D’Artagnan hatte während dieser ganzen Scene mit aufgesperrten Augen und offenem Munde dagestanden; alles entsprach seinen Voraussetzungen so wenig, daß er sich von seinem Erstaunen gar nicht erholen konnte.

Athos reichte ihm den Arm und führte ihn in den Garten.

Während man uns ein Abendessen bereitet, sagte er lächelnd, wird es Euch, lieber Freund, gewiß nicht unangenehm sein, ein wenig Licht über dieses ganze Geheimnis zu bekommen, das Euch in Träume versenkt?

Allerdings, Herr Graf, erwiderte d’Artagnan, der fühlte, wie Athos allmählich die ungeheure aristokratische Überlegenheit wieder über ihn gewann, die er immer gehabt hatte.

Athos schaute ihn mit seinem sanften Lächeln an.

Vor allem, mein lieber d’Artagnan, sprach er, gibt es hier keinen Herrn Grafen. Wenn ich Euch Chevalier nannte, so geschah es, weil ich Euch meinen Gästen vorstellte und damit sie wußten, wer Ihr seid, aber für Euch bin ich hoffentlich stets Athos, Euer Gefährte, Euer Freund. Wir wollen zu unseren Gewohnheiten zurückkehren und vor allen Dingen offenherzig sein. Alles setzt Euch hier in Erstaunen? – In ein tiefes Erstaunen. – Aber worüber Ihr Euch am meisten wundert, sagte Athos lächelnd, das bin ich, gesteht es nur. – Ich gestehe es. – Ich bin noch jung, nicht wahr, trotz meiner neunundvierzig Jahre? Ich bin noch zu erkennen. – Ganz im Gegenteil, erwiderte d’Artagnan, bereit, die von ihm verlangte Offenherzigkeit zu übertreiben. Ihr seid es nicht mehr. – Ah! ich begreife, sprach Athos leicht errötend, alles hat sein Ende, d’Artagnan, die Narrheit, wie jede andere Sache. – Sodann ist eine Veränderung in Euren Vermögensumständen vorgegangen. Ihr seid herrlich quartiert; dieses Haus gehört Euch, wie ich voraussetze. – Ja, das ist das kleine Gut, Ihr wißt, mein Freund, von dem ich, als ich den Dienst verließ, Euch sagte, daß ich es geerbt hatte. – Ihr habt einen Park, Pferde, Equipagen.

Athos lächelte und erwiderte:

Der Park hat zwanzig Morgen, wozu der Küchengarten und die Gesindewohnungen gehören. Die Zahl meiner Pferde beläuft sich auf zwei, wobei ich, wohlverstanden, den Stumpfohr meines Bedienten nicht rechne. Meine Equipagen beschränken sich auf vier Leithunde, zwei Windhunde und einen Hühnerhund. Und dieser ganze Meuteluxus ist nicht einmal für mich, fügte Athos lächelnd bei.

Ich begreife, versetzte d’Artagnan, er ist für den jungen Menschen, für Raoul.

Und d’Artagnan schaute Athos mit unwillkürlichem Lächeln an.

Ihr habt es erraten, mein Freund, sprach Athos.

Und der junge Mensch ist Euer Tischgenosse, Euer Taufpate, vielleicht Euer Vetter! Ah! wie habt Ihr Euch doch verändert, mein lieber Athos. – Dieser junge Mensch, erwiderte Athos ruhig, dieser junge Mensch ist eine Waise, d’Artagnan, den seine Mutter bei einem armen Landpfarrer zurückgelassen hatte; ich habe ihn aufgezogen. – Der Knabe muß sehr anhänglich an Euch sein? – Ich glaube, er liebt mich, als wäre ich sein Vater. – Er ist sehr dankbar? – Oh! was die Dankbarkeit betrifft, versetzte Athos, so ist sie gegenseitig, ich bin ihm ebensoviel schuldig, als er mir, und, ich sage es ihm nicht, aber Euch, ich bin ihm noch verpflichtet. – Wie dies? fragte der Musketier erstaunt. – Ei, mein Gott, ja! Er hat in mir die Veränderung hervorgebracht, die Ihr wahrnehmt. Ich verdorrte wie ein armer, alter Baum, der durch kein Band mehr mit der Erde zusammenhängt; nur eine tiefe Neigung konnte mich wieder im Leben Wurzel schlagen lassen. Eine Geliebte? ich war zu alt. Freunde? ich hatte Euch nicht mehr bei mir. Dieser Knabe ließ mich nun alles wiederfinden, was ich verloren hatte; ich hatte nicht mehr den Mut, für mich zu leben, ich lebte für ihn. Gute Lehren sind viel für ein Kind; das Beispiel ist noch mehr wert. Ich gab ihm das Beispiel, d’Artagnan. Die Fehler, welche ich hatte, legte ich ab, die Tugenden, die ich nicht hatte, gab ich mir den Anschein zu besitzen. Ich glaube nicht, daß ich mich täusche, d’Artagnan, Raoul ist bestimmt, ein so vollkommener Edelmann zu sein, wie unser verarmtes Zeitalter nur immer zu liefern vermag.

D’Artagnan schaute Athos mit steigender Bewunderung an; sie wandelten unter einer schattigen, kühlen Allee, durch die einige Strahlen der untergehenden Sonne schräg hereinfielen. Einer dieser goldenen Strahlen beleuchtete Athos, und seine Augen schienen die abendliche Glut, welche sie beschien, wieder auszustrahlen.

Der Gedanke an Mylady regte sich in d’Artagnan.

Und Ihr seid glücklich? sagte er zu seinem Freunde.

Das scharfe Auge von Athos drang bis in die Tiefe von d’Artagnans Herzen und schien darin seine Gedanken zu lesen.

So glücklich, als es einem Geschöpfe Gottes auf Erden zu sein gestattet ist. Aber vollendet Euren Gedanken, d’Artagnan, Ihr habt ihn mir nicht ganz gesagt. – Ihr seid furchtbar, Athos, und man kann Euch nichts verbergen. Nun wohl, ja, ich wollte Euch fragen, ob Ihr nicht zuweilen plötzliche Beängstigungen habt, die … – Gewissensbissen gleichen? fuhr Athos fort. Ich vollende Euern Satz, mein Freund. Ja oder nein, ich habe keine Gewissensbisse, weil jene Frau nach meiner festen Überzeugung die Strafe verdiente, die sie ausstehen mußte. Ich habe keine Gewissensbisse, denn wenn wir sie am Leben gelassen hätten, so würde sie ohne Zweifel ihr Zerstörungswerk fortgesetzt haben; damit ist aber nicht gesagt, mein Freund, daß wir zu unserer Tat berechtigt waren. Vielleicht heischt jedes vergossene Blut eine Sühnung; sie hat die ihrige vollendet, möglicherweise kommt die Reihe auch noch an uns. – Zuweilen dachte ich wie Ihr, Athos. – Diese Frau hat einen Sohn? – Ja. – Habt Ihr von ihm sprechen hören? – Nie. – Er muß dreiundzwanzig Jahre alt sein, murmelte Athos. Ich denke oft an diesen jungen Mann, d’Artagnan. – Das ist sonderbar. Ich hatte ihn vergessen.

Athos lächelte schwermütig.

Und Lord Winter, habt Ihr Nachricht von ihm? – Ich weiß, daß er bei Karl I. sehr in Gunst war. – Er wird seinem Glücke gefolgt sein, und dieses ist zur Zeit schlecht. Halt, d’Artagnan, fuhr Athos fort; hier trifft wieder zu, was ich Euch soeben sagte: er ließ das Blut Straffords vergießen; Blut heischt Blut. Und die Königin? – Welche Königin? – Henriette von England, die Tochter Heinrichs IV.? – Sie ist im Louvre, wie Ihr wißt. – Ja, wo es ihr an allem gebricht, nicht wahr? Während der großen Kälte in diesem Winter war ihre kranke Tochter, wie man mir gesagt hat, in Ermangelung von Holz genötigt, im Bette liegen zu bleiben. Begreift Ihr das? fügte Athos, die Achseln zuckend, bei. Die Tochter Heinrichs IV. zähneklappernd, weil es ihr an Holz gebricht! Warum hat sie nicht den ersten besten von uns um Gastfreundschaft gebeten, statt Mazarin darum zu bitten? Es würde ihr an nichts gefehlt haben. – Kennt Ihr sie denn, Athos? – Nein, meine Mutter hat sie als Kind gesehen. Habe ich Euch nie gesagt, daß meine Mutter Ehrendame der Maria von Medici gewesen ist? – Nie. Ihr sprecht von dergleichen Dingen nicht. – Ah! mein Gott, doch, wie Ihr seht, versetzte Athos, aber es muß sich eine Gelegenheit dazu bieten. – Porthos würde nicht so geduldig warten, sagte d’Artagnan lächelnd. – Jeder hat seine eigene Natur, mein lieber d’Artagnan. Porthos besitzt trotz einiger Eitelkeit vortreffliche Eigenschaften. Habt Ihr ihn wiedergesehen? – Ich verließ ihn vor fünf Tagen, antwortete d’Artagnan.

Und nun erzählte er mit dem Erguß seiner gascognischen Laune, wie herrlich und in Freuden Porthos in seinem Schlosse Pierrefonds lebe.

Ich bewundere, sprach Athos, durch des Freundes Lebhaftigkeit in die alte Zeit zurückversetzt, ich bewundere, daß wir durch Zufall eine Gemeinschaft gebildet haben, welche trotz zwanzigjähriger Trennung noch so eng zusammenhält. Die Freundschaft schlägt tiefe Wurzeln in redlichen Herzen, d’Artagnan; glaubt mir, nur schlechte Menschen leugnen die Freundschaft, weil sie sie nicht kennen. Und Aramis?

Ich habe ihn auch gesehen, antwortete d’Artagnan, aber er ist mir sehr kalt vorgekommen.

Ah! Ihr habt ihn auch gesehen, versetzte Athos, indem er d’Artagnan forschend ansah. Ihr macht ja eine wahre Pilgerfahrt nach dem Tempel der Freundschaft.

Allerdings, erwiderte d’Artagnan verlegen.

Aramis, fuhr Athos fort, ist, wie Ihr wißt, von Natur kalt; dann ist er immer in Weiberintrigen verwickelt.

Ich glaube, gerade in diesem Augenblick in eine sehr ausgedehnte, sprach d’Artagnan.

Athos gab dem Gespräch geflissentlich eine andere Richtung.

Ihr seht, sagte er, indem er d’Artagnan darauf aufmerksam machte, daß sie nach einem Spaziergang von einer Stunde zu dem Schlosse zurückgekommen waren, wir haben die Runde auf allen meinen Besitzungen gemacht.

Alles ist hier reizend, und besonders hat alles ein adeliges Aussehen, erwiderte d’Artagnan.

In diesem Augenblick hörte man den Tritt eines Pferdes.

Raoul kehrt zurück, sprach Athos, wir bekommen Nachricht von der armen Kleinen.

Der junge Mensch erschien wirklich am Gitter und ritt, ganz mit Staub bedeckt, in den Hof ein, sprang dann von seinem Pferd, das er einem Knecht überließ, und begrüßte den Grafen und d’Artagnan mit ehrfurchtsvoller Höflichkeit.

Dieser Herr, sagte Athos, seine Hand auf d’Artagnans Schulter legend, dieser Herr ist der Chevalier d’Artagnan, von dem Ihr mich so oft sprechen hörtet, Raoul.

Gnädiger Herr, sprach Raoul, sich abermals und noch tiefer verbeugend, der Herr Graf hat mir Euern Namen als Beispiel genannt, so oft er einen unerschrockenen, hochherzigen Edelmann bezeichnen wollte.

Dieses kleine Kompliment machte einen angenehmen Eindruck auf d’Artagnan, sein Herz geriet in eine sanfte Bewegung; er reichte Raoul eine Hand und sprach: Alle Lobeserhebungen, die man mir spenden mag, fallen auf den Herrn Grafen zurück, denn ihm verdanke ich meine Erziehung in allen Dingen, und es ist nicht seine Schuld, wenn der Zögling sie schlecht benutzte. Aber ich bin überzeugt, es wird ihm bei Euch besser gelingen. Eure Erscheinung gefällt mir, Raoul, und Eure Höflichkeit hat mich gerührt.

Athos war unbeschreiblich entzückt; er schaute d’Artagnan dankbar an und heftete dann auf Raoul ein befriedigtes Lächeln.

Nun, sagte d’Artagnan zu sich selbst, denn das stumme Mienenspiel war ihm nicht entgangen, nun bin ich meiner Sache gewiß.

Laß hören, sprach Athos, der Unfall wird hoffentlich keine Folge haben?

Man weiß es noch nicht, Herr; der Arzt konnte wegen der Geschwulst nichts sagen; er fürchtet jedoch, es werde ein Nerv verletzt sein.

Ihr seid nicht länger bei Frau von Saint-Remy geblieben?

Ich fürchtete, zur Stunde Eures Abendessens nicht zurück zu sein, erwiderte Raoul, und Euch folglich warten zu lassen.

In diesem Augenblick meldete ein kleiner Junge, halb Bauer, halb Lakai, das Abendbrot sei aufgetragen.

Athos führte seinen Gast in einen sehr einfachen Speisesaal, dessen Fenster jedoch auf der einen Seite nach dem Garten, auf der andern nach einem Gewächshause gingen, in dem herrliche Pflanzen blühten.

D’Artagnan warf einen Blick auf den Tisch; das Geschirr war prachtvoll; man sah, es war von dem alten Silberzeug der Familie.

Das Mahl war sehr belebt. Athos und d’Artagnan tauschten alte Erinnerungen, und Raoul hörte, bewundernd und mit allen Fibern nach gleichen Abenteuern und gleichem Ruhme lechzend, von den Heldentaten der Freunde in der Bastei von Saint-Gervais und den bewundernswerten Duellen d’Artagnans.

Der Jüngling hätte gerne das Gespräch die ganze Nacht hindurch ausgedehnt, aber Athos bemerkte, ihr Gast müsse müde sein und der Ruhe bedürfen.

D’Artagnan legte sich zu Bette, weniger um zu schlafen, als um allein zu sein und an alles zu denken, was er an diesem Abend gesehen und gehört hatte. Da er gutmütiger Natur war und gleich im Anfang zu Athos eine instinktartige Zuneigung gefaßt hatte, welche in aufrichtige Freundschaft übergegangen war, so war er entzückt, einen Mann von glänzendem Geist und ungeschwächter Körperkraft statt des Trunkenbolds zu finden, den er zu sehen erwartet hatte. Er unterwarf sich sogar ohne alles Sträuben der beständigen Überlegenheit von Athos, und statt Eifersucht und Ärger darüber zu fühlen, wie dies bei einer minder edelmütigen Natur der Fall gewesen sein dürfte, hegte er eine aufrichtige Freude und die günstigsten Hoffnungen für sein Unternehmen.

Indessen kam es ihm vor, als fände er Athos nicht offenherzig und klar über alle Punkte. Wer war der junge Mensch, den er adoptiert zu haben behauptete, und der eine so große Ähnlichkeit mit ihm hatte? Was bedeutete diese Rückkehr zum geselligen Leben und diese übertriebene Mäßigkeit, die er bei Tisch wahrgenommen hatte? Eine scheinbar geringfügige Sache, die Abwesenheit Grimauds, von dem sich Athos ehedem nicht trennen konnte, und dessen Name trotz wiederholter Anspielungen nicht einmal genannt worden war … alles dies beunruhigte d’Artagnan. Er besaß also das Vertrauen seines Freundes nicht mehr, oder Athos war durch eine unsichtbare Kette gebunden oder gar zum voraus gegen den Besuch, den er ihm machte, eingenommen.

Unwillkürlich dachte er an Rochefort und an das, was ihm dieser in Notre-Dame gesagt hatte. Sollte Rochefort ihm bei Athos zuvorgekommen sein?

D’Artagnan hatte keine Zeit mit langen Studien zu verlieren. Er beschloß auch, schon am andern Tag eine Erklärung herbeizuführen. Er entwarf seinen Angriffsplan, und obgleich er wußte, daß Athos ein hartnäckiger Gegner war, so stellte er doch den entscheidenden Vorstoß auf den folgenden Tag nach dem Frühstück fest.