Der Weg war lang, das kümmerte aber d’Artagnan nicht; er wußte, daß sich seine Pferde an den reichen Raufen des Gebieters von Bracieux gestärkt hatten. Er ging also getrost an die vier oder fünf Tagemärsche, die er mit seinem treuen Planchet zu machen hatte.
Um die Langeweile zu vertreiben, ritten die beiden Männer beständig nebeneinander und plauderten. D’Artagnan fiel es nicht ein, den Herrn herauszukehren, und Planchet hatte die Lakaienhaut gänzlich abgestreift. Er war ein Schlaukopf, der sich als Bürger sehr oft nach den leckern Mahlen der Landstraße, sowie nach den Gesprächen und der glänzenden Gesellschaft von Edelleuten zurückgesehnt hatte und in einem Gefühl persönlicher Würde darunter litt, daß er durch die beständige Berührung mit Leuten von platten Lebensanschauungen selbst herunterkam.
Er erhob sich also bald bei dem, den er noch seinen Herrn nannte, zum Rang eines Vertrauten. D’Artagnan seinerseits hatte seit langen Jahren sein Herz nicht erschlossen. So kam es, daß die zwei Männer, als sie sich wiederfanden, sich aufs vortrefflichste zu verständigen wußten.
Auf dem Wege sagte d’Artagnan, den Kopf schüttelnd und auf den Gedanken zurückkommend, der ihn beständig beschäftigte:
Ich weiß wohl, daß mein Schritt bei Athos vergeblich und töricht ist, aber ich schulde diesen Versuch einem alten Freund, einem Manne, der den Stoff zu dem hochherzigsten, edelmütigsten Menschen in sich trug.
Oh, Athos war ein tüchtiger, stolzer Edelmann! rief Planchet. – Nicht wahr? versetzte d’Artagnan.
Ein Herr, der Geld ausstreute, wie der Himmel hageln läßt, fuhr Planchet fort, ein Mann, der das Schwert mit königlichem Ansehen in die Hand nahm. Erinnert Ihr Euch, Herr, des Zweikampfes mit den Engländern in der Umfriedung des Karmeliterklosters? Ach, wie schön und herrlich anzuschauen war Herr Athos an diesem Tage, als er zu seinem Gegner sagte: Ihr habt verlangt, daß ich Euch meinen Namen sage, mein Herr, desto schlimmer für Euch, denn ich werde genötigt sein, Euch zu töten. Ach, gnädiger Herr, ich wiederhole, er war ein tüchtiger, stolzer Edelmann.
Ja, versetzte d’Artagnan, das ist wohl wahr; aber durch einen einzigen Fehler wird er alle seine schönen Eigenschaften verloren haben.
Ich erinnere mich, erwiderte Planchet. Er liebte den Trunk, oder vielmehr: er trank. Aber er trank nicht wie andere. Seine Augen sagten alles, wenn er das Glas an die Lippen setzte. In der Tat, nie war ein Stillschweigen so sprechend. Mir kam es vor, als hörte ich ihn murmeln: Tritt ein, Trank, und verjage meinen Kummer. Und wenn er den Fuß eines Glases oder den Hals einer Flasche zerbrach, so tat er dies auf eine so vornehme Weise, daß kein anderer es ihm gleichtun konnte.
Wohl, versetzte d’Artagnan, aber welch ein trauriges Schauspiel harrt unser heute! Dieser treffliche Edelmann mit dem stolzen Auge, dieser schöne Kavalier, der unter den Waffen so glänzend aussah, daß man sich stets wunderte, daß er einen einfachen Degen statt eines Kommandostabes in der Hand hielt, er wird sich in einen krummbuckeligen, rotnasigen und triefäugigen alten Mann verwandelt haben. Wir werden ihn auf irgend einem Rasen liegend finden, von wo er uns mit seinen matten Augen anschaut und vielleicht nicht erkennt. Gott ist mein Zeuge, fügte d’Artagnan bei, ich würde dieses traurige Schauspiel fliehen, wenn mir nicht alles daran läge, dem glorreichen Schatten des erhabenen Grafen de la Fère, den wir so sehr liebten, meine Achtung zu bezeugen.
Planchet schüttelte den Kopf und sagte nichts; man sah, daß er die Befürchtungen seines Herrn teilte.
Und dann, fuhr d’Artagnan fort, diese Hinfälligkeit, denn Athos ist jetzt alt; auch Armut vielleicht … er wird das wenige, was er besaß, vernachlässigt haben. Und dann der schmutzige Grimaud, stummer als je und noch trunksüchtiger als sein Herr … Höre, Planchet, alles dies schneidet mir ins Herz.
Es ist mir, als sähe ich ihn lallend und taumelnd vor mir, sprach Planchet in kläglichem Tone. Jedenfalls, gnädiger Herr, werden wir bald hierüber Licht bekommen, denn ich glaube, jene hohen Mauern, welche die untergehende Sonne rötet, sind die Mauern von Blois.
In diesem Augenblick stießen die beiden Reiter auf einen von den schweren, mit Ochsen bespannten Wagen, die das in den schönen Waldungen der Gegend gefällte Holz bis nach den Häfen der Loire führen. Der den Wagen begleitende Mann sagte ihnen in dem reinen Französisch, das den Leuten dieser Gegend eigen ist, auf d’Artagnans Frage: Wenn Ihr diesem Weg hier folgt, so werdet Ihr nach einer halben Meile rechts ein Schloß erblicken. Man sieht es hier noch nicht wegen einer Wand von Pappelbäumen, die es verbirgt. Dieses Schloß ist nicht Bragelonne, sondern La Balliere. Ihr reitet daran vorbei; aber drei Büchsenschüsse weiter ist ein großes weißes Haus mit einem Schieferdache, auf einem von ungeheuren Maulbeerfeigenbäumen beschatteten Hügel. Dies ist das Schloß des Herrn Grafen de la Fère.
D’Artagnan dankte dem Ochsentreiber und gab seinem Rosse die Sporen. Aber unwillkürlich beunruhigt durch den Gedanken, den seltsamen Mann wiederzusehen, den er so sehr geliebt, der durch seine Ratschläge und sein Beispiel so viel zu seiner Erziehung als Edelmann beigetragen hatte, ließ er sein Pferd wieder langsamer gehen und senkte träumerisch den Kopf.
An der Biegung des Weges erschien das Schloß La Vallière, wie der Ochsentreiber gesagt hatte, vor den Augen der Reisenden, dann eine Viertelmeile weiter hob sich das weiße Haus, umgeben von seinen Maulbeerfeigenbäumen, auf dem Grunde einer dichten Gruppe von Bäumen hervor, welche der Frühling mit einem Blütenschnee bestreut hatte.
Bei diesem Anblick fühlte d’Artagnan, der gewöhnlich nur sehr wenig in Aufregung geriet, eine seltsame Unruhe in der Tiefe seines Herzens. So mächtig sind das ganze Leben hindurch die Jugenderinnerungen. Planchet, der nicht dieselben Motive zu solchen Eindrücken hatte, schaute, voll Verwunderung über die Bewegung seines Herrn, bald d’Artagnan, bald wieder das Haus an.
Der Musketier ritt noch einige Schritte vorwärts und befand sich vor einem geschmackvoll gearbeiteten Gitter, durch das man einen sorgfältig gepflegten Küchengarten, einen geräumigen Hof, in dem mehrere von Bedienten in verschiedenen Livreen gehaltene Reitpferde stampften, und einen mit zwei Pferden bespannten Wagen erblickte.
Wir täuschen uns, oder dieser Mann hat uns getäuscht, sagte d’Artagnan, hier kann Athos nicht wohnen. Mein Gott, sollte er tot sein und dieses Gut einem seines Namens gehören? Steig ab, Planchet, und erkundige dich. Ich gestehe, daß ich meinesteils nicht den Mut dazu habe.
Planchet stieg ab.
Du erklärst, sagte d’Artagnan, ein vorüberziehender Edelmann wünsche die Ehre zu haben, den Herrn Grafen de la Fère zu begrüßen, und wenn du mit der Auskunft, die du erhältst, zufrieden bist, so nennst du mich.
Wohnt hier der Herr Graf de la Fère? fragte Planchet, nachdem auf das von ihm gegebene Glockenzeichen ein weißhaariger Diener erschienen war. – Ja, Herr. – Ein Seigneur, der sich vom Dienst zurückgezogen hat, nicht wahr? – Ganz richtig. – Und der einen Lakaien namens Grimaud hatte, versetzte Planchet, der mit seiner gewöhnlichen Klugheit nicht genug Erkundigungen einziehen zu können glaubte. – Herr Grimaud ist in diesem Augenblick vom Schlosse abwesend, erwiderte der Diener und begann, an solche Verhöre nicht gewöhnt, Planchet vom Kopf bis zu den Füßen zu betrachten. – Dann sehe ich, rief Planchet strahlend, daß es derselbe Graf de la Fère ist, den wir suchen. Wollt mir also öffnen, denn ich wünsche dem Herrn Grafen meinen Herrn, einen ihm befreundeten Edelmann, zu melden, der ihn zu begrüßen beabsichtigt. – Warum sagtet Ihr mir das nicht früher? sprach der Diener, das Gitter öffnend. Aber wo ist Euer Herr? – Hinter mir, er folgt mir.
Der Diener ging Planchet voraus, und dieser winkte d’Artagnan, der mit pochendem Herzen in den Hof einritt.
Als Planchet auf der Freitreppe war, hörte er eine Stimme, die aus einem untern Saale kam und sagte:
Nun, wo ist denn dieser Edelmann, und warum wird er nicht hierhergeführt?
Diese Stimme, die bis zu d’Artagnan drang, erweckte in seinem Innern tausend vergessene Erinnerungen, tausend Gefühle. Er sprang rasch vom Pferde, während Planchet lächelnd aus den Herrn des Hauses zuging.
Ah, ich kenne diesen Burschen, sagte Athos, als er Planchet auf der Schwelle erblickte.
Oh ja, Herr Graf, Ihr kennt mich, und ich kenne Euch auch sehr gut. Ich bin Planchet, Herr Graf, Planchet, Ihr wißt wohl… Der ehrliche Diener konnte nicht mehr sprechen, so verblüfft war er von dem unerwarteten Anblick des Edelmanns.
Wie, Planchet! rief Athos. Sollte Herr d’Artagnan hier sein?
Hier bin ich, Freund, hier bin ich, teurer Athos, rief d’Artagnan stammelnd und beinahe wankend.
Bei diesen Worten trat eine sichtbare Bewegung auf Athos‘ schönem Antlitz und ruhigen Zügen hervor. Er machte rasch zwei Schritte gegen d’Artagnan, ohne ihn aus dem Blicke zu verlieren, und schloß ihn zärtlich in seine Arme. D’Artagnan, welcher sich etwas von seiner Unruhe erholte, drückte ihn mit einer Herzlichkeit, die aus den Tränen seiner Augen leuchtete, an seine Brust.
Athos nahm ihn nun an der Hand und führte ihn in den Salon, wo mehrere Personen versammelt waren. Alle Anwesenden standen auf.
Ich stelle Euch, sprach Athos, den Herrn Chevalier d’Artagnan, Leutnant bei den Musketieren Seiner Majestät des Königs, vor, einen sehr ergebenen Freund und einen der bravsten und liebenswürdigsten Edelleute, die ich kennengelernt habe.
Dem Gebrauche gemäß empfing d’Artagnan die Komplimente der Versammelten, gab sie nach Kräften zurück, nahm im Kreise Platz und fing an, Athos prüfend anzuschauen, während das einen Augenblick unterbrochene Gespräch wieder allgemein wurde.
Seltsamerweise hatte Athos kaum gealtert. Frei von den blauen Ringen, den Spuren von Nachtwachen und Orgien, schienen seine schönen Augen größer und von reinerem Glanze, als zuvor; sein etwas verlängertes Gesicht hatte an Majestät gewonnen; seine trotz der Weiße und Weichheit noch bewundernswürdig nervige Hand trat blendend unter der Manschette hervor, wie gewisse Hände von Titian und Van Dyk; er war schlanker, als früher; seine breiten, gut geformten Schultern kündigten ungewöhnliche Stärke an; seine nun langen, leicht mit Grau vermischten, schwarzen Haare fielen zierlich und wellenförmig in natürlicher Biegung auf die Schultern herab; seine Stimme war so frisch, wie die eines fünfundzwanzigjährigen Mannes, und seine prächtigen, weiß und unverletzt erhaltenen Zähne verliehen seinem Lächeln einen unaussprechlichen Zauber.
Die Gäste des Grafen, welche merkten, daß die zwei Freunde allein zu sein verlangten, schickten sich mit der ganzen Kunst und Artigkeit früherer Zeiten zum Weggehen an, als man im Hofe Hundegebell vernahm und mehrere Personen zu gleicher Zeit sagten: Ah! Raoul kommt heim.
Athos schaute bei dem Namen Raoul d’Artagnan an und schien die Neugierde zu beobachten, die dieser Name auf seinem Gesicht hervorbringen müßte. Aber d’Artagnan begriff noch nichts; er hatte sich von seinem Staunen noch nicht erholt und wandte sich daher beinahe mechanisch um, als ein hübscher junger Mann, einfach, aber geschmackvoll gekleidet, seinen mit langen roten Federn geschmückten Hut anmutig abnehmend, in den Salon eintrat.
Diese neue, ganz unerwartete Erscheinung berührte ihn übrigens ungemein. Eine ganze Welt von Gedanken stellte sich vor seinen Geist und erläuterte ihm durch alle Quellen seines Verstandes die Veränderung von Athos, die ihm unerklärlich vorgekommen war. Eine auffallende Ähnlichkeit zwischen dem Edelmann und dem Jüngling enträtselte ihm das Geheimnis dieses wiedergeborenen Lebens. Er wartete schauend und horchend.
Ihr seid zurück, Raoul, sprach der Graf.
Ja, Herr, antwortete der Jüngling ehrfurchtsvoll, und ich habe mich des Auftrags entledigt, den Ihr mir gegeben.
Aber was habt Ihr? fragte Athos besorgt; Ihr seid bleich und scheint aufgeregt?
Es kommt daher, erwiderte der Jüngling, daß unserer kleinen Nachbarin ein Unglück widerfahren ist.
Dem Fräulein de la Vallière? versetzte Athos lebhaft.
Was denn? fragten mehrere Stimmen.
Sie ging mit ihrer guten Marcelline in der Einfriedigung spazieren, wo die Holzfäller ihre Bäume abvieren, als ich im Vorüberreiten sie wahrnahm und anhielt. Sie bemerkte mich ebenfalls und wollte von einem Holzstoß, auf den sie gestiegen war, herabspringen, aber das arme Kind knickte, als es die Erde berührte, mit einem Fuße um, und konnte sich nicht mehr erheben. Sie hat sich, glaube ich, den Knöchel verstaucht.
Oh! mein Gott! rief Athos, und ist Frau von Saint-Remy, ihre Mutter, davon benachrichtigt?
Nein, Herr. Frau von Saint-Remy ist in Blois bei der Frau Herzogin von Orleans. Ich fürchtete, die erste Hilfe könnte nicht richtig geleistet werden, und eilte hierher, um Euch um Rat zu fragen.
Schickt geschwind nach Blois, Raoul, oder vielmehr, nehmt Euer Pferd und reitet schleunigst selbst dahin.
Raoul verbeugte sich.
Aber wo ist Luise? fuhr der Graf fort.
Ich habe sie bis hierher gebracht und bei der Frau von Charlot untergebracht, welche sie mittlerweile den Fuß in Eiswasser stellen ließ.
Nach dieser Erklärung, welche eine Gelegenheit zum Aufbruch bot, nahmen die Gäste Abschied von Athos; der alte Herzog von Barbé allein, der infolge einer zwanzigjährigen Freundschaft auf vertrautem Fuße mit dem Hause de la Vallière stand, suchte die kleine Luise auf, die weinte, aber beim Anblick Raouls ihre schönen Augen trocknete und wieder lächelte.
Der Herzog machte nun den Vorschlag, sie in seinem Wagen nach Blois zu führen.
Ihr habt recht, gnädiger Herr, sagte Athos, sie wird früher bei ihrer Mutter sein; Ihr, Raoul, werdet wohl unbesonnen gehandelt haben und seid an diesem Unfall schuld.
Oh! nein, nein, Herr, ich schwöre es Euch! rief das Mädchen, während der junge Mann bei dem Gedanken, vielleicht die Ursache dieses Unfalls zu sein, erbleichte.
Oh! Herr, ich versichere Euch, murmelte Raoul.
Ihr geht nichtsdestoweniger nach Blois, fuhr der Graf wohlwollend fort, und entschuldigt Euch und mich bei Frau von Saint-Remy; dann kehrt Ihr zurück.
Die Farben erschienen wieder auf den Wangen des Jünglings; nachdem er mit den Augen den Grafen gefragt hatte, nahm er das kleine Mädchen, dessen hübscher, vom Schmerz bewegter und zugleich lächelnder Kopf auf seinen Schultern ruhte, in seine kräftigen Arme und trug es sacht in den Wagen; dann sprang er mit der Leichtigkeit und Eleganz eines vollendeten Stallmeisters zu Pferde, begrüßte Athos und d’Artagnan und entfernte sich rasch, neben dem Schlage des Wagens reitend, in dessen Inneres seine Blicke beständig geheftet blieben.