Das Schloß Bragelonne

D’Artagnan hatte während dieser ganzen Scene mit aufgesperrten Augen und offenem Munde dagestanden; alles entsprach seinen Voraussetzungen so wenig, daß er sich von seinem Erstaunen gar nicht erholen konnte.

Athos reichte ihm den Arm und führte ihn in den Garten.

Während man uns ein Abendessen bereitet, sagte er lächelnd, wird es Euch, lieber Freund, gewiß nicht unangenehm sein, ein wenig Licht über dieses ganze Geheimnis zu bekommen, das Euch in Träume versenkt?

Allerdings, Herr Graf, erwiderte d’Artagnan, der fühlte, wie Athos allmählich die ungeheure aristokratische Überlegenheit wieder über ihn gewann, die er immer gehabt hatte.

Athos schaute ihn mit seinem sanften Lächeln an.

Vor allem, mein lieber d’Artagnan, sprach er, gibt es hier keinen Herrn Grafen. Wenn ich Euch Chevalier nannte, so geschah es, weil ich Euch meinen Gästen vorstellte und damit sie wußten, wer Ihr seid, aber für Euch bin ich hoffentlich stets Athos, Euer Gefährte, Euer Freund. Wir wollen zu unseren Gewohnheiten zurückkehren und vor allen Dingen offenherzig sein. Alles setzt Euch hier in Erstaunen? – In ein tiefes Erstaunen. – Aber worüber Ihr Euch am meisten wundert, sagte Athos lächelnd, das bin ich, gesteht es nur. – Ich gestehe es. – Ich bin noch jung, nicht wahr, trotz meiner neunundvierzig Jahre? Ich bin noch zu erkennen. – Ganz im Gegenteil, erwiderte d’Artagnan, bereit, die von ihm verlangte Offenherzigkeit zu übertreiben. Ihr seid es nicht mehr. – Ah! ich begreife, sprach Athos leicht errötend, alles hat sein Ende, d’Artagnan, die Narrheit, wie jede andere Sache. – Sodann ist eine Veränderung in Euren Vermögensumständen vorgegangen. Ihr seid herrlich quartiert; dieses Haus gehört Euch, wie ich voraussetze. – Ja, das ist das kleine Gut, Ihr wißt, mein Freund, von dem ich, als ich den Dienst verließ, Euch sagte, daß ich es geerbt hatte. – Ihr habt einen Park, Pferde, Equipagen.

Athos lächelte und erwiderte:

Der Park hat zwanzig Morgen, wozu der Küchengarten und die Gesindewohnungen gehören. Die Zahl meiner Pferde beläuft sich auf zwei, wobei ich, wohlverstanden, den Stumpfohr meines Bedienten nicht rechne. Meine Equipagen beschränken sich auf vier Leithunde, zwei Windhunde und einen Hühnerhund. Und dieser ganze Meuteluxus ist nicht einmal für mich, fügte Athos lächelnd bei.

Ich begreife, versetzte d’Artagnan, er ist für den jungen Menschen, für Raoul.

Und d’Artagnan schaute Athos mit unwillkürlichem Lächeln an.

Ihr habt es erraten, mein Freund, sprach Athos.

Und der junge Mensch ist Euer Tischgenosse, Euer Taufpate, vielleicht Euer Vetter! Ah! wie habt Ihr Euch doch verändert, mein lieber Athos. – Dieser junge Mensch, erwiderte Athos ruhig, dieser junge Mensch ist eine Waise, d’Artagnan, den seine Mutter bei einem armen Landpfarrer zurückgelassen hatte; ich habe ihn aufgezogen. – Der Knabe muß sehr anhänglich an Euch sein? – Ich glaube, er liebt mich, als wäre ich sein Vater. – Er ist sehr dankbar? – Oh! was die Dankbarkeit betrifft, versetzte Athos, so ist sie gegenseitig, ich bin ihm ebensoviel schuldig, als er mir, und, ich sage es ihm nicht, aber Euch, ich bin ihm noch verpflichtet. – Wie dies? fragte der Musketier erstaunt. – Ei, mein Gott, ja! Er hat in mir die Veränderung hervorgebracht, die Ihr wahrnehmt. Ich verdorrte wie ein armer, alter Baum, der durch kein Band mehr mit der Erde zusammenhängt; nur eine tiefe Neigung konnte mich wieder im Leben Wurzel schlagen lassen. Eine Geliebte? ich war zu alt. Freunde? ich hatte Euch nicht mehr bei mir. Dieser Knabe ließ mich nun alles wiederfinden, was ich verloren hatte; ich hatte nicht mehr den Mut, für mich zu leben, ich lebte für ihn. Gute Lehren sind viel für ein Kind; das Beispiel ist noch mehr wert. Ich gab ihm das Beispiel, d’Artagnan. Die Fehler, welche ich hatte, legte ich ab, die Tugenden, die ich nicht hatte, gab ich mir den Anschein zu besitzen. Ich glaube nicht, daß ich mich täusche, d’Artagnan, Raoul ist bestimmt, ein so vollkommener Edelmann zu sein, wie unser verarmtes Zeitalter nur immer zu liefern vermag.

D’Artagnan schaute Athos mit steigender Bewunderung an; sie wandelten unter einer schattigen, kühlen Allee, durch die einige Strahlen der untergehenden Sonne schräg hereinfielen. Einer dieser goldenen Strahlen beleuchtete Athos, und seine Augen schienen die abendliche Glut, welche sie beschien, wieder auszustrahlen.

Der Gedanke an Mylady regte sich in d’Artagnan.

Und Ihr seid glücklich? sagte er zu seinem Freunde.

Das scharfe Auge von Athos drang bis in die Tiefe von d’Artagnans Herzen und schien darin seine Gedanken zu lesen.

So glücklich, als es einem Geschöpfe Gottes auf Erden zu sein gestattet ist. Aber vollendet Euren Gedanken, d’Artagnan, Ihr habt ihn mir nicht ganz gesagt. – Ihr seid furchtbar, Athos, und man kann Euch nichts verbergen. Nun wohl, ja, ich wollte Euch fragen, ob Ihr nicht zuweilen plötzliche Beängstigungen habt, die … – Gewissensbissen gleichen? fuhr Athos fort. Ich vollende Euern Satz, mein Freund. Ja oder nein, ich habe keine Gewissensbisse, weil jene Frau nach meiner festen Überzeugung die Strafe verdiente, die sie ausstehen mußte. Ich habe keine Gewissensbisse, denn wenn wir sie am Leben gelassen hätten, so würde sie ohne Zweifel ihr Zerstörungswerk fortgesetzt haben; damit ist aber nicht gesagt, mein Freund, daß wir zu unserer Tat berechtigt waren. Vielleicht heischt jedes vergossene Blut eine Sühnung; sie hat die ihrige vollendet, möglicherweise kommt die Reihe auch noch an uns. – Zuweilen dachte ich wie Ihr, Athos. – Diese Frau hat einen Sohn? – Ja. – Habt Ihr von ihm sprechen hören? – Nie. – Er muß dreiundzwanzig Jahre alt sein, murmelte Athos. Ich denke oft an diesen jungen Mann, d’Artagnan. – Das ist sonderbar. Ich hatte ihn vergessen.

Athos lächelte schwermütig.

Und Lord Winter, habt Ihr Nachricht von ihm? – Ich weiß, daß er bei Karl I. sehr in Gunst war. – Er wird seinem Glücke gefolgt sein, und dieses ist zur Zeit schlecht. Halt, d’Artagnan, fuhr Athos fort; hier trifft wieder zu, was ich Euch soeben sagte: er ließ das Blut Straffords vergießen; Blut heischt Blut. Und die Königin? – Welche Königin? – Henriette von England, die Tochter Heinrichs IV.? – Sie ist im Louvre, wie Ihr wißt. – Ja, wo es ihr an allem gebricht, nicht wahr? Während der großen Kälte in diesem Winter war ihre kranke Tochter, wie man mir gesagt hat, in Ermangelung von Holz genötigt, im Bette liegen zu bleiben. Begreift Ihr das? fügte Athos, die Achseln zuckend, bei. Die Tochter Heinrichs IV. zähneklappernd, weil es ihr an Holz gebricht! Warum hat sie nicht den ersten besten von uns um Gastfreundschaft gebeten, statt Mazarin darum zu bitten? Es würde ihr an nichts gefehlt haben. – Kennt Ihr sie denn, Athos? – Nein, meine Mutter hat sie als Kind gesehen. Habe ich Euch nie gesagt, daß meine Mutter Ehrendame der Maria von Medici gewesen ist? – Nie. Ihr sprecht von dergleichen Dingen nicht. – Ah! mein Gott, doch, wie Ihr seht, versetzte Athos, aber es muß sich eine Gelegenheit dazu bieten. – Porthos würde nicht so geduldig warten, sagte d’Artagnan lächelnd. – Jeder hat seine eigene Natur, mein lieber d’Artagnan. Porthos besitzt trotz einiger Eitelkeit vortreffliche Eigenschaften. Habt Ihr ihn wiedergesehen? – Ich verließ ihn vor fünf Tagen, antwortete d’Artagnan.

Und nun erzählte er mit dem Erguß seiner gascognischen Laune, wie herrlich und in Freuden Porthos in seinem Schlosse Pierrefonds lebe.

Ich bewundere, sprach Athos, durch des Freundes Lebhaftigkeit in die alte Zeit zurückversetzt, ich bewundere, daß wir durch Zufall eine Gemeinschaft gebildet haben, welche trotz zwanzigjähriger Trennung noch so eng zusammenhält. Die Freundschaft schlägt tiefe Wurzeln in redlichen Herzen, d’Artagnan; glaubt mir, nur schlechte Menschen leugnen die Freundschaft, weil sie sie nicht kennen. Und Aramis?

Ich habe ihn auch gesehen, antwortete d’Artagnan, aber er ist mir sehr kalt vorgekommen.

Ah! Ihr habt ihn auch gesehen, versetzte Athos, indem er d’Artagnan forschend ansah. Ihr macht ja eine wahre Pilgerfahrt nach dem Tempel der Freundschaft.

Allerdings, erwiderte d’Artagnan verlegen.

Aramis, fuhr Athos fort, ist, wie Ihr wißt, von Natur kalt; dann ist er immer in Weiberintrigen verwickelt.

Ich glaube, gerade in diesem Augenblick in eine sehr ausgedehnte, sprach d’Artagnan.

Athos gab dem Gespräch geflissentlich eine andere Richtung.

Ihr seht, sagte er, indem er d’Artagnan darauf aufmerksam machte, daß sie nach einem Spaziergang von einer Stunde zu dem Schlosse zurückgekommen waren, wir haben die Runde auf allen meinen Besitzungen gemacht.

Alles ist hier reizend, und besonders hat alles ein adeliges Aussehen, erwiderte d’Artagnan.

In diesem Augenblick hörte man den Tritt eines Pferdes.

Raoul kehrt zurück, sprach Athos, wir bekommen Nachricht von der armen Kleinen.

Der junge Mensch erschien wirklich am Gitter und ritt, ganz mit Staub bedeckt, in den Hof ein, sprang dann von seinem Pferd, das er einem Knecht überließ, und begrüßte den Grafen und d’Artagnan mit ehrfurchtsvoller Höflichkeit.

Dieser Herr, sagte Athos, seine Hand auf d’Artagnans Schulter legend, dieser Herr ist der Chevalier d’Artagnan, von dem Ihr mich so oft sprechen hörtet, Raoul.

Gnädiger Herr, sprach Raoul, sich abermals und noch tiefer verbeugend, der Herr Graf hat mir Euern Namen als Beispiel genannt, so oft er einen unerschrockenen, hochherzigen Edelmann bezeichnen wollte.

Dieses kleine Kompliment machte einen angenehmen Eindruck auf d’Artagnan, sein Herz geriet in eine sanfte Bewegung; er reichte Raoul eine Hand und sprach: Alle Lobeserhebungen, die man mir spenden mag, fallen auf den Herrn Grafen zurück, denn ihm verdanke ich meine Erziehung in allen Dingen, und es ist nicht seine Schuld, wenn der Zögling sie schlecht benutzte. Aber ich bin überzeugt, es wird ihm bei Euch besser gelingen. Eure Erscheinung gefällt mir, Raoul, und Eure Höflichkeit hat mich gerührt.

Athos war unbeschreiblich entzückt; er schaute d’Artagnan dankbar an und heftete dann auf Raoul ein befriedigtes Lächeln.

Nun, sagte d’Artagnan zu sich selbst, denn das stumme Mienenspiel war ihm nicht entgangen, nun bin ich meiner Sache gewiß.

Laß hören, sprach Athos, der Unfall wird hoffentlich keine Folge haben?

Man weiß es noch nicht, Herr; der Arzt konnte wegen der Geschwulst nichts sagen; er fürchtet jedoch, es werde ein Nerv verletzt sein.

Ihr seid nicht länger bei Frau von Saint-Remy geblieben?

Ich fürchtete, zur Stunde Eures Abendessens nicht zurück zu sein, erwiderte Raoul, und Euch folglich warten zu lassen.

In diesem Augenblick meldete ein kleiner Junge, halb Bauer, halb Lakai, das Abendbrot sei aufgetragen.

Athos führte seinen Gast in einen sehr einfachen Speisesaal, dessen Fenster jedoch auf der einen Seite nach dem Garten, auf der andern nach einem Gewächshause gingen, in dem herrliche Pflanzen blühten.

D’Artagnan warf einen Blick auf den Tisch; das Geschirr war prachtvoll; man sah, es war von dem alten Silberzeug der Familie.

Das Mahl war sehr belebt. Athos und d’Artagnan tauschten alte Erinnerungen, und Raoul hörte, bewundernd und mit allen Fibern nach gleichen Abenteuern und gleichem Ruhme lechzend, von den Heldentaten der Freunde in der Bastei von Saint-Gervais und den bewundernswerten Duellen d’Artagnans.

Der Jüngling hätte gerne das Gespräch die ganze Nacht hindurch ausgedehnt, aber Athos bemerkte, ihr Gast müsse müde sein und der Ruhe bedürfen.

D’Artagnan legte sich zu Bette, weniger um zu schlafen, als um allein zu sein und an alles zu denken, was er an diesem Abend gesehen und gehört hatte. Da er gutmütiger Natur war und gleich im Anfang zu Athos eine instinktartige Zuneigung gefaßt hatte, welche in aufrichtige Freundschaft übergegangen war, so war er entzückt, einen Mann von glänzendem Geist und ungeschwächter Körperkraft statt des Trunkenbolds zu finden, den er zu sehen erwartet hatte. Er unterwarf sich sogar ohne alles Sträuben der beständigen Überlegenheit von Athos, und statt Eifersucht und Ärger darüber zu fühlen, wie dies bei einer minder edelmütigen Natur der Fall gewesen sein dürfte, hegte er eine aufrichtige Freude und die günstigsten Hoffnungen für sein Unternehmen.

Indessen kam es ihm vor, als fände er Athos nicht offenherzig und klar über alle Punkte. Wer war der junge Mensch, den er adoptiert zu haben behauptete, und der eine so große Ähnlichkeit mit ihm hatte? Was bedeutete diese Rückkehr zum geselligen Leben und diese übertriebene Mäßigkeit, die er bei Tisch wahrgenommen hatte? Eine scheinbar geringfügige Sache, die Abwesenheit Grimauds, von dem sich Athos ehedem nicht trennen konnte, und dessen Name trotz wiederholter Anspielungen nicht einmal genannt worden war … alles dies beunruhigte d’Artagnan. Er besaß also das Vertrauen seines Freundes nicht mehr, oder Athos war durch eine unsichtbare Kette gebunden oder gar zum voraus gegen den Besuch, den er ihm machte, eingenommen.

Unwillkürlich dachte er an Rochefort und an das, was ihm dieser in Notre-Dame gesagt hatte. Sollte Rochefort ihm bei Athos zuvorgekommen sein?

D’Artagnan hatte keine Zeit mit langen Studien zu verlieren. Er beschloß auch, schon am andern Tag eine Erklärung herbeizuführen. Er entwarf seinen Angriffsplan, und obgleich er wußte, daß Athos ein hartnäckiger Gegner war, so stellte er doch den entscheidenden Vorstoß auf den folgenden Tag nach dem Frühstück fest.

Der Abbé d’Herblay

Am Ende des Dorfes wandte sich Planchet links und hielt unter dem erleuchteten Fenster. Aramis sprang zu Boden und schlug dreimal in seine Hände. Sogleich öffnete sich das Fenster, und eine Strickleiter fiel herab.

Mein Lieber, sagte Aramis, wenn Ihr hinaufsteigen wollt, so wird es mich sehr freuen, Euch zu empfangen.

Ah, so tritt man bei Euch ein? sprach d’Artagnan.

Wenn es neun Uhr vorüber ist, muß man es bei Gott so machen, erwiderte Aramis. Die Klosterordnung ist äußerst streng. Aber Ihr steigt nicht hinauf?

Steigt voraus, ich folge Euch.

Wie der selige Kardinal zu dem seligen König sagte: Um Euch den Weg zu zeigen, Sire.

Und Aramis stieg leicht die Leiter hinauf und hatte in einem Augenblick das Fenster erreicht.

D’Artagnan folgte ihm, aber langsamer; er war offenbar mit solchen Wegen weniger vertraut als sein Freund.

Gnädiger Herr, rief Planchet, als er sah, daß d’Artagnan auf dem Punkte war, den Aufstieg zu vollenden, das geht gut für Herrn Aramis, das geht auch gut für Euch, es ginge wohl auch für mich, aber die Pferde können nicht wohl an der Strickleiter hinaufsteigen.

Führt sie unter jenen Schuppen, mein Freund, sagte Aramis und deutete auf eine Hütte, welche in der Ebene sichtbar war. Ihr findet dort Stroh und Hafer für sie.

Aber für mich?

Ihr kommt unter dieses Fenster, klatscht dreimal in Eure Hände, und wir lassen Euch Lebensmittel hinab. Mord und Tod! Seid unbesorgt, man verhungert hier nicht.

Aramis zog die Leiter zurück und schloß das Fenster.

D’Artagnan betrachtete das Zimmer. Nie hatte er eine zugleich kriegerischere und elegantere Stube gesehen. In jeder Ecke des Zimmers waren Waffentrophäen, welche dem Blicke und der Hand Schwerter aller Art boten, und vier große Gemälde stellten in ihren Schlachtrüstungen den Kardinal von Lothringen, den Kardinal von Richelieu, den Kardinal von Lavalette und den Erzbischof von Bordeaux dar. Die Tapeten waren von Damast, die Teppiche kamen aus Alençon, und das Bett glich mehr der Lagerstätte einer Favoritin, als der eines Mannes, der das Gelübde getan hatte, den Himmel durch Geißelung und Enthaltsamkeit zu gewinnen.

Ihr schaut mein Kämmerchen an? sagte Aramis. Ah, mein Lieber, entschuldigt, ich wohne wie ein Karthäuser. Aber was sucht Ihr denn mit Euren Augen? – Ich suche die Person, die Euch die Leiter zugeworfen hat; ich sehe niemand, und sie kann doch nicht ganz allein herabgekommen sein. – Nein, nein, Bazin hat es getan. – Ah, ah! rief d’Artagnan. – Mein Bazin ist ein guter, wohlabgerichteter Bursche, fuhr Aramis fort; da er sah, daß ich nicht allein kam, zog er sich aus Diskretion zurück. Bazin, mein Freund, komm her!

Die Türe öffnete sich, und Bazin erschien. Als er aber d’Artagnan gewahr wurde, gab er einen Ausruf von sich, der einem Schrei der Verzweiflung glich.

Mein lieber Bazin, sprach d’Artagnan, ich sehe mit Vergnügen, mit welcher bewunderungswürdigen Haltung Ihr selbst in der Kirche lügt.

Gnädiger Herr, erwiderte Bazin, ich habe von den würdigen Vätern Jesu gelernt, daß das Lügen erlaubt sei, wenn man in einer guten Absicht lüge.

Schon gut, Bazin, d’Artagnan hat großen Hunger, und ich auch. Trage uns ein Abendbrot auf, so gut du immer kannst, und bring uns vor allen Dingen vom besten Wein, der sich findet.

Bazin verbeugte sich zum Zeichen des Gehorsams, stieß einen schweren Seufzer aus und entfernte sich.

Jetzt, da wir allein sind, mein lieber Aramis, sagte d’Artagnan, seine Augen vom Zimmer auf den Eigentümer wendend, sagt mir, wo zum Teufel Ihr herkamt, als Ihr hinter Planchet auf sein Pferd spranget?

Ei, Ihr seht wohl, vom Himmel herab! erwiderte Aramis.

Vom Himmel? versetzte d’Artagnan, den Kopf schüttelnd. Ihr scheint ebensowenig von dort zu kommen, als dahin zu gehen.

Nun, sagte Aramis, wenn ich nicht vom Himmel kam, so kam ich wenigstens aus dem Paradies, was beinahe dasselbe besagen will.

Das Paradies, über dessen Lage sich die Gelehrten schon so viel gestritten haben, ist also in Noisy-le-Sec auf der Stelle, wo das Schloß des Herrn Erzbischofs von Paris liegt. Man verläßt es nicht durch die Türe, sondern durch das Fenster. Man steigt nicht auf den Marmorstufen eines Säulenganges, sondern an den Ästen einer Linde herab, und der Engel mit dem feurigen Schwerte, der es bewacht, hat ganz das Aussehen, als hätte er seinen himmlischen Namen Gabriel in den irdischeren des Prinzen von Marsillac verwandelt.

Aramis brach in ein schallendes Gelächter aus.

Ihr seid immer noch der lustige Kamerad, mein Lieber, sprach er, und Eure vortreffliche gascognische Laune hat Euch noch nicht verlassen. Es ist wohl etwas an dem, was Ihr da sagt. Nur wollt nicht glauben, ich sei in Frau von Longueville verliebt.

Den Teufel, ich werde mich wohl hüten, sagte d’Artagnan. Nachdem Ihr so lange in Frau von Chevreuse verliebt gewesen seid, werdet Ihr nicht versucht sein. Euer Herz ihrer tödlichsten Feindin darzubringen.

Ja, das ist wahr, sagte Aramis mit einer treuherzigen Miene. Ja, ich habe diese arme Herzogin einst sehr geliebt, und ich muß ihr die Gerechtigkeit widerfahren lassen, sie ist uns äußerst nützlich gewesen. Aber was wollt Ihr? Sie wurde genötigt, Frankreich zu verlassen. Es war ein schlimmer Gegner, dieser verdammte Kardinal, fuhr Aramis fort und warf einen Blick auf das Bild des ehemaligen Ministers. Er hatte den Befehl gegeben, sie zu verhaften und nach dem Schlosse Loches zu führen. Aber sie flüchtete sich, als Mann verkleidet, mit ihrer Kammerfrau, der armen Ketty. Wie ich sagen hörte, ist ihr in irgend einem Dorf ein seltsames Abenteuer mit irgend einem Geistlichen begegnet, von dem sie Gastfreundschaft forderte, und der, da er nur ein Zimmer hatte und sie für einen Kavalier hielt, ihr das Anerbieten machte, dieses Zimmer mit ihr zu teilen. Sie trug mit unglaublicher Gewandtheit Männerkleider, diese arme Marie. Ich kenne nur eine einzige Frau, die sie ebensogut trägt. Man hat auch einen Vers auf sie gemacht.

Und Aramis stimmte das Lied an:

»Labboisière, sagt mir doch,
Geh‘ ich nicht wie ein Mann?

Bravo! rief d’Artagnan, Ihr singt immer noch vortrefflich, mein Lieber, und ich sehe, daß die Messe Eure Stimme nicht verdorben hat.

Mein Lieber, Ihr begreift wohl, zur Zeit, wo ich Musketier war, bezog ich die Wache so wenig, als ich nur konnte; heute, wo ich Abbé bin, lese ich so wenig Messen, als ich kann. Doch auf die arme Herzogin zurückzukommen …

Auf welche? Auf die Herzogin von Chevreuse oder auf die Herzogin von Longueville?

Mein Lieber, ich habe Euch bereits gesagt, daß zwischen mir und der Herzogin von Longueville kein Verhältnis stattfindet. Koketterien vielleicht, nicht mehr. Habt Ihr sie seit ihrer Rückkehr von Brüssel nach dem Tode des Königs gesehen?

Ja, gewiß, und sie war noch sehr schön.

Allerdings, sagte Aramis, ich habe sie zu dieser Zeit auch ein wenig gesehen und ihr vortreffliche Ratschläge gegeben. Ich schwor bei meinem Leben, Mazarin sei der Geliebte der Königin. Sie wollte mir nicht glauben und sagte, sie kenne Anna von Österreich, sie sei zu stolz, um einen solchen Schurken zu lieben. Mittlerweile stürzte sie sich in die Kabalen des Herzogs von Beaufort, der Schurke ließ den Herzog verhaften und verbannte Frau von Chevreuse.

Ihr wißt, sagte d’Artagnan, daß sie die Erlaubnis erhalten hat, zurückzukehren?

Ja und auch, daß sie zurückgekommen ist … Sie wird abermals dumme Streiche machen.

Oh, diesmal wird sie wohl Euern Rat befolgen.

Diesmal habe ich sie nicht wieder gesehen; sie hat sich gewaltig verändert.

Es ist nicht wie bei Euch, mein lieber Aramis, denn Ihr seid immer derselbe. Ihr habt immer noch Eure schönen schwarzen Haare, Eure zierliche Taille, Eure Frauenhände, die bewundernswürdige Prälatenhände geworden sind.

Ja, sagte Aramis, das ist wahr, ich pflege mich. Aber was macht denn das Vieh von Bazin? Bazin, tummle dich doch! Wir werden wütend vor Hunger und Durst.

Bazin, der in diesem Augenblick eintrat, hob seine Hände, von denen jede eine Flasche trug, zum Himmel empor.

Endlich, sagte Aramis, sind wir einmal fertig?

Ja, gnädiger Herr, sogleich, sagte Bazin. Aber ich brauchte Zeit um alle diese…

Weil du immer glaubst, du habest deine Mesnerkutte auf dem Rücken, unterbrach ihn Aramis, und weil du dein ganzes Leben damit hinbringst, dein Brevier zu lesen. Aber ich sage dir, daß ich, wenn du bei deinem fortwährenden Putzen der Gegenstände in den Kapellen meinen Degen zu putzen verlernst, aus allen deinen geweihten Bildern ein großes Feuer mache und dich darauf rösten lasse.

Voll frommen Ärgers machte Bazin das Zeichen des Kreuzes mit der Flasche, die er in der Hand hielt. Mehr als je erstaunt über den Ton und die Manieren des Abbé d’Herblay, die so sehr mit denen des Musketiers Aramis kontrastierten, blieb d’Artagnan mit aufgesperrten Augen seinem Freunde gegenüber sitzen.

Bazin bedeckte rasch den Tisch mit einem Damasttuch und legte darauf so viele vergoldete, duftende und leckere Dinge, daß d’Artagnan ganz verblüfft war.

Ihr wartet auf jemand? fragte der Offizier. – Ah! ich habe immer einigen Vorrat. Dann wußte ich auch, daß Ihr mich aufsuchen würdet. – Von wem? – Von Meister Bazin, der Euch für den Teufel hielt, mein Lieber, und herbeilief, um mich von der Gefahr zu benachrichtigen, die meine Seele bedrohte, wenn ich so schlechte Gesellschaft, wie die eines Musketieroffiziers, sehen würde. – Ach, gnädiger Herr! rief Bazin mit gefalteten Händen und flehender Miene. – Still, keine Heuchelei, du weißt, daß ich sie nicht liebe. Du wirst besser daran tun, ein Fenster zu öffnen und ein Brot, ein Huhn und eine Flasche Wein deinem Freunde Planchet hinabzulassen, der sich seit einer Stunde zu Tode klatscht.

Bazin gehorchte, band die drei genannten Gegenstände an einen Strick und ließ sie Planchet hinab, der sich ganz zufrieden unter seinen Schuppen zurückzog.

Nun wollen wir zu Nacht speisen, sagte Aramis.

Die zwei Freunde setzten sich zu Tische, und Aramis begann mit vollendeter gastronomischer Geschicklichkeit junge Feldhühner und Schinken zu zerlegen.

Teufel, sagte d’Artagnan, wie Ihr Euch füttert!

Ja, ziemlich gut. Ich habe für die Festtage Dispense von Rom, die mir der Herr Coadjutor meiner Gesundheit wegen verschafft hat. Dann habe ich zum Koch den Exkoch von Lafollone genommen, Ihr wißt, von dem ehemaligen Freunde des Kardinals, dem berühmten Gourmand, der statt jedes Gebetes nach seinem Mittagsmahle sagte: Mein Gott, habe die Gnade, mich gut verdauen zu lassen, was ich so gut gegessen habe. – Was ihn indessen nicht abhielt, an einer Unverdaulichkeit zu sterben. – Was wollt Ihr? versetzte Aramis mit ergebener Miene, man kann seinem Geschicke nicht entfliehen. – Mein Lieber, vergebt die Frage, die ich an Euch machen will, versetzte d’Artagnan. – Macht sie immerhin, Ihr wißt, unter Freunden gibt es keine Indiskretion. – Ihr seid also reich geworden? – Oh! mein Gott, nein; ich bringe es auf ein Dutzend tausend Livres jährlich, abgesehen von einer kleinen Rente von tausend Talern, die mir der Herr Prinz hat zukommen lassen. – Und womit verdient Ihr Euch diese 12000 Livres? sagte d’Artagnan. Mit Euren Gedichten? – Nein, ich habe auf die Poesie Verzicht geleistet, wenn ich nicht zuweilen einige Trinklieder, einige galante Sonette oder ein unschuldiges Epigramm dichte. Ich mache Predigten, mein Lieber. – Wie, Predigten? – Ja, aber vortreffliche Predigten, wenigstens scheint es so. – Die Ihr abhaltet? – Nein, die ich verkaufe. – An wen? – An die von meinen Kollegen, die durchaus große Redner sein wollen. – Wirklich! Und Ihr habt nicht nach diesem Ruhme gestrebt? – Allerdings, mein Lieber. Wer die Natur hat den Sieg davongetragen. Wenn ich auf der Kanzel stehe, und es schaut mich zufällig eine Frau an, so schaue ich sie auch an; wenn sie lächelt, lächle ich auch. Dann fange ich an zu faseln. Statt von den Qualen der Hölle zu reden, spreche ich von den Freuden des Paradieses. Dies ist mir eines Tages in der Kirche Saint Louis im Marais begegnet. Ein Kavalier lachte mir in das Gesicht, ich unterbrach mich, um ihm zu sagen, er sei ein alberner Tropf. Das Volk ging hinaus, um Steine zusammenzuraffen; aber während dieser Zeit bekehrte ich die Anwesenden, daß sie ihn nicht steinigten. Allerdings fand er sich am andern Tag bei mir ein; er glaubte, er habe es mit einem Abbé zu tun, wie alle andern Abbés sind. – Und was war der Erfolg seines Besuches? sprach d’Artagnan, sich vor Lachen die Hüften haltend. – Der Erfolg war, daß wir uns den andern Tag auf die Place Royale bestellten. Bei Gott, Ihr wißt davon. – Sollte ich zufällig gegen diesen Unverschämten Euch als Sekundant gedient haben? fragte d’Artagnan. – Allerdings, Ihr wißt, wie ich ihn zurichtete.

Bazin, fuhr er fort, du wirst jetzt so gut sein, uns spanischen Wein zu servieren und dich zurückzuziehen, denn mein Freund d’Artagnan hat mir etwas Geheimes mitzuteilen! Nicht wahr, d’Artagnan?

D’Artagnan machte mit dem Kopfe ein bejahendes Zeichen, und Bazin zog sich zurück, nachdem er den spanischen Wein auf den Tisch gestellt hatte.

Die zwei Hüte

Als sie allein waren, brach Aramis zuerst das Stillschweigen mit den Worten: Woran denkt Ihr, d’Artagnan, und welcher Gedanke macht Euch lächeln? – Ich denke, mein Lieber, daß Ihr Euch, solange Ihr Musketier waret, stets dem Abbé zuneigtet, und jetzt, da Ihr Abbé seid; Euch bedeutend dem Musketier zuzuneigen scheint. – Das ist wahr, sagte Aramis lachend. Der Mensch ist, wie Ihr wißt, ein seltsames Wesen und besteht ganz aus Kontrasten. Seitdem ich Abbé bin, denke ich nur an Schlachten. – Nun, mein lieber Aramis, Ihr fragtet mich, warum ich Euch aufgesucht habe? sagte d’Artagnan, den es drängte, zum Ziele zu kommen.– Nein, mein Lieber, ich fragte Euch nicht, sondern ich erwartete, daß Ihr es mir sagen würdet. – Wohl, ich suchte Euch auf, um Euch ganz einfach ein Mittel zu bieten, Herrn von Marsillac zu töten, wenn Ihr das wünscht, obgleich er ein Prinz ist. – Halt, halt, halt! sagte Aramis, das ist ein Gedanke. – Den ich Euch zu benutzen einlade, mein Lieber. Laßt hören, seid Ihr bei Eurer Pfründe von tausend Talern und bei den zwölftausend Livres, die Ihr Euch verdient, reich? Sprecht offenherzig. – Ich bin arm, wie Hiob, und wenn Ihr alle Taschen und Koffer durchwühlt, werdet Ihr, glaube ich, keine hundert Pistolen hier finden. – Pest! hundert Pistolen! sagte d’Artagnan ganz leise zu sich selbst. Er nennt das arm wie Hiob. Ich würde mich für so reich halten wie Krösus, wenn ich sie immer vor mir hätte. Dann ganz laut: Seid Ihr ehrgeizig? – Wie Enceladus. – Nun wohl, mein Freund, ich bringe Euch etwas, wodurch Ihr reich, mächtig werden und Euch die Freiheit verschaffen könnt, alles zu tun, was ihr wollt.

Ein Schatten zog über die Stirne von Aramis hin, so rasch wie die Wolke, die im August über den Getreidefeldern schwebt; aber so rasch er auch war, so entging er doch d’Artagnan nicht.

Sprecht, sagte Aramis. – Vorher noch eine Frage. Beschäftigt Ihr Euch mit Politik?

Ein Blitz zuckte aus Aramis‘ Augen, rasch wie der Schatten, der über seine Stirne gezogen war, aber nicht so rasch, daß d’Artagnan es nicht gesehen hätte.

Nein, antwortete Aramis. – Dann werden Euch alle Vorschläge genehm sein, da Ihr für den Augenblick keinen andern Herrn habt, als Gott, sagte lachend der Gascogner. – Das ist möglich. – Mein lieber Aramis, habt Ihr zuweilen an die schönen Tage unserer Jugend gedacht, die wir lachend, trinkend und uns schlagend zubrachten? – Ja, gewiß, ich habe sie mehr als einmal zurückgewünscht. Es war eine glückliche Zeit. – Ei, mein Lieber, diese schönen Tage können wiederkommen, diese glückliche Zeit kann zurückkehren. Ich habe den Auftrag erhalten, meine Kameraden aufzusuchen, und fing bei Euch an, der Ihr die Seele unserer Verbindung waret.

Aramis verbeugte sich mehr höflich, als freundlich.

Ich soll mich wieder in die Politik mengen? sprach er mit leiser Stimme und sich in seinen Stuhl zurücklehnend. Ah, lieber d’Artagnan, seht doch, wie regelmäßig und bequem ich lebe. Wir haben Undankbarkeit von den Großen erfahren, wie Ihr wißt. – Das ist wahr, erwiderte d’Artagnan; vielleicht bereuen die Großen ihren Undank. – In diesem Fall wäre es etwas anderes, sprach Aramis. Barmherzigkeit jedem Sünder. Überdies habt Ihr in einem Punkte recht; wenn uns die Lust erfaßte, uns in die Staatsangelegenheiten zu mischen, so wäre, glaube ich, der rechte Augenblick gekommen. – Woher wißt Ihr dies, da Ihr Euch nicht mit Politik beschäftigt? – Mein Gott, während ich mich mit Liebesgeschichten unterhielt, war ich mit einigen tätigen Freunden in Verbindung. So ist mir die politische Bewegung nicht ganz entgangen. – Ich vermutete es wohl, sagte d’Artagnan. – Übrigens, mein Lieber, nehmt das, was ich Euch sage, nur für Worte eines Klosterpfaffen, eines Mannes, der wie ein Echo spricht und nur wiederholt, was er hat sagen hören, versetzte Aramis. Ich habe nämlich gehört, der Kardinal Mazarin sei in diesem Augenblick sehr unruhig über den Gang der Dinge. Es scheint, man widmet seinen Befehlen nicht alle Achtung, die man einst für die Befehle unserer seligen Vogelscheuche hatte, deren Porträt Ihr hier seht; denn was man auch sagen mag, mein Lieber, man muß gestehen: Richelieu war ein großer Mann. – Ich widerspreche Euch in dieser Hinsicht nicht, versetzte d’Artagnan, er hat mich zum Leutnant gemacht. – Meine erste Meinung war ganz für den Kardinal gewesen: ich hatte mir gesagt, ein Minister sei nie geliebt, aber mit dem Genie, das man ihm nachsagt, müsse er am Ende über seine Feinde triumphieren. Dies war also meine erste Meinung. Ich habe mich aber in meiner Unwissenheit und Demut eines andern belehren lassen. Nun, mein lieber Freund …

Aramis machte eine Pause.

Was nun? fragte d’Artagnan. – Nun wohl, versetzte Aramis, Personen von verschiedenartigem Geschmack und Ehrgeiz antworteten mir, Herr von Mazarin sei kein Mann von Genie, wie ich es glaubte. – Bah! rief d’Artagnan. – Nein, er ist ein unbedeutender Bursche, der Bedienter des Kardinals Bentivoglio war und sich durch Intrigen hinaufgearbeitet hat, ein Emporkömmling, ein Mann ohne Namen, der in Frankreich nur das Los eines Parteigängers haben wird. Er wird viele Taler aufhäufen, die Einkünfte des Königs verschleudern, sich selbst alle Pensionen bezahlen, welche der verstorbene Kardinal Richelieu an alle Welt bezahlte, aber nie durch das Recht des Stärksten, des Größten oder des Geehrtesten herrschen. Es scheint überdies, dieser Minister ist nicht Edelmann von Manier und von Herz; er ist eine Art von Bouffon, von Pulcinell, von Pantalon. Kennt Ihr ihn? ich kenne ihn nicht. – Gewiß, sprach d’Artagnan, es ist etwas Wahres an dem, was Ihr sagt. Aber Ihr habt von ihm persönlich und nicht von seiner Partei und seinen Mitteln gesprochen. – Es ist wahr. Er hat die Königin für sich. – Das ist etwas, wie es mir scheint. – Aber er hat den König nicht für sich. – Ein Kind! – Das in vier Jahren volljährig sein wird. – Das ist nicht die Gegenwart. – Ja, aber es ist die Zukunft, und in der Gegenwart hat er weder das Parlament, noch das Volk, das heißt, er hat das Geld nicht für sich; er hat weder den Adel, noch die Prinzen, das heißt, er hat das Schwert nicht für sich.

D’Artagnan kratzte sich hinter dem Ohr; er mußte sich selbst zugestehen, daß dies nicht nur weitsichtig, sondern auch richtig gedacht war.

Seht, mein armer Freund, ob ich immer noch mit meinem gewöhnlichen Scharfsinn ausgerüstet bin. Es ist vielleicht unrecht von mir, so offenherzig mit Euch zu sprechen, denn es scheint mir, Ihr neigt Euch auf die Seite Mazarins. – Ich! rief d’Artagnan: ich! ganz und gar nicht! – Ihr spracht von einem Auftrage. – Sprach ich von einem Auftrage? Ich hatte unrecht. Nein, ich sagte mir, wie Ihr es tut: die Angelegenheiten verwickeln sich. Wohl, werfen wir die Feder in die Luft, gehen wir in der Richtung, in der der Wind sie fortträgt, fangen wir unser abenteuerliches Leben wieder an. Wir waren vier mutige Ritter, vier zärtlich vereinigte Herzen; vereinigen wir abermals, nicht unsere Herzen, denn diese waren nie getrennt, sondern unser Glück und unsern Mut. Die Gelegenheit ist günstig, um etwas Besseres zu erobern, als einen Diamanten.

Ihr hattet recht, d’Artagnan, immer recht, erwiderte Aramis; alle Welt bedarf gegenwärtig der Hilfstruppen; man hat mir Anträge gemacht, es verlautete etwas von unseren früheren Waffentaten, und ich muß Euch frei gestehen, daß mich der Koadjutor zum Sprechen brachte. – Herr von Conti, der Feind des Kardinals! rief d’Artagnan. – Nein, der Freund des Königs, versteht Ihr! – Der König hält es mit Herrn von Mazarin, mein Lieber. – Der Tat, nicht dem Willen nach, dem Scheine, nicht dem Herzen nach, und das ist gerade die Falle, welche die Feinde des Königs dem armen Kinde stellen. – Was Ihr mir da vorschlagt, ist ganz einfach der Bürgerkrieg, mein lieber Aramis. – Der Krieg für den König. – Aber der König wird an der Spitze der Armee stehen, bei der auch Mazarin ist. – Er wird mit dem Herzen bei dem Heere sein, das Herr von Beaufort befehligt. – Herr von Beaufort? Er ist in Vincennes. – Habe ich Herr von Beaufort gesagt? versetzte Aramis; Herr von Beaufort oder ein anderer. Herr von Beaufort oder der Prinz. – Der Prinz geht zu der Armee ab und ist ganz auf der Seite des Kardinals. Seht Ihr übrigens große Vorteile bei dieser Partei? – Ich sehe darin die Protektion mächtiger Prinzen. – Mit der Proskription der Regierung. – Für nichtig erklärt durch die Parlamente und die Meutereien. – Alles könnte sich so machen, wie Ihr sagt, wenn es gelänge, den König von seiner Mutter zu trennen. – Dazu wird es kommen. – Nie! rief d’Artagnan, diesmal zu seiner Überzeugung zurückkehrend. Ich berufe mich auf Euch, Aramis, auf Euch, der Ihr Anna von Österreich so gut kennt, wie ich. Glaubt Ihr, sie könnte je vergessen, daß ihr Sohn ihre Sicherheit, ihr Palladium, das Pfand ihrer Achtung, ihres Glückes, ihres Lebens ist? Wenn sie Mazarin verließe, müßte sie mit dem König auf die Partei der Prinzen übergehen, aber Ihr wißt besser, als irgend jemand, daß sie mächtige Gründe hat, ihn nie zu verlassen. – Ihr habt vielleicht recht, sagte Aramis nachsinnend; ich werde mich also zu nichts verpflichten. – Gegen diese Leute, versetzte d’Artagnan; aber gegen mich? – Gegen niemand. Ich bin Priester, was habe ich mit der Politik zu tun? Ich lese kein Brevier, aber ich habe eine kleine Kundschaft von geistreichen, spitzbübischen Abbés und reizenden Damen. Je mehr sich die Angelegenheiten verwirren, desto weniger werden meine Streiche Aufsehen machen; alles geht vortrefflich, ohne daß ich mich darein mische, und, mein lieber Freund, ich bin entschieden, mich nicht darein zu mischen. – Schön, mein Wertester, sprach d’Artagnan; auf Ehre, Eure Philosophie steckt mich an, und ich will mich auch den Reizen des Privatlebens ergeben; ich werde also Porthos‘ Einladung annehmen und auf seinen Gütern jagen; Ihr wißt, daß Porthos Güter besitzt? – Ganz gewiß weiß ich es; er besitzt zehn Meilen Wälder, Sümpfe und Täler und prozessiert über Lehensrechte mit dem Bischof von Noyon. – Gut, sagte d’Artagnan zu sich selbst, das wollte ich wissen, Porthos ist in der Picardie. Dann fügte er laut bei:

Und er hat seinen alten Namen du Vallon wieder angenommen. – Und ihm den Namen Bracieux beigefügt, von einem Gute, das baronisiert worden ist. – Also werden wir Porthos als Baron sehen. – Ich zweifle nicht daran; besonders die Baronin Porthos wird bewundernswürdig sein.

Die zwei Freunde brachen in ein schallendes Gelächter aus.

Ihr wollt also nicht zu Mazarin übergehen? fragte d’Artagnan. – Und Ihr nicht zu den Prinzen? – Nein. Gehen wir zu niemand über und bleiben wir Freunde. Wir wollen weder Kardinalisten, noch Frondeurs werden. – Ja, sagte Aramis, seien wir Musketiere. – Gott befohlen also, sprach d’Artagnan. – Ich halte Euch nicht zurück, mein Lieber, erwiderte Aramis, da ich nicht wüßte, wo ich Euch eine Lagerstätte geben sollte, und ich Euch schicklicherweise nicht die Hälfte von Planchets Schuppen anbieten kann. – Überdies bin ich nur drei Meilen von Paris entfernt. Die Pferde sind ausgeruht, und in weniger als einer Stunde bin ich zurück.

Und d’Artagnan schenkte sich ein letztes Glas Wein ein und sprach: Auf unsere alte Zeit! – Ja, versetzte Aramis, leider ist es eine vergangene Zeit. – Bah! rief d’Artagnan, sie wird wiederkehren. In jedem Fall, wenn Ihr meiner bedürft, Rue Tiquetonne, Gasthaus zur Rehziege. – Und mich findet Ihr im Jesuitenkloster; von sechs Uhr morgens bis acht Uhr abends durch die Türe, von acht Uhr abends bis sechs Uhr morgens durch das Fenster. – Adieu, mein Lieber.

Aramis pfiff Bazin und rief ihm, als er endlich schlaftrunken erschien, zu: Auf, auf! Siebenschläfer, die Leiter!

Aber, sagte Bazin mit einem Gähnen, das ihm die Kinnbacken auszurenken drohte, die Leiter ist am Fenster geblieben.

Die andere, die vom Gärtner; hast du nicht bemerkt, daß Herr d’Artagnan Mühe hatte, heraufzusteigen, und daß es ihm noch größere Mühe machen wird, hinabzusteigen.

D’Artagnan wollte Aramis versichern, er würde sehr gut hinabkommen, als ihm ein Gedanke kam; dieser Gedanke ließ ihn schweigen.

Bazin stieß einen tiefen Seufzer aus und entfernte sich, um die Leiter zu suchen. Einen Augenblick nachher stand eine feste hölzerne Leiter am Fenster.

Vorwärts, sprach d’Artagnan; das ist ein solides Verbindungsmittel; eine Frau würde an einer solchen Leiter auf- und absteigen.

Ein durchdringender Blick von Aramis schien den Gedanken seines Freundes bis in die Tiefe seines Herzens suchen zu wollen, aber d’Artagnan hielt den Blick mit bewundernswürdiger Naivität aus.

In zwei Sekunden war er auf dem Boden. Bazin blieb am Fenster.

Bleib hier, sagte Aramis, ich komme zurück.

Alle beide gingen auf den Schuppen zu; als sie sich demselben näherten, kam Planchet, die zwei Pferde an den Zügeln haltend, heraus.

Schön, sagte Aramis, das ist ein tätiger, wachsamer Diener, nicht wie der träge Bazin, der zu nichts mehr taugt, seitdem er Kirchenmann geworden ist. Folgt uns, Planchet, wir gehen plaudernd bis ans Ende des Dorfes.

Die zwei Freunde durchwanderten wirklich, über gleichgültige Dinge plaudernd, das ganze Dorf. Als sie die letzten Häuser erreicht hatten, sagte Aramis: Geht, lieber Freund, verfolgt Eure Laufbahn, das Glück lächelt Euch, laßt es nicht entschlüpfen, erinnert Euch, daß es eine Kurtisane ist, und behandelt es danach; ich bleibe in meiner Niedrigkeit und Trägheit; Gott befohlen.

Es ist also entschieden, versetzte d’Artagnan, mein Anerbieten sagt Euch nicht zu?

Es würde mir im Gegenteil sehr zusagen, wenn ich ein Mensch wäre, wie andere; aber ich wiederhole Euch, ich bin aus Kontrasten zusammengesetzt; was ich heute hasse, werde ich morgen anbeten, und umgekehrt … Ihr seht wohl, daß ich mich nicht verpflichten kann, wie Ihr zum Beispiel, da Ihr feste Ansichten habt.

Du lügst, Duckmäuser, sagte d’Artagnan zu sich selbst; du bist im Gegenteil der einzige, der sich ein Ziel zu wählen weiß und im finstern darauf losgeht.

Sie umarmten sich. Planchet war bereits zu Pferde, d’Artagnan schwang sich ebenfalls in den Sattel, und sie drückten sich noch einmal die Hand. Aramis blieb unbeweglich mitten aus der Straße stehen, bis er sie aus dem Angesicht verloren hatte.

Aber nach zweihundert Schritten hielt d’Artagnan plötzlich an, sprang zu Boden, warf den Zügel seines Pferdes Planchet über den Arm, nahm seine Pistolen aus den Halftern und steckte sie in den Gürtel.

Was habt Ihr, gnädiger Herr? fragte Planchet ganz erschrocken.

Was ich habe? sagte d’Artagnan; so schlau er auch sein mag, so lasse ich mich doch nicht von ihm an der Nase herumführen. Bleib hier und rühre dich nicht; stelle dich nur auf die Feldseite des Weges und erwarte mich.

Bei diesen Worten sprang d’Artagnan auf die andere Seite des Grabens und eilte durch die Ebene, um das Dorf zu umgehen. Er hatte zwischen dem von Frau von Longueville bewohnten Hause und dem Jesuitenkloster einen leeren Raum bemerkt, der nur von einer Hecke umgeben war.

Eine Stunde vorher hätte er vielleicht Mühe gehabt, diese Hecke wieder aufzufinden, aber der Mond war soeben ausgegangen, und obgleich er von Zeit zu Zeit von den Wolken bedeckt wurde, so sah man doch sogar während dieser Verdunkelungen genug, um den Weg wiederzufinden.

D’Artagnan erreichte die Hecke und verbarg sich dahinter. Als er an dem Hause vorüberkam, wo die von uns erzählte Scene stattgefunden hatte, bemerkte er, daß dasselbe Fenster abermals erleuchtet war, und er war überzeugt, daß Aramis noch nicht in seine Wohnung zurückgekehrt sein konnte, und daß er, wenn er zurückkehrte, nicht allein zurückkehren würde.

Nach ein paar Minuten hörte er wirklich Tritte, die sich näherten, und etwas wie ein Geräusch von Stimmen, die halblaut miteinander sprachen. Am Anfang der Hecke hielten die Tritte an. D’Artagnan kniete mit einem Fuße nieder und suchte die dickste Stelle der Hecke, um sich dahinter zu verbergen.

In diesem Augenblick erschienen zwei Männer, zum großen Erstaunen d’Artagnans; bald aber verschwand sein Erstaunen, denn er hörte eine weiche, harmonische Stimme vibrieren; der eine von den zwei Männern war eine als Kavalier verkleidete Frau.

Seid ruhig, mein lieber René, sprach die weiche Stimme, dieselbe Sache wird sich nicht wiederholen; ich habe eine Art von Gang entdeckt, der unter der Erde hinläuft, und wir dürfen nur eine von den Platten, die vor der Türe sind, wegnehmen, um Euch einen Eingang und einen Ausgang zu öffnen.

Oh! sprach eine andere Stimme, in welcher d’Artagnan die von Aramis erkannte; ich schwöre Euch, Prinzessin, wenn Euer Ruf nicht von all diesen Vorsichtsmaßregeln abhinge und ich nur mein Leben dabei wagte …

Ja, ich weiß, daß Ihr mutig und verwegen seid, wie irgend ein Weltmann; aber Ihr gehört nicht mir allein, Ihr gehört unserer Partei. Seid also klug, seid behutsam.

Ich gehorche immer, Madame, sagte Aramis, wenn man mir mit einer so süßen Stimme zu befehlen weiß.

Und er küßte ihr zärtlich die Hand.

Ah! rief der Kavalier mit der weichen Stimme.

Was gibt es? fragte Aramis.

Seht Ihr denn nicht, daß der Wind meinen Hut fortgenommen hat?

Aramis stürzte dem flüchtigen Hute nach. D’Artagnan benutzte diesen Umstand, um eine minder dichte Stelle der Hecke zu suchen, von wo sein Blick frei bis zu dem problematischen Kavalier dringen konnte. Vielleicht ebenso neugierig, wie der Offizier, trat der Mond gerade in diesem Moment hinter einer Wolke hervor, und bei seiner indiskreten Helle erkannte d’Artagnan die großen blauen Augen, die goldenen Haare und den edlen Kopf der Herzogin von Longueville.

Aramis kehrte lachend, einen Hut auf dem Kopf und einen unter dem Arm, zurück, und beide setzten ihren Weg nach dem Jesuitenkloster fort.

Gut! sagte d’Artagnan, sich erhebend und sein Knie abwischend, als die beiden sich in der Richtung nach dem Jesuiten-Kloster zu entfernten, nun habe ich dich, du bist Frondeur und der Geliebte der Frau von Longueville.

Herr Porthos du Vallon de Bracieux de Pierrefonds

Von Aramis hatte d’Artagnan erfahren, daß Porthos sich nach dem Namen eines seiner Güter de Bracieux nannte und wegen dieses Gutes einen Prozeß mit dem Bischof von Noyon führte. Er mußte also dieses Gut in der Gegend von Noyon, das heißt an der Grenze der Picardie suchen.

Planchet, der sich noch nicht ohne Gefahr glaubte in Paris wieder zeigen zu dürfen, erklärte, er werde d’Artagnan bis ans Ende der Welt folgen. Er bat nur seinen ehemaligen Herrn, abends abzureisen, weil die Finsternis mehr Sicherheit biete.

So schlugen sie abends acht Uhr von der Rehziege die Straße nach Dammartin ein, wo der Weg sich gabelte und also Erkundigungen eingezogen werden mußten. Sie erhielten auch in der Herberge die bereitwillige Auskunft, das Gut Bracieux liege einige Meilen von Villers-Cotterets entfernt.

D’Artagnan kannte Villers-Cotterets, wohin er zwei- oder dreimal dem Hof gefolgt war; denn zu jener Zeit war Villers-Cotterets eine königliche Residenz. Er ritt also nach dieser Stadt zu und stieg in seinem gewöhnlichen Gasthause, das heißt im Goldenen Delphin, ab.

Hier teilte man ihm mit, bis Bracieux habe er noch einen Weg von vier Meilen, daß er aber Porthos dort nicht suchen dürfe. Porthos lag wirklich im Streite mit dem Bischof wegen des Gutes Pierrefonds, das an das seinige grenzte. Um allen Prozessen, von denen er nichts verstand, ein Ende zu bereiten, hatte er Pierrefonds gekauft und daher diesen neuen Namen seinen alten beigefügt. Er nannte sich nun du Vallon de Bracieux de Pierrefonds und wohnte auf seinem neuen Eigentum.

Man mußte bis zum andern Morgen warten. Die Pferde hatten zehn Meilen in einem Tage zurückgelegt und waren müde. Allerdings hätte man andere nehmen können, aber man mußte durch einen großen Wald reiten, und Planchet liebte bekanntlich die Wälder bei Nacht nicht. Außerdem liebte er auch nicht das Reisen mit nüchternem Magen, und als d’Artagnan aufwachte, fand er daher sein Frühstück völlig bereit. Sie brachen also erst um neun Uhr auf.

Es war ein schöner Frühlingsmorgen. Die Vögel sangen in den großen Bäumen, breite Sonnenstrahlen schossen durch die Lichtungen und erschienen wie Vorhänge von Goldgaze. An andern Stellen drang das Licht kaum durch das dicke Gewölbe der Blätter, und die Stämme der alten Eichen waren in Schatten getaucht. Ein herzerquickender Wohlgeruch von Kräutern, Blumen und Blättern stieg empor, und d’Artagnan dachte, wenn man drei aufeinandergepfropfte Herrschaftsnamen führe, müsse man in einem solchen Paradiese sehr glücklich sein. Dann schüttelte er den Kopf und sprach: Wenn ich Porthos wäre und d’Artagnan käme zu mir und machte mir einen Vorschlag, wie ich ihn Porthos machen will, so wüßte ich wohl, was ich d’Artagnan antworten würde.

Planchet dachte nichts, er verdaute.

Am Saume des Waldes gewahrte d’Artagnan den Weg, den man ihm bezeichnet hatte, und am Ende des Weges die Türme eines ungeheuren feudalen Schlosses.

Oh, oh! murmelte er, es scheint mir, dieses Schloß gehörte dem älteren Zweige der Orleans. Sollte Porthos mit dem Herzog von Longueville unterhandelt haben?

Meiner Treu, gnädiger Herr, sagte Planchet, das sind gut gebaute Anwesen, und wenn sie Herrn Porthos gehören, so werde ich ihm mein Kompliment machen.

Pest! rief d’Artagnan, nenne ihn nicht Porthos, auch nicht einmal du Vallon, sondern de Bracieux oder de Pierrefonds. Meine Botschaft ist sonst verfehlt.

Am Ende des Weges eröffnete sich vor d’Artagnan ein reizendes Tal, in dessen Hintergrund man an einem niedlichen kleinen See einige zerstreute Häuser ruhen sah, die niedrig und teils mit Ziegeln, teils mit Stroh bedeckt, als souveränen Gebieter ein hübsches, in der Zeit Heinrichs IV. erbautes, von Wetterfahnen überragtes Schloß anzuerkennen schienen. Diesmal zweifelte d’Artagnan nicht, daß er Porthos‘ Wohnung vor Augen hatte.

Der Weg führte geradezu nach dem hübschen Schlosse, das sich zu seinem Ahnherrn, dem Schlosse auf dem Berg, ungefähr so verhielt wie ein Modeherr zu einem eisengeharnischten Ritter. D’Artagnan setzte sein Pferd in Trab und folgte dem Weg; Planchet regelte den Schritt seines Kleppers nach dem seines Herrn.

Nach zehn Minuten fand sich d’Artagnan am Ende einer regelmäßig gepflanzten Allee von schönen Pappelbäumen, die nach einem eisernen Gitter ausmündete, dessen Spieße und Querbänder vergoldet waren.

Mitten in dieser Allee erblickte man einen Herrn, der grün und golden anzuschauen war, wie das Gitter. Er saß auf einem dicken Rosse. Zu seiner Rechten und zu seiner Linken waren zwei galonierte Bediente. Eine große Anzahl von Leuten, die sich um ihn versammelt hatten, machten ehrfurchtsvolle Verbeugungen vor ihm.

Ah, sagte d’Artagnan zu sich selbst, sollte dies der edle Herr du Vallon de Bracieux de Pierrefonds sein? Ei, mein Gott, wie er zusammengeschrumpft ist, seit er sich nicht mehr Porthos nennt!

Vielleicht ist er es nicht, sprach Planchet, die Frage beantwortend, die d’Artagnan an sich selbst gestellt hatte. Herr Porthos war beinahe sechs Fuß hoch, und dieser hat kaum fünf.

Man macht indessen sehr tiefe Verbeugungen vor diesem Herrn, versetzte d’Artagnan.

Als die beiden Reiter näher kamen, wandte sich der Mann zu Pferde langsam und mit sehr vornehmer Miene um, und die Reisenden konnten die großen funkelnden Augen, das pausbackige Gesicht und das so beredte Lächeln Mousquetons sehen.

Es war wirklich Mousqueton, der speckfette und von Gesundheit strotzende Mousqueton. Ganz das Widerspiel von dem heuchlerischen Bazin, glitt er, sobald er d’Artagnan erkannte, flugs von seinem Pferd herab und ging, mit dem Hut in der Hand, auf den Offizier zu, so daß die Ehrfurchtserweisungen der Versammelten sich der neuen Sonne zuwandten, welche die alte verdunkelte.

Herr d’Artagnan, Herr d’Artagnan! rief Mousqueton fortwährend mit seinen dicken Backen und schweißtriefend vor Eifer. Ah, welche Freude für meinen gnädigen Herrn und Meister, Herrn du Vallon de Bracieux de Pierrefonds!

Der gute Mousqueton! Dein Herr ist also hier!

Ihr seid auf seinen Besitzungen.

Aber wie schön, wie fett, wie blühend du aussiehst! sprach d’Artagnan, immer noch erstaunt den ehemaligen Ausgehungerten betrachtend.

Ah, ja, Gott sei Dank, gnädiger Herr, ich befinde mich ziemlich wohl, sprach Mousqueton.

Aber sagst du gar nichts zu deinem Freunde Planchet?

Zu meinem Freunde Planchet! Planchet, solltest du es etwa sein? rief Mousqueton, die Arme öffnend und die Augen voll Tränen.

Planchet und Mousqueton umarmten sich mit rührender Innigkeit. Und nun, gnädiger Herr, sagte Mousqueton, sich von der Umarmung Planchets losmachend, der vergebens versucht hatte, seine Hände hinter dem Rücken seines Freundes zusammenzubringen, erlaubt mir, Euch zu verlassen, denn mein Gebieter soll die Kunde von Eurer Ankunft von keinem andern, als von mir erhalten. Er würde mir nie vergeben, wenn ich einen andern zuvorkommen ließe.

Dieser liebe Freund, sagte d’Artagnan, hat mich also nicht vergessen?

Vergessen! er! rief Mousqueton, das heißt, es ist kein Tag vergangen, wo wir nicht die Nachricht erwarteten, Ihr seiet entweder für Herrn von Gassion oder für Herrn von Bassompierre zum Marschall ernannt worden.

Und ihr, Bauern, fuhr Mousqueton, sein Pferd besteigend, fort, bleibt bei dem Herrn Grafen d’Artagnan und erweist ihm jede Ehre, während ich den gnädigen Herrn auf seine Ankunft vorbereite.

Ah, das kündigt sich gut an, sagte d’Artagnan. Hier finden sich keine Geheimnisse, keine Politik. Man lacht aus vollem Halse, man weint vor Freude. Die Natur selbst kommt mir festtäglich vor, es ist mir, als wären die Bäume, statt mit Blüten und Blättern, mit grünen und rosenfarbigen Bändchen bedeckt.

Und mir, sagte Planchet, mir kommt es vor, als röche ich von hier aus den köstlichsten Bratenduft, als erblickte ich Küchenjungen, die sich in Reihe und Glied aufstellen, um uns vorüberziehen zu sehen. Ah! gnädiger Herr, welchen Koch muß Herr de Pierrefonds haben, der schon so gern gut und viel aß, als man ihn nur Herr Porthos nannte.

Halt! sagte d’Artagnan, du machst mir bange. Wenn die Wirklichkeit dem Anschein entspricht, so bin ich verloren. Ein so glücklicher Mann wird seine herrliche Lage nie verlassen, und ich scheitere bei ihm, wie ich bei Aramis gescheitert bin.

D’Artagnan ritt durch das Gitter und befand sich vor dem Schlosse. Er sprang zu Boden, als eine riesige Gestalt auf der Freitreppe erschien. Zu d’Artagnans Ehre müssen wir mitteilen, daß ihm, mit Hintansetzung aller selbstsüchtigen Ideen, beim Anblick dieser hohen Gestalt und des martialischen Gesichtes, das ihn an einen braven, guten Kerl erinnerte, das Herz gewaltig schlug.

Er lief auf Porthos zu und stürzte sich in seine Arme. In ehrerbietiger Entfernung einen Kreis bildend, schaute das ganze Gesinde mit demütiger Neugierde zu. Mousqueton trocknete sich in der ersten Reihe die Augen. Der arme Bursche weinte unaufhörlich, seitdem er d’Artagnan und Planchet wiedererkannt hatte.

Porthos nahm seinen Freund beim Arme.

Ah! welche Freude, Euch wieder zu sehen, lieber d’Artagnan! rief er mit einer Stimme, die sich vom Bariton in Baß verwandelt hatte. Ihr habt mich also nicht vergessen?

Euch vergessen! Ach, lieber du Vallon, vergißt man die schönsten Tage seiner Jugend, seine ergebensten Freunde und die gemeinschaftlich bestandenen Gefahren? Während ich Euch wiedersehe, gibt es keinen Augenblick unserer alten Freundschaft, der mir nicht vor die Augen träte.

Ja, ja, sprach Porthos und versuchte es, seinem Schnurrbart die kokette Drehung zu geben, die er in der Einsamkeit verloren hatte. Ja, wir haben unserer Zeit schöne Dinge gemacht und dem Kardinal Nüsse aufzuknacken gegeben.

Und er stieß einen Seufzer aus. D’Artagnan schaute ihn an.

In jedem Fall, fuhr Porthos mit betrübtem Tone fort, seid mir willkommen, mein Freund. Ihr werdet mir wieder zu einiger Fröhlichkeit verhelfen. Wir jagen morgen den Hasen in meinen schönen Feldern oder das Reh in meinen herrlichen Waldungen. Ich besitze vier Windhunde, welche für die leichtesten der Provinz gelten, und eine Meute, die ihresgleichen auf zwanzig Meilen in der Runde nicht hat.

Und Porthos stieß einen zweiten Seufzer aus.

Oh! oh! sagte d’Artagnan ganz leise zu sich selbst, sollte mein Bruder minder glücklich sein, als es den Anschein hat? Dann fügte er laut bei:

Vor allem werdet Ihr mich Madame du Vallon vorstellen; denn ich erinnere mich eines gewissen sehr verbindlichen Einladungsschreibens von Eurer Hand, dem sie unten einige Zeilen beizufügen die Güte hatte.

Dritter Seufzer von Porthos.

Ich habe Madame du Vallon vor zwei Jahren verloren, sprach er, worüber ich noch ganz betrübt bin. Deshalb verließ ich mein Schloß du Vallon bei Corbeil, um auf dem Gute Bracieux zu wohnen, eine Veränderung, welche mich veranlaßte, dieses Gut hier zu kaufen.

Ihr seid also reich und frei? sprach d’Artagnan.

Ach, erwiderte Porthos, ich bin Witwer und habe vierzigtausend Livres Renten. Wollen wir frühstücken?

Sehr gerne, sagte d’Artagnan, die Morgenluft hat mir Appetit gemacht.

Ja, versetzte Porthos, die Luft hier ist vortrefflich.

Sie traten in das Schloß. Es war nichts als Gold von oben bis unten. Die Karniese waren vergoldet, die Gesimse waren vergoldet, die Gestelle der Lehnstühle waren vergoldet. Die Tafel war mit allem, was man sich wünschen mochte, bedeckt. Speisen und Wein waren von erlesenstem Geschmack und hätten sich auf einer königlichen Tafel sehen lassen können. Trotzdem stieß Porthos einen neuen Seufzer aus; es war, wie d’Artagnan gezählt hatte, der fünfte.

Mein Freund, sagte d’Artagnan, begierig das Rätsel zu ergründen, man sollte glauben, es betrübe Euch etwas. Solltet Ihr leidend sein? … Ist Eure Gesundheit … – Vortrefflich, besser als je. Ich würde einen Ochsen mit einem Faustschlag töten. – Familienkummer also? – Familienkummer? Zum Glück habe ich nur mich auf dieser Welt. – Was macht Euch dann seufzen? – Mein Lieber, sagte Porthos, ich werde offenherzig gegen Euch sein: ich bin nicht glücklich. – Ihr nicht glücklich, Porthos? Ihr, der Ihr ein Schloß, Wiesgründe, Berge, Wälder besitzt; Ihr, der Ihr vierzigtausend Livres Renten habt, Ihr seid nicht glücklich? – Mein Lieber, ich habe alles dies, es ist wahr, aber ich bin allein mitten unter diesen Dingen. Madame du Ballon, fuhr er fort, war von zweifelhaftem Adel. Sie hatte in erster Ehe, wie Ihr wißt, einen Prokurator geheiratet. Sie fanden das ekelhaft. Ihr begreift, das war ein Ausdruck, für den man dreißigtausend Mann umbringen könnte. Ich habe zwei getötet; das bewog die andern, zu schweigen. Ich wurde dadurch aber nicht ihr Freund. Auf diese Weise habe ich keine Gesellschaft mehr, ich lebe allein, ich langweile mich, ich kümmere mich ab.

D’Artagnan lächelte; er sah den Fehler am Küraß und schickte sich zum Stoße an.

Nun aber, sagte er, seid Ihr für Euch allein, und Eure Frau kann Euch nicht mehr Eintrag tun.

Ja, aber alle diese Leute, die Vicomtes oder Grafen sind, haben den Vortritt vor mir in der Kirche, bei öffentlichen Feierlichkeiten, überall, und ich kann nichts dagegen sagen. Wäre ich nur …

Baron, nicht wahr? sprach d’Artagnan, den Satz seines Freundes vollendend.

Ah! rief Porthos, dessen Züge sich ausdehnten, ah, wenn ich Baron wäre!

Gut! dachte d’Artagnan, es wird mir gelingen.

Als beide hinreichend gefrühstückt hatten, machten sie einen Gang in einem herrlichen Garten; Alleen von Kastanienbäumen und Linden schlossen einen Raum von wenigstens dreißig Morgen ein. Um die dicht verwachsenen Büsche sah man Kaninchen laufen, die von Zeit zu Zeit spielend unter dem hohen Gras verschwanden.

Meiner Treu, rief d’Artagnan, der Park entspricht allem übrigen, und wenn es so viele Fische in Eurem Teich als Kaninchen in Euren Gehegen gibt, so seid Ihr ein glücklicher Mann, mein lieber Porthos, vorausgesetzt, Ihr habt den Sinn für Jagd bewahrt und an Fischen Geschmack gefunden.

Mein Freund, erwiderte Porthos, ich überlasse die Fischerei Mousqueton; das ist ein Vergnügen für gemeine Leute. Aber ich jage zuweilen, das heißt, wenn ich mich langweile, setze ich mich auf eine von diesen Marmorbänken, lasse mir meine Flinte bringen, Gredinet, meinen Lieblingshund, herbeiführen und schieße Kaninchen.

Das ist sehr unterhaltend, sprach d’Artagnan.

Ja, antwortete Porthos mit einem Seufzer, das ist sehr unterhaltend.

D’Artagnan zählte die Seufzer nicht mehr.

Dann sucht Gredinet die Kaninchen, fügte Porthos bei, und bringt sie dem Koch; er ist dazu dressiert. – Ach, das vortreffliche Tier! rief d’Artagnan. Doch kommen wir auf unser früheres Gespräch zurück. Ihr wünscht den Baronstitel zu erlangen. Was würdet Ihr tun, wenn ich ihn Euch verschaffte?– Kein Opfer wäre mir zu groß dafür. – Nur sage ich Euch, lieber Freund, damit Ihr nicht behauptet, ich habe Euch als Verräter überfallen, Ihr müßt Euer Leben völlig verändern. – Wieso? – Ihr müßt den Harnisch wieder nehmen, den Degen umschnallen, Abenteuern nachlaufen, etwas Fleisch auf den Straßen lassen, wie in vergangenen Zeiten; Ihr wißt unsere Art und Weise von ehemals. – Ah, Teufel! rief Porthos. – Ja, ich begreife, Ihr seid verweichlicht, Ihr habt einen Bauch bekommen, und die Faust hat nicht mehr die Elastizität, von der die Leibwachen des Kardinals so viele Proben erhielten. – Ah! die Faust ist noch gut, das schwöre ich Euch, erwiderte Porthos und streckte eine Hand aus, ähnlich einem Hammelsbug. – Desto besser. – Wir sollen also Krieg machen? – Ei, mein Gott, ja. – Und gegen wen? – Seine Eminenz will Euch in seinen Diensten haben. – Und wer hat von mir bei Seiner Eminenz gesprochen? – Rochefort. Ihr erinnert Euch, unser Gegner, der dann unser Freund geworden ist? – Nein, ich erinnere mich nicht. Ah, er hat keinen Groll mehr? – Ihr täuscht Euch, Porthos, versetzte d’Artagnan, ich habe keinen mehr.

Porthos begriff nicht ganz, aber man erinnert sich, das Begreifen war nicht seine Stärke.

Ihr sagt also, der Graf von Rochefort habe von mir mit dem Kardinal gesprochen? – Ja, und dann die Königin. – Wie, die Königin? Und Ihr sagt, Ihr habt gewisse Bedingungen für mich gemacht? – Herrliche, mein Lieber, herrliche, Ihr habt Geld, nicht wahr? Vierzigtausend Livres Renten, wie Ihr sagt.

Porthos wurde mißtrauisch.

Ei, mein Gott, versetzte er, man besitzt nie genug Geld. Madame du Ballon hat eine etwas verwickelte Erbschaft hinterlassen. Ich verstehe mich wenig auf die Rechnerei und lebe so gewissermaßen von einem Tag in den andern.

Also, sprach d’Artagnan, trotz Eurer vierzigtausend Livres Renten und vielleicht gerade wegen Eurer vierzigtausend Livres Renten scheint es mir, als ob sich eine kleine Krone gar nicht übel auf Eurer Karrosse machen würde. Wie? – Allerdings, antwortete Porthos. – Nun wohl, mein Lieber, gewinnt sie, sie hängt an Eurer Degenspitze. Wir werden uns nicht schaden. Euer Ziel ist ein Titel, mein Ziel ist Geld. Wenn ich genug erwerbe, um d’Artagnan wieder aufzubauen, das meine durch die Kreuzzüge verarmten Voreltern seit jener Zeit in Trümmer zerfallen ließen, und um etliche dreißig Morgen Landes umher zu kaufen, so brauche ich nicht mehr; ich ziehe mich zurück und sterbe in Ruhe. – Und ich, sprach Porthos, ich will Baron sein. – Ihr werdet es. – Habt Ihr nicht auch an unsere andern Freunde gedacht? fragte Porthos. – Allerdings, ich habe Aramis gesehen. – Und was will er? Bischof werden? – Aramis, erwiderte d’Artagnan, welcher Porthos nicht entzaubern wollte, Aramis ist, denkt Euch nur, Mönch und Jesuit geworden. Er lebt wie ein Bär und denkt nur an sein Seelenheil. Meine Anerbietungen konnten ihn nicht bestimmen. – Desto schlimmer, sagte Porthos. Er hatte Geist. Und Athos? – Ich habe ihn noch nicht gesehen, werde ihn aber besuchen, wenn ich Euch verlasse. Wißt Ihr, wo ich ihn finden kann? – Bei Blois, auf einem kleinen Landgut, das er, ich weiß nicht von welchem Verwandten, geerbt hat. – Und dieses heißt? – Bragelonne. Begreift Ihr wohl, mein Lieber, Athos, welcher adelig war, wie der Kaiser, und ein Gut erbt, das den Grafschaftstitel hat! Was wird er mit allen diesen Grafschaften machen? Grafschaft La Fère, Grafschaft Bragelonne? – Dabei hat er keine Kinder? fragte d’Artagnan. – O! rief Porthos, man hat mir gesagt, er habe einen jungen Menschen angenommen, der ihm von Gesicht ungemein ähnlich sei.

Ich werde ihm morgen Kunde von Euch bringen. Unter uns gesagt, ich fürchte, der Wein hat ihn sehr alt gemacht und entartet. – Ja, sprach Porthos, es ist wahr, er trank viel. – Und dann war er älter, als wir alle. – Nur um einige Jahre, versetzte Porthos. Seine ernste Miene gab ihm ein so altes Aussehen. – Ihr habt recht. Wenn wir Athos haben, desto besser; wenn nicht, so werden wir ihn zu entbehren wissen. Wir zwei sind so viel wert, als zehn. – Ja, sprach Porthos lächelnd bei der Erinnerung an seine alten Heldentaten; aber wir vier wären so viel wert gewesen, als sechsunddreißig, um so mehr, als das Handwerk rauh sein wird, wie Ihr sagt. – Rauh für Rekruten, ja, aber für uns, nein. – Wird es lange währen? – Gott verdamm mich, es kann drei bis vier Jahre dauern. – Wird man sich viel schlagen? – Ich hoffe es. – Desto besser! rief Porthos. Ihr habt keinen Begriff, mein Lieber, wie mir die Knochen jucken, seitdem ich hier bin.

Damit schlugen die Freunde den Weg nach dem Schlosse ein.

Nachdem Porthos seinen Gast hatte ein Reh erjagen lassen, nachdem er ihn von seinen Waldungen auf seinen Berg, von seinem Berg an seine Teiche geführt, nachdem er ihm seine Windhunde, seine Meute, Gredinet, kurz alles, was er besaß, gezeigt und darauf weitere verschwenderische Mahle gegeben hatte, forderte er von d’Artagnan, der ihn nun verlassen mußte, um seinen Weg fortzusetzen, bestimmte Instruktionen.

So hört, mein Freund, erwiderte der Abgesandte, ich brauche vier Tage von hier nach Blois, einen Tag bleibe ich dort, drei bis vier Tage brauche ich zur Rückkehr nach Paris. Reist also in einer Woche mit Eurer Equipage ab; nehmt Euer Absteigquartier in der Rue Tiquetonne im Gasthof zur Rehziege und erwartet dort meine Rückkehr. – Abgemacht, sprach Porthos.

Ich mache eine hoffnungslose Reise zu Athos, sagte d’Artagnan; aber obgleich ich fürchte, daß ihn Wein und Alter unfähig gemacht haben, so muß man doch gewisse Rücksichten gegen seine Freunde beobachten.

Wenn ich mit Euch ginge, versetzte Porthos, das würde mich vielleicht zerstreuen.

Es ist möglich, antwortete d’Artagnan, und mich auch; aber Ihr hättet keine Zeit mehr, um Eure Vorbereitungen zutreffen.

Das ist wahr. Geht also und guten Mut. Ich für meinen Teil bin voll Eifer.

Vortrefflich! sprach d’Artagnan.

Und sie trennten sich auf der Grenze des Gebietes von Pierrefonds, bis wohin Porthos seinen Freund begleitete.

Wenigstens, sprach d’Artagnan, den Weg nach Villers-Cotterets einschlagend, wenigstens werde ich nicht allein sein. Dieser Teufel von einem Porthos besitzt noch tüchtige Kräfte. Kommt Athos hinzu, so sind wir zu drei und können über Aramis, diesen kleinen Glücksjäger, spotten.

In Villers-Cotterets schrieb er an den Kardinal:

Monseigneur, ich kann Ew. Eminenz bereits einen anbieten, und dieser eine ist zwanzig Mann wert. – Ich reise nach Blois ab, der Graf de la Fère wohnt in der Nähe dieser Stadt im Schlosse Bragelonne.

Darauf schlug er nach einer Beratung mit Planchet den Weg nach Blois ein.

Zwei Engelsköpfe

Der Weg war lang, das kümmerte aber d’Artagnan nicht; er wußte, daß sich seine Pferde an den reichen Raufen des Gebieters von Bracieux gestärkt hatten. Er ging also getrost an die vier oder fünf Tagemärsche, die er mit seinem treuen Planchet zu machen hatte.

Um die Langeweile zu vertreiben, ritten die beiden Männer beständig nebeneinander und plauderten. D’Artagnan fiel es nicht ein, den Herrn herauszukehren, und Planchet hatte die Lakaienhaut gänzlich abgestreift. Er war ein Schlaukopf, der sich als Bürger sehr oft nach den leckern Mahlen der Landstraße, sowie nach den Gesprächen und der glänzenden Gesellschaft von Edelleuten zurückgesehnt hatte und in einem Gefühl persönlicher Würde darunter litt, daß er durch die beständige Berührung mit Leuten von platten Lebensanschauungen selbst herunterkam.

Er erhob sich also bald bei dem, den er noch seinen Herrn nannte, zum Rang eines Vertrauten. D’Artagnan seinerseits hatte seit langen Jahren sein Herz nicht erschlossen. So kam es, daß die zwei Männer, als sie sich wiederfanden, sich aufs vortrefflichste zu verständigen wußten.

Auf dem Wege sagte d’Artagnan, den Kopf schüttelnd und auf den Gedanken zurückkommend, der ihn beständig beschäftigte:

Ich weiß wohl, daß mein Schritt bei Athos vergeblich und töricht ist, aber ich schulde diesen Versuch einem alten Freund, einem Manne, der den Stoff zu dem hochherzigsten, edelmütigsten Menschen in sich trug.

Oh, Athos war ein tüchtiger, stolzer Edelmann! rief Planchet. – Nicht wahr? versetzte d’Artagnan.

Ein Herr, der Geld ausstreute, wie der Himmel hageln läßt, fuhr Planchet fort, ein Mann, der das Schwert mit königlichem Ansehen in die Hand nahm. Erinnert Ihr Euch, Herr, des Zweikampfes mit den Engländern in der Umfriedung des Karmeliterklosters? Ach, wie schön und herrlich anzuschauen war Herr Athos an diesem Tage, als er zu seinem Gegner sagte: Ihr habt verlangt, daß ich Euch meinen Namen sage, mein Herr, desto schlimmer für Euch, denn ich werde genötigt sein, Euch zu töten. Ach, gnädiger Herr, ich wiederhole, er war ein tüchtiger, stolzer Edelmann.

Ja, versetzte d’Artagnan, das ist wohl wahr; aber durch einen einzigen Fehler wird er alle seine schönen Eigenschaften verloren haben.

Ich erinnere mich, erwiderte Planchet. Er liebte den Trunk, oder vielmehr: er trank. Aber er trank nicht wie andere. Seine Augen sagten alles, wenn er das Glas an die Lippen setzte. In der Tat, nie war ein Stillschweigen so sprechend. Mir kam es vor, als hörte ich ihn murmeln: Tritt ein, Trank, und verjage meinen Kummer. Und wenn er den Fuß eines Glases oder den Hals einer Flasche zerbrach, so tat er dies auf eine so vornehme Weise, daß kein anderer es ihm gleichtun konnte.

Wohl, versetzte d’Artagnan, aber welch ein trauriges Schauspiel harrt unser heute! Dieser treffliche Edelmann mit dem stolzen Auge, dieser schöne Kavalier, der unter den Waffen so glänzend aussah, daß man sich stets wunderte, daß er einen einfachen Degen statt eines Kommandostabes in der Hand hielt, er wird sich in einen krummbuckeligen, rotnasigen und triefäugigen alten Mann verwandelt haben. Wir werden ihn auf irgend einem Rasen liegend finden, von wo er uns mit seinen matten Augen anschaut und vielleicht nicht erkennt. Gott ist mein Zeuge, fügte d’Artagnan bei, ich würde dieses traurige Schauspiel fliehen, wenn mir nicht alles daran läge, dem glorreichen Schatten des erhabenen Grafen de la Fère, den wir so sehr liebten, meine Achtung zu bezeugen.

Planchet schüttelte den Kopf und sagte nichts; man sah, daß er die Befürchtungen seines Herrn teilte.

Und dann, fuhr d’Artagnan fort, diese Hinfälligkeit, denn Athos ist jetzt alt; auch Armut vielleicht … er wird das wenige, was er besaß, vernachlässigt haben. Und dann der schmutzige Grimaud, stummer als je und noch trunksüchtiger als sein Herr … Höre, Planchet, alles dies schneidet mir ins Herz.

Es ist mir, als sähe ich ihn lallend und taumelnd vor mir, sprach Planchet in kläglichem Tone. Jedenfalls, gnädiger Herr, werden wir bald hierüber Licht bekommen, denn ich glaube, jene hohen Mauern, welche die untergehende Sonne rötet, sind die Mauern von Blois.

In diesem Augenblick stießen die beiden Reiter auf einen von den schweren, mit Ochsen bespannten Wagen, die das in den schönen Waldungen der Gegend gefällte Holz bis nach den Häfen der Loire führen. Der den Wagen begleitende Mann sagte ihnen in dem reinen Französisch, das den Leuten dieser Gegend eigen ist, auf d’Artagnans Frage: Wenn Ihr diesem Weg hier folgt, so werdet Ihr nach einer halben Meile rechts ein Schloß erblicken. Man sieht es hier noch nicht wegen einer Wand von Pappelbäumen, die es verbirgt. Dieses Schloß ist nicht Bragelonne, sondern La Balliere. Ihr reitet daran vorbei; aber drei Büchsenschüsse weiter ist ein großes weißes Haus mit einem Schieferdache, auf einem von ungeheuren Maulbeerfeigenbäumen beschatteten Hügel. Dies ist das Schloß des Herrn Grafen de la Fère.

D’Artagnan dankte dem Ochsentreiber und gab seinem Rosse die Sporen. Aber unwillkürlich beunruhigt durch den Gedanken, den seltsamen Mann wiederzusehen, den er so sehr geliebt, der durch seine Ratschläge und sein Beispiel so viel zu seiner Erziehung als Edelmann beigetragen hatte, ließ er sein Pferd wieder langsamer gehen und senkte träumerisch den Kopf.

An der Biegung des Weges erschien das Schloß La Vallière, wie der Ochsentreiber gesagt hatte, vor den Augen der Reisenden, dann eine Viertelmeile weiter hob sich das weiße Haus, umgeben von seinen Maulbeerfeigenbäumen, auf dem Grunde einer dichten Gruppe von Bäumen hervor, welche der Frühling mit einem Blütenschnee bestreut hatte.

Bei diesem Anblick fühlte d’Artagnan, der gewöhnlich nur sehr wenig in Aufregung geriet, eine seltsame Unruhe in der Tiefe seines Herzens. So mächtig sind das ganze Leben hindurch die Jugenderinnerungen. Planchet, der nicht dieselben Motive zu solchen Eindrücken hatte, schaute, voll Verwunderung über die Bewegung seines Herrn, bald d’Artagnan, bald wieder das Haus an.

Der Musketier ritt noch einige Schritte vorwärts und befand sich vor einem geschmackvoll gearbeiteten Gitter, durch das man einen sorgfältig gepflegten Küchengarten, einen geräumigen Hof, in dem mehrere von Bedienten in verschiedenen Livreen gehaltene Reitpferde stampften, und einen mit zwei Pferden bespannten Wagen erblickte.

Wir täuschen uns, oder dieser Mann hat uns getäuscht, sagte d’Artagnan, hier kann Athos nicht wohnen. Mein Gott, sollte er tot sein und dieses Gut einem seines Namens gehören? Steig ab, Planchet, und erkundige dich. Ich gestehe, daß ich meinesteils nicht den Mut dazu habe.

Planchet stieg ab.

Du erklärst, sagte d’Artagnan, ein vorüberziehender Edelmann wünsche die Ehre zu haben, den Herrn Grafen de la Fère zu begrüßen, und wenn du mit der Auskunft, die du erhältst, zufrieden bist, so nennst du mich.

Wohnt hier der Herr Graf de la Fère? fragte Planchet, nachdem auf das von ihm gegebene Glockenzeichen ein weißhaariger Diener erschienen war. – Ja, Herr. – Ein Seigneur, der sich vom Dienst zurückgezogen hat, nicht wahr? – Ganz richtig. – Und der einen Lakaien namens Grimaud hatte, versetzte Planchet, der mit seiner gewöhnlichen Klugheit nicht genug Erkundigungen einziehen zu können glaubte. – Herr Grimaud ist in diesem Augenblick vom Schlosse abwesend, erwiderte der Diener und begann, an solche Verhöre nicht gewöhnt, Planchet vom Kopf bis zu den Füßen zu betrachten. – Dann sehe ich, rief Planchet strahlend, daß es derselbe Graf de la Fère ist, den wir suchen. Wollt mir also öffnen, denn ich wünsche dem Herrn Grafen meinen Herrn, einen ihm befreundeten Edelmann, zu melden, der ihn zu begrüßen beabsichtigt. – Warum sagtet Ihr mir das nicht früher? sprach der Diener, das Gitter öffnend. Aber wo ist Euer Herr? – Hinter mir, er folgt mir.

Der Diener ging Planchet voraus, und dieser winkte d’Artagnan, der mit pochendem Herzen in den Hof einritt.

Als Planchet auf der Freitreppe war, hörte er eine Stimme, die aus einem untern Saale kam und sagte:

Nun, wo ist denn dieser Edelmann, und warum wird er nicht hierhergeführt?

Diese Stimme, die bis zu d’Artagnan drang, erweckte in seinem Innern tausend vergessene Erinnerungen, tausend Gefühle. Er sprang rasch vom Pferde, während Planchet lächelnd aus den Herrn des Hauses zuging.

Ah, ich kenne diesen Burschen, sagte Athos, als er Planchet auf der Schwelle erblickte.

Oh ja, Herr Graf, Ihr kennt mich, und ich kenne Euch auch sehr gut. Ich bin Planchet, Herr Graf, Planchet, Ihr wißt wohl… Der ehrliche Diener konnte nicht mehr sprechen, so verblüfft war er von dem unerwarteten Anblick des Edelmanns.

Wie, Planchet! rief Athos. Sollte Herr d’Artagnan hier sein?

Hier bin ich, Freund, hier bin ich, teurer Athos, rief d’Artagnan stammelnd und beinahe wankend.

Bei diesen Worten trat eine sichtbare Bewegung auf Athos‘ schönem Antlitz und ruhigen Zügen hervor. Er machte rasch zwei Schritte gegen d’Artagnan, ohne ihn aus dem Blicke zu verlieren, und schloß ihn zärtlich in seine Arme. D’Artagnan, welcher sich etwas von seiner Unruhe erholte, drückte ihn mit einer Herzlichkeit, die aus den Tränen seiner Augen leuchtete, an seine Brust.

Athos nahm ihn nun an der Hand und führte ihn in den Salon, wo mehrere Personen versammelt waren. Alle Anwesenden standen auf.

Ich stelle Euch, sprach Athos, den Herrn Chevalier d’Artagnan, Leutnant bei den Musketieren Seiner Majestät des Königs, vor, einen sehr ergebenen Freund und einen der bravsten und liebenswürdigsten Edelleute, die ich kennengelernt habe.

Dem Gebrauche gemäß empfing d’Artagnan die Komplimente der Versammelten, gab sie nach Kräften zurück, nahm im Kreise Platz und fing an, Athos prüfend anzuschauen, während das einen Augenblick unterbrochene Gespräch wieder allgemein wurde.

Seltsamerweise hatte Athos kaum gealtert. Frei von den blauen Ringen, den Spuren von Nachtwachen und Orgien, schienen seine schönen Augen größer und von reinerem Glanze, als zuvor; sein etwas verlängertes Gesicht hatte an Majestät gewonnen; seine trotz der Weiße und Weichheit noch bewundernswürdig nervige Hand trat blendend unter der Manschette hervor, wie gewisse Hände von Titian und Van Dyk; er war schlanker, als früher; seine breiten, gut geformten Schultern kündigten ungewöhnliche Stärke an; seine nun langen, leicht mit Grau vermischten, schwarzen Haare fielen zierlich und wellenförmig in natürlicher Biegung auf die Schultern herab; seine Stimme war so frisch, wie die eines fünfundzwanzigjährigen Mannes, und seine prächtigen, weiß und unverletzt erhaltenen Zähne verliehen seinem Lächeln einen unaussprechlichen Zauber.

Die Gäste des Grafen, welche merkten, daß die zwei Freunde allein zu sein verlangten, schickten sich mit der ganzen Kunst und Artigkeit früherer Zeiten zum Weggehen an, als man im Hofe Hundegebell vernahm und mehrere Personen zu gleicher Zeit sagten: Ah! Raoul kommt heim.

Athos schaute bei dem Namen Raoul d’Artagnan an und schien die Neugierde zu beobachten, die dieser Name auf seinem Gesicht hervorbringen müßte. Aber d’Artagnan begriff noch nichts; er hatte sich von seinem Staunen noch nicht erholt und wandte sich daher beinahe mechanisch um, als ein hübscher junger Mann, einfach, aber geschmackvoll gekleidet, seinen mit langen roten Federn geschmückten Hut anmutig abnehmend, in den Salon eintrat.

Diese neue, ganz unerwartete Erscheinung berührte ihn übrigens ungemein. Eine ganze Welt von Gedanken stellte sich vor seinen Geist und erläuterte ihm durch alle Quellen seines Verstandes die Veränderung von Athos, die ihm unerklärlich vorgekommen war. Eine auffallende Ähnlichkeit zwischen dem Edelmann und dem Jüngling enträtselte ihm das Geheimnis dieses wiedergeborenen Lebens. Er wartete schauend und horchend.

Ihr seid zurück, Raoul, sprach der Graf.

Ja, Herr, antwortete der Jüngling ehrfurchtsvoll, und ich habe mich des Auftrags entledigt, den Ihr mir gegeben.

Aber was habt Ihr? fragte Athos besorgt; Ihr seid bleich und scheint aufgeregt?

Es kommt daher, erwiderte der Jüngling, daß unserer kleinen Nachbarin ein Unglück widerfahren ist.

Dem Fräulein de la Vallière? versetzte Athos lebhaft.

Was denn? fragten mehrere Stimmen.

Sie ging mit ihrer guten Marcelline in der Einfriedigung spazieren, wo die Holzfäller ihre Bäume abvieren, als ich im Vorüberreiten sie wahrnahm und anhielt. Sie bemerkte mich ebenfalls und wollte von einem Holzstoß, auf den sie gestiegen war, herabspringen, aber das arme Kind knickte, als es die Erde berührte, mit einem Fuße um, und konnte sich nicht mehr erheben. Sie hat sich, glaube ich, den Knöchel verstaucht.

Oh! mein Gott! rief Athos, und ist Frau von Saint-Remy, ihre Mutter, davon benachrichtigt?

Nein, Herr. Frau von Saint-Remy ist in Blois bei der Frau Herzogin von Orleans. Ich fürchtete, die erste Hilfe könnte nicht richtig geleistet werden, und eilte hierher, um Euch um Rat zu fragen.

Schickt geschwind nach Blois, Raoul, oder vielmehr, nehmt Euer Pferd und reitet schleunigst selbst dahin.

Raoul verbeugte sich.

Aber wo ist Luise? fuhr der Graf fort.

Ich habe sie bis hierher gebracht und bei der Frau von Charlot untergebracht, welche sie mittlerweile den Fuß in Eiswasser stellen ließ.

Nach dieser Erklärung, welche eine Gelegenheit zum Aufbruch bot, nahmen die Gäste Abschied von Athos; der alte Herzog von Barbé allein, der infolge einer zwanzigjährigen Freundschaft auf vertrautem Fuße mit dem Hause de la Vallière stand, suchte die kleine Luise auf, die weinte, aber beim Anblick Raouls ihre schönen Augen trocknete und wieder lächelte.

Der Herzog machte nun den Vorschlag, sie in seinem Wagen nach Blois zu führen.

Ihr habt recht, gnädiger Herr, sagte Athos, sie wird früher bei ihrer Mutter sein; Ihr, Raoul, werdet wohl unbesonnen gehandelt haben und seid an diesem Unfall schuld.

Oh! nein, nein, Herr, ich schwöre es Euch! rief das Mädchen, während der junge Mann bei dem Gedanken, vielleicht die Ursache dieses Unfalls zu sein, erbleichte.

Oh! Herr, ich versichere Euch, murmelte Raoul.

Ihr geht nichtsdestoweniger nach Blois, fuhr der Graf wohlwollend fort, und entschuldigt Euch und mich bei Frau von Saint-Remy; dann kehrt Ihr zurück.

Die Farben erschienen wieder auf den Wangen des Jünglings; nachdem er mit den Augen den Grafen gefragt hatte, nahm er das kleine Mädchen, dessen hübscher, vom Schmerz bewegter und zugleich lächelnder Kopf auf seinen Schultern ruhte, in seine kräftigen Arme und trug es sacht in den Wagen; dann sprang er mit der Leichtigkeit und Eleganz eines vollendeten Stallmeisters zu Pferde, begrüßte Athos und d’Artagnan und entfernte sich rasch, neben dem Schlage des Wagens reitend, in dessen Inneres seine Blicke beständig geheftet blieben.

Richelieus Schatten

In einem Zimmer des ehemaligen Palais Kardinal saß an einem mit Papieren und Büchern bedeckten Tisch ein Mann, den Kopf in beide Hände gestützt. Hinter ihm war ein gewaltiger Kamin, dessen Glut das prachtvolle Gewand dieses Träumers von hinten beleuchtete, während das Licht eines mit Kerzen besteckten Kandelabers ihn von vorn bestrahlte.

Beim Anblick dieses roten Hausrockes und dieser reichen Spitzen, dieser bleichen, nachsinnend gebeugten Stirne, bei der Stille in den Vorzimmern und dem abgemessenen Tritt der Wachen auf dem Flur hätte man glauben können, der Schatten des Kardinals von Richelieu weile noch in diesem Gemach.

Ach! es war allerdings nur der Schatten des großen Mannes. Frankreichs Schwäche, das gesunkene Ansehen des Königs, die Wiedererstarkung und erneute Unbotmäßigkeit der Großen, die Anwesenheit des Feindes innerhalb der Landesgrenzen, alles bewies, daß Richelieu nicht mehr war.

Noch deutlicher erkannte man aber, daß das rote Hauskleid keineswegs das des alten Kardinals sein konnte, aus der herrschenden Ode, aus den von Höflingen leeren Vorzimmern, den von Wachen erfüllten Höfen, aus dem Gefühl von Hohn und Spott, das von der einmütig gegen den Minister gesinnten Stadt empor und durch die Scheiben drang, aus dem entfernten Knattern von Schüssen, die vom erbitterten Volke planlos gegen Garden, Schweizer, Musketiere und Soldaten in der Umgebung des jetzt auch nicht mehr Palais Kardinal, sondern Palais Royal genannten Schlosses abgegeben wurden. Dieser Schatten Richelieus war Mazarin.

Mazarin aber war allein und fühlte sich schwach. Fremder! murmelte er, Italiener! das ist ihr großes Wort. Mit diesem Worte haben sie Concini ermordet, aufgehängt, in den Abgrund gestürzt. Und am liebsten würden sie auch mich vernichten, obgleich ich ihnen nie ein anderes Leid zugefügt habe, als daß ich von ihnen ein wenig Geld erpreßte.

Ja, ja, fuhr der Minister mit seinem seinen Lächeln auf seinen bleichen Lippen fort, ja, euer Geschrei sagt mir, daß das Geschick der Günstlinge unsicher ist. Aber wenn ihr dies wißt, so müßt ihr auch wissen, daß ich kein gewöhnlicher Günstling bin! Der Graf von Essex besaß einen glänzenden Diamantring, den ihm seine königliche Geliebte geschenkt hatte. Ich besitze einen einfachen Ring mit einem Namenszeichen und einem Datum, aber dieser Ring ist in der Kapelle des Palais Royal gesegnet worden. Bekanntlich hatte Mazarin, der keine von den Weihen empfangen, welche die Ehe verbieten, Anna von Österreich geheiratet. Sie bemerken nicht, daß ich sie mit ihrem ewigen Geschrei: Nieder mit Mazarin! bald: Es lebe Herr von Beaufort! bald: Es lebe der Herr Prinz! bald: Es lebe das Parlament! schreien lasse. Nun wohl, Herr von Beaufort ist im Gefängnis zu Vincennes, der Herr Prinz wird demnächst zu ihm kommen, und das Parlament …

Hier nahm das Lächeln des Kardinals einen Ausdruck des Hasses an, dessen sein sanftes Gesicht unfähig zu sein schien … Und das Parlament … wir werden sehen, was wir damit machen; wir haben Orleans und Montargis! O, ich werde meine Zeit zu wählen wissen, die Reihe kommt an jeden.

Richelieu, den sie haßten, solange er lebte, und von dem sie beständig sprechen, seit er tot ist, stand tiefer als ich, denn er ist oft fortgejagt worden. Die Königin wird mich nie fortjagen, und wenn ich gezwungen werde, dem Volk zu weichen, so wird sie mit mir weichen, und wir werden dann sehen, was die Rebellen ohne ihren König und ihre Königin sind. Oh! wenn ich nur kein Fremder, wenn ich nur Franzose, wenn ich nur Edelmann wäre! – Und er versank wieder in seine Träumerei.

Die Lage war allerdings schwierig, und der soeben abgelaufene Tag hatte sie noch mehr verwickelt. Beständig von seinem schmutzigen Geiz angestachelt, erdrückte Mazarin das Volk mit Steuern, und dieses Volk hatte seit langer Zeit angefangen zu murren.

Doch das war noch nicht alles, denn wenn nur das Volk murrt, so hört es der Hof nicht, da er von ihm durch die Bürgerschaft und die Edelleute getrennt ist. Aber Mazarin hatte die Unklugheit gehabt, sich, an den Beamten zu vergreifen! Er hatte zwölf Staatsratsstellen verkauft, und da diese Beamten ihre Stellen sehr teuer bezahlten und die Beiordnung dieser zwölf neuen Kollegen den Preis herabdrücken mußte, so vereinigten sie sich und schwuren auf das Evangelium, diese Vermehrung nicht zu dulden und allen Verfolgungen des Hofes zu widerstehen, mit dem gegenseitigen Versprechen, falls einer von ihnen durch diese Rebellion seine Stelle verlieren sollte, ihm gemeinschaftlich den Kaufpreis zurückzuzahlen.

Am 7. Januar hatten sich sieben- bis achthundert Pariser Kaufleute versammelt und sich gegen eine neue Steuer erhoben, die man den Hausbesitzern auflegen wollte. Zehn von ihnen waren dann zum Herzog von Orleans geschickt worden. Diesem, der seiner Gewohnheit gemäß den Volksfreund spielte, erklärten sie, sie seien entschlossen, die Steuer nicht zu bezahlen, und müßten sie sich mit bewaffneter Hand dagegen wehren. Der Herzog hörte sie mit großer Leutseligkeit an, versprach, mit der Königin zu reden, und entließ sie mit dem gewöhnlichen Trostspruch der Fürsten: Man wird sehen!

Dasselbe Versprechen gab Mazarin den bei ihm mit Festigkeit und Kühnheit Beschwerde führenden Staatsräten.

Um zu sehen, versammelte man sodann den Rat und schickte nach dem Oberintendanten der Finanzen d’Emery.

Dieser d’Emery wurde vom Volke sehr verabscheut, einmal weil jeder Oberintendant der Finanzen verabscheut wird, und dann, weil er es einigermaßen verdiente. Er kam, als man ihn rufen ließ, ganz bleich und bestürzt herbei und sagte, sein Sohn sei an demselben Tag auf der Place du Palais beinahe ermordet worden. Das Volk war ihm entgegengetreten und hatte ihm den Luxus seiner Frau vorgeworfen, welche ein mit rotem Samt und goldenen Fransen tapeziertes Zimmer besaß. Ihr Vater, Nicolas Lecamus, der 1617 Sekretär des Königs war, war mit zwanzig Livres nach Paris gekommen und hatte neun Millionen unter seine Kinder verteilt, nachdem er sich eine Leibrente von vierzigtausend Franken vorbehalten hatte.

Der Sohn d’Emerys war beinahe erstickt worden. Einer von den Meuterern machte nämlich den Vorschlag, ihn zu pressen, bis er das Gold, welches er verschlungen, zurückgegeben hätte. Der Rat entschied an diesem Tage nichts, denn der Oberintendant war zu sehr von diesem Ereignis ergriffen, um den Kopf frei zu haben.

Am andern Tag wurde der erste Präsident, Mathieu Molé, dessen Mut dem des Herzogs von Beaufort und des Prinzen von Condé, das heißt der beiden tapfersten Männer jener Zeit gleich kam, ebenfalls angegriffen. Das Volk drohte ihm; aber der erste Präsident antwortete mit seiner gewöhnlichen Ruhe, wenn die Aufrührer nicht dem Willen des Königs gehorchten, so werde er Galgen auf den öffentlichen Plätzen errichten und sogleich die ärgsten Schreier aufknüpfen lassen. Diese erwiderten hierauf, es wäre ihnen nichts lieber, als Galgen errichten zu sehen, dann könne man doch die schlechten Richter hängen, welche die Gunst des Hofes mit dem Elend des Volkes erkaufen.

Das war noch nicht genug. Am 11. wurde die Königin, als sie zur Messe ging, von mehr als zweihundert Weibern verfolgt, welche schrieen und Gerechtigkeit forderten. Sie hatten indessen keine böse Absicht und wollten sich ihr nur zu Füßen werfen, um ihr Mitleid rege zu machen. Aber die Wachen verhinderten sie daran, und die Königin ging hochmütig und stolz, ohne auf ihr Geschrei zu hören, an ihnen vorüber.

Am Nachmittag versammelte sich der Rat abermals, und es wurde beschlossen, das Ansehen des Königs aufrechtzuhalten. Infolgedessen berief man das Parlament auf den nächsten Tag.

An diesem Tag, an dessen Abend unsere Geschichte beginnt, ließ der König, der damals zehn Jahre alt war, seine Garden, seine Schweizer und seine Musketiere ausrücken, stellte sie um das Palais Royal, auf den Quais und auf dem Pont Neuf auf und begab sich, nachdem er die Messe gehört hatte, in das Parlament, wo er nicht allein seine früheren Edikte bestätigte, sondern auch fünf bis sechs neue erließ, so daß der erste Präsident, der vorher für den Hof war, sich unerschrocken gegen diese Art der Gesetzgebung aussprach. Am entschiedensten protestierten aber gegen die neuen Steuern der Präsident Blanemesnil und der Rat Broussel.

Nachdem die Edikte erlassen waren, kehrte der König nach dem Palais Royal zurück. Eine große Volksmenge befand sich auf seinem Wege. Da man aber noch nicht wußte, ob er im Parlament dem Volke habe Gerechtigkeit widerfahren lassen oder es aufs neue bedrückt habe, so ertönte nicht ein einziger Freudenruf, um ihn zu seiner Wiederherstellung zu beglückwünschen. Alle Gesichter waren im Gegenteil düster und unruhig, einige sogar drohend.

Trotz seiner Rückkehr blieben die Truppen auf dem Platze, denn man befürchtete, es könnte eine Empörung ausbrechen, sobald man das Resultat der Parlamentssitzung erführe, und in der Tat hatte es kaum in den Straßen verlautet, daß der König die Steuern noch vermehrt habe, als sich Gruppen bildeten und von allen Seiten die Rufe erschollen: Nieder mit Mazarin! Es lebe Broussel! Es lebe Blancmesnil!

Man wollte diese Gruppen zerstreuen und das Geschrei ersticken, aber, wie dies in solchen Fällen geschieht, die Gruppen wurden zahlreicher, und das Geschrei verdoppelte sich. Man hatte den Leibwachen des Königs und den Schweizerwachen soeben Befehl gegeben, nicht nur den Platz vor dem Schloß zu halten, sondern auch in den besonders aufgeregten Straßen Saint-Denis und Saint-Martin zu patrouillieren, als man im Palais Royal den Vorsteher der Kaufmannschaft meldete. Dieser erklärte, wenn man nicht auf der Stelle diese feindseligen Demonstrationen aufgebe, werde ganz Paris in zwei Stunden unter den Waffen sein.

Man beratschlagte, was man tun solle, als Comminges, Leutnant bei den Garden, mit zerrissenen Kleidern und blutigem Gesicht erschien. Sobald die Königin ihn erblickte, stieß sie einen Schrei des Erstaunens aus und fragte ihn, was er habe.

Beim Anblick der Garden waren die Geister gänzlich in Wut geraten. Man hatte sich der Glocken bemächtigt und Sturm geläutet. Comminges hatte den Hauptaufrührer verhaftet und, um ein Beispiel zu geben, befohlen, ihn an der Croix du Trahoir aufzuhängen. Demzufolge hatten ihn die Soldaten fortgeschleppt. Aber in den Hallen waren sie mit Steinwürfen und Hellebarden angegriffen worden. Der Rebell hatte diesen Augenblick benützt, um zu entfliehen. Er hatte die Rue Tiquetonne erreicht und sich in ein Haus geworfen, dessen Türen man sogleich einstieß. Man fand aber den Mann nicht. Während Comminges sich nach Zurücklassung eines Postens nach dem königlichen Schloß begab, war er angegriffen worden und hatte selbst einen Steinwurf an die Stirne bekommen.

Die Erzählung des Leutnants bestätigte die Worte des Vorstehers der Kaufmannschaft. Man war nicht im stände, einer ernstlichen Empörung Trotz zu bieten. Der Kardinal ließ im Volk ausstreuen, die Truppen würden sich zurückziehen, und gegen vier Uhr abends konzentrierten sie sich wirklich nach dem Schlosse zu. Man stellte einen Posten an der Barriere des Sergens, einen andern bei den Quinze-Vingts, einen dritten bei der Butte Saint-Roch auf. Man füllte die Höfe und die Erdgeschosse mit Schweizern und Musketieren und wartete.

So standen die Dinge, als wir unsere Leser in Mazarins Zimmer einführten. Wir haben gesehen, in welchem Gemütszustand er das bis zu ihm dringende Gemurmel des Volkes und das Echo der Flintenschüsse in seinem Zimmer hörte.

Plötzlich erhob er das Haupt; die Stirne halb gefaltet, wie ein Mann, der seinen Entschluß gefaßt hat, heftete er seine Augen auf eine ungeheure Pendeluhr, die eben sechs schlug, nahm eine auf dem Tisch in seiner Nähe liegende Pfeife und pfiff zweimal.

Eine geheime Tapetentüre öffnete sich geräuschlos, ein schwarz gekleideter Mann trat stillschweigend hervor und blieb aufrecht hinter dem Lehnstuhl stehen.

Bernouin, sprach der Kardinal, ohne sich umzudrehen, denn da er zweimal gepfiffen hatte, so wußte er, daß es sein Kammerdiener sein mußte, welche Musketiere haben die Wache im Palais? – Die Kompagnie Treville von den schwarzen Musketieren, Monseigneur. – Gut. Ist ein Offizier dieser Kompagnie im Vorzimmer? – Der Leutnant d’Artagnan. – Ein guter, glaube ich. – Ja, Monseigneur. – Gib mir eine Musketieruniform und Hilf mir beim Ankleiden.

Der Kammerdiener entfernte sich ebenso schweigend, als er eingetreten war, und kam nach einem Augenblick mit dem verlangten Anzug zurück.

Still und nachdenklich begann nun der Kardinal sich zu entkleiden, und das militärische Kleid anzuziehen, das er, durch seine früheren Feldzüge in Italien geübt, mit ziemlicher Leichtigkeit trug. Als er vollständig angekleidet war, sagte er: Hole mir Herrn d’Artagnan.

Als der Kardinal allein war, betrachtete er sich mit einer gewissen Zufriedenheit im Spiegel; er war noch jung, denn er zählte kaum sechsundvierzig Jahre; Mazarin war ein Mann von zierlicher Gestalt, wenn auch etwas unter der Mittlern Größe, hatte eine lebhafte, schöne Gesichtsfarbe, einen feurigen Blick, eine große, jedoch ziemlich proportionierte Nase, eine breite, majestätische Stirne, kastanienbraune, etwas krause Haare und einen sehr dunklen Bart. Dann zog er sein Wehrgehänge an, beschaute seine schönen, sorgfältig gepflegten Hände, warf die zu der Uniform gehörigen Handschuhe von Damhirschleder, die er bereits genommen hatte, beiseite und schlüpfte in einfache seidene Handschuhe.

In diesem Augenblick öffnete sich die Türe wieder. Herr d’Artagnan, sprach der Kammerdiener. Der Eintretende war ein Mann von neununddreißig bis vierzig Jahren, von kleiner Gestalt, aber gut gebaut, mager, mit lebhaftem, geistreichem Blick, der Bart schwarz und die Haare mit Grau vermischt, wie dies immer geschieht, wenn man das Leben zu gut oder zu schlecht gefunden hat, und besonders wenn man sehr brünett ist.

D’Artagnan trat vier Schritte vor; er erkannte das Zimmer, wo er einmal zu Richelieus Zeit gewesen war. Da er niemand erblickte, als einen Musketier von seiner Kompagnie, so heftete er seine Augen auf diesen, und bei dem ersten Blick war er überzeugt, daß er den Kardinal vor sich habe.

Er blieb in ehrfurchtsvoller, aber würdiger Haltung stehen. Der Kardinal schaute ihn prüfend mit seinen mehr seinen, als tiefen Augen an und sagte nach kurzem Stillschweigen: Ihr seid Herr d’Artagnan? – Ja, Monseigneur, antwortete der Offizier.

Der Kardinal betrachtete noch einen Augenblick den klugen Kopf und das Gesicht, dessen übermäßige Beweglichkeit durch die Jahre und die Erfahrung gemildert worden war; aber d’Artagnan ertrug die Prüfung wie ein Mann, der einst den forschenden Blick weit durchdringenderer Augen ausgehalten hatte.

Mein Herr, sagte der Kardinal, Ihr werdet mit mir gehen, oder vielmehr, ich gehe mit Euch.

Zu Euren Befehlen, Monseigneur, antwortete d’Artagnan.

Ich will die Posten um das Palais Royal selbst visitieren; glaubt Ihr, daß Gefahr dabei ist?

Gefahr, Monseigneur? fragte d’Artagnan, und welche?

Das Volk soll äußerst aufgeregt sein.

Die Uniform der Musketiere des Königs ist sehr geachtet, Monseigneur, und wäre sie es nicht, so machte ich mich dennoch anheischig, mit vier Mann hundert von diesen Lumpenkerlen in die Flucht zu schlagen.

Ihr habt gesehen, was Comminges begegnet ist.

Herr von Comminges ist bei den Garden und nicht bei den Musketieren.

Womit Ihr sagen wollt, versetzte der Kardinal lächelnd, die Musketiere seien bessere Soldaten als die Garden.

Jeder liebt seine Uniform, Monseigneur.

Mich ausgenommen, sprach Mazarin, denn Ihr seht, daß ich die meinige abgelegt habe, um die eurige anzuziehen. Bernouin, meinen Hut!

Der Kammerdiener brachte einen breitkrempigen Uniformhut; der Kardinal setzte ihn sehr unternehmend auf und wandte sich dann wieder zu d’Artagnan um.

Ihr habt gesattelte Pferde im Stall, nicht wahr? – Ja, Monseigneur. – So gehen wir. – Wieviel Leute befiehlt Monseigneur? – Ihr sagtet, mit vier Mann würdet Ihr Euch anheischig machen, hundert solche Lumpenkerle in die Flucht zu schlagen; da wir zweihundert begegnen könnten, so nehmt acht. – Wann beliebt es Eurer Eminenz? – Ich folge Euch sogleich; leuchte uns, Bernouin.

8. Kapitel. General Monk

Es ist bisher noch stets der Verlauf einer jeden Revolution gewesen, daß die bis zur Erreichung des hauptsächlichen Zwecks einigen bürgerlichen Parteien sich später entzweien. So war es bei der großen französischen Revolution, so war es auch schon bei jener englischen, durch die König Karl erst seinen Thron und dann den Kopf verlor. Nachdem der gewaltige Oliver Cromwell gestorben war, nachdem sein Sohn das Protektorat niedergelegt hatte, tat sich eine Menge von Mißvergnügten zusammen, denen die Beschlüsse des Parlaments nicht mehr behagten und die eine andere Regierungsform verlangten. An die Spitze dieser Elemente trat der General Lambert, während die Parlamentspartei den General Monk, einen geborenen Schotten, zum Oberhaupt erkor. Von vornherein war dessen Partei im Uebergewicht; man redete Lambert nach, er trachte danach, eine Militärrepublik zu gründen, mit sich selbst am Ruder; dagegen war man fest überzeugt, daß Monk, ohne jedes persönliche Nebeninteresse, nur auf die Stärkung des bürgerlichen Parlaments bedacht sei. Die Sympathien der Mehrzahl der Bevölkerung lagen daher auf Monks Seite. Die Verhältnisse hatten sich bis zur Feindseligkeit zwischen beiden Lagern zugespitzt, und Lambert und Monk standen ein jeder an der Spitze einer Armee bereit, sich in offenem Kampfe zu messen. Das war in der Gegend von Newcastle, und die alte Abtei dieses Namens lag gerade zwischen den Quartieren der feindlichen Heere.

In Monks Lager herrschte Hungersnot. Der General saß eines Abends, gegen zehn Uhr, in seinem Zelt und kaute Tabak, um den knurrenden Magen zu beruhigen, da eilten mit Freudengeschrei mehrere Soldaten herbei, und ein Offizier trat, ohne sich melden zu lassen, ein und rief: »General! Sie werden heute zu Abend speisen.« – »Das habe ich bereits getan,« antwortete Monk gelassen. »Eben hielt ich mein Verdauungsstündchen. Was führt Euch her?« – »Wir haben eine Fischerbarke abgefangen, die mit einer Ladung Fische an den Strand geworfen wurde.« – »Daran tatet ihr nicht wohl, Kinder,« versetzte der General. »Ihr hättet den Fang Lamberts Leuten lassen sollen. Wenn sie heute abend nichts zu essen haben, werden sie keine Lust verspüren, sich morgen mit uns zu schlagen, wozu sie nach einem guten Abendessen sicher Mut gehabt hätten. Doch was sind das für Fischer?«

»Sie kommen aus der Picardie.« – »Sprechen sie Englisch?« – »Der Kapitän versteht ein paar Brocken davon.« – »Führt sie her! Und – wie viele sind es? Was für ein Schiff haben sie?« – »Es sind ihrer elf. Ihr Fahrzeug ist eine Barke holländischen Typs.« – »Gut, ich will sie sehen.«

Der Offizier führte den Kapitän der Fischer herein, einen Mann von etwa 55 Jahren, aber noch sehr rüstig und jugendlich. Unter der tief in die Stirn gezogenen Mütze blitzten ein paar pfiffige Augen. Er hatte den eigentümlich unsichern Gang der Seeleute an sich, die nur auf den schwankenden Brettern eines Schiffes fest aufzutreten vermögen. Monk musterte den Mann mit durchdringendem Blick. Der Fischer antwortete darauf mit einem dummdreisten Lächeln, wie es den französischen Bauern eigen ist.

»Du sprichst Englisch?« fragte Monk. – »Sehr schlecht,« antwortete jener in südfranzösischem Akzent. »Wir Seeleute schnappen ja von allen Sprachen etwas auf.« – »Du scheinst mehr um Gascogne herum als in der Picardie zu Hause zu sein,« meinte Monk lächelnd. – »Von Geburt bin ich aus Südfrankreich,« war die Antwort, »aber seit langen Jahren fische ich in den nördlichen Gegenden. Habe heute einen guten Fang gemacht. Einen Stör von 30 Pfund, an die 100 Schleien und zahllose Weißfische.« – »Schön, den Fang kaufe ich dir ab. Aber warum bietest du ihn hier aus?« – »Herr, der Fischer stößt das Boot ins Meer, aber Himmel und Wind tun das Uebrige. Ich wollte nicht hier landen.«

»Wenn du von dort drüben kommst,« fuhr Monk fort, mit einer Handbewegung nach der Richtung, wo jenseits der See die holländische Küste lag, »hast du da vielleicht etwas von Karl II. gehört, dem verstoßenen König von England?« – »Ei freilich, Mylord,« antwortete der Fischer mit täppischer Offenherzigkeit, »als wir nämlich bei Ostende nach Makrelen fischten, sahen wir aus einem am Strande gelegenen Häuschen einen Mann kommen, der zum Gestade schritt. Im Näherkommen erkannten wir in ihm Karl II. Er sah sehr traurig aus. Ich glaube, die Luft in Holland ist ihm nicht dienlich. Er guckte starr nach hier hinüber. Ich denke mir, er hat Heimweh – möchte halt gern wieder hier sein. Sie wissen ja, Wilhelm II. von Nassau, der Statthalter von Holland, wäre ihn auch am liebsten los. Er darf ihm wegen der Freundschaft mit England und Frankreich kaum noch Hilfe leisten.« – »Du scheinst in der Politik gut Bescheid zu wissen,« sagte Monk. – »Wir Seeleute beobachten doch täglich Wasser und Luft, die beiden veränderlichsten Dinge auf der Welt, und seitdem wir gelernt haben, in beidem trotz aller Unbeständigkeit mit Sicherheit zu lesen, irren wir uns auch in andern Dingen nur selten.«

»Du hast also eine gute Ladung an Bord?« fragte der General. »Wie teuer verkaufst du sie?« – »Ich kann doch keinen Preis machen, Mylord, kraft dem Faustrecht gehören die Fische Ihnen.« – »Ich will kaufen und nicht rauben,« antwortete der Feldherr. »Ich zahle den üblichen Preis. Geh mit dem Offizier dort, er wird dir das Geld geben. Und höre noch eins! Wenn du zu deinem Schiffe zurückkehrst, so geh nicht durch das Moor. Dort stehen ein paar Posten von mir, die Euch anhalten würden. Wenn sie Euch nun das Geld nähmen, so würdest du bei dir zu Hause erzählen, General Monk hätte zwei Hände, eine schottische und eine englische, und mit der schottischen nähme er wieder zurück, was er mit der englischen gegeben.« – »Können Mylord mir einen Zimmermann mitgeben?« fragte der Fischer. »Ihre Soldaten haben mein Boot demoliert und wir haben nun zwei Schuh Wasser drin.« – »Das soll geschehen,« sprach Monk und wendete sich an seinen Adjutanten. »Digby, sorgen Sie dafür, daß der Mann mit seinen Leuten in der Nähe seines Boots in einem Zelte schlafen kann, damit sie nicht des Nachts im Wasser zu liegen brauchen. Schicken Sie ihnen ein paar Arbeiter. Was gibt es, Spithead?« fragte er einen Sergeanten, der eintrat.

»Ein französischer Edelmann bittet um Einlaß,« war die Antwort. – »Wer ist das?« fragte Monk, während der Fischer die Ohren spitzte. – »Er hat mir seinen Namen genannt, aber diese französischen Worte sind nichts für meine englische Kehle,« antwortete der Sergeant.

»Hm, du kannst ihn hereinlassen.« – »Sollen ihm die Augen verbunden werden?« – »Warum? Er kann getrost sehen, daß ich hier 11 000 tapfere Soldaten um mich habe.« Dann wendete er sich an den Fischer. »Auf Wiedersehen, braver Kerl. Mein Adjutant wird dich führen.« – »Schönen Dank, Mylord,« antwortete der Mann und ging hinaus.

Draußen begegnete er der Wache, die den französischen Edelmann herbeiführte. Der fremde Kavalier saß zu Pferde und blickte schnurstracks vor sich hin. Er beachtete infolgedessen den Fischer gar nicht, während dieser sich dicht an das Pferd herandrängte und beim Scheine eines Wachtfeuers einen raschen Blick auf das Gesicht des Reiters warf. Er stutzte und blieb vor Verblüffung stehen, dann aber faßte er sich rasch, denn er durfte sich nichts merken lassen. »Ich muß mich wohl auch verguckt haben,« brummte er vor sich hin. »Es ist ja ganz unmöglich. Es ist ja undenkbar.«

Der französische Edelmann trat in das Zelt und fand eine freundlichere Aufnahme, als er von Seiten eines so argwöhnischen Mannes wie Monk erwartet hatte. Ruhig, wenn auch scharf, musterte der General seinen Besuch und gab ihm dann einen Wink, sein Anliegen vorzutragen. – »Ich bin Graf de la Fère,« begann Athos mit einer Verbeugung. – »Entschuldigen Sie,« sagte Monk, nachsinnend, »ich höre diesen Namen zum erstenmale. Sind Sie vom Hofe?« – »Nein, ich lebe als Privatmann, bin aber durch Karl I. Ritter des Hosenbandordens und durch Anna von Oesterreich Ritter des Heiligen-Geist-Ordens.« – »Bei welchem Anlaß wurden Sie dekoriert?« – »Für Dienste, die ich den Majestäten leistete.« – »Und was wünschen Sie jetzt von mir?«

Das Gespräch wurde in englischer Sprache geführt, die ja Athos noch von den vielen in England verlebten Jahren her vollständig beherrschte.

»Mylord,« antwortete er aufs Monks letzte Frage, »ich habe im Jahre 1648 in Newcastle gewohnt, und zwar gerade in den Gärten, die jetzt von den Soldaten Eurer Herrlichkeit besetzt sind. Damals stand ich im Dienste Karls I. und mußte, nachdem er gefallen war, flüchten. Ich besaß eine große Summe Geldes, die ich in der damaligen Zeit nicht mit auf die Reise nehmen wollte. Deshalb vergrub ich es im Keller jenes Turmes, den Sie dort hinten im Mondschein emporragen sehen. Jetzt bin ich gekommen, es mir zu holen, und bitte Eure Herrlichkeit um Erlaubnis, mein Eigentum in Sicherheit zu bringen, ehe es vielleicht durch die bevorstehende Schlacht zwischen Ihnen und General Lambert gefährdet wird oder gar in die Hände der Soldaten fällt.«

Monk war ein feiner Menschenkenner; dennoch wußte er jetzt nicht, ob er diese Mitteilung des Fremden einer edeln Offenherzigkeit zuschreiben oder eine ihm gestellte Falle darin vermuten solle. »Ist denn die Summe so bedeutend, Herr Graf,« fragte er, »daß es sich der Mühe lohnt? Und glauben Sie wirklich, das Geld sei noch vorhanden? Nach so langer Zeit?« – »Es handelt sich um eine Million.« – Monk stutzte und sah Athos scharf an. Das erschien ihm denn doch ganz unglaublich. – »Hm,« sagte er, »und Sie wollen das Geld heute noch haben? Warum wendeten Sie sich nicht an General Lambert? Er steht ebenso nahe bei der Abtei, wie ich selbst.« – »Ich folge in derlei Dingen stets meinem Gefühl,« antwortete der Franzose. »Zu General Lambert habe ich nicht so großes Vertrauen, wie zu Ihnen. Was die Frage anbetrifft, ob das Geld auch noch da sei, so unterliegt das für mich gar keinem Zweifel. Der Versteck war gut gewählt, war niemand als mir bekannt, und ich werde die Stelle ohne Schwierigkeit wiederfinden.«

»Ich werde Ihnen sehr gern behilflich sein,« antwortete Monk, »ja, ich will Sie sogar begleiten. Das ist ja auch notwendig, weil die Posten Sie sonst nicht so weit vorlassen würden. Wir können gleich gehen. Sollen wir Leute mitnehmen?« – »Das ist nicht nötig. Zwei Männer und ein Pferd genügen, die beiden Fässer mit Gold auf das Schiff zu bringen, das am Strande auf mich wartet.« – »Er sieht nicht aus wie ein Meuchelmörder,« dachte Monk bei sich, »und dennoch hat er es drauf abgesehen, mit mir an einem einsamen Fleck allein zu sein. Nun, ich will’s drauf ankommen lassen.« Und laut setzte er hinzu: »Es muß doch aber jedenfalls gegraben werden, wollen Sie das selbst machen?« – »Es braucht nicht gegraben zu werden,« antwortete Athos. »Der Schatz liegt in einer Gruft, die mittels eines Steins verschlossen ist. Der Stein ist an einem eisernen Ringe in die Höhe zu heben. Eine kleine Treppe von vier Stufen befindet sich darunter, und an ihrem Grunde liegen, von einer Schicht Gips bedeckt, die beiden Fässer. Sie sehen, ich mache in dieser Angelegenheit gar kein Geheimnis vor Ihnen.«

Monk antwortete nicht. Er war im höchsten Maße erstaunt. Entweder besaß der Fremde eine außergewöhnlich vollendete Verstellungskunst und spielte seine Rolle als Kundschafter meisterhaft, oder aber er war von größter Vertrauensseligkeit, daß er sich als Besitzer von einer Million mitten in ein Kriegslager hineinwagte, wo Raub und Faustrecht galten. – »Ich begleite Sie,« sagte der General, »das Abenteuer erscheint mir so seltsam, daß ich selbst die Fackel halten will.« – Als er dies sagte, schnallte Athos sein Schwert ab und legte es auf den Tisch. Er öffnete sein Wams, wie um sein Schnupftuch herauszunehmen, und zeigte dabei dem scharf beobachtenden General, daß er auch auf der Brust keinerlei Waffen trug. – »Sonderbar,« dachte dieser bei sich. »Er ist tatsächlich ganz unbewaffnet. Also muß er in der Abtei einen Hinterhalt gelegt haben.« – Darauf drehte er sich zu seinem Adjutanten herum und sagte: »Es soll mich niemand begleiten. Ich gehe allein.«

6. Kapitel. Rudolfs und Athos‘ Tod

Während alle diese Ereignisse die einst unzertrennlichen vier Musketiere auseinanderbrachten, weilte Athos, Rudolfs und Grimauds beraubt, allein in Blois, und die Einsamkeit rieb seine Kräfte auf und machte ihn in kurzer Zeit zum Greise. Schmerzen und Beschwerden, die er früher nie gekannt, stellten sich nun plötzlich ein, Schwermut, Gram und Verzweiflung überkamen ihn immer unwiderstehlicher. Der Graf de la Fère, der Mann des Krieges, war bei allem Ungemach, das er erlitten, bei allen Gefahren, die er bestanden, bis in sein 62. Lebensjahr hinein ein Jüngling geblieben. Als er seinen Sohn verloren, war er in acht Tagen ein alter Mann geworden.

Noch immer schön, obwohl gebeugt, noch immer edel, obwohl tieftraurig, sanftmütig und wankend unter seinen erbleichenden Haaren, schritt er allein, ein Bild der Verlassenheit, im Park seiner Besitzung auf und ab. Er bestieg kein Pferd mehr, er nahm keinen Degen mehr zur Hand, er ritt nicht mehr auf die Jagd – er machte nur noch täglich einen kurzen Spaziergang, sonst saß er still und regungslos in seinem Stuhle oder lag wohl gar im Bett. Seine Diener erschraken, wenn sie ihn so teilnahmlos sahen; sie fürchteten alles Ernstes für seinen Verstand, und als er gar anfing, tagsüber mitten über seinen Träumereien einzuschlafen, da holten sie einen Arzt. Der aber konnte nicht helfen; er erfuhr nicht einmal die Ursache dieser Umwandlung des Grafen.

»Herr,« sprach der wackere Mann schließlich, um einen letzten Versuch zu machen, den Kranken zum Reden zu bringen, »Sie sind ein guter Christ. Würden Sie sich das Leben nehmen?« – »Niemals, Doktor,« antwortete Athos. – »Nun denn, Sie tun es, wenn Sie in diesem Zustande bleiben,« sagte der Doktor, »das ist Selbstmord. Also werden Sie gesund.« – »Ich bin ja gar nicht krank,« entgegnete de la Fère. »Ich habe mich nie so wohl gefühlt, ich liebe den Himmel, die Sonne und meine Blumen wie nie zuvor.«

»Aber Sie nähren einen verborgenen Gram!« – »Verborgen? Nicht doch! Mein Sohn ist in der Ferne, das ist mein Kummer, daraus mache ich gar kein Hehl.«

»Aber Ihr Sohn lebt, ist rüstig und hat eine glänzende Zukunft vor sich,« rief der Arzt. »Leben Sie für ihn!« – »O, seien Sie unbesorgt, solange Rudolf noch nicht tot ist, werde ich am Leben bleiben.« – »Wie meinen Sie das?« – »Ganz einfach. Ich lasse das Leben sozusagen in der Schwebe, Doktor. Verlangen Sie doch von einer Lampe nicht, daß sie brenne, wenn kein Funke an den Docht gelegt wird. Verlangen Sie nicht von mir, daß ich ein Leben voll Licht und Geräusch führe, solange mein Sohn fort ist. Ich vegetiere, ich halte mich bereit, ich warte. Ich bin wie ein Soldat, der auf seine Einschiffung wartet; er gehört noch nicht dem Fahrzeug an, das ihn aufs Meer tragen soll, doch auch nicht mehr ganz der Erde, von der er scheiden soll. Sein Gepäck ist bereit – er schaut nach dem fernen Horizont und wartet. So steht es mit mir. Sobald der Ruf erschallt, breche ich auf. Von wannen wird dieser Ruf ausgehen? Vom Leben oder vom Tode?«

Der Doktor kannte diese feste, eiserne Seele, und da er wußte, daß Arzeneien ein Unding wären, so ging er fort, nachdem er der Dienerschaft empfohlen hatte, ihren Herrn keinen Augenblick allein zu lassen. In der Nacht nach dem Besuch des Doktors träumte Athos von Rudolf: Der junge Mann kleidete sich in seinem Zelt an, um auf eine Expedition zu gehen, mit der Herr von Beaufort ihn betraut hatte. Er war traurig und schnallte sich langsam das Schwert um. – »Was hast du?« fragte ihn sein Vater zärtlich. – »Ich bin betrübt, daß Porthos gestorben ist,« antwortete Rudolf. »Das schmerzt mich hier ebenso tief, wie es Sie dort schmerzt.« – Athos erwachte; der Tag brach an, und man meldete ihm alsbald, ein Brief aus Spanien sei angekommen. – Er erkannte die Schrift d’Herblays. »Aramis schreibt mir,« sagte er, öffnete den Umschlag und las.

»Porthos ist tot!« rief er nach den ersten Zeilen. »O, Rudolf, daran erkenne ich, du hältst dein Versprechen, du gibst mir Nachricht!« – Und von kaltem Schweiß übergossen, sank er ohnmächtig auf sein Bett.

Als er zu sich kam, schämte er sich fast, daß ein solches Traumgesicht ihn so erschüttert habe. Er vollendete die Lesung des Briefes, der ihm von den Vorgängen auf Belle-Ile Kunde gab, und beschloß, nach Pierrefonds zu reisen und dann mit d’Artagnan nach der Insel zu fahren, wo er die Stelle besichtigen wollte, an welcher der treue, gute Porthos den Tod gefunden. Aber kaum hatten seine Diener ihn angekleidet, froh, ihn zu einer Reise entschlossen zu sehen, kaum war das Pferd gesattelt, so fühlte Athos sich plötzlich wieder von Schwäche befallen und vermochte keinen Schritt zu tun. Man brachte ihn auf eine Bank, wo er sich niederließ, den Kopf in beide Hände nahm und eine ganze Stunde in einem halb bewußtlosen Zustande verharrte. Als er aufstehen konnte, nahm er Suppe und Wein zu sich. Er stieg dann wirklich mühsam in den Sattel und ritt fort.

Nach hundert Schritten begann er heftig zu zittern. »Halten wir an, gnädiger Herr,« sagte der Diener, der ihn begleitete, »Sie werden blaß.« – »Das soll mich nicht hindern, den einmal eingeschlagenen Weg fortzusetzen,« antwortete Athos und ließ dem Pferd den Zügel. – Aber nach wenigen Schritten schon blieb das Tier ein zweitesmal stehen, anscheinend von selbst und gegen den Willen seines Herrn. – »Ein Etwas will, daß ich nicht weiterreite,« sprach Athos. »Schnell – alle Kräfte verlassen mich – hilf mir herab, sonst falle ich aus dem Sattel.« Der Bediente fing den Herabsinkenden in den Armen auf. Da sie noch nicht weit vom Hause entfernt waren, konnte er die andern Diener herbeirufen, und man führte nun den Grafen in sein Zimmer zurück, wo er sich sofort wohler fühlte. Dennoch kam er auf seinen Entschluß zurück und ließ sich das Pferd wieder vorführen. Als er die Hand an den Zaum legte, bäumte sich das Tier, riß sich los und lief ein Stück weit weg. Athos schüttelte den Kopf. – »Ich soll daheim bleiben,« sagte er, »das ist klar. Also fügen wir uns.«

Er kehrte ins Haus zurück und legte sich zu Bett. Er schlummerte ein, aber der Schlaf war nicht erquickend. Der Tag verging; Athos hatte bestimmt Nachrichten aus Afrika erwartet, aber es kam kein Brief an. Wenn der Kurier nicht infolge einer geringen Verspätung über Nacht anlangte, dann mußte der Graf, da Depeschen aus Afrika nur alle acht Tage befördert wurden, eine neue Woche qualvoller Ungewißheit erdulden. Während er dies bedachte, schlief er ein, und mitten in die Gefilde von Afrika ward er im Geist geführt. Er sah den trocknen Wüstensand zu seinen Füßen, er fühlte die brennende Sonne des Südens auf seiner Haut, und heißer Wind blies gegen seine glühende Stirn an.

Auf dem dürren Gelände lag eine kleine Ortschaft, aus der dichter Rauch aufwirbelte, Flammen schossen gen Himmel, ein roter Wirbel umhüllte alles. Gräßliches Geschrei zerriß die Luft. Balken stürzten, Steine prasselten hernieder. Aber obwohl ein schreckliches Gewirr von Stimmen erscholl, sah man doch kein menschliches Antlitz. Aus der Ferne klangen Kanonenschüsse herüber, Musketensalven knatterten, das Meer brüllte, Getier flüchtete in langen Sätzen über den Boden – und doch sah man keinen Soldaten mit Lunte oder Flinte, keinen Hirten jener Tiere, keinen Bewohner der Gegend.

Die Nacht brach herein – ein sternenheller Himmel stand über der Szene der Verwüstung, tiefes Schweigen lag über der Landschaft. Der Mond ging auf, und in seinem bleichen Lichte sah Athos nun Leichen ringsum am Boden liegen. Angst und Schrecken ergriffen ihn, als er die Uniformen französischer Soldaten erkannte und die Musketen erblickte, mit dem Zeichen der Lilie am Schaft. Und im Traum schritt Athos von einer Leiche zur andern und neigte sich über alle diese toten Gesichter herab, und diejenigen, die nach unten gekehrt waren, drehte er herum. Den er suchte, fand er nicht.

Während sein Auge nach allen Seiten umherirrte, sah er plötzlich eine weiße Gestalt erscheinen, die ein zerbrochnes Schwert in der Hand hatte und langsam, mit herabhängenden Armen, mit starrem Blick herankam. Da erkannte er Rudolf. Athos wollte schreien, aber die Kehle war ihm zugeschnürt. Die Erscheinung winkte ihm auch zu schweigen, indem sie einen Finger auf den Mund legte. Dann wich sie zurück, und Athos, wie gebannt, folgte ihr. Rudolf schien den Boden nicht zu berühren; mühelos schwebte er dahin, während die Füße des Grafen von Gestrüpp und dornigem Gesträuch zerrissen wurden. Erschöpft hielt er inne, doch Rudolf winkte noch immer. So folgte er ihm abermals, bis er den Gipfel eines Hügels erstiegen hatte. Von der höchsten Kuppe hob sich die weiße, lichte Gestalt Rudolfs im Schimmer des Mondes duftig ab. Athos streckte die Hände aus – da hob die Erscheinung sich von der Erde auf und begann zum Himmel emporzuschweben.

Athos stieß einen Schrei aus und erwachte. Im selben Augenblick wurde an die Tür geklopft. Der Graf richtete sich auf und rief: »Ein Kurier aus Afrika, nicht wahr?« – »Nein, gnädiger Herr!« antwortete eine Stimme, bei deren Klang Athos zu Tode erschrak.

»Grimaud!« stöhnte er. – Und der Schweiß rann ihm über die abgezehrten Wangen herab. – Grimaud erschien auf der Schwelle, doch nicht mehr der Grimaud von früher, ja nicht einmal der, der mit Rudolf zusammen das Schiff betreten hatte. Ein bleicher, hagerer Greis mit weißem Haar, der sich an den Türpfosten lehnte, um nicht umzufallen. Diese beiden Männer, die so viele Jahre gemeinsam verlebt, so vieles zusammen getragen hatten, diese zwei Freunde, die dem Herzen nach einer so edel waren wie der andere, wenn auch durch Geburt und Vermögen ungleich – diese beiden verstummten jetzt, als sie einander erblickten. An der Veränderung, die mit ihnen vorgegangen, erkannten sie, was geschehen war. In demselben Tone, in dem Athos im Traum zu Rudolf gesprochen, wandte er sich nun an Grimaud: »Rudolf ist tot, nicht wahr?« – Hinter Grimaud standen zitternd die Diener, sie hörten die furchtbare Frage ihres Herrn; man hätte glauben mögen, in dem tiefen Schweigen, das auf einen Augenblick herrschte, alle Herzen schlagen zu hören.

»Ja!« antwortete Grimaud. – Athos hob die Augen zu Rudolfs Bilde empor, das über seinem Bette hing – und die Wirklichkeit verlor sich für ihn. Dieses Bild wurde in seinen Augen eins mit jener weißen Gestalt in der Wüste. Er lächelte, er sah Rudolf vor sich durch die Luft gen Himmel schweben, wie eben noch im Traum. Die Hände über der Brust gefaltet, den Blick auf das Bild geheftet, ging Athos, geführt von der reinen, keuschen Seele seines Sohnes, ins Paradies ein. Leise, so daß man ihn kaum verstand, murmelte er die Worte: »Hier bin ich.« Dann sank er zurück. Liebreich war der Tod diesem Gerechten gegenübergetreten: Er hatte ihm Krämpfe und Zuckungen erspart, er ließ ihn hinübergehen mit dem Lächeln eines Mannes, der eine süße Melodie hört. Die Ruhe seiner Züge, der Friede seines Antlitzes, seiner ganzen Haltung ließen seine Dienerschaft lange daran zweifeln, ob er auch wirklich gestorben sei.

Alle entfernten sich – nur Grimaud blieb, und man ließ ihn auch dort, denn man fürchtete, er würde beim ersten Schritt aus dem Zimmer hinaus tot umfallen. Der Alte kauerte sich vor dem Bette seines toten Herrn nieder und saß dort regungslos – er hätte nicht sagen können, wie lange. Da erklang eine Stimme, vibrierend wie Stahl. »Athos! Athos!« – Grimaud erhob sich und ging dem Manne entgegen, der mit kriegerischem Schritt herangestürmt kam. »Herr d’Artagnan!« rief er.

»Wo ist Athos?« rief der Musketier. – Grimaud nahm ihn bei der Hand und führte ihn stumm ans Bett, von dessen weißem Tuch schon die fahle Farbe des Leichnams abstach.

D’Artagnan schrie nicht auf – er röchelte nur dumpf. Er preßte die Fäuste auf die Brust und senkte tief das Haupt. Dann kniete er nieder und legte das Ohr auf das Gewand des Toten. Kein Laut – kein Atemzug! – Grimaud setzte sich ans Fußende und drückte die Lippen auf das Laken, das über den starren Füßen seines Gebieters lag. Der in Tränen zerfließende, in stummem Schmerz hingesunkene Greis bot das rührendste Schauspiel dar, das d’Artagnan je in seinem vielbewegten Leben gesehen hatte.

Der Musketier küßte Athos auf die Stirn und drückte ihm mit zitternden Fingern die Augen zu. Dann setzte er sich ans Kopfende, ohne Scheu vor diesem Toten, der zu Lebzeiten dreißig Jahre lang liebreich und wohlwollend gegen ihn gewesen war. Er versenkte sich in die Erinnerungen, die das edle Antlitz des Grafen in ihm wachrief, von denen die einen freundlich waren wie das Lächeln des Toten, die andern starr, finster und düster, wie der Tod selbst.

Da stand er auf – mit einem Male übermannte ihn der Schmerz, er brach in herzzerreißendes Schluchzen aus und stürzte hinaus, die Faust gegen die Lippen pressend, um das Weinen zu unterdrücken. Nach einer Weile ging er wieder hinauf und rief Grimaud an, der regungslos an derselben Stelle geblieben war. Der treue Mensch kam heran und folgte d’Artagnan.

»Grimaud«, sprach der Musketier, den Greis bei den Händen nehmend, »ich fand den Vater tot – nun sage mir, wie der Sohn starb.«

Grimaud nahm einen Brief aus der Tasche, der an Athos gerichtet war. D’Artagnan kannte die Schrift des Herzogs von Beaufort, erbrach das Siegel und las im ersten Schein des dämmernden Tages, was der Herzog in seiner steifen, unbeholfenen Schülerschrift an Athos schrieb. – »Lieber Graf! Inmitten eines großen Triumphes trifft uns ein großes Unglück: der König hat einen seiner tapfersten Offiziere verloren, ich einen Freund, Sie einen Sohn. Herr von Bragelonne hat einen glorreichen Tod gefunden. Empfangen Sie meinen traurigen Gruß, lieber Graf! Der Himmel verhängt über uns die Prüfungen je nach der Größe unseres Herzens. Die Prüfung, die jetzt Ihnen zuteil wird, ist sehr schwer, aber nicht über Ihre Kraft. – Ihr Freund Herzog von Beaufort.«

An diesen Brief schloß sich ein vom Sekretär des Prinzen geschriebener Bericht: eine rührende, getreue Schilderung der Episode, die den Faden zwischen zwei Herzen zerschnitt. Gewöhnt an Schlachten und Kriegsgeschichten, gefeit gegen wehmütige Vorfälle, erschauerte d’Artagnan dennoch, als er nun vom Tode Rudolfs las, vom Tode des geliebten Kindes, das auch er wie einen Sohn gehalten hatte:

»Am frühen Morgen erging der Befehl zum Angriff. Die Soldaten der Normandie und der Picardie besetzten die Stellung an den grauen Felsen, an deren Abhängen sich die Bastionen von Gigelli erheben. Die Artillerie eröffnete die Schlacht; die Lanzenknechte gingen mit erhobenen Piken vor, die Musketiere hatten die Gewehre im Arm. Der Prinz folgte mit einer starken Reserve den Vorrückenden.

Neben ihm ritten die ältesten Kapitäne und die Adjutanten.

Herr von Bragelonne erhielt den Befehl, an der Seite Seiner Hoheit zu bleiben.

Die feindlichen Kanonen hatten sich nach einigen mißlungenen Schüssen besser gerichtet, und ein paar Kugeln trafen jetzt Leute aus der Umgebung des Prinzen. Die Regimenter rückten gegen die Wälle vor und erlitten einen übeln Empfang. Der Ansturm geriet ins Stocken, zumal unsere Artillerie die Truppe mangelhaft unterstützte. Sie mußte von unten nach oben schießen, was für die Tragweite wie für die Treffsicherheit ungünstig war. Der Prinz sah dies und befahl den in der kleinen Bucht ankernden Fregatten, von dort aus ein regelmäßiges Feuer gegen die Festung zu eröffnen. Diesen Befehl zu überbringen, erbot sich Herr von Bragelonne; allein Monseigneur weigerte sich, ihm den Auftrag zu erteilen. Der Sergeant, der abgeschickt wurde, war glücklich bis an das Gestade des Meers gelangt, als zwei Schüsse aus langen Büchsen vom Feinde abgegeben wurden und ihn niederstreckten.

Der Prinz sprach darauf zu Herrn von Bragelonne: ›Sie sehen, ich erhalte Ihnen das Leben. Sagen Sie das später dem Grafen de la Fère, er wird mir Dank wissen.‹

Der junge Mann lächelte traurig und antwortete: ›Allerdings, Hoheit. Ohne Ihr Wohlwollen läge ich jetzt dort, wo der Sergeant liegt – doch wohl ihm! er hat Ruhe.‹ – ›Bei Gott!‹ rief der Prinz, ›man möchte glauben, der Mund wässere Ihnen; aber bei der Seele Heinrichs IV., ich habe Ihrem Vater versprochen, Sie lebendig zurückzubringen, und so Gott es zuläßt, will ich mein Wort halten.‹ Herr von Bragelonne errötete und erwiderte: ›Verzeihung, Hoheit, ich habe stets gern jede Gelegenheit ergriffen, mich auszuzeichnen, und es ist süß, das Lob seines Generals zu erringen, zumal wenn dieser General der Herzog von Beaufort ist.‹

Inzwischen hatte der Kommandant der Flotte erkannt, worum es sich handle und eröffnete das Feuer von selbst. Die Araber, nun von zwei Seiten beschossen, erhoben ein furchtbares Geschrei, ihre Häuser stürzten ein, Brand und Tod griffen um sich. Da warfen sie sich im Galopp unserer Infanterie entgegen, die mit gefällten Lanzen diesen Angriff abwies. Zurückgeworfen, sprengten sie auf den Generalstab ein, der in diesem Augenblick ganz ohne Deckung war. Die Gefahr war groß; Monseigneur zog den Degen; die Offiziere seines Gefolges begannen den Kampf.

Nun konnte Herr von Bragelonne das Verlangen sättigen, das ihn von Anbeginn dieses Feldzugs erfüllte. Er focht an der Seite des Prinzen und tötete im Handumdrehen drei Araber. Mit furchtbarem Ungestüm stürzte er sich auf die Feinde; es schien, als wollte er sich im Waffengetümmel, im blutigen Gemetzel berauschen. Man schlug die Angreifer zurück, und Monseigneur rief Herrn von Bragelonne zu einzuhalten. Er mußte das hören, denn wir alle hörten es. Er hielt jedoch nicht inne, sondern verfolgte den Feind und sprengte gegen die Verschanzungen. Wir wunderten uns über diesen Ungehorsam, und Monseigneur rief mit erhobener Stimme: ›Zurück, Herr von Bragelonne! Wo wollen Sie hin? Zurück, ich befehle es Ihnen!‹

Aber Herr von Bragelonne ritt weiter auf die Palisaden los. – ›Halt! Halt im Namen Ihres Vaters!‹ rief der Prinz, so laut er konnte. – Bragelonne wandte nur den Kopf nach uns um und zeigte uns ein von Schmerz verzerrtes Gesicht, allein er ritt weiter. Da begriffen wir, er war nicht mehr Herr seines Pferdes – das Tier ging mit ihm durch.

›Musketiere!‹ schrie der Herzog, ›schießt auf sein Pferd! Hundert Pistolen dem, der es trifft!‹ – Aber niemand wagte es; denn es war sehr schwer, das Pferd zu treffen und den Reiter nicht zu verwunden. Da trat ein Soldat vor, ein sehr geschickter Schütze, legte an, schoß und traf das Tier in das Kreuz, denn wir sahen die weiße Decke sich vom Blute röten. Aber es stürzte nicht, es raste nur um so wilder weiter. Man schrie ihm zu, er solle sich vom Sattel werfen. Er war nun schon auf Pistolenschußweite bis an den feindlichen Wall herangekommen; eine Salve krachte auch schon und umhüllte ihn mit einer Wolke von Rauch. Als der Dampf sich zerteilte, sahen wir ihn zu Fuße, sein Pferd lag am Boden. Die Araber forderten ihn auf, sich zu ergeben. Er aber schüttelte den Kopf und schritt ruhig weiter auf die Palisaden zu. Das war sehr unbesonnen, aber die ganze Armee wußte ihm Dank, daß er nicht einen Schritt zurückwich, obwohl er den Tod vor Augen hatte. Als er so weiterschritt, klatschten ihm die Regimenter Beifall.

Eine zweite Salve zerriß die Luft; der Vicomte von Bragelonne verschwand abermals im Pulverrauch. Doch als diesmal der Qualm verflogen war, sahen wir ihn nicht mehr auf den Füßen; er lag im Grase, und die Araber stürzten aus den Verschanzungen hervor, um zu ihm zu eilen und ihm den Kopf abzuschneiden, wie es die Ungläubigen mit den Leichen machen.

Da rief der Herzog: ›Grenadiere, Lanzenknechte, laßt euch diesen edeln Toten nicht rauben!‹ Und er lief selbst mit geschwungenem Degen auf die Feinde los. Die Soldaten eilten ihm nach, und ein furchtbarer Kampf entspann sich um den Leichnam des Herrn von Bragelonne. Die Araber verloren 160 Mann, wir 50, aber wir trugen den Toten mit uns fort. Und der Erfolg, den wir in diesem Kampf errungen, war entscheidend, denn die Regimenter gingen nicht wieder zurück, sondern drangen noch weiter vor und stürmten die Palisaden. Um drei Uhr hörte der Feuerwechsel auf, das Handgemenge begann und währte zwei Stunden. Um fünf Uhr aber waren wir Herren an allen Punkten, der Feind ergriff auf der ganzen Linie den Rückzug, und auf der höchsten Stelle des Berges wehte das Banner der Lilie.

Nun konnten wir erst Herrn von Bragelonne betrachten; er hatte acht Schußwunden, allein er atmete noch. Der Herzog ließ sofort seine Aerzte kommen und versprach jedem tausend Louisd’ors, wenn sie ihn retteten. Sie sondierten die Wunden. Dabei schlug Herr von Bragelonne noch einmal die Augen auf und sah die Aerzte mit starren Blicken an. Und nun schien er ganz bei Bewußtsein und zu hören, wie die Aerzte zu Monseigneur sagten: Drei Wunden seien allerdings tödlich, da aber der Kranke eine kräftige Natur habe und die Barmherzigkeit Gottes unendlich sei, so bestehe noch Hoffnung, daß der Totgeglaubte am Leben erhalten würde. Aber man dürfe ihn nicht einmal mit den Fingern anrühren; schon daran könne er sterben.

Der Herzog rief erfreut: ›O, Bragelonne, wir werden dich retten!‹ – Ein düsteres Lächeln huschte über die Lippen des Verwundeten. – Eines Abends nun, als man glaubte, der Kranke sei aus dem Schlummer erwacht, trat einer der Lazarettgehilfen in das Zelt und kam mit lautem Geschrei herausgestürzt. Wir eilten herzu, der Prinz mit uns, und wir sahen Herrn von Bragelonne auf der Erde liegen, in einer Blutlache schwimmend. Er bewegte sich nicht mehr. Man hob ihn auf und fand in seiner rechten Hand eine blonde Haarlocke.«

An diesen Bericht schlossen sich mehrere Mitteilungen über den Verlauf der Expedition und die Unterwerfung der Araber. D’Artagnan las das nicht mehr. Für ihn hatte der Brief nach der Schilderung von Rudolfs Tode kein Interesse mehr. »Unglückliches Kind!« stöhnte er. »Ein Selbstmord!« Und indem er zu den Fenstern hinaufsah, hinter denen Athos den ewigen Schlaf hielt, sagte er: »Sie haben einander Wort gehalten. Sie sind im Tode vereint.«

Am folgenden Tage kamen die Landleute und die Edelherren der Umgebung an, um an der Leichenfeier teilzunehmen. D’Artagnan schloß sich ein – er wollte mit niemand sprechen. Der sonst so unbeugsame Geist war durch diese zwei Todesfälle niedergeschmettert. Er schrieb an den König und bat um Verlängerung des Urlaubs. Nur von Grimaud ließ er sich bedienen, sonst durfte niemand zu ihm.

Der treue Alte trat ein und winkte dem Chevalier, ihm zu folgen. Er führte ihn in das Zimmer des Grafen und deutete auf das leere Bett, dann schritt er mit ihm zum Salon, wo der Landessitte gemäß der Tote aufgebahrt worden war. Doch d’Artagnan blieb betroffen stehen, denn er erblickte zwei Särge, und in dem einen sah er Athos, in dem andern Rudolf von Bragelonne liegen.

»Rudolf war hier!« rief der Gaskogner. »Und das hast du mir nicht gesagt, Grimaud!« – Der Alte schüttelte den Kopf, hob sacht das Laken und zeigte d’Artagnan die Wunden, aus denen das Leben des Jünglings entflohen war.

Der Kapitän wandte sich schluchzend ab. Und da Grimaud nichts weiter sagte, so fragte er auch nicht. Später dachte er daran, daß der Sekretär Beauforts noch vieles geschrieben, was er nicht mehr gelesen hatte. Er nahm den Bericht noch einmal zur Hand und las nun alles bis zu Ende. Da stand im letzten Abschnitt folgendes:

»Der Herzog hat Bragelonnes Leiche nach arabischer Weise einbalsamieren lassen und ein Schiff beordert, das den Sarg unter Obhut des treuen Dieners, der dem jungen Manne gefolgt war, auf der Stelle nach Frankreich bringt.«

»Nun, so werde ich auch dir die letzte Ehre erweisen können, armer Junge,« sprach d’Artagnan zu sich. »Ich alter nichtsnutziger Mann werde den Staub auf deine Stirn streuen, die ich vor zwei Monaten noch geküßt habe. Gott hat es so gewollt. Du selbst hast es gewollt. Ich habe kein Recht zu weinen. Du hast dir den Tod gewählt, weil du ihn dem Leben vorzogst.«

Eine große Menge Volkes, Landleute, Edelherren und Bürger nahmen an dem Begräbnis teil. Die kleine Kapelle, die Athos zu seiner letzten Ruhestätte bestimmt hatte, lag im äußersten Teil des Parks, von Pappeln und Maulbeerbäumen, Flieder und Weißdorn umstanden. Bienen umschwärmten das blühende, und duftende Gesträuch, Finken und Rotkehlchen sangen in den Zweigen ihre lieblichen Melodien.

Schweigsam bewegte sich der Leichenzug nach dieser Stätte, und als man die Särge hinabgesenkt in die ehrwürdige alte Gruft, als man den Toten das letzte Lebewohl zugerufen, zerstreute sich die Menge, tiefergriffen, und leise sprachen die Leute untereinander von den Tugenden des Vaters, von den Hoffnungen des Sohnes und von seinem traurigen Ende. Der Klang des Glöckleins, das der Ministrant läutete, verlor sich in der Ferne.

D’Artagnan blieb allein zurück. Er lehnte an einem Baum und starrte nach der kleinen Kapelle hin, die so viel Teures in sich schloß. Da sah er eine Frauengestalt am Boden knien. Sie preßte weiße Hände mit schlanken Fingern vor das Gesicht. D’Artagnan trat geräuschlos näher, um diese Betende nicht zu stören und gleichwohl zu erkennen, wer sie sei. Da er jenseits des Parkzauns jetzt eine Kalesche mit Kutscher und Dienern halten sah, deren Anfahrt er in seiner Träumerei nicht gehört hatte, erriet er, daß es eine Dame von Stand sei. Sie betete inbrünstig, und d’Artagnan hörte ein paarmal von ihren Lippen leise, doch eindringlich das Wort: »Verzeih! verzeih!«

Er wollte hinzutreten, um sie anzusprechen und ihrer Trauer zu entreißen, da sah sie auf, und er erkannte Luise von Lavallière. Sie hob ihr von Tränen überflutetes Gesicht zu ihm empor und nannte ihn beim Namen. – »Sie hier?« sprach der Kapitän dumpf. »Ich hätte lieber ihn und Sie mit Blumen geschmückt im Hause des Grafen de la Fère gesehen. Die beiden da hätten weniger Tränen vergossen – auch Sie und ich.«

»Mein Herr!« schluchzte sie. – »Denn Sie, nur Sie,« fuhr der Unerbittliche fort, »haben diese beiden Männer unter die Erde gebracht.«

»O, schonen Sie meiner!« rief sie. – »Fern sei es von mir, eine Frau zu beleidigen oder sie für nichts zum Weinen zu bringen, aber es muß gesagt werden,« setzte er hinzu, »für den Mörder ist kein Platz am Grabe seiner Opfer.« – Sie wollte antworten. – »Was ich Ihnen da sage,« sprach er hart, »das würde ich dem König selbst sagen.« – Sie faltete die Hände und antwortete: »Ich weiß, ich habe Herrn von Bragelonne in den Tod getrieben. Gestern erfuhr man es bei Hofe. Ich bin die vierzig Meilen hergeeilt, um den Grafen um Verzeihung anzuflehen, da ich ihn noch am Leben glaubte, um auf Rudolfs Grabe Gott zu bitten, daß er mir alles Ungemach schicken möge, das ich verdiene. Und nun muß ich sehen, daß der Tod des Sohnes auch den Tod des Vaters nach sich gezogen hat, daß ich mir somit zwei Verbrechen vorzuwerfen habe und doppelter Strafe verfallen bin!«

»Soll ich Ihnen wiedersagen, Fräulein, was Herr von Bragelonne mir in Antibes sagte, als er schon ans Sterben dachte?« sagte der Musketier. »Stolz und Koketterie haben sie schlecht gemacht, ich verzeihe ihr, während ich sie verachte. Wenn sie aus Liebe fiel, so vergebe ich ihr mit der Beteuerung, keiner hat sie je so geliebt wie ich!«

»Sie wissen, ich wollte mich einmal schon aus Liebe ins Kloster zurückziehen,« erwiderte sie. »Sie wissen, was ich damals gelitten habe; heute aber leide ich noch viel mehr, denn damals hoffte und wünschte ich immer noch. Heute aber habe ich nichts mehr zu hoffen und zu wünschen. Mit diesem Toten sinken alle meine Freuden ins Grab. Vor Gewissensbissen getraue ich mich nicht mehr zu lieben, und ich fühle es, der, den ich liebe, wird mich – o, es ist gerechte Vergeltung – alle Martern empfinden zu lassen, die ich dem andern bereitet habe. O, klagen Sie mich nicht an, Herr d’Artagnan, ich beschwöre Sie! Ich bin ein vom Stamme gerissener Zweig – ich habe keinen Halt mehr auf dieser Welt. Ich liebe noch immer bis zur Raserei, und so gottlos bin ich in dieser Liebe, daß ich sie noch jetzt auf dem Grabe dieses Toten bekenne. Diese Liebe ist für mich wie eine Religion. Nur noch kurze Zeit wird mein Glück währen, vielleicht besteht es schon heute nicht mehr. Sie werden mich bald verlassen, bestraft sehen, wie Sie es nicht schlimmer wünschen können. Vielleicht ist dieser Doppelmord schon jetzt gesühnt.«

Ein königlicher Offizier, in welchem d’Artagnan von Saint-Aignan erkannte, kam zu Pferde, hielt jenseits des Zaunes an und erklärte, er sei beauftragt. Fräulein von Lavallière zum König zurückzuholen, der vor Ungeduld und Eifersucht außer sich sei. Luise entließ ihn mit einer Handbewegung, und er ritt zu dem Kutscher.

»Sie sehen, Fräulein,« sprach d’Artagnan, den Saint-Aignan nicht bemerkt hatte, da er von dem dichten Laub eines Strauchs verdeckt war, »Sie sehen, noch währt Ihr Glück.«

»Sie werden es eines Tages bereuen,« antwortete die Lavalliere, »daß Sie so schlecht über mich dachten. Sie werden mich so viel leiden sehen, daß Sie der erste sein werden, mich zu bemitleiden.« Darauf kniete sie abermals nieder, faltete die Hände und sprach: »Zum letzten Male, verzeihe mir, Rudolf, mein Bräutigam! Ich habe unsere Bande zerrissen. Wir beide müssen daran vor Schmerz sterben. Du bist vorangegangen, ich fürchte mich nicht, dir zu folgen. Sieh, ich bin nicht feige gewesen, ich habe schon Mut genug gezeigt, indem ich hierher kam, dir dieses letzte Lebewohl zuzurufen. Gott ist mein Zeuge, Rudolf, ich hätte mein Leben hingegeben, das deine zu erkaufen. Meine Liebe aber konnte ich dir nicht geben. Nochmals: vergib mir!«

Sie pflückte einen Zweig, steckte ihn in die Erde, wischte die Tränen aus den Augen und ging zu ihrem Wagen. D’Artagnan sah Kutsche, Diener und Reiter verschwinden, kreuzte die Arme über der Brust und sprach vor sich hin: »Wann wird die Reihe an mich kommen? Was bleibt dem Menschen, wenn Jugend, Liebe, Ruhm, Freundschaft, Kraft und Reichtum dahin sind? Der Felsen, unter dem Porthos schläft, der alles das besaß, was ich eben nannte – das Moos, unter dem Athos und Rudolf schlafen, die noch viel mehr besaßen! Na! immer weiter Schritt vor Schritt! Wenn die Stunde kommt, wird Gott es mir sagen, wie er es den andern gesagt hat.« – Er berührte mit der Fingerspitze die vom Tau des Abends nasse Erde, bekreuzte sich wie mit Weihwasser und schlug allein – allein für immer – den Weg nach Paris ein.

7. Kapitel. Luisens Ende

Vier Jahre waren nach dem Begräbnis der Grafen de la Fère und von Bragelonne verflossen. In der Umgebung von Blois, wo Ludwig XIV. bei Madame zu Gast war, fand eines Tages königliche Jagd statt, und der Kapitän der Falken ritt mit dem Kapitän der Windspiele den hohen Herrschaften voraus. Die beiden Aemter, die diese Herren innehatten, gehörten zu den am besten besoldeten Chargen des Hofs und wurden stets nur Herren aus dem Feudaladel zuteil.

»Sieh da!« rief der Falkonier, »dort kommt der Kapitän der Musketiere. So ist er schon wieder zurück aus Pignerol. Er hat sich gesputet.« – »Herr d’Artagnan altert nie,« sagte der andere, »er sitzt noch im Sattel wie ein Jüngling. Willkommen, Herr Graf!«

Für d’Artagnan war dieser Titel schon nichts Neues mehr; er führte ihn seit drei Jahren. Er redete die beiden Herren freundlich an wie jemand, der einen höheren Rang einnimmt, während sie ihn mit großem Respekt begrüßten. – »Sie haben die 200 Meilen bis Pignerol rasch hin und her gemacht, Herr Graf,« sagte der Kapitän der Windspiele. »So ist nun Herr Fouquet dort. Mich wundert das! Das Parlament hat ihn schuldig gesprochen, und der König begnadigt ihn nun zu lebenslänglichem Gefängnis. Das ist viel Milde für jemand, der den König bestohlen hat.« – »Herr,« antwortete d’Artagnan grob, »wenn man mir sagte, Sie hätten Ihren Hunden die Brotrinden weggegessen, so würde ich es nicht glauben. Wenn Sie aber gar deshalb zu Geißelhieben und Kerker verurteilt worden wären, so würde ich Sie bemitleiden und nie dulden, daß jemand übel von Ihnen spräche. Ich schwöre Ihnen, so ehrbar Sie auch sein mögen, Sie sind es nicht in höherem Maße, als der arme Herr Fouquet es war.«

Der Kapitän der Windspiele senkte den Kopf und schluckte die Lektion ohne Widerrede hinunter.

»Werden wir eine lange Jagd haben?« wandte d’Artagnan sich an den Kapitän der Falken. – »Nein,« antwortete dieser, »der König macht sich nicht viel daraus, er tut es nur, um den Damen Kurzweil zu bereiten.« – »Ah!« machte der Musketier. »Sie lächeln so sonderbar. Ich weiß nichts Neues mehr. Ich bin einen Monat fort gewesen und komme eben erst wieder. Als ich ging, trauerte man um den Tod der Königin-Mutter. Der König schien untröstlich, aber alles nimmt ein Ende. Er ist jetzt nicht mehr traurig, wie mir scheint. Desto besser! Wer ist denn alles mit von der Partie? Wie geht es der Herzogin von Orléans? Wie geht es der Königin?«

»Besser, Herr Graf.« – »So ist sie krank gewesen?«

»Seit dem letzten Verdruß, den es gegeben hat, war sie leidend.« – »Verdruß? Welcher Art?« – »Seit dem Tode ihrer Schwiegermutter fühlte die Königin sich vernachlässigt und beklagte sich beim König, der ihr zur Antwort gab: Schlafe ich nicht jede Nacht bei Ihnen, Majestät? Was wollen Sie mehr?« – »Ah,« rief d’Artagnan, »so haßt sie die Lavallière noch immer?« – »O, die Lavallière nicht mehr,« versetzte der Falkonier. – »Wen denn?«

Der Klang der Jagdhörner machte dem Gespräch ein Ende. Die beiden Herren ritten mit den Hunden und den Vögeln fort. D’Artagnan blieb allein. Nach wenigen Minuten war die Jagdgesellschaft heran. Der König erschien in einer Schar von Herren und Damen. Hinter den Reitern und Reiterinnen sah man drei Kutschen, in denen die Damen saßen. Die erste Kutsche war die der Königin: doch es saß niemand darin. D’Artagnan, der Fräulein von Lavallière suchte, blickte in die zweite Kutsche und sah sie dort mit zwei Ehrendamen. Alle drei schienen sich sehr zu langweilen. An der Seite des Königs aber, wo bisher Luise ihren Platz gehabt hatte, bemerkte d’Artagnan eine andere Frauengestalt: eine stolze, blendende Schönheit. Sie sprach ein paar Worte, und ihre Umgebung zollte ihr durch einmütiges Lachen lauten Beifall – das sicherste Zeichen dafür, daß sie schon in allerhöchster Gunst stand. – »Ah, die Tonnay-Charente,« murmelte d’Artagnan, »die seit kurzem mit Herrn von Montespan verheiratet ist.«

Ludwig XIV. erblickte d’Artagnan. »Wieder zurück, Graf?« rief er, »warum habe ich Sie noch nicht gesehen?« – »Majestät schliefen schon, als ich gestern abend zurückkehrte, und waren noch nicht wach, als ich heute morgen meinen Dienst antrat.« – »Immer derselbe,« sagte Ludwig lächelnd. »Ruhen Sie sich aus, ich befehle es Ihnen, und heute abend speisen Sie mit mir.« Ein Gemurmel der Bewunderung umschwirrte den Musketier – man drängte sich zu ihm, denn von dem König zu Tisch geladen zu werden, war eine große Ehre. Der König ritt weiter, und d’Artagnan sah sich alsbald von einer anderen Gruppe umringt, in deren Mitte er Colbert erblickte. – »Guten Tag, Herr Graf!« rief der Minister, »Sie sind zur Tafel geladen? Da werden Sie einen ehemaligen Freund von Ihnen wiedersehen.« – »Einen ehemaligen Freund?« antwortete d’Artagnan und versenkte sich schmerzlich in die düsteren Fluten der Vergangenheit, die für ihn so viele Freundschaften und Feindschaften verschlungen hatte. – »Den Herzog von Alameda,« fuhr Colbert fort, »den Unterhändler Spaniens, der heute morgen angekommen ist.« – »Den Namen höre ich zum ersten Male,« sagte d’Artagnan verwundert. »Wer ist das?«

»Ich bin es!« antwortete eine Stimme, und ein Greis mit schneeweißem Haar und gebeugtem Rücken stieg aus der dritten Kutsche. – »Aramis!« rief d’Artagnan verblüfft. Er sprang vom Pferde und ließ sich ohne Widerstreben von den zitternden Armen des alten Seigneurs umfassen. – Colbert ritt fort und ließ die beiden Freunde allein.

»So sind Sie hier?« rief d’Artagnan. »Sie, der Rebell, der Geächtete, der Staatsverbrecher?« – »Ich bin in Frankreich und speise mit dem König,« antwortete d’Herblay lächelnd. »Nicht wahr, nun fragen Sie, wozu die Treue auf der Welt frommt? Lassen wir die Lavallière darauf antworten, die hier an uns vorüberfährt. Sehen Sie, wie ihr von Tränen schimmerndes Auge nach dem König blickt, der mit der Frau von Montespan vorausreitet.« – Sie plauderten während der ganzen Jagd miteinander. D’Artagnan ritt neben der Kutsche d’Herblays her, welche von ihrem Führer so geschickt gelenkt wurde, daß sie gerade in dem Moment zur Jagdgesellschaft zurückkam, als der Falke den Reiher gestoßen hatte und der König vom Pferde sprang. Zu gleicher Zeit schwang sich Frau von Montespan aus dem Sattel. Der Falke war mit dem Reiher in einer kleinen Umfriedung niedergefallen, in deren Mitte man eine alte Kapelle erblickte, rings von dichten Sträuchern und Bäumen umgeben. Während die Gesellschaft um diese Einfriedung einen Kreis bildete, trat der König hinein, um der Sitte gemäß den von dem Falken festgehaltenen Reiher abzufangen und ihm die erste Feder zu entreißen.

»Wissen Sie, wohin der Zufall uns geführt hat?« sprach d’Artagnan zu Aramis. »Bei dieser Kapelle liegen Leute begraben, die wir gekannt haben,« – »Ha!« rief der Bischof erbleichend, und trat mit dem Musketier durch eine kleine Seitenpforte in die Kapelle. »Wo ruhen sie?« – »Sehen Sie das Kreuz unter der Zypresse dort?« antwortete d’Artagnan. »Doch gehen Sie jetzt nicht hin. Der König ist eben dort, weil der Reiher dicht neben das Doppelgrab gefallen ist.«

Sie blieben im Schatten stehen und sahen nun, ohne selbst gesehen zu werden, das blasse Antlitz der Lavallière, die, hingerissen von Eifersucht, aus der Kutsche gesprungen und in die Umfriedung eingedrungen war. Hier sah sie nun, hinter einen Baum geschmiegt, wie der König lächelnd die Hand der Frau von Montespan ergriff und küßte. Dann schmückte er ihren Hut mit der ersten Feder, die er dem Reiher ausgerissen hatte. Sie lächelte ebenfalls und küßte nun auch ihm die Hand. Da errötete der König vor Freude, und aus seinen Augen leuchtete Liebe und Verlangen. – »Und was schenken Sie mir?« fragte er. – Sie brach ein Zweiglein von der Zypresse und bot es dem von seliger Hoffnung berauschten König dar.

»Das ist ein trauriges Geschenk,« murmelte Aramis, »denn die Zypresse beschattet ein Grab.« – »Ja, und zwar das Grab Rudolfs von Bragelonne,« setzte d’Artagnan hinzu, »der hier neben seinem Vater schlummert.« – Ein Seufzer erklang in der Stille dieses Ortes; Luise von Lavallière sank ohnmächtig über das Grab hin. – »Arme Frau!« murmelte d’Artagnan, »wie groß wird ihr Leid in Zukunft sein!«

Am Abend saßen d’Artagnan und d’Herblay an der königlichen Tafel. Der König war sehr zuvorkommend gegen Madame, denn man trieb zu dieser Zeit hohe Politik. Man stand kurz vor der Eröffnung des Krieges mit Holland. Der spanische Unterhändler war zu dem Zweck herübergekommen, um ein Neutralitätsbündnis zwischen Spanien und Frankreich abzuschließen, und von Madame erwartete Ludwig nichts Geringeres als ein gleiches Bündnis mit England. Es ward ihm nicht schwer, sie zu einer Reise nach London zu bestimmen, und sie verlangte als Gegendienst nichts weiter, als daß er ihr versprechen sollte, den Grafen von Guiche, der seit langem vom Hofe verbannt war, zurückzurufen und an seiner Statt den ihr verhaßten Chevalier von Lorraine, der beständig zwischen ihr und Monsieur Feindschaft säte, ins Exil zu schicken. Damit hatte Ludwig sich ihre Fürsprache am englischen Hof leichten Kaufs erworben.

Ludwig XIV. sah sich um, und sein königlicher Blick fiel auf Monsieur, seinen Bruder, der mit Mißtrauen nach ihm und seiner Frau geschaut und sich über ihr langes angelegentliches Gespräch gewundert hatte. – »Mein lieber Bruder,« sprach der König, »ich bin mit dem Chevalier von Lorraine sehr unzufrieden. Sie werden ihm den Rat geben, ein paar Monate auf Reisen zu gehen.« – Diese Worte fielen wie eine Lawine über den armen Herzog von Orléans her, der seinen Günstling vergötterte und ohne ihn nicht leben zu können glaubte. – »Wodurch hat der Chevalier Ihr Mißfallen erregt?« fragte er. – »Das werde ich Ihnen sagen, wenn er abgereist ist,« antwortete Ludwig, »und während Madame in England ist.« – »Was? Madame geht nach England?« rief Monsieur erstaunt. – »Ja, in acht Tagen, lieber Bruder,« erwiderte der König, lächelte seinem Bruder zu und wandte sich an Colbert und Aramis, die inzwischen miteinander verhandelt hatten.

»Nun,« rief er, »werden wir auf Spaniens Neutralität rechnen können?« – »Frankreich mit Holland zu entzweien, entspricht ganz unserer Politik,« antwortete der Herzog von Alameda. »Aber ein Krieg mit Holland wird ein Seekrieg, und in einem solchen wird Frankreich nur obsiegen können, wenn England sich neutral verhält.« – »Dafür ist gesorgt,« sagte Ludwig lächelnd. – »Und dann gehört dazu eine stärkere Flotte, als Frankreich sie besitzt,« fügte Aramis hinzu. – Colbert zog eine Liste aus der Tasche und antwortete: »Hier ist ein Verzeichnis der französischen Schiffe. Wir verfügen über 35 Kreuzer. Daraus werden jetzt schon drei Geschwader gebildet. Bis zum Ende dieses Jahres aber werden wir 50 Linienschiffe haben.« – »Potzwetter!« rief d’Artagnan und riß die Augen auf. »Das ist viel, Herr Colbert. Aber wie steht es mit der Ausrüstung? Wir haben keine Gießerei in Frankreich.«

»Ah,« antwortete der Staatsmann lächelnd, »in anderthalb Jahren habe ich es dahin gebracht, daß wir das alles in Frankreich haben. Sie kennen Herrn d’Infreville nicht? Er gießt jetzt Kanonen für mich in Toulon. Und Sie kennen Herrn Forant nicht? Er hat, die Zeit des Friedens benützend, in Holland selbst für mich Blei, Pulver, Holz, Lunten, Granaten, Schiffsteer und dergleichen in großen Mengen aufgekauft. Das ist um sieben Prozent billiger gewesen, als wenn ich es hier selbst hergestellt hätte. Und Sie kennen auch Herrn Destouches nicht? Das ist ein Mann, der den Schiffsbau aus dem Grunde versteht, und er überwacht jetzt die Herstellung von sechs Schiffen zu je 78 Kanonen. Sie sehen also, ich weiß meine Leute zu finden, und der König wird, wenn es zum Kriege kommt, über eine sehr tüchtige Flotte gebieten. Ob aber die Landmacht gut bestellt ist, das wissen Sie, Herr d’Artagnan, besser als irgendwer.«

Aramis und der Musketier blickten einander an und bewunderten die stille, geheimnisvolle Arbeit, die dieser Mann in so kurzer Zeit geleistet hatte. Colbert lächelte gerührt über diese stumme Schmeichelei, die beste von allen. – »Wenn wir in Frankreich nichts davon erfahren haben,« sprach d’Artagnan, »im Auslande weiß man es erst recht nicht.«

»Und, Herr Herzog,« fuhr Colbert fort, »wenn Spanien neutral bleibt, so wird es England auch tun.« – »In diesem Falle bürge ich für Spaniens Neutralität,« antwortete Alameda. – »Das wird Ihnen den Orden des goldenen Vlieses eintragen, Herr Herzog,« sprach Colbert. Aramis verneigte sich. – »Und Sie, Herr d’Artagnan,« fuhr Colbert fort, »hätten Sie Lust, unsere Landarmee gegen die Holländer zu führen? Ihnen wird das den Marschallstab bringen.« – D’Artagnan wurde blaß vor Freude und griff zitternd nach dem Feldzugsplane, den Colbert ihm reichte.

»Der König wird aus diesem Feldzug als Sieger hervorgehen oder mich nimmer wiedersehen,« sprach er und drückte mit Wärme die Hand des Ministers.

Am folgenden Tage nahm Aramis Abschied von d’Artagnan. Sie lagen sich lange in den Armen. – »Wir müssen uns nun für vier lieben,« sprach der Musketier. »Wir sind nur noch zwei.« – »Und mich wirst du vielleicht nicht mehr wiedersehen, lieber d’Artagnan,« sagte Aramis. »Ich bin alt, ausgelöscht, dem Tode nahe.«

»Ah, du wirst mich überdauern,« rief der Musketier. »Die Diplomatie heißt dich leben. Mir aber gebietet die Ehre zu sterben.« – »Bah, Herr Marschall,« sagte Aramis, »wir werden nicht eher sterben, als bis wir von Freude und Ruhm gesättigt sind.« – »O, Herr Herzog,« antwortete d’Artagnan lächelnd, »ich habe kein Verlangen mehr.« – Und sie umarmten sich ein letztes Mal.

8. Kapitel. D’Artagnans Tod

Die Bündnisse mit Spanien und England waren vollzogen, der Krieg mit Holland begann. Im Frühjahr rückte die Landarmee aus. Sie marschierte in wundervoller Ordnung auf das feindliche Gebiet hinüber. D’Artagnan führte das Kommando über ein Korps von 12000 Mann Kavallerie und Infanterie und hatte den Sonderbefehl, Friesland zu erobern. Er blieb in diesem Feldzuge seiner früheren Gewohnheit treu, vom Lande des Feindes zu leben, seine Soldaten singen zu lassen, den Feind weinen zu machen. Der Kapitän der Musketiere setzte seinen Stolz darein zu zeigen, daß er sein Handwerk verstehe. Er manöverierte mit so großem Geschick, daß er keine einzige Schlappe erlitt und in einem Monat zwölf kleine Festungen eroberte. Er stand vor der dreizehnten, die sich seit fünf Tagen hielt. Er ließ nun Minen legen und Sturm laufen. An den König sandte er einen Boten und erstattete Bericht über seine letzten Erfolge. Seine Majestät erinnerte daraufhin Herrn Colbert daran, daß man Herrn d’Artagnan ein Versprechen zu halten habe, und daß es, weil er die seinen so trefflich einlöste, nun an der Zeit sei, dies auszuführen.

Demzufolge schickte Herr Colbert den Offizier, der d’Artagnans Brief gebracht hatte, zurück und gab ihm einen von ihm selbst geschriebenen Brief mit und ein Kästchen aus goldverziertem Ebenholz, das zwar klein war, aber etwas sehr Wichtiges zu enthalten schien, da er dem Boten eine Bedeckung von fünf Mann mitgab. Der Offizier kam vor der Festung an und ließ sich sofort zu Herrn d’Artagnan führen, der persönlich die Arbeit an neuen, weit vorgeschobenen Laufgräben leitete.

Die hohe Gestalt d’Artagnans überragte alle andern. Die goldenen Tressen seines Hutes und seiner Uniform leuchteten in der Sonne. Er kaute an seinem weißen Schnurrbart und klopfte ab und zu den Staub ab, mit den die den Sand aufwühlenden feindlichen Kugeln seinen Rock überschütteten. Inmitten des heftigen Feuers wurde mit Schaufeln und Spaten fleißig gearbeitet, und der General gab seinen Leuten das beste Beispiel der Tapferkeit, indem er, unbekümmert um das furchtbare Pfeifen, das rings die Luft erfüllte, die Arbeiten selbst leitete. Nach drei Stunden meldete ihm der Hauptmann der Pioniere, der Laufgraben sei fertig.

Der Mann hatte diese Worte kaum gesprochen, als ihm eine Kanonenkugel das Bein wegriß. Er sank in d’Artagnans Arme.

Der General hob den Verwundeten empor und stieg mit ihm in den Laufgraben hinab. Laut jubelten die Soldaten, als sie das sahen. Ein Fieber des Mutes ergriff alle, sie stürzten vorwärts, und der neue Graben war im Nu dicht gefüllt. Mit so jäher Gewalt erfolgte nun der Sturm, daß der Feind nicht standzuhalten vermochte. Man eroberte die äußeren Böschungen. Die vordersten feindlichen Geschütze fielen in die Hände der Franzosen. Dort aber kam der Kampf zum Stehen. Die Holländer verteidigten zäh jeden Fußbreit des Bodens.

D’Artagnan hielt inne, und sein Falkenauge überflog die Situation. Da hörte er eine Stimme neben sich: »Mein Herr, ich komme von Herrn Colbert.« – Der General nahm das Schreiben entgegen, öffnete es und las: »Herr d’Artagnan, der König beauftragt mich, Ihnen Ihre Ernennung zum Marschall von Frankreich hiermit kundzutun. Es ist Ihr Lohn für die guten Dienste und für die Siege, zu denen Sie Ihre Truppe geführt haben. Mögen Sie auch noch die Belagerung, die Sie inzwischen begonnen haben, mit Erfolg zu Ende führen!«

Der General sah auf und erkannte, daß seine Soldaten abermals weiter vorgedrungen waren. – »Es geht zu Ende,« sagte er. »in einer Viertelstunde ist die Festung unser.«

Dann fuhr er fort zu lesen: »Das Kistchen, Herr d’Artagnan, ist ein Geschenk von mir. Nehmen Sie das kleine Kunstwerk freundlich entgegen. Ich empfehle mich Ihrer Wohlgeneigtheit. Allzeit der Ihre …

Colbert.«

D’Artagnan, trunken vor Freude, hielt das Kästchen in den Händen, aber als er es öffnen wollte, geschah eine furchtbare Explosion auf den Wällen, und er sah auf. »Seltsam!« sprach er, »ich sehe noch nicht das Lilienbanner auf den Zinnen, ich höre noch nicht das Trommelzeichen der Uebergabe.« – Er schickte dreihundert frische Soldaten in den Sturm und befahl eine neue Bresche zu schießen.

Darauf sah er wieder das Kästchen an. Er sagte sich, er habe, was darinnen sei, ehrlich verdient. Er öffnete es – da brauste aus der Festung eine Kanonenkugel heran, traf ihn mitten in die Brust und streckte ihn ins Gras nieder, wobei aus dem Kästchen der Marschallstab hervorrollte und in seine gelähmte Rechte glitt. Er versuchte aufzustehen – aber die Kräfte verließen ihn. Es erhob sich lautes Geschrei unter den Offizieren seines Stabes. Man beugte sich zu ihm nieder und sah, daß seine Brust mit Blut bedeckt war, während Todesblässe sein edles Antlitz überzog.

Gestützt auf die Arme, die sich von allen Seiten nach ihm ausstreckten, hob er sich noch einmal empor und blickte nach der Festung hin. Da sah er die weiße Fahne auf dem Hauptwall wehen; und sein für das Geräusch des Lebens schon taubes Ohr vernahm noch den Trommelwirbel, der den Sieg verkündete.

Seine Hand schloß sich krampfhaft um den mit Sammet umschlossenen, mit goldenen Lilien bestickten Marschallstab, er sah darauf herab, da er nicht mehr die Kraft hatte, den Blick gen Himmel zu erheben, und dann sank er nieder. Man hörte ihn die folgenden Worte murmeln, welche den Umstehenden wie eine Zauberformel erklangen – Worte, die einst auf Erden so viel bedeutet hatten und die jetzt niemand mehr als dieser Sterbende verstand:

»Athos! Porthos! auf Wiedersehen! Aramis! lebwohl auf immer!«

 

Ende.