeitung, die auf die Erde gefallen war, und jemand drängte sich zwischen ihn und Meg.

»Nein,« sagte die Stimme des besagten Jemand, und es war eine prächtige, helle Stimme! »Nicht einmal Ihr. Der erste Kuß von Meg im neuen Jahr gehört mir. Mir! Ich habe eine Stunde vor dem Haus gestanden, um die Glocken zu hören und mir ihn zu verdienen. Meg, mein liebster Schatz, ein glückliches Neujahr! und mögen wir noch recht viel glückliche Jahre verleben, mein liebes Weibchen!«

Und Richard erstickte sie fast mit seinen Küssen.

Als dies geschah, konnte man keinen glücklicheren Menschen sehen als Trotty. Ich kümmere mich nicht um das, was ihr gesehen und wo ihr es erlebt habt, denn es ist ausgeschlossen, daß ihr auch nur annähernd etwas Ähnliches geschaut habt. Er setzte sich auf seinen Stuhl, schlug sich auf die Knie und weinte. Er setzte sich auf seinen Stuhl und schlug sich auf die Knie und lachte. Er setzte sich auf seinen Stuhl und schlug sich auf die Knie und lachte und weinte in einem Atem. Er stand von seinem Stuhl auf und herzte Meg. Er stand von seinem Stuhl auf und herzte Richard. Er stand von seinem Stuhl auf und herzte beide zu gleicher Zeit. Er lief zu Meg und nahm ihr frisches Gesicht zwischen seine Hände und küßte sie und ging rückwärts wie ein Krebs, um sie nicht aus den Augen zu verlieren, und lief wieder auf sie zu, wie eine Figur in einer Räuberlaterne; und was immer er tat, er setzte sich beständig wieder in seinen Stuhl, blieb aber nicht einen Augenblick sitzen. Genug – und das ist die Wahrheit – er war außer sich vor Freude.

»Und morgen ist dein Hochzeitstag, mein Herzenskind?« sagte Trotty, »wirklich dein glücklicher Hochzeitstag?«

»Heute!« jauchzte Richard und schüttelte ihm die Hände, »heute! Die Glocken läuten eben das neue Jahr ein. Hört sie nur!«

Und sie läuteten wirklich.

Gott segne die kräftigen Burschen! O, es waren große Glocken, melodische, tiefstimmige, edle Glocken, von keinem gemeinen Metall gegossen, von keinem gemeinen Gießer geformt. Wann hätten sie jemals geläutet wie heute!

»Heute, meine Meg,« sagte Trotty, »hattest du wohl mit Richard einen kleinen Wortwechsel?«

»Weil er ein so schlechter Mensch ist, Vater,« sagte Meg. »Bist du das nicht, Richard? Solch ein heftiger, halsstarriger Mensch! Wollte er doch dem großen Herrn Alderman seine Meinung sagen, und er genierte sich so wenig, als er sich genieren würde …«

»Meg zu küssen,« half Richard ein und tat es sogleich.

»Nein, nicht ein bißchen mehr. Doch ich wollte ihn nicht lassen, Vater. Was hätte es genützt?«

»Richard, mein Junge,« sagte Trotty, »du bist ein Prachtkerl und wirst ein Prachtkerl bleiben bis an dein seliges Ende. Doch du, mein Liebling, weintest heute abend am Feuer – als ich nach Hause kam? Warum weintest du denn am Feuer?«

»Ich dachte an die Jahre, die wir miteinander verlebt haben, Vater. Bloß deshalb. Und ich dachte, du würdest mich recht vermissen und dich allein fühlen.«

Trotty kehrte wieder zu jenem ominösen Stuhl zurück, als das Kind, das von dem Lärm erwacht war, halb angekleidet hereinkam.

»Ei, hier ist sie ja,« sagte Trotty und hob sie auf, »hier ist sie ja, die kleine Lilian! Ha ha! hier sind wir und hier gehen wir! O, hier sind wir und hier gehen wir wieder! Und hier sind wir und hier gehen wir und auch Onkel Will!«

Er hielt in seinem Trab inne, um ihn herzlich zu begrüßen. »Ach, Onkel Will, was hab ich heute abend für eine Erscheinung gehabt, weil ich Euch beherbergt habe. Ach, Onkel Will, wie bin ich Euch verpflichtet, daß Ihr zu mir gekommen seid, mein guter Freund!«

Ehe Will Fern die mindeste Antwort geben konnte, trat eine Musikbande in das Zimmer in Begleitung von einer Menge Nachbarn, die alle: »Glückliches Neujahr, Meg! Fröhliche Hochzeit! Noch recht lange Jahre!« und andre gute Wünsche dieser Art riefen. Der Trommler, der ein besonders guter Freund Trottys war, trat hervor und sagte: »Trotty Veck, mein alter Knabe, wir haben erfahren, daß Eure Tochter heute heiratet. Es gibt keine Menschenseele, die Euch kennt und Euch nicht das beste Glück wünscht, oder die sie kennt und ihr nicht Segen gönnt, oder die Euch beide kennt und Euch beiden nicht alles Glück wünscht, das das neue Jahr bescheren kann. Und hier sind wir deshalb, um es einzuspielen und einzutanzen.«

Das wurde mit allgemeinem Jubel aufgenommen. Der Trommler war freilich ziemlich betrunken, aber das schadete weiter nichts.

»Was für ein Glück ist es doch,« sagte Trotty, »in solcher Achtung zu stehen! Wie freundlich und nachbarlich ihr seid! Das geschieht alles meiner lieben Tochter wegen. Sie verdient es!«

Sie waren in einer halben Sekunde zum Tanz fertig, Meg und Richard voran, und der Trommler war eben im Begriff, aus allen Kräften loszuledern, da ließ sich draußen ein Gemisch von wunderbaren Tönen hören, und eine gutmütig aussehende, schmucke Frau von fünfzig Jahren oder daherum trat herein in Begleitung eines Mannes, der einen steinernen Henkelkrug von erschrecklichem Umfang trug. Dicht hinter ihnen wurden die Klapperinstrumente und Glocken getragen; aber nicht die Glocken, sondern ein tragbares Glockenspiel in einem Gestell.

Trotty sagte: »Frau Chickenstalker!« und setzte sich nieder und schlug sich wieder auf die Knie.

»Was? heiraten und mir kein Wort davon sagen, Meg?« sagte die gute Frau. »Unerhört! Ich konnte am letzten Abend des alten Jahres nicht ruhen, ohne zu kommen und dir Glück und Freude zu wünschen. Nein, ich hätte es nicht gekonnt, Meg, und wenn ich bettlägerig gewesen wäre. Und so bin ich denn hier, und da es Neujahrsabend und zugleich dein Polterabend ist, so habe ich ein wenig Eierpunsch machen lassen und denselben mitgebracht.«

Frau Chickenstalkers Begriff von »ein wenig Eierpunsch« machte ihrem Charakter alle Ehre. Der Krug dampfte und rauchte wie ein Vulkan, und dem Mann, der ihn trug, war ganz schwach zumute.

»Frau Tugby,« sagte Trotty, der ganz entzückt um sie herumging, »ich wollte sagen Chickenstalker, Gott segne Sie! Ein glückliches Neujahr und noch recht viele hinterdrein, Frau Tugby,« sagte Trotty, als er sie geküßt hatte, »ich wollte sagen Chickenstalker – dies ist William Fern und Lilly.«

Die würdige Frau wurde zu seinem Erstaunen sehr blaß und sehr rot.

»Doch nicht Lilly Fern, deren Mutter in Dorsetshire gestorben ist?« sagte sie.

Ihr Onkel bejahte, und sie wechselten schnell einige Worte miteinander, deren Ergebnis war, daß Frau Chickenstalker ihm beide Hände schüttelte, Trotty noch einmal aus freien Stücken auf die Wange küßte und das Kind an ihre geräumige Brust drückte.

»Will Fern,« sagte Trotty, indem er seinen rechten Fausthandschuh anzog, »doch nicht die Freundin, die Ihr zu finden hofftet?«

»Freilich,« entgegnete Will und legte Trotty beide Hände auf die Schultern, »und wie es scheint, eine ebenso gute Freundin, wenn das sein kann, wie der Freund, den ich in Euch gefunden habe.«

»O!« sagte Trotty, »wollt ihr dort nicht aufspielen? Seid so gut!«

Bei dem Klang der Musik, der Schellen, der Klapperinstrumente – alles zu gleicher Zeit – und während noch die Glocken lustig vom Turm niederbrummten, führte Trotty Frau Chickenstalker, Meg und Richard als zweites Paar folgend, zum Tanz und haspelte denselben in einem vorher und nachher unbekannten Pas ab, der auf seinen eigentümlichen Trab begründet war. –

Hatte Trotty geträumt? Oder sind seine Freuden und Leiden und die handelnden Personen darin nur ein Traum? Er selber ein Traum? Der Erzähler dieser Geschichte ein Träumer, der eben erwacht? – Sollte dies so sein, lieber Leser, dann präge die bösen Wirklichkeiten, aus denen diese Schatten entspringen, deiner Seele ein und suche sie in deinem Kreise – keiner ist zu weit und keiner zu enge für solch einen Zweck – zu bessern und minder drückend zu machen. Möge das neue Jahr ein glückliches für dich, ein glückliches noch für viele sein, deren Glück von dir abhängt! Möge jedes Jahr glücklicher sein als das letzte, und nicht der geringste unsrer Brüder oder Schwestern ausgeschlossen bleiben von dem gerechten Anteil an dem, was unser großer Schöpfer zu ihrer Freude geschaffen!

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Das erste Viertel


Das erste Viertel

Die Silvesterglocken

Ein Märchen von Glocken, die ein altes Jahr aus- und ein neues Jahr einläuten

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Das erste Viertel

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Es gibt nicht viele Menschen – und da es wünschenswert ist, daß ein Erzähler und sein Leser einander so rasch als möglich vollkommen verstehen, so bitte ich, darauf zu achten, daß ich meine Bemerkung nicht auf junge oder kleine Leute beschränke, sondern sie auf alle ausdehne, mögen sie nun klein oder groß, jung oder alt, erst im Aufschießen oder bereits wieder im Verwelken begriffen sein – ich sage, es gibt nicht viele Menschen, die gern in einer Kirche schliefen. Ich meine damit nicht ein Einschlafen während der Predigt bei warmem Wetter, was wohl hin und wieder vorkommen mag, sondern ein regelrechtes Übernachten, und zwar mutterseelenallein. Ich weiß, sehr viele würden schon am hellichten Tag über ein derartiges Beginnen sich höchlich verwundern. Aber meine Behauptung bezieht sich auf die Nacht. Und diese soll auch den Beweis liefern. Ich verpflichte mich, in einer stürmischen Winternacht, die zu diesem Zweck gewählt werde, meiner Behauptung zu einem glorreichen Sieg zu verhelfen, wenn sich mir ein Gegner aus der Menge allein auf einem alten Friedhof vor ein altes Kirchtor stellt und mich vorher ermächtigt hat, falls es zu seiner Befriedigung notwendig wäre, ihn bis zum Morgen einzusperren.

Denn der Nachtwind besitzt eine unheimliche Geschicklichkeit, ein derartiges Gebäude stöhnend zu umkreisen, mit unsichtbarer Hand an Fenstern und Türen zu rütteln und irgendeine Spalte aufzuspüren, durch die er sich hineinpfeifen kann. Ist er endlich drinnen, So winselt und heult er, um wieder hinauszukommen, wie jemand, der nicht gefunden hat, was er sucht; und dabei begnügt er sich nicht damit, durch die Schiffe zu schleichen, um die Pfeiler zu huschen, die tiefe Orgel zu probieren, sondern schwingt sich auf zur Decke und bemüht sich, das Sparrenwerk zu zerreißen, stürzt sich verzweifelt hinunter auf die Steinfliesen und dringt murrend in die Grüfte. Gleich darauf kommt er verstohlen wieder herauf, schleicht an den Wänden hin und scheint in Flüstertönen die Inschriften, die den Toten geweiht sind, zu lesen. Vor einigen derselben bricht er schrill aus, wie im Gelächter, während er vor andern ächzt und schluchzt wie in großem Schmerz. In der Nähe des Altars stimmt er einen gar gespenstigen Ton an und singt in seiner wilden Weise von Unrecht, Mord, falscher Gottesverehrung und Trotz gegen die Gesetzestafeln, die so oft gebrochen und mit Füßen getreten werden, obschon sie so schön und glatt aussehen. Hu! der Himmel bewahre uns, die wir so gemächlich um das Feuer sitzen! Er hat eine gar schreckliche Stimme – dieser Wind um Mitternacht, wenn er in einer Kirche singt!

Aber erst hoch oben im Turm! Dort brüllen und pfeifen die unheimlichen Windstöße! Hoch oben im Turm, wo sie frei aus- und einziehen können durch manche luftige Öffnung, sich um die schwindelnde Treppe winden, den stöhnenden Wetterhahn umherwirbeln und sogar das Gemäuer zittern und beben lassen! Hoch oben im Turm, wo der Glockenstuhl ist, wo die eisernen Geländer sich infolge des langjährigen Rostes Schuppen; wo die Blei- und Kupferplatten , runzelig vor Alter und Wetterstürzen, unter dem ungewohnten Tritt krachen und seufzen; wo Vögel ihre Kotnester in die Ecken des alten Eichengebälks stopfen, der Staub alt und grau wird, fleckige Spinnen, während ihrer ungestörten Ruhe fett und faul geworden, gemächlich sich von den schwingenden Glocken hin und her pendeln lassen und niemals die Verbindung mit ihren gesponnenen Luftschlößchen verlieren, oder wie Matrosen in rascher Unruhe hinanklettern, wenn sie sich nicht lieber auf den Boden niederlassen, um ein Dutzend hurtiger Füße zur Rettung eines einzigen Lebens in Tätigkeit zu setzen! Hoch oben im Turm einer alten Kirche, weit über dem Licht und Gemurmel der Stadt, dennoch aber weit unter den fliegenden Wolken, die sie beschatten, ist das wilde, traurige, nächtige Plätzchen, und hoch oben im Turm einer alten Kirche hausen die Glocken, von denen ich spreche.

Es waren, glaubt mir, alte Glocken. Schon vor Jahrhunderten wurden diese Glocken von Bischöfen getauft; vor so vielen Jahrhunderten bereits, daß ihr Taufregister seit unvordenklichen Reiten verloren ging und niemand mehr ihre Namen wußte. Sie hatten ihre Paten und Patinnen gehabt (nebenbei gesagt, ich für meinen Teil möchte lieber die Verantwortlichkeit übernehmen bei einer Glocke, als bei einem Knaben Gevatter zu stehen) und ohne Zweifel auch ihre silbernen Becher erhalten. Aber die Zeit hatte ihre Taufzeugen dahingerafft und Heinrich VIII. ihre Becher, die er einschmelzen ließ. Und so hängen sie denn jetzt namen- und herrenlos in dem Kirchturm.

Wortlos allerdings nicht. Im Gegenteil. Sie hatten klare, laute, lustige, volltönende Stimmen, diese Glocken; und auf dem Rücken des Windes fortgetragen, konnte man sie weithin hören. Sie waren aber viel zu kühne Glocken, als daß sie sich dem Belieben des Windes unterworfen hätten. Denn wenn er ihnen zu launenhaft war, kämpften sie tapfer gegen ihn an und ließen ihre fröhlichen Klänge stolz in ein lauschendes Ohr strömen; sie waren darauf erpicht, in stürmischen Nächten von einer armen Mutter, die bei einem kranken Kinde wachte, oder einer einsamen Frau, deren Gatte zur See war, gehört zu werden. Ja, man weiß sogar, daß sie hin und wieder einen pustenden Nordwest besiegten, ja ihn sogar »in Grund und Boden« schlugen, wie Toby Veck sagte; – denn obgleich man ihn Trotty Veck nannte, hieß er doch Toby, und niemand (außer ihm selbst) konnte ihn ohne ausdrückliche Parlamentsakte zu etwas anderm machen. Er war zu seiner Zeit so gesetzlich getauft worden, wie die Glocken zu der ihrigen, obschon nicht mit ganz so viel Feierlichkeit oder öffentlichem Jubel.

Ich bekenne mich für meinen Teil zu Toby Vecks Glauben; denn ich bin überzeugt, daß er hinreichend Gelegenheit hatte, sich eine richtige Ansicht zu bilden. was daher Toby Veck sagte, sage ich auch, und ich will auf Tobys Seite stehen, obgleich er den ganzen Tag (und das war eine mühsame Arbeit) vor der Kirchentür zu stehen pflegte. Er war nämlich Dienstmann und wartete dort auf Aufträge.

Freilich ein windiger, gänsehäutiger, blaunasiger, rotäugiger, steifzehiger und zähneklappernder Warteplatz zur Winterszeit, wie Toby Veck wohl wußte. Der Wind kam wütend um die Ecke gefahren – insbesondere der Ostwind – als wenn er sich direkt von den Grenzen der Erde aufgemacht hätte, nur um Toby anzuschnauben. Ja, oft schien er den armen Teufel sogar früher zu treffen, als er erwartet hatte; denn wenn er um die Ecke raste und an Toby vorbeifuhr, wirbelte er plötzlich wieder zurück, als wollte er sagen : »Ha, da ist er ja schon!« Unaufhaltsam flog dann Tobys kleine weiße Schürze wie das Röckchen eines unartigen Jungen über seinen Kopf, und man sah das schwache Stöcklein vergeblich in seiner Hand ringen und kämpfen, sah seine Beine in heftige Bewegung geraten, während Toby selbst in schräger Körperhaltung, das Gesicht bald da- bald dorthin wendend, so umhergetrieben und gestoßen wurde, wohl auch zeitweise den Boden unter den Füßen verlor, daß es fast als ein Wunder erschien, wenn er nicht gleich einer Kolonie von Fröschen, Schnecken oder andern tragbaren Geschöpfen in die Luft geführt und an irgendeinem fernen Weltende, wo Dienstmänner unbekannt sind, zum großen Erstaunen der Eingeborenen niedergeregnet wurde.

Windig Wetter war übrigens doch eine Art Festtag für Toby, obschon es ihm so roh zusetzte. Das ist Tatsache. Er schien in dem Wind nicht so lange auf ein Sechspencestück warten zu müssen wie zu andern Reiten. Der Kampf mit dem ungestümen Element lenkte feine Aufmerksamkeit ab und frischte ihn auf, wenn er hungrig oder kleinmütig war. Auch ein harter Frost oder ein Schneegestöber wurde für ihn zu einem Ereignis und schien ihm in der einen oder andern Weise gutzutun, obschon sich der eigentliche Grund nur schwer angeben ließ. Wie dem übrigens sein mochte, Wind, Frost, Schnee und vielleicht ein tüchtiger Hagel waren für Toby Veck die rotgedruckten Tage im Kalender.

Nasses Wetter war das Schlimmste – die kalte, unfreundliche Feuchtigkeit, die ihn wie ein nasser Mantel einhüllte – die einzige Art von Mantel, die Toby sein eigen nennen konnte, auf den er aber doch zur Erhöhung seiner Behaglichkeit gern verzichtet hätte. Die nassen Tage, wenn der Regen langsam, dicht und hartnäckig niederträufelte , wenn die Straßenschlünde wie sein eigner mit schwefeligem Nebel erfüllt waren, wenn dampfende Schirme hin und hergingen und wie ebenso viele Kreisel tanzten, sooft sie auf dem gedrängten Fußweg aneinander anstießen und eine wirbelnde Brause ungemütlicher Tröpfchen von sich schleuderten, wenn die Dachrinnen klatschten und es in den vollen Wassertraufen donnerte, wenn die Nässe von dem vorspringenden Gestein der Kirche -tropf, tropf, tropf- auf Toby niederplumpste und den Strohwisch, auf dem er stand, im Nu zu bloßem Schmutz wandelte – das waren für ihn Tage der Heimsuchung. Und dann konnte man Toby tatsächlich beobachten, wie er ängstlich und mit trostlosem, langem Gesicht aus seinem Schlupfwinkel in einer Ecke der Kirchenmauer hervorguckte. Dieser Zufluchtsort war ein so kärglicher Schutz, daß er zur Sommerszeit nie einen breitern Schatten auf das sonnige Pflaster warf, als ein dicker Spazierstock. Bald aber kam er wieder heraus, um sich durch Bewegung warm zu machen, trottete etliche Male hin und her, was seine Laune wieder aufheiterte, und kehrte dann ganz wohlgemut in seine Nische zurück.

Man nannte ihn Trotty wegen seines Ganges, der wenigstens Eile andeuten sollte. Er hätte vielleicht schneller gehen können; aber würde man ihn seines Trottes beraubt haben, So wäre er krank geworden und gestorben. Dieser Trott bespritzte ihm bei schlechtem Wetter den Rock mit Kot, vernichte ihm zahllose Unannehmlichkeiten und Beschwerden; Toby hätte ungleich müheloser marschieren können – aber das war gerade ein Grund mehr, diese schwierige Gangart krampfhaft beizubehalten. Obschon ein schwaches, schmächtiges altes Männlein, war Toby doch ein wahrer Herkules in seinen guten Absichten. Er hatte eine Freude daran, wenn er sein Geld verdienen konnte. Es gewährte ihm ein großes Vergnügen, zu glauben – Toby war sehr arm und konnte nicht gut auf ein Vergnügen verzichten – daß er seines Lohnes auch wert sei. Mit einem Auftrag, der ihm einen Schilling oder achtzehn Pence eintrug, oder mit einem kleinen Päckchen in der Hand, steigerte sich sein Mut, an dem es ihm nie gebrach, um ein beträchtliches. Wenn er so dahin trabte, pflegte er den schnelleren Briefträgern vor seiner Nase zuzurufen, sie sollten ihm aus dem Weg gehen, weil er nicht anders glaubte, als daß er im Lauf der Dinge sie unausbleiblich einholen und niederrennen müsse; auch lebte er der festen Überzeugung, die freilich nicht oft auf die Probe gestellt wurde, daß er alles zu tragen imstande sei, was ein Mensch zu heben vermöge.

Toby trabte daher auch, wenn er an einem nassen Tag aus seinem Winkel hervorkam, um sich zu wärmen. Er trabte, wenn er mit lecken Schuhen eine krumme Linie wieder zusammenlaufender Fußtapfen durch den Kot zog und, mit gebeugten Knien und sein Rohr unter dem Arm, seine frostigen Hände blies oder gegeneinander rieb, da sie nur ganz ungenügend gegen die schneidende Kälte durch fadenscheinige grauwollene Fäustlinge geschützt waren, an denen nur der Daumen ein eignes Appartement und die übrigen Finger eine gemeinschaftliche Herberge hatten. Desgleichen trabte er, wenn er auf die Straße hinausging, um bei dem Schall der Glocken an dem Turm hinaufzusehen.

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Diesen letztern Ausflug machte er mehrere Male des Tages; denn die Glocken waren gleichsam seine Gesellschaft, und wenn er ihre Stimme hörte, blickte er gern zu ihrem luftigen Wohnsitz hinauf, während er darüber nachdachte, wie sie bewegt wurden und was für Hämmer auf sie schlügen. Vielleicht hatten sie um so mehr Interesse für ihn, weil es zwischen ihnen und ihm selbst Ähnlichkeiten gab. Sie hingen da oben bei jedem Wetter, in Wind und Regen, sahen nur die Außenseite aller jener Häuser, kamen den lodernden Feuern, die durch die Fenster leuchteten oder zu den Schornsteinen herauspusteten, niemals nahe und waren nie imstande, an den guten Dingen teilzunehmen, die ohne Unterlaß durch die Haustüren und Vorhof-Geländer an verschwenderische Köchinnen abgegeben wurden. Viele Gesichter kamen an die Fenster und entfernten sich wieder – bisweilen hübsche Gesichter, jugendliche Gesichter, angenehme Gesichter, hin und wieder aber auch das Gegenteil; doch Toby wußte ebensowenig wie die Glocken (sooft er auch, wenn er müßig in den Straßen stand, Betrachtungen über diese Kleinigkeiten anstellte), woher sie kamen und wohin sie gingen, oder ob im ganzen Jahr nur ein einziges freundliches Wort über ihn gesprochen wurde, wenn sich die Lippen bewegten.

Toby war kein Kasuist – seines Wissens wenigstens nicht – und ich will nicht behaupten, daß er nach und nach sich durch solche Betrachtungen hindurchgerungen oder eine förmliche Heerschau über seine Gedanken abgehalten hatte, ehe er zu den Glocken eine Neigung faßte und seine erste oberflächliche vermittels zarter Fäden zu einem innigeren Bündnis wob. Was ich aber sagen will und auch sage, ist, daß in derselben Weise, wie Tobys körperliche Funktionen, Seine Verdauungsorgane zum Beispiel, vermöge ihrer eignen Schlauheit und ihres mannigfaltigen, ihm unbewußten Zusammenwirkens, dessen Kenntnis ihn nicht wenig in Erstaunen gesetzt haben würde, Zu einem gewissen Ziel gelangten, auch seine geistigen Fähigkeiten, ohne daß er dabei wissentlich tätig war, alle diese Räder und Federn nebst tausend andern in Bewegung setzten, als sie daran arbeiteten, in ihm eine Neigung zu den Glocken wachzurufen.

Und wenn ich gesagt hätte: seine Liebe, so würde ich auch dies Wort nicht zurücknehmen, obgleich es kaum ein passender Ausdruck für seine komplizierte Empfindung gewesen wäre. Denn da er ein ganz einfacher Mensch war, verlieh er ihnen einen wundersamen und feierlichen Charakter. Sie waren so geheimnisvoll, weil man sie oft hörte und nie sah, so hoch oben, so weit weg und so voll tiefer, kräftiger Melodie, daß er mit einer Art von Ehrfurcht zu ihnen aufblickte. Ja, wenn er die dunkeln, gewölbten Fenster im Turm betrachtete, erwartete er bisweilen, es werde ihm etwas zuwinken, das keine Glocke war und doch in jenen Klängen ihm so oft ans Ohr getönt hatte. Dennoch wies Toby mit Entrüstung ein gewisses leises Gerücht zurück, daß die Töne behext seien, weil dadurch die Möglichkeit zugegeben war, sie stünden mit irgend etwas Bösem im Bund. Mit einem Wort, sie tönten sehr oft in seinen Ohren, beschäftigten sehr oft seine Gedanken und standen stets hoch in seiner guten Meinung; oft, wenn er lange mit weit offenem Munde an dem Kirchturm hinaufgeschaut hatte, bekam er einen so steifen Nacken, daß er nachher, um ihn zu kurieren, ein oder zwei Extragetrabe einlegen mußte.

Mit dieser außertourlichen Übung war er an einem kalten Tage gerade beschäftigt, als der letzte schläfrige Ton der Zwölfuhrglocke wie ein melodisches, bienenartiges Ungeheuer, aber keineswegs ein fleißiges Bienchen, durch den ganzen Turm summte.

»Wie, Essenszeit?« sagte Toby, vor der Kirche auf und ab trottend. »Ah!«

Tobys Nase war sehr rot; und seine Augenlider waren sehr rot; und er zwinkerte mächtig; und seine Schultern waren dicht an den Ohren, und seine Beine waren sehr steif, und er war überhaupt auf dem frostigsten Punkt der kühlen Temperatur angelangt.

»So, Essenszeit!« wiederholte Toby, den Fäustling seiner rechten Hand wie einen jugendlichen Boxhandschuh gebrauchend und seine Brust züchtigend, weil sie sich unterstand, zu frieren. »Ah-h-h-h!«

Hierauf schlug er für ein paar Minuten einen stummen Trab an.

»Es gibt nichts..« sagte Toby, aufs neue lostrabend; aber mit einem Male machte er in seinem Trott halt und betastete mit einem Gesicht voll Interesse und auch etwas Unruhe seine Nase sorgfältig von unten bis oben. Er war bald damit fertig, denn der Weg war kurz, da er mit einer Nase nicht allzu reichlich gesegnet war.

»Ich glaubte schon, sie sei pfutsch,« fuhr Toby fort, indem er wieder weiter trabte. »Es stimmt aber alles. Ich könnte sie jedoch wirklich nicht tadeln, wenn sie sich auf und davon machte. Sie hat wohl einen herzlich schweren Dienst in dieser Hundekälte und herzlich wenig zu erwarten – denn ich schnupfe ja nicht. Selbst in den besten Zeiten wird das arme Ding hart geprüft; denn wenn sie schon einmal einen angenehmen Duft erwischt, was auch nicht oft vorkommt, dann entsteigt er gewöhnlich dem Mittagessen eines andern, das von dem Pastetenbäcker nach Hause getragen wird.«

Diese Betrachtung erinnerte ihn an die andre, die er unbeendigt gelassen hatte.

»Es gibt nichts Regelmäßigeres,« fuhr er fort, »als die Wiederkehr der Essenszeit, und nichts Unregelmäßigeres, als die Wiederkehr des Mittagessens selbst. Darin besteht ihr großer Unterschied. Ich habe lange dazu gebraucht, es ausfindig zu machen. Möchte doch wissen, ob sichs nicht für einen Gentleman der Mühe lohnte, diese Beobachtung für die Zeitungen oder für das Parlament zu kaufen!«

Toby meinte dies bloß im Scherz, denn er schüttelte in gravitätischer Verneinung seinen Kopf.

»Du mein Himmel!« sagte er, »die Zeitungen sind voll Beobachtungen, und das Parlament auch. Da habe ich eine Nummer von der letzten Woche« – er zog ein sehr schmutziges Blatt aus seiner Tasche und hielt es auf Armeslänge vor sich hin – »nichts als Beobachtungen – nichts als Beobachtungen! Ich möchte so gerne als irgend jemand Neuigkeiten erfahren,« fügte er langsam bei, indem er den Bogen noch ein wenig kleiner zusammenfaltete und ihn wieder in seine Tasche steckte; »aber es geht mir fast gegen den Magen, jetzt eine Zeitung zu lesen. Ich erschrecke beinahe davor und weiß nicht, wohin es noch mit uns armen Leuten kommen, was uns noch bevorstehen wird. Gott gebe, daß uns im neuen Jahr etwas Besseres bevorsteht!«

»Vater! Vater!« rief eine angenehme Stimme in der Nähe.

Aber Toby hörte sie nicht, sondern fuhr fort, hin und her zu trotten und seine Gedanken laut werden zu lassen.

»Es ist, als ob wir nichts rechtmachen könnten oder uns niemals Recht werden würde,« sagte Toby. »Als ich jung war, habe ich nicht viel gelernt; und ich kann nicht herauskriegen, ob wir auf der Erde etwas zu schaffen haben oder nicht. Manchmal glaube ich es wohl – wenn wir auch nicht viel hier zu tun haben; manchmal aber meine ich wieder, daß wir nur Eindringlinge sind. Mitunter bin ich so verdutzt, daß ich nicht mit mir ins reine kommen kann, ob überhaupt etwas Gutes an uns ist, oder ob uns die Schlechtigkeit angeboren ist. Es sieht aus, als täten wir schreckliche Dinge und fielen ungeheuer beschwerlich; man beklagt sich immer über uns und trifft Verwahrungsmaßregeln. Ob so oder so – jedenfalls sind die Zeitungen von uns voll. Da spricht man von einem Neuen Jahr!« fuhr Toby traurig fort. »Ich kann ebensoviel ertragen wie jemals irgendein Mensch; besser sogar als viele, denn ich bin stark wie ein Löwe, was sich nicht von allen Leuten sagen läßt; aber gesetzt, es wäre wirklich wahr, daß wir kein Recht auf ein Neujahr haben, angenommen, daß wir wirklich nur Eindringlinge sind …«

»Vater! Vater!« ließ sich die liebliche Stimme abermals vernehmen.

Toby hörte es diesmal; er stutzte, blieb stehen, rief seinen Blick zurück, der weitausgerichtet war, als suche er im Herzen des herannahenden Jahres Erleuchtung, und fand sich nun seinem eignen Kinde gegenüber, dem er jetzt ganz nahe in die Augen schaute.

Und es waren glänzende Augen – Augen, in die eine ganze Welt schauen konnte, ohne ihnen auf den Grund zu kommen. Dunkle Augen, die die hineinblickenden Augen widerspiegelten, nicht blitzend oder auf Wunsch der Eigentümerin, sondern mit einem klaren, ruhigen, ehrlichen, geduldigen Glänze, der Anspruch auf die Zugehörigkeit zu jenem Licht erhob, das der Himmel ins Dasein rief. Augen, schön, wahr und hoffnungsstrahlend – mit so junger und frischer, mit so schwungkräftiger und heller Hoffnung, trotz der zwanzig Jahre Arbeit und Armut, die sie gesehen hatten, daß sie für Trotty Veck zu einer Stimme wurden, die ihm sagten »Ich glaube, wir haben hier wohl etwas zu schaffen – wenn auch nicht viel!«

Trotty küßte die Lippen, die zu den Augen gehörten, und drückte das blühende Gesicht zwischen seine Hände.

»Ei, Herzchen,« sagte Trotty, »was gibt’s? Ich habe dich heute nicht erwartet, Meg.«

»Auch ich habe nicht aufs Kommen gerechnet, Vater,« rief das Mädchen, indem es lächelnd nickte. »Aber da bin ich – und obendrein nicht allein; nicht allein!«

»Wie? du willst doch nicht sagen,« bemerkte Trotty, neugierig nach einem bedeckten Korbe blickend, den sie in ihrer Hand »daß du …«

»Riech daran, lieber Vater,« versetzte Meg. »Riech einmal!«

Trotty war eben im Begriff, hastig den Deckel abzuheben, als das Mädchen scherzend mit der Hand dazwischenfuhr.

»Nein, nein, nein,« erwiderte Meg fröhlich wie ein Kind. »So geschwind gehts nicht. Ich will nur den Deckelrand ein klein winzig bißchen aufheben,« fügte sie bei, indem sie ganz sachte ihr Vorhaben ausführte und dabei so leise sprach, als fürchte sie, im Innern des Korbes gehört zu werden. »So. Also, was ists?«

Toby schnüffelte ein klein wenig an dem Rande des Korbes und rief entzückt:

»Ei, ’s ist heiß!«

»’s ist brennend heiß,« versetzte Meg. »Ha ha ha! ’s ist siedend heiß.«

»Ha ha ha!« brüllte Toby mit einem Luftsprung. »’s ist siedend heiß.«

»Aber was ist es, Vater?« fragte Meg. »Vorwärts! Du hast es noch nicht erraten. Und du mußt erraten, was es ist. Ich kann nicht daran denken, es herauszunehmen, bis du es erraten hast. Aber laß dir Zeit! Warte eine Minute! Ich will ein bißchen mehr von dem Deckel zurückschieben. Jetzt rate!«

Meg war wirklich in Angst, er könnte vielleicht zu rasch das Richtige raten, und wich deshalb ein wenig zurück, während sie ihm den Korb hinhielt, indem sie zugleich ihre hübschen Schultern in die Höhe zog und das Ohr mit der Hand zuhielt als könne sie in dieser Weise das richtige Wort von Tobys Lippen fernhalten. Dabei ließ sie immer ein sanftes Lachen hören.

Toby hatte mittlerweile die Hände auf seine Knie gelegt, seine Nase zu dem Korb niedergebeugt und sog nun den Duft außerhalb des Deckels tief ein. Während dieser angenehmen Beschäftigung verbreitete sich sein Grinsen immer mehr über das welke Gesicht, als atme er pures Lachgas.

»Ah, das riecht prächtig,« sagte Toby. »Ist es nicht – es werden doch keine Schweinswürste sein?«

»Nein, nein, nein!« rief Meg entzückt. »Etwas ganz andres!«

»Nein,« fuhr Toby nach einem abermaligen Schnüffeln fort, »es ist – es ist zarter als Schweinswürste. Es riecht ausgezeichnet und mit jedem Augenblick besser. Der Geruch ist zu stark für Kalbsfüße – nicht wahr?«

Meg war außer sich vor Freude. Er hätte nicht weiter vom Ziele abschießen können als mit Kalbsfüßen – Schweinswürste ausgenommen.

»Leber?« sagte Toby zu sich selber. »Nein. Der Geruch hat eine Milde, die sich an der Leber nicht findet. Ferkelfüßchen? Nein. Er ist zu stark für Ferkelfüße. Auch fehlt ihm der Beigeschmack der Hahnenköpfe. Und ich weiß, Würste sinds auch nicht. Ich will dir sagen, was drinnen ist – Kalbsgekröse!«

»Nein, nein,« erwiderte Meg, vor Entzücken aufjubelnd. »Nicht erraten!«

»Ei, woran denke ich auch!« entgegnete Toby, plötzlich eine so aufrechte Stellung einnehmend, als ihm möglich war. »Ich werde zuletzt noch meinen eignen Namen vergessen. ’s sind Kuttelflecke!«

Und Kuttelflecke waren es auch. Und Meg beteuerte in strahlender Freude, er werde in einer weitern halben Minute sagen, es seien die besten Kuttelflecke, die jemals gedünstet wurden.

»Und so will ich jetzt gleich den Tisch decken, Vater,« fuhr Meg fort, indem sie sich jubelnd mit dem Korbe beschäftigte; »denn ich habe die Kuttelflecke in einer Schüssel gebracht und die Schüssel in ein Taschentuch eingebunden. Wenn ich nun einmal stolz sein und es als Tischtuch ausbreiten will, so kann mich kein Gesetz hindern, es Tischtuch zu nennen. Nicht wahr, Vater?«

»Nicht daß ich wüßte, meine Liebe,« sagte Toby. »Aber sie erlassen alle Augenblicke ein oder das andre neue Gesetz.«

»Und nach dem, was ich dir neulich aus der Zeitung vorlas, Vater, weißt du noch, was der Richter sagte, setzt man bei uns armen Leuten voraus, daß wir alle diese Gesetze kennen. Ha ha ! welch ein Irrtum! du meine Güte, sie halten uns für gewaltig gescheit.«

»Ja, meine Liebe,« rief Trotty, »und sie würden eine gewaltige Freude an einem von uns haben, wenn er sie alle wüßte. Er würde fett werden von der Arbeit, die er kriegte, dieser Mann, und er kriegte einen Stein im Brett bei all den vornehmen Leuten in seiner Nachbarschaft. Gewiß und wahrhaftig!«

»Wer er auch sein möchte, er würde sein Mittagessen mit gutem Appetit verschmausen, wenn es so gut duftete wie dieses hier,« sagte Meg fröhlich. »Beeile dich, Vater, denn da ist außerdem auch noch eine heiße Kartoffel und ein Seidel frisch abgezogenen Bieres in einer Flasche. Wo willst du essen, Vater? In der Nische oder auf den Stufen? Du mein Himmel, wie gut wirs haben — zwei Plätze zur Auswahl!«

 

»Heute die Stufen, mein Kind,« versetzte Trotty. »Bei trockenem Wetter sind die Stufen, bei nassem die Nische gut. Stufen sind immer bequemer, weil man dabei sitzen kann; aber wenns naß ist, kriegt man Rheumatismus.«

»Hier also,« sagte Meg, nachdem sie sich eine halbe Minute eifrig zu schaffen gemacht hatte und nun in die Hände klatschte; »hier ist es – alles bereit – und wie schön es aussieht! Komm, Vater, komm!«

Seit Trotty entdeckt hatte, was in dem Körbchen war, stand er da und sah Meg an – sprach auch ab und zu – aber in einer zerstreuten Weise, welche bekundete, daß er, obschon sie allein seine Gedanken und Augen beschäftigte – nicht einmal die Kuttelflecke konnten ihn ihr untreu machen – nicht im entferntesten an sie dachte, wie sie in jenem Augenblicke war, sondern irgendein visionäres, undeutliches Bild oder ein Drama ihres künftigen Lebens vor sich hatte. Durch ihre heitere Aufforderung geweckt, unterdrückte er nun ein melancholisches Kopfschütteln, das ihn eben anwandelte, und trabte an ihre Seite. In demselben Augenblick, als er sich niederbeugte, um seinen Sitz einzunehmen, erklangen die Glocken.

»Amen!« sagte Trotty, seinen Hut abnehmend und nach denselben aufblickend.

»Amen den Glocken, Vater?« rief Meg.

»Sie fielen ein wie ein Tischgebet, meine Liebe,« sagte Trotty, indem er Platz nahm. »Ich bin überzeugt, sie würden ein gutes sprechen, wenn sie könnten, und sagen mir überhaupt manches Liebe.«

»Die Glocken, Vater?« lachte Meg, als sie die Schüssel niedersetzte und Messer und Gabel dazulegte. »Der Tausend!«

»Sie scheinens zu tun, mein Herzchen,« versetzte Trotty, indem er mit Eifer über seine Kuttelflecke herfiel. »Und worin liegt da der Unterschied? Wenn ich sie nur höre, was macht es aus, ob sie es wirklich sagen oder nicht? Gott behüte, mein Kind,« fügte er bei, indem er mit der Gabel nach dem Turm deutete und unter dem Einfluß seines Mahles lebhafter wurde, »wie oft habe ich jene Glocken nicht sagen hören: ›Toby Veck, Toby Veck, sei guten Mutes! Toby! Toby Veck, Toby Veck, sei guten Mutes, Toby!‹ Millionenmal? Reicht nicht – ’s war öfter!«

»Nun, das habe ich noch nie gehört!« rief Meg.

Dennoch war es schon oft und oft der Fall gewesen, denn es war Tobys unaufhörlicher Gesprächsgegenstand.

»Wenn es recht schlecht geht,« fuhr Trotty fort; »ich meine, wenn es recht schlecht geht – fast am schlechtesten, dann rufen sie: ’Toby Veck, Toby Veck, bald kommt Arbeit, Toby! Toby Veck, Toby Veck, bald kommt Arbeit, Toby!’«

»Und sie kommt dann auch – endlich, Vater, – versetzte Meg mit einem Anflug von Trauer in ihrer lieblichen Stimme.

»Immer,« erwiderte der arglose Toby. »Bleibt nie aus.«

Während dieses Gesprächs machte Trotty keine Pause in seinen Angriffen auf das würzige Mahl vor ihm, sondern schnitt ab und aß, schnitt ab und trank, schnitt ab und kaute, kam von den Kuttelflecken zu den heißen Kartoffeln und von den heißen Kartoffeln wieder zu den Kuttelflecken mit breitem, unermüdlichem Behagen zurück. Als er endlich um die Straßenecke sah, um sich zu überzeugen, ob man nicht von irgendeiner Türe oder einem Fenster nach einem Dienstmann winkte, begegneten seine Augen auf dem Rückweg dem Mädchen, das mit verschlungenen Armen ihm gegenüber saß und mit glücklichem Lächeln seinem emsigen Geschäft zusah.

»Ach, Gott verzeih mir!« rief Trotty, indem er sein Messer und seine Gabel fallen ließ. »Meg, mein Täubchen, warum sagst du mir nicht, was ich für ein Vieh bin?«

»Vater!«

»Sitze ich da«, fuhr Trotty in reuiger Erklärung fort, »und stopfe mich voll, während du vor mir bist, ohne auch nur ein bißchen dein Fasten zu unterbrechen noch den Wunsch dazu zu äußern, während …«

»Aber ich habe mein Fasten schon gebrochen, Vater, und zwar ausgiebig,« unterbrach ihn seine Tochter lachend. »Ich habe mein Mittagessen bereits gehabt.«

»Sprich keinen Unsinn,« versetzte Trotty. »Zwei Mittagessen an einem Tag? Nicht möglich! Du könntest mir ebensogut sagen, daß zwei Neujahrstage auf einmal kommen, oder daß ich mein ganzes Leben über ein Goldstück gehabt habe, ohne es je wechseln zu lassen.«

»Dennoch habe ich schon zu Mittag gegessen, Vater,« sagte Meg, näher herankommend; »und wenn du deines weiter ißt, will ich dir sagen, wie und wo dein Mittagessen zustande kam und – und noch etwas andres dazu.«

Toby machte noch immer eine ungläubige Miene; aber sie sah ihm mit ihren klaren Augen ins Gesicht, legte ihre Hand auf seine Schulter und winkte ihm, weiterzuessen, solange das Fleisch noch warm sei. Trotty nahm daher Messer und Gabel wieder auf und schickte sich zur Arbeit an; sie ging aber viel langsamer vonstatten als zuvor, und er schüttelte den Kopf, als sei er durchaus nicht mit sich zufrieden.

»Ich habe schon gespeist, Vater,« sagte Meg nach einigem Zögern, »mit – mit Richard. Er ißt früh, und da er sein Mittagessen mitbrachte, als er mich besuchte, so – so verzehrten wir es miteinander, Vater.«

Trotty nahm ein Schlücklein Bier und schmatzte mit den Lippen. Dann sagte er »oh!« – weil sie darauf wartete.

»Und Richard sagt, Vater …«, nahm Meg wieder auf. Dann stockte sie abermals.

»Was sagt Richard, Meg?« fragte Toby.

»Richard sagt, Vater …« Neues Stocken.

»Richard braucht lange, bis er etwas sagt,« bemerkte Toby.

»Nun ja, Vater, er sagt,« fuhr Meg fort, indem sie endlich ihre Augen erhob und in bebendem, obschon völlig deutlichem Ton sprach, »es sei wieder ein Jahr beinahe herum, und was es nütze, von einem Jahr auf das andre zu warten, wenn es doch so unwahrscheinlich ist, daß es uns je besser als jetzt ergehen werde. Er sagt, Vater, wir seien jetzt arm und würden auch dann arm sein; aber wir seien jung, und die Jahre würden uns alt machen, ehe wir es wüßten. Er meint, wenn Leute in unsrer Lage warten wollten, bis wir unsern Weg klar vor uns sähen, so würde er wohl recht eng werden – der gemeinschaftliche Weg – das Grab, Vater.«

Sogar ein kühnerer Mann als Trotty Veck hätte alle seine Kühnheit zusammennehmen müssen, um dies in Abrede zu stellen; er blieb daher lieber still.

»Und wie hart ist es, Vater, alt zu werden und zu sterben, wenn wir daran denken, daß wir einander hätten Freude machen und helfen können! Wie hart ist es, sein ganzes Leben über einander liebzuhaben und sich doch getrennt zu sehen, jeden für sich abhärmen zu sehen und zuschauen zu müssen, wie der andre arbeitet, sich verändert, alt und grau wird. Selbst wenn ich es überwinden und ihn vergessen könnte, was nie möglich ist – o lieber Vater, wie schwer wäre es dann, ein Herz zu haben, so voll wie das meinige jetzt ist, und das Leben langsam, tropfenweise verrinnen zu sehen, ohne einen Rückblick auf einen einzigen glücklichen Augenblick, der mich trösten und besser machen könnte!«

Trotty blieb mäuschenstill. Meg trocknete ihre Augen und fuhr heiterer fort – das heißt manchmal unter Lachen und manchmal unter Schluchzen und dann wieder lachend und Schluchzend zu gleicher Zeit:

»Richard sagt daher, Vater, da er gestern für soundso lange eine feste Beschäftigung erhalten habe und ich ihn schon volle drei Jahre liebe – ach, es ist schon länger her, wenn er es nur wüßte! – So solle ich mich am Neujahrstag mit ihm zusammengeben lassen: der beste und glücklichste Tag im ganzen Jahr, sagt er, einer, bei dem man fast sicher annehmen kann, daß er Glück mit sich bringt. Das ist eine kurze Frist – nicht wahr, Vater? – aber ich habe ja kein Vermögen in Ordnung zu bringen und keine Hochzeitskleider machen zu lassen, wie die vornehmen Damen; nicht wahr, Vater? – Und er sagte so viel und sagte es in so nachdrücklicher, ernster, aber doch so sanfter und freundlicher Weise, daß ich ihm versprach, ich wolle mit dir darüber sprechen, Vater. Und da mir ganz unerwarteterweise heute morgen das Geld für meine Arbeit ausbezahlt wurde, und du während der ganzen Woche nur ein armseliges Essen gehabt hast, und ich den Wunsch nicht zurückdrängen konnte, daß etwas getan werden müßte, was dir den heutigen Tag zu einem Feiertag macht, wie er für mich ein glücklicher Tag ist, so kochte ich diesen Festschmaus und brachte ihn dir als Überraschung.«

»Und siehst nun, wie er ihn auf der Treppe kalt werden läßt!« ließ sich eine andre Stimme vernehmen.

Es war die Stimme desselbigen Richard, der unbemerkt herangekommen war und nun vor Vater und Tochter stand. Er blickte mit einem Gesicht auf sie nieder, so glühend wie das Eisen, auf dem täglich sein schwerer Schmiedehammer erklang. Richard war ein schöner, wohlgebauter, kräftiger Bursche mit Augen, die gleich den rotglühenden Funken eines Essenfeuers sprühten. Sein schwarzes Haar kräuselte sich üppig um die dunklen Schläfen, und sein Lächeln – ein Lächeln, das Megs Lob über seinen Konversationsstil beträchtlich unterstützte.

»Und siehst, wie er ihn auf der Treppe kalt werden läßt!« sagte Richard. »Meg weiß nicht, was er liebt – nein, gewiß nicht!«

Voll Behendigkeit und Feuer reichte Trotty augenblicklich Richard die Hand und wollte eben eine hastige Erwiderung geben, als unversehens die Haustür aufging und ein Bedienter beinahe seinen Fuß in die Kuttelflecke setzte.

»Aus dem Wege da! Müßt Ihr Euch denn immer auf unsre Stufen setzen, und könnt Ihr nicht auch einmal die eines Nachbars dazu nehmen? Ich frage, ob ihr den Weg räumen wollt!«

Genau genommen war die letzte Aufforderung ganz unnötig, weil sie ihr bereits nachgekommen waren.

»Was gibts da?« sagte der Gentleman, für den die Tür geöffnet worden war, und der jetzt mit jenem leichtschweren Tritt aus dem Hause kam, den man so häufig bei Gentlemen antrifft, die die zweite, absteigende Hälfte ihres Lebens sorgenlos genießen, wenn sie, ohne ihrer Würde etwas zu vergeben, mit knarrenden Stiefeln, Uhrketten und reinen Hemden aus ihren Häusern kommen und in ihrer Miene ausdrücken, daß sie irgendwo eine wichtige, viel Geld einbringende Beschäftigung haben. »Was gibts da? Was gibts da?«

»Muß man Euch denn immer auf den Knien bitten,« fuhr der Bediente mit großem Nachdruck gegen Trotty Veck fort, »unsre Türtreppen sein zu lassen? Warum kommt Ihr denn immer wieder? Könnt Ihr nicht einmal wegbleiben?«

»Schon gut! Das genügt! Das genügt!« sagte der Gentleman. »Heda, Dienstmann!« Er bedeutete Trotty Veck durch eine Kopfbewegung, näher zu treten. »Kommt her da. Was ist dies – Euer Mittagessen?«

»Ja, Sir,« versetzte Trotty, seine Schüssel in einer Ecke stehen lassend.

»Laßt es nicht dort, sondern bringt es her, bringt es her!« rief der Gentleman. »So; das ist also Euer Essen, wie?«

»Ja, Sir,« antwortete Trotty, mit festem Blick und wässerndem Mund den letzten Brocken ängstlich verfolgend, den er sich als köstlichen Schlußbissen aufgehoben hatte, und den nun der Gentleman an dem Gabelende um und um drehte.

Mit ihm waren auch zwei andere Gentlemen herausgekommen. Der eine, ein niedergeschlagenes, schmächtiges Männchen von mittlerem Alter und mit einem trostlosen Gesicht, hielt Seine Hände unaufhörlich in den schlappohrigen Taschen seiner knappen Pfeffer- und Salzhosen versteckt und schien mit der Bürste oder Seife keine sonderlich intime Bekanntschaft zu unterhalten. Der andre war ein großer, geschmeidiger, gut angezogener Gentleman in einem blauen Rock mit gelben Knöpfen und weißer Krawatte. Dieser hatte ein sehr rotes Gesicht, als ob ihm ein ungebührlicher Anteil Blut nach dem Kopf gedrängt worden sei, was vielleicht auch der Grund war, daß er ziemlich kaltherzig aussah.

Derjenige, welcher Tobys Fleisch an der Gabel hatte, rief nun den ersten Gentleman, den er Filer nannte, heran, und dieser, der sehr kurzsichtig war, mußte zur Untersuchung von Tobys noch übrigem Mittagsmahl seinen Kopf so nahe an den Leckerbissen bringen, daß Toby das Herz bis zum Hals schlug. Aber Herr Filer aß ihn nicht.

»Das ist eine Art von animalischer Kost, Alderman,« sagte Filer, indem er mit einem Bleistift kleine Löcher hineinstach, »die gemeiniglich bei der arbeitenden Klasse dieses Landes unter dem Namen Kuttelflecke bekannt ist.«

Der Alderman lachte und blinzelte – denn Alderman Cute war ein lustiger Knabe und dabei auch ein schlauer, verschmitzter Bursche, der über alles ein wachsames Auge hatte und sich nicht hintergehen ließ. Ja, er sah tief in die Herzen der Leute! Er kannte sie gut, dieser Cute. Das will ich glauben!

»Aber wer ißt Kuttelflecke?« fuhr Herr Filer fort, indem er umherschaute. »Kuttelflecke sind ausnahmslos der unökonomischste und verschwenderischste Konsumartikel, den die Märkte diesem Landes nur hervorbringen können. Man hat gefunden, daß ein Pfund Kuttelflecke durch Sieden sieben Vierzigstel mehr verliert, als ein Pfund jeder andern animalischen Nahrung. Kuttelflecke sind also verhältnismäßig kostspieliger, als die Treibhaus-Ananas. Wenn man die Anzahl der jährlich geschlachteten Tiere in Betracht zieht und einen niedrigen Überschlag über die Menge von Kuttelflecken macht, die die Leiber dieser – vorausgesetzt verständig – geschlachteten Tiere liefern, so stellt sich heraus, daß man von dem Sudverlust der Kuttelflecke allein eine Garnison von fünfhundert Mann fünf Monate lang, jeder zu einunddreißig Tagen gerechnet, und noch einen Februar dazu, viktualisieren könnte. Welche Vergeudung – Vergeudung!«

Trotty stand entsetzt da, und die Knie zitterten unter ihm. Er schien eigenhändig eine Garnison von fünfhundert Mann ausgehungert zu haben.

»Wer ißt Kuttelflecke?« fuhr Herr Filer mit Wärme fort. »Wer ißt Kuttelflecke?«

Trotty machte eine klägliche Verbeugung.

»Ihr also, Ihr?« sagte Herr Filer. »So will ich Euch etwas bedeuten. Ihr reißt Eure Kuttelflecke aus dem Munde der Witwen und Waisen, mein Freund.«

»Ich hoffe nicht, Sir,« versetzte Trotty mit matter Stimme. »Lieber wollte ich verhungern!«

»Teilt man die Menge der vorerwähnten Kuttelflecke durch die geschätzte Anzahl von existierenden Witwen und Waisen, Alderman,« nahm Herr Filer wieder auf, »so trifft auf jeden Kopf für ungefähr einen Penny. Für diesen Mann da bleibt kein Gran übrig – folglich ist er ein Räuber.«

Trotty war so erschüttert, daß er sich nichts daraus machte, als er den Alderman seinen letzten Leckerbissen verzehren sah. Es war ihm eine Erlösung, von diesem irgendwie befreit zu werden.

»Und was sagt Ihr?« fragte der Alderman scherzhaft den rotgesichtigen Gentleman in blauem Rock. »Ihr habt Freund Filer gehört. Was sagt Ihr

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»Was läßt sich da auch möglicherweise sagen?« entgegnete der Gentleman. »Was läßt sich überhaupt sagen? Wer kann sich in so schlechten Zeiten für einen Menschen wie diesen da (er meinte Trotty) interessieren? Schaut ihn an! Welch ein Gegenstand! O die guten alten Zeiten, die herrlichen alten Zeiten, die großartigen alten Zeiten! Das waren die Zeiten für ein kühnes Bauernvolk und dergleichen mehr. Das waren tatsächlich die Zeiten für alles und jedes. Heutzutage gibt es dergleichen nicht mehr. Ach!« seufzte der rotgesichtige Gentleman. »Die guten alten Zeiten , die guten alten Zeiten!«

Der Gentleman setzte nicht näher auseinander, was für besondre Zeiten er meinte, und ließ sich ebensowenig darauf ein, was er an der gegenwärtigen aussetzen hatte, weil er sich wahrscheinlich bewußt war, daß sie nichts sehr Merkwürdiges geleistet hatte dadurch, daß sie ihn ins Leben gerufen.

»Die guten alten Zeiten , die guten alten Zeiten,« wiederholte der Gentleman. »Was waren das für Zeiten! Das waren noch die einzigen Zeiten. Wozu nützts auch, von andern Zeiten zu reden oder sich darüber auszulassen , was die Leute in diesen Zeiten sind. Ihr werdet sie doch nicht etwa Zeiten nennen wollen? Ich wenigstens tue es nicht. Betrachtet nur einmal Strutts Kostüme und seht, was ein Dienstmann während irgendeiner der guten alten englischen Regierungen zu sein pflegte.«

»Wenn es ihnen recht gut ging, so hatten sie nicht einmal ein Hemd auf dem Leib oder Strümpfe an den Füßen, und in ganz England wuchs für sie kaum ein einziges Gemüse,« sagte Herr Filer. »Ich kann dies durch Tabellen beweisen.«

Aber dennoch pries der rotgesichtige alte Gentleman die guten alten Zeiten, die herrlichen Zeiten, die großartigen Zeiten. Es war ganz gleichgültig, was ein andrer sagte; er haspelte unaufhörlich dieselben Phrasen von den alten Zeiten ab, wie ein armes Eichhörnchen seine Tretmühle abhaspelt, von deren Mechanismus und Ränken es wahrscheinlich ebenso klare Vorstellungen hat, wie dieser rotgesichtige Gentleman von seinem verschwundenen tausendjährigen Reich hatte.

Möglich, daß der Glaube des armen alten Trotty an diese sehr verworrenen alten Zeiten nicht ganz zerstört wurde, denn er fühlte sich in jenem Augenblick verwirrt genug; so viel aber wurde ihm in seiner Not klar, daß, wie sehr auch diese Gentlemen im einzelnen verschiedener Meinung sein mochten, seine Bedenken von heute morgen und von vielen andern Morgen ganz begründet waren.

»Nein, nein, wir können nichts rechtmachen,« dachte Trotty in Verzweiflung. »Es ist nichts Gutes in uns. Wir werden bereit schlecht geboren!«

Aber Trotty hatte ein Vaterherz in seinem Innern, das trotz dieser göttlichen Verordnung irgendwie sich in seine Brust geschwindelt hatte, und konnte es nicht ertragen, daß diese weisen Gentlemen Meg, deren Wangen noch vor Freude strahlten, ihr Schicksal weissagen sollten. »Gott helfe ihr,« dachte der arme Trotty; »sie wird es bald genug kennen lernen.«

Er gab daher dem jungen Schmied ängstlich durch Zeichen zu verstehen, daß er sie fortnehmen möchte; aber Richard plauderte in einiger Entfernung so angelegentlich mit ihr, daß ihm dieser Wunsch erst zu gleicher Zeit mit dem Alderman Cute deutlich wurde. Der Alderman hatte sein Sprüchlein noch nicht angebracht; aber er war ein Philosoph – und obendrein ein praktischer, o ein sehr praktischer Philosoph, und da er sichs nicht einfallen ließ, auf einen Teil seiner Zuhörerschaft zu verzichten, so rief er:

»Halt«

»Ihr wißt,« sagte der Alderman mit einem selbstgefälligen Lächeln, das gewöhnlich um seine Lippen spielte, zu seinen beiden Freunden, »ich bin ein einfacher, praktischer Mann und liebe es, in einfacher, praktischer Weise zu Werke zu gehen. Das ist so meine Art. Es ist durchaus nicht schwer, und es steckt kein Geheimnis dahinter, mit derartigen Leuten umzugehen , wenn man sie nur versteht und in ihrer eignen Weise mit ihnen sprechen kann. Hört also, Dienstmann! Bemüht Euch nur ja nicht, mein Freund, mir oder jemand anderm weiszumachen, Ihr hättet nicht immer vom Besten und im Überfluß zu essen; ich weiß das besser. Ihr wißt, ich habe Eure Kuttelflecke gekostet , und Ihr könnt mich nicht beschummeln. Ihr wißt , was ›beschummeln‹ bedeutet, he? Das ist das rechte Wort – nicht wahr? Du mein Himmel,« fuhr der Alderman gegen seine Freunde fort, »es ist das allerleichteste von der Welt, mit derartigen Leuten zu verkehren, wenn man sie nur versteht.«

Ein famoser Mann für das gemeine Volk, der Alderman Cute! Nie aufgebracht über sie! Ein umgänglicher, gesprächiger, scherzhafter, gescheiter Herr!

»Ihr seht, mein Freund,« fuhr der Alderman fort, »man spricht da viel Unsinn vom Mangel und ›Schlechtgehen‹ – nicht wahr, so nennt mans? Ha ha ha! – aber ich gedenke, das Geschrei zu widerlegen. ’s ist nachgerade Mode, viel übers Verhungern zu deklamieren; aber ich will der Sache einen Riegel vorschieben. Gott weiß,« fuhr der Alderman gegen seine Freunde fort, »man kann solchen Leuten alles legen, wenn man nur weiß, wie mans anzugreifen hat!«

Trotty ergriff Megs Hand und zog sie durch seinen Arm, ohne eigentlich recht zu wissen, was er tat.

»Eure Tochter, he?« fragte der Alderman, sie vertraulich unter das Kinn fassend.

Stets leutselig gegen die arbeitende Klasse – der Alderman Cute! Wußte, was ihnen gefiel! Kein bißchen stolz!

»Wo ist ihre Mutter?« fragte der würdige Gentleman.

»Tot,« antwortete Toby. »Ihre Mutter verfertigte Wäsche und wurde in den Himmel abberufen, als Meg auf die Welt kam.«

»Vermutlich wird sie dort keine Wäsche verfertigen,« bemerkte der Alderman scherzhaft.

Toby konnte oder wollte sich vielleicht auch nicht seine Frau im Himmel ohne ihre gewöhnliche Beschäftigung vorstellen. Die Frage ist: wenn Frau Alderman Cute gegen Himmel gefahren wäre, würde sich Herr Alderman Cute seine Gattin so vorgestellt haben, daß sie dort Staat macht und eine hohe Stellung einnimmt?

»Und Ihr macht ihr den Hof, he?« fragte Cute den jungen Schmied.

»Ja,« entgegnete Richard hastig, denn die Frage brannte ihn wie eine Nessel. »Und wir werden am Neujahrstag heiraten.«

»Was sagt Ihr da?« rief Herr Filer scharf. »Heiraten?«

»Nun ja, wir denken daran, Herr,« versetzte Richard. »Ihr seht, wir müssen ein bißchen eilen, für den Fall, daß man uns vielleicht unser Vorhaben ›legen‹ würde.«

»Ah!« rief Filer mit einem Stöhnen. »Jawohl, Alderman, wenn Ihr dies legen könntet, so würdet Ihr etwas tun. Heiraten! heiraten!! Die Unwissenheit dieser Leute in den ersten Grundsätzen der Staatsökonomie, ihr Unverstand und ihre Gottlosigkeit sind, beim Himmel, genug, um – na, seht mir nur einmal dieses Paar an!«

Ei ja, man durfte sie wohl ansehen – und das Heiraten schien eine so vernünftige und billige Handlung zu sein , daß sie es wohl in Betracht ziehen durften.

»Man kann so alt werden wie Methusalem«, sagte Herr Filer, »und sich sein ganzes Leben über zum Besten solcher Leute abmühen; man kann berghoch Zahlen von Tatsachen, Zahlen von Tatsachen und Zahlen von Tatsachen aufhäufen, aber vergeblich hofft man, sie zu überzeugen, daß sie keine Befugnis und kein Recht haben, zu heiraten – ebensowenig als man sie zu belehren vermag, wie ihnen alle Befugnis abgeht, geboren zu werden. Und daß dies der Fall ist, wissen wir recht wohl, da wirs längst zu einer mathematischen Gewißheit erhoben haben.«

Alderman Cute war ungemein aufgeräumt und legte seinen rechten Zeigefinger an die Seite seiner Nase, als wollte er zu seinen beiden Freunden sagen: »Seid nun so gut, auf mich achtzugeben. Richtet euer Augenmerk auf den praktischen Mann!« – Dann rief er Meg heran.

»Kommt her, mein Mädchen!« sagte Alderman Cute. Das junge Blut ihres Liebhabers war in den letzten paar Minuten zornig aufgewallt, und er hatte keine Lust, sie gehen zu lassen. Dennoch tat er sich Zwang an, trat, als sich Meg näherte, mit einem großen Schritt vor und stellte sich an ihre Seite. Trotty hielt noch immer ihre Hand unter seinem Arm, blickte aber so wirr wie ein Schläfer im Traum von Gesicht zu Gesicht.

»Ich will Euch jetzt ein paar Wörtchen als guten Rat geben, mein Mädchen,« sagte der Alderman in seiner leichten, angenehmen Weise. »Ihr wißt, daß es mir zusteht, Rat zu erteilen, weil ich Friedensrichter bin. Es ist Euch wahrscheinlich bekannt, daß ich die Stellung eines Friedensrichters innehabe?«

Meg antwortete schüchtern mit ja. Aber jedermann wußte, daß Alderman Cute ein Friedensrichter war – und, o mein Gott, welch ein tätiger Friedensrichter! Nie gab es einen so glänzenden Splitter im Auge der Öffentlichkeit als Cute.

»Ihr wollt also heiraten , sagt Ihr?« fuhr der Alderman fort. »Das ist sehr unschicklich und unzart von einer Person Eures Geschlechts! Doch reden wir nicht davon. Wenn Ihr geheiratet habt, werdet Ihr mit Euerm Mann streiten und ein unglückliches Weib werden. Ihr glaubts vielleicht nicht, aber Ihr werdet es mit der Zeit, weil ichs Euch sage. Ich warne Euch deshalb ehrlich und bemerke Euch zum voraus, daß ich mir vorgenommen habe, auch den unglücklichen Weibern einen Riegel vorzuschieben. Mir dürft Ihr nicht kommen. Ihr werdet Kinder kriegen – Jungen. Diese Jungen wachsen auf bösen Wegen auf und laufen ohne Schuhe und Strümpfe wild durch die Straßen. Merkt Euch dies, meine junge Freundin – ich werde sie samt und sonders summarisch einstecken lassen, denn ich bin entschlossen, auch den Buben ohne Schuhe und Strümpfe das Handwerk zu legen. Vielleicht stirbt Euer Mann jung (sehr wahrscheinlich) und läßt Euch mit einem Säugling zurück. Man weist Euch dann die Tür, und Ihr müßt auf der Straße umherwandern. Kommt aber nur mir nicht in die Nähe, meine Liebe, denn ich bin entschlossen, es allen wandernden Müttern zu legen. Ja, ich bin entschlossen, es allen jungen Müttern, welcher Art und von welchem Schlag sie sein mögen, zu legen. Glaubt nicht, Ihr könnt Euch mit Krankheit oder mit Säuglingen vor mir entschuldigen, denn ich habe mir vorgenommen, es allen kranken Personen und kleinen Kindlein (hoffentlich kennt Ihr die Stelle im Gebetbuch, ich fürchte aber, nein) zu legen; und wenn Ihr gar verzweifelt, undankbar, gottlos und betrügerisch einen Versuch macht, Euch zu ersäufen oder zu hängen, So will ich kein Mitleid mit Euch haben, denn ich bin festen Willens, es auch dem Selbstmord zu legen! Wenn es etwas gibt,« fuhr der Alderman mit einem selbstgefälligen Lächeln fort, »von dem ich sagen kann, daß mein Sinn mehr darauf erpicht sei als auf etwas andres, so ist es das Legen des Selbstmordes. Probierts also nicht erst! Ha ha! Jetzt verstehen wir einander.«

Toby wußte nicht, sollte er sich mehr grämen oder freuen, als er bemerkte , daß Meg totenblaß wurde und die Hand ihres Verlobten fallen ließ.

»Und was Euch betrifft, Ihr junger Bullenbeißer,« fuhr der Alderman fort, indem er sich mit erhöhter Heiterkeit und Leutseligkeit an den jungen Schmied wandte, »was fällt Euch denn ein, daß Ihr heiraten wollt? Wozu braucht Ihr überhaupt das Heiraten, Ihr einfältiger Mensch? Wenn ich ein hübscher, starker junger Bursche wäre wie Ihr, so würde ich mich schämen, so milchsuppig zu sein, um mich an die Schürzenbänder eines Weibes zu hängen! Sie ist ein altes Weib, bevor Ihr ein Mann in den besten Jahren seid! Und Ihr werdet dann eine schöne Figur machen, wenn Euch auf Schritt und Tritt eine Schmutzliese von Frau und ein Haufen krakeelender Kinder nachschreien!«

Oh, wie angenehm wußte Alderman Cute mit den gemeinen Leuten zu scherzen!

»So – jetzt packt Euch und bereut,« sagte der Alderman. »Macht keine solchen Narren aus Euch, am Neujahrstag zu heiraten. Bevor sich dieser Tag jährt, seid Ihr längst andrer Meinung – so ein schmucker junger Bursche wie Ihr, nach dem sich alle Mädels den Hals ausrecken. Also! Geht jetzt!«

Und sie gingen. Nicht Arm in Arm, Hand in Hand oder leuchtende Blicke austauschend: sondern sie in Tränen, er aber düster und niedergeschlagen. Waren dies die Herzen, die erst kürzlich noch das des alten Toby aufhüpfen machten aus seiner Schwäche? Nein, nein. Der Alderman – Segen über sein Haupt! – hatte es ihnen ›gelegt‹.

»Da Ihr zufällig hier seid,« sagte der Alderman zu Toby, »so könnt Ihr mir einen Brief besorgen. Wie stehts aber mit der Geschwindigkeit? – Ihr seid ein alter Mann.«

Toby, der ganz betäubt Meg nachgesehen hatte, versuchte zu murmeln, daß er sehr hurtig und recht gut bei Kräften sei.

»Wie alt seid Ihr?« fragte der Alderman.

»Sechzig vorbei, Sir,« versetzte Toby.

»Der Mann hat das Durchschnittsalter weit überschritten,« fiel Herr Filer ein, als ob seine Geduld wohl einer Heimsuchung fähig sei, dies aber wirklich die Sache ein wenig zu weit treiben heiße.

»Ich spüre wohl, daß ich zur Last bin, Sir,« sagte Toby. »Ich – ich habs schon heute morgen geargwöhnt. Ach du mein Himmel!«

Der Alderman unterbrach ihn, indem er einen Brief aus seiner Tasche zog und ihn Toby Veck übergab. Letzterer würde dazu auch einen Schilling erhalten haben; da aber Herr Filer deutlich bewies, daß er in diesem Fall eine gewisse gegebene Anzahl von Personen je um neuneinhalb Pence bringe, so erhielt er nur ein Sechspencestück und war schon darüber überglücklich.

Dann gab der Alderman jedem seiner Freunde einen Arm und zog triumphierend von dannen; unmittelbar darauf kam er jedoch eiligst allein zurück, als ob er etwas vergessen hätte.

»Dienstmann!« sagte der Alderman.

»Sir!« versetzte Toby.

»Gebt auf Eure Tochter acht. Sie ist viel zu schön.«

»Vermutlich hat sie auch ihr hübsches Gesicht jemandem gestohlen,« dachte Toby, indem er das Sechspencestück in seiner Hand ansah und an die Kuttelflecke dachte. »Sollte mich nicht wundern, wenn sie fünfhundert vornehmen Damen je ein Stück Blüte entrissen hätte. ’s ist ja ganz schrecklich!«

»Sie ist viel zu schön, mein guter Mann,« wiederholte der Alderman. »Ich sehe klar voraus, daß es mit ihr kein gutes Ende nehmen wird. Merkt auf das, was ich Euch sage, und habt ein wachsames Auge auf sie!«

Mit diesen Worten eilte er wieder fort.

»Überall Unrecht – überall Unrecht!« sagte Trotty, seine Hände zusammenschlagend. »Schon als schlecht geboren! Nichts hier zu schaffen!«

Die Glocken tönten hallend zusammen, als er diese Worte sprach – voll, laut und kräftig tönend, aber ohne Ermutigung. Nein, keine Spur davon.

»Die Weise hat sich geändert,« rief der alte Mann, als er aufhorchte. »‹s ist nicht eine Silbe darin, an der man eine Freude haben könnte. Doch warum auch? Was geht mich das neue oder das alte Jahr an? Laßt mich sterben!«

Dennoch hallten die Töne fort, daß die ganze Luft in Schwingungen geriet: »Leg es ihnen, leg es ihnen! Gute alte Zeiten, gute alte Zeiten! Tatsachen und Zahlen, Tatsachen und Zahlen! Leg es ihnen, leg es ihnen!« Wenn sie überhaupt etwas sagten, So sagten sie nur dies, bis es in Tobys Gehirn zu kreisen begann.

Er preßte seinen armen, wirren Kopf in beide Hände, als ob er ihn vor dem Zerspringen bewahren wollte. Dies war eine Bewegung zur rechten Zeit, denn sie ließ ihn in der einen Hand den Brief fühlen, und so wurde er an seinen Auftrag erinnert. Mechanisch setzte er sich in seinen gewöhnlichen Trab und trottete von hinnen.

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Das zweite Viertel

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Der Brief, den Toby von Alderman Cute erhalten hatte, war an einen großen Mann in dem großen Distrikt der Stadt adressiert. Der größte Distrikt der Stadt. Er mußte es auch wohl sein, weil er allgemein von seinen Einwohnern die ›Welt‹ genannt wurde.

Der Brief kam entschieden Tobys Hand weit schwerer vor, als ein andrer Brief – nicht weil ihn der Alderman mit einem sehr großen Wappen und einer endlosen Lackverschwendung gesiegelt hatte, sondern wegen des wichtigen Namens auf dem Umschlag und der schweren Menge von Gold und Silber, an die er erinnerte.

»Wie ganz verschieden von uns!« dachte Toby in aller Einfalt, als er die Adresse las. »Wenn man die zum Tod bestimmten Schildkröten durch die Anzahl der vornehmen Leute teilte, die sie kaufen könnten, würde er nur seinen eignen Anteil beanspruchen und würde es verachten, irgendeinem Menschen die Kuttelflecke vor dem Mund wegzuschnappen!«

Mit der unwillkürlichen Huldigung, die einem so hochstehenden Charakter gebührte, brachte Toby einen Zipfel seiner Schürze zwischen den Brief und seine Finger.

»Seine Kinder,« fuhr Trotty fort, und ein Nebel legte sich vor seine Augen, »seine Töchter – vornehme Herren können kommen, ihre Herzen gewinnen und sie heiraten. Sie dürfen glückliche Weiber und Mütter werden – sind vielleicht schön, wie meine liebe M – e –.«

Er konnte den Namen nicht zu Ende bringen, denn der letzte Buchstabe schwoll in seiner Kehle zum Umfang des ganzen Alphabets an.

»Doch gleichviel,« dachte Trotty. »Ich weiß, was ich meine, und das ist mehr als genug für mich.«

Und mit dieser tröstlichen Betrachtung trabte er weiter.

Es hatte an diesem Tag hart gefroren, und die Luft war stärkend, frisch und klar. Die winterliche Sonne gab zwar keine Wärme, blickte aber glänzend auf das Eis nieder, das sie nicht schmelzen konnte, und ließ darin ihre Strahlen spiegeln. Zu andern Zeiten hätte Trotty vielleicht dieser Wintersonne eine Lehre für den armen Mann abgewinnen können, aber er war jetzt darüber hinaus.

Das Jahr war sterbensalt an diesem Tag. Das geduldige Jahr hatte die Vorwürfe und Schmähungen seiner Lästerer überlebt und war getreulich mit seinem Werk zustande gekommen. Frühling, Sommer, Herbst, Winter. Es hatte sich durch den ihm angewiesenen Kreislauf gearbeitet und legte jetzt sein müdes Haupt nieder, um zu sterben. Abgeschnitten von aller Hoffnung, von allen starken Impulsen, von allem Lebendigen, und nur noch ein Bote vieler Freuden für andre, verlangte es weiter nichts, als daß man sich seiner vielen mühsamen Tage und geduldigen Stunden erinnere und es dann in Frieden hinscheiden lasse. Trotty hätte aus dem entschwindenden Jahr ein Sinnbild des armen Mannes lesen können – aber er war jetzt darüber hinaus.

Und nur er? Oder war vielleicht seit siebzig Jahren derselbe Aufruf zumal an jeden englischen Arbeiter ergangen, aber vergeblich?

Die Straßen waren sehr belebt und die Läden prunkhaft ausgestattet. Wie einem jugendlichen Erben der ganzen Welt sah man dem neuen Jahr mit Freude, Willkomm und Geschenken entgegen. Da lagen Bücher und Spielzeug für das neue Jahr, funkelndes Geschmeide für das neue Jahr, Anzüge für das neue Jahr, Glücksentwürfe für das neue Jahr; neue Erfindungen, um es um seine Zeit zu betrügen. Sein Leben war in Kalendern und Taschenbüchern haargenau eingeteilt; das Erscheinen der Monde, der Sterne und der Gezeiten war im voraus bis auf die Sekunde bekannt; ja sogar das Wirken der Jahreszeiten bei Tag und bei Nacht war mit ebenso großer Genauigkeit berechnet, wie Herr Filer aus Männern und Weibern Summen herausarbeiten konnte.

Das neue Jahr, das neue Jahr – überall das neue Jahr! Das alte betrachtete man schon als tot, und seine Effekten wurden spottbillig verkauft, wie die eines ertrunkenen Matrosen an Bord. Seine Moden wurden schon der Vergangenheit beigezählt und fielen als Opfer, ehe noch sein Atem ausgegangen war. Seine Schätze waren bloßer Schmutz neben den Reichtümern des neugeborenen Nachfolgers!

Trotty dachte für sich: »Du hast doch keinen Teil weder an dem neuen noch an dem alten Jahr.«

»Leg es ihnen, leg es ihnen! Tatsachen und Zahlen, Tatsachen und Zahlen. Gute alte Zeiten, gute alte Zeiten! Leg es ihnen, leg es ihnen!« – sein Trab ging nach diesem Takt und wollte sich in keinen andern schicken.

Doch auch dieser, so traurig er war, brachte ihn endlich ans Ende seiner Wanderung nach der Wohnung des Sir Joseph Bowley, Parlamentsmitglied.

Die Tür wurde durch einen Portier geöffnet. Und noch dazu durch was für einen Portier! Kein Porter1 von Tobys Rang. Etwas ganz andres. Und bei seiner Stellung konnte er die Botengänge wohl entbehren; nicht aber Toby.

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Dieser Portier mußte zuvor schwer schnauben, ehe er sprechen konnte; denn er hatte sich außer Atem gehetzt, weil er unvorsichtigerweise von seinem Stuhl aufgestanden war, ohne daß er sich zuvor Zeit genommen hatte, darüber nachzudenken und sein Gemüt zu beruhigen. Als er endlich seine Stimme gefunden hatte – freilich dauerte dies eine geraume Zeit, denn sie war weg und unter einer Last Fleisch verborgen – begann er in fettem Geflüster:

»Von wem ists?«

Toby sagte es ihm.

»Ihr müßt es selbst hineintragen,« sagte der Portier, nach einem Zimmer am Ende eines langen Ganges deutend, der an die Halle stieß. »An diesem Tag des Jahres geht alles direkt hinein. Ihr kommt nicht eine Sekunde zu früh, denn der Wagen steht schon vor der Tür, und sie sind ausdrücklich nur für ein paar Stunden nach der Stadt gekommen.«

Toby wischte sich sorgfältig die Füße ab, obschon sie ganz trocken waren, und schlug den ihm angedeuteten Weg ein. Während er durch die Halle trottete, bemerkte er, daß es ein schauerlich großartiges Haus war, aber alles so still und verhüllt, als befände sich die Familie auf dem Land. Er klopfte an die Zimmertür, und als er auf ein ›Herein!‹ eintrat, gelangte er in ein geräumiges Bibliothekzimmer, in dem vor einem mit Papieren bedeckten Tisch eine stattliche Dame im Hut saß. Ein nicht sehr stattlicher, schwarz gekleideter Gentleman schrieb, was sie diktierte, und ein andrer älterer und viel stattlicherer Gentleman, dessen Hut und Stock auf dem Tisch lagen, ging auf und ab, die eine Hand in die Brust steckend und von Zeit zu Zeit sein eignes Porträt in Lebensgröße, das über dem Kamin hing, betrachtend.

»Was ist dies?« fragte der letzterwähnte Gentleman. »Herr Fish, wollen Sie nicht die Güte haben, sich darum zu kümmern?«

Herr Fish bat um Verzeihung, nahm Toby den Brief ab und überreichte ihn mit großer Ehrfurcht.

»Von Alderman Cute, Sir Joseph.«

»Ist dies alles? Habt Ihr sonst nichts, Austräger?« fragte Sir Joseph.

Toby antwortete verneinend.

»Habt Ihr keinen Wechsel, keine Forderung an mich, von welcher Seite her es auch sein mag?« sagte Sir Joseph. »Mein Name ist Bowley – Sir Joseph Bowley; wenn Ihr etwas habt, so gebt es her. Herr Fish hat ein Scheckbuch neben sich liegen. Ich lasse nichts ins neue Jahr hinübergehen. Jede Art Rechnung muß in diesem Haus am Schluß des alten beglichen werden, damit, wenn der Tod – wenn der Tod …«

»Mich wegraffen sollte,« ergänzte Herr Fish.

»Die Saite meines Daseins zerreißen sollte, Sir,« erwiderte Sir Joseph mit großer Strenge – »meine Angelegenheiten hoffentlich im Zustande der Vorbereitung gefunden werden.«

»Mein teurer Sir Joseph!« sagte die Dame, die viel jünger war als der Gentleman. »Wie entsetzlich!«

»Mylady Bowley,« entgegnete Sir Joseph, der wie unter der ungeheuerlichen Tiefsinnigkeit seiner Bemerkungen hin und wieder stockte, »zu dieser Zeit des Jahres müssen wir an – an – uns selbst denken. Wir sollten Einsicht nehmen in – in unsre Rechnungen. Wir sollten fühlen, daß jede Wiederkehr einer so ereignisvollen Periode im menschlichen Leben Dinge mit sich führt – Dinge von tiefer Bedeutung zwischen dem Menschen und seinem – und seinem Bankier.«

Sir Joseph entledigte sich dieser Worte in einer Weise, als fühle er die volle Moralität derselben und wünsche, daß sogar Trotty Gelegenheit habe, sich an einem derartigen Gespräch zu erbauen. Vielleicht lag dies in seiner Absicht, weil er immer das Siegel des Briefes noch uneröffnet ließ und zu Trotty sagte, er solle noch eine Minute warten.

»Mylady, Sie wollten Herrn Fish schreiben lassen…«, bemerkte Sir Joseph.

»Herr Fish hat es, glaube ich, schon geschrieben,« versetzte die gnädige Frau, nach dem Brief hinsehend. »Aber auf mein Wort, Sir Joseph, ich glaube nicht, daß ich es zulassen kann. Es ist so kostspielig.«

»Was ist kostspielig?« fragte Sir Joseph.

»Dieser Wohltätigkeitsverein, mein Lieber. Sie gestatten nur zwei Stimmen für eine Unterzeichnung von fünf Pfund. Das ist in der Tat zu arg.«

»Mylady Bowley,« entgegnete Sir Joseph, »Ihr setzt mich in Erstaunen. Steht der Hochgenuß des Gefühls im Verhältnis zu der Anzahl der Stimmen, oder steht er für eine edle Seele im Verhältnis zu der Anzahl der Bewerber und der ganzen Gesinnung, in die sie durch ihre Bewerbung versetzt werden? Liegt nicht Aufregung der reinsten Art in dem Umstand, unter fünfzig Personen über zwei Stimmen zu verfügen?«

»Ich gestehe, für mich nicht, denn man langweilt sich dabei,« entgegnete die gnädige Frau. »Außerdem kann man sich keine Freunde verbinden. Doch ich weiß ja, Ihr seid des armen Mannes Freund, Sir Joseph, und denkt anders.«

»Ich bin allerdings des armen Mannes Freund,« bemerkte Sir Joseph, nach dem anwesenden armen Mann hinblickend. »Als solchen mag man mich immerhin verhöhnen, wie man mich schon verhöhnt hat; ich verlange dennoch keinen ändern Titel!«

»Gott segne diesen edlen Gentleman!« dachte Trotty.

»Mit Cute da zum Beispiel bin ich nicht einverstanden,« sagte Sir Joseph, indem er den Brief ausstreckte. »Ebensowenig sagt mir Filers Partei zu. Ich will nichts von einer Partei wissen. Mein Freund, der arme Mann, hat nichts mit irgend etwas dieser Art zu schaffen, und solche Dinge gehen ihn auch durchaus nichts an. Mir liegt mein Freund, der arme Mann in meinem Distrikt, am Herzen, und kein Mensch und keine Parteigruppe, mögen ihrer auch noch so viele sein, haben ein Recht, sich zwischen mich und meinen Freund zu drängen. Dies ist das Feld, von dem ich nicht weiche. Ich stehe meinem Freunde in der – in der Eigenschaft eines Vaters gegenüber und sage zu ihm: »mein guter Bursche, ich will väterlich an dir handeln.«

Toby hörte mit großem Ernst zu – es wurde ihm nachgerade wohler zumute.

»Mein guter Freund,« fuhr Sir Joseph fort, indem er zerstreut nach Toby hinblickte, »du hast in diesem Leben nichts – ganz und gar nichts zu tun, als dich auf mich zu verlassen, und brauchst dich nicht zu bemühen, über irgend etwas nachzudenken. Ich will für dich denken, denn ich weiß, was gut für dich ist, und bin stets dein Vater. Dies ist die Fügung einer allweisen Vorsehung! Du bist nicht dazu geschaffen, um zu schlemmen, zu trinken und wie das Vieh deine Lust im Essen zu suchen« – Toby dachte mit Gewissensbissen an seine Kuttelflecke – »du sollst nur die Würde der Arbeit fühlen. Geh aufrecht hinaus in die erfrischende Morgenluft und – und bleibe daselbst. Lebe spärlich und mäßig, benimm dich respektvoll, übe dich in der Selbstverleugnung, erziehe deine Familie mit fast nichts, zahle deine Steuer so regelmäßig als die Uhr schlägt, sei pünktlich in deinem Verkehr – ich gebe dir darin ein gutes Beispiel, denn du wirst Herrn Fish, meinen Geheimschreiber, stets mit einer Geldtruhe vor sich sehen – und du kannst auf mich als auf deinen Freund und Vater bauen.«

»In der Tat, saubere Kinder, Sir Joseph,« sagte die Dame mit einem Schauder. »Rheumatismen, Fieber, verkrümmte Beine, Asthma und dergleichen Schrecken.«

»Mylady,« versetzte Sir Joseph mit Feierlichkeit, »nichtsdestoweniger bin ich des armen Mannes Freund und Vater. Nichtsdestoweniger soll er aus meinen Händen Ermutigung erhalten. An jedem Vierteljahrstag kann er sich mit Herrn Fish besprechen. An jedem Neujahrstag werde ich mit Freunden auf seine Gesundheit trinken. Einmal im Jahr werden ich selbst und meine Freunde tief empfundene Worte an ihn richten. Einmal in seinem Leben kann er vielleicht öffentlich und in Anwesenheit der Honoratiorenschaft sogar eine Kleinigkeit von einem Freund erhalten. Und wenn er, nicht mehr durch derartige Antriebe und durch die Würde der Arbeit aufrechtgehalten, in sein trostreiches Grab sinkt, dann, Mylady« – hier blies Sir Joseph seine Nase auf – »werde ich unter denselben Bedingungen ein Freund und Vater sein – seinen Kindern.«

Toby fühlte sich tief bewegt.

»O! Da habt Ihr auch eine dankbare Familie, Sir Joseph!« rief seine Gattin.

»Mylady,« versetzte Sir Joseph in majestätischem Ton, »Undank ist bekanntermaßen die Sünde dieser Klasse. Ich erwarte keinen andern Lohn.«

»Ah! schon als schlecht geboren!« dachte Toby. »Nichts kann unser verhärtetes Gemüt rühren.«

»Was ein Mensch tun kann, geschieht von meiner Seite aus,« fuhr Sir Joseph fort. »Ich erfülle meine Pflicht als des armen Mannes Freund und Vater und bemühe mich, seinen Geist zu bilden, indem ich ihm bei allen Gelegenheiten die eine große moralische Lehre, die diese Klasse braucht, ans Herz lege. Das heißt, unbedingte Abhängigkeit von mir. Sie haben durchaus nichts mit – mit sich selbst zu schaffen. Aber auch wenn gottlose und hinterlistige Personen sie eines andern belehren wollen – wenn sie ungeduldig und unzufrieden werden, sich eines unbotmäßigen Betragens und schwarzen Undanks schuldig machen, was ohne Zweifel der Fall sein wird, bleibe ich dennoch ihr Freund und Vater. Es ist so von der Vorsehung verordnet und liegt in der Natur der Dinge.«

Mit diesem großartigen Gefühl öffnete er den Brief des Alderman und las ihn.

»In der Tat sehr höflich und aufmerksam!« rief Sir Joseph. »Mylady, der Alderman ist so verbindlich, mich zu erinnern, daß er die ›ausgezeichnete Ehre‹ hatte – er ist sehr gütig – mich in dem Haus unsres gemeinschaftlichen Freundes, des Bankiers Deedles, zu treffen, und erweist mir die Gunst, anzufragen, ob es mir angenehm sei, wenn er Will Fern das Handwerk lege.«

»Höchst angenehm!« versetzte Lady Bowley. »Der Schlimmste von allen! Hoffentlich hat er einen Raub begangen.«

»Ei nein,« entgegnete Sir Joseph, in den Brief blickend. »Nicht ganz. Zwar nahe daran, aber nicht ganz. Es scheint, daß er nach London kam, um sich nach Arbeit umzusehen (sich zu verbessern, sagt er), und da wurde er denn nachts in einem Schuppen schlafend gefunden, in Haft genommen und am andern Morgen vor den Alderman gebracht. Der Alderman bemerkt (und zwar sehr richtig), daß er fest entschlossen sei, mit derartigen Vorkommnissen aufzuräumen, und wenn es mir angenehm sei, daß man es Will Fern endlich lege, so schätze er sich glücklich, mit ihm den Anfang zu machen.«

»Jedenfalls soll ein Exempel an ihm statuiert werden,« entgegnete die gnädige Frau. »Als ich letzten Winter unter den Männern und Knaben des Dorfes als eine hübsche Abendbeschäftigung das Spitzen und Öhren der Nadeln einführte und bei dieser Gelegenheit den Vers

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O laßt uns unsre Arbeit üben,
Den Squire und dessen Haus stets lieben,
Von unserm Tagsverdienste leben,
Uns unsres Stands nicht überheben

in Musik setzte, damit sie ihn dazu sängen, langte derselbige Fern – ich kann ihn noch sehen – an seinen Hut und sagten ›Bitt demütig um Verzeihung, Mylady, aber ist nicht doch noch ein Unterschied zwischen mir und einem großen Mädchen?‹ Natürlich erwartete ich dies, denn von dieser Klasse ist doch nichts als Unverschämtheit und Undank vorauszusehen. Doch warum sollte ich mich auch ereifern! Sir Joseph, laßt ein Exempel an ihm statuieren.«

»Hm!« hustete Sir Joseph. »Herr Fish, wollen Sie so gut sein, aufzumerken …«

Herr Fish ergriff augenblicklich seine Feder und schrieb, wie ihm Sir Joseph diktierte.

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»Privat.

Mein teurer Sir!

Ich bin Euch für Eure Höflichkeit in der Sache dieses William Fern, von dem ich leider nichts Günstiges sagen kann, sehr verpflichtet. Ich habe mich ihm gegenüber stets im Lichte eines Vaters und Freundes gesehen, bin aber (wie es leider nur zu gewöhnlich der Fall ist) mit Undank und beharrlicher Opposition gegen meine Pläne belohnt worden. Er ist ein unruhiger, rebellischer Geist. Sein Charakter duldet kein Erforschen. Nichts wird ihn dazu vermögen, glücklich zu sein, da er es doch so gut könnte. Unter diesen Umständen gestehe ich, daß Ihr meiner Ansicht nach der Gesellschaft einen Dienst leisten und ein heilsames Beispiel in einem Land geben würdet – wo, sowohl um derer willen, die im guten oder im bösen Ruf eines Vaters und Freundes der Armen stehen, als auch mit Rücksicht auf die irregeleitete Klasse selbst, Beispiele so nötig sind – wenn Ihr diesen Mann für einige Zeit als Vagabunden einsperren ließet, falls sich derselbe, wie er Euch in dem Verhör versprochen hat (und ich zweifle nicht, daß er Wort halten wird), wieder bei Euch einstellen sollte. Ich verbleibe« usw.

»Es kommt mir vor,« bemerkte Sir Joseph, als er diesen Brief unterzeichnet hatte und Herr Fish ihn eben versiegelte, »als ob dies wahrhaftig eine Verordnung der Vorsehung sei. Am Schluß des Jahres kann ich sogar mit William Fern meine Rechnung begleichen und meine Bilanz aufstellen.«

Trotty, dem der Mut schon längst wieder ganz und gar entsunken war, trat jetzt mit einer Jammermiene vor, um den Brief in Empfang zu nehmen.

»Mit meinem Kompliment und meinem Danke,« sagte Herr Joseph. »Halt!«

»Halt!« wiederholte Fish.

»Ihr habt vielleicht gewisse Bemerkungen gehört,« fuhr Sir Joseph orakelhaft fort, »zu denen ich mich durch den feierlichen Zeitpunkt, an dem wir angelangt sind, und durch die gebieterische Pflicht, in einem solchen Augenblick alle häuslichen Angelegenheiten zu ordnen, verleiten ließ. Ihr habt bemerkt, daß ich mich nicht hinter meine hohe Stellung in der Gesellschaft verschanze, sondern daß Herr Fish – dieser Gentleman da – ein Scheckbuch neben sich liegen hat und nur dazu hier ist, um mich in den Stand zu setzen, ein vollkommen neues Blatt aufzuschlagen, damit die neue Epoche mit einem vollkommen reinen Buche angetreten werden kann. Nun, mein Freund, seid Ihr gleichfalls imstande, Eure Hand aufs Herz zu legen und zu sagen, daß Ihr Eure Vorbereitungen für ein neues Jahr getroffen habt?«

»Ich fürchte, Sir,« stammelte Trotty, ihn demütig anblickend, »daß ich mit der Welt ein – ein – wenig im Rückstand bin.«

»Im Rückstand mit der Welt?« wiederholte Sir Joseph Bowley in einem Ton von erschreckender Deutlichkeit.

»Ich fürchte, Sir,« stotterte Trotty, »daß da noch zehn oder zwölf Schilling sind, die ich Frau Chickenstalker schuldig bin.«

»Frau Chickenstalker schuldig?« wiederholte Sir Joseph in demselben Ton wie zuvor.

»Sie hält einen Laden, in dem alles zu haben ist,« entgegnete Toby. »Auch ein – ein wenig fehlt noch an der Hausmiete. Nur sehr wenig, Sir. Ich weiß, wir sollten nichts schuldig sein, aber es ist uns wahrhaftig recht schlimm ergangen.«

Sir Joseph musterte zweimal seine Gattin, Herrn Fish und Trotty im Kreis, worauf er mit beiden Händen eine trostlose Gebärde machte, als gebe er die Sache ganz und gar auf.

»Wie kann ein Mann, sogar einer aus dieser unbekümmerten und unpraktischen Rasse – ein alter Mann, ein grauer Mann, einem neuen Jahre ins Gesicht sehen, während seine Angelegenheiten sich in einem solchen Zustand beenden! Wie kann er sich nachts zu Bett legen und am Morgen wieder aufstehen, während – da!« fügte er bei, indem er Trotty den Rücken zuwandte – »nehmt den Brief, nehmt den Brief!«

»Wollte Gott, es wäre anders, Sir,« sagte Trotty, der sich sehnlichst zu entschuldigen wünschte. »Aber wir sind bitter heimgesucht worden.«

Da Sir Joseph noch immer sein »Nehmt den Brief, nehmt den Brief!« wiederholte, und Herr Fish nicht nur das gleiche sagte, sondern auch der Aufforderung dadurch einen weitern Nachdruck gab, daß er gegen die Tür wies, blieb dem armen Trotty nichts übrig, als daß er seine Verbeugung machte und das Haus verließ. Auf der Straße angelangt, zog er seinen alten, abgenützten Hut ins Gesicht, um den Schmerz zu verbergen, den er darüber fühlte, daß er nirgends dem Neujahr einen Halt abgewinnen konnte.

Er hob seine Kopfbedeckung nicht einmal, um an dem Glockenturm hinaufblicken zu können, als er auf dem Rückweg an der alten Kirche vorbeikam. Für einen Augenblick blieb er gewohnheitshalber stehen. Er wußte, daß es dunkel wurde und der Kirchturm schwach und undeutlich über ihm in die trübe Luft stieg; auch wußte er, daß die Glocken alsbald erschallen würden, und daß sie zu einer solchen Zeit wie Stimmen aus den Wolken in seine Ohren zu tönen pflegten. Aber er beeilte sich nur um so mehr, den Brief an den Alderman abzuliefern und ihnen aus dem Wege zu kommen, ehe sie anfingen, denn er fürchtete, in ihrem Bimmeln nichts andres als den ewigen Refrain »Freunde und Väter, Freunde und Väter« zu hören.

Toby sputete sich daher nach Kräften, seinen Auftrag auszurichten, und trabte dann nach Hause. Sein Gang war aber im besten Fall linkisch und wurde durch den tief ins Gesicht gedrückten Hut nicht verbessert, weshalb er nach kurzer Zeit gegen jemand anprallte, der ihn taumelnd auf den Fahrweg hinausschleuderte.

»Ich bitte um Verzeihung !« sagte Trotty, in großer Verwirrung seinen Hut in die Höhe ziehend, dessen zerrissenes Futter aber auf der Stirn sitzen blieb, so daß sein Kopf wie in einem Bienenkorb steckte. »Hoffentlich habe ich Euch nicht verletzt?«

Toby war kein so absoluter Samson, daß er möglicherweise irgend jemand hatte beschädigen können; dagegen lag die Wahrscheinlichkeit weit näher, daß er selbst Schaden genommen hatte, denn er war wie ein Feuerball auf die Straße hinausgeflogen. Dennoch hatte er eine so hohe Meinung von seiner eignen Kraft, daß er um den andern wirklich besorgt war und noch einmal fragte:

»Hoffentlich habe ich Euch nicht verletzt?«

Der Mann, gegen den er angerannt war, ein sonnverbrannter, muskulöser Bauer mit grauen Haaren und rauhem Kinn, stierte ihn einen Augenblick an, als glaube er, Toby wolle sich mit ihm einen Scherz erlauben. Sobald er jedoch dessen ehrliche Miene gesehen hatte, antwortete er:

»Nein, mein Freund, Ihr habt mich nicht verletzt.«

»Und auch das Kind nicht?« fragte Trotty.

»Auch das Kind nicht,« erwiderte der Mann. »Ich danke Euch sehr.«

Bei diesen Worten blickte er auf das kleine Mädchen, das er schlafend in seinen Armen trug, beschattete ihr Gesicht mit dem langen Ende seines zerrissenen Halstuches und ging langsam weiter.

Der Ton, in dem er sagte: »Ich danke Euch sehr,« drang in Tobys Herz. Der Mann war so ermattet, von der Wanderung beschmutzt und sah so seltsam und betrübt umher, daß es ihm wohl ein Trost sein mußte, jemand danken zu können, für wie wenig es auch sein mochte. Toby blieb stehen und schaute ihm nach, wie er mit wunden Füßen weiter ging, während das Kind den Arm um seinen Hals geschlungen hatte.

Trotty hatte nur noch Augen für die Gestalt in den abgenutzten Schuhen – jetzt nur noch die Schatten und Gespenster einer Fußbekleidung – in den rauhen Lederhosen, dem Zwilchkittel und dem breitkrempigen Hute, wie sie, das an ihren Hals sich anklammernde Kind auf ihrem Arm, dahinglitt. Ehe der Wanderer in der Dunkelheit verschwand, machte er halt und blickte umher. Als er Trotty noch dastehen sah, schien er unschlüssig zu sein, ob er weitergehen oder umkehren sollte. Nachdem er zuerst das eine, dann das andre getan hatte, kam er wieder zurück, und Trotty ging ihm auf halbem Weg entgegen.

»Könnt Ihr mir vielleicht sagen,« begann der Mann mit einem matten Lächeln, »wo Alderman Cute wohnt? Wenn Ihrs wißt, werdet Ihr mir gewiß Auskunft geben. Ich frage lieber Euch, als irgend jemand andern.«

»Ganz in der Nähe,« versetzte Toby. »Ich will Euch mit Freuden sein Haus zeigen.«

»Ich sollte morgen an einem andern Ort mit ihm zusammentreffen,« sagte der Mann, neben Toby hergehend, »aber man hat einen Argwohn auf mich, und ich möchte mich von ihm reinigen, damit ich frei ausgehen und mein Brot suchen kann, obschon ich nicht weiß, wo ichs zu finden habe. Er wird mir daher wohl vergeben, wenn ich heute abend in sein Haus komme.«

»Wie – nein, unmöglich!« rief Toby zusammenfahrend. »Ihr werdet doch nicht Fern heißen?«

»He?« entgegnete der andre, sich erstaunt gegen den Dienstmann umwendend.

»Fern? Will Fern?« sagte Trotty.

»Das ist mein Name,« versetzte der Mann.

»Dann, ums Himmels willen, geht nicht zu ihm!« rief Trotty, ihn am Arm fassend und vorsichtig umherblickend. »Geht nicht zu ihm! Er wird Euch hopp nehmen, so wahr Ihr geboren seid. Da – kommt in dieses Gäßchen herauf; ich will Euch dann sagen, was ich meine. Aber zu ihm müßt Ihr nicht gehen.«

Der Mann sah Toby an, als halte er ihn für toll, folgte ihm aber demungeachtet. Sobald sie sich aller Beobachtung entzogen hatten, teilte ihm Trotty alles mit, was er im Hause des Sir Joseph Bowley über ihn vernommen und was man über seinen Charakter gesagt hatte.

Der Fremde hörte mit einer Ruhe zu, die unsern armen Trotty in Erstaunen setzte. Er widersprach auch nicht ein einziges Mal, sondern nickte nur hin und wieder, mehr wie zur Bekräftigung einer alten Alltagsgeschichte, wie es schien, als in der Absicht, sie von sich abzuweisen. Ein- oder zweimal schob er seinen Hut zurück und fuhr mit der sommersprossigen Hand über eine Stirn, wo jede Furche, die er gepflügt hatte, ihr Bild im kleinen abgedrückt zu haben schien. Doch dies war alles.

»Es ist in der Hauptsache wahr genug,« sagte er. »Ich könnte zwar da und dort den Weizen von der Spreu sichten – aber lassen wirs lieber. Wozu auch? Ich habe gegen seine Pläne gehandelt, und das ist mein Unglück, obschon ich nicht anders konnte und es morgen wieder ebenso machen würde. Was den Charakter betrifft, so spähen und spähen diese vornehmen Leute und wollen ihn frei von allem Makel haben, ehe sie uns mit einem dürren, guten Worte aushelfen! Na, ich hoffe, daß sie ihren guten Leumund nicht so leicht verlieren als wir, denn ihr Leben wäre dann schlimm genug, und es verlohnte sich kaum der Mühe, es zu erhalten. Was mich betrifft, Herr, so hat diese Hand« – er streckte sie vor sich aus – »nie etwas angetastet, das nicht mein Eigentum war, und ist nie zurückgeschreckt vor der Arbeit, wie schwer sie auch und wie ärmlich der Lohn sein mochte. Wer dies leugnen kann, der soll sie mir abhacken. Aber wenn mich die Arbeit nicht wie ein menschliches Geschöpf erhält – wenn ich so schlecht leben muß, daß ich in und außer dem Haus hungere – wenn ich sehe, daß ein ganzes Leben voll Tätigkeit so beginnt, so fortmacht und so endet, ohne eine Aussicht auf einen Wechsel, dann sage ich zu dem vornehmen Volk: ›Haltet euch fern von mir und laßt meine Hütte ungeschoren! Meine Türen sind dunkel genug, ohne daß noch euer Schatten dazu kommt. Von mir dürft ihr nicht verlangen, daß ich in dem Park die Schaustellung vermehren helfe, wenns da einen Geburtstag, eine schöne Rede oder weiß der Himmel was gibt. Führt eure Komödien ohne mich auf, und mögen sie euch wohl bekommen. Wir haben nichts miteinander zu schaffen, und ’s ist am besten, wenn man mich gehen läßt!‹«

Da er bemerkte, daß das Kind in seinen Armen jetzt die Augen geöffnet hatte und verwundert umhersah, hielt er inne, plauderte ein bißchen in seinem Kinderkauderwelsch mit ihm und stellte es neben sich auf die Erde. Dann wand er sich langsam eine der langen Locken des Mädchens wie einen Ring um den Finger, und während die Kleine sich an sein staubiges Bein anklammerte, sagte er zu Trotty.

»Ich bin, glaub ich, nicht von Natur aus widerhaarig und lasse mich leicht zufriedenstellen. Auch trage ich niemand einen Groll nach und wünsche nur zu leben, wie die andern Geschöpfe Gottes. Das kann ich nicht – das tu ich nicht, und so liegt denn eine tiefe Kluft zwischen mir und denen, die es können und tun. Es gibt noch viele, denen es geradeso ergeht wie mir, und Ihr könnt sie eher zu Hunderten und Tausenden abzählen als zu Einern.«

Trotty wußte, daß der Mann hierin die Wahrheit sprach, und nickte zustimmend.

»Ich habe dadurch einen schlimmen Namen erhalten«, sagte Fern, »und fürchte, daß ich wahrscheinlich nie zu einem bessern kommen werde. Es ist gesetzwidrig, unmutig zu sein, und ich bin wirklich unmutig, obgleich Gott weiß, daß ich weit lieber frohgemut wäre, wenn ichs sein könnte. Nun, ich weiß nicht, ob dieser Alderman mir weh tun könnte, wenn er mich ins Gefängnis schickte; aber falls nicht ein Freund ein Wort für mich spräche, so wär ers wohl imstande, und Ihr seht…!«

Er deutete mit dem Finger auf das Kind.

»Sie hat ein schönes Gesicht,« sagte Trotty.

»Ei ja!« entgegnete der Mann mit gedämpfter Stimme, indem er das kleine Gesichtchen mit beiden Händen sanft zu sich emporrichtete und es unverwandt anschaute, »Das habe ich mir schon oft gedacht. Daran dachte ich, wenn mein Herd sehr kalt und mein Schrank leer war. Daran dachte ich erst gestern nacht, als wir wie zwei Diebe aufgegriffen wurden. Aber sie – sie sollten das kleine Gesicht nicht zu oft vor Gericht bringen – meinst nicht, Lilian? Das ist kaum einem Mann erwünscht!«

Er dämpfte feine Stimme fast bis zur Lautlosigkeit und starrte das Kind so seltsam und ernst an, daß Toby, um seinen Gedanken eine andre Richtung zu geben, die Frage stellte, ob sein Weib noch am Leben sei.

»Ich habe nie ein Weib gehabt,« entgegnete er mit Kopfschütteln. »Sie ist meines Bruders Kind – eine Waise – neun Jahre alt, obschon Ihrs kaum glauben würdet; aber sie ist jetzt müde und abgezehrt. Die Union wollte die Sorge für sie übernehmen und sie achtundzwanzig Meilen von dem Orte, wo wir wohnen, zwischen vier Wände einsperren, wie sie‹s auch meinem alten Vater machten, als er nicht mehr arbeiten konnte, obschon er ihnen nicht lange lästig fiel. Da hab denn ich sie zu mir genommen, und sie lebt bei mir. Ihre Mutter hatte einmal eine Freundin hier in London. Wir wollen versuchen, ob wir sie nicht entdecken und zugleich Arbeit finden können; aber ’s ist ein großer Platz. Nun ja, ’s ist auch recht – wir haben dafür um so mehr Raum umherzugehen, Lilly!«

Er sah das Kind mit einem Lächeln an, das Toby mehr als zu Tränen rührte, und drückte dann dem armen Austräger die Hand.

»Ich kenne Euch zwar nicht einmal dem Namen nach,« sagte er, »aber ich habe Euch mein Herz ausgeschüttet, denn ich bin Euch dankbar – und zwar aus gutem Grund. Ich will Euern Rat befolgen und mich fern halten von diesem …«

»Friedensrichter,« ergänzte Toby.

»Ah!« fuhr er fort; »wenn dies der Name ist, den man ihm gibt. Von diesem Friedensrichter. Und morgen will ich versuchen, ob mir nicht irgendwo in der Nähe von London ein besseres Glück blüht. Gute Nacht. Ein glückliches Neujahr!«

»Halt!« rief Trotty, die Hand des andern fest umklammernd, als sie sich losmachen wollte. »Halt! das Neujahr kann nicht glücklich für mich sein, wenn wir uns so trennen. Wie könnte ich auch von einem glücklichen Neujahr sprechen, wenn ich mit ansehen müßte, wie Ihr mit dem Kind weiter zieht, ohne zu wissen, wohin, und ohne ein Obdach für die Nacht. Kommt mit mir nach Hause! Ich bin zwar nur ein armer Mann und habe bloß ein elendes Quartier; aber ich kann Euch doch für eine Nacht ein Lager geben, ohne es zu entbehren. Kommt mit mir! So, ich will sie nehmen!« fügte Trotty bei, indem er das Kind aufhob. »Eine hübsche Kleine! Ich wollte mir zwanzigfach ihr Gewicht aufladen lassen, ohne daß ich es besonders spürte. Sagt mir, ob ich vielleicht zu schnell für Euch gehe – ’s ist meine Gewohnheit zu eilen!«

Während Trotty dies sagte, mußte er stets sechs von seinen kurzen Trabschritten während eines einzigen langen seines müden Gefährten hopsen; und seine dünnen Beine zitterten unter der Last, die er trug.

»Ei, sie ist so leicht,« sagte Trotty, dessen Worte ebenso rasch und stoßweise kamen, wie sein Schritt war, denn er wollte auf keine Danksagung hören und scheute sich, eine Pause eintreten zu lassen; »so leicht wie eine Feder, leichter als eine Pfauenfeder – viel leichter. So, da sind wir – jetzt geht’s da hinein, um die erste Ecke rechts, Onkel Will, an dem Brunnen vorbei und dann den Weg hinauf, dem Wirtshaus gegenüber. Jetzt über den Weg hinüber, Onkel Will, und dort auf den Nierenpastetenmann an der Ecke zu! Da wären wir! Nun an den Ställen hinunter, Onkel Will, und dann macht Ihr an der schwarzen Tür halt, über der ›Toby Veck, Dienstmann‹ auf einem Brett geschrieben steht. So, und jetzt sind wir da, jetzt sind wir wirklich da, und jetzt wirst du dich wundern, liebe Meg!«

Mit diesen Worten setzte der atemlose Trotty das Kind unten in der Stube zu den Füßen seiner Tochter nieder. Der kleine Gast sah Meg an und lief, da er in ihrem Gesicht nichts zweifelerregendes fand, vertrauensvoll in ihre Arme.

»So, da sind wir und da bleiben wir!« rief Toby, keuchend im Zimmer umherlaufend. »Hier, Onkel Will – Ihr seht, hier ist ein Feuer! Warum kommt Ihr nicht ans Feuer? Ha, da sind wir und da bleiben wir! Meg, mein Herz, wo ist der Kessel? So – er wird augenblicklich kochen!«

Trotty hatte wirklich während seines wilden Hin- und Herrennens den Kessel aufzuheben gewußt und über das Feuer gesetzt, während Meg in einer warmen Ecke vor dem Kind niedergekniet war, um ihm die Schuhe auszuziehen und mit einem Tuch die nassen Füßchen zu trocknen. Ja, und sie lachte auch über Trotty – so vergnügt, so herzlich, daß Trotty sie augenblicklich hätte segnen mögen, denn er hatte ja beim Eintreten gesehen, wie sie in Tränen vor dem Feuer saß.

»Ei, Vater,« sagte Meg, »du bist, glaube ich, diesen Abend ganz närrisch. Ich weiß nicht, was die Glocken dazu sagen würden. Die armen Füßchen – wie kalt sie sind!«

»O, sie sind jetzt wärmer!« rief das Kind. »Sie sind jetzt ganz warm!«

»Nein, nein, nein,« sagte Meg. »Wir haben sie noch nicht halb genug gerieben. Wir sind ja so fleißig! So fleißig! Und wenn sie ganz warm sind, dann wollen wir das feuchte Haar auskämmen. Sind wir damit fertig, so wollen wir mit ein bißchen frischem Wasser einige Farbe in das arme blasse Gesicht bringen, und dann wollen wir so froh, so heiter und glücklich sein!«

Das Kind umschlang in einem Anfall von Schluchzen ihren Hals, streichelte mit seinen Händchen ihre Wange und sagte:

»O Meg! o liebe Meg!«

Tobys Segen hätte nicht mehr tun können. Wer wäre auch imstande gewesen, mehr zu tun?

»Ei, Vater!« rief Meg nach einer Pause.

»Da bin ich und da steh ich, mein Lieb!« sagte Trotty.

»Gütiger Himmel!« rief Meg, »er ist ganz von Sinnen! Setzt er da das Hütlein des lieben Kindes auf den Kessel und hängt den Deckel hinter die Tür!«

»Ich habe dies nicht mit Absicht getan, mein Lieb,« entgegnete Trotty, indem er hastig sein Versehen wieder gutmachte. »Meg, mein Kind?«

Meg blickte nach ihm hin und sah, daß er sich mit Vorbedacht hinter den Stuhl seines männlichen Gastes gestellt hatte, wo er mit vielen geheimnisvollen Gebärden das Sechspencestück, das er eingenommen, in die Höhe hielt.

»Als ich hereinkam,« sagte Trotty, »habe ich irgendwo auf der Treppe eine halbe Unze Tee liegen sehen; auch glaube ich wahrhaftig, daß ein Stückchen Speck dabei lag. Ich entsinne mich nicht mehr recht auf den Platz, will aber hingehen und sehen, ob ich’s nicht finde.«

Unter diesem unergründlich scharfsinnigen Vorwande entfernte sich Toby, um die besprochenen Lebensmittel für bares Geld bei Frau Chickenstalker zu kaufen. Er kam bald wieder zurück und sagte, er habe die Sachen anfangs in der Dunkelheit nicht finden können.

»Aber da sind sie endlich,« sagte Trotty, das Teegeschirr aufsetzend – »alles richtig! Ich wußte es ja, daß es Tee und eine schöne Schnitte war. Da, seht selbst. Meg, mein Herzchen, wenn du den Tee zurichten willst, während dein unwürdiger Vater den Speck röstet, so wird alles bald fertig fein. Es ist eine kuriose Sache,« fuhr Trotty fort, indem er mit Hilfe der Röstgabel seine Kochkunst betrieb, »kurios, aber allen meinen Freunden wohlbekannt, daß ich für meine Person mir niemals weder aus Tee noch aus Speck etwas machte. Ich sehe es nur gern, wenn andre Leute sich’s dabei wohl sein lassen,« Sagte er in sehr lautem Tone, um seinem Gast die Tatsache recht bemerklich zu machen, »obschon diese Nahrung mir selbst durchaus nicht behagt.«

Doch schnüffelte Trotty den Wohlgeruch des zischenden Specks ein – ah! – als ob er mit Freuden selbst hätte zulangen mögen, und als er das kochende Wasser in den Teetopf goß, blickte er sehnsüchtig in dessen Tiefe hinunter und ließ sich gern den würzigen Dampf um die Nase kräuseln und den Kopf von einer dichten Wolke bekränzen. Aber trotzdem genoß er nichts weiter davon, als im Anfang der Höflichkeit halber einen einzigen Bissen, der ihm ungemein gut zu schmecken schien, obschon er erklärte, daß er sich nicht das mindeste daraus mache.

Nein, Trottys Beschäftigung bestand darin, Will Fern und Lilian essen und trinken zu sehen, und das gleiche war bei Meg der Fall. Und nie fand ein Zuschauer bei einem Stadt- oder Hofbankett einen solchen Hochgenuß darin, andre – ja, wäre es sogar ein König oder ein Papst gewesen – schmausen zu sehen, als unser Pärlein an jenem Abend. Meg lächelte zu Trotty hinüber, Trotty lachte Meg an. Meg nickte und tat, als klatsche sie mit den Händen, um Trotty ihren Beifall zu erkennen zu geben, während Trotty in stummer Zeichensprache Meg eine unverständliche Geschichte erzählte, wann und wo er seine Gäste gefunden hatte. Und sie waren glücklich – sehr glücklich.

»Obgleich ich sehen muß, daß Megs Verlobung gelöst ist,« dachte Trotty bekümmert, als er Megs Gesicht betrachtete.

»Nun, jetzt werde ich Euch was sagen,« begann Trotty nach dem Tee. »Die Kleine schläft bei Meg.«

»Bei der guten Meg!« rief das Kind, sie liebkosend. »Bei Meg.«

»So ist’s recht,« sagte Trotty. »Und es sollte mich nicht wundern, wenn sie Megs Vater einen Kuß gäbe. Was meinst du, Kind? Ich bin Megs Vater.«

Trotty war hochentzückt, als sich ihm das Kind schüchtern näherte, ihn küßte und dann wieder zu Meg zurückkehrte.

»Sie ist so verständig wie Salomo,« sagte Trotty. »Da kommen und da gehen – nein, das meinte ich nicht – ich – was wollte ich denn sagen, meine liebe Meg?«

Meg blickte auf ihren Gast, der sich an ihren Stuhl gelehnt hatte und, während er das Gesicht von ihr abwandte, den in ihrem Schoß verborgenen Kopf der Kleinen streichelte.

»Natürlich,« sagte Toby. »Natürlich! Weiß ich doch wahrhaftig nicht, was ich heute abend treibe. Ich bin heute ganz zerstreut, glaube ich. Will Fern, Ihr kommt mit mir, denn Ihr seid todmüde und völlig erschöpft, weil Ihr so lange nicht geruht habt. Kommt mit mir.«

Der Mann spielte noch immer mit den Locken des Kindes, lehnte noch immer mit abgewandtem Gesicht an Megs Stuhl. Er sprach kein Wort , aber in seinen rauhen Fingern , die sich im Haar des Kindes ballten und wieder lösten, lag eine Beredsamkeit, die mehr als alle Worte sagte.

»Ja, ja,« fuhr Trotty fort, der unwillkürlich die Frage beantwortete, die auf Megs Gesicht stand. »Nimm sie mit dir, Meg. Bring sie zu Bett. So! jetzt will ich Euch zeigen, wo Ihr liegen könnt, Will. ’s ist zwar nicht viel Platz, sondern nur Heuboden; aber ein Heuboden ist, wie ich immer sage, die größte Bequemlichkeit, wenn man in Ställen wohnt; und bis dieser Schuppen und der Stall besser vermietet werden, leben wir hier sehr billig. Droben ist viel vortreffliches Heu, das einem Nachbar gehört und ein so reinliches Lager bietet, als es Hände und Meg nur machen können. Frischauf! laßt’s Euch nicht nahe gehen. Für jedes neue Jahr ein neues Herz!«

Die Hand, die sich aus dem Haar des Kindes losgemacht hatte, war zitternd in die unsers Toby gefallen, und letzterer führte nun seinen Gast, in einem fort sprechend, so zärtlich hinaus, als wäre dieser gleichfalls ein Kind.

Da er vor Meg wieder zurückkam, so horchte er einen Augenblick an der Tür ihrer an die Stube stoßenden kleinen Kammer. Die Kleine murmelte ein einfaches Nachtgebet , mit dem sie auch den Namen der »lieben Meg« in Verbindung brachte – dann hörte Trotty, wie sie innehielt und nach dem seinigen fragte.

Es dauerte eine kleine Weile, bis der törichte alte Knabe sich so weit fassen konnte, um das Feuer nachzuschüren und seinen Stuhl an den warmen Herd zu ziehen. Als es aber endlich geschehen war und er das Licht geputzt hatte, nahm er seine Zeitung auf der Tasche und begann zu lesen, anfangs gleichgültig, indem er rasch über die Spalten hinflog, sehr bald aber mit großem Ernst und trauriger Aufmerksamkeit.

Denn diese schreckliche Zeitung lenkte Trottys Gedanken abermals auf den nämlichen Pfad, auf dem sie den ganzen Tag über, namentlich infolge der erlebten Ereignisse, gewandert waren. Sein Interesse an den beiden Wanderern hatte ihn zwar für eine Weile in eine glücklichere Stimmung versetzt; sobald er aber wieder allein war und die Verbrechen und Gewalttaten der Leute las, versank er wieder in die frühere zurück.

Endlich kam er zu einem Bericht (und es war nicht der erste derartige, den er las) von einer Frau, die verzweiflungsvoll Hand nicht nur an ihr eignes Leben, sondern auch an das ihres jungen Kindes gelegt hatte. Dieses schreckliche Verbrechen wirkte so empörend auf ihn, daß er, als er dabei an Megs Liebe dachte, das Zeitungsblatt fallen ließ und entsetzt in seinen Stuhl zurücksank.

»Unnatürlich und grausam!« rief Toby. »Unnatürlich und grausam! Nur Leute von ganz verstocktem Herren, die schon schlecht geboren werden und auf Erden eigentlich nichts zu schaffen haben, können solche Taten verüben. Was ich heute den Tag über gehört habe, ist nur zu wahr, nur zu erwiesen. Wir sind schlecht!«

Die Glocken nahmen die Worte so plötzlich auf und ertönten so laut, so klar und voll, daß er meinte, ihre Stimme dringe aus seinem Stuhl hervor.

Und was sagten sie?

»Toby Veck, Toby Veck, wir warten auf dich, Toby! Toby Veck, Toby Veck, wir warten auf dich, Toby! Komm, besuch uns; komm, besuch uns! – Schleppt ihn zu uns, schleppt ihn zu uns – hetzt und jagt ihn, hetzt und jagt ihn! Soll nicht schlafen! Soll nicht schlafen! Toby Veck, Toby Veck, die Tür steht offen, Toby – dann begannen sie diesen Gesang wieder von vorn und klangen dermaßen, daß die Töne sogar aus den Ziegeln und dem Mörtel hervorzuquellen schienen.

Toby lauschte. Einbildung, Einbildung! Das waren wohl nur die Gewissensbisse, weil er ihnen diesen Abend entlaufen war? Nein, nein. Nichts der Art. Aber wieder und wieder, ja noch dutzendmal erklang es: »Hetzt und jagt ihn – schleppt ihn zu uns, schleppt ihn zu uns!« die ganze Stadt betäubend.

»Meg,« sagte Trotty leise, indem er an ihre Tür klopfte. »Hörst du nichts?«

»Ich höre die Glocken, Vater. Sie sind heute abend sehr laut.«

»Schläft sie?« fuhr Toby fort, diese Frage als Vorwand benutzend, um hineinschauen zu können.

»So ruhig und glücklich! Aber ich kann sie noch nicht verlassen, Vater – schau nur, wie sie meine Hand festhält!«

»Meg!« flüsterte Trotty. »Höre nur auf die Glocken!«

Sie kehrte ihrem Vater das Gesicht zu und lauschte; aber in ihren Zügen ließ sich keine Veränderung bemerken, da sie die Glockenstimmen nicht verstand.

Trotty entfernte sich, nahm wieder bei dem Feuer Platz und lauschte abermals allein. So verblieb er eine Weile.

Aber nein, unmöglich konnte er es länger ertragen; denn ihre Ausdruckskraft war zu schrecklich.

»Wenn die Turmtür wirklich offen ist,« sagte Toby, indem er hastig seine Schürze beiseite legte, ohne jedoch an Seinen Hut zu denken, »was hindert mich dann, hinaufzugehen und mich zu überzeugen? Ist sie aber geschlossen, so brauche ich keinen weitern Beweis mehr. Dann ists genug.«

Er glitt ruhig auf die Straße hinaus, fest überzeugt, daß er die Turmtür geschlossen und verriegelt finden werde; denn er kannte die Tür wohl und hatte sie selten, vielleicht in seinem ganzen Leben nicht mehr als dreimal, offen stehen sehen. Es war ein niederes Bogenportal außerhalb der Kirche, das in einer dunkeln Nische hinter einer Säule stand, und hatte so schwere Eisenbeschläge und ein so ungeheures Schloß, daß von der Tür fast nichts zu sehen war.

Aber wie groß war sein Erstaunen, als er barhäuptig zu der Kirche kam, mit der Hand in die dunkle Nische tastete – wiewohl er gute Lust hatte, sie schaudernd wieder zurückzuziehen, weil er fürchtete, sie möchte unerwartet gepackt werden – und nun bemerkte, daß die Tür, die nach außen aufging, wirklich halb offen stand!

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In der ersten Überraschung wollte er wieder zurückgehen oder doch ein Licht oder einen Begleiter holen; sein Mut kam ihm jedoch bald zu Hilfe, und er beschloß, allein hinaufzusteigen.

»Was habe ich zu fürchtend fragte Trotty. »Es ist eine Kirche! Außerdem sind vielleicht noch die Läuter da und haben vergessen, die Tür zu schließen.«

Er ging daher hinein und tastete sich weiter wie ein blinder Mann, denn es war sehr dunkel – dazu herrschte tiefe Stille, denn die Glocken ließen keinen Laut mehr vernehmen.

Der Straßenstaub war überallhin gedrungen und lag so dicht aufgehäuft, daß der Fuß wie auf weichen Samt trat. Auch hierin lag etwas Befremdliches. Ungleich befand sich die enge Treppe so nahe an der Tür, daß er auf der ersten Stufe strauchelte. Dadurch stieß er mit dem Fuß an die Tür, daß sie anprallte und schwerfällig in ihr Schloß zurückflog, und als er sie wieder zu öffnen versuchte, war all seine Bemühung vergeblich.

Dies war jedoch nur ein Grund mehr, weiter zu gehen. Trotty tastete sich vorwärts – hinauf, hinauf, hinauf – stets kreisend hinauf, hinauf, hinauf – höher, höher und höher hinauf!

Fürs Tasten war es ein sehr unangenehmes Treppenhaus , so niedrig und so schmal, daß die untersuchende Hand stets etwas berührte. Ja, es dünkte ihn oft, als stehe ein Mensch oder eine gespenstige Gestalt aufrecht da und mache Platz für ihn, damit sie unentdeckt an ihm vorbeigleiten könne. Dabei strich er mit der Hand an der glatten Mauer aufwärts, um deren Gesicht, und abwärts, um deren Füße zu suchen, während zugleich ein eisiger Schauer seinen Körper durchrieselte. Zwei- oder dreimal unterbrach eine Tür oder eine Nische die einförmige Oberfläche, und dann kam es ihm vor, als sei eine Öffnung da, so weit wie die ganze Kirche. Er meinte bei solcher Gelegenheit am Rand eines Abgrundes zu stehen, in den er kopfüber hinunterstürzen müsse, bis er die Mauer wieder gefunden hatte.

Dennoch ging es hinauf, hinauf, hinauf – im Kreis hinauf, hinauf, hinauf – höher, höher, höher hinauf!

Endlich begann die dumpfe, erstickende Atmosphäre frischer zu werden. Der Wind strömte durch und blies bald so stark, daß er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Aber er gelangte an ein gewölbtes, brusthohes Fenster in dem Turm, hielt sich an demselben fest und schaute hinunter auf die Hausgiebel, die rauchenden Schornsteine und das Gewirr von Lichtern (in die Richtung, wo Meg sich jetzt vielleicht über seine Abwesenheit wunderte und nach ihm rief) – alles zu einer Teigmasse von Nebel und Dunkelheit zusammengeknetet.

Dies war der Teil des Glockenhauses, zu dem die Läuter kamen.

Er hatte eines der abgeriebenen Seile gefaßt, die durch Öffnungen in dem Eichendach niederhingen. Anfangs fuhr er zusammen, denn es kam ihm vor, als hätte er Haare ergriffen, dann aber zitterte er schon bei dem Gedanken, die tiefe Glocke zu wecken. Die Glocken selbst hingen höher, und auch Trotty tastete sich höher hinauf, dem Räuber folgend, der ihn lockte. Der Weg wurde jetzt mühsamer und führte auf steilen Leitern weiter, die dem Fuß keinen allzu sichern Halt boten.

Hinauf, hinauf, hinauf geht es, klimmend und kletternd; hinauf, hinauf, hinauf – höher, höher, höher hinauf!

Endlich kam er auf den obern Boden und gelangte, wie er den Kopf über das Gebälk erhob, unter die Glocken. Kaum vermochte er die großen Formen im Dunkel zu unterscheiden; aber da waren sie – schattenhaft, stumm und nachtumhüllt.

Ein banges Gefühl von Furcht und Einsamkeit bemächtigte sich seiner augenblicklich , als er in dieses luftige Nest von Stein und Metall hineinkletterte. Sein Kopf schwindelte – er lauschte und erhob dann seine Stimme zu einem wilden: »Hallo!«

»Hallo!« schalle kläglich das gedehnte Echo nach.

Wirr, schwindlig, erschreckt und atemlos stierte Toby um sich her und brach dann ohnmächtig zusammen.

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Das dritte Viertel

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Schwarz sind die brütenden Wolken und aufgerührt die tiefen Grundwasser, wenn das Meer der Gedanken nach einer Windstille zu rollen beginnt und seine Toten herausgibt. Wilde, gräßliche Ungeheuer erheben sich in voreiliger, unvollkommener Auferstehung; die Teile und Gestalten verschiedener Dinge mischen und vereinigen sich nach dem Walten des Zufalls; und wann und wie und durch welche wunderbaren Abstufungen sich eines von dem andern trennt oder jedes Gefühl oder jeder Gegenstand des Geistes die gewöhnliche Form, das gewöhnliche Leben wieder annimmt, weiß niemand zu sagen, obgleich der Mensch jeden Tag das Abbild dieses großen Geheimnisses in sich selbst beobachten kann.

Wann und wie also die Dunkelheit des nachtschwarzen Kirchturms sich in helles Licht umwandelte – wann und wie der einsame Raum sich mit Myriaden Gestalten bevölkerte – wann und wie das geflüsterte: »Hetz und jag ihn,« das eintönig durch seinen Schlummer oder seine Ohnmacht zog, zu einer Stimme wurde, die in Trottys erwachendes Ohr rief. »Sollst nicht Schlafen!« – wann und wie er aufhörte, eine träge und wirre Vorstellung zu hegen, daß es solche Dinge gebe, die sich mit einer Schar andrer nicht vorhandener verbündeten – dafür gibt es keine bestimmten Angaben. Aber wachend stand er jetzt da auf den Brettern, auf denen er kurz vorher gelegen hatte, und sah dieses Gespenstergesicht.

In dem Turm, wohin ihn seine behexten Schritte gebracht hatten, umschwärmten ihn zwerghafte Phantome, Geister und Elfengestalten der Glocken. Er sah, wie sie ohne Unterlaß aus den Glocken herausquollen, sprangen, flogen oder niederfielen. Sie umringten ihn auf dem Boden, in der Luft, kletterten an den Glockenseilen abwärts, schauten von den massiven, eisenbeschlagenen Balken auf ihn nieder, blickten durch die Spalten und Öffnungen der Mauern nach ihm hin und umflatterten ihn in immer weiter werdenden Kreisen, ähnlich denen im Wasser, wenn plötzlich ein großer Stein hineingeworfen wird. Er sah sie in allen Gestalten, mit allen möglichen Gesichtszügen. Er sah unter ihnen Häßliche, Hübsche, Krüppel und wundervolle Gebilde. Er sah unter ihnen Junge, sah Alte, Sah Gütige, sah Grausame, sah Fröhliche, sah Grimmige, er sah sie tanzen, hörte sie singen, sah sie ihre Haare raufen und hörte sie heulen. Er sah, daß die Luft von ihnen erfüllt war. Er sah sie unablässig kommen und gehen. Er sah sie hinabgleiten, sich emporschwingen, in die Ferne schweben, neben sich kauern – ruhelos, in wilder Bewegung. Steine, Ziegel und Schiefer wurden für ihn so durchsichtig wie für sie. Er sah sie in den Häusern geschäftig an den Betten der Schläfer. Da brachten sie den Leuten beruhigende Träume, dort schlugen sie dieselben mit knotigen Peitschen. Er sah, wie sie den Schlummernden in die Ohren zeterten oder über ihren Pfühlen die sanfteste Musik spielten. Er sah, wie sie einige mit dem jubelnden Gesang der Vögel und mit dem Duft von Blumen beglückten und erheiterten; sah, wie sie aus Zauberspiegeln, die sie mit sich führten, gräßliche Fratzen in den unruhigen Traum andrer blitzen ließen.

Aber er sah diese Gestalten nicht nur unter den Schlafenden, sondern auch unter den Wachenden, wo sie in unversöhnlichem Haß gegeneinander kämpften und ihre verschiedenen Naturen bezeugten, die entweder echt oder auch nur, ihrem Zweck entsprechend, angenommen waren. Dort hatte sich ein Phantom zahllose Schwingen angeschnallt, um seine Eile zu vergrößern, während ein andres sich mit Ketten und Gewichten belud, um die seinige zu mäßigen. Einige trieben die Uhrzeiger vorwärts, andre drehten sie wieder zurück, während wieder andre bemüht waren, das Räderwerk ganz zum Stillstand zu bringen. Hier stellten sie eine Heiratszeremonie, dort eine Beerdigung, in diesem Saal eine Wahl, in jenem einen Ball dar; aber wo sie auch waren – nichts als rastlose, unermüdliche Bewegung.

Von der Unzahl der wechselnden und ungewöhnlichen Gestalten, wie auch durch das Getöse der Glocken, die alle läuteten, verwirrt, klammerte sich Toby an einen hölzernen Pfeiler und drehte in stummem, betäubtem Erstaunen sein leichenblasses Gesicht bald dahin, bald dorthin.

Wie er umhersah, hielt das Glockengeläute inne. Augenblicklicher Wechsel! Der ganze Schwarm wurde undeutlicher; ihre Gestalten fielen zusammen, und ihre Eile verließ sie. Sie suchten im Flug zu enteilen; aber im Niedersinken erstarben sie und zerflossen in Luft. Keine neue Schar folgte ihnen. Ein einziger Nachzügler sprang noch ziemlich rüstig von der großen Glocke herunter und kam auf seine Füße zu stehen; aber er war tot und dahin, noch ehe er sich umwenden konnte. Einige von den Spätlingen, die sich im Turm umgetrieben hatten, schwirrten noch eine Weile länger umher; sie wurden jedoch bei jedem Kreise schwächer und minder zahlreich, bis auch sie das Ende der übrigen fanden. Der letzte von allen war ein kleiner, buckeliger Kobold, der sich in eine widerhallende Ecke geflüchtet hatte, wo er noch geraume Zeit wirbelte und wirbelte und für sich auf und ab schwebte; dabei zeigte er eine solche Hartnäckigkeit, daß er zuletzt zu einem einzigen Bein, ja zu allerletzt zu einem einzigen Fuß zusammenschmolz, ehe er ganz entschwand, und als dies endlich geschehen, war es stumm und still im Turm.

Jetzt erst und nicht früher bemerkte Trotty in jeder Glocke eine bärtige Gestalt von dem Umfang und der Statur der Glocke – unbegreiflich, eine Figur und die Glocke selbst. Riesenhaft, ernst und ihn düster ins Auge fassend, während er in den Boden festgewurzelt stand.

Geheimnisvolle, grausenhafte Gestalten, die nirgends ausruhten, sondern in der Nachtluft des Turmes schwebten, die verhüllten und mit Kapuzen versehenen Köpfe zu dem dunkeln Dach erhebend – regungslos und schattenhaft. Schattenhaft und finster, obgleich er sie in einem fahlen Schein, den sie selbst verbreiteten, sehen konnte – sonst gab es nirgends Licht – und jede Gestalt hielt die eingehüllte Hand auf den gespenstigen Mund gelegt.

Er konnte sich nicht entsetzt durch die Öffnung im Boden hinabstürzen, denn alle Kraft der Bewegung hatte ihn verlassen. Andernfalls würde er dies getan, ja, sich sogar kopfüber von der Turmspitze auf die Straße hinabgestürzt haben – weit lieber, als daß er sich hier mit Augen betrachten lassen mußte, die da gewacht haben würden, selbst wenn ihnen die Pupillen herausgenommen worden wären.

Wieder und wieder berührte ihn der Schrecken und das Entsetzen des einsamen Ortes sowohl als der wilden, furchtbaren Nacht, die hier herrschte wie eine Gespensterhand. Die Ferne jeglicher Hilfe, der lange, finstere, gewundene und von Geistern belagerte Weg, der zwischen ihm und der von Menschen bewohnten Erde lag; der hohe, hohe, hoch oben gelegene Ort, wo es ihn schon schwindelte, wenn er bei Tag dem Flug der Vögel zusah; abgeschnitten von allen guten Leuten, die zu einer solchen Stunde wohlbehalten zu Hause waren und in ihren Betten schliefen – alles dies durchzuckte ihn kalt, nicht als eine Betrachtung, sondern nur als ein körperliches Gefühl. Mittlerweile waren seine Augen, seine Gedanken und seine gräßliche Furcht auf die wachsamen Gestalten gerichtet. Sie sahen in dem tiefen Düster und in dem sie einschließenden Schatten nicht aus wie Gebilde dieser Welt, um so weniger, da sie so übernatürlich über dem Boden schwebten; aber dennoch waren sie so deutlich zu unterscheiden, wie das alte, eichene Rahmenwerk und das Kreuz- und Quergebälk, das die Glocken unterstützte. Dies engte sie ein wie ein ganzer Wald von geschlagenem Holz, zwischen dessen Verschränkungen sie wie unter Zweigen toter Bäume, die zu ihrem gespenstigen Gebrauch ersterben mußten, ihre düstere unablässige Wache hielten.

Ein Windstoß – wie kalt und schrill! – kam stöhnend durch den Turm. Als er dahinstarb, begann die große Glocke oder vielmehr der Geist der großen Glocke zu sprechen.

»Was ist dies für ein Besuch?« fragte er.

Die Stimme war dumpf und tief, und Trotty meinte, sie ertöne ebensowohl aus den andern Formen.

»Ich glaubte, die Glocken hätten meinen Namen gerufen!« sagte Trotty, seine Hände mit flehentlicher Gebärde erhebend. »Ich weiß kaum, warum ich hier bin oder wie ich heraufkam. Ich habe schon seit vielen Jahren den Glockentönen zugehört, und sie haben mich oft wieder froh gestimmt.«

»Hast du ihnen auch gedankt?« fragte die Glocke.

»O, tausendmal!« rief Trotty.

»Ich bin ein armer Mann«, stotterte Trotty, »und konnte ihnen nur mit Worten danken.«

»War dies auch immer der Fall?« fragte der Geist der Glocke. »Hast du uns nie in Worten unrecht getan?«

»Nein!« rief Trotty hastig.

»Uns nie mit Worten schnödes, falsches, böswilliges Unrecht getan?« fuhr der Glockengeist fort.

Trotty wollte eben antworten: »Nie!«, hielt aber mit einem Male verwirrt inne.

»Die Stimme der Zeit«, sagte das Phantom, »ruft dem Menschen zu: ›Vorwärts!‹ Die Zeit dient seinem Fortschreiten und seiner Verbesserung, der Erhöhung seines Wertes und seines Glückes, der Veredelung seines Lebens, der Annäherung an jenes Ziel, das ihm mit Wohlbedacht bereits damals gesteckt wurde, als die Zeit und er ihren Anfang nahmen. Jahrhunderte der Finsternis, der Gottlosigkeit und der Gewalttat sind gekommen und gegangen; unzählige Millionen haben geduldet, gelebt und sind gestorben, um ihm den Weg, der vor ihm liegt, zu zeigen. Wer ihn zur Umkehr zu bewegen sucht oder in seinem Lauf anhalten will, vergeht sich an einer gewaltigen Maschine, die den Unberufenen erschlägt und nur um so ungestümer und wilder wieder losbricht, weil sie für einen Augenblick gestört wurde!«

»Meines Wissens habe ich dies nie getan,« Sagte Trotty, »und wenn es geschah, muß es ganz unabsichtlich geschehen sein. Ich würde mich sicherlich nicht einmengen.«

»Wer in den Mund der Zeit oder ihrer Diener einen Klageruf über Tage legt,« fuhr der Glockengeist fort, »die ihre Heimsuchungen und Täuschungen gehabt und so tiefe Spuren zurückgelassen haben, daß sie sogar die Blinden Sehen können – einen Klageruf, der nur insofern der Gegenwart dient, als er den Menschen sagt, wie sehr ihre Hilfe notwendig ist, wenn ein Ohr eine solche Klage um Vergangenes zu hören glaubt – wer dies tut, begeht ein Unrecht. Und du hast uns, den Glocken, ein solches Unrecht angetan.«

Trottys größte Furcht war jetzt vorüber. Aber, wie wir wissen, hatte er Liebe und Dankbarkeit für die Glocken empfunden , und als er sich als einen Menschen anklagen hörte, der sie so schwer beleidigt hatte, wurde sein Herz von Reue und Kummer schwer.

»Wenn ihr wüßtet,« sagte Trotty, seine Hände zusammenschlagend – »oder vielleicht wißt ihr es – wenn ihr also wißt, wie oft ihr mir Gesellschaft geleistet, wie oft ihr mich aufgeheitert habt, wenn ich niedergeschlagen war, und wie ihr meiner kleinen Tochter Meg fast als ein Spielzeug dientet (beinahe das einzige, das sie je hatte), da ihre Mutter starb und uns allein zurückließ, so würdet ihr mir wegen eines übereilten Wortes keinen Groll nachtragen!«

»Wer in uns, den Glocken, nur einen einzigen Ton hört, der Lieblosigkeit oder finsteren Zweifel ausdrückt an den Hoffnungen, Freuden und Schmerzen der vielbedrängten Menge; wer uns antworten hört auf Gesinnungen, die die menschlichen Leidenschaften und Gefühle abmessen, gleich der Menge der erbärmlichen Nahrung, an der die Menschheit dahinsiecht – tut uns unrecht. Dieses Unrecht hast du uns angetan!« sagte die Glocke.

»Ja, ich habe!« versetzte Trotty. »O vergib mir!«

»Wer uns dem schlechten Gewürm der Erde nachlallen hört – den Unterdrückern bereits gebeugter und gebrochener Wesen, die geschaffen sind, um sich viel höher zu erheben, als solche Maden der Zeit klettern oder denken können,« fuhr der Glockengeist fort – »wer dies tut, begeht ein Unrecht an uns. Du hast uns unrecht getan!«

»Nicht mit Absicht!« sagte Trotty. »Nur in meiner Unwissenheit – nicht mit Absicht.«

»Zuletzt und vor allem« – nahm die Glocke wieder auf – »wer den Gefallenen seines Geschlechts den Rücken kehrt, sie als schlecht aufgibt und nicht mit mitleidigem Auge den offenen Abgrund mißt, durch den sie vom Guten abfielen, obschon sie noch in ihrem Sturz nach einigen Schollen des verlorenen Bodens griffen und sich an dieselben anklammerten, selbst als sie schon zerquetscht und sterbend in der Kluft unten lagen – wer dies tut, begeht ein Unrecht an dem Himmel, an der Menschheit, an Zeit und Ewigkeit. Du hast dieses Unrecht getan!«

»Schone mich!« rief Trotty, auf seine Knie niederfallend; »um aller Barmherzigkeit willen!«

»Höre!« sagte der Schatten.

»Höre!« riefen die übrigen Schatten.

»Höre!« sagte eine klare, kindliche Stimme, die Trotty schon früher gehört zu haben vermeinte.

Die Orgel tönte leise in der Kirche unten. Nach und nach anschwellend, stieg die Melodie bis zu dem Dach hinan und erfüllte Chor und Schiff. Mehr und mehr sich ausbreitend , schwang sie sich hinauf, immer höher und höher hinauf, wobei sie in dem derben Eichengebälk, den hohlen Glocken, den eisenbeschlagenen Türen und den steinernen Treppen erregte Herzen weckte, bis die Turmmauern sie nicht mehr fassen konnten und sie gen Himmel schwebte.

Kein Wunder, daß das Herz eines alten Mannes einen so ungeheuren, gewaltigen Ton nicht einzuschließen vermochte. Er brach aus diesem schwachen Gefängnis in einem Strom von Tränen, und Trotty preßte seine Hände vor das Gesicht.

»Höre!« sagte der Schatten.

»Höre!« riefen die andern Schatten.

»Höre!« sagte die Kinderstimme.

Feierliche Akkorde gemischter Stimmen erhoben sich nun in dem Turm.

Es war eine gedämpfte, wehmütige Melodie – ein Totengesang; und wie Trotty lauschte, hörte er sein Kind unter den Sängern.

»Sie ist tot!« rief der alte Mann. »Meg ist tot! Ihr Geist ruft mich – ich höre ihn!«

»Der Geist deines Kindes beklagt die Toten und mischt sich unter die Toten – die erstorbenen Hoffnungen und erstorbenen Jugendträume,« erwiderte die Glocke. »Aber sie lebt. Lerne aus ihrem Leben eine lebendige Wahrheit. Lerne aus dem Wesen, das deinem Herzen am teuersten ist, wie schlecht die schlecht Geborenen sind. Sieh, wie jede Knospe und jedes Blatt nacheinander von dem schönsten Stengel gepflückt wurde, und erkenne daraus, wie kahl und elend er dann sein mag. Folge ihr – in die Verzweiflung!«

Jede von den Schattengestalten streckte ihren rechten Arm aus und deutete nach unten.

»Der Geist der Glocken ist dein Begleiter,« sagte die Gestalt. »Geh! er steht hinter dir!«

Trotty wandte sich um und sah – das Kind? das Kind, das Will Fern in der Straße getragen hatte; das Kind, das jetzt schlief und an dessen Bett Meg wachte!

»Ich habe es selbst diesen Abend getragen,« sagte Trotty. »In diesen meinen Armen!«

»Zeigt ihm, was er sein Selbst nennt,« sagten die dunkeln Gestalten im Chor.

Der Turm öffnete sich unter seinen Füßen. Er sah hinab und sah seine Gestalt außen auf dem Boden liegen – zerschmettert und regungslos.

»Nicht mehr ein lebendiger Mensch!« rief Trotty. »Tot!«

»Tot!« sagten die Gestalten alle zugleich.

»Barmherziger Himmel! Und das Neujahr …«

»Vergangen,« sagten die Gestalten.

»Wie?« rief er schaudernd. »So verfehlte ich wohl meinen Weg, gelangte in der Dunkelheit an die Außenseite dieses Turmes und fiel hinunter – vor einem Jahr?«

»Vor neun Jahren!« versetzten die Schatten.

Während sie diese Antwort gaben, nahmen sie ihre ausgestreckten Hände wieder an sich, und wo ihre Gestalten geschwebt hatten, befanden sich jetzt die Glocken.

Und sie erklangen – ihre Zeit war wieder gekommen. Und abermals sprangen zahllose Phantome ins Dasein, die dieselbe Zusammenhangslosigkeit zeigten wie früher; abermals verblichen sie, sobald die Glockenzungen ruhten, und fielen in ein Nichts zusammen.

»Wer sind diese?« fragte er seinen Führer. »Wenn ich nicht verrückt werden soll, wer sind diese?«

»Es sind Geister der Glocken – ihr Ton in der Luft,« entgegnete das Kind. »Sie nehmen dieselben Gestalten und Beschäftigungen an, die ihnen von den Hoffnungen, Gedanken und Erinnerungen der Sterblichen gegeben werden.«

»Und du,« rief Trotty außer sich – »wer bist du?«

»Still, still!« erwiderte das Kind. »Sieh da hin!«

In einem schlechten, ärmlichen Gemach arbeitete an derselben Art von Stickerei, wie er es oft gesehen hatte, seine liebe Tochter Meg. Er versuchte nicht, Küsse auf ihr Gesicht zu drücken oder sie an sein klopfendes Herz zu pressen, denn er wußte, daß es für ihn keine solchen Liebkosungen mehr gab. Aber er hielt seinen zitternden Atem an und wischte die blendenden Tränen weg, um sie sehen, nur sehen zu können.

Ach! verändert – und wie verändert! Wie trüb war das Licht des klaren Auges, wie verblichen der Schmelz ihrer Wangen! Zwar war sie noch so schön wie immer, aber die Hoffnung, die Hoffnung, die Hoffnung – ach, wo war die frische Hoffnung, die ihn wie eine Stimme angerufen hatte!

Sie blickte von ihrer Arbeit auf nach einer Gefährtin. Der alte Mann folgte ihren Augen und fuhr betroffen zurück.

In dem erwachsenen Mädchen erkannte er sie auf den ersten Blick. Er sah in den langen seidenen Haaren noch dieselben Locken, und um die Lippen noch immer den kindlichen Ausdruck. Ja, in den Augen, die sich jetzt fragend an Meg wandten, leuchtete noch derselbe Blick, wie zur Zeit, als er sie nach Hause brachte.

Was war denn dies neben ihm?

Mit Grausen sah er sich nach dem Kinde um und bemerkte in dessen Gesicht etwas Überirdisches , Unbestimmtes, Undeutliches, das kaum mehr an jenes Kind erinnerte als die andre Gestalt; und doch war es dieselbe – dieselbe – und trug auch das nämliche Kleid.

Horch! Sie sprachen.

»Meg,« sagte Lilian stockend. »Wie oft du von deiner Arbeit aufschaust, um mich anzusehen!«

»Sind meine Blicke so verändert, daß sie dich erschrecken?« sagte Meg.

»Nein, meine Liebe! Aber du lächelst selbst darüber! Warum lächelst du nicht, wenn du mich ansiehst?«

»Ich tue es ja. Oder nicht?« antwortete sie, ihr zulächelnd.

»Jetzt wohl,« sagte Lilian, »aber gewöhnlich nicht. Wenn du denkst, ich sei beschäftigt und sehe dich nicht, ist deine Miene so ängstlich und bekümmert, daß ich kaum meine Augen zu erheben wage. Man hat wohl in diesem harten und mühsamen Leben wenig Grund zum Lächeln; aber du warst einst so heiter.«

»Bin ichs nicht noch?« rief Meg im Ton seltsamer Unruhe und erhob sich, um ihre Gefährtin zu umarmen. »Mache ich dir das mühsame Leben noch mühsamer, Lilian?«

»Du warst das Einzige, das unser Leben überhaupt zu einem Leben machte,« sagte Lilian, sie glühend küssend, »und auch das Einzige, das mir bisweilen noch ein solches Leben wert macht, Meg. Ach, diese Arbeit, diese Arbeit! So viele Stunden, so viele Tage, So viele lange, lange Nächte hoffnungsloser, ertötender und nie endender Arbeit – nicht um Reichtümer aufzuhäufen , nicht um herrlich und in Freuden zu leben, nicht um auch bloß sorglos leben zu können, so einfach auch unsre Kost sein mag, sondern nur, um das trockene Brot zu verdienen, just um so viel zusammenzuscharren, damit wir weiterleben und weiter Not leiden und in uns das Bewußtsein unsres harten Schicksals lebendig erhalten können! O Meg, Meg!«

Sie erhob ihre Stimme und schlang ihre Arme um sie, wie in herbem Schmerze. »Wie kann die grausame Welt ihren Kreislauf gehen und den Anblick solcher Leben ertragen!«

»Lilly!« sagte Meg beschwichtigend, indem sie ihr das Haar aus dem feuchten Gesicht strich. »Ach Lilly! Du! So hübsch und so jung!«

»O Meg!« fiel ihr Lilian ins Wort, indem sie ihre Freundin auf Armeslänge vor sich hinhielt und flehend in ihr Gesicht blickte. »Das ist das Schlimmste, das Schlimmste von allem! Mache mich alt, Meg ! Gib mir Runzeln und einen welken Leib, um mich von den schrecklichen Gedanken zu befreien, die mich in meiner Jugend zu verlocken suchen !«

Trotty wandte sich, um nach seinem Führer zu sehen. Aber der Geist des Kindes war entflohen – fort.

Aber auch er blieb nicht an demselben Platze. Sir Joseph Bowley, der Freund und Vater der Armen, hielt in Bowley Hall zu Ehren des Geburtstags der Lady Bowley ein großes Festgelage; und da Lady Bowley am Neujahrstag geboren war – ein Umstand, den die Lokalzeitungen als einen ausdrücklichen Wink der Vorsehung bezeichneten, daß Lady Bowley in der Zahlenreihe der Schöpfung für Nummer Eins bestimmt sei – fand auch dieses Gelage an einem Neujahrstag statt.

Bowley Hall strotzte von Gästen. Der rotgesichtige Gentleman war da, Herr Filer war da, der große Alderman Cute war da – Alderman Cute empfand ein sehr wohltuendes Gefühl im Verkehr mit vornehmen Leuten und hatte vermöge seines aufmerksamen Briefes große Fortschritte in Sir Joseph Bowleys Bekanntschaft gemacht, indem er seitdem eigentlich zu einem Familienfreund wurde – und noch viele andre Gäste waren da. Auch Trottys Geist war zugegen und wanderte traurig als ein armes Phantom auf der Suche nach seinem Führer umher.

In der großen Halle sollte ein prachtvolles Festmahl gegeben werden, und Sir Joseph Bowley in seinem gefeierten Charakter als Freund und Vater der Armen sollte eine bedeutsame Rede dabei halten. Seine Freunde und Kinder durften zuerst in einer andern Halle eine gewisse Anzahl von Pflaumenpuddingen verzehren und sollten dann auf ein gegebenes Signal zu ihren Freunden und Vätern hineinströmen, um eine Familienversammlung zu bilden, bei der kein Männerauge von Tränen unbefeuchtet bleiben sollte.

Aber noch mehr als dies sollte geschehen. Sogar noch mehr. Sir Joseph Bowley, Baronet und Parlamentsmitglied, hatte sich vorgenommen, mit seinen Pächtern eine Kegelpartie – eine wirkliche Kegelpartie – zu machen.

»Das erinnert mich ganz an die Tage des alten Königs Heinz, des wackern Königs Heinz, des leutseligen Königs Heinz,« sagte Alderman Cute. »Ah! ein prächtiger Mann!«

»Sehr,« bemerkte Herr Filer trocken, »um Weiber zu heiraten und sie umzubringen. Und noch obendrein beträchtlich mehr als die Durchschnittszahl der Weiber.«

»Ihr werdet die schönen Damen heiraten und sie nicht umbringen, he?« sagte Alderman Cute zu dem Erben von Bowley, einem zwölfjährigen Jungen. »Ein süßer Knabe! Wir werden diesen kleinen Gentleman im Parlament haben,« fügte er bei, indem er ihn bei der Schulter faßte und ihn so aufmerksam als nur möglich ansah, »ehe wir wissen, wo wir sind. Wir werden hören von seinen Erfolgen bei den Wahlen , von seinen Reden im Hause, von den Anträgen, die ihm die Regierung macht, von seinen herrlichen Kenntnissen auf allen Gebieten! Ja, ich stehe dafür, wir werden im Gemeinderat gleichfalls kleine Reden über ihn halten, ehe wir Zeit haben, uns umzusehen!«

»O welch ein Unterschied bei Schuhen und Strümpfen!« dachte Trotty. Aber sein Herz sehnte sich nach seinem kleinen Führer um derselben schuh- und strumpflosen Knaben willen, die die Kinder der armen Meg sein konnten und der Prophezeiung des Alderman zufolge schlecht ausfallen mußten.

»Richard,« stöhnte Trotty, unter der Gesellschaft auf- und abgehend; »wo ist er? Ich kann Richard nicht finden! Wo ist Richard?«

Wahrscheinlich nicht hier, wenn er noch am Leben ist ! Aber Trottys Kummer und das Gefühl der Einsamkeit hatten ihn ganz wirr gemacht; er wanderte noch immer unter der prunkenden Gesellschaft umher, spähte nach seinem Führer und rief: »Wo ist Richard? Zeigt mir Richard!«

Auf seinen Kreuz- und Quergängen begegnete er Herrn Fish, dem vertrauten Sekretär, der in großer Aufregung ausrief:

»Gott behüte mich! Wo ist Alderman Cute? Hat niemand den Alderman gesehen?«

Den Alderman gesehen? O Himmel, wer hätte auch den Alderman übersehen können? Er war so rücksichtsvoll, so leutselig und verlangte so sehr danach, den Wunsch der Leute, ihn zu Gesicht zu bekommen, so oft als möglich zu erfüllen, daß – angenommen er hätte einen Fehler – es nur der sein konnte, unaufhörlich präsentiert zu werden. Und wo immer vornehme Leute waren, da durfte man sicher auch auf Cute zählen, weil die verwandtschaftliche Sympathie großer Seelen stets anziehend wirkt.

Mehrere Stimmen riefen, er befände sich in dem Kreise um Sir Joseph. Herr Fish eilte dorthin, fand ihn und nahm ihn heimlich an das nächste Fenster. Trotty näherte sich ihnen – nicht aus eignem Antrieb; er fühlte, daß seine Schritte in diese Richtung gelenkt wurden.

»Mein teurer Alderman Cute,« sagte Herr Fish; »ein wenig mehr hierher. Es hat sich, wie ich in diesem Augenblick erst erfahre, etwas höchst schreckliches zugetragen, und ich glaube, es wird am besten sein, Sir Joseph erst davon in Kenntnis zu setzen, wenn der Tag vorüber ist. Ihr kennt Sir Joseph und werdet mir Eure Ansicht mitteilen. Der Schrecklichste und beklagenswerteste Vorfall!«

»Fish!« entgegnete der Alderman, »Fish, mein guter Freund, was gibt es? Hoffentlich doch nichts Revolutionäres? Nein – doch kein Versuch, sich in die Schritte der Obrigkeit zu mengen?«

»Deedles, der Bankier,« keuchte der Sekretär. »Gebrüder Deedles – der heute hätte kommen sollen – der eine so hohe Stellung in der Genossenschaft der Goldschmiede einnimmt …«

»Hat doch nicht seine Zahlungen eingestellt?« rief der Alderman. »Es kann nicht sein!«

»Sich selbst erschossen.«

»Guter Gott!«

»In seinem eignen Kontor sich eine doppelläufige Pistole an den Mund gesetzt und sich das Gehirn hinausgeblasen. Kein Beweggrund. Fürstliche Verhältnisse!«

»Verhältnisse!« rief der Alderman. »Ein Mann von edlem Vermögen. Einer der achtbarsten Männer. Selbstmord, Herr Fish, durch eigne Hand?«

»Erst diesen Morgen,« erwiderte Herr Fish.

»O das Gehirn, das Gehirn!« rief der fromme Alderman, seine Hände erhebend. »O die Nerven, die Nerven – die Geheimnisse dieser Maschine, die man Mensch nennt ! Welche Kleinigkeit reicht nicht hin, sie in Unordnung zu bringen! Was sind wir nicht für arme Geschöpfe! Vielleicht ein Diner, Herr Fish. Vielleicht die Lebensweise seines Sohnes, der, wie ich gehört habe, etwas über den Strang schlagen und ohne jede Ermächtigung Wechsel auf den Namen seines Vaters ausstellen soll. Ein höchst achtbarer Mann – einer von den achtbarsten Männern, die ich je kannte! Ein beklagenswerter Fall, Herr Fish! Ein öffentliches Unglück! Ich werde mirs zur Ehrensache machen, um ihn die tiefste Trauer zu tragen! Ein höchst achtbarer Mann. Aber es ist einer über uns. Wir müssen uns darein fügen, Herr Fish. Wir müssen uns fügen!«

Wie, Alderman? Kein Wort von »den Selbstmord legen«? Erinnere dich, Friedensrichter, wie du dich stolz deiner hohen Moral rühmtest! Bring diese Wagschalen ins Gleichgewicht, Alderman! Wirf in die leere das fehlende Mittagessen und die Quellen der Natur, die bei irgendeinem armen Weib durch das hungernde Elend ausgetrocknet und zum Widerstand gebracht wurden gegen die Ansprüche, zu denen ihr Sprößling von der heiligen Mutter Eva her berechtigt ist. Wäge mir diese beiden, du richtender Daniel, wenn dein Gerichtstag kommen wird! Wäge sie in den Augen leidender Tausende, die aufmerksam der greulichen Posse, die du spielst, zusehen! Oder angenommen, du hättest deine fünf Sinne verloren – du hast nicht so weit dazu, daß es nicht möglich wäre – und legtest Hand an diese deine Kehle, zur Warnung für deinesgleichen (wenn es noch deinesgleichen gibt), damit sie nicht ihre behagliche Schlechtigkeit den zum Wahnsinn getriebenen Gehirnen und gequälten Herzen vorkrächzen – was dann?

Die Worte erhoben sich in Trottys Brust, als würden sie in seinem Innern von einer andern Stimme gesprochen. Alderman Cute machte sich anheischig, Herrn Fish zu unterstützen, um nach Ablauf des Tages Sir Joseph die traurige Kunde beizubringen. Ehe sie sich trennten, drückte er noch Herrn Fish in bitterm Schmerze die Hand und sagte abermals: »Der achtbarste Mann!« Und dann fügte er noch hinzu, daß er kaum verstehe (nicht einmal er!), warum solche Trübsal auf Erden vorkommen dürfe.

»Wenn mans nicht besser wüßte, so möchte man fast glauben,« fuhr Alderman Cute fort, »daß bisweilen in den Dingen eine Umsturzbewegung vorgehe, die die allgemeine Ordnung des sozialen Baues aus ihren Fugen hebt. Gebrüder Deedles!«

Das Kegelspiel verlief mit ungeheurem Erfolg. Sir Joseph warf die Kegel mit wunderbarer Geschicklichkeit um; Master Bowley machte aus kürzerer Entfernung gleichfalls einen Anfangsversuch, und jedermann sagte, daß nun, da ein Baronet und der Sohn eines Baronets Kegel spielten, die Verhältnisse des Landes eine rasche Wendung zum Bessern nehmen müssen.

Im richtigen Moment wurde das Festmahl aufgetragen. Trotty begab sich unwillkürlich mit den übrigen nach der Halle, denn er fühlte sich durch eine stärkere Gewalt, als die seines eignen freien Willens, dahin gedrängt. Der Anblick war ein ungewöhnlich glänzender; die Damen waren sehr hübsch und alle Gäste entzückt, fröhlich und heiter gestimmt. Als die untern Türen geöffnet wurden und die Leute in ihrer ländlichen Kleidung hereinschwärmten, erreichte die Schönheit des Schauspiels ihren Höhepunkt; aber Trotty murmelte nur um so angelegentlicher: »Wo ist Richard? er sollte ihr helfen und sie trösten! Ich kann Richard nicht sehen!«

Es wurden einige Reden gehalten. man trank auf die Gesundheit Lady Bowleys; Sir Joseph hatte sich bedankt und hielt eben seine große Rede, indem er an mancherlei Tatsachen bewies, daß er der geborene Freund und Vater usw. der Armen sei, und brachte ein Hoch auf seine Freunde und Kinder und auf die Würde der Arbeit aus, als eine kleine Unruhe unten in der Halle Tobys Aufmerksamkeit fesselte. Nach einiger Verwirrung, etwas Lärm und Widerstand brach ein einzelner Mann durch die Reihen der übrigen und trat vor.

Nicht Richard. Nein. Aber einer, an den er auch schon gedacht und nach dem er sich oftmals umgesehen hatte. Bei einer spärlicheren Beleuchtung würde er die Identität des alten, grauen, gebeugten und abgelebten Mannes bezweifelt haben; so aber fiel ein heller Lampenglanz auf dessen verwitterten Kopf, und er erkannte in der Person, sobald sie sich vorgedrängt hatte, augenblicklich Will Fern.

»Was soll das?« rief Sir Joseph aufstehend. »Wer hat diesen Mann eingelassen? Dies ist ein Verbrecher aus dem Gefängnis! Herr Fish, Sir, wollen Sie die Güte haben …«

»Eine Minute!« sagte Will Fern. »Eine Minute! Gnädige Frau, Ihr seid an diesem Tag mit einem neuen Jahr geboren worden. Laßt mich eine einzige Minute sprechen!«

Sie legte eine Fürbitte für ihn ein, und Sir Joseph nahm mit angeborener Würde wieder Platz.

Der zerlumpte Gast – denn er war erbärmlich gekleidet – blickte in der Gesellschaft umher und bezeigte ihr seine Huldigung mit einer demütigen Verbeugung.

»Ihr vornehmen Leute,« sagte er, »ihr habt auf die Gesundheit des Arbeiters getrunken. Seht mich an!«

»Kommt just aus dem Gefängnis,« sagte Herr Fish.

»Ja, ich komme aus dem Gefängnis,« versetzte Will. »Und zwar nicht zum ersten, zweiten, dritten – ja nicht einmal zum viertenmal.«

Man hörte Herrn Filer verdrießlich bemerken, daß viermal die Durchschnittszahl übersteige, und er sollte sich vor sich selbst schämen.

»Seht mich immerhin an, ihr vornehmen Leute,« wiederholte Will Fern. »Ihr seht, ich bin bis zum Ärgsten herabgesunken. Man kann mir nichts Schlimmeres mehr anhaben, und ich bin außer dem Bereich eurer Hilfe, denn die Zeit, in der eure freundlichen Worte oder eure freundlichen Handlungen mir hätten guttun können« – er schlug dabei mit der Hand auf die Brust und schüttelte seinen Kopf – »ist vorbei, wie der Duft des Klees vom vorigen Jahr. Aber laßt mich ein Wort für diese sprechen« – er deutete auf die Arbeiter in der Halle – und hört, da ihr wieder zusammengekommen seid, wenigstens einmal die reine Wahrheit!«

»Es ist niemand hier,« sagte der Wirt, »der ihn zum Sprecher haben möchte.«

»Wahrscheinlich genug, Sir Joseph. Ich glaube es. Aber darum ist das, was ich sage, nicht weniger wahr. Vielleicht dient mir das nur zum Beweis meiner Wahrheitstreue. Ihr vornehmen Leute, ich habe manches Jahr an diesem Ort gelebt, und ihr könnt dort meine Hütte mit dem eingefallenen Zaune sehen. Hundertmal war ich Zeuge, wie die Damen sie in ihre Bücher zeichneten. Ich habe sagen hören, sie nehme sich gut auf einem Bilde aus; aber auf Bildern gibt es kein Wetter, und sie mag sich daher besser dazu eignen, als zu einem Wohnplatz. Also! Dort habe ich gelebt. Wie hart – wie bitterhart es mir dort erging, will ich nicht sagen. Ihr könnt es jeden Tag im Jahr selber beurteilen.«

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Er sprach, wie er in der Nacht gesprochen hatte, als ihn Trotty in der Straße traf. Seine Stimme klang tiefer und heiserer und zitterte dann und wann ein wenig. Aber er ließ sie niemals leidenschaftlich werden, und selten sprach er lauter, als es die schlichten Dinge und Tatsachen forderten, die er berichtete.

»Es ist schwerer, als ihr vornehmen Leute denken mögt, an einem solchen Platz als ordentlicher Mensch zu leben. Daß ich zu einem Mann und nicht zu einem Vieh darin heranwuchs – damals – sagt schon etwas für mich. Über meine jetzige Lage läßt sich nichts mehr sagen, wie denn auch nichts mehr für mich getan werden kann. Ich bin darüber hinaus.«

»Ich freue mich, daß dieser Mann eingetreten ist,« sagte Sir Joseph, heiter im Kreis umherblickend. »Stört ihn nicht. Es scheint Bestimmung zu sein. Er ist ein Beispiel – ein lebendiges Exempel. Ich hoffe und erwarte zuversichtlich, daß es an meinen Freunden hier nicht verloren geht.«

»Ich schleppte mich fort,« sagte Fern nach einer kurzen Pause, »wie es eben gehen mochte. Weder ich noch irgendein andrer Mensch weiß, wie – jedenfalls aber so schwer, daß ich kein heiteres Gesicht dazu schneiden oder andern glauben machen konnte, ich sei etwas andres, als was ich war. Nun, Gentlemen – ihr Gentlemen, die ihr in den Parlamentssitzungen zusammentrefft – wenn ihr einen Mann mit einem unzufriedenen Zug im Gesicht seht, so sagt ihr zueinander. ›Er ist verdächtig. Ich habe meine Bedenken‹, sagt ihr, ›über Will Fern. Faßt diesen Burschen ins Auge.‹ Ich will nicht behaupten, Gentlemen, daß dies nicht ganz natürlich sei – aber ich sage, es ist so, und von dieser Stunde an wird alles auf sein Schuldkonto gebucht, mag nun Will Fern tun oder lassen, was er will.«

Alderman Cute steckte seine Daumen in seine Westentaschen, lehnte sich lächelnd in seinem Stuhl zurück und blinzelte einem benachbarten Leuchter zu, als wollte er sagen: »Natürlich! ich Sagte es ja. Das gewöhnliche Geschrei! Gott behüte, wir sind derartigen Dingen längst gewachsen – ich selbst und die menschliche Natur.«

»Wohlan, Gentlemen,« fuhr Will Fern fort, indem er seine Hände ausstreckte und ein flüchtiges Rot sein hageres Gesicht einen Augenblick überflammte. »Seht, wie eure Gesetze gemacht sind, um uns einzufangen und zu hetzen, wenn es einmal so weit mit uns gekommen ist. Ich versuche, anderswo meinen Unterhalt zu finden, und man behandelt mich als einen Landstreicher. Ins Gefängnis mit ihm! Ich komme hierher zurück, sammle in den Wäldern Nüsse und breche – wer täte es nichts – ein paar dünne Zweige ab. Ins Gefängnis mit ihm! Einer von den Förstern sieht mich am hellen Tag in der Nähe meines eignen Gartens mit einem Gewehr. Ins Gefängnis mit ihm! Sobald ich wieder frei bin, kommts natürlich zu einem zornigen Wortwechsel mit diesem Mann. Ins Gefängnis mit ihm! Ich schneide mir einen Stock. Ins Gefängnis mit ihm! Ich esse einen faulen Apfel oder eine Rübe. Ins Gefängnis mit ihm! Es ist zwanzig Meilen entfernt, und als ich wieder zurückkomme, bettle ich an der Straße um eine Kleinigkeit. Ins Gefängnis mit ihm! Kurz, der Polizeimann oder der Wildhüter oder sonst jemand findet immer, daß ich hier oder dort irgend etwas anstelle. Ins Gefängnis mit ihm, denn er ist ein Landstreicher und bekannter Zuchthausvogel. So ist denn das Zuchthaus zu seiner einzigen Heimat geworden!«

Der Alderman nickte wohlweise, als wollte er sagen. »Und obendrein eine recht gute Heimat!«

»Glaubt ja nicht, daß ich dies sage, um meiner Sache zu dienen!« rief Fern. »Wer kann mir meine Freiheit, meinen guten Namen und meine unschuldige Nichte zurückgeben? Alle Lords und Ladies in dem weiten England sind es nicht imstande. Aber ihr Gentlemen, wenn ihr mit andern zu tun bekommt, wie mit mir, fangt die Sache an dem rechten Ende an. Seid so barmherzig, uns, wenn wir in unsern Wiegen liegen, eine bessere Heimat zu geben; reicht uns bessere Kost, wenn wir für unsern Unterhalt arbeiten, und gebt uns wohlwollende Gesetze, die uns auf den rechten Weg zurückbringen können, wenn wir von demselben abweichen; aber stellt uns nicht überall, wohin wir uns auch wenden mögen, ewig nur das Gefängnis, das Gefängnis, das Gefängnis vor die Augen! Jede Herablassung, die ihr dem Arbeiter erweisen mögt, wird er so bereitwillig und dankbar hinnehmen, wie nur ein Mensch kann, denn er hat ein geduldiges, friedliches und williges Herz; aber ihr müßt zuerst den rechten Geist in ihm fassen, denn bis jetzt noch ist der seinige von euch getrennt, mag er nun eine solche Ruine oder ein Wrack sein wie ich, oder denen gleichen, die hier herumstehen. Bringt ihn zurück, bringt ihn zurück, ihr vornehmen Leute! bringt ihn zurück, ehe der Tag kommt, da in seiner veränderten Gesinnung auch die Bibel eine andre Gestalt gewinnt und ihm die Worte derselben erscheinen, wie sie mir bisweilen in dem Gefängnis vorkamen: ›Wohin du gehst, kann ich nicht hingehen; wo du wohnst, wohne ich nicht; dein Volk ist nicht mein Volk und dein Gott nicht der meinige!‹«

In der Halle fand nun eine plötzliche Bewegung und Aufregung statt. Trotty meinte anfangs, es hätten sich einige aufgerafft, um den Mann hinauszuwerfen, und daher rühre der Wechsel in der Szene. Aber der nächste Augenblick belehrte ihn, daß der Saal mit der ganzen Gesellschaft seinen Augen entschwunden war und seine Tochter wieder vor ihm saß, wie sie sich bei ihrer Arbeit abmühte. Ihr Dachstübchen war armseliger und schlechter als das frühere, und Lilian befand sich nicht an ihrer Seite.

Der Rahmen, an dem letztere gearbeitet hatte, lag auf einem Sims und war zugedeckt, ihr Stuhl stand gegen die Wand gelehnt. In diesen kleinen Dingen und in Megs gramvollem Gesicht sprach sich eine lange Geschichte aus – o, wer hätte sie nicht zu lesen vermocht!

Meg hatte die Augen auf ihre Arbeit geheftet, bis es zu dunkel war, um den Faden zu sehen, und als die Nacht hereinbrach, zündete sie ihre dünne Kerze an, um weiter zu arbeiten. Noch immer befand sich ihr alter Vater unsichtbar in ihrer Nähe, schaute auf sie nieder und sprach mit ihr – o, mit welch inniger Liebe! – mit leiser Stimme über alte Zeiten und über die Glocken, obschon der arme Trotty wohl wußte, daß sie ihn nicht hören konnte.

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Der größere Teil des Abends war bereits entschwunden, als an ihre Tür gepocht wurde. Sie öffnete. Ein Mann stand auf der Schwelle – ein mürrischer, schlottriger, schmutziger Trunkenbold, den Laster und Unmäßigkeit gezeichnet hatten und dem die wirren Haare und der ungeschorene Bart ein wildes Aussehen verliehen; aber dennoch waren einige Spuren an ihm zu bemerken, die zeigten, daß er in seiner Jugend gut gebaut und hübsch gewesen war.

Er blieb stehen und wartete, bis ihm Meg einzutreten erlaubte; sie aber wich ein paar Schritte von der offenen Tür zurück und sah ihn stumm und bekümmert an. Trottys Wunsch war erfüllt – er hatte Richard vor sich.

»Darf ich hereinkommen, Margaret?«

»Ja! komm herein. Komm herein!«

Es war gut, daß ihn Trotty erkannt hatte, ehe er sprach; denn wenn auch nur ein Zweifel in ihm geherrscht hätte, so würde ihn die rauhe, mißtönige Stimme überzeugt haben, daß es nicht Richard, sondern ein andrer Mann sei.

Es waren nur zwei Stühle in der Stube. Sie gab ihm den ihrigen und blieb eine Weile in einiger Entfernung stehen, wartend, was er ihr zu sagen habe.

Er setzte sich nieder und blickte mit glanzlosem, blödsinnigem Lächeln stier auf den Boden – ein Anblick so tiefer Verkommenheit, gänzlicher Hoffnungslosigkeit und kläglicher Verwahrlosung, daß sie die Hand vor das Gesicht hielt und sich ab wandte, um ihn nicht sehen zu lassen, wie sehr sie sein Wesen erschütterte.

Durch das Rauschen ihres Kleides oder irgendein andres unbedeutendes Geräusch aus seinem Stumpfsinn geweckt, erhob er seinen Kopf und begann zu sprechen, als ob seit seinem Eintritt keine Pause gewesen wäre.

»Noch immer bei der Arbeit, Margaret? Du arbeitest spät.«

»Das geschieht gewöhnlich so.«

»Und früh?«

»Und früh.«

»Das hat sie mir gesagt. Sie sagte, du seiest unablässig tätig und gestehest nie deine Müdigkeit. Nie, solange ihr beisammen lebtet – nicht einmal, als du von Arbeit und Fasten ohnmächtig wurdest. Doch ich habe dir dies bereits gesagt, als ich das letzte Mal hier war.«

»Das tatest du,« antwortete sie; »und ich beschwor dich, mir nichts mehr darüber zu sagen. Auch hast du mirs feierlich versprochen, Richard.«

»Feierlich versprochen,« wiederholte er mit einem kindischen Lachen und einem blöden Blick ins Leere. »Feierlich versprochen, natürlich. Feierlich versprochen!«

Nach einer Weile schien er sozusagen in den früheren Zustand aufzuwachen, denn er fügte mit plötzlicher Lebhaftigkeit bei:

»Aber was kann ich dafür, Margaret? Was soll ich tun? Sie ist wieder bei mir gewesen!«

»Wieder?« rief Meg, ihre Hände zusammenschlagend. »O denkt sie so oft an mich? Schon wieder?«

»O schon zwanzigmal,« sagte Richard. »Margaret, sie läßt mir keine Ruhe. Sie kommt aus der Straße hinter mir her und steckt mirs in die Hand. Ich höre ihren Fuß in der Asche, wenn ich bei meiner Arbeit bin (ha ha! das ist nicht oft), und ehe ich meinen Kopf umwenden kann, tönt mir ihre Stimme ins Ohr. ›Richard, dreh dich nicht um. Gib ihr das, um aller Barmherzigkeit willen!‹ Sie bringt es mir in die Wohnung, schickt es in Briefen, klopft an das Fenster und legt es auf den Sims. Was kann ich tun? Schau her!« Er hielt ihr in der Hand eine kleine Börse entgegen und klimperte mit dem darin enthaltenen Gelde.

»Steck es ein,« sagte Meg, »steck es ein! Wenn sie wiederkommt, so Sage ihr, Richard, daß ich sie von ganzem Herren liebe – daß ich mich nie schlafen lege, ohne sie zu segnen und für sie zu beten – daß ich bei meiner einsamen Arbeit nie aufhöre, an sie zu denken, daß ich Tag und Nacht bei ihr bin und daß ich, wenn ich morgen sterbe, mit meinem letzten Atemzug noch ihrer gedenken will, daß ich aber dies nicht ansehen kann!«

Er zog die Hand langsam wieder an sich, knitterte den Beutel zusammen und sagte mit einer Art schläfriger Nachdenklichkeit:

»Ich sagte ihr dies. Ich sagte ihrs so deutlich, als es sich durch Worte nur aussprechen läßt. Dutzendmal nahm ich seitdem diese Gabe wieder zurück und ließ sie an ihrer Tür liegen. Aber als sie zum letzenmal kam und Angesicht gegen Angesicht vor mich hintrat, was konnte ich tun?«

»Du hast sie gesehen?« rief Meg. »Du hast sie gesehen? O Lilian, mein süßes Mädchen! O Lilian, Lilian!«

»Ich habe sie gesehen,« fuhr er fort, nicht gerade als Antwort, sondern seinem Gedankengang folgend. »Sie stand zitternd da – ›Wie sieht sie aus, Richard? Spricht sie nie von mir? Ist sie schmächtiger geworden? Mein alter Platz an dem Tisch – was ist an meinem alten Platz? Und der Rahmen, an dem sie mich unsre frühere Arbeit lehrte – hat sie ihn verbrannt, Richard?‹ Sie war da, und ich hörte sie so sprechen.«

Meg unterdrückte ihr Schluchzen und beugte sich mit hervorstürzenden Tränen über ihn, um ihm zuzuhören und ja keinen Laut von seinen Worten zu verlieren.

Seine Arme waren auf die Knie aufgestützt, und er lehnte sich in seinem Stuhl vornüber, als sei das, was er sagte, in halb leserlichen Zügen, so daß er Mühe hätte sie zu entziffern, auf den Boden geschrieben. Er fuhr fort:

»›Richard, ich bin sehr tief gefallen, und du kannst dir denken, wie viel ich gelitten habe, als mir dies zurückgeschickt wurde, wenn ich es über mich gewinnen konnte, es eigenhändig dir wiederzubringen. Aber soviel ich mich erinnern kann, hast du sie einmal zärtlich geliebt. Andre sind zwischen euch getreten. Furcht, Eifersucht, Zweifel und Eitelkeit entfremdeten dich ihr. Doch du liebtest sie, soweit ich mich erinnern kann.‹ Ich glaube, sie hat darin recht,« sagte er, sich für einen Augenblick unterbrechend. »Es war wirklich der Fall! Doch das gehört nicht hierher. ›O Richard, wenn du sie jemals lieb hattest, wenn du noch ein Gedächtnis hast für das, was dahin ist und verloren, so bring es ihr noch einmal. Nur noch ein einziges Mal! Sag ihr, wie ich gebeten und gebettelt habe. Sag ihr, wie ich meinen Kopf auf deine Schulter legte, wo ihr eigner Kopf hätte ruhen können, und wie ich so demütig gegen dich war, Richard. Sag ihr, du hast mir ins Gesicht gesehen und gefunden , daß meine Schönheit, die sie sonst so zu preisen pflegte, völlig entschwunden sei – völlig dahin – und an ihrer Stelle nur eine so arme, abgezehrte hohle Wange, daß sie weinen würde, wenn sie ihr zu Gesicht käme. Sag ihr alles dies und nimm es wieder mit, sie wird es nicht aufs neue zurückweisen. Nein, sie wird nicht das Herz haben!‹«

Er blieb nachsinnend sitzen und wiederholte die letzten Worte, bis er wieder erwachte und sich erhob.

»Du willst es nicht nehmen, Margaret?«

Sie schüttelte den Kopf und bat ihn mit stummer Gebärde, sich zu entfernen.

»Gute Nacht, Margaret.«

»Gute Nacht!«

Er wandte sich wieder nach ihr um, betroffen von dem Schmerz und vielleicht auch von dem Mitleid mit ihm, das in ihrer Stimme zitterte. Die Bewegung war rasch und hastig, und für einen Augenblick schien etwas von seinem frühern Wesen in seiner Haltung aufzuzucken. Im nächsten Moment aber ging er, wie er gekommen war. Dieses Aufblitzen eines erloschenen Feuers schien in ihm kein lebendigeres Bewußtsein seiner Würdelosigkeit zu entflammen.

Meg mußte in jeder Stimmung, bei schwerem Kummer, bei körperlichen wie seelischen Qualen ihre Arbeit vollenden. So setzte sie sich daher wieder und nähte fort. Abend, Mitternacht – sie arbeitete noch immer.

Ein schwaches Feuer brannte auf ihrem Herd, denn die Nacht war sehr kalt. Sie stand von Zeit zu Zeit auf, um es zu schüren. Während sie so beschäftigt war, schlugen die Glocken halb eins, und als sie ausgetönt hatten, hörte sie ein leises Pochen an der Tür. Sie öffnete sich, noch ehe Meg Zeit hatte, sich Gedanken darüber zu machen, wer sie wohl zu einer so ungewöhnlichen Stunde besuchen möge.

O Jugend und Schönheit, die ihr glücklich sein sollt, schaut hierher! O Jugend und Schönheit, die ihr selbst gesegnet seid und alles segnet, was in euerm Bereich ist, die ihr die Absichten eures Schöpfers erfüllt, schaut hierher!

Sie sah die eintretende Gestalt und schrie auf: »Lilian!«

Die Gestalt trat schnell vor, fiel vor ihr auf die Knie nieder und klammerte sich an ihr Kleid.

»Ach Himmel, steh auf – steh auf, Lilian! meine teure Lilian!«

»Nie, Meg; nimmermehr! Hier! hier! zu deinen Füßen will ich mich an dich klammern, damit ich deinen teuern Atem auf meinem Gesicht fühle!«

»Süße Lilian! meine teure Lilian! Kind meines Herzens – die Liebe einer Mutter kann nicht zärtlicher sein. Lege dein Haupt an meine Brust!«

»Nie, Meg. Nimmermehr! Als ich zum erstenmal zu deinem Gesicht aufblickte, knietest du vor mir. Laß mich auf den Knien vor dir sterben. Laß – laß mich!«

»Du bist zurückgekommen. Mein Kleinod, wir wollen wieder beisammenleben, miteinander arbeiten, miteinander hoffen und miteinander sterben.«

»Ach, küsse mich, Meg; schlinge deine Arme um mich und drücke mich an dein Herz! Sieh mich freundlich an – aber laß mich hier liegen! Laß mich zum letztenmal dein liebes Gesicht auf den Knien betrachten!«

O glückliche Jugend und Schönheit, blickt hierher! O Jugend und Schönheit, die ihr den Zwecken eures wohltätigen Schöpfers dient, blickt hierher!

»Vergib mir, Meg! Teure liebe Meg! vergib mir! Ich weiß, du tust es – ich sehe, daß du es tust; aber sprich es auch aus, Meg!«

Sie sprach es aus, ihre Lippen auf Lilians Wange gedrückt. Und mit ihren Armen umschlang sie – sie wußte es jetzt – ein gebrochenes Herz!

»Gottes Segen über dich, meine Teure. Küsse mich noch einmal! Er duldete es, daß die Sünderin sich zu seinen Füßen niedersetzte und sie mit ihren Haaren abtrocknete. O Meg, welch ein Erbarmen – welch ein Mitleid!«

Als sie starb, berührte der Geist des zurückkehrenden Kindes strahlend und unschuldig den alten Mann mit seiner Hand und winkte ihm weiterzugehen.

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Das vierte Viertel

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Eine neue Erinnerung an die gespenstischen Gestalten in den Glocken, ein unbestimmtes Gefühl, als ob letztere wieder läuteten, ein schwindelndes Bewußtsein, den Phantomenschwarm erneut und wieder erneut gesehen zu haben, bis sich das Bild desselben in dem wirren Durcheinander zahlloser Gestalten verloren hatte – eine sekundenlange Erkenntnis, obwohl er nicht wußte, woher sie kam, daß noch mehr Jahre entschwunden waren – und Trotty stand, von dem Geist des Kindes begleitet, wieder vor menschlicher Gesellschaft.

Eine beleibte Gesellschaft, eine rosenwangige Gesellschaft, eine behagliche Gesellschaft. Es waren ihrer nur zwei, aber sie waren rot genug für zehn. Sie saßen vor einem lustig prasselnden Feuer, zwischen sich einen kleinen, niedrigen Tisch, und wenn nicht der Duft von heißem Tee und Semmeln in diesem Gemach länger weilte als in den meisten andern, so mußte der Tisch kurz zuvor eine Mahlzeit gesehen haben. Aber die Tassen waren rein und standen an ihren Plätzen in dem Eßschrank; die Messingröstgabel hing in ihrem gewöhnlichen Winkel und breitete ihre vier müßigen Finger aus, als wolle sie sich einen Handschuh anmessen lassen, und es waren keine weiteren erkennbaren Merkmale eines eben beendigten Mahles vorhanden als diejenigen, die sich in dem Schnurren und Bartputzen der sich wärmenden Katze und in den lieblich (um nicht zu sagen fettig) glänzenden Gesichtern der beiden Personen aussprachen.

Dieses behäbige Paar (augenscheinlich verheiratet) hatte das Feuer ehrlich zwischen sich geteilt und sah den sprühenden Funken zu, die in den Rost fielen, bald ein wenig einnickend, bald wieder aufwachend, wenn etwa ein ungewöhnlich großes glühendes Fragment prasselnd niederkam, als wollte ihm das Feuer nachfolgen.

Es lief jedoch nicht Gefahr, bald zu verlöschen, denn es erglänzte nicht nur in dem kleinen Zimmer, an den Glasscheiben in der Tür und an dem darüber gezogenen Vorhang, sondern auch in dem kleinen Laden draußen. Ein kleiner Laden, zum Ersticken vollgestopft mit dem Überfluß seiner Vorräte – ein wahrhaft gefräßiger kleiner Laden mit einem Magen so bequem und voll wie der eines Haifisches. Käse, Butter, Brennholz, Seife, Pökelfleisch, Schwefelhölzer, Speckseiten, Tafelbier, Schnurrkreisel, Eingemachtes, Papierdrachen, Hanfsamen, kalter Schinken, Birkenbesen, Herdsteine, Salz, Weinessig, Stiefelwichse, Heringe, Schreibmaterialien, Schweinefett, Champignonsauce, Schnürbänder, Brotlaibe, Federbälle, Eier und Schieferstifte – alles war Fisch, was in das Netz dieses gierigen kleinen Ladens kam, und alle diese Gegenstände befanden sich in seinem Netz. Was für andre kleine Waren noch vorhanden waren, würde sich schwer aufzählen lassen; aber da befanden sich noch Bindfadenrollen, Zwiebelreihen, Lichterbündel, Kohlnetze und Bürsten, die traubenförmig wie eine außerordentliche Frucht von der Decke niederhingen, während verschiedene Büchsen, denen ein aromatischer Duft entströmte, den Wahrheitsbeweis der Aufschrift über der Ladentür lieferten , die dem Publikum kundtat , daß der Inhaber dieses Kramladens auch ein privilegierter Tee-, Kaffee-, Tabak-, Pfeffer- und Schnupftabakshändler sei.

Diese Artikel, die in dem Licht des Feuers und in dem weniger lieblichen Glanze zweier rauchender Lampen unterscheidbar wurden, welche düster in dem Laden brannten, als wenn ihnen dessen Vollblütigkeit schwer auf den Lungen läge, und dann ein Blick auf eines von den beiden Gesichtern bei dem Stubenfeuer ließen Trotty leicht die stämmige alte Dame Frau Chickenstalker erkennen. Sie hatte stets zur Korpulenz geneigt, schon in den Tagen, als er sie gekannt und ein kleines Pöstchen in ihren Büchern stehen hatte.

Die Züge ihres Gesellschafters waren ihm nicht so vertraut. Das große breite Kinn mit Falten, groß genug, daß man einen Finger hineinlegen konnte; die erstaunten Augen, die sich selbst Vorwürfe zu machen schienen , daß sie immer tiefer und tiefer in das nachgiebige Fett seines schwammigen Gesichts einsanken; die Nase, die mit jener Funktionsstörung behaftet war, die man in der Regel Stockschnupfen nennt; den kurzen, dicken Hals und die asthmatische Brust mit andern derartigen Schönheiten konnte Trotty, wie sehr sie auch geeignet sein mochten, sich dem Gedächtnis einzuprägen, anfangs niemand zuschreiben, den er gekannt hatte, obschon es ihm vorkam, als hätte er alles dies schon gesehen. Endlich aber erkannte er in Frau Chickenstalkers Lebens- und Handelsassocié den vormaligen Portier des Sir Joseph Bowley – eine apoplektische Unschuld, die in Trottys Geist vor Jahren schon in eine Beziehung zu Frau Chickenstalker getreten war, weil sie ihm Zutritt zu dem Herrenhaus gegeben, wo er seine Verbindlichkeiten gegen diese Dame bekannt und sich dadurch einen so ernsten Vorwurf auf sein unglückliches Haupt geladen hatte.

Nach den Veränderungen, die Trotty bereits gesehen hatte, interessierte er sich wenig für einen derartigen Wechsel; indes sind die Ideenverknüpfungen doch bisweilen sehr stark, und er sah unwillkürlich hinter die Stubentür, wo gewöhnlich die Posten der borgenden Kunden aufgekreidet waren. Sein Name war nicht mehr dabei. Es standen einige Namen da, doch waren sie Trotty fremd und außerdem in beträchtlich geringerer Anzahl als in früherer Zeit, woraus er schloß, daß der Portier die Barzahlung bevorzuge und daß er bei seinem Eintritt ins Geschäft den säumigen Kunden ziemlich scharf zugesetzt haben mußte.

Trotty fühlte ein solches Herzweh und trauerte so sehr um die Jugend und die Aussichten seines armen Kindes, daß es ihm sogar leid tat, keinen Platz mehr in Frau Chickenstalkers Schuldbuch einzunehmen.

»Was ists für eine Nacht, Anna?« fragte der vormalige Portier des Sir Joseph Bowley, indem er seine Beine vor dem Feuer ausstreckte und sie so weit rieb, als er mit seinen kurzen Armen reichen konnte, während seine Miene deutlich zu sagen schien. »Ich sitze da, wenns schlecht ist, und verlange nicht auszugehen, wenns gut ist.«

»Es stürmt, graupelt und droht mit Schnee,« entgegnete seine Frau. »Dunkel. Und sehr kalt.«

»Es freut mich, daran zu denken, daß wir Wecken hatten,« sagte der vormalige Portier in dem Ton eines Mannes, der sein Gewissen zur Ruhe gebracht hat. ’s ist eine Nacht, wie für Wecken gemacht; auch für Pfannkuchen und Teegebäck.«

Der ehemalige Portier brachte die Namen dieser aufeinander folgenden Leckerbissen vor, als ob er nachdenklich seine guten Taten aufzählte. Dann rieb er sich wieder seine fetten Beine, drehte sie in den Kniegelenken vor dem Feuer, um die strahlende Hitze auch den bisher ungerösteten Teilen zuzuführen, und lachte, als ob ihn jemand gekitzelt hätte.

»Du bist ja recht heiter, mein lieber Tugby,« bemerkte seine Frau.

Die Firma hieß jetzt Tugby, vormals Chickenstalker.

»Nein,« versetzte Tugby, »nein. Nicht besonders. Bin nur in etwas gehobener Stimmung. Die Wecken kamen so gelegen!«

Dabei kicherte er, bis er ganz schwarz im Gesicht war, und hatte so viel Not, wieder eine andre Farbe zu kriegen, daß seine fetten Beine die seltsamsten Exkursionen in die Luft machten. Auch wollten sie erst wieder einigermaßen Vernunft annehmen, als ihn Frau Tugby heftig auf den Rücken geklopft und wie eine große Flasche geschüttelt hatte.

»O du grundgütiger Himmel über diesen Mann!« schrie Frau Tugby entsetzt. »Was er nur treibt!«

Herr Tugby wischte sich die Augen und wiederholte mit matter Stimme, daß er sich ein wenig in gehobener Stimmung befinde.

»Na, sei so gut und laß es in Zukunft bleiben,« versetzte Frau Tugby, »wenn du mich mit deinem Rappeln und Herumfechten nicht zu Tod erschrecken willst!«

Herr Tugby erklärte, es nicht mehr tun zu wollen. Aber seine ganze Existenz war ein Fechtgang, bei dem er, wenn man nach seinem stets kürzer werdenden Atem und dem tiefen Purpur seines Gesichtes urteilen durfte, immer den kürzern zog.

»So stürmts also und graupelts und drohts mit Schnee; ists dunkel und sehr kalt, meine Liebe!« sagte Herr Tugby, indem er nach dem Feuer sah und wieder auf die Ursache und den Kern seiner momentanen gehobenen Stimmung kam.

»Bei Gott, ein rauhes Wetter,« erwiderte seine Frau, den Kopf schüttelnd.

»Ja, ja!« sagte Herr Tugby. »Jahre sind in dieser Hinsicht wie die Christen: Einige von ihnen sterben schwer, und bei andern geht es leicht ab. Das gegenwärtige hat nicht mehr weit hin und wehrt sich deshalb; aber es gefällt mir dafür nur um so besser. Es ist ein Kunde da, meine Liebe!«

Frau Tugby hatte das Knarren der Tür bereits vernommen und sich erhoben.

»Nun, was solls?« fragte die Dame, in den kleinen Laden hinausgehend. »O! ich bitt‹ um Verzeihung, Sir; wahrhaftig, ich wußte nicht, daß Sie es wären.«

Diese Entschuldigung galt einem Gentleman in Schwarz, der mit zurückgeschlagenen Ärmeln, den Hut seitwärts auf den Kopf gedrückt und die Hände in seinen Rocktaschen, rittlings auf dem Tafelbierfäßchen saß und ihr entgegennickte.

»Das ist eine schlimme Geschichte da oben, Frau Tugby,« sagte der Gentleman. »Der Mann kann nicht leben.«

»Wie, der aus dem hintern Dachstübchen?« rief Tugby, der in den Laden herauskam und sich an dem Gespräch beteiligte.

»Der Dachstübler, Herr Tugby,« entgegnete der Gentleman, »wird demnächst die Treppe herunterkommen und gar bald unter dem Rasen liegen.«

Während er abwechselnd Tugby und dessen Gattin anschaute, klopfte er mit den Knöcheln das Faß ab, um zu untersuchen, wieviel Bier noch darin sei, und sobald er dies ausfindig gemacht hatte, trommelte er einen Marsch auf dem leeren Teil.

»Das hintere Dachstübchen, Herr Tugby,« sagte der Herr, nachdem Tugby eine Zeitlang in stummer Bestürzung vor sich hingestarrt hatte, »ist im Begriff abzufahren.«

»Dann«, sagte Tugby, sich an seine Frau wendend, »muß er abfahren, bevor er abgefahren ist.«

»Ich glaube nicht, daß Ihr ihn fortschaffen könnt,« sagte der Gentleman, den Kopf schüttelnd. »Ich für meinen Teil möchte wenigstens nicht die Verantwortung auf mich nehmen und die Möglichkeit zugestehen. Laßt ihn bleiben, wo er ist. Er kanns nicht mehr lange treiben.«

»’s ist der einzige Gegenstand,« sagte Tugby, die Butterwagschale krachend auf den Ladentisch drückend, indem er seine Faust darin wog, »über den wir je einen Wortwechsel miteinander gehabt haben – sie und ich – und da sieht man, was am Ende dabei herausgekommen ist! Stirbt er zuletzt gar hier – stirbt auf unserm Grund und Boden – stirbt in unserm Haus!«

»Und wo willst du denn, daß er sterben soll, Tugby?« rief seine Frau.

»Im Armenhaus,« entgegnete er. »Wozu hat man denn Armenhäuser?«

»Dazu nicht,« erwiderte Frau Tugby mit großem Nachdruck. »Dazu nicht! Dazu habe ich dich auch nicht geheiratet. Schlag dir diese Gedanken aus dem Kopf, Tugby – ich wills nicht haben. Ich leide es einmal nicht – lieber ließe ich mich zuerst scheiden, um dein Gesicht nie wiederzusehen. Als mein Witwenname noch über dieser Tür stand – und er hat viele, viele Jahre da gestanden – war dieses Haus weit und breit als Frau Chickenstalkers bekannt, und jedermann rühmte es wegen seines ehrlichen Kredits und seines guten Rufs. Als mein Witwenname noch über jener Tür stand, Tugby, kannte ich ihn als einen schönen, kräftigen, männlichen, unabhängigen Jüngling – ich kannte sie als das süßeste und gutmütigste Mädchen, das man je gesehen hat – ich kannte ihren Vater (der arme alte Mann stürzte vom Turm, den er schlafwandelnd erstiegen hatte, und erschlug sich) als den einfachsten, unermüdlichsten und wohlwollendsten Mann, der nur je geatmet hat, und wenn ich sie aus dem Haus stoße, mögen mich die Engel aus dem Himmel stoßen. Das täten sie auch! Und mir würde nur recht geschehen!«

Ihr altes Gesicht, das zu Tobys Zeiten rund und voll Grübchen gewesen, schien wieder aus ihrem jetzigen hervorzuleuchten, als sie diese Worte sprach. Sie trocknete dann die Augen und schüttelte mit einem Ausdruck von Festigkeit, die augenscheinlich keinen Widerstand duldete, den Kopf und ihr Schnupftuch gegen Tugby, so daß Trotty vor sich hinsprach: »Gott segne sie! Gott segne sie!«

Dann horchte er mit klopfendem Herzen auf das, was nun folgen mochte; denn er wußte noch nichts, als daß sie von Meg sprachen.

Wenn Tugby in dem Stübchen ein wenig in gehobener Stimmung gewesen war, so wurde jetzt das Gleichgewicht mehr als erforderlich wieder hergestellt, indem er nun im Laden nicht wenig gedrückt dastand und seine Frau stumm anglotzte. Dabei – sei es in Anwandlung von Zerstreutheit oder als Vorsichtsmaßregel – ließ er heimlich alles Geld aus der Schublade in seine eignen Tasten gleiten.

Der Gentleman aus dem Tafelbierfaß, der augenscheinlich ein autorisierter Armenarzt war, mochte wohl an kleine Meinungsverschiedenheiten zwischen Mann und Weib zu sehr gewöhnt sein, um sich im gegenwärtigen Fall eine Bemerkung zu erlauben. Er blieb pfeifend sitzen und ließ kleine Tropfen aus dem Hahn auf den Boden rinnen, bis vollkommene Stille eingetreten war. Dann hob er seinen Kopf und sagte zu Frau Tugby, vormals Chickenstalker:

»Es ist sogar jetzt noch etwas Interessantes an der Frauensperson. Wie kam sie dazu, ihn zu heiraten?«

»Ach,« versetzte Frau Tugby, ihren Sitz neben ihm nehmend, »das ist ein recht grausamer Teil ihrer Geschichte, Sir. Ihr müßt nämlich wissen, daß sie und Richard vor vielen Jahren miteinander verlobt waren. Als sie noch ein junges und schönes Paar waren, hatten sie alles miteinander ausgemacht, und sie wollten sich an einem Neujahrstag trauen lassen. Da setzte aber ein Gentleman Richard in den Kopf, daß er etwas Besseres tun könne; er werde den Schritt bald bereuen – das Mädchen sei nicht gut genug für ihn, und ein lebensfroher junger Mann habe keinen Grund, zu heiraten. Und der Gentleman schüchterte auch sie ein und machte sie melancholisch, indem er ihr sagte, ihr Mann werde sie dann verlassen, ihre Kinder kämen an den Galgen, und es sei gottlos, zu heiraten, und was dergleichen mehr war. Kurz, sie zögerten und zögerten – ihr Vertrauen zueinander wurde gebrochen, und so ging es auch mit der Verlobung. Aber der Fehler lag an ihm, denn sie würde ihn mit Freuden geheiratet haben, Sir. Oftmals nachher habe ich gesehen, wie ihr fast das Herz brach, wenn er in stolzer, gleichgültiger Weise an ihr vorbeiging, und nie grämte sich ein Mädchen aufrichtiger um einen Mann als sie, wie sie zum erstenmal hörte, daß Richard auf Abwege gerate.«

»O! ist er auf Abwege geraten?« sagte der Gentleman, indem er den Luftzapfen des Fäßchens herauszog und durch das Loch nach dem Bier hinunterzugucken versuchte.

»Ja, seht Ihr, Sir, ich glaube nicht, daß er sich selbst recht verstand. Ich glaube, es bedrückte ihn sehr, daß sie miteinander gebrochen hatten, und hätte er sich nicht vor dem Gentleman geschämt – vielleicht trug er auch Bedenken, weil er nicht wußte, wie sie es aufnehmen würde – so hätte er vielleicht alles über sich ergehen lassen, nur um Megs Versprechen und Hand wiederzugewinnen. So glaube ich wenigstens, obschon er mirs leider nie gesagt hat. Er legte sich dann aufs Trinken, wurde ein Faulenzer und hielt sich an schlechte Gesellschaft – lauter Vergnügungen, die – nach dem Ausspruch des Gentleman – so viel besser für ihn sein würden als das behagliche Heim, das er hätte haben können. So verlor er denn sein gutes Aussehen, seinen guten Ruf, seine Gesundheit, seine Kräfte, seine Freunde, seine Arbeit – kurz alles!«

»Er hat nicht alles verloren, Frau Tugby,« erwiderte der Gentleman, »denn er gewann ja ein Weib, und ich möchte wissen, wie dies zuging.«

»Ich komme sofort dazu, Sir. So trieb ers Jahre um Jahre und sank immer tiefer und tiefer; das arme Ding aber erduldete Elend genug, um sich ganz aufzureiben. Endlich war er so herabgekommen, daß ihm niemand mehr Beschäftigung geben oder auf ihn achten wollte, und wohin er kam, wurde ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen. Er wanderte von einem Ort zum andern und kam zum hundertstenmal zu einem gewissen Herrn, der es oft und oft mit ihm versucht hatte; denn er war bis zu allerletzt ein guter Arbeiter. Und dieser Herr, der seine Geschichte kannte, sagte zu ihm: ›Ich glaube, Ihr seid unverbesserlich; es gibt nur eine einzige Person in der Welt, die Euch möglicherweise noch retten kann. Bittet mich nicht mehr um mein Vertrauen, bevor sie nicht einen Versuch mit Euch gemacht hat.‹ So ähnlich fuhr er ihn in seinem Zorn an.«

»Ah!« entgegnete der Gentleman. »Und was weiter?« »Nun, Sir, er ging zu ihr und kniete vor ihr nieder – sagte, so stehe es und so sei es bisher gegangen, und bat sie dann, ihn zu retten.«

»Und sie? – Laßts Euch nicht so zu Herzen gehen, Frau Tugby.«

»Sie kam noch am nämlichen Abend zu mir und fragte mich, ob sie nicht in meinem Haus wohnen könnten. ›Was er mir einmal gewesen ist‹, sagte sie, ›ist tot und begraben, Seite an Seite mit dem, was ich ihm war. Aber ich habe mir die Sache überlegt und will den Versuch machen – in der Hoffnung, ihn zu retten, und um der Liebe des frohherzigen Mädchens willen, das Ihr noch gekannt habt und das an einem Neujahrstag heiraten sollte; um jener Liebe für ihren Richard willen.‹ Und sie sagte, er sei von Lilian zu ihr gekommen, und Lilian habe ihm vertraut, und sie könne dies nie vergessen. So heirateten sie; und als sie hierherkamen und ich sie sah, hoffte ich, daß sich Prophezeiungen, wie diejenigen, die sie in ihrer Jugend trennten, nicht oft erfüllen möchten, wie in diesem Falle; wenigstens möchte ich sie nicht um ganze Goldberge voraussagen.«

Der Gentleman stieg von dem Faß herunter und streckte sich, indem er zugleich bemerkte:

»Vermutlich mißhandelte er sie, sobald sie verheiratet waren?«

»Ich glaube nicht, daß er dies je getan hat,« versetzte Frau Tugby kopfschüttelnd und sich die Augen trocknend. »Es ging mit ihm eine kurze Zeit besser; aber seine Gewohnheiten waren zu stark und zu festgewurzelt, als daß er sie hätte los werden können. Er wurde ein wenig rückfällig, und das wiederholte sich immer öfter und stärker, bis ihn sein Leiden erfaßte. Ich glaube, er hat sie immer geliebt, und bin fest davon überzeugt. Ich habe gesehen, wie er in seinen Anfällen weinend und zitternd ihre Hand zu küssen versuchte, und hörte, wie er sie Meg nannte und wie er sagte, es sei ihr neunzehnter Geburtstag. Jetzt liegt er schon wochen- und monatelang da. Da sie ihre Zeit zwischen ihm und ihrem Kinde teilen muß, war sie nicht imstande, ihre frühere Arbeit fortzusetzen; sie verlor dieselbe, weil sie sie nicht regelmäßig abliefern konnte, wenn sie auch schließlich mit ihr fertig wurde. Wie sie ihr Leben fortzubringen vermochten, weiß ich kaum zu sagen.«

»Aber ich weiß es,« murmelte Herr Tugby, indem er nach der Geldschublade, im Geschäft umher und auf seine Frau blickte; dann wiegte er mit schlauer Miene den Kopf und sagte: »Wie Kampfhähne!«

Er wurde jetzt durch einen Schrei – einen Klagelaut aus dem obern Stockwerk des Hauses unterbrochen. Der Gentleman eilte hastig zur Tür.

»Mein Freund,« sagte er zurückblickend, »Ihr braucht jetzt nicht mehr zu streiten, ob er fortgeschafft werden soll oder nicht; denn ich glaube, er hat Euch die Mühe erspart.«

Mit diesen Worten eilte er die Treppe hinauf, und Frau Tugby folgte ihm nach, während Herr Tugby hinterdrein keuchte und brummte, denn er war kurzatmiger als gewöhnlich infolge der Beute aus der Geldlade, die eine unbequeme Menge Kupfer enthalten hatte. Trotty schwebte, das Kind an seiner Seite, wie ein Windhauch die Treppe hinauf.

»Folge ihr! folge ihr! folge ihr!« Er hörte beim Hinansteigen die gespenstigen Stimmen in den Glocken ihre Worte wiederholen. »Lerne es von dem Wesen, das deinem Herzen am teuersten ist!«

Es war vorüber. Es war vorüber. Dies also war sie, der Stolz und die Freude ihres Vaters! – dieses hagere, unglückliche Weib, die neben dem Bett, wenn es diesen Namen verdiente, weinte und gesenkten Hauptes ein Kind an ihre Brust drückte? Wie abgezehrt, krank und elend das arme Kind aussah – aber doch, wer kann sagen, wie teuer es ihr war?

»Gott sei Dank!« rief Trotty, die Hände gefaltet in die Höhe haltend. »O, Gott sei gedankt! Sie liebt ihr Kind!«

Der Gentleman war durch täglich sich wiederholende ähnliche Szenen gleichgültig gegen den Anblick geworden und wußte, daß sie nur bedeutungslose Ziffern in Filers Summen waren – nur Striche in den Berechnungen. Er legte seine Hand auf das Herz, das nicht mehr schlug, lauschte auf den Atem und sagte:

»Seine Leiden sind vorüber. Ihm ist wohl!«

Frau Tugby versuchte, die arme Frau mit liebevoller Teilnahme zu trösten, während Herr Tugby mit philosophischen Beruhigungsmitteln angestiegen kam.

»Nun, nun!« sagte er, die Hände in seinen Taschen; »Ihr müßt Euch nicht dem Schmerz hingeben. Es führt zu nichts. Ihr müßt dagegen ankämpfen. Was wäre aus mir geworden, wenn ich mich als Portier hätte so unterkriegen lassen, wo wir wohl sechsmal in der Nacht durch das zweimalige Klopfen, das immer einen Wagen ankündigte, aus dem Schlaf gerissen wurden, um dann zu sehen, daß man uns genarrt hatte. Ich aber besaß Geistesstärke genug und machte nicht auf!«

Abermals hörte Trotty die Stimmen sagen: »Folge ihr!« Er wandte sich nach seinem Führer um und sah , wie dieser sich in die Luft schwang. »Folge ihr!« sagte er und verschwand.

Trotty schwebte um sie her, setzte sich zu ihren Füßen nieder, blickte zu ihrem Gesicht auf, um auch nur eine einzige Spur ihres früheren Aussehens zu finden , und lauschte auf einen Ton ihrer alten lieblichen Stimme. Auch das Kind umwandelte er – es war so abgezehrt, so frühalt, so schrecklich in seinem Ernst, so kläglich in seinem schwachen, traurigen Wimmern. Er betete es beinahe an; er klammerte sich an das kleine Geschöpf als ihren einzigen Schutz, als das letzte lebendige Glied, das sie noch an die Welt fesselte. Er setzte seine Vaterhoffnung, sein ganzes Vertrauen auf dieses hinfällige Kind, bewachte jeden ihrer Blicke, als sie es in ihren Armen hielt, und rief zu tausend Malen:

»Sie liebt es! Gott sei Dank, sie liebt es!«

Er war Zeuge, wie die Frau sie nachts pflegte und zu ihr zurückkehrte, sobald ihr brummender Mann schlief und alles still war, um ihr Nahrung zu bringen, sie zu ermutigen und mit ihr zu weinen. Der Tag kam und dann wieder die Nacht – abermals ein Tag und wieder eine Nacht; die Zeit entschwand. Das Haus des Todes entledigte sich seines Toten, und das Zimmer blieb ihr und dem Kind überlassen. Er hörte es stöhnen und weinen; er sah, wie es die Mutter quälte und ermüdete – ja , die vor Erschöpfung kaum Eingeschlummerte wieder wachrief und sie mit seinen kleinen Händchen auf der Folter erhielt. Aber sie blieb ausdauernd , sanft und geduldig. Geduldig! Sie war seine liebende Mutter von ganzer Seele und ganzem Herzen, und sein Leben war mit dem ihrigen so verknüpft, als sei es noch nicht geboren.

In all dieser Zeit litt sie Not, siechte dahin in schrecklichem, verzehrendem Mangel. Das Kind in ihren Armen, wanderte sie da- und dorthin, um Beschäftigung zu suchen, und während sein hageres Gesichtchen in ihrem Schoß lag und zu ihrem Antlitz aufblickte, verrichtete sie jede Arbeit für den erbärmlichsten Preis – Tag und Nacht sich abmühend für so viele Kreuzer, als da Ziffern sind auf dem Uhrblatt! Wenn sie es gezankt, vernachlässigt, nur einen Augenblick mit Haß angesehen oder gar in hastigem Zornaufwallen geschlagen hätte! Nein. Sein Trost war, daß sie es immer liebte.

Sie teilte niemand ihre äußerste Not mit und wanderte tags draußen umher, um nicht von ihrer einzigen Freundin befragt zu werden; denn jede neue Hilfe, die sie von ihren Händen erhielt, hatte einen neuen Hader zwischen der guten Frau und ihrem Gatten zur Folge. Und der Gedanke, da auch noch die Ursache zu täglichem Zank und Wortwechsel zu werden, wo sie schon so viel schuldete, bereitete ihr neues Leid.

Dennoch liebte sie ihr Kind. Sie liebte es mehr und mehr. Aber es kam eine Nacht, in der auch ihre Liebe sich anders gestaltete.

Damals sang sie es leise in den Schlaf und ging auf und ab, um es einzulullen, als sich sacht die Tür öffnete und ein Mann hereinsah.

,,Zum letztenmal!« sagte er.

»William Fern!«

»Zum letztenmal!«

Er lauschte wie einer, hinter dem die Verfolger her sind, und sprach flüsternd:

»Margarete, meine Uhr ist nahezu abgelaufen. Ich konnte nicht enden, ohne Abschied von dir zu nehmen, ohne dir ein Wort des Dankes zu sagen.«

»Was habt Ihr getan?« fragte sie, ihn mit Entsetzen betrachtend.

Er sah sie an, gab aber keine Antwort.

Nach einem kurzen Schweigen machte er eine Gebärde mit der Hand, als wollte er ihre Frage abwehren, sie beiseite schieben, und sagte:

»Es ist jetzt schon lange her, Margarete; aber jene Nacht ist noch so frisch in meinem Gedächtnis , als wäre es erst gestern gewesen. Damals dachten wir nicht,« fügte er, mit einem Blick auf ihre Umgebung, hinzu, «daß wir uns jemals unter solchen Umständen wiedersehen sollten. Ist das dein Kind, Margarete? Laß es mich umarmen. Gib mir dein Kind.«

Er legte seinen Hut auf den Boden und nahm es auf, zitterte aber dabei vom Kopf bis zum Fuß.

»Ist es ein Mädchen?«

»Ja«

Er hielt seine Hand vor ihr kleines Gesichtchen.

»Schau , wie schwach ich geworden bin, Margarete , wenn ich nicht einmal den Mut habe, es anzusehen! Laß sie mir einen Augenblick. Ich tue ihr nichts. Es ist lange her, aber … Wie heißt die Kleine?«

»Margarete,« antwortete sie rasch.

»Das freut mich,« sagte er. »Das freut mich.«

Er schien freier zu atmen. Nach einer kurzen Pause nahm er seine Hand weg und sah dem Kind ins Antlitz. Dann aber bedeckte er es augenblicklich wieder.

»Margarete!« sagte er und gab ihr das Kind zurück. »Es ist Lilians Gesicht.«

»Lilians?«

»Ich hielt dasselbe Gesicht in meinen Armen, als Lilians Mutter starb und sie zurückließ.«

»Als Lilians Mutter starb und sie zurückließ?« wiederholte sie außer sich.

»Wie schrill du sprichst! Warum starrst du mich so an, Margarete?«

Sie sank in einen Stuhl, preßte das Kind an ihre Brust und weinte. Dann sah sie ihm ängstlich ins Gesicht und drückte es abermals an ihr Herz. Wenn sie es aber so betrachtete, schien sich etwas Wildes und Schreckliches in ihre Liebe zu mischen, und ihr alter Vater begann darob zu zittern.

»Folge ihr!« tönte es durch das Haus. »Lerne es von dem Wesen, das deinem Herzen am teuersten ist!«

»Margarete,« sagte Fern, sich über sie beugend und sie auf die Stirn küssend. »Ich danke dir zum letztenmal. Gute Nacht. Gott behüte dich! Gib mir deine Hand und versprich mir, mich von dieser Stunde an zu vergessen, und bilde dir ein, ich sei hier gestorben.«

»Was habt Ihr getan?« sagte sie abermals.

»Es wird heute nacht ein Feuer geben,« sagte er, von ihr zurücktretend. »Es werden in diesem Winter viele Feuer sein, um die dunkeln Nächte zu erhellen im Osten, Westen, Norden und Süden. Wenn du den fernen Himmel rot siehst, dann wird die Farbe von Flammen herrühren. Wenn du den fernen Himmel rot siehst, denke nicht mehr an mich; oder wenn du nicht anders kannst, so erinnere dich, welche Hölle in meinem Innern angezündet wurde, und denke, es seien ihre Flammen, die sich in den Wolken spiegeln. Gute Nacht. Gott befohlen!«

Sie rief ihm nach; aber er war fort. Dann setzte sie sich betäubt nieder, bis sie durch ihr Kind zum Gefühl des Hungers, der Kälte und der Dunkelheit geweckt wurde. Sie ging die liebe lange Nacht in der Stube auf und ab, es in den Armen wiegend und beschwichtigend, wobei sie mitunter vor sich hinmurmelte: »Es gleicht Lilian, als ihre Mutter starb und sie zurückließ!« Warum war ihr Schritt so hastig, ihr Auge so wild, ihre Liebe so ungestüm und schrecklich, sooft sie diese Worte wiederholte?

»Aber es ist Liebe,« sagte Trotty. »Es ist Liebe. Sie wird nie aufhören, es zu lieben. Meine arme Meg!«

Am andern Morgen kleidete sie das Kind mit ungewöhnlicher Sorgfalt – ach, welch eitle Mühe bei so elenden Fetzen! – und versuchte abermals, irgendeinen Verdienst aufzutreiben. Es war der letzte Tag des alten Jahres. Ohne etwas über die Lippen zu bringen, lief sie bis in die Nacht umher; aber all ihre Bemühungen waren vergeblich!

Sie mischte sich unter eine Gruppe herabgekommener Bittsteller, die im Schnee standen, bis ein Beamter , der zur Verteilung der öffentlichen Almosen – die das Gesetz gebot, nicht aber die Barmherzigkeit, die einst auf einem Berg gepredigt wurde – bestellt worden war, sich gnädigst herbeiließ, die Leute hereinzurufen, ins Verhör zu nehmen, dem einen zu sagen, »er solle da und dahin gehen,« dem andern zu bemerken, »er solle nächste Woche wiederkommen,« oder einen dritten Elenden wie einen Ball von hierher dorthin, von Hand zu Hand, von Haus zu Haus zu schleudern, bis er kraftlos umsank, um zu sterben, oder wieder aufsprang, um einen Diebstahl zu begehen und so zu einer höheren Art von Verbrecher zu werden, dessen Ansprüche keine Zögerung gestatteten. Aber auch hier sollte sie ihre Erwartung trügen. Sie liebte ihr Kind und wünschte, daß es an ihrer Brust läge. Dies war ganz genug.

Es war Nacht – eine kalte, dunkle, schneidende Nacht, als sie, das Kind an ihrem Leib wärmend, an das Haus gelangte, das sie ihr Heim nannte. Sie war so matt und schwindlig, daß sie niemand unter dem Haustor stehen sah, bis sie dicht daran war und eintreten wollte. Jetzt erst erkannte sie den Hausherrn, der sich so aufgepflanzt hatte – bei seiner Beleibtheit war dies nicht schwer – daß er den ganzen Eingang versperrte.

»O!« sagte er halblaut. »Ihr seid zurückgekommen?«

Sie blickte ihr Kind an und schüttelte den Kopf.

»Glaubt Ihr nicht , Ihr habt hier lange genug gewohnt , ohne Miete zu bezahlen? Glaubt Ihr nicht , daß Ihr für jemand, der nichts zahlt, eine recht anhängliche Kundin gewesen seid?« sagte Herr Tugby.

Sie wiederholte dieselbe stumme, flehentliche Bitte.

»Was würdet Ihr dazu sagen, wenn Ihr es versuchtet, woanders einzukaufen«, meinte er, »und Euch ein andres Quartier zu verschaffen? Nun! Glaubt Ihr nicht, es ließe sich machen?«

Sie versetzte mit gedämpfter Stimme, »daß es schon sehr spät sei. Morgen.«

»Ah, ich sehe schon, was Ihr wollt und was Ihr im Sinn habt,« entgegnete Tugby; »Ihr wißt, daß es in diesem Hause wegen Euch zwei Parteien gibt, und es macht Euch Freude, sie gegeneinander zu hetzen. Ich will keinen Streit haben und spreche jetzt so leise, um jeder Zänkerei vorzubeugen; aber wenn Ihr nicht geht, will ich laut reden, und es wird Worte setzen, die stolz und heftig genug sind, um Euch zu gefallen. Aber herein kommt Ihr mir nicht, das steht fest.«

Sie strich sich das Haar mit der Hand zurück und sah plötzlich zum Himmel auf in die düstere, dunkle Ferne.

»Dies ist die letzte Nacht des alten Jahres, und ich will nicht Euch oder irgend jemand anderm zuliebe böses Blut, Händel und Unfrieden ins neue hinübernehmen,« sagte Tugby, der in kleinerem Maßstab ein ›Freund und Berater‹ war. »Es wundert mich, daß Ihr Euch nicht vor Euch selbst schämt, mit solchen Kniffen ein neues Jahr anzufangen. Wenn Ihr in der Welt nichts andres zu tun habt als stets zu heulen und den Samen der Zwietracht zu streuen zwischen Mann und Weib, so tut Ihr besser, aus ihr hinauszugehen. Fort mit Euch!«

»Folge ihr! zur Verzweiflung!«

Abermals hörte der alte Mann die Stimmen. Er blickte auf und sah die Gestalten in der Luft schweben, die ihm den dunkeln Weg zeigten, den sie ging.

»Sie liebt es!« rief er in dringlichem Flehen. »Ihr Glocken, sie liebt es noch immer!«

Die Schatten schwebten in die Richtung, die sie eingeschlagen hatte, gleich einer Wolke.

Er schloß sich den Verfolgern an, hielt sich dicht an die Unglückliche und blickte ihr ins Gesicht. Da war derselbe wilde, schreckliche Ausdruck, der sich in ihre Liebe mengte und aus ihren Augen blitzte. Er hörte sie sagen: »Wie Lilian! So zu werden wie Lilian!« und ihre Eile verdoppelte sich.

O, gab es denn gar nichts, das sie aus ihrem Taumel reißen konnte? Nur ein Anblick, ein Schall, ein Geruch, der in einem Gehirn voll Feuer zartere Erinnerungen heraufbeschwören könnte? O Gott, nur ein einziges friedliches Bild der Vergangenheit sollte sich ihrem Auge zeigen!

»Ich war ihr Vater! ich war ihr Vater!« rief der alte Mann, seine Hand nach den dunkeln Schatten ausstreckend, die in der Luft dahinflogen. »Habt Erbarmen mit ihr und mit mir! Wohin geht sie zurück! Ich war ihr Vater!«

Aber sie deuteten bloß nach ihr hin, während sie weiter eilte, und sagten:

»Zur Verzweiflung! Lerne es an dem Geschöpf, das deinem Herzen am teuersten war!«

Hundert Stimmen hallten es nach, und die ganze Luft war ein für diese Worte verbrauchter Atem. Toby schien sie mit jedem seiner Atemzüge in sich zu saugen. Sie waren überall, und er konnte ihnen nicht entkommen. Dennoch eilte sie weiter – dasselbe unheimliche Licht in ihren Augen, dieselben Laute auf ihren Lippen: »Wie Lilian! So zu werden wie Lilian!«

Mit einem Male machte sie halt.

»O holt sie zurück!« rief der alte Mann, sich das weiße Haar zerraufend. »Mein Kind! Meine Meg! Holt sie zurück! Ewiger Vater, tu ihr Einhalt!«

Sie wickelte das Kind warm in ihr eignes dünnes Halstuch. Mit fieberigen Händen streichelte sie seine Glieder, legte sein Köpflein zurecht und ordnete den armseligen Anzug. Sie umschlang es mit ihren abgezehrten Armen, als wollte sie es nimmer von sich lassen, und mit ihren vertrockneten Lippen küßte sie es im höchsten Schmerz und im letzten langen Kampf der Liebe.

Sie legte des Kindes abgezehrte Hand auf ihren Hals, hielt es unter ihrem Kleid geschützt, drückte es an ihr verzweifeltes Herz und wandte das schlafende Gesichtchen dem ihren zu – dann eilte sie dem Fluß entgegen.

Dem rollenden, raschen und trüben Strom entgegen, auf dem die Winternacht brütend saß wie die letzten düsteren Gedanken vieler, die früher hier eine Zuflucht gesucht hatten. Wo zerstreute Lichter am Ufer unheimlich rot und trübe glommen, als wären sie Fackeln, die den Weg zum Tode wiesen. Wo kein Wohnplatz lebender Menschen seinen Schatten warf auf das tiefe, undurchdringliche, melancholische Schattenreich.

Dem Fluß entgegen! Zu jener Pforte der Ewigkeit lenkte sie ihre verzweifelten Schritte mit derselben Schnelligkeit, mit der seine raschen Wellen dem Meer zuströmten. Er versuchte, sie festzuhalten, als sie auf ihrem Weg nach dem dunkeln Spiegel an ihm vorbeikam; aber die wirre, wahnsinnige Gestalt, die wilde und schreckliche Liebe, die Verzweiflung, die alles menschliche Hindernis weit hinter sich gelassen hatte, rauschte wie der Wind an ihm vorbei.

Er folgte ihr. Sie hielt einen Augenblick an dem Rand inne, ehe sie den entsetzlichen Sprung tat. Er fiel auf seine Knie nieder und rief kreischend den Gestalten in den Glocken zu, die jetzt über ihnen schwebten.

»Ich habe es gelernt!« rief der alte Mann. »Von dem Wesen, das meinem Herzen am teuersten ist! O rettet sie, rettet sie!«

Er konnte seine Finger in ihren Anzug krampfen, konnte ihn halten! Als diese Worte seinen Lippen entschlüpft waren, fühlte er seinen Tastsinn zurückkehren, und er wußte, daß er sie abhielt.

Die Gestalten schauten festen Blickes auf ihn nieder.

»Ich habe es gelernt!« rief der alte Mann. »O habt Erbarmen mit mir in dieser Stunde, wenn ich in meiner Liebe zu ihr, die so jung und so gut ist, die Natur in den Herren der Mütter schmähte und sie zur Verzweiflung brachte! Habt Mitleid mit meiner Anmaßung, mit meinem Frevel und mit meiner Unwissenheit – rettet sie!«

Er fühlte, wie seine Hand kraftloser wurde. Sie schwiegen noch immer.

»Habt Erbarmen mit ihr!« rief er. »Dieses schreckliche Verbrechen wurde nur durch sinnlose Liebe gezeitigt; durch die stärkste, innigste Liebe, die wir gefallenen Menschen kennen! Bedenkt, wie groß ihr Elend gewesen sein muß, wenn solcher Same solche Frucht trägt. Der Himmel hat sie zum Guten bestimmt. Es gibt keine liebende Mutter auf der Erde, die nicht auch so weit getrieben werden könnte, wenn ein solches Leben vorhergegangen. O habt Erbarmen mit meinem Kinde, das selbst in diesem Augenblick Erbarmen mit dem ihren hegt und selber stirbt und ihre unsterbliche Seele dem Verderben preisgibt, um es zu erlösen!«

Sie lag in seinen Armen. Er hielt sie fest. Er hatte die Kraft eines Riesen.

»Ich sehe den Geist der Glocken unter euch,« sagte der alte Mann, das Kind erblickend, mit einer Art von Begeisterung, die dessen Blicke in ihm entzündeten. »Ich weiß, daß die Zeit unser Erbteil uns verwaltet. Ich weiß, daß eines Tages ein Meer der Zeit sich erheben und alle wie Blätter wegspülen wird, die uns unrecht tun und uns unterdrücken. Ich sehe, wie es heranflutet! Ich weiß, daß wir vertrauen und hoffen müssen und weder an uns noch an andern das Gute bezweifeln dürfen. Ich habe es von dem Wesen gelernt, das meinem Herzen am teuersten. Ich halte es wieder in meinen Armen. O ihr gnädigen und gütigen Geister, ich verschließe eure Lehre in die Brust, an der ich sie halte. O ihr gnädigen und guten Geister, ich danke euch!«

Er hätte vielleicht noch mehr gesagt, wenn nicht die Glocken, die alten, lieben Glocken, seine guten, treuen, beständigen Freunde, ihr Freudengeläut zum neuen Jahr so munter, so fröhlich und so schwellend begonnen hätten, daß er auf die Füße sprang und so den Zauber löste, der ihn fesselte. –

 

»Und was du auch tust, Vater,« sagte Meg, »du mußt jedenfalls den Arzt befragen, bevor du wieder Kuttelflecke ißt, damit er dir sagen kann, ob sie dir zuträglich sind. Denn was du getrieben hast! Du lieber Gott!«

Sie saß an dem kleinen Tisch am Feuer und nähte an ihrem einfachen Hochzeitskleide, das sie mit Bändern schmückte, und war so stillselig, so blühend und jugendlich, so voll schöner Verheißung, daß er laut aufschrie, als wenn ein Engel in seinem Haus wäre. Dann stürzte er auf sie zu, um sie in seine Arme zu schließen. Doch er verwickelte sich mit den Füßen in die Zeitung, die auf die Erde gefallen war, und jemand drängte sich zwischen ihn und Meg.

»Nein,« sagte die Stimme des besagten Jemand, und es war eine prächtige, helle Stimme! »Nicht einmal Ihr. Der erste Kuß von Meg im neuen Jahr gehört mir. Mir! Ich habe eine Stunde vor dem Haus gestanden, um die Glocken zu hören und mir ihn zu verdienen. Meg, mein liebster Schatz, ein glückliches Neujahr! und mögen wir noch recht viel glückliche Jahre verleben, mein liebes Weibchen!«

Und Richard erstickte sie fast mit seinen Küssen.

Als dies geschah, konnte man keinen glücklicheren Menschen sehen als Trotty. Ich kümmere mich nicht um das, was ihr gesehen und wo ihr es erlebt habt, denn es ist ausgeschlossen, daß ihr auch nur annähernd etwas Ähnliches geschaut habt. Er setzte sich auf seinen Stuhl, schlug sich auf die Knie und weinte. Er setzte sich auf seinen Stuhl und schlug sich auf die Knie und lachte. Er setzte sich auf seinen Stuhl und schlug sich auf die Knie und lachte und weinte in einem Atem. Er stand von seinem Stuhl auf und herzte Meg. Er stand von seinem Stuhl auf und herzte Richard. Er stand von seinem Stuhl auf und herzte beide zu gleicher Zeit. Er lief zu Meg und nahm ihr frisches Gesicht zwischen seine Hände und küßte sie und ging rückwärts wie ein Krebs, um sie nicht aus den Augen zu verlieren, und lief wieder auf sie zu, wie eine Figur in einer Räuberlaterne; und was immer er tat, er setzte sich beständig wieder in seinen Stuhl, blieb aber nicht einen Augenblick sitzen. Genug – und das ist die Wahrheit – er war außer sich vor Freude.

»Und morgen ist dein Hochzeitstag, mein Herzenskind?« sagte Trotty, »wirklich dein glücklicher Hochzeitstag?«

»Heute!« jauchzte Richard und schüttelte ihm die Hände, »heute! Die Glocken läuten eben das neue Jahr ein. Hört sie nur!«

Und sie läuteten wirklich.

Gott segne die kräftigen Burschen! O, es waren große Glocken, melodische, tiefstimmige, edle Glocken, von keinem gemeinen Metall gegossen, von keinem gemeinen Gießer geformt. Wann hätten sie jemals geläutet wie heute!

»Heute, meine Meg,« sagte Trotty, »hattest du wohl mit Richard einen kleinen Wortwechsel?«

»Weil er ein so schlechter Mensch ist, Vater,« sagte Meg. »Bist du das nicht, Richard? Solch ein heftiger, halsstarriger Mensch! Wollte er doch dem großen Herrn Alderman seine Meinung sagen, und er genierte sich so wenig, als er sich genieren würde …«

»Meg zu küssen,« half Richard ein und tat es sogleich.

»Nein, nicht ein bißchen mehr. Doch ich wollte ihn nicht lassen, Vater. Was hätte es genützt?«

»Richard, mein Junge,« sagte Trotty, »du bist ein Prachtkerl und wirst ein Prachtkerl bleiben bis an dein seliges Ende. Doch du, mein Liebling, weintest heute abend am Feuer – als ich nach Hause kam? Warum weintest du denn am Feuer?«

»Ich dachte an die Jahre, die wir miteinander verlebt haben, Vater. Bloß deshalb. Und ich dachte, du würdest mich recht vermissen und dich allein fühlen.«

Trotty kehrte wieder zu jenem ominösen Stuhl zurück, als das Kind, das von dem Lärm erwacht war, halb angekleidet hereinkam.

»Ei, hier ist sie ja,« sagte Trotty und hob sie auf, »hier ist sie ja, die kleine Lilian! Ha ha! hier sind wir und hier gehen wir! O, hier sind wir und hier gehen wir wieder! Und hier sind wir und hier gehen wir und auch Onkel Will!«

Er hielt in seinem Trab inne, um ihn herzlich zu begrüßen. »Ach, Onkel Will, was hab ich heute abend für eine Erscheinung gehabt, weil ich Euch beherbergt habe. Ach, Onkel Will, wie bin ich Euch verpflichtet, daß Ihr zu mir gekommen seid, mein guter Freund!«

Ehe Will Fern die mindeste Antwort geben konnte, trat eine Musikbande in das Zimmer in Begleitung von einer Menge Nachbarn, die alle: »Glückliches Neujahr, Meg! Fröhliche Hochzeit! Noch recht lange Jahre!« und andre gute Wünsche dieser Art riefen. Der Trommler, der ein besonders guter Freund Trottys war, trat hervor und sagte: »Trotty Veck, mein alter Knabe, wir haben erfahren, daß Eure Tochter heute heiratet. Es gibt keine Menschenseele, die Euch kennt und Euch nicht das beste Glück wünscht, oder die sie kennt und ihr nicht Segen gönnt, oder die Euch beide kennt und Euch beiden nicht alles Glück wünscht, das das neue Jahr bescheren kann. Und hier sind wir deshalb, um es einzuspielen und einzutanzen.«

Das wurde mit allgemeinem Jubel aufgenommen. Der Trommler war freilich ziemlich betrunken, aber das schadete weiter nichts.

»Was für ein Glück ist es doch,« sagte Trotty, »in solcher Achtung zu stehen! Wie freundlich und nachbarlich ihr seid! Das geschieht alles meiner lieben Tochter wegen. Sie verdient es!«

Sie waren in einer halben Sekunde zum Tanz fertig, Meg und Richard voran, und der Trommler war eben im Begriff, aus allen Kräften loszuledern, da ließ sich draußen ein Gemisch von wunderbaren Tönen hören, und eine gutmütig aussehende, schmucke Frau von fünfzig Jahren oder daherum trat herein in Begleitung eines Mannes, der einen steinernen Henkelkrug von erschrecklichem Umfang trug. Dicht hinter ihnen wurden die Klapperinstrumente und Glocken getragen; aber nicht die Glocken, sondern ein tragbares Glockenspiel in einem Gestell.

Trotty sagte: »Frau Chickenstalker!« und setzte sich nieder und schlug sich wieder auf die Knie.

»Was? heiraten und mir kein Wort davon sagen, Meg?« sagte die gute Frau. »Unerhört! Ich konnte am letzten Abend des alten Jahres nicht ruhen, ohne zu kommen und dir Glück und Freude zu wünschen. Nein, ich hätte es nicht gekonnt, Meg, und wenn ich bettlägerig gewesen wäre. Und so bin ich denn hier, und da es Neujahrsabend und zugleich dein Polterabend ist, so habe ich ein wenig Eierpunsch machen lassen und denselben mitgebracht.«

Frau Chickenstalkers Begriff von »ein wenig Eierpunsch« machte ihrem Charakter alle Ehre. Der Krug dampfte und rauchte wie ein Vulkan, und dem Mann, der ihn trug, war ganz schwach zumute.

»Frau Tugby,« sagte Trotty, der ganz entzückt um sie herumging, »ich wollte sagen Chickenstalker, Gott segne Sie! Ein glückliches Neujahr und noch recht viele hinterdrein, Frau Tugby,« sagte Trotty, als er sie geküßt hatte, »ich wollte sagen Chickenstalker – dies ist William Fern und Lilly.«

Die würdige Frau wurde zu seinem Erstaunen sehr blaß und sehr rot.

»Doch nicht Lilly Fern, deren Mutter in Dorsetshire gestorben ist?« sagte sie.

Ihr Onkel bejahte, und sie wechselten schnell einige Worte miteinander, deren Ergebnis war, daß Frau Chickenstalker ihm beide Hände schüttelte, Trotty noch einmal aus freien Stücken auf die Wange küßte und das Kind an ihre geräumige Brust drückte.

»Will Fern,« sagte Trotty, indem er seinen rechten Fausthandschuh anzog, »doch nicht die Freundin, die Ihr zu finden hofftet?«

»Freilich,« entgegnete Will und legte Trotty beide Hände auf die Schultern, »und wie es scheint, eine ebenso gute Freundin, wenn das sein kann, wie der Freund, den ich in Euch gefunden habe.«

»O!« sagte Trotty, »wollt ihr dort nicht aufspielen? Seid so gut!«

Bei dem Klang der Musik, der Schellen, der Klapperinstrumente – alles zu gleicher Zeit – und während noch die Glocken lustig vom Turm niederbrummten, führte Trotty Frau Chickenstalker, Meg und Richard als zweites Paar folgend, zum Tanz und haspelte denselben in einem vorher und nachher unbekannten Pas ab, der auf seinen eigentümlichen Trab begründet war. –

Hatte Trotty geträumt? Oder sind seine Freuden und Leiden und die handelnden Personen darin nur ein Traum? Er selber ein Traum? Der Erzähler dieser Geschichte ein Träumer, der eben erwacht? – Sollte dies so sein, lieber Leser, dann präge die bösen Wirklichkeiten, aus denen diese Schatten entspringen, deiner Seele ein und suche sie in deinem Kreise – keiner ist zu weit und keiner zu enge für solch einen Zweck – zu bessern und minder drückend zu machen. Möge das neue Jahr ein glückliches für dich, ein glückliches noch für viele sein, deren Glück von dir abhängt! Möge jedes Jahr glücklicher sein als das letzte, und nicht der geringste unsrer Brüder oder Schwestern ausgeschlossen bleiben von dem gerechten Anteil an dem, was unser großer Schöpfer zu ihrer Freude geschaffen!

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  1. Ein Wortspiel mit ›Porter‹, das im Englischen einen Portier und eine Last- oder Austräger bezeichnet

Das erste Viertel


Das erste Viertel

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Es gibt nicht viele Menschen – und da es wünschenswert ist, daß ein Erzähler und sein Leser einander so rasch als möglich vollkommen verstehen, so bitte ich, darauf zu achten, daß ich meine Bemerkung nicht auf junge oder kleine Leute beschränke, sondern sie auf alle ausdehne, mögen sie nun klein oder groß, jung oder alt, erst im Aufschießen oder bereits wieder im Verwelken begriffen sein – ich sage, es gibt nicht viele Menschen, die gern in einer Kirche schliefen. Ich meine damit nicht ein Einschlafen während der Predigt bei warmem Wetter, was wohl hin und wieder vorkommen mag, sondern ein regelrechtes Übernachten, und zwar mutterseelenallein. Ich weiß, sehr viele würden schon am hellichten Tag über ein derartiges Beginnen sich höchlich verwundern. Aber meine Behauptung bezieht sich auf die Nacht. Und diese soll auch den Beweis liefern. Ich verpflichte mich, in einer stürmischen Winternacht, die zu diesem Zweck gewählt werde, meiner Behauptung zu einem glorreichen Sieg zu verhelfen, wenn sich mir ein Gegner aus der Menge allein auf einem alten Friedhof vor ein altes Kirchtor stellt und mich vorher ermächtigt hat, falls es zu seiner Befriedigung notwendig wäre, ihn bis zum Morgen einzusperren.

Denn der Nachtwind besitzt eine unheimliche Geschicklichkeit, ein derartiges Gebäude stöhnend zu umkreisen, mit unsichtbarer Hand an Fenstern und Türen zu rütteln und irgendeine Spalte aufzuspüren, durch die er sich hineinpfeifen kann. Ist er endlich drinnen, So winselt und heult er, um wieder hinauszukommen, wie jemand, der nicht gefunden hat, was er sucht; und dabei begnügt er sich nicht damit, durch die Schiffe zu schleichen, um die Pfeiler zu huschen, die tiefe Orgel zu probieren, sondern schwingt sich auf zur Decke und bemüht sich, das Sparrenwerk zu zerreißen, stürzt sich verzweifelt hinunter auf die Steinfliesen und dringt murrend in die Grüfte. Gleich darauf kommt er verstohlen wieder herauf, schleicht an den Wänden hin und scheint in Flüstertönen die Inschriften, die den Toten geweiht sind, zu lesen. Vor einigen derselben bricht er schrill aus, wie im Gelächter, während er vor andern ächzt und schluchzt wie in großem Schmerz. In der Nähe des Altars stimmt er einen gar gespenstigen Ton an und singt in seiner wilden Weise von Unrecht, Mord, falscher Gottesverehrung und Trotz gegen die Gesetzestafeln, die so oft gebrochen und mit Füßen getreten werden, obschon sie so schön und glatt aussehen. Hu! der Himmel bewahre uns, die wir so gemächlich um das Feuer sitzen! Er hat eine gar schreckliche Stimme – dieser Wind um Mitternacht, wenn er in einer Kirche singt!

Aber erst hoch oben im Turm! Dort brüllen und pfeifen die unheimlichen Windstöße! Hoch oben im Turm, wo sie frei aus- und einziehen können durch manche luftige Öffnung, sich um die schwindelnde Treppe winden, den stöhnenden Wetterhahn umherwirbeln und sogar das Gemäuer zittern und beben lassen! Hoch oben im Turm, wo der Glockenstuhl ist, wo die eisernen Geländer sich infolge des langjährigen Rostes Schuppen; wo die Blei- und Kupferplatten , runzelig vor Alter und Wetterstürzen, unter dem ungewohnten Tritt krachen und seufzen; wo Vögel ihre Kotnester in die Ecken des alten Eichengebälks stopfen, der Staub alt und grau wird, fleckige Spinnen, während ihrer ungestörten Ruhe fett und faul geworden, gemächlich sich von den schwingenden Glocken hin und her pendeln lassen und niemals die Verbindung mit ihren gesponnenen Luftschlößchen verlieren, oder wie Matrosen in rascher Unruhe hinanklettern, wenn sie sich nicht lieber auf den Boden niederlassen, um ein Dutzend hurtiger Füße zur Rettung eines einzigen Lebens in Tätigkeit zu setzen! Hoch oben im Turm einer alten Kirche, weit über dem Licht und Gemurmel der Stadt, dennoch aber weit unter den fliegenden Wolken, die sie beschatten, ist das wilde, traurige, nächtige Plätzchen, und hoch oben im Turm einer alten Kirche hausen die Glocken, von denen ich spreche.

Es waren, glaubt mir, alte Glocken. Schon vor Jahrhunderten wurden diese Glocken von Bischöfen getauft; vor so vielen Jahrhunderten bereits, daß ihr Taufregister seit unvordenklichen Reiten verloren ging und niemand mehr ihre Namen wußte. Sie hatten ihre Paten und Patinnen gehabt (nebenbei gesagt, ich für meinen Teil möchte lieber die Verantwortlichkeit übernehmen bei einer Glocke, als bei einem Knaben Gevatter zu stehen) und ohne Zweifel auch ihre silbernen Becher erhalten. Aber die Zeit hatte ihre Taufzeugen dahingerafft und Heinrich VIII. ihre Becher, die er einschmelzen ließ. Und so hängen sie denn jetzt namen- und herrenlos in dem Kirchturm.

Wortlos allerdings nicht. Im Gegenteil. Sie hatten klare, laute, lustige, volltönende Stimmen, diese Glocken; und auf dem Rücken des Windes fortgetragen, konnte man sie weithin hören. Sie waren aber viel zu kühne Glocken, als daß sie sich dem Belieben des Windes unterworfen hätten. Denn wenn er ihnen zu launenhaft war, kämpften sie tapfer gegen ihn an und ließen ihre fröhlichen Klänge stolz in ein lauschendes Ohr strömen; sie waren darauf erpicht, in stürmischen Nächten von einer armen Mutter, die bei einem kranken Kinde wachte, oder einer einsamen Frau, deren Gatte zur See war, gehört zu werden. Ja, man weiß sogar, daß sie hin und wieder einen pustenden Nordwest besiegten, ja ihn sogar »in Grund und Boden« schlugen, wie Toby Veck sagte; – denn obgleich man ihn Trotty Veck nannte, hieß er doch Toby, und niemand (außer ihm selbst) konnte ihn ohne ausdrückliche Parlamentsakte zu etwas anderm machen. Er war zu seiner Zeit so gesetzlich getauft worden, wie die Glocken zu der ihrigen, obschon nicht mit ganz so viel Feierlichkeit oder öffentlichem Jubel.

Ich bekenne mich für meinen Teil zu Toby Vecks Glauben; denn ich bin überzeugt, daß er hinreichend Gelegenheit hatte, sich eine richtige Ansicht zu bilden. was daher Toby Veck sagte, sage ich auch, und ich will auf Tobys Seite stehen, obgleich er den ganzen Tag (und das war eine mühsame Arbeit) vor der Kirchentür zu stehen pflegte. Er war nämlich Dienstmann und wartete dort auf Aufträge.

Freilich ein windiger, gänsehäutiger, blaunasiger, rotäugiger, steifzehiger und zähneklappernder Warteplatz zur Winterszeit, wie Toby Veck wohl wußte. Der Wind kam wütend um die Ecke gefahren – insbesondere der Ostwind – als wenn er sich direkt von den Grenzen der Erde aufgemacht hätte, nur um Toby anzuschnauben. Ja, oft schien er den armen Teufel sogar früher zu treffen, als er erwartet hatte; denn wenn er um die Ecke raste und an Toby vorbeifuhr, wirbelte er plötzlich wieder zurück, als wollte er sagen : »Ha, da ist er ja schon!« Unaufhaltsam flog dann Tobys kleine weiße Schürze wie das Röckchen eines unartigen Jungen über seinen Kopf, und man sah das schwache Stöcklein vergeblich in seiner Hand ringen und kämpfen, sah seine Beine in heftige Bewegung geraten, während Toby selbst in schräger Körperhaltung, das Gesicht bald da- bald dorthin wendend, so umhergetrieben und gestoßen wurde, wohl auch zeitweise den Boden unter den Füßen verlor, daß es fast als ein Wunder erschien, wenn er nicht gleich einer Kolonie von Fröschen, Schnecken oder andern tragbaren Geschöpfen in die Luft geführt und an irgendeinem fernen Weltende, wo Dienstmänner unbekannt sind, zum großen Erstaunen der Eingeborenen niedergeregnet wurde.

Windig Wetter war übrigens doch eine Art Festtag für Toby, obschon es ihm so roh zusetzte. Das ist Tatsache. Er schien in dem Wind nicht so lange auf ein Sechspencestück warten zu müssen wie zu andern Reiten. Der Kampf mit dem ungestümen Element lenkte feine Aufmerksamkeit ab und frischte ihn auf, wenn er hungrig oder kleinmütig war. Auch ein harter Frost oder ein Schneegestöber wurde für ihn zu einem Ereignis und schien ihm in der einen oder andern Weise gutzutun, obschon sich der eigentliche Grund nur schwer angeben ließ. Wie dem übrigens sein mochte, Wind, Frost, Schnee und vielleicht ein tüchtiger Hagel waren für Toby Veck die rotgedruckten Tage im Kalender.

Nasses Wetter war das Schlimmste – die kalte, unfreundliche Feuchtigkeit, die ihn wie ein nasser Mantel einhüllte – die einzige Art von Mantel, die Toby sein eigen nennen konnte, auf den er aber doch zur Erhöhung seiner Behaglichkeit gern verzichtet hätte. Die nassen Tage, wenn der Regen langsam, dicht und hartnäckig niederträufelte , wenn die Straßenschlünde wie sein eigner mit schwefeligem Nebel erfüllt waren, wenn dampfende Schirme hin und hergingen und wie ebenso viele Kreisel tanzten, sooft sie auf dem gedrängten Fußweg aneinander anstießen und eine wirbelnde Brause ungemütlicher Tröpfchen von sich schleuderten, wenn die Dachrinnen klatschten und es in den vollen Wassertraufen donnerte, wenn die Nässe von dem vorspringenden Gestein der Kirche -tropf, tropf, tropf- auf Toby niederplumpste und den Strohwisch, auf dem er stand, im Nu zu bloßem Schmutz wandelte – das waren für ihn Tage der Heimsuchung. Und dann konnte man Toby tatsächlich beobachten, wie er ängstlich und mit trostlosem, langem Gesicht aus seinem Schlupfwinkel in einer Ecke der Kirchenmauer hervorguckte. Dieser Zufluchtsort war ein so kärglicher Schutz, daß er zur Sommerszeit nie einen breitern Schatten auf das sonnige Pflaster warf, als ein dicker Spazierstock. Bald aber kam er wieder heraus, um sich durch Bewegung warm zu machen, trottete etliche Male hin und her, was seine Laune wieder aufheiterte, und kehrte dann ganz wohlgemut in seine Nische zurück.

Man nannte ihn Trotty wegen seines Ganges, der wenigstens Eile andeuten sollte. Er hätte vielleicht schneller gehen können; aber würde man ihn seines Trottes beraubt haben, So wäre er krank geworden und gestorben. Dieser Trott bespritzte ihm bei schlechtem Wetter den Rock mit Kot, vernichte ihm zahllose Unannehmlichkeiten und Beschwerden; Toby hätte ungleich müheloser marschieren können – aber das war gerade ein Grund mehr, diese schwierige Gangart krampfhaft beizubehalten. Obschon ein schwaches, schmächtiges altes Männlein, war Toby doch ein wahrer Herkules in seinen guten Absichten. Er hatte eine Freude daran, wenn er sein Geld verdienen konnte. Es gewährte ihm ein großes Vergnügen, zu glauben – Toby war sehr arm und konnte nicht gut auf ein Vergnügen verzichten – daß er seines Lohnes auch wert sei. Mit einem Auftrag, der ihm einen Schilling oder achtzehn Pence eintrug, oder mit einem kleinen Päckchen in der Hand, steigerte sich sein Mut, an dem es ihm nie gebrach, um ein beträchtliches. Wenn er so dahin trabte, pflegte er den schnelleren Briefträgern vor seiner Nase zuzurufen, sie sollten ihm aus dem Weg gehen, weil er nicht anders glaubte, als daß er im Lauf der Dinge sie unausbleiblich einholen und niederrennen müsse; auch lebte er der festen Überzeugung, die freilich nicht oft auf die Probe gestellt wurde, daß er alles zu tragen imstande sei, was ein Mensch zu heben vermöge.

Toby trabte daher auch, wenn er an einem nassen Tag aus seinem Winkel hervorkam, um sich zu wärmen. Er trabte, wenn er mit lecken Schuhen eine krumme Linie wieder zusammenlaufender Fußtapfen durch den Kot zog und, mit gebeugten Knien und sein Rohr unter dem Arm, seine frostigen Hände blies oder gegeneinander rieb, da sie nur ganz ungenügend gegen die schneidende Kälte durch fadenscheinige grauwollene Fäustlinge geschützt waren, an denen nur der Daumen ein eignes Appartement und die übrigen Finger eine gemeinschaftliche Herberge hatten. Desgleichen trabte er, wenn er auf die Straße hinausging, um bei dem Schall der Glocken an dem Turm hinaufzusehen.

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Diesen letztern Ausflug machte er mehrere Male des Tages; denn die Glocken waren gleichsam seine Gesellschaft, und wenn er ihre Stimme hörte, blickte er gern zu ihrem luftigen Wohnsitz hinauf, während er darüber nachdachte, wie sie bewegt wurden und was für Hämmer auf sie schlügen. Vielleicht hatten sie um so mehr Interesse für ihn, weil es zwischen ihnen und ihm selbst Ähnlichkeiten gab. Sie hingen da oben bei jedem Wetter, in Wind und Regen, sahen nur die Außenseite aller jener Häuser, kamen den lodernden Feuern, die durch die Fenster leuchteten oder zu den Schornsteinen herauspusteten, niemals nahe und waren nie imstande, an den guten Dingen teilzunehmen, die ohne Unterlaß durch die Haustüren und Vorhof-Geländer an verschwenderische Köchinnen abgegeben wurden. Viele Gesichter kamen an die Fenster und entfernten sich wieder – bisweilen hübsche Gesichter, jugendliche Gesichter, angenehme Gesichter, hin und wieder aber auch das Gegenteil; doch Toby wußte ebensowenig wie die Glocken (sooft er auch, wenn er müßig in den Straßen stand, Betrachtungen über diese Kleinigkeiten anstellte), woher sie kamen und wohin sie gingen, oder ob im ganzen Jahr nur ein einziges freundliches Wort über ihn gesprochen wurde, wenn sich die Lippen bewegten.

Toby war kein Kasuist – seines Wissens wenigstens nicht – und ich will nicht behaupten, daß er nach und nach sich durch solche Betrachtungen hindurchgerungen oder eine förmliche Heerschau über seine Gedanken abgehalten hatte, ehe er zu den Glocken eine Neigung faßte und seine erste oberflächliche vermittels zarter Fäden zu einem innigeren Bündnis wob. Was ich aber sagen will und auch sage, ist, daß in derselben Weise, wie Tobys körperliche Funktionen, Seine Verdauungsorgane zum Beispiel, vermöge ihrer eignen Schlauheit und ihres mannigfaltigen, ihm unbewußten Zusammenwirkens, dessen Kenntnis ihn nicht wenig in Erstaunen gesetzt haben würde, Zu einem gewissen Ziel gelangten, auch seine geistigen Fähigkeiten, ohne daß er dabei wissentlich tätig war, alle diese Räder und Federn nebst tausend andern in Bewegung setzten, als sie daran arbeiteten, in ihm eine Neigung zu den Glocken wachzurufen.

Und wenn ich gesagt hätte: seine Liebe, so würde ich auch dies Wort nicht zurücknehmen, obgleich es kaum ein passender Ausdruck für seine komplizierte Empfindung gewesen wäre. Denn da er ein ganz einfacher Mensch war, verlieh er ihnen einen wundersamen und feierlichen Charakter. Sie waren so geheimnisvoll, weil man sie oft hörte und nie sah, so hoch oben, so weit weg und so voll tiefer, kräftiger Melodie, daß er mit einer Art von Ehrfurcht zu ihnen aufblickte. Ja, wenn er die dunkeln, gewölbten Fenster im Turm betrachtete, erwartete er bisweilen, es werde ihm etwas zuwinken, das keine Glocke war und doch in jenen Klängen ihm so oft ans Ohr getönt hatte. Dennoch wies Toby mit Entrüstung ein gewisses leises Gerücht zurück, daß die Töne behext seien, weil dadurch die Möglichkeit zugegeben war, sie stünden mit irgend etwas Bösem im Bund. Mit einem Wort, sie tönten sehr oft in seinen Ohren, beschäftigten sehr oft seine Gedanken und standen stets hoch in seiner guten Meinung; oft, wenn er lange mit weit offenem Munde an dem Kirchturm hinaufgeschaut hatte, bekam er einen so steifen Nacken, daß er nachher, um ihn zu kurieren, ein oder zwei Extragetrabe einlegen mußte.

Mit dieser außertourlichen Übung war er an einem kalten Tage gerade beschäftigt, als der letzte schläfrige Ton der Zwölfuhrglocke wie ein melodisches, bienenartiges Ungeheuer, aber keineswegs ein fleißiges Bienchen, durch den ganzen Turm summte.

»Wie, Essenszeit?« sagte Toby, vor der Kirche auf und ab trottend. »Ah!«

Tobys Nase war sehr rot; und seine Augenlider waren sehr rot; und er zwinkerte mächtig; und seine Schultern waren dicht an den Ohren, und seine Beine waren sehr steif, und er war überhaupt auf dem frostigsten Punkt der kühlen Temperatur angelangt.

»So, Essenszeit!« wiederholte Toby, den Fäustling seiner rechten Hand wie einen jugendlichen Boxhandschuh gebrauchend und seine Brust züchtigend, weil sie sich unterstand, zu frieren. »Ah-h-h-h!«

Hierauf schlug er für ein paar Minuten einen stummen Trab an.

»Es gibt nichts..« sagte Toby, aufs neue lostrabend; aber mit einem Male machte er in seinem Trott halt und betastete mit einem Gesicht voll Interesse und auch etwas Unruhe seine Nase sorgfältig von unten bis oben. Er war bald damit fertig, denn der Weg war kurz, da er mit einer Nase nicht allzu reichlich gesegnet war.

»Ich glaubte schon, sie sei pfutsch,« fuhr Toby fort, indem er wieder weiter trabte. »Es stimmt aber alles. Ich könnte sie jedoch wirklich nicht tadeln, wenn sie sich auf und davon machte. Sie hat wohl einen herzlich schweren Dienst in dieser Hundekälte und herzlich wenig zu erwarten – denn ich schnupfe ja nicht. Selbst in den besten Zeiten wird das arme Ding hart geprüft; denn wenn sie schon einmal einen angenehmen Duft erwischt, was auch nicht oft vorkommt, dann entsteigt er gewöhnlich dem Mittagessen eines andern, das von dem Pastetenbäcker nach Hause getragen wird.«

Diese Betrachtung erinnerte ihn an die andre, die er unbeendigt gelassen hatte.

»Es gibt nichts Regelmäßigeres,« fuhr er fort, »als die Wiederkehr der Essenszeit, und nichts Unregelmäßigeres, als die Wiederkehr des Mittagessens selbst. Darin besteht ihr großer Unterschied. Ich habe lange dazu gebraucht, es ausfindig zu machen. Möchte doch wissen, ob sichs nicht für einen Gentleman der Mühe lohnte, diese Beobachtung für die Zeitungen oder für das Parlament zu kaufen!«

Toby meinte dies bloß im Scherz, denn er schüttelte in gravitätischer Verneinung seinen Kopf.

»Du mein Himmel!« sagte er, »die Zeitungen sind voll Beobachtungen, und das Parlament auch. Da habe ich eine Nummer von der letzten Woche« – er zog ein sehr schmutziges Blatt aus seiner Tasche und hielt es auf Armeslänge vor sich hin – »nichts als Beobachtungen – nichts als Beobachtungen! Ich möchte so gerne als irgend jemand Neuigkeiten erfahren,« fügte er langsam bei, indem er den Bogen noch ein wenig kleiner zusammenfaltete und ihn wieder in seine Tasche steckte; »aber es geht mir fast gegen den Magen, jetzt eine Zeitung zu lesen. Ich erschrecke beinahe davor und weiß nicht, wohin es noch mit uns armen Leuten kommen, was uns noch bevorstehen wird. Gott gebe, daß uns im neuen Jahr etwas Besseres bevorsteht!«

»Vater! Vater!« rief eine angenehme Stimme in der Nähe.

Aber Toby hörte sie nicht, sondern fuhr fort, hin und her zu trotten und seine Gedanken laut werden zu lassen.

»Es ist, als ob wir nichts rechtmachen könnten oder uns niemals Recht werden würde,« sagte Toby. »Als ich jung war, habe ich nicht viel gelernt; und ich kann nicht herauskriegen, ob wir auf der Erde etwas zu schaffen haben oder nicht. Manchmal glaube ich es wohl – wenn wir auch nicht viel hier zu tun haben; manchmal aber meine ich wieder, daß wir nur Eindringlinge sind. Mitunter bin ich so verdutzt, daß ich nicht mit mir ins reine kommen kann, ob überhaupt etwas Gutes an uns ist, oder ob uns die Schlechtigkeit angeboren ist. Es sieht aus, als täten wir schreckliche Dinge und fielen ungeheuer beschwerlich; man beklagt sich immer über uns und trifft Verwahrungsmaßregeln. Ob so oder so – jedenfalls sind die Zeitungen von uns voll. Da spricht man von einem Neuen Jahr!« fuhr Toby traurig fort. »Ich kann ebensoviel ertragen wie jemals irgendein Mensch; besser sogar als viele, denn ich bin stark wie ein Löwe, was sich nicht von allen Leuten sagen läßt; aber gesetzt, es wäre wirklich wahr, daß wir kein Recht auf ein Neujahr haben, angenommen, daß wir wirklich nur Eindringlinge sind …«

»Vater! Vater!« ließ sich die liebliche Stimme abermals vernehmen.

Toby hörte es diesmal; er stutzte, blieb stehen, rief seinen Blick zurück, der weitausgerichtet war, als suche er im Herzen des herannahenden Jahres Erleuchtung, und fand sich nun seinem eignen Kinde gegenüber, dem er jetzt ganz nahe in die Augen schaute.

Und es waren glänzende Augen – Augen, in die eine ganze Welt schauen konnte, ohne ihnen auf den Grund zu kommen. Dunkle Augen, die die hineinblickenden Augen widerspiegelten, nicht blitzend oder auf Wunsch der Eigentümerin, sondern mit einem klaren, ruhigen, ehrlichen, geduldigen Glänze, der Anspruch auf die Zugehörigkeit zu jenem Licht erhob, das der Himmel ins Dasein rief. Augen, schön, wahr und hoffnungsstrahlend – mit so junger und frischer, mit so schwungkräftiger und heller Hoffnung, trotz der zwanzig Jahre Arbeit und Armut, die sie gesehen hatten, daß sie für Trotty Veck zu einer Stimme wurden, die ihm sagten »Ich glaube, wir haben hier wohl etwas zu schaffen – wenn auch nicht viel!«

Trotty küßte die Lippen, die zu den Augen gehörten, und drückte das blühende Gesicht zwischen seine Hände.

»Ei, Herzchen,« sagte Trotty, »was gibt’s? Ich habe dich heute nicht erwartet, Meg.«

»Auch ich habe nicht aufs Kommen gerechnet, Vater,« rief das Mädchen, indem es lächelnd nickte. »Aber da bin ich – und obendrein nicht allein; nicht allein!«

»Wie? du willst doch nicht sagen,« bemerkte Trotty, neugierig nach einem bedeckten Korbe blickend, den sie in ihrer Hand »daß du …«

»Riech daran, lieber Vater,« versetzte Meg. »Riech einmal!«

Trotty war eben im Begriff, hastig den Deckel abzuheben, als das Mädchen scherzend mit der Hand dazwischenfuhr.

»Nein, nein, nein,« erwiderte Meg fröhlich wie ein Kind. »So geschwind gehts nicht. Ich will nur den Deckelrand ein klein winzig bißchen aufheben,« fügte sie bei, indem sie ganz sachte ihr Vorhaben ausführte und dabei so leise sprach, als fürchte sie, im Innern des Korbes gehört zu werden. »So. Also, was ists?«

Toby schnüffelte ein klein wenig an dem Rande des Korbes und rief entzückt:

»Ei, ’s ist heiß!«

»’s ist brennend heiß,« versetzte Meg. »Ha ha ha! ’s ist siedend heiß.«

»Ha ha ha!« brüllte Toby mit einem Luftsprung. »’s ist siedend heiß.«

»Aber was ist es, Vater?« fragte Meg. »Vorwärts! Du hast es noch nicht erraten. Und du mußt erraten, was es ist. Ich kann nicht daran denken, es herauszunehmen, bis du es erraten hast. Aber laß dir Zeit! Warte eine Minute! Ich will ein bißchen mehr von dem Deckel zurückschieben. Jetzt rate!«

Meg war wirklich in Angst, er könnte vielleicht zu rasch das Richtige raten, und wich deshalb ein wenig zurück, während sie ihm den Korb hinhielt, indem sie zugleich ihre hübschen Schultern in die Höhe zog und das Ohr mit der Hand zuhielt als könne sie in dieser Weise das richtige Wort von Tobys Lippen fernhalten. Dabei ließ sie immer ein sanftes Lachen hören.

Toby hatte mittlerweile die Hände auf seine Knie gelegt, seine Nase zu dem Korb niedergebeugt und sog nun den Duft außerhalb des Deckels tief ein. Während dieser angenehmen Beschäftigung verbreitete sich sein Grinsen immer mehr über das welke Gesicht, als atme er pures Lachgas.

»Ah, das riecht prächtig,« sagte Toby. »Ist es nicht – es werden doch keine Schweinswürste sein?«

»Nein, nein, nein!« rief Meg entzückt. »Etwas ganz andres!«

»Nein,« fuhr Toby nach einem abermaligen Schnüffeln fort, »es ist – es ist zarter als Schweinswürste. Es riecht ausgezeichnet und mit jedem Augenblick besser. Der Geruch ist zu stark für Kalbsfüße – nicht wahr?«

Meg war außer sich vor Freude. Er hätte nicht weiter vom Ziele abschießen können als mit Kalbsfüßen – Schweinswürste ausgenommen.

»Leber?« sagte Toby zu sich selber. »Nein. Der Geruch hat eine Milde, die sich an der Leber nicht findet. Ferkelfüßchen? Nein. Er ist zu stark für Ferkelfüße. Auch fehlt ihm der Beigeschmack der Hahnenköpfe. Und ich weiß, Würste sinds auch nicht. Ich will dir sagen, was drinnen ist – Kalbsgekröse!«

»Nein, nein,« erwiderte Meg, vor Entzücken aufjubelnd. »Nicht erraten!«

»Ei, woran denke ich auch!« entgegnete Toby, plötzlich eine so aufrechte Stellung einnehmend, als ihm möglich war. »Ich werde zuletzt noch meinen eignen Namen vergessen. ’s sind Kuttelflecke!«

Und Kuttelflecke waren es auch. Und Meg beteuerte in strahlender Freude, er werde in einer weitern halben Minute sagen, es seien die besten Kuttelflecke, die jemals gedünstet wurden.

»Und so will ich jetzt gleich den Tisch decken, Vater,« fuhr Meg fort, indem sie sich jubelnd mit dem Korbe beschäftigte; »denn ich habe die Kuttelflecke in einer Schüssel gebracht und die Schüssel in ein Taschentuch eingebunden. Wenn ich nun einmal stolz sein und es als Tischtuch ausbreiten will, so kann mich kein Gesetz hindern, es Tischtuch zu nennen. Nicht wahr, Vater?«

»Nicht daß ich wüßte, meine Liebe,« sagte Toby. »Aber sie erlassen alle Augenblicke ein oder das andre neue Gesetz.«

»Und nach dem, was ich dir neulich aus der Zeitung vorlas, Vater, weißt du noch, was der Richter sagte, setzt man bei uns armen Leuten voraus, daß wir alle diese Gesetze kennen. Ha ha ! welch ein Irrtum! du meine Güte, sie halten uns für gewaltig gescheit.«

»Ja, meine Liebe,« rief Trotty, »und sie würden eine gewaltige Freude an einem von uns haben, wenn er sie alle wüßte. Er würde fett werden von der Arbeit, die er kriegte, dieser Mann, und er kriegte einen Stein im Brett bei all den vornehmen Leuten in seiner Nachbarschaft. Gewiß und wahrhaftig!«

»Wer er auch sein möchte, er würde sein Mittagessen mit gutem Appetit verschmausen, wenn es so gut duftete wie dieses hier,« sagte Meg fröhlich. »Beeile dich, Vater, denn da ist außerdem auch noch eine heiße Kartoffel und ein Seidel frisch abgezogenen Bieres in einer Flasche. Wo willst du essen, Vater? In der Nische oder auf den Stufen? Du mein Himmel, wie gut wirs haben — zwei Plätze zur Auswahl!«

 

»Heute die Stufen, mein Kind,« versetzte Trotty. »Bei trockenem Wetter sind die Stufen, bei nassem die Nische gut. Stufen sind immer bequemer, weil man dabei sitzen kann; aber wenns naß ist, kriegt man Rheumatismus.«

»Hier also,« sagte Meg, nachdem sie sich eine halbe Minute eifrig zu schaffen gemacht hatte und nun in die Hände klatschte; »hier ist es – alles bereit – und wie schön es aussieht! Komm, Vater, komm!«

Seit Trotty entdeckt hatte, was in dem Körbchen war, stand er da und sah Meg an – sprach auch ab und zu – aber in einer zerstreuten Weise, welche bekundete, daß er, obschon sie allein seine Gedanken und Augen beschäftigte – nicht einmal die Kuttelflecke konnten ihn ihr untreu machen – nicht im entferntesten an sie dachte, wie sie in jenem Augenblicke war, sondern irgendein visionäres, undeutliches Bild oder ein Drama ihres künftigen Lebens vor sich hatte. Durch ihre heitere Aufforderung geweckt, unterdrückte er nun ein melancholisches Kopfschütteln, das ihn eben anwandelte, und trabte an ihre Seite. In demselben Augenblick, als er sich niederbeugte, um seinen Sitz einzunehmen, erklangen die Glocken.

»Amen!« sagte Trotty, seinen Hut abnehmend und nach denselben aufblickend.

»Amen den Glocken, Vater?« rief Meg.

»Sie fielen ein wie ein Tischgebet, meine Liebe,« sagte Trotty, indem er Platz nahm. »Ich bin überzeugt, sie würden ein gutes sprechen, wenn sie könnten, und sagen mir überhaupt manches Liebe.«

»Die Glocken, Vater?« lachte Meg, als sie die Schüssel niedersetzte und Messer und Gabel dazulegte. »Der Tausend!«

»Sie scheinens zu tun, mein Herzchen,« versetzte Trotty, indem er mit Eifer über seine Kuttelflecke herfiel. »Und worin liegt da der Unterschied? Wenn ich sie nur höre, was macht es aus, ob sie es wirklich sagen oder nicht? Gott behüte, mein Kind,« fügte er bei, indem er mit der Gabel nach dem Turm deutete und unter dem Einfluß seines Mahles lebhafter wurde, »wie oft habe ich jene Glocken nicht sagen hören: ›Toby Veck, Toby Veck, sei guten Mutes! Toby! Toby Veck, Toby Veck, sei guten Mutes, Toby!‹ Millionenmal? Reicht nicht – ’s war öfter!«

»Nun, das habe ich noch nie gehört!« rief Meg.

Dennoch war es schon oft und oft der Fall gewesen, denn es war Tobys unaufhörlicher Gesprächsgegenstand.

»Wenn es recht schlecht geht,« fuhr Trotty fort; »ich meine, wenn es recht schlecht geht – fast am schlechtesten, dann rufen sie: ’Toby Veck, Toby Veck, bald kommt Arbeit, Toby! Toby Veck, Toby Veck, bald kommt Arbeit, Toby!’«

»Und sie kommt dann auch – endlich, Vater, – versetzte Meg mit einem Anflug von Trauer in ihrer lieblichen Stimme.

»Immer,« erwiderte der arglose Toby. »Bleibt nie aus.«

Während dieses Gesprächs machte Trotty keine Pause in seinen Angriffen auf das würzige Mahl vor ihm, sondern schnitt ab und aß, schnitt ab und trank, schnitt ab und kaute, kam von den Kuttelflecken zu den heißen Kartoffeln und von den heißen Kartoffeln wieder zu den Kuttelflecken mit breitem, unermüdlichem Behagen zurück. Als er endlich um die Straßenecke sah, um sich zu überzeugen, ob man nicht von irgendeiner Türe oder einem Fenster nach einem Dienstmann winkte, begegneten seine Augen auf dem Rückweg dem Mädchen, das mit verschlungenen Armen ihm gegenüber saß und mit glücklichem Lächeln seinem emsigen Geschäft zusah.

»Ach, Gott verzeih mir!« rief Trotty, indem er sein Messer und seine Gabel fallen ließ. »Meg, mein Täubchen, warum sagst du mir nicht, was ich für ein Vieh bin?«

»Vater!«

»Sitze ich da«, fuhr Trotty in reuiger Erklärung fort, »und stopfe mich voll, während du vor mir bist, ohne auch nur ein bißchen dein Fasten zu unterbrechen noch den Wunsch dazu zu äußern, während …«

»Aber ich habe mein Fasten schon gebrochen, Vater, und zwar ausgiebig,« unterbrach ihn seine Tochter lachend. »Ich habe mein Mittagessen bereits gehabt.«

»Sprich keinen Unsinn,« versetzte Trotty. »Zwei Mittagessen an einem Tag? Nicht möglich! Du könntest mir ebensogut sagen, daß zwei Neujahrstage auf einmal kommen, oder daß ich mein ganzes Leben über ein Goldstück gehabt habe, ohne es je wechseln zu lassen.«

»Dennoch habe ich schon zu Mittag gegessen, Vater,« sagte Meg, näher herankommend; »und wenn du deines weiter ißt, will ich dir sagen, wie und wo dein Mittagessen zustande kam und – und noch etwas andres dazu.«

Toby machte noch immer eine ungläubige Miene; aber sie sah ihm mit ihren klaren Augen ins Gesicht, legte ihre Hand auf seine Schulter und winkte ihm, weiterzuessen, solange das Fleisch noch warm sei. Trotty nahm daher Messer und Gabel wieder auf und schickte sich zur Arbeit an; sie ging aber viel langsamer vonstatten als zuvor, und er schüttelte den Kopf, als sei er durchaus nicht mit sich zufrieden.

»Ich habe schon gespeist, Vater,« sagte Meg nach einigem Zögern, »mit – mit Richard. Er ißt früh, und da er sein Mittagessen mitbrachte, als er mich besuchte, so – so verzehrten wir es miteinander, Vater.«

Trotty nahm ein Schlücklein Bier und schmatzte mit den Lippen. Dann sagte er »oh!« – weil sie darauf wartete.

»Und Richard sagt, Vater …«, nahm Meg wieder auf. Dann stockte sie abermals.

»Was sagt Richard, Meg?« fragte Toby.

»Richard sagt, Vater …« Neues Stocken.

»Richard braucht lange, bis er etwas sagt,« bemerkte Toby.

»Nun ja, Vater, er sagt,« fuhr Meg fort, indem sie endlich ihre Augen erhob und in bebendem, obschon völlig deutlichem Ton sprach, »es sei wieder ein Jahr beinahe herum, und was es nütze, von einem Jahr auf das andre zu warten, wenn es doch so unwahrscheinlich ist, daß es uns je besser als jetzt ergehen werde. Er sagt, Vater, wir seien jetzt arm und würden auch dann arm sein; aber wir seien jung, und die Jahre würden uns alt machen, ehe wir es wüßten. Er meint, wenn Leute in unsrer Lage warten wollten, bis wir unsern Weg klar vor uns sähen, so würde er wohl recht eng werden – der gemeinschaftliche Weg – das Grab, Vater.«

Sogar ein kühnerer Mann als Trotty Veck hätte alle seine Kühnheit zusammennehmen müssen, um dies in Abrede zu stellen; er blieb daher lieber still.

»Und wie hart ist es, Vater, alt zu werden und zu sterben, wenn wir daran denken, daß wir einander hätten Freude machen und helfen können! Wie hart ist es, sein ganzes Leben über einander liebzuhaben und sich doch getrennt zu sehen, jeden für sich abhärmen zu sehen und zuschauen zu müssen, wie der andre arbeitet, sich verändert, alt und grau wird. Selbst wenn ich es überwinden und ihn vergessen könnte, was nie möglich ist – o lieber Vater, wie schwer wäre es dann, ein Herz zu haben, so voll wie das meinige jetzt ist, und das Leben langsam, tropfenweise verrinnen zu sehen, ohne einen Rückblick auf einen einzigen glücklichen Augenblick, der mich trösten und besser machen könnte!«

Trotty blieb mäuschenstill. Meg trocknete ihre Augen und fuhr heiterer fort – das heißt manchmal unter Lachen und manchmal unter Schluchzen und dann wieder lachend und Schluchzend zu gleicher Zeit:

»Richard sagt daher, Vater, da er gestern für soundso lange eine feste Beschäftigung erhalten habe und ich ihn schon volle drei Jahre liebe – ach, es ist schon länger her, wenn er es nur wüßte! – So solle ich mich am Neujahrstag mit ihm zusammengeben lassen: der beste und glücklichste Tag im ganzen Jahr, sagt er, einer, bei dem man fast sicher annehmen kann, daß er Glück mit sich bringt. Das ist eine kurze Frist – nicht wahr, Vater? – aber ich habe ja kein Vermögen in Ordnung zu bringen und keine Hochzeitskleider machen zu lassen, wie die vornehmen Damen; nicht wahr, Vater? – Und er sagte so viel und sagte es in so nachdrücklicher, ernster, aber doch so sanfter und freundlicher Weise, daß ich ihm versprach, ich wolle mit dir darüber sprechen, Vater. Und da mir ganz unerwarteterweise heute morgen das Geld für meine Arbeit ausbezahlt wurde, und du während der ganzen Woche nur ein armseliges Essen gehabt hast, und ich den Wunsch nicht zurückdrängen konnte, daß etwas getan werden müßte, was dir den heutigen Tag zu einem Feiertag macht, wie er für mich ein glücklicher Tag ist, so kochte ich diesen Festschmaus und brachte ihn dir als Überraschung.«

»Und siehst nun, wie er ihn auf der Treppe kalt werden läßt!« ließ sich eine andre Stimme vernehmen.

Es war die Stimme desselbigen Richard, der unbemerkt herangekommen war und nun vor Vater und Tochter stand. Er blickte mit einem Gesicht auf sie nieder, so glühend wie das Eisen, auf dem täglich sein schwerer Schmiedehammer erklang. Richard war ein schöner, wohlgebauter, kräftiger Bursche mit Augen, die gleich den rotglühenden Funken eines Essenfeuers sprühten. Sein schwarzes Haar kräuselte sich üppig um die dunklen Schläfen, und sein Lächeln – ein Lächeln, das Megs Lob über seinen Konversationsstil beträchtlich unterstützte.

»Und siehst, wie er ihn auf der Treppe kalt werden läßt!« sagte Richard. »Meg weiß nicht, was er liebt – nein, gewiß nicht!«

Voll Behendigkeit und Feuer reichte Trotty augenblicklich Richard die Hand und wollte eben eine hastige Erwiderung geben, als unversehens die Haustür aufging und ein Bedienter beinahe seinen Fuß in die Kuttelflecke setzte.

»Aus dem Wege da! Müßt Ihr Euch denn immer auf unsre Stufen setzen, und könnt Ihr nicht auch einmal die eines Nachbars dazu nehmen? Ich frage, ob ihr den Weg räumen wollt!«

Genau genommen war die letzte Aufforderung ganz unnötig, weil sie ihr bereits nachgekommen waren.

»Was gibts da?« sagte der Gentleman, für den die Tür geöffnet worden war, und der jetzt mit jenem leichtschweren Tritt aus dem Hause kam, den man so häufig bei Gentlemen antrifft, die die zweite, absteigende Hälfte ihres Lebens sorgenlos genießen, wenn sie, ohne ihrer Würde etwas zu vergeben, mit knarrenden Stiefeln, Uhrketten und reinen Hemden aus ihren Häusern kommen und in ihrer Miene ausdrücken, daß sie irgendwo eine wichtige, viel Geld einbringende Beschäftigung haben. »Was gibts da? Was gibts da?«

»Muß man Euch denn immer auf den Knien bitten,« fuhr der Bediente mit großem Nachdruck gegen Trotty Veck fort, »unsre Türtreppen sein zu lassen? Warum kommt Ihr denn immer wieder? Könnt Ihr nicht einmal wegbleiben?«

»Schon gut! Das genügt! Das genügt!« sagte der Gentleman. »Heda, Dienstmann!« Er bedeutete Trotty Veck durch eine Kopfbewegung, näher zu treten. »Kommt her da. Was ist dies – Euer Mittagessen?«

»Ja, Sir,« versetzte Trotty, seine Schüssel in einer Ecke stehen lassend.

»Laßt es nicht dort, sondern bringt es her, bringt es her!« rief der Gentleman. »So; das ist also Euer Essen, wie?«

»Ja, Sir,« antwortete Trotty, mit festem Blick und wässerndem Mund den letzten Brocken ängstlich verfolgend, den er sich als köstlichen Schlußbissen aufgehoben hatte, und den nun der Gentleman an dem Gabelende um und um drehte.

Mit ihm waren auch zwei andere Gentlemen herausgekommen. Der eine, ein niedergeschlagenes, schmächtiges Männchen von mittlerem Alter und mit einem trostlosen Gesicht, hielt Seine Hände unaufhörlich in den schlappohrigen Taschen seiner knappen Pfeffer- und Salzhosen versteckt und schien mit der Bürste oder Seife keine sonderlich intime Bekanntschaft zu unterhalten. Der andre war ein großer, geschmeidiger, gut angezogener Gentleman in einem blauen Rock mit gelben Knöpfen und weißer Krawatte. Dieser hatte ein sehr rotes Gesicht, als ob ihm ein ungebührlicher Anteil Blut nach dem Kopf gedrängt worden sei, was vielleicht auch der Grund war, daß er ziemlich kaltherzig aussah.

Derjenige, welcher Tobys Fleisch an der Gabel hatte, rief nun den ersten Gentleman, den er Filer nannte, heran, und dieser, der sehr kurzsichtig war, mußte zur Untersuchung von Tobys noch übrigem Mittagsmahl seinen Kopf so nahe an den Leckerbissen bringen, daß Toby das Herz bis zum Hals schlug. Aber Herr Filer aß ihn nicht.

»Das ist eine Art von animalischer Kost, Alderman,« sagte Filer, indem er mit einem Bleistift kleine Löcher hineinstach, »die gemeiniglich bei der arbeitenden Klasse dieses Landes unter dem Namen Kuttelflecke bekannt ist.«

Der Alderman lachte und blinzelte – denn Alderman Cute war ein lustiger Knabe und dabei auch ein schlauer, verschmitzter Bursche, der über alles ein wachsames Auge hatte und sich nicht hintergehen ließ. Ja, er sah tief in die Herzen der Leute! Er kannte sie gut, dieser Cute. Das will ich glauben!

»Aber wer ißt Kuttelflecke?« fuhr Herr Filer fort, indem er umherschaute. »Kuttelflecke sind ausnahmslos der unökonomischste und verschwenderischste Konsumartikel, den die Märkte diesem Landes nur hervorbringen können. Man hat gefunden, daß ein Pfund Kuttelflecke durch Sieden sieben Vierzigstel mehr verliert, als ein Pfund jeder andern animalischen Nahrung. Kuttelflecke sind also verhältnismäßig kostspieliger, als die Treibhaus-Ananas. Wenn man die Anzahl der jährlich geschlachteten Tiere in Betracht zieht und einen niedrigen Überschlag über die Menge von Kuttelflecken macht, die die Leiber dieser – vorausgesetzt verständig – geschlachteten Tiere liefern, so stellt sich heraus, daß man von dem Sudverlust der Kuttelflecke allein eine Garnison von fünfhundert Mann fünf Monate lang, jeder zu einunddreißig Tagen gerechnet, und noch einen Februar dazu, viktualisieren könnte. Welche Vergeudung – Vergeudung!«

Trotty stand entsetzt da, und die Knie zitterten unter ihm. Er schien eigenhändig eine Garnison von fünfhundert Mann ausgehungert zu haben.

»Wer ißt Kuttelflecke?« fuhr Herr Filer mit Wärme fort. »Wer ißt Kuttelflecke?«

Trotty machte eine klägliche Verbeugung.

»Ihr also, Ihr?« sagte Herr Filer. »So will ich Euch etwas bedeuten. Ihr reißt Eure Kuttelflecke aus dem Munde der Witwen und Waisen, mein Freund.«

»Ich hoffe nicht, Sir,« versetzte Trotty mit matter Stimme. »Lieber wollte ich verhungern!«

»Teilt man die Menge der vorerwähnten Kuttelflecke durch die geschätzte Anzahl von existierenden Witwen und Waisen, Alderman,« nahm Herr Filer wieder auf, »so trifft auf jeden Kopf für ungefähr einen Penny. Für diesen Mann da bleibt kein Gran übrig – folglich ist er ein Räuber.«

Trotty war so erschüttert, daß er sich nichts daraus machte, als er den Alderman seinen letzten Leckerbissen verzehren sah. Es war ihm eine Erlösung, von diesem irgendwie befreit zu werden.

»Und was sagt Ihr?« fragte der Alderman scherzhaft den rotgesichtigen Gentleman in blauem Rock. »Ihr habt Freund Filer gehört. Was sagt Ihr

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»Was läßt sich da auch möglicherweise sagen?« entgegnete der Gentleman. »Was läßt sich überhaupt sagen? Wer kann sich in so schlechten Zeiten für einen Menschen wie diesen da (er meinte Trotty) interessieren? Schaut ihn an! Welch ein Gegenstand! O die guten alten Zeiten, die herrlichen alten Zeiten, die großartigen alten Zeiten! Das waren die Zeiten für ein kühnes Bauernvolk und dergleichen mehr. Das waren tatsächlich die Zeiten für alles und jedes. Heutzutage gibt es dergleichen nicht mehr. Ach!« seufzte der rotgesichtige Gentleman. »Die guten alten Zeiten , die guten alten Zeiten!«

Der Gentleman setzte nicht näher auseinander, was für besondre Zeiten er meinte, und ließ sich ebensowenig darauf ein, was er an der gegenwärtigen aussetzen hatte, weil er sich wahrscheinlich bewußt war, daß sie nichts sehr Merkwürdiges geleistet hatte dadurch, daß sie ihn ins Leben gerufen.

»Die guten alten Zeiten , die guten alten Zeiten,« wiederholte der Gentleman. »Was waren das für Zeiten! Das waren noch die einzigen Zeiten. Wozu nützts auch, von andern Zeiten zu reden oder sich darüber auszulassen , was die Leute in diesen Zeiten sind. Ihr werdet sie doch nicht etwa Zeiten nennen wollen? Ich wenigstens tue es nicht. Betrachtet nur einmal Strutts Kostüme und seht, was ein Dienstmann während irgendeiner der guten alten englischen Regierungen zu sein pflegte.«

»Wenn es ihnen recht gut ging, so hatten sie nicht einmal ein Hemd auf dem Leib oder Strümpfe an den Füßen, und in ganz England wuchs für sie kaum ein einziges Gemüse,« sagte Herr Filer. »Ich kann dies durch Tabellen beweisen.«

Aber dennoch pries der rotgesichtige alte Gentleman die guten alten Zeiten, die herrlichen Zeiten, die großartigen Zeiten. Es war ganz gleichgültig, was ein andrer sagte; er haspelte unaufhörlich dieselben Phrasen von den alten Zeiten ab, wie ein armes Eichhörnchen seine Tretmühle abhaspelt, von deren Mechanismus und Ränken es wahrscheinlich ebenso klare Vorstellungen hat, wie dieser rotgesichtige Gentleman von seinem verschwundenen tausendjährigen Reich hatte.

Möglich, daß der Glaube des armen alten Trotty an diese sehr verworrenen alten Zeiten nicht ganz zerstört wurde, denn er fühlte sich in jenem Augenblick verwirrt genug; so viel aber wurde ihm in seiner Not klar, daß, wie sehr auch diese Gentlemen im einzelnen verschiedener Meinung sein mochten, seine Bedenken von heute morgen und von vielen andern Morgen ganz begründet waren.

»Nein, nein, wir können nichts rechtmachen,« dachte Trotty in Verzweiflung. »Es ist nichts Gutes in uns. Wir werden bereit schlecht geboren!«

Aber Trotty hatte ein Vaterherz in seinem Innern, das trotz dieser göttlichen Verordnung irgendwie sich in seine Brust geschwindelt hatte, und konnte es nicht ertragen, daß diese weisen Gentlemen Meg, deren Wangen noch vor Freude strahlten, ihr Schicksal weissagen sollten. »Gott helfe ihr,« dachte der arme Trotty; »sie wird es bald genug kennen lernen.«

Er gab daher dem jungen Schmied ängstlich durch Zeichen zu verstehen, daß er sie fortnehmen möchte; aber Richard plauderte in einiger Entfernung so angelegentlich mit ihr, daß ihm dieser Wunsch erst zu gleicher Zeit mit dem Alderman Cute deutlich wurde. Der Alderman hatte sein Sprüchlein noch nicht angebracht; aber er war ein Philosoph – und obendrein ein praktischer, o ein sehr praktischer Philosoph, und da er sichs nicht einfallen ließ, auf einen Teil seiner Zuhörerschaft zu verzichten, so rief er:

»Halt«

»Ihr wißt,« sagte der Alderman mit einem selbstgefälligen Lächeln, das gewöhnlich um seine Lippen spielte, zu seinen beiden Freunden, »ich bin ein einfacher, praktischer Mann und liebe es, in einfacher, praktischer Weise zu Werke zu gehen. Das ist so meine Art. Es ist durchaus nicht schwer, und es steckt kein Geheimnis dahinter, mit derartigen Leuten umzugehen , wenn man sie nur versteht und in ihrer eignen Weise mit ihnen sprechen kann. Hört also, Dienstmann! Bemüht Euch nur ja nicht, mein Freund, mir oder jemand anderm weiszumachen, Ihr hättet nicht immer vom Besten und im Überfluß zu essen; ich weiß das besser. Ihr wißt, ich habe Eure Kuttelflecke gekostet , und Ihr könnt mich nicht beschummeln. Ihr wißt , was ›beschummeln‹ bedeutet, he? Das ist das rechte Wort – nicht wahr? Du mein Himmel,« fuhr der Alderman gegen seine Freunde fort, »es ist das allerleichteste von der Welt, mit derartigen Leuten zu verkehren, wenn man sie nur versteht.«

Ein famoser Mann für das gemeine Volk, der Alderman Cute! Nie aufgebracht über sie! Ein umgänglicher, gesprächiger, scherzhafter, gescheiter Herr!

»Ihr seht, mein Freund,« fuhr der Alderman fort, »man spricht da viel Unsinn vom Mangel und ›Schlechtgehen‹ – nicht wahr, so nennt mans? Ha ha ha! – aber ich gedenke, das Geschrei zu widerlegen. ’s ist nachgerade Mode, viel übers Verhungern zu deklamieren; aber ich will der Sache einen Riegel vorschieben. Gott weiß,« fuhr der Alderman gegen seine Freunde fort, »man kann solchen Leuten alles legen, wenn man nur weiß, wie mans anzugreifen hat!«

Trotty ergriff Megs Hand und zog sie durch seinen Arm, ohne eigentlich recht zu wissen, was er tat.

»Eure Tochter, he?« fragte der Alderman, sie vertraulich unter das Kinn fassend.

Stets leutselig gegen die arbeitende Klasse – der Alderman Cute! Wußte, was ihnen gefiel! Kein bißchen stolz!

»Wo ist ihre Mutter?« fragte der würdige Gentleman.

»Tot,« antwortete Toby. »Ihre Mutter verfertigte Wäsche und wurde in den Himmel abberufen, als Meg auf die Welt kam.«

»Vermutlich wird sie dort keine Wäsche verfertigen,« bemerkte der Alderman scherzhaft.

Toby konnte oder wollte sich vielleicht auch nicht seine Frau im Himmel ohne ihre gewöhnliche Beschäftigung vorstellen. Die Frage ist: wenn Frau Alderman Cute gegen Himmel gefahren wäre, würde sich Herr Alderman Cute seine Gattin so vorgestellt haben, daß sie dort Staat macht und eine hohe Stellung einnimmt?

»Und Ihr macht ihr den Hof, he?« fragte Cute den jungen Schmied.

»Ja,« entgegnete Richard hastig, denn die Frage brannte ihn wie eine Nessel. »Und wir werden am Neujahrstag heiraten.«

»Was sagt Ihr da?« rief Herr Filer scharf. »Heiraten?«

»Nun ja, wir denken daran, Herr,« versetzte Richard. »Ihr seht, wir müssen ein bißchen eilen, für den Fall, daß man uns vielleicht unser Vorhaben ›legen‹ würde.«

»Ah!« rief Filer mit einem Stöhnen. »Jawohl, Alderman, wenn Ihr dies legen könntet, so würdet Ihr etwas tun. Heiraten! heiraten!! Die Unwissenheit dieser Leute in den ersten Grundsätzen der Staatsökonomie, ihr Unverstand und ihre Gottlosigkeit sind, beim Himmel, genug, um – na, seht mir nur einmal dieses Paar an!«

Ei ja, man durfte sie wohl ansehen – und das Heiraten schien eine so vernünftige und billige Handlung zu sein , daß sie es wohl in Betracht ziehen durften.

»Man kann so alt werden wie Methusalem«, sagte Herr Filer, »und sich sein ganzes Leben über zum Besten solcher Leute abmühen; man kann berghoch Zahlen von Tatsachen, Zahlen von Tatsachen und Zahlen von Tatsachen aufhäufen, aber vergeblich hofft man, sie zu überzeugen, daß sie keine Befugnis und kein Recht haben, zu heiraten – ebensowenig als man sie zu belehren vermag, wie ihnen alle Befugnis abgeht, geboren zu werden. Und daß dies der Fall ist, wissen wir recht wohl, da wirs längst zu einer mathematischen Gewißheit erhoben haben.«

Alderman Cute war ungemein aufgeräumt und legte seinen rechten Zeigefinger an die Seite seiner Nase, als wollte er zu seinen beiden Freunden sagen: »Seid nun so gut, auf mich achtzugeben. Richtet euer Augenmerk auf den praktischen Mann!« – Dann rief er Meg heran.

»Kommt her, mein Mädchen!« sagte Alderman Cute. Das junge Blut ihres Liebhabers war in den letzten paar Minuten zornig aufgewallt, und er hatte keine Lust, sie gehen zu lassen. Dennoch tat er sich Zwang an, trat, als sich Meg näherte, mit einem großen Schritt vor und stellte sich an ihre Seite. Trotty hielt noch immer ihre Hand unter seinem Arm, blickte aber so wirr wie ein Schläfer im Traum von Gesicht zu Gesicht.

»Ich will Euch jetzt ein paar Wörtchen als guten Rat geben, mein Mädchen,« sagte der Alderman in seiner leichten, angenehmen Weise. »Ihr wißt, daß es mir zusteht, Rat zu erteilen, weil ich Friedensrichter bin. Es ist Euch wahrscheinlich bekannt, daß ich die Stellung eines Friedensrichters innehabe?«

Meg antwortete schüchtern mit ja. Aber jedermann wußte, daß Alderman Cute ein Friedensrichter war – und, o mein Gott, welch ein tätiger Friedensrichter! Nie gab es einen so glänzenden Splitter im Auge der Öffentlichkeit als Cute.

»Ihr wollt also heiraten , sagt Ihr?« fuhr der Alderman fort. »Das ist sehr unschicklich und unzart von einer Person Eures Geschlechts! Doch reden wir nicht davon. Wenn Ihr geheiratet habt, werdet Ihr mit Euerm Mann streiten und ein unglückliches Weib werden. Ihr glaubts vielleicht nicht, aber Ihr werdet es mit der Zeit, weil ichs Euch sage. Ich warne Euch deshalb ehrlich und bemerke Euch zum voraus, daß ich mir vorgenommen habe, auch den unglücklichen Weibern einen Riegel vorzuschieben. Mir dürft Ihr nicht kommen. Ihr werdet Kinder kriegen – Jungen. Diese Jungen wachsen auf bösen Wegen auf und laufen ohne Schuhe und Strümpfe wild durch die Straßen. Merkt Euch dies, meine junge Freundin – ich werde sie samt und sonders summarisch einstecken lassen, denn ich bin entschlossen, auch den Buben ohne Schuhe und Strümpfe das Handwerk zu legen. Vielleicht stirbt Euer Mann jung (sehr wahrscheinlich) und läßt Euch mit einem Säugling zurück. Man weist Euch dann die Tür, und Ihr müßt auf der Straße umherwandern. Kommt aber nur mir nicht in die Nähe, meine Liebe, denn ich bin entschlossen, es allen wandernden Müttern zu legen. Ja, ich bin entschlossen, es allen jungen Müttern, welcher Art und von welchem Schlag sie sein mögen, zu legen. Glaubt nicht, Ihr könnt Euch mit Krankheit oder mit Säuglingen vor mir entschuldigen, denn ich habe mir vorgenommen, es allen kranken Personen und kleinen Kindlein (hoffentlich kennt Ihr die Stelle im Gebetbuch, ich fürchte aber, nein) zu legen; und wenn Ihr gar verzweifelt, undankbar, gottlos und betrügerisch einen Versuch macht, Euch zu ersäufen oder zu hängen, So will ich kein Mitleid mit Euch haben, denn ich bin festen Willens, es auch dem Selbstmord zu legen! Wenn es etwas gibt,« fuhr der Alderman mit einem selbstgefälligen Lächeln fort, »von dem ich sagen kann, daß mein Sinn mehr darauf erpicht sei als auf etwas andres, so ist es das Legen des Selbstmordes. Probierts also nicht erst! Ha ha! Jetzt verstehen wir einander.«

Toby wußte nicht, sollte er sich mehr grämen oder freuen, als er bemerkte , daß Meg totenblaß wurde und die Hand ihres Verlobten fallen ließ.

»Und was Euch betrifft, Ihr junger Bullenbeißer,« fuhr der Alderman fort, indem er sich mit erhöhter Heiterkeit und Leutseligkeit an den jungen Schmied wandte, »was fällt Euch denn ein, daß Ihr heiraten wollt? Wozu braucht Ihr überhaupt das Heiraten, Ihr einfältiger Mensch? Wenn ich ein hübscher, starker junger Bursche wäre wie Ihr, so würde ich mich schämen, so milchsuppig zu sein, um mich an die Schürzenbänder eines Weibes zu hängen! Sie ist ein altes Weib, bevor Ihr ein Mann in den besten Jahren seid! Und Ihr werdet dann eine schöne Figur machen, wenn Euch auf Schritt und Tritt eine Schmutzliese von Frau und ein Haufen krakeelender Kinder nachschreien!«

Oh, wie angenehm wußte Alderman Cute mit den gemeinen Leuten zu scherzen!

»So – jetzt packt Euch und bereut,« sagte der Alderman. »Macht keine solchen Narren aus Euch, am Neujahrstag zu heiraten. Bevor sich dieser Tag jährt, seid Ihr längst andrer Meinung – so ein schmucker junger Bursche wie Ihr, nach dem sich alle Mädels den Hals ausrecken. Also! Geht jetzt!«

Und sie gingen. Nicht Arm in Arm, Hand in Hand oder leuchtende Blicke austauschend: sondern sie in Tränen, er aber düster und niedergeschlagen. Waren dies die Herzen, die erst kürzlich noch das des alten Toby aufhüpfen machten aus seiner Schwäche? Nein, nein. Der Alderman – Segen über sein Haupt! – hatte es ihnen ›gelegt‹.

»Da Ihr zufällig hier seid,« sagte der Alderman zu Toby, »so könnt Ihr mir einen Brief besorgen. Wie stehts aber mit der Geschwindigkeit? – Ihr seid ein alter Mann.«

Toby, der ganz betäubt Meg nachgesehen hatte, versuchte zu murmeln, daß er sehr hurtig und recht gut bei Kräften sei.

»Wie alt seid Ihr?« fragte der Alderman.

»Sechzig vorbei, Sir,« versetzte Toby.

»Der Mann hat das Durchschnittsalter weit überschritten,« fiel Herr Filer ein, als ob seine Geduld wohl einer Heimsuchung fähig sei, dies aber wirklich die Sache ein wenig zu weit treiben heiße.

»Ich spüre wohl, daß ich zur Last bin, Sir,« sagte Toby. »Ich – ich habs schon heute morgen geargwöhnt. Ach du mein Himmel!«

Der Alderman unterbrach ihn, indem er einen Brief aus seiner Tasche zog und ihn Toby Veck übergab. Letzterer würde dazu auch einen Schilling erhalten haben; da aber Herr Filer deutlich bewies, daß er in diesem Fall eine gewisse gegebene Anzahl von Personen je um neuneinhalb Pence bringe, so erhielt er nur ein Sechspencestück und war schon darüber überglücklich.

Dann gab der Alderman jedem seiner Freunde einen Arm und zog triumphierend von dannen; unmittelbar darauf kam er jedoch eiligst allein zurück, als ob er etwas vergessen hätte.

»Dienstmann!« sagte der Alderman.

»Sir!« versetzte Toby.

»Gebt auf Eure Tochter acht. Sie ist viel zu schön.«

»Vermutlich hat sie auch ihr hübsches Gesicht jemandem gestohlen,« dachte Toby, indem er das Sechspencestück in seiner Hand ansah und an die Kuttelflecke dachte. »Sollte mich nicht wundern, wenn sie fünfhundert vornehmen Damen je ein Stück Blüte entrissen hätte. ’s ist ja ganz schrecklich!«

»Sie ist viel zu schön, mein guter Mann,« wiederholte der Alderman. »Ich sehe klar voraus, daß es mit ihr kein gutes Ende nehmen wird. Merkt auf das, was ich Euch sage, und habt ein wachsames Auge auf sie!«

Mit diesen Worten eilte er wieder fort.

»Überall Unrecht – überall Unrecht!« sagte Trotty, seine Hände zusammenschlagend. »Schon als schlecht geboren! Nichts hier zu schaffen!«

Die Glocken tönten hallend zusammen, als er diese Worte sprach – voll, laut und kräftig tönend, aber ohne Ermutigung. Nein, keine Spur davon.

»Die Weise hat sich geändert,« rief der alte Mann, als er aufhorchte. »‹s ist nicht eine Silbe darin, an der man eine Freude haben könnte. Doch warum auch? Was geht mich das neue oder das alte Jahr an? Laßt mich sterben!«

Dennoch hallten die Töne fort, daß die ganze Luft in Schwingungen geriet: »Leg es ihnen, leg es ihnen! Gute alte Zeiten, gute alte Zeiten! Tatsachen und Zahlen, Tatsachen und Zahlen! Leg es ihnen, leg es ihnen!« Wenn sie überhaupt etwas sagten, So sagten sie nur dies, bis es in Tobys Gehirn zu kreisen begann.

Er preßte seinen armen, wirren Kopf in beide Hände, als ob er ihn vor dem Zerspringen bewahren wollte. Dies war eine Bewegung zur rechten Zeit, denn sie ließ ihn in der einen Hand den Brief fühlen, und so wurde er an seinen Auftrag erinnert. Mechanisch setzte er sich in seinen gewöhnlichen Trab und trottete von hinnen.

Zweiundfünfzigstes Kapitel


Zweiundfünfzigstes Kapitel

Mr. Samuel Pell ordnet mit Beihilfe eines auserlesenen Kutscherkomitees die Angelegenheiten Mr. Wellers senior.

„Samuel“, sagte Mr. Weller am Morgen nach dem Begräbnis zu seinem Sohn, „ich habe es gefunden, Sammy. Ich dachte ja gleich, daß es drin sein wird.“

„Was hast du gefunden?“ fragte Sam.

„Das Testament von deiner Stiefmutter, Sammy. Wonach die Anordnungen zu treffen sind, wo ich gestern abend von sprach; diesbezüglich die Fonds.“

„So? Hat sie denn nich gesagt, wo sie es aufbewahrt hat?“ fragte Sam.

„Nicht die Bohne, Sammy“, entgegnete Mr. Weller. „Wir legten gerade unsere kleinen Zwistigkeiten bei, und ich versuchte ihr aufzuheitern, und da vergaß ich alles dabei. Aber wenn ich auch dran gedacht hätte, ich weiß nicht, ob ich’s wirklich gemacht hätte“, fügte Mr. Weller hinzu. „Es is so ’ne Sache, Sammy, nach dem Testament von ein Menschen schnüffeln, wenn du an seinem Krankenbett sitzt. Is genauso, als wenn du ’nem runtergefallenen Außenpassagier wieder auf die Kutsche hilfst und steckst ihm dabei die Hand in die Tasche und fragst ihn, wie er sich fühlt. – Dieses hier is denn also das Testament, Sammy“, sagte Mr. Weller, öffnete seine Brieftasche und zog einen abgegriffenen Bogen Briefpapier heraus, auf dem krause Schriftzüge in wirrem Durcheinander standen.

„Dies hier ist das Dokument, Sammy. Es war in dem kleinen schwarzen Teetopf auf dem Sims in der Speisekammer. Sie pflegte ihre Banknoten drin aufzubewahren, bevor daß ich ihr heiratete, Samuel. Ich habe wohl hundertmal gesehen, wie sie den Deckel abnahm, wenn sie ’ne Rechnung bezahlte.“

„Was steht denn drin?“ fragte Sam.

„Genau das, was ich dir schon erzählt habe, mein Junge. Zweihundert Fund für meinen Stiefsohn Samuel, und den ganzen Rest meines Vermögens, welcher Art und Gattung es auch sein möge, meinem Mann, Mr. Tony Veller, welchen ich zu meinem einzigen Testamentenvollstrecker ernenne.“

„Is das alles?“

„Das is alles!“ antwortete Mr. Weller. „So, na denn nehme ich an, wo nu alles richtig in Ordnung is, für dich und für mich und wir die einzigen Fahrgäste sind, wo es was angeht, können wir den Wisch ins Feuer schmeißen.“

„Bist wohl verrückt, altes Mondkalb?!“ rief Sam und entriß seinem Vater das Papier, als dieser in aller Unschuld bereits das Feuer schürte, um seinem Worte die Tat folgen zu lassen. „Du wärst mir ’n sauberer Testamentsvollstrecker, du.“

„Wieso?“ fragte Mr. Weller und blickte mit dem Schüreisen in der Hand erstaunt auf.

„Wieso?“ rief Sam. „Weißte denn nich, daß es vorher geprieft, beglaubigt und beschworen werden muß?“

„Wahrhaftich?“ fragte Mr. Weller und legte das Schüreisen nieder.

Sam steckte das Testament sorgfältig in die Brusttasche und gab nur durch einen unwilligen Blick zu verstehen, daß er es wirklich so meine, und zwar in allem Ernst.

„Dann will ich dir sagen, was es is“, hob Mr. Weller nach kurzem Nachdenken an. „Es is dies ’n Fall für den vertrauten Freund vom Lordkanzler. Pell muß die Sache ausknobeln, Sammy. Er is der Mann für ’ne schwierige Rechtsfrage. Wir werden die Sache umgehend vor den Insolvenzgerichtshof bringen, Samuel.“

„Also, ich habe noch nie so ’n ollen Rappelkopf gesehen!“ rief Sam gereizt. „Gerichtshöfe, Insolvenzgerichte, Alibis und aller mögliche Blödsinn geht ihm dauernd durch den Schädel. Es wäre besser, du würdest deinen Sonntagskittel anziehen und denn in die Stadt mitkommen, anstatt daß du hier über Sachen brabbelst, wo du nichts von verstehst.“

„Na ja, na ja, Sammy“, erwiderte Mr. Weller. „Bin doch ganz einverstanden, Sammy. Aber merk dir’s wohl, mein Junge, niemand anders als Pell, niemand als Pell darf unser Advokat sein.“

„Verlange auch sonst niemand“, brummte Sam, der sich inzwischen vor einem kleinen Spiegel sein Halstuch umgebunden hatte, „kommst nu endlich?“

„Warte noch ’ne Minute, Sammy! Wenn du mal so alt bist wie dein Vater, wirst du auch nich mehr so leicht in den Rock reinschlüpfen“, stöhnte Mr. Weller und kämpfte sich mit großer Anstrengung in seinen Überzieher.

„Soll mich der Teufel holen, wenn ich überhaupt einen trage“, knurrte Sam.

„So denkst du jetzt“, sagte Mr. Weller mit der Gravität des Alters, „du wirst aber schon finden, daß man um so weiser wird, je dicker man wird. Weite und Weisheit, Sammy, wachsen auf einem Holz.“

Als Mr. Weller diesen unfehlbaren Grundsatz – das Ergebnis vieljähriger persönlicher Erfahrung und Beobachtung – preisgab, gelang es ihm durch eine gewandte Drehung des Körpers, den untersten Rockknopf seiner Bestimmung gemäß anzuwenden. Nachdem er wenige Sekunden pausiert hatte, um wieder Atem zu schöpfen, bürstete er seinen Hut mit dem Ellbogen und erklärte sich bereit.

„Vier Köpfe sin besser als zwei, Sammy“, sagte er ernst, als sie miteinander mit der Post nach London fuhren, „und wo doch … alle diese Habseligkeiten ’ne große Versuchung für ’n Adfokaten sin, wollen wir ’n paar von meinen Freunden mit dazunehmen, wo sehr schnell über ihm herfallen würden, wenn er sich ’ne Unregelmäßigkeit würde zuschulden kommen lassen. Es sind zwei von denen, wo dich damals in der Fleet besucht haben. Es sind die besten Ferdekenner, wo du je gesehen hast“, fügte Mr. Weller geheimnisvoll hinzu.

„Sind es aber auch Advokatenkenner?“ fragte Sam.

„Wer ein richtiges Urteil über ein Tier abgeben kann, der kann auch ein richtiges Urteil über alles andere abgeben“, erwiderte Mr. Weller so dogmatisch, daß Sam nicht zu widersprechen wagte.

Die beiden Droschkenkutscher, die der alte Herr zu seinen Beiständen ausersehen, waren bald aufgefunden. Er hatte sie vermutlich mit Rücksicht auf ihre Wohlbeleibtheit und die dadurch bedingte Weisheit ausgewählt und begab sich sofort mit ihnen nach dem Gasthaus in der Portugalstreet.

Der in den Insolvenzgerichtshof hinübergeschickte Bote fand Mr. Samuel Pell glücklicherweise mit einer nicht allzu schweren Arbeit, nämlich mit einer kleinen Zwischenmahlzeit, bestehend aus Abernethyzwieback und einem Hühnchen, beschäftigt. Der berühmte Anwalt vernahm kaum, was man von ihm wünschte, als er unverzüglich seinen Mundvorrat nebst verschiedenen amtlichen Dokumenten in die Tasche steckte und in das Wirtshaus eilte.

„Meine Herren“, begann er und lüftete seinen Hut, „seien Sie mir alle gegrüßt. Ich sage es nicht, um Ihnen zu schmeicheln, meine Herren; aber es gibt kaum noch fünf andre Männer auf der Welt, denen zuliebe ich heinte den Gerichtshof verlassen hätte.“

„So beschäftigt, was?“ fragte Sam.

„Oh, beispiellos“, erwiderte Pell, „ich bin ganz abgehetzt, wie mein Freund, der verstorbene Lordkanzler, immer zu mir sagte, wenn er aus dem Oberhaus kam, wo sie ihn mit Fragen bestürmt hatten. Jaja, der Ärmste! Solche Anstrengungen griffen ihn sehr an, und die Fragen pflegten ihm außerordentlich zu Herzen zu gehen. Ich glaubte wirklich mehr als einmal, er müsse unter der Last seiner Arbeiten notwendigerweise zusammenbrechen. Heda, liebes Kind, bringen Sie mir doch für drei Pence Rum.“ – Mr. Pell seufzte, seh wieg, betrachtete seine Schuhe, sah dann zur Decke empor und goß den Rum, der ihm sofort gebracht worden war, hinunter.

„Indes“, nahm er seine Rede wieder auf und rückte seinen Stuhl an den Tisch, „ein Geschäftsmann hat kein Recht, an seine Privatfreundschaften zu denken, wenn sein juristischer Beistand verlangt wird. Beiläufig gesagt, meine Herren, seit ich Sie das letztemal hier sah, haben wir ein sehr trauriges Ereignis zu beweinen gehabt. Ich habe es im Anzeiger gelesen, Mr. Weller“, setzte er hinzu. „Gott, Gott, nix mehr als zweiundfünfzig Jahre! Unglaublich. Hm. – Ich habe gehört, daß sie eine sehr schöne Frau gewesen ist, Mr. Weller?“

„Ja, Sir, das war sie“, brummte Mr. Weller. „Aber lassen wir das jetzt. Gehen wir mal ans Geschäft.“

Dieses Wort war Musik für Mr. Pell, denn er hatte so seine Zweifel gehabt, ob er nicht am Ende nur zu einem freundschaftlichen Glas Grog oder einer Bowle Punsch oder sonst einem ähnlichen Achtungsbeweise eingeladen worden sei. Mit funkelnden Augen nahm er das Testament entgegen, das ihm Sam reichte, und sagte:

„Diese andern Herren sind ohne Zweifel Legatare?“

„Nö, Sammy ist der einzige Legatar“, erwiderte Mr. Weller, „diese andern Herrn sin Freunde von mir. Habe sie als ’ne Art Schiedsrichter mitgebracht.“

„Hm“, sagte Pell, „sehr gut. Ich habe durchaus nichts dagegen. Nur muß ich um fünf Pfund Vorschuß bitten, bevor ich anfange.“

Das Komitee entschied, die fünf Pfund sollten vorgeschossen werden, Mr. Weller bezahlte die Summe, und dann fand eine lange Beratung statt, wobei Mr. Pell zur großen Befriedigung der Herren Schiedsrichter den Beweis führte, daß, wenn die Leitung des Geschäftes nicht ihm anvertraut worden wäre, es notwendig hätte schiefgehen müssen, aus Gründen, die zwar nicht ganz klar, aber genügend einleuchtend waren. Nachdem dieser wichtige Punkt ins reine gebracht war, erfrischte sich Mr. Pell auf Kosten der Beteiligten mit einigen guten Bissen und sowohl malzigen wie geistigen Getränken, und alle begaben sich nach Doktors Commons.

Nach den nötigen Verhandlungen war die Angelegenheit endlich so weit gediehen, daß der Tag anberaumt werden konnte, an dem durch Vermittlung des Börsensensals Wilkins Flasher, Esquire, der dazu von Mr. Pell in Vorschlag gebracht worden, Sams Erbteil in Fonds angelegt und der Rest zu Geld gemacht werden konnte.

Es war dies eine festliche Veranlassung, und die beteiligten Personen schmückten sich dazu in angemessener Weise. Mr. Weller ließ sich das Haar brennen, und alle prangten in Festornat, das heißt, sie zogen so viele Kleider an, wie nur möglich, und steckten Lorbeerzweige und Georginen in die Knopflöcher.

Mr. Pell erschien zur bestimmten Zeit am gewöhnlichen Versammlungsort und trug ein Paar Handschuhe und ein frisches Hemd (letzteres durch vieles Waschen am Kragen und den Manschetten ein wenig durchgerieben).

„Viertel vor zwei“, sagte er und blickte auf die Stubenuhr. „Wenn wir Viertel nach zwei zu Mr. Flasher kommen, ist es gerade die beste Zeit.“

Zur Feier des Tages wurde noch schnell ein kleiner Lunch, bestehend aus Bier, Brandy, Austern und Beefsteak, eingenommen und dann brach das Komitee gemächlich auf.

Das Bureau des Börsensensals Wilkins Flasher, Esquire, lag zu einem Hof hinaus hinter der Bank von England; das Haus Wilkins Flashers, Esquire, war in Brixton, Surrey; das Pferd und der Stanhope Wilkins Flashers, Esquire, standen in einem Mietsstall in der Nähe; der Groom Wilkins Flashers, Esquire, war auf dem Weg nach dem Westen von London, um Wildpret abzuliefern; der Schreiber Wilkins Flashers, Esquire, war zum Mittagessen gegangen, und so rief Wilkins Flasher, Esquire, in höchsteigener Person „herein“, als Mr. Pell mit seinen Begleitern an der Tür des Kontors anklopfte.

„Guten Morgen, Sir“, sagte der Advokat mit höflicher Verbeugung. „Wir möchten gerne etwas ä kleine Transaktion vornehmen, wenn es Ihnen konveniert.“

„Schön, schön!“ sagte Mr. Flasher. „Setzen Sie sich einen Augenblick. Ich stehe sogleich zu Diensten.“

„Danke Ihnen, Sir“, sagte Pell, „es hat keine Eile. Nehmen Sie einen Stuhl, Mr. Weller.“

Mr. Weller nahm einen Stuhl, Sam eine Kiste, und die Schiedsrichter nahmen, was sie bekommen konnten, und besahen sich den Kalender und ein paar an die Wand geklebte Papiere mit so offenkundiger Ehrfurcht, als ob es alte Meister gewesen wären.

„Also gut, ich wette ein halbes Dutzend Flaschen Bordeaux; schlagen Sie ein“, nahm Wilkins Flasher, Esquire, seine unterbrochene Unterhaltung mit einem stutzerhaft gekleideten jungen Gentleman wieder auf, der, seinen Hut schief auf, sich an einem Pulte rekelte und mit einem Lineal Fliegen totschlug. Wilkins Flasher, Esquire, balancierte dabei auf einem Schreibstuhl und zielte mit seinem Federmesser auf eine Oblatenschachtel, die er dann und wann mit großer Gewandtheit gerade in der Mitte traf. Beide Gentlemen trugen sehr weit ausgeschnittene Westen und sehr weit zurückgeschlagene Kragen, sehr kleine Stiefel und sehr dicke Ringe, sehr kleine Uhren und sehr große Uhrketten, knapp anliegende Hosen und parfümierte Taschentücher.

„Ich wette nie ein halbes Dutzend“, sagte der junge Herr. „Ein ganzes Dutzend muß es sein.“

„Gemacht, Simmery, es gilt!“ sagte Wilkins Flasher, Esquire.

„Aber sogleich zu bezahlen!“

„Versteht sich“, erwiderte Wilkins Flasher, Esquire, und trug die Wette in ein kleines Buch mit einem goldenen Crayon ein. Der andre Gentleman notierte sie ebenfalls in einem andern kleinen Buch, ebenfalls mit einem goldenen Crayon.

„Ich lese da gerade, daß Boffer“, bemerkte Mr. Simmery, „pleite ist.“

„Ich wette zehn Guineen gegen fünf, daß er sich die Kehle durchschneidet“, griff Wilkins Flasher, Esquire, sofort das Thema auf.

„Gemacht!“ schlug Mr. Simmery ein.

„Halt!“ sagte Wilkins Flasher, Esquire, gedankenvoll. „Vielleicht hängt er sich auch auf.“

„Auch gut“, meinte Mr. Simmery und zog den goldenen Crayon wieder heraus. „Ich nehme die Wette auch so an. Sagen wir also: er macht seinem Leben ein Ende.“

„Er tötet sich selbst“, ergänzte Wilkins Flasher, Esquire.

„Tötet sich selbst“, schrieb Mr. Simmery auf. „Flasher: zehn Guineen gegen fünf, Boffer tötet sich selbst. Binnen welcher Zeit wollen wir sagen?“

„Binnen vierzehn Tagen etwa.“

„Gott bewahre, nein“, erwiderte Mr. Simmery und hielt einen Augenblick inne, um eine Fliege mit dem Lineal zu erschlagen. „Sagen wir eine Woche.“

„Halbieren wir! – Zehn Tage?“ schlug Wilkins Flasher, Esquire, vor.

„Gut, also zehn Tage.“

„Es tut mir leid“, sagte Wilkins Flasher, Esquire, nach einer Pause, „daß er pleite ist. Er hat famose Soupers gegeben.“

„Und einen glänzenden Portwein gehabt. Wir werden morgen unsern Kellermeister in die Auktion schicken, um einiges von dem Vierundsechziger zu erstehen.“

„Zum Teufel!“ fuhr Wilkins Flasher, Esquire, auf. „Der meinige geht auch hin. – Fünf Guineen, daß mein Mann den Ihrigen überbietet.“ „Gemacht!“

Die Wette wurde wieder mit den goldenen Crayons in die kleinen Bücher eingetragen, und nachdem Mr. Simmery noch sämtliche Fliegen getötet und sich sämtliche Wetten durchgelesen hatte, begab er sich auf die Börse, um zu sehen, was sich dort „tue“.

Jetzt endlich ließ sich Wilkins Flasher, Esquire, herab, Mr. Samuel Pells Instruktionen entgegenzunehmen, und nachdem er einige gedruckte Formulare ausgefüllt, ersuchte er die Gesellschaft, ihn auf die Bank zu begleiten. Mr. Weller und seine drei Freunde hatten inzwischen alles, was zu sehen war, mit unbeschreiblichem Erstaunen angestarrt, nur Sam besichtigte jedes Ding mit einer Gleichgültigkeit und Kälte, der nichts zu imponieren vermochte.

Sie kamen über einen Hofraum und an ein paar Portiers mit Livreen so rot wie die Feuerspritze, die in einer Ecke stand, vorbei und traten dann in ein Bureau, wo das Geschäft abgemacht werden sollte und mehrere Herren hinter Pulten saßen.

„Das sin woll die reduzierten Konsols?“ flüsterte Mr. Weller. „Was, Samuel?“

„Glaubst wohl, die reduzierten Konsols sin lebendig?“ fragte Sam mit Verachtung.

„Woher soll ich’s denn wissen“, entschuldigte sich Mr. Weller. „Wat sin se denn?“

„Schreiber.“

„Warum essen se denn alle Schinken?“

„Vermutlich, weil’s mit zum Amte gehört“, erwiderte Sam, „gehört mit zum ganzen System, und se tun’s den ganzen Tag.“

Mr. Weller und seine Freunde hatten kaum Zeit, über diese sonderbare, mit dem Münzsystem des Landes zusammenhängende Einrichtung nachzudenken, als Pell wieder zu ihnen trat. Mr. Flasher begab sich in die Bank und kehrte bald darauf mit einem Scheck über fünfhundertunddreißig Pfund Sterling, dem Erlös von Mr. Wellers Anteil, zurück.

Der alte Herr war im Anfang hartnäckig entschlossen, das Papier bloß gegen Guineen auswechseln zu lassen, als ihm aber die Schiedsrichter vorstellten, daß er dann einen kleinen Sack kaufen müßte, um sie nach Hause zu bringen, willigte er endlich ein, den Betrag in Fünfpfundnoten anzunehmen.

„Mein Sohn“, sagte er, als sie von der Bank weggingen, „mein Sohn und ich haben heute nachmittag ’n ganz besonderes Geschäft, und es wäre mir lieb, wenn wir alles vorher ins reine brächten und mal die Rechnungen prüften.“

Das war bald geschehen. Mr. Pells Konto wurde von Sam geprüft und einige Posten von den Schiedsrichtern gestrichen; aber trotz Mr. Pells Schwüren und vielfach-feierlichem Protest, daß man zu hart mit ihm verfahre, war dies doch in jeder Beziehung das beste Geschäft, das er je gemacht hatte, denn er bestritt mit dem Betrag sechs Monate lang Kost, Quartier und Wäsche.

Nachdem die Schiedsrichter noch an einem Abschiedstrunk teilgenommen, schüttelten sie einander die Hände und reisten ab, da sie sämtlich noch vor Abend die Stadt verlassen mußten. Mr. Salomon Pell nahm ebenfalls, sobald er sah, daß es nichts mehr zu essen und zu trinken gab, aufs freundschaftlichste Abschied, und Sam und sein Vater waren endlich allein.

„Nun hätten wir also“, sagte Mr. Weller und verstaute seine Brieftasche, „außer den Rechnungen für den Mietkontrakt und solche Geschichten elfhundertundachtzig Pfund beisammen. Nu, Samuel, kehre mal um und fahre nach dem ‚Georg und Geier‘, mein Junge.“

Dreiundfünfzigstes Kapitel


Dreiundfünfzigstes Kapitel

Eine wichtige Beratung zwischen Mr. Pickwick und Sam, der Mr. Weller beiwohnt. Ein alter Herr in sthnupftabakjarbenen Kleidern tritt unerwartet auf.

Mr. Pickwick saß allein auf seinem Zimmer und sann über mancherlei Dinge, besonders aber darüber nach, wie er am besten für das junge Paar sorgen könne, dessen gegenwärtige unsichere Lage für ihn ein Gegenstand beständiger Sorge und Unruhe war, als Mary eilig hereintrippelte und etwas hastig meldete:

„Ach, Sir, erlauben Sie, Samuel ist unten und fragt, ob er Sie mit seinem Vater besuchen darf.“

„Gewiß, warum denn nicht?“ erwiderte Mr. Pickwick. „Ist Sam schon lange hier?“

„Ach nein, Sir“, erwiderte Mary eifrig. „Er ist eben erst nach Hause gekommen. Er wird Sie von jetzt an um keinen Urlaub mehr bitten, Sir, sagt er.“

Mary mochte selbst gefühlt haben, daß sie diese letzte Mitteilung mit mehr Wärme gemacht hatte, als eben notwendig war, oder hatte sie vielleicht das gutmütige Lächeln bemerkt, mit dem Mr. Pickwick sie ansah, als sie mit ihrem Vortrag zu Ende war, jedenfalls ließ sie das Köpfchen sinken und betrachtete den Zipfel ihrer hübschen kleinen Schürze mit mehr Aufmerksamkeit, als unumgänglich erforderlich schien. „Sagen Sie ihnen, sie könnten sogleich heraufkommen“, sagte Mr. Pickwick, und Mary eilte erleichterten Herzens mit ihrer Botschaft fort.

Mr. Pickwick ging ein paarmal im Zimmer auf und nieder und rieb sich mit der linken Hand das Kinn, wie er gerne zu tun pflegte, wenn er in Gedanken verloren war.

„Jaja“, sagte er mit gutgelauntem, aber doch etwas wehmütigem Ton vor sich hin, „das ist die beste Art, wie ich ihn für seine Anhänglichkeit und Treue belohnen kann. So sei es denn in Gottes Namen. Es ist nun einmal das Los eines alten einsamen Mannes, daß seine Umgebung neue und andere Verbindungen anknüpft und ihn verläßt. Ich habe kein Recht zu erwarten, daß es mit mir anders sein sollte. Nein, nein“, fügte er ein wenig heiterer hinzu, „es wäre selbstsüchtig und undankbar von mir. Ich muß mich freuen, eine Gelegenheit zu haben, ihn so gut zu versorgen, und ich freue mich auch wirklich.“

Der Eintritt der beiden Herren Weller riß ihn aus seinen Betrachtungen.

„Freut mich, daß du wieder da bist, Sam“, rief er gutgelaunt. „Und wie befinden Sie sich, Mr. Weller?“

„Recht gut, danke Ihnen, Sir“, erwiderte der Witwer. „Und Sie sin hoffentlich auch wohl, Sir?“

„O ja, gewiß, ich danke Ihnen.“

„Ich möchte gerne paar Worte mit Ihnen sprechen, wenn Sie so fünf Minuten für mich übrig hätten.“

„Gewiß, warum denn nicht?“ erwiderte Mr. Pickwick freundlich. „Sam, gib deinem Vater einen Stuhl.“

„Dank dir, Samuel, habe schon einen“, wehrte Mr. Weller ab und schleppte einen Stuhl herbei, „’n wunderschöner Tag heute“, setzte er hinzu, stellte seinen Hut auf den Boden und setzte sich.

„Ja, sehr schön“, bestätigte Mr. Pickwick. „Sehr angenehmes Wetter.“

„’s angenehmste Wetter, wo ich je gesehen habe.“

Hier wurde der alte Kutscher von einem heftigen Husten befallen, nickte mit dem Kopf, zwinkerte und machte seinem Sohn allerhand wütende Gebärden, die dieser jedoch hartnäckig ignorierte.

Als Mr. Pickwick die Verlegenheit des alten Herrn bemerkte, stellte er sich, als wäre er beschäftigt, ein neben ihm liegendes Buch aufzuschneiden, und wartete geduldig, bis Mr. Weller mit dem Zweck seines Besuches herausrücken würde.

„Zeit meines Lebens habe ich noch nich so ein gottverlassenen Lausejungen gesehen, wie du bist, Samuel“, sagte Mr. Weller schließlich mit einem ungnädigen Blick auf seinen Sohn.

„Was tut er denn?“ erkundigte sich Mr. Pickwick. „Der will einfach nicht anfangen, Sir“, erwiderte Mr. Weller, „dabei weiß er ganz genau, daß ich mir nich ausquetschen kann, wenn es nich was Absonderliches is, und da steht er nu und sieht mir dasitzen, und wie ich Ihre kostbare Zeit raube und kommt mir nich mal mit eine Silbe zu Hilfe. Das is kein kindliches Benehmen nich, Samuel“, fuhr Mr. Weller fort und wischte sich die Stirn, „bestimmt nich.“

„Ich dachte, du wolltest doch selber reden“, entgegnete Sam, „wie konnte ich denn da wissen, ob du nich schon fertig warst?“

„Du hättest doch sehen müssen, daß ich nich in Schwung kam“, erwiderte der Alte. „Ich bin ebend auf die falsche Straßenseite geraten und in Gräben und allerhand Deubeleien gefallen und du streckst nich mal die Hand aus und hilfst mir. Ich schäme mich für dich, Samuel.“

„Die Sache ist die, Sir“, begann Sam mit einer leichten Verbeugung, „mein Vater hat sein Geld flüssiggemacht.“

„Sehr gut, Samuel, sehr gut“, lobte Mr. Weller und nickte zufrieden, „ich habe es nich so böse gemeint, Sammy. Sehr gut. So mußt de anfangen; denn bist de gleich am Ziel. Sehr gut, wahrhaftig, Samuel.“

„Setz dich doch, Sam“, unterbrach Mr. Pickwick, fürchtend, die Zusammenkunft könnte leicht länger werden, als er erwartet hatte.

Sam verbeugte sich abermals, setzte sich und fuhr fort: „Der Alte hat fünfhundertunddreißig Fund losgeeist.“ „Reduzierte Konsols“, ergänzte Mr. Weller senior. „Das hat nun nichts zu sagen, ob es reduzierte Konsols sin oder nich“, sagte Sam, „fünfhundertdreißig Fund is die Summe, oder nich?“

„Stimmt genau, Samuel.“

„Zu dieser Summe kommt noch „n bißchen was für das Haus und Geschäft …“

„Mietzins, Vergütung, Kapital, Niet- und Nagelfestes“, erklärte Mr. Weller. „Jedenfalls so viel, daß die Summe im ganzen elfhundertachtzig Fund ausmacht.“

„Was höre ich?“ rief Mr. Pickwick. „Das freut mich; da kann man Ihnen ja gratulieren, Mr. Weller, daß Sie so gut abgeschnitten haben.“

„Warten Sie noch ’ne Minute, Sir“, bat Mr. Weller und hob beschwörend die Hand hoch. „Fahr weiter, Samuel.“

„Und dieses Geld“, sagte Samuel mit einigem Zögern, „dieses Geld möchte er irgendwo unterbringen, wo er weiß, daß es sicher is, und ich möchte es auch, denn wenn er es behält, denn wird er es entweder verpumpen oder in Pferde stecken, oder seine Brieftasche mal verlieren, oder es sich auf die eine oder andre Art abluchsen lassen.“

„Sehr gut, Samuel“, lobte Mr. Weller wieder. „Sehr gut.“

„Und aus diesen Gründen“, fuhr Sam fort und stierte nervös auf seine Hutkrempe, „aus diesen Gründen hat er nu heute sein Geld mitgenommen und is mit mir hierhergekommen, weil er letzten Endes … weil er es Ihnen anbieten, oder mit anderen Worten, weil … ähem …“

„Um folgendes zu sagen“, fiel der alte Mr. Weller ungeduldig ein, „daß ich das Geld nich brauchen kann. Ich habe im Sinn, daß ich wieder ’ne regelmäßige Postkutsche fahren will, und ich hab keinen Ort, wo ich es aufbewahren kann, außer wenn ich den Kondukteur dafür bezahlen tue, daß er darauf aufpaßt, oder ich stecke es in den Kutschkasten und denn is es nu wieder ’ne Versuchung für die Innenpassagiere. Wenn Sie es mir aufbewahren würden, Sir, denn würde ich Ihnen sehr verbunden sein. Vielleicht“, setzte er hinzu, trat näher an Mr. Pickwick heran und flüsterte ihm ins Ohr, „vielleicht wäre Ihnen ’n bißchen damit gedient, von wegen Ihre Prozeßkosten; mit ‚m Zurückzahlen isses halb so wild, bis ich mal draufkomme.“

Mit diesen Worten legte Mr. Weller die Brieftasche in Mr. Pickwicks Hände, ergriff seinen Hut und rannte mit einer Geschwindigkeit zur Tür hinaus, die man von einem so wohlbeleibten Herrn kaum erwartet hätte.

„Halt ihn fest, Sam!“ rief Mr. Pickwick aufgeregt. „Eile ihm nach und bring ihn augenblicklich zurück. Mr. Weller! Heda! Kommen Sie zurück!“ Sam sah ein, daß den Befehlen seines Herrn der Gehorsam nicht verweigert werden durfte, ergriff daher seinen Vater am Arm, als er gerade die Treppe hinab wollte, und schleppte ihn mit Gewalt wieder zurück.

„Mein lieber Freund“, sagte Mr. Pickwick und faßte den alten Herrn bei der Hand. „Wirklich, Ihr Vertrauen rührt mich.“

„Ich sehe aber ganz und gar nicht den Grund ein“, erwiderte Mr. Weller verstockt.

„Und ich versichere Ihnen, mein lieber Freund, ich besitze mehr Geld, als ich jemals bedarf, weit mehr, als ein Mann in meinem Alter je noch verbrauchen kann“, sagte Mr. Pickwick.

„Niemand weiß, wieviel er brauchen kann, bis er’s probiert hat“, belehrte Mr. Weller.

„Mag sein“, gab Mr. Pickwick zu. „Da ich aber durchaus keine Lust habe, solche Experimente anzustellen, so werde ich wahrscheinlich nicht leicht in Not kommen. Ich muß Sie aber bitten, Ihre Brieftasche wieder zurückzunehmen, Mr. Weller.“

„Na gut“, brummte Mr. Weller mit sehr unzufriedenem Blick. „Aber merk dir, was ich dir sage, Sammy; ich werde mit dem Gelde da was Verzweifeltes anfangen, was ganz Verzweifeltes!“

„Laß das lieber bleiben“, riet Sam.

Mr. Weller besann sich eine Weile, knüpfte dann mit großer Entschiedenheit seinen Rock zu und sagte: „Ich werde mir ’n Schlagbaum pachten.“ „Was?“ rief Sam.

„’n Schlagbaum“, murmelte Mr. Weller durch die Zähne, „ich werde Schlagbaumwärter werden. Nimm Abschied von deinem Vater, Samuel; ich widme mir für den Rest meiner Tage ’nem Schlagbaum.“

Diese Drohung lautete so schrecklich, und Mr. Weller schien so fest entschlossen, sie auszuführen, und durch Mr. Pickwicks Weigerung dermaßen gekränkt zu sein, daß der Gelehrte nach kurzem Bedenken sagte:

„Nun gut, Mr. Weller, ich will das Geld annehmen. Ich kann vielleicht mehr Gutes damit tun als Sie.“

„Ganz meine Meinung“, rief Mr. Weller strahlend, „‚türlich können Sie das. Herr – ich – hm.“

„Gut, sprechen wir nicht mehr davon“, sagte Mr. Pickwick und verschloß die Brieftasche in sein Pult, „ich bin Ihnen herzlich verbunden, mein lieber Freund. Jetzt aber setzen Sie sich wieder, ich möchte Sie nämlich um Ihren Rat fragen.“

Das triumphierende innerliche Lachen, das nicht nur Mr. Wellers Gesicht, sondern auch seine Arme, Beine und seinen ganzen Leib krampfhaft zusammengezogen hatte, während die Brieftasche eingeschlossen wurde, wich plötzlich der würdevollsten Gravität, als er diese Worte hörte. „Sam, warte draußen ein paar Minuten“, befahl Mr. Pickwick.

Sam zog sich sogleich zurück.

Mr. Weller blickte höchst weise und verwundert drein, und Mr. Pickwick begann folgendermaßen:

„Sie sind, glaube ich, kein Anhänger des Ehestandes?“

Mr. Weller schüttelte den Kopf. Er schien der Sprache gänzlich beraubt zu sein, und unbestimmte Befürchtungen, irgendeiner ruchlosen Witwe könnten Pläne auf Mr. Pickwick geglückt sein, lahmten seine Zunge.

„Haben Sie vielleicht zufällig ein junges Mädchen unten gesehen, als Sie mit Ihrem Sohn heraufkamen?“

„Ja. Ich hab da so ’n junges Ding gesehen“, erwiderte Mr. Weller kurz.

„Was halten Sie von ihr? Aufrichtig gesprochen, Mr. Weller, wie gefiel sie Ihnen?“

„Ich glaube, sie war recht stramm und gut gebaut“, sagte Mr. Weller mit ernster Kennermiene.

„Ja, das ist sie. Ein hübsches Mädchen. Und wie hat Ihnen ihr Benehmen gefallen, soviel Sie von ihr gesehen haben?“

„Hm, sehr angenehm“, erwiderte Mr. Weller, „sehr angenehm und komformabel.“

„Ich interessiere mich sehr für sie, Mr. Weller“, platzte Mr. Pickwick heraus.

Mr. Weller hustete.

„Das heißt“, fuhr Mr. Pickwick fort, „ich interessiere mich insofern für sie, daß ich wünsche, es möchte ihr noch mal gut gehen. Sie verstehen mich?“

„Vollkommen“, erwiderte Mr. Weller, der noch immer nicht im mindesten begriff.

„Diese junge Person“, fuhr Mr. Pickwick fort, „ist in Ihren Sohn verliebt.“

„In Samuel Weller?“

„Ja.“

„’s is ja natürlich“, meinte Mr. Weller nach einigem Nachdenken, „’s is ja natürlich, aber doch recht beunruhigend. Sammy soll sich nur in acht nehmen.“

„Wieso?“

„Na, er muß sich sehr in acht nehmen, daß er nichts zu ihr sagt, damit daß er sich nich in ein unschuldigen Augenblick verleiten läßt, was vorzubringen, was zu eine Klage wegen Eheversprechen führen kann. Man is bei die Weibsbilder nie sicher, Mr. Pickwick. Wenn sie mal Absichten auf einen haben, denn haben sie einen ruckzuck beim Wickel, ehe man sich versieht. So habe ich mir ja selbst das erstemal verheiratet, Sir, und Sammy war die Folge von das Manöver.“

„Sie ermutigen mich nicht sehr bei dem, was ich sagen will“, bemerkte Mr. Pickwick, „und doch muß es heraus. Diese junge Person ist nicht nur in Ihren Sohn verliebt, Mr. Weller, sondern Ihr Sohn auch in sie.“

„Schön“, sagte Mr. Weller, „das sin ja recht erfreuliche Sachen für mein väterliches Ohr.“

„Ich habe sie bei verschiedenen Gelegenheiten beobachtet“, fuhr Mr. Pickwick fort, ohne von Mr. Wellers letzter Bemerkung weiter Notiz zu nehmen, „und ich hege nicht die mindesten Zweifel darüber. Wenn ich ihnen nun irgendein kleines Geschäft oder dergleichen verschaffen würde, mit dessen Einkünften sie anständig miteinander leben könnten, was würden Sie dazu sagen, Mr. Weller?“

Im Anfang nahm der alte Herr mit allerhand Grimassen den Vorschlag auf, der die Verheiratung eines Menschen bezweckte, der ihm nahestand; als aber Mr. Pickwick näher mit ihm auf die Sache einging und großen Nachdruck auf das Faktum legte, daß Mary doch keine Witwe sei, wurde er allmählich gefügiger und gab schließlich klein bei. Auch war ihm Marys Äußeres ausnehmend nett vorgekommen, und er hatte ihr bereits einigemal sehr unväterlich zugeblinzelt.

Endlich sagte er, es würde ihm schlecht anstehen, sich Mr. Pickwicks Wünschen zu widersetzen, und er werde mit Freuden seinen Rat befolgen, worauf ihn Mr. Pickwick fröhlich beim Worte nahm und Sam wieder hereinrief.

„Sam“, begann er und räusperte sich, „dein Vater und ich haben soeben von dir gesprochen.“

„Ja, von dir, Samuel“, bekräftigte Mr. Weller in nachdrucksvollem Beschützerton.

„Ich bin nicht so blind, Sam“, fuhr Mr. Pickwick fort, „um nicht schon geraume Zeit bemerkt zu haben, daß du gegen das Kammermädchen Mrs. Winkles etwas mehr als freundschaftliche Gefühle hegst.“

„Hörst du, Samuel!?“ rief Mr. Weller in demselben richterlichen Ton wie zuvor.

„Ich hoffe, Sir“, antwortete Sam, „ich hoffe, daß Sie nichts Böses daran finden tun, wenn ein junger Mann seine Augen auf ein junges Frauenzimmer wirft, wo ganz unbestritten hübsch aussieht und sich gut aufführen tut.“

„Ganz gewiß nicht.“

„Nö, nich im geringsten“, stimmte Mr. Weller in freundlichem, aber dennoch würdevollem Ton ein.

„Ich bin“, fuhr Mr. Pickwick fort, „soweit entfernt, an einem so natürlichen Benehmen etwas Unrechtes zu finden, daß ich vielmehr deinen Wünschen in dieser Beziehung entgegenzukommen und sie zu fördern beabsichtige. Ich habe schon mit deinem Vater eine kleine Unterredung darüber gehabt, und da ich den Eindruck habe, daß er meiner Meinung ist…“

„Weil nämlich das Frauenzimmer keine Witwe nich is“, fiel Mr. Weller erläuternd ein.

„Ja, weil das Frauenzimmer keine Witwe ist“, wiederholte Mr. Pickwick lächelnd. „Ich wünsche also, dich von dem Zwang zu befreien, den dir deine gegenwärtige Stellung auferlegt, und dir meine Dankbarkeit für deine Treue und vielen vortrefflichen Eigenschaften dadurch zu beweisen, daß ich dich in den Stand setze, das Mädchen zu heiraten und für dich selbst mit einer Familie ein unabhängiges Leben zu führen. Ich werde stolz darauf sein, Sam“, fügte Mr. Pickwick hinzu, dessen Stimme bisher ein wenig gebebt hatte, jetzt aber ihren gewöhnlichen Ton wieder annahm, „ich werde stolz darauf sein und mich glücklich schätzen, deine künftigen Aussichten im Leben zum Gegenstand meiner dankbaren und ganz besonderen Sorgfalt zu machen.“

Auf einige Augenblicke trat eine kurze Stille ein, dann aber sagte Sam mit etwas leiser und dumpfer, aber fester Stimme:

„Bin Ihnen ungemein verbunn für Ihre Güte, Sir, die Ihnen wieder ganz ähnlich sieht; aber ’s kann nich sein.“

„Kann nicht sein?“ rief Mr. Pickwick erstaunt.

„Samuel!!“ ermahnte Mr. Weller.

„Ich sage, es kann nich sein“, wiederholte Sam in bestimmtem Tone. „Was würde denn aus Ihnen werden, Sir?“

„Du bist ein guter Kerl!“ erwiderte Mr. Pickwick. „Aber die neuerlichen Veränderungen in den Verhältnissen meiner Freunde werden auch meine künftige Lebensweise ganz verändern; überdies werde ich älter und bedarf der Ruhe und Stille. Mein langes Herumziehen wird bald ein Ende haben, Sam.“

„Kann man noch nich so bestimmt wissen“, meinte Sam. „Jetzt denken Sie zwar so, aber wenn’s Ihnen mal wieder anders einfällt, was nich unwahrscheinlich ist, denn Se sin immer noch jugendlich wie ’n Fünfundzwanziger, was sollte dann aus Ihnen werden ohne mir? Nö! Es kann nich sein, Herr, kann einfach nich sein.“

„Sehr gut, Samuel, das is mal vernünftig gesprochen“, lobte Mr. Weller.

„Ich spreche nach langer Überlegung, Sam, und mit der Gewißheit, daß ich mein Wort halten werde“, sagte Mr. Pickwick und schüttelte den Kopf. „Ein neues Arbeitsfeld ist mir erschlossen. Mein Herumziehen hat ein Ende.“

„Tadellos!“ erwiderte Sam. „Das is ja denn gerade der beste Grund, warum Sie immer einen bei sich haben müssen, der wo Ihnen versteht und aufheitert und in gute Laune bringt. Wenn Sie irgendwie ’ne feinere Sorte von Menschen brauchen, auch gut und schön, denn nehmen Sie einen! Aber mit oder ohne Lohn, mit oder ohne Beachtung, mit oder ohne Kost und Logis: Sam Weller, den Sie in dem alten Krug in Borough aufgefischt haben, der bleibt bei Ihnen; da kann kommen, was will, da kann passieren was will und da können irgendwelche Leute noch so mit mir rumfuhrwerken, es is mir alles Wurst.“

Am Schluß dieser Erklärung, die Sam mit großer innerer Bewegung hervorgestoßen hatte, sprang Mr. Weller von seinem Sitz auf, vergaß alle Rücksichten auf Zeit, Ort und Schicklichkeit, schwenkte seinen Hut über dem Kopfe und brach in drei stürmische Hurras aus.

„Mein guter Junge“, sagte Mr. Pickwick, als Mr. Weller, etwas beschämt über seinen Enthusiasmus, sich wieder gesetzt hatte, „du mußt aber das junge Mädchen doch auch bedenken.“

„Tue ich auch, Sir“, sagte Sam. „Ich habe das junge Frauenzimmer bedacht, ich habe mit ihr gesprochen und ihr gesagt, wie meine Lage ist; sie ist bereit, zu warten, bis ich sie heiraten kann, und ich glaube auch, daß sie es tun wird. Und wenn nich, denn is sie ebend nicht das junge Frauenzimmer, für was ich sie halte, und denn lasse ich ihr mit Vergnügen sausen. Sie haben mir schon mal kennengelernt, Sir. Mein Entschluß is gefaßt, und nichts kann ihn jemals ändern.“

Wer hätte gegen solche Gesinnungen ankämpfen können? Mr. Pickwick gewiß nicht. Er empfand in diesem Augenblick mehr Stolz und Wonne über die uneigennützige Anhänglichkeit seiner niedriggestellten Freunde, als zehntausend Freundschaftsversicherungen der vornehmsten Leute in seinem Herzen hätten erwecken können.

Während in Mr. Pickwicks Zimmer diese Unterhaltung vor sich ging, erschien unten ein kleiner alter Herr in schnupftabakfarbenen Kleidern, gefolgt von einem Träger mit einem kleinen Mantelsack – versicherte sich eines Bettes für die Nacht und fragte dann den Kellner, ob eine gewisse Mrs. Winkle hier wohne, eine Frage, die dieser natürlich bejahend beantwortete.

„Ist sie allein?“

„Ich glaube ja, Sir. Ich kann indes ihr Kammermädchen rufen, Sir, wenn Sie …“

„Nein, das braucht es nicht“, wehrte der alte Herr schnell ab. „Führen Sie mich nur in ihr Zimmer, ohne mich anzumelden.“

„Wieso, Sir?“ fragte der Kellner.

„Sind Sie vielleicht taub?“ fragte der kleine alte Herr. „Nicht? Nun, dann hören Sie mich gefälligst an. Können Sie mich jetzt anhören?“

Ja, Sir.“

„Nun gut, dann zeigen Sie mir Mrs. Winkles Zimmer, ohne mich anzumelden.“

Während der kleine Herr diesen Befehl aussprach, ließ er fünf Schilling in die Hand des Kellners gleiten und sah ihn fest an.

„Wahrhaftig, Sir“, stotterte der Kellner, „ich weiß wirklich nicht, Sir, ob…“

„Aha, ich sehe schon, Sie wollen es tun“, unterbrach ihn der kleine alte Herr. „Tun Sie es deshalb lieber gleich, dann sparen wir Zeit.“

Es lag etwas so Ruhiges und Bestimmtes in dem ganzen Benehmen des alten Herrn, daß der Kellner die fünf Schilling einsteckte und ihn ohne weitere Einwendungen die Treppe hinaufführte.

„Dies ist also das Zimmer? Nun, dann können Sie gehen.“

Der Kellner gehorchte und wunderte sich, wer wohl der Fremde sein möge und was er wolle. Der kleine alte Herr wartete, bis er verschwunden war, und klopfte dann an die Tür.

„Herein!“ rief Arabella.

„Hm! Jedenfalls eine hübsche Stimme“, murmelte der kleine alte Herr, „das will aber noch nichts heißen.“

Dann öffnete er die Tür und ging hinein. Arabella, die gerade bei einer Handarbeit saß, erhob sich beim Anblick eines Fremden einigermaßen verwirrt, was ihr indes allerliebst stand.

„Bitte lassen Sie sich nicht stören, Ma’am“, begann der Unbekannte, trat ein und schloß die Tür hinter sich. „Mrs. Winkle, wie ich vermute?“ Arabella neigte den Kopf.

„Mrs. Nathaniel Winkle, die den Sohn des alten Winkle in Birmingham geheiratet hat?“ wiederholte der Fremde und betrachtete Arabella mit sichtlicher Neugierde.

Arabella nickte abermals mit dem Köpfchen und blickte unruhig um sich, halb unentschlossen, ob sie nicht um Hilfe rufen solle.

„Wie ich sehe, habe ich Sie überrascht, Ma’am?“

„Ich kann es nicht leugnen“, erwiderte Arabella, sich immer mehr wundernd.

„Wenn Sie erlauben, nehme ich mir einen Stuhl, Ma’am.“

Der Fremde setzte sich, zog ein Brillenfutteral aus der Tasche, nahm nachlässig sein Augenglas heraus und setzte es auf die Nase.

„Sie kennen mich nicht, Ma’am?“ fragte er und faßte dabei Arabella so scharf ins Auge, daß es ihr unheimlich wurde.

„Nein, Sir“, antwortete sie schüchtern.

„So? Wirklich nicht?“ sagte der alte Herr und schlug sich auf sein linkes Knie. „Ich wüßte allerdings auch nicht, woher Sie mich kennen sollten. Doch kennen Sie vielleicht meinen Namen, Ma’am?“

„Bitte um Entschuldigung“, sagte Arabella und zitterte heftig, obgleich sie kaum wußte, warum. „Darf ich Sie vielleicht um Ihren Namen bitten?“

„Sogleich, Ma’am, sogleich“, sagte der Unbekannte, der seine Augen noch immer nicht von ihrem Gesicht abgewandt hatte. „Sie haben sich doch erst vor kurzem verheiratet, Ma’am?“

„Ja“, erwiderte Arabella kaum hörbar, legte ihre Arbeit beiseite und schien sehr aufgeregt zu werden, da ein Gedanke, der ihr schon vorher gekommen war, sich ihr immer stärker aufdrängte.

„Ohne Ihrem Gatten vorgestellt zu haben, daß es sich geziemt hätte, seinen Vater, von dem er doch abhängig ist, zuerst um Rat zu fragen, nicht wahr?“

Arabella hielt ihr Tuch vor die Augen.

„Ohne sich auch nur die Mühe zu nehmen, durch irgendeine indirekte Anfrage in Erfahrung zu bringen, wie der alte Mann über eine Sache denkt, die ihn natürlich in hohem Grade interessieren muß?“

„Ich kann es nicht leugnen, Sir“, schluchzte Arabella.

„Und ohne Vermögen genug zu besitzen, Ihrem Gatten ein hinlängliches Auskommen zu sichern und ihn für die zeitlichen Vorteile zu entschädigen, die ihm natürlich nicht entgangen wären, wenn er den Wünschen seines Vaters gemäß geheiratet hätte? Knaben und Mädchen nennen dies uneigennützige Neigung, bis sie selbst Knaben und Mädchen haben und dann die Sache in einem ganz andern Lichte betrachten.“

Arabellas Tränen flössen reichlich, als sie zur Entschuldigung anführte, sie sei jung und unerfahren; Liebe allein habe sie zu diesem Schritte verleitet, und sie habe beinahe von Kindheit an des Rates sowie der Leitung ihrer Eltern entbehren müssen.

„Es war unrecht“, sagte der alte Herr in milderem Tone, „sehr unrecht. Es war romantisch, eines Geschäftsmannes unwürdig! Töricht!“

„Es ist meine Schuld, ganz meine Schuld, Sir“, jammerte die arme Arabella.

„Unsinn!“ brummte der alte Herr. „Gewiß war es nicht Ihre Schuld, daß er sich in Sie verliebte. Und doch ist es so“, fügte der alte Herr hinzu und blickte Arabella schalkhaft an, „und doch war es Ihre Schuld; er konnte nicht anders.“

Dieses kleine Kompliment oder die sonderbare Art, wie es der kleine alte Herr vorbrachte, oder sein verändertes Benehmen, das um so vieles freundlicher war als im Anfang – oder all diese drei Umstände zusammen, nötigten Arabella mitten unter ihren Tränen ein Lächeln ab.

„Wo ist denn Ihr Mann?“ fragte der alte Herr schnell, um ein Lächeln zu unterdrücken, das eben sein Gesicht überflog.

„Ich erwarte ihn mit jedem Augenblick. Ich redete ihm zu, heute früh einen Spaziergang zu machen. Er ist sehr niedergeschlagen und unglücklich, weil sein Vater nichts von sich hören läßt.“

„Niedergeschlagen? Geschieht ihm recht.“

„Ich fürchte, er ist es meinetwegen“, sagte Arabella. „Aber glauben Sie mir, ich empfinde es auch sehr schwer, denn ich bin doch allein schuld an seiner gegenwärtigen Lage.“

„Lassen Sie es sich nicht so sehr zu Herzen gehen, meine Liebe“, rief der alte Herr. „Es geschieht ihm ganz recht. Es freut mich – freut mich direkt. Wenigstens soweit es ihn betrifft.“

In diesem Augenblick kamen Fußtritte die Treppe herauf, die der alte Herr und Arabella beide genau zu kennen schienen. Der kleine alte Herr wurde blaß, gab sich indes viel Mühe, ruhig zu erscheinen, und stand auf, als Mr. Winkle ins Zimmer trat.

„Vater!“ rief Mr. Winkle und prallte verblüfft zurück.

„Jawohl“, erwiderte der kleine alte Herr. „Nun, was hast du mir zu sagen?“

Mr. Winkle schwieg.

„Du schämst dich hoffentlich vor dir selbst, was?“

Mr. Winkle sprach immer noch nicht.

„Schämst du dich, oder schämst du dich nicht?“

„Nein, Vater“, erwiderte Mr. Winkle und zog Arabellas Arm unter den seinigen. „Ich schäme mich weder meiner selbst noch meiner Frau.“

„Wirklich nicht!?“ rief der alte Herr ironisch.

„Es tut mir wirklich herzlich leid, etwas getan zu haben, was deiner Neigung zu mir Abbruch tut“, sagte Mr. Winkle, „aber zugleich muß ich erklären, daß ich keinen Grund habe, mich meiner Frau und du ebensowenig dich einer solchen Schwiegertochter zu schämen.“

„Gib mir die Hand, Nathaniel“, lenkte der alte Herr mit veränderter Stimme ein. „Küß mich, mein liebes Kind, du bist in der Tat ein allerliebstes Schwiegertöchterchen.“

Nach wenigen Minuten ging Mr. Winkle auf Mr. Pickwicks Zimmer, kam mit ihm zurück und stellte ihn seinem Vater vor, worauf die beiden alten Herren einander fünf Minuten lang ununterbrochen die Hände schüttelten.

„Mr. Pickwick, ich danke Ihnen aufs herzlichste für all Ihre Freundschaft gegen meinen Sohn“, sagte der alte Mr. Winkle mit seinem offenen, bieder-derben Wesen. „Ich bin ein alter Hitzkopf, und als ich Sie das letztemal sah, war ich etwas ärgerlich und ein wenig überrascht. Ich habe mir inzwischen die Sache überlegt und bin jetzt mehr als zufrieden. Soll ich noch mehr Entschuldigungen vorbringen Mr. Pickwick?“

„Oh, keineswegs“, erwiderte der Gelehrte. „Sie haben getan, was allein noch zur Vollendung meines Glückes fehlte.“

Hierauf folgte wieder ein neuerliches, fünf Minuten lang währendes Händeschütteln, begleitet von einer Unmasse von Komplimenten, die, abgesehen von der darin sich beurkundenden Höflichkeit, auch noch das Gute hatten, wirklich aufrichtig gemeint zu sein.

Sam hatte seinen Vater pflichtgemäß nach Belle Savage begleitet und begegnete auf dem Rückweg im Hof dem fetten Jungen, der ein Billett von Emilie Wardle zu überbringen gehabt hatte.

„Ich sage bloß“, begann Joe, der diesmal ungewöhnlich redselig war, „ich sage bloß, was diese Mary doch für ein hübsches Mädchen ist. Was, Sam? Ich bin ganz verliebt in sie.“

Mr. Weller gab darauf weiter keine Antwort, sondern betrachtete ganz verblüfft über diese Vermessenheit den fetten Jungen einen Augenblick lang, führte ihn dann am Rockkragen bis an die nächste Ecke und entließ ihn mit einem harmlosen, aber durchaus förmlichen Fußtritt und ging dann pfeifend ins Haus.

Vierundfünfzigstes Kapitel


Vierundfünfzigstes Kapitel

In dem der Pickwick-Klub aufgelöst wird und alles zur größten Zufriedenheit endet.

Eine ganze Woche lang nach der glückbringenden Ankunft Mr. Winkles aus Birmingham waren Mr. Pickwick und Sam Weller den ganzen Tag über von Haus abwesend und kehrten erst zum Mittagessen zurück. Sie trugen dabei ein geheimnisvolles, wichtiges Wesen zur Schau, das ihrem Naturell sonst ganz fremd war! Offenbar waren sehr ernste und ereignisschwere Dinge im Zuge. Einige Herren – und unter ihnen Mr. Tupman – waren geneigt, zu glauben, Mr. Pickwick plane eine eheliche Verbindung, aber diese Idee wurde von den Damen aufs entschiedenste verworfen. Andere neigten der Ansicht zu, er trage sich mit einem großen Reiseprojekt und beschäftige sich gegenwärtig mit den Vorbereitungen dazu, allein dies wurde unumwunden von Sam selbst geleugnet, der auf die Kreuz- und Querfragen Marys unzweideutig erklärte, es würden keine neuen Reisen mehr unternommen. Endlich, als sich der ganze Freundeskreis sechs Tage lang mit fruchtlosen Vermutungen das Gehirn zermartert hatte, wurde einhellig beschlossen, Mr. Pickwick zur Erklärung seines Benehmens aufzufordern und ihn offen zu fragen, warum er sich auf diese Art von der Gesellschaft seiner ihn doch so einhellig bewundernden Freunde zurückziehe.

In dieser Absicht lud Mr. Wardle den ganzen Zirkel zum Mittagessen nach Adelphi ein, und das Thema wurde zur Sprache gebracht, als der Wein zweimal die Runde gemacht hatte.

„Wir sind samt und sonders sehr gespannt zu erfahren“, begann der alte Herr, „was wir dir denn zuleide getan haben, daß du dich so gänzlich von uns zurückziehst und immer nur deine einsamen Spaziergänge machst.“

„Möchtest du es wirklich wissen?“ fragte Mr. Pickwick. „Merkwürdig, daß ich gerade heute im Sinn hatte, mich aus freien Stücken darüber auszulassen; gib mir noch ein Glas Wein, und dann will ich deine Neugier befriedigen.“

Der Wein ging mit ungewohnter Schnelligkeit von Hand zu Hand, und Mr. Pickwick fuhr, mit vergnügtem Lächeln in die Gesichter seiner Freunde schauend, folgendermaßen fort:

„Die einschneidenden Veränderungen, die in unserem Kreise stattgefunden haben, ich meine die bereits eingetretene und die nächstdem bevorstehende Hochzeit nebst allem, was notwendig daraus folgen wird, haben mich genötigt, ernstlich an einen künftigen Lebensplan für mich zu denken. Ich habe beschlossen, mich in einer hübschen Gegend in der Nähe von London zur Ruhe zu setzen, und fand da ein Haus, das meinen Wünschen gänzlich entspricht. Ich habe es gemietet und wohnlich eingerichtet, so daß ich kommen und gehen kann, wann ich will. Ich gedenke nun in der nächsten Zeit meinen Einzug zu halten und hoffe, noch manches Jahr in stiller Zurückgezogenheit daselbst zuzubringen, erfreut durch die Gesellschaft meiner Freunde, nach meinem Tode fortlebend in ihrer liebevollen Erinnerung.“

Hier hielt Mr. Pickwick inne, und ein leises Gemurmel erhob sich rings um die Tafel.

„Das Haus, das ich gemietet habe, steht in Dulwich, hat einen großen Garten und liegt in einer der reizendsten Gegenden der Umgebung Londons. Es ist die größte Aufmerksamkeit darauf verwendet worden, es so behaglich wie möglich, vielleicht sogar ein bißchen elegant, einzurichten. Doch darüber sollt ihr selbst urteilen. Sam begleitet mich dahin. Ich habe auf Perkers Vorstellung eine Haushälterin in Dienst genommen – eine sehr alte Person – und werde noch andre Dienerschaft aufnehmen, wenn sie es für nötig hält. Ich möchte nun mein kleines Heim durch eine Festlichkeit, auf der ich unbedingt bestehe, eingeweiht sehen. Wenn mein Freund Wardle nichts dagegen hat, so möchte ich ihn bitten, die Vermählung seiner Tochter in meinem neuen Hause an demselben Tage vollziehen zu lassen, an dem ich Besitz davon nehme. Das Glück junger Leute“, sagte Mr. Pickwick ein wenig bewegt, „war von jeher die größte Freude meines Lebens. Es wird mir das Herz erwärmen, unter meinem eigenen Dach Zeuge des Glücks meiner Freunde zu sein.“

Mr. Pickwick hielt abermals inne, und Emilie und Arabella schluchzten laut.

„Ich habe“, begann Mr. Pickwick aufs neue, „dem Klub sowohl mündliche wie schriftliche Mitteilungen davon gemacht und ihn von meinen Absichten in Kenntnis gesetzt. Er hat während unserer Abwesenheit viel an inneren Zwistigkeiten gelitten, und mein Austritt, verbunden mit noch andern Umständen, hat seine Auflösung herbeigeführt. – Der Pickwick-Klub existiert nicht mehr!“

„Ich werde es niemals bereuen“, setzte Mr. Pickwick mit heiserer Stimme hinzu, „ich werde es niemals bereuen, daß ich mich beinahe volle zwei Jahre hindurch unter verschiedenen Nuancen und Schattierungen des menschlichen Charakters umhergetrieben habe, so töricht meine Abenteuersucht auch vielen erschienen sein mag. Fast mein ganzes früheres Leben war Geschäften und trockenem Gelderwerb gewidmet, jetzt aber bin ich mit zahlreichen Szenen des menschlichen Lebens bekannt geworden, von denen ich früher keine Ahnung gehabt, und ich hoffe, daß sich mein Gesichtskreis dadurch erweitert hat. Wenn ich nur wenig Gutes getan habe, so glaube ich doch, noch weniger Böses getan zu haben, und hoffe, daß meine sämtlichen Abenteuer mir in meinem Lebensabend nur eine Quelle angenehmer und ergötzlicher Erinnerungen sein werden. – Gott segne euch alle!“

Bei diesen Worten füllte und leerte Mr. Pickwick mit bebender Hand sein Glas, und seine Augen wurden feucht, als sämtliche Freunde sich wie ein Mann erhoben und ihm von ganzem Herzen Bescheid taten.

Zur Vermählung Mr. Snodgraß‘ waren nur noch sehr wenige Vorbereitungen erforderlich. Da er weder Vater noch Mutter mehr besaß und während seiner Minderjährigkeit unter Mr. Pickwicks Vormundschaft gestanden hatte, so kannte dieser seine Vermögensverhältnisse aufs genaueste. Wardle war mit seiner Auskunft darüber vollkommen zufrieden, wie denn der gute alte Herr in dieser Zeit, wo er von Heiterkeit und Zärtlichkeit überfloß, fast mit allem zufrieden gewesen wäre; Emilie wurde ein hübsches Nadelgeld ausgesetzt und der vierte Tag bereits zur Vermählung anberaumt – eine Eile, die drei Putzmacherinnen und einen Schneidermeister fast an den Rand der Verzweiflung brachte.

Der alte Wardle nahm am folgenden Tage Postpferde, um seine Mutter nach der Stadt zu bringen. Da er der alten Dame diese Nachricht mit seinem charakteristischen Ungestüm mitteilte, fiel sie augenblicklich in Ohnmacht, kam indes sehr bald wieder zu sich, befahl, das Brokatkleid einzupacken, und fing an, verschiedene Umstände ähnlicher Art, die sich bei der Verheiratung der ältesten Tochter der verstorbenen Lady Tollimglower zugetragen, herzuzählen, womit sie nach drei vollen Stunden noch nicht zur Hälfte fertig war.

Mrs. Trundle mußte ebenfalls von den gewaltigen Vorbereitungen in London in Kenntnis gesetzt werden, und da sie sich in einem delikaten Gesundheitszustand befand, erfolgte die Mitteilung durch Mr. Trundle selbst, damit ihr die Überraschung nicht zu sehr schaden möchte‘. Sie schadete ihr natürlich keineswegs, denn sie schrieb sogleich nach Muggleton, bestellte sich eine neue Haube und ein schwarzes Atlaskleid und erklärte, unter allen Umständen der Hochzeitsfeier beiwohnen zu wollen. Mr. Trundle ließ den Arzt rufen, und dieser sagte, Mrs. Trundle müsse am besten wissen, wie sie sich fühle.

Zu den diversen Aufträgen, die Mr. Wardle bekommen hatte, gehörte auch die Besorgung zweier Briefchen an zwei junge Damen, die als Brautjungfern fungieren sollten und durch diese Einladung in Verzweiflung gerieten, denn sie jammerten, sie hätten nichts anzuziehen. Wie die beiden armen jungen Damen nach London kamen, ob zu Fuß oder zu Wagen oder zu Pferd, ist unbekannt; jedenfalls aber trafen sie vor Wardle ein, und die ersten Leute, die am Hochzeitsmorgen an Mr. Pickwicks Haustür klopften, waren sie – hoch aufgedonnert und zerfließend vor Liebenswürdigkeit.

Sie wurden natürlich aufs herzlichste bewillkommnet, denn Reichtum oder Armut machten keinen Unterschied in Mr. Pickwicks Augen. Die neuen Bedienten waren die Bereitwilligkeit selbst, und Sam befand sich in der unvergleichlichsten Festlaune, und Mary erglänzte in Schönheit und prächtigen Bändern.

Der Bräutigam, der sich schon zwei oder drei Tage vorher im Hause aufgehalten hatte, fuhr stattlich angetan in die Dulwicher Kirche, begleitet von Mr. Pickwick, Ben Allen, Bob Sawyer und Mr. Tupman – Sam Weller nicht zu vergessen, der im Knopfloch eine weiße Bandschleife, ein Geschenk der Dame seines Herzens, trug und überdies in einer neuen, prachtvollen, ausdrücklich für den Tag erfundenen Livree prangte. Dort trafen sich auch Mr. und Mrs. Wardle, Mr. und Mrs. Winkle, Braut und Brautjungfern und Mr. und Mrs. Trundle, und nach beendigter Feierlichkeit rasselten sämtliche Kutschen zum Frühstück nach Mr. Pickwicks Haus, wo sie der kleine Mr. Perker bereits erwartete.

Nachdem sich hier die leichten Wolken des ernsteren und feierlichen Teils der Tagesereignisse zerteilt hatten, erglänzten alle Gesichter vor Freude, und man hörte nichts als Glückwünsche und Lebehochrufe.

Es war prächtig! Der Grasplatz vor dem Hause, der Garten dahinter, das kleine Gewächshaus, das Speise-, das Gesellschafts-, das Rauch- und die Schlafzimmer, vor allem aber das Studierzimmer mit seinen Gemälden, den behaglichen Sesseln, den merkwürdigen Wandschränken, den sonderbar geformten Tischen und zahllosen Büchern nebst seinem großen, freundlichen Fenster, das sich gegen einen hübschen Grasplatz hin öffnete und eine reizende, da und dort mit kleinen in Bäumen fast versteckten Häusern übersäte Landschaft beherrschte, und dann die Vorhänge, die Teppiche, die Stühle und die Sofas – alles so schön, so fein berechnet, so zierlich und so geschmackvoll, daß jedermann sagte, man wisse wirklich nicht, was am meisten Bewunderung verdiene.

Und mitten in all diesem stand Mr. Pickwick, das Gesicht von einem seligen Lächeln umstrahlt, dem das Herz keines Mannes, keiner Frau, keines Kindes widerstehen konnte: er selbst der Glücklichste im ganzen Kreise, immer denselben Leuten wieder und immer wieder die Hände schüttelnd – wenn die seinigen nicht gerade geschüttelt wurden.

Dann wurde das Frühstück serviert. Mr. Pickwick führte die alte Dame, die sehr beredt über das Thema Lady Tollimglower gewesen war, oben an die lange Tafel hin; Wardle setzte sich an das andre Ende, die Freunde reihten sich auf beiden Seiten ein, Sam faßte hinter dem Stuhle seines Herrn Posto, das Gelächter und Geplauder hörten auf, und Mr. Pickwick sprach das Tischgebet, schwieg dann einen Augenblick und blickte rund um sich, und dabei rollten ihm in der Überfülle seines Herzens die Tränen über die Wangen.

Und nun wollen wir von unserm alten Freund Abschied nehmen – in einem jener Augenblicke ungetrübten Glückes, von denen uns, wenn wir sie nur suchen, immerhin einige zur Erheiterung unseres flüchtigen Daseins beschieden sind. Die Erde hat finstere Schatten, aber der Kontrast hebt ihre Lichtseiten um so stärker hervor. Es gibt Leute, die, wie die Fledermäuse und Eulen, bessere Augen für die Finsternis haben als für das Licht; wir, denen solche optischen Fähigkeiten nicht gegeben sind, finden mehr Vergnügen daran, den geträumten Gefährten mancher einsamen Stunden unsern letzten Abschiedsblick zuzuwerfen, wenn der kurze Sonnenschein der Welt über sie hinstrahlt.

*

Es ist das Los der meisten Menschen, die sich in der Welt herumtreiben und es zu einem gewissen Alter bringen, daß sie sich viele wirkliche Freunde erwerben und sie durch den Lauf der Natur wieder verlieren. Es ist das Los aller Autoren oder Dichter, daß sie sich eingebildete Freunde schaffen und sie im Verlauf der Kunst wieder verlieren. Damit ist indes das Maß ihres Unglücks noch nicht erschöpft; man verlangt von ihnen auch noch eine umständliche Erzählung, was aus ihren Gestalten geworden ist.

Wir fügen uns hiermit dieser unbestreitbar bösen Gewohnheit und setzen daher noch einige wenige biographische Notizen über die bei Mr. Pickwick versammelte Gesellschaft hinzu.

Mr. und Mrs. Winkle, von dem alten Herrn vollkommen in Gnaden aufgenommen, bezogen bald darauf ein eigenes neugebautes Haus, nur eine halbe Meile von dem Mr. Pickwicks entfernt. Mr. Winkle wurde der City-Agent oder Stadtkorrespondent seines Vaters, vertauschte sein altes Kostüm mit der gewöhnlichen Kleidung der Engländer und zeigte sich von da an immer als zivilisierter Christ.

Mr. und Mrs. Snodgraß ließen sich in Dingley Dell nieder, wo sie mehr der Beschäftigung als des Gewinns halber ein kleines Gut kauften und bewirtschafteten. Mr. Snodgraß, der bisweilen zerstreut und melancholisch ist, gilt bis auf den heutigen Tag unter seinen Freunden und Bekannten als großer Dichter, obgleich wir nicht finden, daß er je etwas geschrieben hätte, was zu diesem Glauben berechtigen könnte. Übrigens kennen wir viele literarische, philosophische und anderweitige Notabilitäten, deren bedeutender Ruf keinen festeren Boden hat. Mr. Tupman ließ sich, als seine Freunde verheiratet waren und Mr. Pickwick sich zurückgezogen hatte, in Richmond nieder, wo er bis jetzt geblieben ist. In den Sommermonaten geht er beständig auf der Terrasse spazieren, und zwar mit einer jugendlichen Munterkeit, die ihm die Bewunderung aller der zahlreichen ältlichen Damen ledigen Standes gesichert hat, die in der Nähe wohnen. Er hat indes nie wieder einen Heiratsantrag gemacht.

Mr. Bob Sawyer lancierte sich selbst einige Male in die Zeitungen und ging dann, begleitet von Mr. Benjamin Allen, nach Bengalen, beide als wohlbestallte Chirurgen in Diensten der Ostindischen Kompanie. Sie haben vierzehnmal das gelbe Fieber gehabt und sich dann endgültig zu einiger Enthaltsamkeit entschlossen. Seitdem geht es ihnen sehr gut.

Mrs. Bardell vermietete ihr Haus noch an, manchen umgänglichen ledigen Herrn mit großem Profit, hat jedoch seitdem nie wieder wegen gebrochenen Eheversprechens geklagt. Ihre Anwälte, die Herren Dodson und Fogg, betreiben ihr Geschäft noch immer mit gewohnter Rührigkeit, beziehen ein bedeutendes Einkommen daraus und gelten allgemein für die Schlauesten unter den Schlauen.

Sam Weller hielt sein Wort und blieb noch zwei Jahre unverheiratet. Als nach Verfluß dieser Zeit die alte Haushälterin starb, beförderte Mr. Pickwick Mary zu diesem Posten, jedoch unter der Bedingung, Mr. Weller unverweilt zu heiraten, was sie auch ohne Murren tat. Aus dem Umstand, daß am Tore des Gartens hinter dem Hause zu wiederholten Malen ein paar derbe kleine Buben erblickt worden sind, glauben wir schließen zu dürfen, daß Sam Familie hat.

Mr. Weller senior regierte noch zwölf Monate lang eine Postkutsche, bekam dann aber die Gicht, die ihn nötigte, sich zurückzuziehen. Mr. Pickwick hatte den Inhalt seiner Brieftasche so gut für ihn. angelegt, daß er eine recht hübsche jährliche Rente bezieht, von der er gemächlich in einem vortrefflichen Gasthause in der Nähe von Shooters Hill lebt, wo er als ein wahres Orakel verehrt wird, sich gewaltig seiner vertrauten Freundschaft mit Mr. Pickwick rühmt und fortwährend den unüberwindlichsten Widerwillen gegen Witwen hegt.

Mr. Pickwick residiert rastlos in seinem neuen Hause und verwendet seine Mußestunden dazu, seine Memoiren zu schreiben, die er später dem Sekretär des einst so berühmten Klubs mitteilen will, oder sich gelegentlich von Sam Weller vorlesen läßt, dessen Bemerkungen, wie sie sich ihm gerade aufdrängen, niemals verfehlen, Mr. Pickwick großes Vergnügen zu bereiten. Im Anfang wurde er sehr durch die zahlreichen Gesuche der Herren Snodgraß, Winkle und Trundle belästigt, bei ihrer Nachkommenschaft Gevatter zu stehen; allein er hat sich jetzt daran gewöhnt und betrachtet diesen Dienst als eine Sache, die sich nun einmal nicht ändern läßt. Er hat auch niemals Veranlassung gehabt, seine Güte gegen Mr. Jingle zu bereuen, denn sowohl dieser wie Hiob Trotter sind mit der Zeit würdige Mitglieder der menschlichen Gesellschaft geworden, haben aber jede Aufforderung, nach den Schauplätzen ihres früheren Unwesens zurückzukehren, standhaft zurückgewiesen. Mr. Pickwick ist später etwas kränklich geworden, sein Geist aber hat alle seine Jugendfrische behalten, und man sieht ihn noch häufig die Gemälde in der Dulwicher Galerie betrachten oder an schönen Tagen in seiner hübschen Nachbarschaft lustwandeln.

Die Armen in der Gegend kennen ihn alle und ermangeln nie, mit großer Ehrerbietung die Hüte abzuziehen, wenn er vorübergeht; die Kinder vergöttern ihn, und die ganze Nachbarschaft tut es ebenfalls. Alljährlich begibt er sich zu einem großen Familienfest in Mr. Wardles Haus, und wie überallhin, begleitet ihn auch hier der getreue Sam, dessen Anhänglichkeit wohl nur der Tod ein Ende machen wird.

Siebentes Kapitel


Siebentes Kapitel

Eine altmodische Spielpartie. – Die Erzählung von der Rückkehr des Sträflings.

Die in dem alten Wohnzimmer versammelten Gäste standen auf, um Mr. Pickwick und seine Freunde bei ihrem Eintreten zu begrüßen, und während der Zeremonie des Vorstellens, die ungemein formell vonstatten ging, hatte Mr. Pickwick Muße, aus der äußeren Erscheinung der Anwesenden Schlüsse auf ihren Stand und Charakter zu ziehen – eine Gewohnheit, der er, gleich vielen anderen großen Männern, gern zu huldigen pflegte.

Eine uralte Dame in einer hohen Haube und einem verblichenen Seidenkleid – niemand Geringeres als Mr. Wardles Mutter – hatte den Ehrenplatz im rechten Kaminwinkel inne, wo verschiedene Hinweise, daß sie ihrem Jugendgeschmack auch im Alter treu geblieben, in Gestalt alter Stickmuster, gewirkter Landschaften von gleichem Alter und rotseidener Teekesselwärmer einer späteren Epoche, die Wände zierten.

Die Tante, die zwei jungen Damen und Mr. Wardle umdrängten den Lehnstuhl der alten Frau und wetteiferten miteinander, ihr unablässig ihre Aufmerksamkeit zu bezeigen. Die eine hielt ihr das Hörrohr, die andere eine Pomeranze, die dritte ein Riechfläschchen, während Mr. Wardle selbst sich emsig abmühte, ihr die Kopfkissen zu ordnen. Gegenüber saß ein kahlköpfiger alter Herr mit einem Gesicht voll Wohlwollen und fröhlicher Laune – der Geistliche von Dingley Dell – und neben ihm seine Ehehälfte, eine blühende, stattliche alte Dame, die ganz so aussah, als ob sie nicht allein die Kunst, Herzstärkungen zu andrer Leute Zufriedenheit zu bereiten, von Grund aus verstünde, sondern selbst auch gern gelegentlich einen Schluck nähme. In einem Winkel des Zimmers sprachen ein kleiner Mann mit einem Gesicht wie ein Borsdorfer Apfel und ein dicker alter Herr miteinander, und noch zwei oder drei alte Herren und noch zwei oder drei alte Damen saßen kerzengerade und regungslos auf ihren Stühlen und blickten mit strenger Miene Mr. Pickwick und seine Reisegefährten an. „Mr. Pickwick, Mutter!“ schrie Mr. Wardle der alten Dame ins Ohr.

„Ah“, sagte sie, den Kopf schüttelnd, „ich verstehe kein Wort.“

„Mr. Pickwick, Großmama!“ schrien die beiden jungen Damen zugleich.

„Ah“, rief die alte Dame. „Schadet nichts. Er wird sich wohl um eine alte Frau, wie ich bin, wenig kümmern.“

„Ich versichere Ihnen, Ma’am“, entgegnete Mr. Pickwick, erfaßte die Hand der alten Dame und sprach so laut, daß sein menschenfreundliches Antlitz von der Anstrengung blaurot wurde, „ich versichere Ihnen, Ma’am, daß mich nichts so sehr entfernt wie der Anblick einer Dame in Ihren Jahren mitten im Kreise ihrer Familie, zumal wenn sie dabei noch so jugendlich und wohl aussieht.“

„Ah“, erwiderte die alte Dame nach einer kleinen Pause, „das ist gewiß alles sehr schön, aber ich verstehe kein Wort.“

„Großmama ist augenblicklich nicht in guter Laune“, erklärte Miß Isabella Wardle mit leiser Stimme, „aber sie wird gleich mit Ihnen sprechen.“

Mr. Pickwick gab durch Nicken seine Bereitwilligkeit zu erkennen, den Schwächen des Alters gegenüber ein Auge zuzudrücken, und knüpfte mit der übrigen Gesellschaft ein allgemeines Gespräch an.

„Eine entzückende Lage hat dieser Landsitz, Mr. Wardle.“

„Entzückende Lage!“ wiederholten die Herren Snodgraß, Winkle und Tupman.

„O ja. Allerdings“, sagte Mr. Wardle.

„Es gibt keinen hübscheren Punkt in ganz Kent, Sir“, bemerkte der kleine Mann mit dem Borsdorfer Gesicht. „Nein, Sir, Sie können sich drauf verlassen, Sir.“

Und triumphierend blickte er umher, als ob ihm jemand hartnäckig widersprochen, jedoch den kürzeren gezogen hätte.

„Keinen hübscheren Punkt in ganz Kent“, wiederholte er nach einer Pause.

„Ausgenommen Mullins Meadows“, bemerkte der dicke Mann in feierlichem Ton.

„Mullins Meadows?“ rief der Borsdorfer mit tiefer Verachtung.

„Allerdings, Mullins Meadows!“ wiederholte der dicke Mann.

„Sehr schöner Ort das“, fiel ein zweiter dicker Mann ein.

„Ja, in der Tat“, fügte ein dritter dicker Mann hinzu.

„Wie jedermann weiß“, bestätigte der korpulente Herr des Hauses.

Der kleine Mann mit dem Borsdorfer Gesicht blickte zweifelnd umher; doch als er sah, daß er die Minorität bildete, nahm er eine mitleidige Miene an und sagte nichts weiter.

„Wovon spricht man?“ fragte die alte Dame eine ihrer Enkelinnen mit sehr lauter Stimme – denn, wie die meisten schwerhörigen Leute, war sie der Meinung, sich nur so verständlich machen zu können.

„Vom Lande, Großmama.“

„Vom Lande? Was denn? – Ist etwas los?“

„Nein, nein; Mr. Miller sagte nur, unser Landsitz sei schöner als Mullins Meadows.“

Was versteht er denn davon“, erwiderte die alte Dame ärgerlich. „Mr. Miller weiß überhaupt immer alles besser. Sag ihm das.“

Ohne zu ahnen, daß sie ganz laut gesprochen hatte, richtete sie sich in ihrem Lehnstuhl auf und warf dem Delinquenten mit dem Borsdorfer Gesicht giftige Blicke zu.

„Kommen Sie, meine Herren, kommen Sie“, sagte verlegen der Herr des Hauses, um der Unterhaltung eine andere Wendung zu geben. „Wie wäre es mit einer Partie ;Whist? Was meinen Sie dazu, Mr. Pickwick?“

„Oh, mit Freuden“, erwiderte Mr. Pickwick, „aber, bitte, nicht etwa meinetwegen.“

„Oh, ich versichere Ihnen, meine Mutter spielt es gleichfalls sehr gern“, sagte Mr. Wardle. „Nicht wahr, Mutter?“

Die alte Dame hörte plötzlich viel besser und bejahte.

„Joe, Joe! – Verdammter Junge! Ah, da ist er ja! – Joe, die Spieltische!“

Der lethargische Jüngling stellte wortlos zwei –Spieltische auf, den einen für „Pope Joan“, den andern für Whist. Die

Whistspieler waren Mr. Pickwick, die alte Dame, Mr. Miller und der dicke Gentleman, die übrigen setzten sich zum Gesellschaftsspiel nieder.

Am Whisttische herrschte der Ernst und die Stille, die der edlen Beschäftigung, der von Rechts wegen die Bezeichnung „Spiel“ gar nicht beigelegt werden sollte, zukommt. Bei dem Gesellschaftsspiel am andern Tische dagegen ging es so laut und lustig zu, daß Mr. Miller in seinen Kombinationen abgelenkt wurde und mehrere Fehler machte, die in hohem Grade den Zorn des dicken Herrn erregten und die gute Laune der alten Dame entsprechend hoben.

„Da!“ sagte Mr. Miller mit triumphierendem Blick, als er eben einen Stich machte. „Das hätte überhaupt nicht besser gespielt werden können – es war unmöglich, noch einen Stich mehr zu machen.“

„Miller hätte den Buben stechen sollen, nicht wahr, Sir?“ sagte die alte Dame.

Mr. Pickwick nickte bejahend.

„Hätte ich sollen?“ fragte der Unglückliche mit einem triumphierenden Blick auf seinen Mitspieler.

„Allerdings hätten Sie sollen, Sir!“ sagte der dicke Gentleman in zurechtweisendem Tone.

„Schade“, erwiderte gedemütigt Mr. Miller.

„Bin es bei Ihnen schon gewohnt“, brummte der dicke

Gentleman.

„Zwei Honneurs – macht acht für uns –“, sagte Mr. Pickwick.

„Können Sie?“ fragte die alte Dame.

„Jawohl“, versetzte Mr. Pickwick. „Double, simple – und den Rubber!“

„So ein Glück ist mir noch nicht vorgekommen!“ rief Mr. Miller.

„Bei den Karten!“ meinte der dicke Gentleman.

Es folgte ein feierliches Schweigen; Mr. Pickwick war fröhlich aufgelegt, die alte Dame ernst, der dicke Gentleman verdrießlich und Mr. Miller verlegen.

„Ein zweiter Double“, rief die alte Dame aus und markierte diesen Umstand dadurch, daß sie einen Sixpence und einen abgenutzten halben Penny unter den Leuchter schob.

„Ein Double, Sir“, meldete Mr. Pickwick.

„Hab es schon gesehen, Sir“, erwiderte der dicke Gentleman in scharfem Ton.

Ein zweites Spiel nahm denselben ungünstigen Verlauf durch ein Versehen Mr. Millers, über das der dicke Gentleman ganz außer sich geriet, so daß er seine Wut über das ganze Spiel kaum mehr zu unterdrücken vermochte. Nach Schluß der Partie zog er sich für genau eine Stunde und siebenundzwanzig Minuten in einen Winkel zurück, wo er seinen Ärger sich stumm austoben ließ. Endlich kam er wieder hervor und bot Mr. Pickwick eine Prise an, mit der Miene eines Mannes, der sich bezwungen hat und erlittenes Unrecht mit dem Mantel der christlichen Liebe bedeckt. Das Gehör der alten Dame hatte sich in der Zwischenzeit auch erheblich gebessert, und der unglückliche Mr. Miller fühlte sich so unbehaglich wie ein Delphin in einem Schilderhaus.

Mittlerweile nahm das Gesellschaftsspiel am andern Tische desto munterer seinen Fortgang. Miß Isabella Wardle und Mr. Trundle bekamen „Ehestand“, desgleichen Emilie und Mr. Snodgraß, und selbst Mr. Tupman und die alte Tante fanden sich zusammen. Mr. Wardle war die gute Laune selbst und handhabte „die Tafel“ so spaßhaft, und die Damen strichen ihren Gewinn so eilig ein, daß an dem Tische fortwährend schallendes Gelächter herrschte. Eine alte Dame hatte stets ein halbes Dutzend Karten zu bezahlen, worüber jedesmal alles lachte, und sah sie dabei verdrießlich aus, so wurde nur noch lauter gewiehert. Als sie es schließlich bemerkte, heiterte sich ihre Miene allmählich auf, und sie lachte noch lauter als alle übrigen. Bekam die Tante »Ehestand“, so kicherten die jungen Damen von neuem, und sie schien dann empfindlich werden zu wollen, bis sie Mr. Tupmans Händedruck unter dem Tische fühlte und ein heiteres Gesicht machte, als ob sie sagen wollte, daß sie wohl nicht gar so ferne vom Ehestand war, wie vielleicht gewisse Leute glauben mochten, worüber alle, und besonders Mr. Wardle, der immer dabei war, wenn es einen Spaß gab, abermals lachten. Mr. Snodgraß flüsterte Emilie unentwegt poetische Ergüsse ins Ohr, was einen alten Herrn zu vielen Anzüglichkeiten und Anspielungen auf Partnerschaft im Spiel und im Leben veranlaßte, worüber die Gesellschaft aufs neue in ein herzliches Gelächter ausbrach, namentlich die Ehehälfte des alten Herrn. Mr. Winkle paradierte mit Witzen, die in der Stadt uralt, aber auf dem Lande noch unbekannt waren, und da alle darüber lachten und sie köstlich fanden, tat er sich viel darauf zugute. Der wohlwollende Geistliche sah heiter zu, denn die vielen glücklichen Gesichter stimmten ihn fröhlich; wenn auch die Stimmung etwas lärmend war, so kam sie doch aus dem Herzen und nicht bloß von den Lippen, worin doch eigentlich die wahre Heiterkeit besteht.

Bei dieser fröhlichen Unterhaltung verstrich der Abend sehr schnell, und als die Gesellschaft nach dem zwar ländlichen, aber schmackhaften Abendessen einen Halbkreis am Kamin bildete, glaubte Mr. Pickwick sich in seinem ganzen Leben noch nie so glücklich und so befähigt gefühlt zu haben, den. Zauber der Gegenwart in vollen Zügen zu genießen.

„Sie entschuldigen, Sir, daß ich mir nach einer so kurzen Bekanntschaft eine Bemerkung erlaube“, wandte er sich nach einer längeren Pause an den Geistlichen. „Ich sollte meinen, ein Mann wie Sie müßte in seiner Stellung als Diener des Evangeliums im Lauf der Jahre so manche der Aufzeichnung werte Szenen und Vorfälle erlebt haben.“

„Allerdings ist mir schon vieles vorgekommen“, erwiderte der Geistliche, „doch waren die meisten Ereignisse und Charaktere bei meinem beschränkten Wirkungskreise nicht außergewöhnlicher Art.“

„Aber soviel ich weiß, haben Sie es doch der Mühe wert gefunden, sich einiges über John Edmunds zu notieren, oder?“ fragte Mr. Wardle, der im Interesse seiner neuen Gäste eine Erzählung anzuregen suchte.

Der Geistliche nickte bejahend, wollte aber dem Gespräch eine andre Wendung geben, doch Mr. Pickwick ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, und nach einigen Zureden Mr. Wardles und der übrigen Herren und Damen begann der Geistliche ohne weitere Vorrede folgende Erzählung, die wir uns erlauben zu betiteln:

DIE RÜCKKEHR DES STRÄFLINGS

„Als ich mich – es sind jetzt bereits fünfundzwanzig Jahre – hier in diesem Dorfe niederließ, war ein Pächter, namens Edmunds, das verrufenste Subjekt in meinem Kirchenspiel. Er war ein mürrischer, bösartiger Mensch, arbeitsscheu und Ausschweifungen ergeben und dabei wild und grausam. Mit Ausnahme einiger weniger liederlicher Vagabunden, mit denen er herumstreichen und sich in den Bier- und Branntweinschenken zu betrinken pflegte, hatte er keinen einzigen Freund oder Bekannten. Niemand mochte gern mit ihm verkehren; viele fürchteten ihn, aber alle verabscheuten ihn, und so wurde er denn von jedermann gemieden.

Dieser Mann nun hatte ein Weib und einen Sohn, der zu der Zeit, als ich hierherkam, etwa zwölf Jahre alt sein mochte. Von den Leiden jener Frau, von der Sanftmut und Geduld, mit der sie sie ertrug, von den Kämpfen und Sorgen, unter denen sie den Knaben erzog, kann man sich schwer einen Begriff machen. Der Himmel möge mir verzeihen, wenn ich dem Manne Unrecht tue, aber ich bin fest davon überzeugt, daß er es viele Jahre hindurch geflissentlich darauf anlegte, sein Weib durch Kummer unter die Erde zu bringen. Sie ertrug jedoch alles geduldig um ihres Kindes und, wie unglaublich es auch klingen mag, um seines Vaters willen; denn so roh er auch war und so grausam er sie behandelte, so hatte sie ihn doch einst geliebt, und die Erinnerung an das, was er ihr gewesen, erweckte Gefühle der Nachsicht und Sanftmut in ihrer Brust, wie man sie unter allen Geschöpfen Gottes bloß bei dem Weibe findet.

Sie waren arm – wie hätte es auch anders sein können, wo der Mann auf solchen Pfaden wandelte –, doch rastlose Arbeit und angestrengter Fleiß der Frau wendeten gänzlichen Mangel ab. Leider wurden ihr ihre Bemühungen übel vergolten. Leute, die noch spät in der Nacht an ihrer Wohnung vorbeizugehen pflegten, erzählten, sie hätten das Wehklagen und Jammern der Frau und das Geräusch von Schlägen gehört, und mehr als einmal hatte der Knabe, lange nach Mitternacht noch, an einem Nachbarhause geklopft, um vor der Wut seines betrunkenen, unnatürlichen Vaters Schutz zu suchen.

Während dieser ganzen Zeit besuchte die arme Frau, die häufig die Spuren der Mißhandlungen nicht ganz verbergen konnte, regelmäßig unsre kleine Kirche. Jeden Sonntag, beim Früh- und Nachmittagsgottesdienst, saß sie mit ihrem Knaben an derselben Stelle, und obgleich beide nur ärmlich – und zwar noch ärmlicher als viele ihrer noch bedürftigeren Nachbarn – gekleidet waren, so war ihr Anzug doch immer sauber und reinlich. Jedermann hatte einen freundlichen Gruß und ein tröstliches Wort für die arme Frau, und wenn sie bisweilen nach dem Gottesdienst unter den Ulmenbäumen vor der Kirche stehenblieb, um ein paar Worte mit einer Nachbarin zu wechseln oder mit all dem Stolze und all der Liebe einer Mutter ihrem blühenden Knaben zuzuschauen, wie er sich mit seinen kleinen Gespielen herumtummelte, dann röteten freudige Empfindungen ihr von Sorgen verzehrtes Gesicht, und sie sah, wenn auch nicht froh und glücklich, doch ruhig und zufrieden aus.

So verstrichen fünf bis sechs Jahre, und der Knabe war zu einem starken, wohlgebauten Jüngling herangewachsen. Die Zeit, die den zarten Gliederbau des Kindes zu männlicher Kraft reifte, hatte die Gestalt der Mutter gebeugt und ihre Schritte wanken gemacht; aber der, der sie hätte stützen sollen, ging nicht mehr an ihrer Seite; der ihr hätte ein Trost sein sollen, kümmerte sich nicht um sie. Immer noch hatte sie ihren alten Platz in der Kirche, aber die Stelle neben ihr war leer. Sie hielt die Bibel so andächtig wie früher in der Hand, aber es war niemand da, sie mit ihr zu lesen. Die Nachbarn waren gegen sie noch ebenso freundlich wie vorher, aber sie wich ihren Grüßen aus mit abgewendetem Gesicht. Nie mehr blieb sie unter den Ulmenbäumen stehen, um von künftigem Glück zu träumen.

Das Maß des Elends der unglücklichen Frau sollte bald voll sein. Zahlreiche Untaten waren in der Umgegend begangen worden; da jedoch die Verbrecher unentdeckt blieben, so trieben sie ihr Unwesen nur um so dreister. Endlich veranlaßte ein mit beispielloser Frechheit verübter Raubüberfall eine ungewöhnlich strenge Nachforschung, die man nicht vermutet hatte. Der Verdacht fiel auf den jungen Edmunds und seine drei Spießgesellen. Er wurde verhaftet, vor Gericht gestellt, für schuldig erkannt – und zum Tode verurteilt.

Der wilde, durchdringende Schrei der Mutter, der durch den Gerichtssaal tönte, als der Richterspruch gefällt wurde, klingt noch heute in meinen Ohren. Er erfüllte das Herz des Verbrechers, auf den das Verhör, die Verhandlung und sogar das Todesurteil keinen Eindruck gemacht hatten, mit Schrecken und Entsetzen. Die Lippen, die bisher starrköpfiger Trotz verschlossen hatte, bebten und öffneten sich unwillkürlich, das Gesicht nahm eine erdfahle Farbe an, und der kalte Schweiß stand ihm auf der Stirn. An allen Gliedern zitternd, wankte er in den Kerker zurück.

In den ersten Ausbrüchen ihrer Seelenangst warf sich die leidende Mutter zu meinen Füßen auf die Knie und flehte inbrünstig zum Allmächtigen, der ihr bisher in all ihren Trübsalen beigestanden, sie von einer Welt voll Elend und Jammer zu erlösen und das Leben ihres einzigen Kindes zu retten. Ein Ausbruch von Schmerz und ein Seelenkampf folgten, wie ich ihn in meinem Leben nicht mehr zu hören hoffe. Ich sah, daß ihr das Herz in dieser Stunde für immer brach, aber niemals kam eine Klage oder ein Murren über ihre Lippen.

Es war ein trauriger Anblick, das arme Weib Tag für Tag in den Gefängnishof gehen zu sehen, um das harte Herz ihres verstockten Sohnes mit heißen Bitten zu erweichen. Sie mühte sich umsonst. Er blieb verschlossen, starrköpfig und ungerührt. Nicht einmal die unvorhergesehene Verwandlung seiner Todesstrafe in vierzehnjährige Deportation vermochte seine Verstocktheit auch nur einen Augenblick zu beugen.

Aber der Geist der Ergebung und Standhaftigkeit, der sie so lange aufrechterhalten hatte, vermochte den Verfall ihres Körpers nicht aufzuhalten. Sie wurde krank. Noch einmal wollte sie ihren Sohn besuchen und wankte mit zitternden Gliedern aus dem Zimmer, aber die Kräfte verließen sie, und sie sank ohnmächtig zu Boden.

Jetzt wurde die Gleichgültigkeit des jungen Mannes, mit der er geprahlt hatte, wirklich auf die Probe gestellt, und die Vergeltung, die über ihn kam, war derart, daß es ihn beinahe wahnsinnig machte. Ein Tag verfloß, und seine Mutter war nicht dagewesen, der nächste ging vorüber, und wieder kam sie nicht; der dritte Abend erschien, und noch immer hatte er sie nicht gesehen, und in vierundzwanzig Stunden sollte er von ihr getrennt werden – vielleicht auf immer. Welch lang vergessene Erinnerungen an die Tage seiner Kindheit mußten in seinem Geiste aufgetaucht sein, als er in seiner schmalen Zelle auf und ab raste, als könnte seine fiebernde Ungeduld die ersehnte Nachricht um so schneller herbeiführen, und wie bitter mußte das Gefühl seiner hilflosen Lage und Verlassenheit sein, das in ihm aufstieg, als er die Wahrheit vernahm! Seine Mutter, die einzige Verwandte, die ihn je geliebt, lag krank danieder – vielleicht in den letzten Zügen –, kaum eine Viertelstunde von ihm entfernt; wäre er frei und fessellos, in wenigen Minuten stünde er an ihrer Seite. Er rüttelte an den Eisenstäben mit der Kraft der Verzweiflung und stemmte sich gegen die dicke Mauer wie ein wildes Tier, aber das Gebäude spottete seiner schwachen Anstrengungen. Und dann rang er die Hände und weinte wie ein Kind.

Ich brachte ihm den Segen seiner Mutter ins Gefängnis, und ihr, der Kranken, seine feierliche Versicherung der Reue und seine flehentliche Bitte um Vergebung an das Sterbebett. Ich hörte mit innigem Mitleiden den Reuigen tausend Pläne entwerfen, wie er seine Mutter unterstützen wolle, wenn er nur erst zurückgekehrt wäre, aber ich wußte, daß sie schon lange aus der Welt geschieden sein würde, wenn er den Ort seiner Bestimmung erreicht hätte.

Er wurde bei Nacht weggebracht. Wenige Wochen nachher schwang sich die Seele der Armen, wie ich zuversichtlich hoffe und glaube, zu den Gefilden der ewigen Seligkeit und Ruhe empor. Ich hielt den Leichengottesdienst. Sie liegt auf unserm kleinen Kirchhofe. Kein Stein erhebt sich über ihrem Grabe. Was sie gelitten hat, das wissen die Menschen, ihre Seelenstärke kennt Gott allein.

Es war vor der Deportation des Gefangenen ausgemacht worden, daß er unter meiner Adresse an seine Mutter schreiben sollte, sobald er die Erlaubnis dazu erhalten würde. Der Vater hatte sich von dem Augenblicke der Verhaftung an aufs entschiedenste geweigert, seinen Sohn zu sehen, und es war ihm gänzlich gleichgültig, ob er hingerichtet oder begnadigt werden würde. Eine Reihe von Jahren ging vorüber, ohne daß ich Nachricht von dem Sträfling erhielt, und als mehr als die Hälfte seiner Strafzeit verflossen war und ich noch immer keinen Brief bekommen hatte, vermutete ich, er wäre gestorben, was ich beinah auch hoffte.

Edmunds war bei seiner Ankunft in der Strafkolonie weit in das Innere des Landes verschickt worden, und diesem Umstände war es wohl zuzuschreiben, daß, obgleich er viele Briefe an mich abgeschickt hatte, doch keiner in meine Hände kam. Die ganze Zeit seiner Verbannung blieb er an demselben Orte. Nach Ablauf derselben kehrte er, seinem Entschlüsse und dem Versprechen, daß er seiner Mutter gegeben hatte, getreu, unter den größten Entbehrungen nach England zurück und gelangte zu Fuß in seinem Geburtsorte an.

An einem schönen Sonntagabend, im Monat August, setzte John Edmunds seinen Fuß in das Dorf, das er vor siebzehn Jahren in Schmach und Schande verlassen hatte. Weg führte ihn über den Kirchhof. Vielleicht stellte er sich vor, wie er als Kind an seiner Mutter Hand friedlich zur Kirche ging und erinnerte sich an ihr bleiches Gesicht und wie ihre Augen sich bisweilen mit Tränen füllten, wenn sie in seine Züge blickte – Tränen, deren Ursache er damals nicht gekannt hatte. Dachte vielleicht daran, wie oft er mit seinen Spielkameraden lustig auf diesen Wiesen gespielt und seine Mutter darüber lächeln gesehen und den Ton ihrer milden Stimme gehört hatte.

Er trat in die Kirche, erfuhr ich später. Der Nachmittagsgottesdienst war vorüber, und die Gemeinde hatte sich verlaufen, aber die Tür war noch nicht geschlossen. Seine Tritte widerhallten in der niederen Wölbung, und ein Schauer überfiel ihn, wenn er daran dachte, daß er allein sei; so still und ruhig war es. Er sah sich rings um. Nichts war verändert. Der Raum kam ihm kleiner vor als früher, aber es waren noch die alten Grabmäler, auf denen sein Auge tausendmal mit kindlicher Scheu verweilt hatte; die kleine Kanzel mit ihren verblichenen Kissen; d«r Altar, vor dem er sooft die Gebete hergesagt, die er als Knabe verehrt und als Mann vergessen hatte. Er trat an den alten Betstuhl. Etwas Kaltes und Düsteres ging von ihm aus. Das Kissen war fort, und die Bibel lag nicht mehr da. Vielleicht nahm seine Mutter jetzt, einen geringeren Stuhl ein, oder war sie zu schwach geworden, um die Kirche allein besuchen zu können? Er wagte es nicht, an das zu denken, was er fürchtete. Ein kalter Schauer überlief ihn, und er zitterte heftig, als er sich wegwandte.

Ein alter Mann trat eben zur Kirchtür herein, als er hinauswollte. Edmunds bebte zurück, denn er kannte ihn wohl; manchmal hatte er ihm zugesehen, wie er ein Grab im Kirchhofe grub. Was mag wohl der Greis zu dem Unglücklichen gesagt haben? Er starrte dem Fremden ins Gesicht, bot ihm einen guten Abend und ging langsam an ihm vorüber, ahnungslos, wer vor ihm stand.

Der Sträfling ging die Anhöhe hinab durch das Dorf. Das Wetter war warm, und die Einwohner saßen vor ihren Haustüren und ergingen sich in ihren Gärten, um sich von der Arbeit zu erholen und den heiteren Abend zu genießen. Manche Blicke richteten sich nach ihm, und oft schielte er verstohlen auf die Seite, um zu sehen, ob ihn jemand erkenne und ihm absichtlich aus dem Wege gehe. Es waren beinahe lauter fremde Gesichter; bisweilen erkannte er die stattliche Gestalt eines alten Schulkameraden, der noch ein Knabe gewesen war, als er ihn zum letzten Male gesehen hatte, von einer Schaf lustiger Kinder umgeben; dann sah er einen schwachen, entkräfteten Greis, dessen er sich noch als eines gesunden, rüstigen Arbeiters erinnerte, in einem behaglichen Lehnstuhl vor seiner Haustür sitzen; aber sie hatten ihn alle vergessen, und er ging unerkannt vorüber. Die letzten milden Strahlen der untergehenden Sonne fielen auf die Erde und warfen ihren feurigen Glanz auf das wogende Kornfeld und verlängerten die Schatten der Fruchtbäume des Gartens, als er vor dem alten Hause stand, der Heimat seiner Kindheit, nach der er sich während der ganzen langen Reihe der Jahre seiner Gefangenschaft und seines Elends so unbeschreiblich gesehnt hatte. Die Umzäunung war niedrig, wiewohl er sich der Zeit noch erinnerte, wo sie ihm wie eine hohe Wand vorgekommen war, und er sah über sie hinweg in den alten Garten. Er erblickte mehr Pflanzen und schönere Blumen, als sonst hier zu finden gewesen, aber die Bäume waren noch die alten, der Baum derselbe, unter dem er tausendmal im Schatten gelegen, wenn er des Spielens in der Sonne überdrüssig war, unter dem ihn sooft der sanfte Schlaf der glücklichen Kindheit umfangen. Er hörte Stimmen im Hause. Er lauschte, aber sie schlugen fremdartig an sein Ohr; er kannte sie nicht. Sie waren zu fröhlich, und er wußte wohl, daß seine arme Mutter nicht heiter sein konnte, solange sie ihn ferne wußte. Die Tür öffnete sich, und eine Schar Kinder hüpfte jubelnd und jauchzend heraus. Der Vater erschien auf der Schwelle mit 4J1 einem kleinen Jungen auf dem Arm. – – – Der Sträfling dachte daran, wie oft er an dieser Stelle vor dem finsteren Gesicht seines Vaters geflohen war. Er erinnerte sich, wie oft er seinen Kopf zitternd unter der Bettdecke versteckt und die rauhen Worte, die harten schweren Schläge und das Jammern seiner Mutter gehört hatte, und ob er gleich in tiefem Seelenschmerz laut aufschluchzte, als er den Ort verließ, so ließ ihn doch ein grimmer Haß die Fäuste ballen und die Zähne zusammenbeißen.

Das war also die Rückkehr, nach der er so viele Jahre lang geschmachtet und für die er so manche Mühseligkeiten erduldet hatte? Keine Miene des Willkomms, kein Blick der Verzeihung, kein gastfreundliches Haus, keine hilfreiche Hand – und alles das in seinem väterlichen Dorfe! Was war die Einsamkeit in den dichten Wäldern, in die noch keines Menschen Fuß gedrungen, gegen diese Gefühle!

Er sah, daß er sich seinen Geburtsort im fernen Lande seiner Verbannung und Schmach gedacht hatte, wie er ihn verlassen, nicht, wie er ihn bei seiner Rückkehr finden würde. Die traurige Wirklichkeit verwundete sein Herz tief und brach seinen Mut völlig. Er getraute sich nicht, die einzige Person, von der er eine mitleidige und liebevolle Aufnahme erwarten konnte, zu erfragen und aufzusuchen. Langsam ging er weiter und vermied den gewöhnlichen Pfad, gleich einem schuldbewußten Verbrecher. Er schlug den Weg zu einer wohlbekannten Wiese ein und warf sich ins Gras, das Gesicht in den Händen verbergend.

Er hatte nicht bemerkt, daß ein Mann neben ihm auf dem Boden lag. Erst als dieser sich umdrehte, um verstohlen zu sehen, wer denn gekommen, bemerkte ihn Edmunds und hob den Kopf in die Höhe.

Der Mann hatte sich zu einer sitzenden Stellung aufgerichtet. Sein Rücken war gekrümmt und sein Gesicht durchfurcht und gelb. Sein Anzug kennzeichnete ihn als einen Bewohner des Armenhauses. Er sah sehr alt aus, aber das schien mehr die Folge früherer Ausschweifung und Krankheit als des hohen Alters zu sein. Lange starrte er den Fremden an, und so matt und glanzlos anfangs seine Augen gewesen waren, sosehr nahmen sie jetzt den Ausdruck einer außerordentlichen Unruhe an und erglühten immer unheimlicher und unheimlicher. Edmunds richtete sich langsam auf seine Knie auf und sah dem alten Manne aufmerksamer ins Gesicht. So starrten sie einander schweigend an.

Der Greis erbleichte. Er schauderte und stellte sich zitternd auf seine wankenden Füße. Als Edmunds sich ihm näherte, bebte er zurück. Edmunds trat auf ihn zu.

,Ich will deine Stimme hören‘, sagte er, und es schnürte ihm fast die Kehle zu.

,Weg von mir!‘ rief der Alte mit einem schrecklichen Fluch. Der Sträfling trat näher.

,Weg von mir!‘ schrie der Greis wieder. Wütend erhob er seinen Stock und versetzte ihm einen Hieb über das Gesicht.

,Vater! – Teufel!‘ murmelte Edmunds zwischen den Zähnen, sprang wild auf und packte den Alten bei der Kehle. – Aber es war doch sein Vater! – Kraftlos fiel sein Arm nieder.

Der Greis stieß einen gellenden Schrei aus, der über die einsamen Felder hintönte wie das Geheul eines bösen Geistes. Sein Gesicht wurde schwarzblau. Das Blut strömte ihm aus Mund und Nase und färbte das Gras dunkelrot. Er wankte und fiel zu Boden. Ein Blutgefäß war ihm gesprungen, und er lag da, eine Leiche, ehe noch sein Sohn ihn aus der Blutlache aufrichten konnte.

In einem Winkel des Kirchhofs, fuhr der alte Herr nach einem minutenlangen Stillschweigen fort, „ruht ein Mann, der nach diesem Ereignis drei Jahre lang mein Arbeiter gewesen und die demütigste Reue und Zerknirschung zeigte, wie nur jemals ein Sterblicher. Niemand, außer mir, wußte zu seinen Lebzeiten, wer er war oder woher er kam. Es war John Edmunds, der zurückgekehrte Sträfling.“