Dreiundvierzigstes Kapitel
Schildert eine rührende Zusammenkunft Mr. Samuel Weller mit seinen Verwandten. Mr. Pickwick besichtigt die kleine Welt, die er bewohnt, und faßt den Entschluß, künftighin so wenig wie möglich mit ihr zu verkehren.
Einige Tage nach seiner Festnahme ging Mr. Samuel Weller eines Morgens, nachdem er das Zimmer seines Herrn mit größter Sorgfalt aufgeräumt hatte, mit sich zu Rate, wie er die nächsten zwei Stunden am besten totschlagen könnte. Der Morgen war schön, und so kam er auf den Gedanken, daß eine Finte Porter im „Freien“ das richtigste wäre.
Er ging also in die Kantine, und nachdem er das Bier und überdies noch die vorgestrige Zeitung bekommen, begab er sich auf die Kegelbahn, setzte sich auf eine Bank und begann, sich auf eine sehr gesetzte und methodische Weise zu unterhalten.
Vor allem nahm er einen Schluck, sah dann, zu einem Fenster empor und beglückte eine junge Dame, die dort Kartoffeln schälte, mit einem platonischen Blinzeln. Dann entfaltete er die Zeitung und gab sich Mühe, die Polizeiberichte nach außen zu falten, und da dies bei dem sich in den Blättern verfangenden Winde eine anstrengende und schwierige Arbeit war, nahm er nach glücklichem Gelingen einen zweiten Schluck. Dann las er zwei Zeilen und unterbrach diese Beschäftigung, um ein paar Männern zuzusehen, die ein Tennisgame spielten, nach dessen Beendigung er beifälligerweise „Bravo“ rief und seine Augen die Runde machen ließ, um sich zu überzeugen, ob sich die Ansichten der Zuschauer mit den seinigen deckten. Dies schloß die Notwendigkeit in sich, wiederum zu dem Fenster hinaufzusehen, und da die junge Dame noch immer dort stand, so erforderte es die allgemeine Höflichkeit, ihr abermals zuzublinzeln und mit einem Schluck Bier stumm zuzutrinken. Einem Jungen, der letzteres mit weitaufgerissenen Augen mit angesehen, warf er einen furchtbaren Zornblick zu, schlug seine Beine übereinander und begann endlich, die Zeitung mit beiden Händen festhaltend, allen Ernstes zu lesen.
Kaum hatte er sich in den erforderlichen Zustand von Gedankenkonzentration versetzt, als er jemand in weiter Ferne in einem Gang seinen Namen rufen zu hören glaubte. Das war auch keine Täuschung, denn er lief alsbald von Mund zu Mund, und in wenigen Sekunden erzitterte die Luft mit lauter Wellers“.
„Hüür!“ schrie Sam mit Stentorstimme. „Was gibt’s? Wer fragt nach ihm? Is ’n Expresser gekommen, um ihm zu melden, daß sein Landhaus in Flammen steht?“
„In der Halle fragt jemand nach Ihnen“, sagte ein Mann in der Nähe.
„Geben Sie auf das Blatt und den Krug acht, alter Freund; wollen Sie?“ bat Sam. „Ich komme schon. Bei Gott, wenn sie mir vor die Schranken riefen, so könnten sie keinen größeren Lärm nich machen.“
Diese Worte mit einem sanften Schlag auf den Kopf des vorerwähnten jungen Herrn begleitend, der, die unmittelbare Nähe des Gerufenen nicht ahnend, aus Leibeskräften „Weller“ mitschrie, eilte Sam über den Hof und sprang die Treppe hinauf in die Halle. Hier war das erste, was seine Augen erblickten, sein heißgeliebter Vater, der mit dem Hute in der Hand auf der untersten Treppenstufe saß und alle Minuten aus vollem Halse „Weller“ brüllte.
„Warum grölst denn so?“ fragte Sam erregt, als der alte Herr eben wieder einen wilden Schrei ausgestoßen hatte. „Bist ja ganz rot, wie ’n irrsinniger Glasbläser! Was gibt’s denn?“
„Aha!“ rief der alte Herr, „da bist du ja. Ich bekam schon Angst, daß du womöglich ’nen Spaziergang um den Regentpark machtest, Sammy.“
„Na, hör mal!“ sagte Sam. „Man verhöhnt doch nich das Opfer des Geizes. Und dann geh mal von der Treppe da weg. Warum sitzt du überhaupt hier? Ich wohn doch nich hier.“
„Ich muß dir ’nen Spaß erzählen, Sammy“, versetzte Mr. Weller senior und erhob sich.
„Warte mal ’n Augenblick. Bist ganz weiß hinten.“
„Das is recht, Sammy, reib es weg“, versetzte Mr. Weller, als sein Sohn ihn abstaubte. „Ich möchte hier nicht den affigen Eindruck machen, daß ich was Weißes auf ‚m Leibe habe. Was, Sammy?“ Hier zeigten sich bei Mr. Weller unzweideutige Symptome eines neuerlich aufkommenden Lachkrampfes, den Sam zu verhindern suchte.
„Was hast denn nu wieder?“ fragte er, „du wirst noch mal platzen.“
„Sammy“, versetzte Mr. Weller und wischte sich über die Stirn, „ich hab Angst, dieser Tage trifft mir noch der Schlag vor lauter Lachen. Was denkst du wohl, wer mit mir hergekommen ist, Sammy?“
„Pell?“ riet Sam.
Mr. Weller schüttelte den Kopf und blies seine roten Backen vor verhaltenem Gelächter auf.
„Der Buntscheckige vielleicht?“
Mr. Weller schüttelte wieder den Kopf.
„Na also, wer denn?“
„Deine Stiefmutter“, erwiderte Mr. Weller.
Und es war ein Glück, daß er es herausbrachte, sonst wären seine Backen bei der unmäßigen Anstrengung unvermeidlich geborsten.
„Deine Stiefmutter, Sammy, und der Rotnasige, mein Junge, der Rotnasige. Hohoho!“
Und wieder bekam Mr. Weller Lachkrämpfe, während ihn Sam mit einem breiten Grinsen ansah, das sich allmählich über sein ganzes Gesicht verbreitete.
„Die sind hergekommen, um dir ins Gewissen zu reden, Samuel“, stöhnte Mr. Weller und trocknete seine Tränen. „Laß dir bloß nichts über deinen unnatürlichen Gläubiger rausholen, Sammy.“
„Was? Wissen sie nicht, wer es is?“ fragte Sam.
„Nich die Bohne.“
„Wo sind sie denn?“ fragte Sam feixend.
„Im Lauschestübchen. Denkst doch nich, der Rotnasige geht wohin, wo es nich was Gebranntes gibt; der nich, Samuel, der nich. Wir hatten diesen Morgen ’ne sehr hübsche Fahrt vom ,Marquis‘ hierher“, erklärte Mr. Weller, als er sich wieder einer artikulierten Ausdrucksweise fähig fühlte.
„Ich spannte den alten Schecken in das kleine Fuhrwerk, wo dem ersten Mann von deiner Stiefmutter gehört hatte. Und denn wurde ’n Armstuhl für den Hirten raufgepackt, und ich will verdammt sein“, fügte Mr. Weller mit einem Blick bodenloser Verachtung hinzu, „wenn sie nich noch ’ne tragbare Treppe auf die Straße schleppten, damit er leichter raufkam. Ich wünschte bloß, du hättest gesehen, wie der sich beim Aufsteigen festhielt, aus Angst, daß er runterprasseln und in tausend Fetzen auseinanderfallen könnte. Na, schließlich plumpste er rein, und wir fuhren los, und ich möchte beinahe sagen, mir kommt es so vor, Samuel, daß es ihm etwas rumpeln tat, wenn’s um die Ecken ging.“
„Nanu, denn nehme ich an, du bist an ’n paar Posten gedonnert?“ meinte Sam.
„Ich hab Angst“, versetzte Mr. Weller mit wildem Gebärdenspiel, „ich hab Angst, ich rappelte ein-, zweimal wo gegen; jedenfalls flog er nach alle Seiten aus sein Armstuhl raus.“
Ein heiseres innerliches Kollern benahm dem alten Herrn die Sprache.
„Sei unbesorgt, Sammy, sei unbesorgt“, sagte er, als er nach ungeheurer Anstrengung und verschiedentlichem konvulsivischem Stampfen auf den Boden seine Stimme wieder erlangt hatte. „Es is nur ’ne Art stilles Lachen, wo ich nich zum Ausbruch kommen lassen will, Sammy.“
„Na gut“, meinte Sam, „aber es wäre besser, du würdest es nich machen. Es sieht reichlich gefährlich aus.“
„Gefällt es dir nich, Sammy?“
„Könnte ich nich sagen“, versetzte Sam.
So weit war die Unterhaltung gediehen, als Vater und Sohn an der Tür des „Lauschestübchens“ ankamen, in das Sam alsbald hineintrat, nachdem er zuvor einen Augenblick stehengeblieben war, um über die Schulter weg einen schlauen Blick auf seinen verehrten Erzeuger zu werfen, der immer noch kicherte.
„Stiefmutter“, grüßte er dann höflich, „sehr verbunden für den gütigen Besuch. Hirte, wie befinden Sie sich?“
„Ach, Samuel!“ rief Mrs. Weller. „Das ist ja fürchterlich.“
„Ach wo, Ma’am“, versetzte Sam. „Oder doch, Hirte?“
Mr. Stiggins hob seine Hände empor und verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße, oder vielmehr das Gelbe, sichtbar war, erwiderte aber nichts.
„Ist der Herr mit ’nem schmerzhaften Leiden behaftet?“ fragte Sam mit einem forschenden Blick auf seine Stiefmutter.
„Der gute Mann ist bekümmert, dich hier zu sehen, Samuel“, erklärte Mrs. Weller.
„Ah, soso!“ sagte Sam. „Ich bekam wegen sein Benehmen schon Angst, daß er womöglich vergessen hat, die letzten Gurken, wo er gegessen hat, mit Feffer zu bestreuen. Setzen Sie sich, Sir; zur Ruhe setzen kostet nichts, wie der König bemerkte, als er seine Minister wegjagte.“
„Junger Mann“, versetzte Mr. Stiggins hochtrabend, „ich fürchte, das Gefängnis hat Sie noch nicht gedemütigt.“
„Bitte um Verzeihung, Sir“, erwiderte Sam, „was waren Sie so gütig zu bemerken?“
„Ich fürchte, junger Mann, Ihr Charakter ist durch diese Züchtigung nicht demütiger geworden“, wiederholte Stiggins mit lauter Stimme.
„Sie sin sehr gütig“, erwiderte Sam. „Ich fürchte, meine Natur gehört nich zu den demütigen. Sehr verbunden für Ihre gute Meinung, Sir.“
Unanständige, gelächterartige Laute in der Gegend des Stuhles, auf dem Mr. Weller senior saß, drohten Mrs. Weller in hysterische Krämpfe zu versetzen.
„Weller!“ rief sie. „Weller, gleich kommst du aus dem Winkel raus!“
„Sehr verbunden, meine Liebe“, versetzte Mr. Weller, „aber ich fühle mir hier sehr behaglich.“
Sofort brach Mrs. Weller in Tränen aus.
„Was fehlt Ihnen, Madame?“ fragte Sam.
„Ach, Samuel!“ jammerte Mrs. Weller. „Dein Vater macht mich ganz unglücklich; will ihm denn gar nichts frommen?“
„Hörst du das?“ rief Sam. „Madam möchte wissen, ob dir gar nichts frommen tut.“
„Ich bin Mrs. Weller für ihre höfliche Frage sehr verbun’n, Sammy“, erwiderte der alte Herr. „Ich denke, ’ne Feife würde mir sehr frommen. Laß mich mal eine stopfen, Sammy!“
Abermals vergoß Mrs. Weller einen Tränenstrom, und Mr. Stiggins schluchzte.
„Holla! Dem unglücklichen Herrn wird schon wieder übel“, rief Sam und blickte umher. „Wo fühlen Se jetzt den Schmerz, Sir?“
„Auf derselben Stelle, junger Mann“, ächzte Mr. Stiggins, „auf derselben Stelle.“
„Wo mag das nur sein, Sir?“ riet Sam, anscheinend mit großer Einfalt.
„Im Herzen, junger Mann“, entgegnete Mr. Stiggins und drückte, seinen Regenschirm an die Weste.
Das war zu ergreifend für Mrs. Weller. Sie schluchzte laut und stellte die Behauptung auf, der Mann mit der roten Nase sei ein Heiliger. „Ich fürchte, Stiefmutter, der Herr mit seinen verdrehten Gesichtszügen bekommt Durst von dem traurigen Anblick, den er vor sich hat. Was meinst du, Frau Mutter?“
Die würdige Dame sah Mr. Stiggins forschend an, der seine Augen rollen ließ und sich an die Kehle griff, wobei er die Handlung des Schlingens mimte, um anzudeuten, daß er tatsächlich Durst habe.
„Ich habe Angst, Samuel, seine Gefühle haben ihn durstig gemacht“, bemerkte Mr. Weller düster.
„Was is Ihr gewöhnliches Getränk, Sir?“ fragte Sam.
„Oh, mein lieber junger Freund!“ wehrte Mr. Stiggins ab. „Getränke sind Eitölkeitön.“
„Ach, wie wahr, wie wahr!“ schluchzte Mrs. Weller mit beifälligem Kopfnicken.
„Na“, sagte Sam, „also welche ,Eitölkeitön‘ schmecken Ihnen denn am besten, Sir?“
„Ach, main liebör jungör Freund“, erwiderte Mr. Stiggins, „ich verachtö allö. Wann ös, wann ös ains gibt, das weniger schlimm ist als ain andörös, so ist ös der Gaist, den man Rum nönnt – warm, main liebör jungör Freund, mit drai Stückchön Zuckör für das Glaaas!“
„Tut mir sehr leid, Sir“, sagte Sam, „daß Ihre Lieblingseitelkeit in diesem Etablissemang nich verkauft wird; muß Ihnen leider sagen, es is nich gestattet.“
„Oh, über die Hartherzigkeit dieser verstockten Menschen!“ rief Mr. Stiggins aus. „Ach, über die fluchwürdige Grausamkeit dieser unmenschlichen Verfolger!“ – Und wieder hob der Hirt seine Augen auf und preßte den Regenschirm an seine Brust voll gerechter Empörung. Schließlich schlug Sam eine Flasche Portwein mit warmem Wasser, Gewürz und Zucker vor, weil dieses für den Magen sehr gesund sei und weniger nach Oitelkeit schmeckte als andre Mischungen, ließ das Getränk kommen und bereitete es, während der Herr mit der roten Nase und die Stiefmutter Mr. Weller senior ansahen und schluchzten.
„Na, was reckst du denn deine Hand auf so ’ne rohe Art und Weise nach dem Glas aus?“ rief Sam schnell, als die Faust Mr. Wellers, der abermals hinter dem Hirten allerlei drohende Gestikulationen vollführt hatte, mit dem Kopf Mr. Stiggins‘ zufällig in unsanfte Berührung kam. „Unabsichtlich, Sammy“, entschuldigte sich Mr. Weller kurz und hanebüchen.
„Versuchen Sie mal „ne innerliche Wundbehandlung, Sir“, riet Sam, als der rotnasige Herr sich mit kläglicher Miene den Kopf rieb. „Was halten Sie von so einer warmen Eitelkeit, Sir?“
Mr. Stiggins antwortete nicht mit Worten, aber sein Benehmen war ausdrucksvoll. Er kostete den Inhalt des Glases, das ihm Sam in die Hand gedrückt, stieß seinen Regenschirm auf den Boden, kostete wieder, rieb sich die Magengegend behaglich, trank dann das Ganze auf einen Zug aus, schmatzte mit den Lippen und hielt das Glas hin, um es wieder füllen zu lassen.
Auch Mrs. Weller wollte nicht zurückstehen, wo es galt, der Mischung Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sie protestierte anfangs, sie könne keinen Tropfen trinken – dann trank sie einen kleinen Tropfen – dann einen großen Tropfen – und dann eine große Menge Tropfen, und da ihr weiches Naturell durch gebranntes Wasser stark angegriffen wurde, ließ sie bei jedem Tropfen Glühwein einen Tränenstrom fließen und zerging schließlich derart, daß sie eine imposante Höhe von Elend erklomm.
Mr. Weller senior gab bei Beobachtung dieser Zeichen und Vorgänge sein Mißfallen auf mannigfaltige Weise durch heftiges Gebrumm kund. Mr. Stiggins erhob sich nach einem zweiten Krug schwerfällig und erging sich in einer erbaulichen Rede, die auf das Seelenheil der Gesellschaft, insbesondere Mr. Samuels, abzielte, den er in rührenden Ausdrücken beschwor, die Sünde zu fliehen, Heuchelei und Hochmut zu meiden und in allen Stücken sich ihn zum Muster und Vorbild zu nehmen, in welchem Fall er früher oder später zu dem köstlichen inneren Bewußtsein gelangen könne, daß er, gleich ihm, ein achtbarer und tadelloser Charakter und alle seine Bekannten und Freunde rettungslos verloren und verworfen seien; ein Bewußtsein, sagte er, das ihm die größte Seligkeit bereiten wurde.
Er beschwor ihn ferner, vor allen Dingen das Laster der Trunksucht zu fliehen, das er den unflätigen Gewohnheiten der Schweine und den giftigen und verderblichen Arzneien verglich, die, durch den Mund aufgenommen, das Gedächtnis schwächten. Bei dieser Stelle seiner Rede wurde der ehrwürdige Herr besonders unzusammenhängend und mußte, im Feuer der Beredsamkeit hin und her schwankend, sich an der Stuhllehne festhalten, um das physische Gleichgewicht nicht zu verlieren.
Ganz besonders schien er seine Zuhörer vor den falschen Propheten und elenden Spöttern über die Religion warnen zu wollen, die, ohne die geistige Fähigkeit, die vornehmsten Glaubenssätze auszulegen, oder ohne das Herz, ihre Grundwahrheiten zu empfinden, gefährlichere Mitglieder der Gesellschaft seien als der gemeine Verbrecher, indem sie notwendigerweise auf die Schwächsten und am wenigsten Unterrichteten die stärkste Herrschaft ausübten, alles, was am heiligsten gehalten werden sollte, herabsetzten und verächtlich machten und ganze Klassen von tugendhaften und sittlich guten Menschen vieler vortrefflicher Sekten und Glaubensrichtungen in üblen Ruf brächten – aber da er sich eine geraume Zeit an der Stuhllehne festhielt und das eine Auge geschlossen hielt und mit dem andern ausdrucksvoll blinzelte, so läßt sich annehmen, daß er alles nur dachte, aber wohlweislich bei sich behielt.
Während der undeutlichen Predigt seufzte und weinte Mrs. Weller am Schlüsse jedes Abschnittes, während Sam mit übergeschlagenen Beinen und auf die Lehne seines Sessels gestützten Armen den Sprecher mit süßem, mildem Lächeln betrachtete und nur gelegentlich einen Blick des Einverständnisses auf den alten Herrn warf, der im Anfang entzückt war und ungefähr in der Mitte einschlief.
„Bravo! Vortrefflich!“ rief Sam, als der Mann mit der roten Nase nach Schluß der Rede seine abgetragnen Handschuhe anzog und dabei die Finger durch die durchlöcherten Enden steckte, bis die Knöchel sichtbar wurden. „Ganz vortrefflich.“
„Ich hoffe, es wird bei dir anschlagen, Samuel“, sagte Mrs. Weller feierlich.
„Ich denke ja, Stiefmutter“, nickte Sam.
„Ich wollte, es schlüge auch bei deinem Vater an“, seufzte Mrs. Weller.
„Danke dir, meine Teure“, erwiderte Mr. Weller senior. „Is dir nu leichter, meine Liebe?“
„Spötter!“ rief Mrs. Weller empört.
„Unerleuchteter Mann!“ lallte Ehrwürden Mr. Stiggins.
„Na, wenn ich kein besseres Licht nich bekommen tue als wie Ihren Mondschein“, knurrte Mr. Weller, „denn is es sehr wahrscheinlich, daß ich ständig ’ne Nachtkutsche fahren werde, bis ich mir von die Straße verabschieden tue. Aber jetzt, Mrs. Weller! Wenn der Schecke noch länger am Futtertrog steht, denn hält er es mir auf dem Heimweg nich mehr aus und schmeißt vielleicht den Armstuhl samt dem Hirten in die nächste Hecke.“
In augenscheinlicher Bestürzung ergriff Mr. Stiggins sofort Hut und Regenschirm und drang auf alsbaldige Abreise. Sam ging mit bis ans Gefängnistor und nahm dann zärtlich Abschied von seinen Gästen.
„Adio, Samuel“, sagte der alte Herr.
„Was heißt das, ,adio‘?“ fragte Sam.
„Na: Leb wohl!“
„Warum sagst das nich gleich? Na, denn leb wohl, Alter.“
„Sammy“, flüsterte Mr. Weller zum Abschied und blickte sich vorsichtig um, „meine Empfehlung an den Gouverneur, und wenn er sich auf was Besseres besinnen tut in seine Sache, denn soll er mich das wissen lassen. Ich und der Kunsttischler, wir haben ’nen Plan ausgeheckt, daß wir ihn rauskriegen, ’n Pjananino, Samuel – ’n Pjananino!“ fügte er triumphierend hinzu, schlug seinem Sohn mit der Rückseite der Hand auf den Brustkasten und trat ein paar Schritte zurück.
„Was meinst du damit?“ fragte Sam.
„’n Pjananinopforte, Samuel“, erwiderte Mr. Weller noch geheimnisvoller, „er kann es mieten; so eins, wo man gar nich drauf spielt, Sammy.“
„Er soll bloß zu meinem Freund, dem Kunsttischler, schicken und es holen lassen“, erklärte Mr. Weller. „Verstehst du jetz?“ „Nein“, antwortete Sam.
„Is gar nichts bei zu riskieren“, flüsterte Mr. Weller unbeirrt. „Er kann sich mit seinen Hut und seine Schuhe reinlegen und durch die Beine, die sind nämlich hohl, da kann er frische Luft schnappen. Wir halten ihm ’nen Schiffsplatz nach Amerika bereit. Die amerikanische Regierung gibt ihm nich wieder raus, wenn sie merkt, daß er Zaster hat, Sammy. Da soll er denn man bleiben, der Gouverneur, bis die Bardell tot is oder Dodson und Fogg am Galgen hängen, was wahrscheinlich zuerst passieren wird, Sammy. Und denn soll er zurückkommen und „n Buch über die Amerikaner schreiben. Wird ihm ’n Batzen Geld einbringen, wenn er sie bloß orntlich anstänkern tut.“
Mr. Weller flüsterte diesen kurzen Abriß eines Fluchtplanes seinem Sohne mit vielem Ungestüm ins Ohr, gab dann, als fürchte er, durch weitere Erklärungen die Wirkung seiner furchtbaren Mitteilung abzuschwächen, den freimaurerischen Kutschergruß und verschwand.
Sam hatte kaum seine gewöhnliche Ruhe wiedererlangt, die durch die geheimnisvolle Mitteilung seines verehrten Vaters gewaltig erschüttert worden war, als ihm Mr. Pickwick auf die Schulter klopfte.
„Sam!“
„Sir?“
„Ich wünsche einen Gang durch das Gefängnis zu machen, und du sollst mich dabei begleiten. Da kommt übrigens ein. Gefangener, den wir kennen, Sam“, fügte Mr. Pickwick lächelnd hinzu.
„Wer denn, Sir?“ fragte Sam. „Der Schenlemän mit dem Krauskopp oder der interessante Herr in den Strümpfen?“
„Keiner von beiden. Ein viel älterer Freund von dir, Sam.“
„Von mir, Sir?“
„Du wirst dich dieses Herrn schon noch erinnern“, sagte Mr. Pickwick. „Still jetzt! Kein Wort mehr, Sam, keine Silbe! Da ist er.“
Noch während Mr. Pickwick sprach, kam Jingle heran. Er sah weniger elend aus als das letztemal, denn er trug seine wenn auch recht abgeschabten Kleider, die er mit Mr. Pickwicks Hilfe aus der Gefangenschaft des Leihhauses erlöst hatte. Auch hatte er ein weißes Hemd an, und seine Haare waren frisch gestutzt. Gleichwohl war er sehr blaß und mager, und als er, auf einen Stock gestützt, langsam heranschlich, konnte man ihm leicht ansehen, daß er durch Krankheit und Mangel hart gelitten hatte und noch immer äußerst schwach war. Er zog den Hut, als Mr. Pickwick ihm zunickte, und schien beim Anblick Sam Wellers sehr gedemütigt und beschämt.
Dicht auf seinen Fersen erschien Hiob Trotter, in dessen Sündenregister jedenfalls Mangel an Treue und Anhänglichkeit an seinen Kameraden keinen Platz fand. Er war noch immer zerlumpt und schmutzig, sein Gesicht schien aber nicht mehr ganz so hohl zu sein wie bei seinem ersten Zusammentreffen mit Mr. Pickwick vor einigen Tagen. Als er vor dem wohlwollenden alten Herrn tief den Hut zog, murmelte er etwas von heißer Dankbarkeit und von Errettung vom Hungertode.
„Schon gut“, wehrte Mr. Pickwick ungeduldig ab. „Sie können mit Sam nachkommen. Ich wünsche Sie zu sprechen, Mr. Jingle. Können Sie gehen ohne seine Hilfe?“
„O ja, Sir – ganz zu Diensten – nicht zu schnell – Beine schlotterig – Kopf schwindelig – immer alles im Kreis herum – erdbebenartiger Zustand – ganz erdbebenartig.“
„Dann geben Sie mir Ihren Arm.“
„Nein, nein“, erwiderte Jingle hastig, „unmöglich – zuviel Güte.“
„Unsinn!“ sagte Mr. Pickwick. „Stützen Sie sich auf mich; ich will es, Sir!“
Da Mr. Pickwick sah, daß Jingle äußerst aufgeregt, verwirrt und unschlüssig war, zog er ohne Umstände den Arm des kranken Komödianten durch den seinigen und führte ihn fort, ohne ein Wort weiter zu verlieren.
Während dieser ganzen Zeit hatte Mr. Samuel Wellers Angesicht einen Ausdruck überwältigten und überschwenglichsten Erstaunens gezeigt, das sich die Einbildungskraft nur ausmalen kann. Nachdem er in tiefem Schweigen von Hiob zu Jingle und von Jingle zu Hiob geblickt, stieß er endlich leise die Worte aus: „Na, da hört sich doch ..,“ und wiederholte sie wenigstens zwanzigmal. Dann aber schien er seiner Stimme gänzlich beraubt zu sein und ließ in sprachloser Verwunderung seine Blicke aufs neue von dem einen zu dem andern wandern.
„Nun, Sam?“ fragte Mr. Pickwick über die Achsel.
„Komme schon, Sir“, erwiderte Mr. Weller, folgte seinem Herrn mechanisch und konnte noch immer kein Auge von Mr. Hiob Trotter abwenden, der schweigend an seiner Seite ging.
Hiob sah beharrlich zu Boden, und Sam, dessen Blick an Hiobs Gesicht geradezu klebte, rannte gegen alle Leute, die ihm begegneten, an, fiel über kleine Kinder, stolperte an Treppen und Geländern und schien von all dem nichts zu bemerken, bis Hiob endlich verstohlen aufblickte und fragte:
„Wie befinden Sie sich, Mr. Weller?“
„Ja, er is es!“ rief Sam, schlug sich auf das Bein und machte seinen Gefühlen mit einem langen, schrillen Pfiff Luft.
„Mit mir hat es sich sehr geändert, Sir“, sagte Hiob.
„Das seh ich“, rief Sam, mit unverhohlener Verwunderung die Lumpen seines Begleiters musternd. „Es ist aber ’n schlechter Tausch gewesen, wie der Schenlemän sagte, als er zwei verdächtige Schilling und sechs Pence in kleiner Münze für ’ne echte halbe Krone eingewechselt hatte.“ „Ja, das ist wahr“, versetzte Hiob mit Kopfschütteln. „Die Zeit des Betrügens ist jetzt vorbei, Mr. Weller. Tränen“, fügte er mit einem Anflug alter Verschmitztheit hinzu, „Tränen sind weder die einzigen Beweise von Kummer und Elend, noch die besten.“ „Wissen wir“, erwiderte Sam ausdrucksvoll.
„Man kann sie auch künstlich hervorrufen, Mr. Weller!“
„Sehr richtig bemerkt“, versetzte Sam. „Es gibt Leute, wo sie immer in Bereitschaft halten und den Stöpsel rausziehen können, wann sie wollen.“
„Jaja“, gab Hiob zu, „aber, mein lieber Mr. Weller, diese Dinge lassen sich doch nicht so leicht nachmachen, und es ist ein recht schmerzhafter Prozeß, sie künstlich hervorzurufen.“ Dabei deutete er auf seine blassen, eingesunknen Wangen, schlug seinen Rockärmel zurück und entblößte seinen Arm, der aussah, als ob man ihn ohne Mühe abbrechen könnte, so dünn und spitzig stachen die Knochen unter ihrer dünnen Fleischdecke hervor.
„Was haben Sie bloß mit sich angefangen?“ rief Sam schaudernd.
„Nichts.“
„Nichts?“
„Ich habe schon viele Wochen gar nichts getan“, sagte Hiob, „und beinahe ebensowenig gegessen und getrunken.“
Sam warf einen umfassenden Blick auf Mr. Trotters schmales Gesicht und seine ganze jammervolle Erscheinung, ergriff ihn dann beim Arm und fing an, ihn mit großer Heftigkeit mit sich fortzuziehen.
„Wohin wollen Sie, Mr. Weller?“ ächzte Hiob, vergeblich bemüht, sich dem eisernen Griff seines alten Feindes zu entwinden.
„Kommen Sie mit“, sagte Sam lakonisch, „kommen Sie mit.“
Und er würdigte Hiob keiner weiteren Erklärung, bis sie das „Lauschestübchen“ erreicht hatten, wo er einen Krug Porter kommen ließ.
„Da“, sagte er, „trinken Sie alles bis auf den letzten Tropfen, und denn kehren Sie den Krug um, damit ich sehe, ob Sie die Arznei auch eingenommen haben.“
„Aber mein bester Mr. Weller“, remonstrierte Hiob.
„Runter damit“, befahl Sam gebieterisch.
Gehorsam erhob Mr. Trotter den Krug und leerte ihn in kleinen, beinahe unmerklichen Schlucken bis auf den Grund. Einmal, aber auch nur ein einziges Mal, pausierte er, um einen langen Atemzug zu tun, ohne jedoch zu wagen, die Augen von dem Gefäß zu erheben, das er einige Augenblicke später mit ausgestrecktem Arm umgekehrt hinhielt. Nichts fiel auf den Boden als ein paar Tröpfchen Schaum, die sich langsam vom Rande losmachten und träge hinabträufelten.
„Bravo“, sagte Sam. „Na, wie fühlen Sie sich jetzt?“
„Besser, Sir, ich glaube, besser“, antwortete Hiob.
„Na, selbstredend“, sagte Sam in beweisendem Ton. „Is ja doch, als wenn Gas in einen Luftballong reingelassen wird. Ich kann es mit bloßem Auge sehen, daß Sie schon dicker werden. Was würden Sie zu ’ner zweiten Dosis sagen, ebenso kräftig wie die erste?“
„Ich möchte lieber nicht; ich bin Ihnen sehr verbunden, Sir“, erwiderte Hiob, „aber ich möchte lieber nicht.“
„Na, meinetwegen“, brummte Sam. „Aber was zwischen die Zähne; was würden Sie davon halten?“
„Dank sei Ihrem guten Herrn, Sir“, antwortete Mr. Trotter, „wir haben heute um drei viertel auf drei eine gebackene Hammelkeule mit Kartoffeln gehabt.“
„Was? Hat er für Sie gesorgt?“ fragte Sam erschüttert.
„Ja, Sir, und noch mehr als das, Mr. Weller. Da mein Herr sehr krank war, hat er ein Zimmer für uns gemietet – wir bewohnten vorher ein wahres Hundeloch – und es bezahlt, Sir; auch ist er bei Nacht zu uns gekommen, damit es niemand erfahren sollte. Ja, Mr. Weller“, fügte Hiob, diesmal mit echten Tränen in den Augen, hinzu, „diesem Herrn könnte ich dienen, bis ich tot zu seinen Füßen niedersänke.“
„Das lassen Sie lieber, mein Freund“, verwies Sam, „kein Wort mehr davon.“
Hiob Trotter sah verwundert auf.
„Kein Wort mehr darüber, junger Mann, sage ich; kein anderer dient bei ihm als wie ich. Und weil wir gerade dabei sind, will ich Ihnen noch in ein Geheimnis einweihen“, fügte Sam hinzu und bezahlte das Bier. „Ich habe niemals gehört oder in Geschichtsbücher gelesen oder auf Gemälde was gesehen von irgendein Engel in eng anliegende Hosen und Gamaschen; nich mal in Komödien, soviel ich mir erinnere – allerdings mag das aus andere Gründe unterlassen worden sein; aber merken Sie es sich, Hiob Trotter, er is trotz alledem ein voll ausgebrüteter Engel, und ich möchte den Mann sehen, wo mir wagen würde zu erzählen, daß er einen besseren kennt.“
Sie fanden Mr. Pickwick auf dem Ballspielplatz, in einem sehr ernsthaften Gespräch mit Jingle begriffen. Er würdigte die buntscheckigen, hier versammelten Gruppen keines Blickes, obschon sie es wohl verdient hätten, daß man sie wenigstens aus Neugierde etwas näher ins Auge gefaßt hätte.
„Nun gut“, sagte er, als Sam und sein Begleiter näher kamen. „Wir werden sehen, wie es mit Ihrer Gesundheit wird, und wollen die Sache inzwischen genauer überlegen. Machen Sie mir einen Überschlag, sobald Sie sich stark genug fühlen; ich will dann darüber nachdenken und weiteres mit Ihnen besprechen. Jetzt gehen Sie auf Ihr Zimmer; Sie sind müde und dürfen nicht zu lange draußen bleiben.“
Ohne ein Wort zu sprechen, ohne einen Funken von seiner alten Lebhaftigkeit oder auch nur von der trübseligen Heiterkeit, die er angenommen hatte, als Mr. Pickwick zum erstenmal in seinem Elend auf ihn gestoßen, verbeugte sich Mr. Alfred Jingle tief, winkte Hiob, ihm noch nicht zu folgen, und schlich sich langsam hinweg.
„Eine kuriose Szene das, nicht wahr, Sam?“ sagte Mr. Pickwick, vergnügt um sich blickend.
„Ja, sehr kurios, Sir“, erwiderte Sam. „Die Wunder hören ja gar nich auf“, fügte er im Selbstgespräch hinzu. „Müßte mich sehr irren, wenn dieser Jingle da sich nich‘ mit dem Wasserkarrengeschäft abgibt.“
Überall schlenderten oder saßen in allen möglichen Stellungen gedankenlosen Nichtstuns eine Menge Schuldner herum, die größtenteils im Gefängnis den Tag zu erwarten hatten, wo ihr Prozeß vor dem Insolvenzgericht verhandelt werden sollte, während andere auf verschiedene Termine verwiesen waren. Einige waren schäbig gekleidet, andre herausgeputzt, die meisten schmutzig und nur wenige reinlich; alle aber hungerten, gingen müßig und schlichen ohne Zweck und Ziel herum wie die Tiere in einer Menagerie.
Schmutzige Weibsbilder mit abgetretenen Schuhen schlapften hin und wieder nach der Küche, die sich in einem Winkel des Ballplatzes befand, Kinder schrien, balgten sich herum und spielten miteinander; das Gerassel fallender Kegel, das Geschrei der Spielenden vermischten sich unaufhörlich mit diesen und hundert andern Tönen – nichts als Getöse und Getümmel ringsumher. Stille herrschte nur in dem kleinen, elenden Schuppen wenige Schritte davon, in dem starr und fahl der Leib des in der vorigen Nacht gestorbenen Kanzleigefangenen lag und das Possenspiel einer Totenschau erwartete. – Der Leib! So lautet der gerichtlich-gesetzliche Ausdruck für die ruhelos wirbelnde Masse von Sorgen und Ängsten, Gemütsbewegungen, Hoffnungen und Kümmernissen, die den lebenden Menschen ausmachen. Dem Gesetz war sein Leib verfallen, und da lag er, ins Grabtuch gehüllt, ein schauderhafter Zeuge für zärtlich-mitleidsvolle Fürsorge.
„Möchten Sie einen Pfeif-Laden sehen, Sir?“ fragte Hiob Trotter.
„Was meinen Sie damit?“ entgegnete Mr. Pickwick.
„Na, ’nen Feifladen, Sir“, warf Mr. Weller ein.
„Was ist denn das, Sam? Eine Vogelhandlung?“ erkundigte sich Mr. Pickwick.
„Himmel! Nein, Sir“, belehrte ihn Hiob und erklärte weiter, daß es bei schwerer Strafe verboten war, Branntwein in die Schuldgefängnisse einzuführen; bei der allgemeinen Beliebtheit, deren sich dieser Herzenstrost jedoch bei den inhaftierten Damen und Herren erfreute, hätte ein weitblickender Schließer den Einfall gehabt, bestimmten Gefangenen gegen entsprechende Beweise ihrer Erkenntlichkeit zu gestatten, diese beliebte Ware zu verhökern. „Dieses Geschäftsgebaren hat sich, wie Sie sehen, Sir, nach und nach in allen Schuldgefängnissen durchgesetzt“, schloß Mr. Trotter.
„Und das is ebend der große Vorteil dabei“, bemerkte Sam, „daß die Schließer jeden am Kragen packen, der wo dieses Laster frönen tut, bloß die nich, wo bar bezahlen, und denn kommt es in die Zeitung, wie wachsam sie sind. Auf die Art klatschen sie zwei Fliegen mit einer Klappe: sie scheuchen andere Leute vom Geschäft weg und verbessern ihr eigenes Ansehen.“
„Nun ja; aber werden denn diese Räumlichkeiten niemals revidiert?“ erkundigte sich Mr. Pickwick.
„Aber natürlich werden sie, Sir“, erwiderte Sam, „aber die Bullen wissen es doch vorher, und denn geben sie den Pfeifern einen Wink, na, und denn können Sie mal nachsehen; da is denn was gepfiffen drauf.“
Unterdessen hatte Hiob an eine Tür geklopft, die von einem Herrn mit ungekämmtem Haar geöffnet und nach ihrem Eintritt verriegelt worden war. Sodann grinsten Hiob und Sam einträchtig, worauf Mr. Pickwick in der Annahme, man erwarte das auch von ihm, gleichfalls ein Lächeln aufsetzte.
Der Herr mit dem strubbligen Kopf schien mit diesem zarten geschäftlichen Hinweis völlig zufrieden zu sein, denn er praktizierte eine flache Kruke unter seiner Lagerstatt hervor und füllte drei Gläser mit Gin.
„Noch einen?“ fragte der Pfeifer.
„Keinen mehr“, antwortete Trotter.
Mr. Pickwick bezahlte, die Tür wurde wieder geöffnet, und sie traten hinaus. Im gleichen Augenblick kam zufällig Mr. Roker vorbei. Der ungekämmte Herr gönnte ihm ein wohlwollendes Kopfnicken.
Mr. Pickwick durchwanderte noch sämtliche Galerien, ging alle Treppen auf und ab und machte noch einmal die Runde um den ganzen Hofraum. Die große Masse der Bevölkerung des Gefängnisses schien dem Schlage der Mivins oder Smangle, des Kaplans, des Metzgers oder des Roßkamms anzugehören. In allen Winkeln, den besten wie den schlechtesten, derselbe Schmutz, dasselbe Getümmel und Getöse, dieselben charakteristischen Merkmale. Auf dem ganzen Platz ein ruhelos-verworrenes Treiben; die Menschen drängten und wälzten sich hin und her, gleich den Schatten in einem unbehaglichen Traum.
„Jetzt habe ich genug gesehen“, seufzte Mr. Pickwick, als er sich in seinem kleinen Zimmer in einen Stuhl warf. „Der Kopf tut mir weh von all diesen Szenen, und das Herz nicht minder. Ich will hinfort auf meinem eigenen Stübchen Gefangener bleiben.“
Und standhaft beharrte er auf diesem Beschlüsse. Drei lange Monate blieb er den ganzen Tag eingeschlossen und stahl sich bloß bei Nacht, wenn der größere Teil seiner Mitgefangenen im Bett war oder auf seinen Zimmern zechte, hinaus, um frische Luft zu schöpfen. Seine Gesundheit begann infolge dieses selbstauferlegten strengen Gewahrsams sichtbar zu leiden; allein weder die vielfach wiederholten Bitten Perkers und seiner Freunde noch die weit häufigeren Warnungen und Mahnungen Mr. Samuel Wellers konnten ihn dazu bringen, auch nur ein Jota an seinem unbeugsamen Entschluß zu ändern.