3. Kapitel. In Schloß Vaux

Das große Fest, zu dem Fouquet den Hof nach Schloß Vaux geladen, und das ihm nach seiner Befürchtung den Untergang, nach Aramis‘ Zuversicht die Rettung bringen sollte, hatte mit der Ankunft Ludwigs XIV. begonnen. Fouquet, der an den Prophetismus d’Herblays nicht glaubte, war entschlossen, in Ludwigs Brust einen Neid zu erwecken, den er bis an sein Lebensende nicht überwinden sollte. Schon die Wege waren von Melun an aufs sorgsamste hergerichtet worden, und man hätte auf dieser ganzen Strecke nicht einen eigroßen Kieselstein gesunden. Da die Wagen wie auf einem Teppich fahren konnten, langten die Herren und Damen noch des Abends um acht Uhr an, ohne die geringste Erschütterung erlitten zu haben, ohne die mindeste Müdigkeit zu spüren.

Sie wurden von Herrn und Frau Fouquet empfangen, und kaum hatte der König den Fuß auf den Boden des Schloßgartens gesetzt, so flammten rings an den Bäumen, Sträuchern und Marmorgruppen Lichter auf, die alles ringsum tageshell erleuchteten. Dieser Zauber währte so lange, bis die Majestäten den Palast betreten hatten. Noch am selben Abend überraschte Fouquet den König durch eine Entfaltung von Glanz, die selbst diese trotz ihrer Jugend schon übersättigten Augen blendete. Der große Reigen von luxuriösen Vergnügungen, die geplant waren, und die durch den Staatsstreich des Herrn d’Herblay ein so jähes Ende nehmen sollten, wurde mit einigen Prachtnummern eröffnet, die allein schon Unsummen kosteten. Bei diesem Anblick wurde das erst fröhliche, offene und glückliche Gesicht Ludwigs XIV. traurig, finster, zornig. Er dachte an seinen eigenen Haushalt, welcher im Gegensatz zu dem hier dargestellten Pomp armselig genannt werden mußte. Man speiste auf Gold, das noch nie benützt worden war, das berühmte neue Meister ziseliert hatten. Man trank Weine, die der König nicht einmal dem Namen nach kannte, und trank sie aus Bechern, von denen jeder einzelne kostbarer war, als der ganze königliche Keller.

Der König speiste schweigsam. Anna von Oesterreich hatte sich vorgenommen, alles zu tadeln, und handelte danach, Maria-Theresia, gutmütig und neugierig, interessierte sich für alles und machte kein Hehl aus ihrem Entzücken. Sie erkundigte sich nach gewissen Früchten, die aus Fouquets Treibhäusern waren, und wollte wissen, wie sie genannt würden. Fouquet antwortete, er wisse die Namen selber nicht. Ludwig merkte, daß er nur aus Taktgefühl so sprach, und fühlte sich um so mehr gedemütigt. Er ärgerte sich darüber, daß die Königin zu freundlich und die Königin-Mutter zu abweisend war. Er richtete seine ganze Sorgfalt darauf, die richtige Mitte in seinem Wesen innezuhalten.

Allein Fouquet hatte das alles vorausgesehen, denn er war ein Mann von großem Scharfblick. Der König hatte erklärt, auf Schloß Vaux sollten die Mahlzeiten nicht der Hofetikette unterworfen sein. Er wollte inmitten der andern sitzen. Doch der Ober-Intendant gab ihm einen abgesonderten Platz, im Zentrum der allgemeinen Tafel. Dieses wunderbar zusammengestellte Diner enthielt alle Lieblingsgerichte Ludwigs, und zwar in einer Zubereitung, die über alles Lob erhaben war. Der König hatte keinen Grund, ungehalten zu sein, und da er für den stärksten Esser seines Reiches galt, so konnte er auch nicht Mangel an Appetit vorschützen.

Fouquet tat noch mehr. Er setzte sich zunächst mit an die Tafel, doch als die Suppe verzehrt war, stand er auf und begann selbst den König zu bedienen, gleichzeitig erhob sich Frau Fouquet und bediente die Königin-Mutter. Ludwig konnte nicht anders als laut erklären: »Herr Fouquet, ein besseres Mahl anzurichten, ist nicht mehr menschenmöglich.« – Nun bekannte der gesamte Hof seinen Beifall, und zwar so ungeheuchelt, daß der König abermals zu schmollen begann und, als sein Hunger gestillt war, sich ernstlich schlechter Laune fühlte. Als das Festessen zu Ende war, begab er sich in den Park, der feenhaft erleuchtet war, ganz zu schweigen von dem Monde, der, als fügte er sich den Anordnungen des Schloßherrn von Vaux, die Teiche mit seinem Phosphorlicht versilberte. Es herrschte eine angenehme Kühle, und die Wege waren mit weichem Sande bestreut, welcher den Füßen wohltat.

D’Artagnan hatte an diesem Abend seine klugen Gaskogner-Augen offen gehalten und vieles bemerkt, was ihm nicht sehr geheuer vorkam. Er wollte Aramis befragen und lief so lange herum, bis er ihn traf. Er fand ihn in einem schönen Zimmer, welches man das blaue nannte, seiner Vorhänge wegen, und das d’Herblay mit Porthos teilte. Der Herr Baron saß in einem Lehnstuhl und erquickte sich, da er sehr viel gegessen hatte, durch ein Schläfchen. D’Herblay und d’Artagnan brauchen sich also an die Anwesenheit dieses Dritten nicht zu kehren.

Der Musketier fühlte, daß er das Gespräch eröffnen müsse, und begann denn auch mit den tiefsinnigen Worten: »So sind wir denn nun in Vaux.« – »Ja, in Vaux,« antwortete Aramis, »gefällt es Ihnen hier?« – »Sehr, und ich mag auch Herrn Fouquet sehr gern.« – »Nicht wahr, er ist prächtig.« – »Es läßt sich nichts dagegen sagen, nur scheint Seine Majestät anderer Meinung zu sein.« – »Ich habe nicht darauf geachtet, weil ich mich in Gedanken mit dem Programm des morgigen Tages beschäftigt habe.« – »Ah, Sie sind wohl hier sozusagen Festordner? Wissen Sie, Aramis, es war schon heute alles so großartig, daß mir während des Soupers ein seltsamer Gedanke gekommen ist.« – »Und der wäre?« – »Ich habe bei mir gedacht,« sprach der Kapitän der Musketiere, »der wahre König von Frankreich sei gar nicht Ludwig XIV.« – »Hm!« murmelte Aramis und öffnete unwillkürlich die Augen um einen Spalt weiter. – »Nicht Ludwig XIV.,« fuhr der Gaskogner fort, »sondern Herr Fouquet.« – »Diese Redensart stammt doch sicherlich von Herrn Colbert,« sagte Aramis lächelnd. »Ein erbärmlicher Kerl, dieser Colbert! Und wenn man bedenkt, daß er in vier Wochen Ihr Minister sein wird –«

»Wie Fouquet der Ihrige,« warf d’Artagnan ein. – »Mit dem Unterschied,« sagte Aramis, »daß Fouquet ein ganz anderer Mann ist.«

»Wenn Herr Fouquet in vier Wochen schon zugrunde gerichtet sein wird,« sagte der Gaskogner, »warum gibt er dann noch Festlichkeiten? Weshalb haben Sie ihm nicht davon abgeraten?« – »Es handelt sich darum, sich den König gewogen zu halten.« – »Indem man sich für ihn zugrunde richtet?« meinte d’Artagnan. »Eine eigentümliche Spekulation. Und ich bin kein Freund von unnützen Narrheiten. Aramis, warum sind die Zimmer im Schloß sogar frisch gedielt worden, von den neuen Tapeten ganz zu schweigen?« – »Ich sagte das Herrn Fouquet auch, aber er antwortete mir, er sei reich genug, dem König ein ganz neues Schloß aufzubauen und es, nachdem der König darin geweilt, mit allem, was es enthalte, verbrennen zu lassen, damit die Gegenstände später von niemand anders benutzt würden.« – »Das ist rein spanisch,« meinte d’Artagnan. »Uebrigens können Sie das jedem andern erzählen, nur mir nicht. Sagen Sie mir doch ruhig die Wahrheit!«

»Freund, schon wieder argwöhnisch?« – »Sie wissen, ich habe instinktartige Eingebungen,« antwortete der Chevalier. »Früher glaubten Sie daran. Und hier scheint es mir, als wenn Sie mit einem geheimen Projekt umgingen.« – »Daß ich nicht wüßte,« erwiderte Aramis ruhig. »Wenn ich mit einem Projekt umgehe, das ich verschweigen muß, so werde ich schweigen – wenn es eins wäre, das ich Ihnen mitteilen könnte, so wüßten Sie es längst.« – »Aramis, es gibt Projekte, die man erst im günstigen Moment kundgibt.« – »Nun, dieser günstige Moment ist eben noch nicht gekommen.« sagte Aramis lächelnd.

D’Artagnan schüttelte den Kopf. »Freundschaft, Freundschaft!« murmelte er. »Ein eitler Begriff. Und das ist ein Mann, der sich für mich, wenn ich es verlangte, in Stücke hauen lassen würde.« – »Das ist wahr,« sprach Aramis edel. – »Und derselbe Mann, der das Blut all seiner Adern für mich hingeben würde, öffnet mir nicht einmal einen kleinen Winkel seines Herzens. Freundschaft, du bist nur ein leerer Wahn.« – »Reden Sie doch nicht so von unserer Freundschaft, d’Artagnan!« rief d’Herblay.

»Aramis,« versetzte der Kapitän, »ich will Ihnen etwas sagen. Gegen Colbert zu komplottieren, das wäre Ihnen zu gering. Hinter dem allen steckt also mehr, das steht für mich fest. Ob Sie nun reden oder schweigen wollen, so erkläre ich Ihnen mit aller Bestimmtheit, wir sind die besten Freunde, wir sind sogar Brüder, aber wenn Sie etwas gegen den König ins Werk setzen wollen, so kann ich Ihnen nicht helfen. Aber eins kann ich tun, Aramis, ich kann neutral bleiben, ja, ich kann versuchen, Sie zu retten.« – »Sie phantasieren, Freund,« erwiderte Aramis. »Was soll man einem legitimen König anhaben? Und dann sind Sie ja mit den Musketieren da. Nein, d’Artagnan, wenn es meine Absicht wäre, den Sohn Annas von Oesterreich, den wahren König von Frankreich, auch nur mit einem Finger anzurühren, wenn ich nicht willens wäre, mich vor seinem Throne niederzuwerfen und den morgigen Tag auf Schloß Vaux zum glorreichsten von allen Tagen meines Königs zu machen – dann möge mich der Blitz zermalmen!«

Er sprach diese Worte in seltsamer Betonung mit gegen die Wand gekehrtem Gesicht. Indessen stellten sie den Musketier zufrieden, er faßte d’Herblays Hand und drückte sie herzlich. – »Gehen Sie fort?« fragte Aramis. »Dann nehmen Sie Porthos mit.« – »Wohnt er nicht bei Ihnen?« – »Gott bewahre! er hat sein eigenes Zimmer. Das wäre schön, wenn er hier schliefe, denn unter mir wohnt der König, und Porthos schnarcht wie eine Kanone.« – Der Kapitän weckte den Riesen und ging Arm in Arm mit ihm hinaus. Aramis und Porthos getrennt zu wissen, benahm ihm die letzte Spur von Argwohn.

Sobald sie gegangen, trat Aramis zur Wand und drückte auf eine Feder; die Tapete öffnete sich und zeigte einen kleinen Raum, aus dem Philipp, der ehemalige Gefangene der Bastille, hervortrat. – »Herr d’Artagnan hat Verdacht geschöpft,« murmelte er. – »Haben Sie ihn erkannt?« fragte Aramis. »Ja, das war der Kapitän Ihrer Musketiere.« – »Er ist mir sehr ergeben.« – »Wie ein Hund, der manchmal beißt,« antwortete d’Herblay. »Wenn d’Artagnan Sie nicht erkennt, ehe der andere beiseitegeschafft worden ist, dann können Sie auf Ihren Kapitän zählen in alle Ewigkeit. Wenn er nichts gesehen hat, bleibt er treu, und hat er zu spät etwas gemerkt, so ist er Gaskogner und gibt nie zu, daß er sich hinters Licht führen ließ. Doch sehen Sie jetzt hierher!« fuhr Aramis fort und schob ein fensterbreites Stück der Diele zur Seite. Darauf kam eine Oeffnung zum Vorschein, durch die man wie durch einen Schleier in das untere Zimmer blicken konnte.

Philipp sah hinab und zuckte zusammen. »Der König!« flüsterte er. – »Ja, und geben Sie acht, was er tun wird.« – »Colbert ist bei ihm,« sagte Philipp. »Ich erkenne den Mann mit den dicken Brauen und dem unförmigen Schädel. Sie haben Ihre Porträts trefflich gezeichnet, Herr d’Herblay.« – Aramis nickte. »Sie sahen nun, wie Ludwig XIV. den Intendanten mit außergewöhnlicher Huld empfing. – »Colbert,« sprach er, »Sie haben heute alles mögliche getan, um mir die Laune zu verderben.« – »Ich weiß, Sire,« sprach Colbert. – »Sehr gut, die Antwort gefällt mir. Sie haben Mut gezeigt. Nun denn, waren Sie meinetwegen besorgt?« – »Und wäre es nur ein verdorbener Magen, Sire,« antwortete Colbert, »man gibt solche Feste nur, um den König unter der Last schwerer Speisen zu ersticken.«

»Woher nimmt er das Geld, um die ungeheuern Auslagen zu bestreiten?« sagte der König. »Wissen Sie das vielleicht?« – »Ja, ich weiß es, Sire.« – »So erklären Sie es mir.« – »Sire, die Lebenden sehen Herrn Fouquets Reichtum und klatschen Beifall, aber die Toten, die weiser sind als wir, kennen die Quelle dieses Reichtums und klagen an.«

»Sie müssen vertrauensvoller mit mir sprechen, Colbert,« sagte Ludwig XIV., »fürchten Sie nichts, wir sind allein.« – »Ich fürchte nie etwas, Sire, wenn ich mich im Schutze meines Gewissens und meines König weiß.« – »Nun also,« unterbrach Ludwig ihn. »Wenn die Toten reden könnten–?« – »Sie können bisweilen doch reden,« sagte Colbert. »Hier, lesen Sie, Sire!« Und er legte ihm einen jener Briefe Mazarins vor, die Frau von Chevreuse ihm verkauft hatte.

»Ich verstehe das noch nicht ganz,« murmelte der König, als er gelesen hatte. »Es handelt sich da um Geld, das man Herrn Fouquet gegeben. Um dreizehn Millionen. Fehlt dieser Betrag etwa in der Gesamt-Abrechnung?« – »Das ist nachgewiesen,« antwortete Colbert. »Aus diesem Briefe geht deutlich hervor, daß Herr Fouquet diese dreizehn Millionen für sich genommen hat. Mit einem solchen Betrage kann man schon Feste geben.«

»Colbert, das wäre ja eine Unterschlagung,« murmelte Ludwig XIV. »Und wenn ich nicht Gast des Herrn Fouquet wäre –« – »Eure Majestät sind überall zu Hause,« erwiderte Colbert, »und zumal in Häusern, die man von Ihrem Gelde erbaut hat.«

»Mich dünkt,« flüsterte Philipp oben Aramis zu, »der Mann, der dieses Haus errichtete, hätte die Decke dieses Zimmers beweglich machen sollen, damit man sie jetzt auf den Kopf dieses schwarzen Schurken herabfallen lassen könnte!« – »Mein Prinz, horchen Sie weiter,« antwortete d’Herblay. – »Wir werden nicht mehr lange zu horchen haben,« sagte Philipp. – »Wie das, Hoheit?« fragte der Bischof. – »Weil ich nichts mehr zu antworten hätte, wenn ich König wäre,« antwortete der Prinz. – »Und was würden Sie tun?« – »Bis morgen warten, um nachzudenken.«

Ludwig XIV. erhob sich in demselben Augenblick und sprach: »Colbert, es ist spät, ich will zu Bett gehen. Morgen werde ich Ihnen meinen Entschluß bekanntgeben.« – Colbert schritt rückwärts der Tür zu. Der König rief seine Diener und ließ sich entkleiden. Philipp wollte seinen Beobachtungsposten verlassen, doch Aramis sprach: »Ein Weilchen noch! Das ist auch sehr lehrreich. Sie lernen dabei den Nachtdienst, die Etikette des Schlafengehens kennen, und morgen müssen Sie ganz genau wissen, wie ein König sich zu Bett legt.«

Der neue Tag brachte neue Mannigfaltigkeit an Prunk und Freuden. Fouquet zeigte sich als Mäcen inmitten einer großen Zahl von Künstlern; da sah man Lafontaine, den berühmten Fabeldichter, Molière, den Schauspieler und Verfasser beliebter Komödien, Lebrun, den ausgezeichneten Maler, dazu Gelehrte aller Fächer. Alle Wunder von Tausendundeiner Nacht schienen sich in den Gärten von Vaux zu entfalten; eine orientalische Märchenwelt war nach Frankreich verpflanzt worden und blendete mit noch nie gesehenen Veranstaltungen, mit fast unerklärlichen Zauberspielen die Augen der Zuschauer. Aber je größer die Pracht war, um so größer wurde Ludwigs Neid. Man sah den König nicht ein einziges Mal lächeln, und alle, die ihn kannten, flüsterten sich zu, es drohe ein Unwetter. Colbert, der wohl von allen Höflingen den schärfsten Blick hatte, erkannte zu seiner Befriedigung, daß der König sich mit einem finstern Entschluß trug.

Der Abend kam heran; der König wünschte erst nach dem Spiel spazieren zu gehen. Es wurde also zwischen dem Souper und der Promenade »gejeut«. Ludwig gewann tausend Pistolen, steckte sie in die Tasche und rief: »Auf in den Park, meine Herren!« – Aber Fouquet hatte es verstanden, 10 000 Pistolen zu verlieren, und zwar so, daß einem jeden der Höflinge ein Teil der Summe zufiel. Man gehorchte daher nur zögernd der Aufforderung des Königs, die Spieltische zu verlassen. Das reizte den erlauchten Gast nur noch mehr gegen seinen Wirt auf. Er sah die Gesichter der Herren und Damen strahlen und wußte, daß er selbst mit gar saurer Miene unter ihnen stand.

An der Ecke einer Allee wartete Colbert auf ihn. Ohne Zweifel kam der Intendant auf grund eines geheimen Einverständnisses dorthin; denn bisher war Ludwig ihm aus dem Wege gegangen; jetzt aber gab er ihm einen Wink, und Colbert trat herzu. Beide schritten tiefer in den Park hinein.

Aber auch Luise von Lavallière hatte den finstern Blick, die flammende Stirn des Königs bemerkt, und da ihr liebendes Auge alle Regungen dieser Seele zu erspähen vermochte, so ahnte sie, daß von seinem Zorne jemand Gefahr drohe. Sie stellte sich als Engel des Erbarmens auf den Weg der Rache.

Colbert blieb bei ihrem Anblick stehen und ließ sie allein mit dem König. – »Fräulein,« sprach Ludwig, erfreut, sie zu sehen, »Sie scheinen traurig zu sein. Ihr Auge ist feucht, Ihre Brust atmet beklommen.« – »O, Sire, es ist, weil ich Sie traurig sehe.« – »Sie irren sich, Fräulein, ich bin nicht betrübt. Ich fühle mich nur niedergedrückt, ja, um es beim rechten Namen zu nennen, gedemütigt.« – »Was sagen Sie da, Majestät?« – »Ich meine damit, wo ich bin, sollte kein anderer Herr sein. Hier aber bin nicht ich König, sondern Fouquet, und wenn ich bedenke, daß er all den Glanz, den er entfaltet, nur einem Diebstahl verdankt, einem an mir begangenen Diebstahl –!«

»O, Majestät!« rief die Lavallière. – »Wollen Sie etwa Herrn Fouquet verteidigen?« unterbrach Ludwig sie.

»Keineswegs, Sire,« antwortete Luise. »Ich frage nur, ob Sie recht berichtet sind. Majestät haben schon öfter erfahren, welchen Wert bei Hofe die Beschuldigungen haben.« – »Colbert!« rief der junge Fürst, »sprechen Sie! Fräulein von Lavallière bedarf Ihrer Bestätigung, um an das Wort ihres Königs zu glauben. Sagen Sie dem Fräulein, was Herr Fouquet verbrochen hat. O, es ist rasch gesagt, Fräulein, hören Sie bitte ruhig zu.«

Warum drang Ludwig darauf? Weil sein eignes Herz nicht ruhig war, weil er noch nicht völlig von Fouquets Schuld überzeugt war. Er witterte unter dieser Geschichte von den dreizehn Millionen tückische Anschläge und wollte das reine Gemüt der Lavallière zum Schiedsrichter aufrufen. Sie sollte, empört über diesen Diebstahl, durch ein einziges Wort den schwankenden König in seinem Vorhaben bekräftigen.

»O, sprechen Sie, Herr,« sagte die Lavallière zu Colbert, »was für ein Verbrechen hat Herr Fouquet begangen?« – »O, nur eine kleine Unterschlagung, mein Fräulein,« antwortete der Intendant. – »Erklären Sie es, Colbert,« sprach Ludwig, »und wenn Sie fertig sind, so schicken Sie mir Herrn d’Artagnan her.« – »O, warum ihn, Sire? Ich bitte, mir das zu sagen!« rief Luise. – »Nun, um diesen stolzen Schloßherrn zu verhaften, der mir die Macht zu entreißen versucht.« – »Herrn Fouquet verhaften?« erwiderte die Lavallière. »Hier, wo Sie sein Gast sind?« – »Warum nicht? Wenn er schuldig ist! Er ist es hier so gut wie anderswo.’«

»Er richtet sich in diesem Moment zugrunde, um seinen König zu ehren,« sagte die Lavallière. – »Ich glaube wirklich, Fräulein, Sie nehmen Partei für diesen Verräter,« rief der König. – »Nein, Sire, wenn ich so spreche, geschieht es nur in Ihrem Interesse; denn Sie entehren sich, wenn Sie einen solchen Befehl geben.« – »Ich entehre mich?« murmelte der König ungehalten. »In der Tat, Fräulein, Sie entwickeln da einen höchst sonderbaren Eifer.« – »Das tue ich stets, wenn ich Ihnen dienen kann, Sire,« erwiderte Luise. »Und mit dem gleichen Eifer würde ich, wenn es nötig wäre, mein Leben für Sie hingeben.«

Colbert wollte etwas sagen, da wendete dieses sanfte Lamm sich wider ihn und gebot ihm flammenden Auges Schweigen. »Mein Herr!« rief sie, »wenn der König unbewußt unrecht tut, so liebe ich ihn zu sehr, als daß ich es ihn tun ließe, ohne ihn darauf aufmerksam zu machen.« – »Fräulein,« entgegnete Colbert, »ich glaube, ich liebe den König ebenfalls.« – »Wir lieben ihn beide, jeder nach seiner Art,« sprach Luise in einem Tone, der dem jungen König zu Herzen ging. »Nur liebe ich ihn so innig, daß es alle Welt weiß und er selbst nicht daran zweifelt. Er ist mein König und mein Herr, und ich bin seine ergebene Dienerin. Aber wer an seine Ehre greift, der greift mir ans Leben. Und deshalb wiederhole ich, wer dem König den Rat gibt, Fouquet in dessen Hause verhaften zu lassen, der entehrt den König!«

»Fräulein,« versetzte Colbert, »ich habe nur ein Wort zu sagen.« – »Sparen Sie es sich! Ich würde Sie doch nicht anhören. Was könnten Sie mir sagen? Daß Herr Fouquet ein Verbrechen begangen? Das weiß ich, weil der König es gesagt hat; und von dem Moment an, wo der König es sagt, glaube ich es, niemand braucht es zu bestätigen oder zu beweisen. Aber wäre Herr Fouquet auch der ärgste Schurke, so würde ich dennoch erklären, er ist für den König unverletzlich, weil der König sein Gast ist!«

Die Lavallière schwieg. Wider Willen mußte der König sie bewundern. Die Wärme ihrer Sprache, der Adel ihrer Gründe überzeugten ihn. Colbert gab den ungleichen Kampf auf. Ludwig schüttelte den Kopf. »Ah, Fräulein, weshalb sprechen Sie gegen mich?« rief er traurig. »Sie wissen nicht, was dieser Elende tun würde, wenn ich ihn nicht im Zaume hielte!« – »Mein Gott, ist er nicht eine Beute, die Ihnen jederzeit anheimfallen muß?« – »Aber wenn er entflieht?« – »Majestät, es wäre ein ewiger Ruhm für den König, Herrn Fouquet entfliehen zu lassen, und je größer seine Schuld wäre, desto größer würde der Ruhm des Königs sein!«

Ludwig küßte der Lavallière die Hand und ließ sich zu ihren Knien nieder. Colbert glaubte sich verloren, als ihm plötzlich ein Gedanke kam. Rasch zog er sein Notizbuch, und während Ludwig XIV., verdeckt von einer breiten Linde, die Lavallière liebevoll an sich drückte, zog Colbert ein schon etwas vergilbtes Briefchen hervor, betrachtete es lächelnd und näherte sich dem Paare.

Gleichzeitig kamen in einiger Entfernung mehrere Fackeln zum Vorschein. »Geh, Luise,« sprach der König, »man kommt.« – Luise verschwand schnell unter den Bäumen. Als Ludwig XIV. gehen wollte, sagte Colbert bescheiden: »Fräulein von Lavallière hat etwas verloren.« – »Was denn?« fragte der König. – »Einen Brief, wie mich dünkt,« sagte Colbert und deutete auf etwas Weißes, das am Boden lag. Der König bückte sich und hob das Papier auf. Fackeln erschienen und beleuchteten tageshell die finstere Allee.

Ein Lichtmeer umflutete die Gruppe von Damen und Herren, die herbeikam, in ihrer Mitte Fouquet selbst. Man suchte den König, um ihm das Feuerwerk zu zeigen, das auf dem großen Platze vor dem Schlosse gen Himmel stieg. Und beim Scheine dieses Feuers las nun Ludwig jenen Brief, den Fouquet vor einiger Zeit auf d’Herblays Rat an Fräulein von Lavallière geschrieben, in dem er ihr die Liebe erklärte. Fouquet hatte den Brief zurückholen wollen, von Fräulein von Lavallière aber erfahren, daß sie ihn gar nicht erhalten habe. Der Diener, den er mit der Besorgung beauftragt, machte sich anheischig, das Schreiben wieder zur Stelle zu schaffen, ging fort und kam nicht wieder. Er war seither verschwunden, und der Ober-Intendant hatte im Drange der Geschäfte die Angelegenheit vergessen. Colbert, der listige Minierer, war in den Besitz des an sich unbedeutenden Briefchens gelangt, das er nun zu einer wertvollen, ja vernichtenden Waffe umzuwandeln verstand.

Ludwig XIV. erbleichte beim Lesen; sein Gesicht, von dem Schein des Feuers beleuchtet, erschreckte alle, die es sahen, so offenbar war das wilde Spiel der Leidenschaften, die in seinem Herzen tobten. Eifersucht und Wut waren die furchtbaren Dämonen, die den König beherrschten, und von dem Augenblick, wo er erkannte, weshalb Fouquet in der Lavallière eine Fürsprecherin gefunden, verschwand alles: Mitleid, Sanftmut und Ehrfurcht vor der Gastfreundschaft. Nur mit größter Mühe bezwang er sich soweit, daß er nicht laut aufschrie und ohne weiteres seine Musketiere herbeirief. Fouquet sah den König erbleichen, doch konnte er sich nicht die Ursache dieser Mißstimmung erklären; Colbert wußte, welche Bewandtnis es hatte, und frohlockte.

»Majestät, was haben Sie?« fragte Fouquet ehrerbietig. – »Nichts,« antwortete Ludwig schroff, und ohne das Ende des Feuerwerks abzuwarten, begab er sich ins Schloß. Alle folgten ihm nach. Die letzten Raketen verpufften ungesehen.

Der Ober-Intendant glaubte, es habe zwischen dem König und Fräulein von Lavallière eine kleine Meinungsverschiedenheit gegeben, und diese Erklärung befriedigte ihn. Er trat lächelnd vor den König hin, um ihm eine gute Nacht zu wünschen. Es war großer Dienst an diesem Abend; denn es war der letzte, den der Hof in Schloß Vaux verbringen sollte. Am folgenden Morgen gedachte der König die Rückreise anzutreten. Da mußte man doch dem freigebigen Wirt Dank erzeigen für die zwölf Millionen, die er für das Fest ausgegeben hatte. Der König entließ den Ober-Intendanten mit den Worten: »Sie werden von mir hören, Herr Fouquet. Einstweilen schicken Sie mir bitte Herrn d’Artagnan her.«

Ludwig XIV. vermochte sich schlecht zu verstellen, wenn das Blut ungestüm in seinen Adern wallte. Am liebsten hätte er Fouquet erwürgt, wie sein Vorgänger den Marschall d’Ancre ermorden ließ. Er verbarg jedoch seinen furchtbaren Entschluß unter einem königlichen Lächeln. Fouquet nahm des Königs Hand und küßte sie. Ludwig bebte am ganzen Körper, doch ließ er es zu, daß die Lippen des Ministers seine Hand berührten.

Fünf Minuten später trat d’Artagnan in Ludwigs Zimmer. Im oberen Gemache standen Aramis und Philipp wieder auf dem Posten. Der König ließ dem Kapitän nicht einmal Zeit, bis zu seinem Lehnstuhl vorzutreten. – »Wieviel Mann haben Sie mit?« rief er ihm zu. – »Was gibt es zu tun?« antwortete d’Artagnan.– »Wieviel Mann Sie hier haben, frage ich,« versetzte der König, mit dem Fuße stampfend. – »Die Musketiere, die Garden und dreizehn Schweizer.« – »Wieviel Leute braucht man, um –« – »Um?« fragte der Kapitän und sah den König mit seinen großen, ruhigen Augen an. – »Um Herrn Fouquet zu verhaften?«

D’Artagnan trat einen Schritt zurück und rief: »Herr Fouquet soll verhaftet werden?« – »Sagen Sie etwa auch, es sei unmöglich?« schrie Ludwig in wildem Zorne. – »Ich nenne nichts unmöglich,« antwortete d’Artagnan verletzt. – »Nun, so tun Sie es.« – »Ich bitte um einen schriftlichen Befehl.« – »Seit wann genügt Ihnen das Wort des Königs nicht mehr?« – »Weil das königliche Wort, sobald es vom Zorn diktiert wird, sich verändern kann, wenn der Zorn schwindet,« erwiderte der Musketier ruhig. »Sire, Sie lassen da einen Mann verhaften, während Sie noch sein Gast sind, das tut nur der Zorn. Wenn Sie nicht mehr im Zorn sind, will ich Ihnen dann Ihre eigne Unterschrift zeigen können. Donnerwetter, Sire! Der Mann richtet sich zugrunde, um Ihnen zu gefallen, und Sie lassen ihn verhaften. Wenn ich Fouquet wäre, würde ich mit Brandraketen mich und alles im Schlosse in die Luft sprengen. Aber ja doch, es gilt mir gleich – hier habe ich meinen Befehl, und so gehe ich denn.«

»Ja! Gehen Sie! Kein Wort weiter! Und nehmen Sie genug Leute mit!« – »Glauben Sie denn, ich würde einen ganzen Zug Reiter mitnehmen? Herrn Fouquet zu verhaften, ist so leicht, daß ein Kind es tun könnte. Herrn Fouquet zu verhaften, ist nicht schwerer, als ein Glas Wermut zu trinken. Man macht eine saure Miene, das ist alles.« – »Wieso? Er wird sich zur Wehr setzen!« rief der König. – »Er denkt so wenig daran, daß er seine letzte Million dafür hingeben würde, ein solches Ende zu finden! Sich zur Wehr setzen, wo eine solche Behandlung von seiten des Königs ihn zum größten Märtyrer seiner Zeit macht? Doch genug, ich gehe zu ihm.«

»Es soll nicht öffentlich geschehen,« sagte Ludwig. – »Das ist schon schwieriger,« antwortete d’Artagnan. »Denn das einfachste wäre natürlich, hinzugehen und mitten unter seine Bewunderer zu treten mit dem Rufe: Ich verhafte Sie im Namen des Königs! Allein ihn zu bewachen als Gefangenen, so daß niemand etwas davon merkt, das ist eine heikle Sache, zu der hundertmal geschicktere Leute gehören –« – »Mein Gott, sagen Sie bloß noch, es sei unmöglich!« rief Ludwig. »Werde ich denn immer von Leuten umgeben sein, die mich hindern zu tun, was ich will?« – »Ich hindere Sie in nichts, Sire.« – »So bewachen Sie mir Herrn Fouquet, bis ich morgen einen Entschluß gefaßt habe.« – »Das wird geschehen, Sire.« – »Und finden Sie sich morgen zum Lever ein, um meine Befehle entgegenzunehmen.« – »Ich werde zur Stelle sein.« – »Und jetzt lasse man mich allein!«

»Befehlen Sie nicht Herrn Colbert?« fragte d’Artagnan mit unnachahmlicher Ironie. – Der König fuhr zusammen. – »Nein,« rief er. »Ich will niemand sehen. Gehen Sie!« – Er schloß hinter dem Kapitän die Türe selber zu und schritt wütend auf und nieder, wie ein verwundeter Stier. Endlich riß er auf der Brust das Gewand auseinander und rief: »Ah, du Elender! Du raubst mir nicht bloß mein Geld, sondern bestichst damit auch Staatsmänner, Künstler, Dichter und Gelehrte, daß sie dir den Hof machen! Und nicht genug damit! auch mein Liebstes wolltest du mir stehlen! Ha, darum hat die Treulose ihn in Schutz genommen! Es geschah aus Dankbarkeit – wer weiß? vielleicht gar aus Liebe!« – Er knirschte vor Grimm. – »Er greift mit seinen goldenen Händen in alles hinein. Er besudelt mir alles. Er wird mich noch töten. Er ist zu mächtig, zu hoch – er ist mein Todfeind – er muß fallen – ich hasse ihn – ich hasse ihn – ich hasse ihn!«

Mit diesen Worten schlug er auf die Lehne des Stuhls, in den er schlaff hineinsank. – »Morgen!« murmelte er. »Morgen wird niemand anders als ich mit der Sonne wetteifern. Dieser Mann soll so tief fallen, daß man an den Trümmern, die sein Sturz hinterläßt, erkennen soll, daß ich doch noch mächtiger bin, als er je gewesen.« – Er warf mit einem Faustschlag einen Tisch um, der an seinem Bette stand, und warf sich keuchend und vor Wut schäumend angezogen, wie er war, in die Kissen von Seide.

4. Kapitel. Vom Thron in die Bastille

Nach einer Viertelstunde wurde der König ruhig. Sein Kopf versank tief in den kostbaren Spitzen des Pfühls, seine Arme sanken schlaff hernieder, aus seiner Brust stiegen, kaum noch vernehmlich, die letzten Seufzer seines Grimms; dann schloß er die Augen und schlief ein. Er hatte einen an abwechslungsvollen Vergnügungen reichen Tag hinter sich, und all die Szenen, die er erschaut, zogen jetzt vor seinem träumenden Gemüt vorüber und vermischten sich zu einem tollen, phantastischen Tanze. Inmitten dieser verworrenen Visionen zeigte sich plötzlich die Gestalt eines Mannes, der vom Himmel herabzuschweben schien. Er legte die Hand aus den Mund und neigte sich über das Bett. Und diese Traumgestalt glich ihm selbst so völlig, daß er sein eigenes Bild zu sehen vermeinte. Dann war es, als wenn der Fußboden sich bewegte, das Bett geriet in eine schaukelnde Bewegung und begann zu versinken. Eine kalte, feuchte Luft war um ihn her; an Stelle der golddurchwirkten Tapeten, der brokatnen Vorhänge, zeigten sich jetzt graue, triefende Mauern. Es wurde immer finsterer, und mit einem Male hörte die Bewegung auf.

»Das ist ein schrecklicher Traum,« murmelte Ludwig XIV. »Aber es ist doch nur ein Traum.« – »So erwachen Sie!« sprach eine finstere Stimme, bei deren Klang Ludwig heftig erschrak und erkannte, daß er die Augen schon auf hatte. Rechts und links von sich sah er zwei vermummte Männer, bewaffnet und in weite Mäntel gehüllt. Einer trug eine Blendlaterne, deren rötlicher Schein unheimlich an den finstern Mauern auf und nieder zuckte.

Der König sprang von dem Bett auf und richtete sich vor dem Manne empor, der die Lampe hielt. »Was bedeutet dieses Possenspiel?« rief er. – »Es ist kein Possenspiel« antwortete der Maskierte in dumpfem Tone. – Der König wendete sich an den andern Mann und sprach: »Wenn das eine der Überraschungen des Herrn Fouquet ist, so sagen Sie ihm, ich finde sie ungeziemend und wünsche sie nicht fortgesetzt zu sehen.« – Der zweite Mann, von hünenhaftem Wuchs und gewaltigem Umfange, antwortete gar nichts. – »Nochmals, was wollen Sie mit mir machen?« rief der König außer sich. »Wo bin ich hier?« – »Sehen Sie sich um,« antwortete der Mann, der die Lampe trug. – Aber Ludwig sah noch immer nur feuchte Mauern, auf denen hier und da die silbernen Schleimspuren von Schnecken glitzerten.

»Ein Kerker!« murmelte Ludwig. – »Nein, nur ein unterirdischer Raum,« antwortete der Mann. »Folgen Sie uns.« – »Ich rühre mich nicht von der Stelle,« sagte der König. – »Wenn Sie rebellisch sind, junger Freund,« sagte jetzt der Riese mit dröhnendem Baß, »dann packe ich Sie und wickle Sie in einen Mantel wie einen gestohlenen Schinken, verstanden?« – Dabei legte er auf die Schulter des Königs eine so schwere Faust, daß die Majestät fast in die Knie gesunken wäre. Ludwig erkannte, daß er wehrlos sei und sich in den Willen dieses gewalttätigen Menschen fügen müsse. Er schüttelte den Kopf.

»Ich scheine da in die Hände zweier Mörder gefallen zu sein,« sprach er. »Vorwärts!« – Sie durchschritten nun einen langen Korridor, der viele Windungen machte und unzählige versteckte Türen und Treppenstufen hatte. Alle Schlösser öffnete der Mann mit der Lampe, der einen großen Schlüsselbund am Gürtel trug. Bei einer letzten Tür gab der riesenhafte Mann Ludwig einen Stoß in den Rücken und schob ihn so ins Freie hinaus.

»Wagen Sie es, mich zu schlagen?« murmelte Ludwig. »Was tun Sie mit dem König von Frankreich?« – »Vergessen Sie diesen Titel!« sagte der Mann mit der Lampe. – »Man sollte Sie aufs Rad flechten,« brummte der Hüne, »weil Sie die Frechheit haben, sich König zu nennen, aber Ludwig XIV. ist barmherzig.« – Der Monarch begriff nicht. Doch im nächsten Moment hatten die beiden ihn in eine Kutsche gesetzt, der Mann mit der Lampe stieg zu ihm, der Riese kletterte auf den Bock, und der Wagen fuhr davon. Nach einer Weile machte man halt und spannte neue Pferde ein. Dann ging es weiter, und als der König nach einigen Stunden zum Fenster hinausspähte, sah er, daß der Tag graute und die Kutsche in Paris einfuhr. Gleich darauf wurde ein großes Tor passiert, in dem Ludwig zu seinem Schrecken das Hauptportal der Bastille erkannte. Sein Begleiter sprach an allen Posten und Barrieren nur die Worte: »Im Namen des Königs!« und nach einer Weile hielt der Wagen an, und die Stentorstimme des Mannes auf dem Bock rief: »Weckt den Gouverneur!«

Baisemeaux erschien im Nachtgewande an der Schwelle seiner Tür. »Was gibt es denn?« rief er, »und wen bringt man mir da?« – Der Mann mit der Lampe öffnete den Kutschenschlag und sprach ein paar Worte mit dem auf dem Bocke. Der stieg herab, nahm ein Gewehr zur Hand, das er unterm Mantel trug, und richtete die Mündung, den Hahn spannend, auf die Brust des Gefangenen. – »Sobald er nur ein Wort spricht,« sagte der Mann mit der Lampe ganz laut, »schießen Sie.« – »Gut,« sagte der andere, ohne sich zu bedenken.

Darauf schritt der Mann mit der Lampe zu dem Gouverneur. »Herr d’Herblay!« rief dieser. – »Still!« unterbrach Aramis ihn. »Gehen wir auf Ihr Zimmer!« – »O, mein Gott!« flüsterte Baisemeaux, »was führt Sie denn zu dieser Stunde hierher?« – »Ein Irrtum, lieber Baisemeaux,« antwortete der Bischof. »Sie scheinen neulich, was jenen Freilassungsbefehl für Marchiali betrifft, recht gehabt zu haben.« – »Was? Ich habe doch gleich daran gezweifelt, nur daß Sie mich dann gezwungen haben, Marchiali doch ziehen zu lassen!« rief Baisemeaux. – »Gezwungen?« erwiderte Aramis. »O, welches häßliche Wort gebrauchen Sie da, lieber Freund? Bewogen, wollen wir sagen. Ich habe Sie bewogen, Marchiali trotzdem freizugeben. Nun, es war ein Irrtum. Man hat ihn im Ministerium eingesehen, und ich bringe Ihnen nun einen Freilassungsbefehl für den armen Kerl, den Seldon. Hier, lesen Sie selbst!«

»Meiner Treu,« rief der Gouverneur. »Das ist derselbe Befehl, den ich damals gesehen habe. Ich erkenne ihn an diesem Tintenklecks wieder. Und was ist mit Marchiali?« – »Den bringe ich zurück.« – »Das genügt mir aber nicht,« versetzte der Gouverneur. »Ich muß zu seiner Wiederaufnahme auch einen Befehl haben.« – »Schwatzen Sie keinen Unsinn!« entgegnete Aramis. »Sie haben ja gar keinen Befehl erhalten, ihn freizulassen.« – »Aber erlauben Sie!« rief Baissemeaux und nahm aus seinem Schreibtisch die damals von Aramis untergeschobene, auf Marchiali lautende Order. D’Herblay ergriff das Papier, zerriß es und verbrannte die Fetzen an der Lampe. »So, nun haben Sie keinen Befehl mehr. Höchst einfach!« setzte er hinzu. »Ich bringe Marchiali wieder, und alles ist so, als wäre er überhaupt nie hinausgekommen. Sie geben mir jenen Seldon, und die ganze Geschichte ist abgetan.«

»Aber weshalb soll denn Marchiali wieder her?« fragte Baisemeaux, der nichts von dem allen begriff. – Aramis näherte die Lippen seinem Ohre und antwortete: »Sie wissen ja von jener großen Aehnlichkeit. Nun, sobald Marchiali frei war, rühmte er sich dieser Aehnlichkeit und behauptete ganz keck, er sei der König von Frankreich. Er kleidete sich genau so wie der König und ging tatsächlich mit dem Gedanken um, Ludwig XIV. vom Throne zu verdrängen.« – »Der Unglückselige!« rief der Gouverneur. – »Und deshalb bringe ich ihn wieder,« fuhr Aramis fort. »Er darf mit niemand zusammenkommen und muß ganz abgesondert gehalten werden. Sein Wahnwitz ist dem König zu Ohren gekommen, und es steht jetzt – merken Sie sich das wohl, lieber Baisemeaux – die Todesstrafe darauf, jemand anders als mich und den König selbst zu ihm zu lassen. Bringen Sie ihn alsbald in seine Zelle zurück.«

Baisemeaux ließ die Trommel rühren und die Wache ins Gewehr treten. Dann übernahm er den Gefangnen, dem Porthos noch immer das Gewehr vor die Brust hielt. – »Ja, er ist es, der Unglückliche!« murmelte Baisemeaux, als er ihn erblickte.

So wurde Ludwig XIV. nach dem nördlichen Turm gebracht, in jene Zelle, die sein bedauernswerter Zwillingsbruder bis dahin innegehabt hatte. Er trat in den Kerker, ohne ein Wort zu sprechen. Er stand da, totenbleich, wie betäubt, und sah regungslos zu, wie die schwere Tür zugeschlossen wurde. Aramis schärfte dem Gouverneur noch einmal die Verhaltungsmaßregeln ein, dann wendete er sich an Porthos: »Auf, Freund, zurück nach Vaux!«

»Man fühlt sich leicht wie eine Feder,« antwortete Porthos, »wenn man seinem König wacker gedient und durch diesen Dienst obendrein noch das Vaterland gerettet hat.« – Die Kutsche rollte über die Zugbrücke, die hinter ihnen wieder in die Höhe stieg.

Der junge König sah sich um. Ja, es war kein Zweifel, er befand sich in der Bastille – in jenem Gefängnis, das während seiner Regierung zu einer unheimlichen Bedeutung gelangte, zu einem Massengrabe für die Menschen wurde, in welchem sie lautlos und spurlos verschwanden. Doch was bedeutete das? Er war entthront, gefangengesetzt – er, der gestern noch allmächtige König von Frankreich! War es denn möglich? Oder war das alles vielleicht doch ein Traum, ein Alpdruck nach einer allzureichen Mahlzeit?

Als er sich diese Frage vorlegte, schlug ein Geräusch an sein Ohr, und er wandte den Kopf. Da sah er am Kamin eine große Ratte, die den Rest einer Brotrinde benagte und den neuen Gast mit ihren kleinen Augen neugierig anguckte. Der Ekel stieg dem König zum Halse empor, er stieß einen Schrei aus und wich zur Tür zurück. Er wußte nun, es war kein Traum, es war furchtbare, krasse Wirklichkeit. Das widerliche Tier, der Genosse der Eingekerkerten, der Schmarotzer der Gefängnisse, war der lebende Beweis dafür.

»Gefangen!« rief er aus. »Ich bin gefangen!« – Er sah sich um, ob nicht irgendwo eine Klingel wäre. – »Es gibt keine Klingeln in der Bastille, ich weiß es wohl,« sprach er vor sich hin. »Aber wie ist das gekommen? Durch ein Komplott des Herrn Fouquet, und sein Agent war jener d’Herblay, den er mir vorstellte. Ich habe diesen Menschen unter seiner Maske erkannt. Colbert hat recht gehabt! Doch was will Fouquet? Will er an meiner Stelle König werden? Das ist unmöglich! Doch wer weiß? Vielleicht handelt mein Bruder, der Herzog von Orléans, ebenso gegen mich, wie der alte Herzog von Orléans sein Leben lang gegen meinen Vater gehandelt hat? Aber meine Mutter? Aber die Lavallière? O, man wird sie der Herzogin auf Gnade und Ungnade ausliefern! Das arme Kind, man wird sie ins Gefängnis sperren wie mich. Wir sind auf immer getrennt!«

Bei dem Gedanken an die Geliebte weinte er. Dann fuhr er grimmig empor. »Es ist ein Gouverneur hier,« dachte er. »Ich will mit ihm sprechen.« – Er rief, doch niemand antwortete ihm. Er packte einen Stuhl und schlug damit gegen die Tür. Ein dumpfer Widerhall durchklang die Gewölbe und Korridore. Aber keine menschliche Stimme war zu hören. Das war für den König ein neuer Beweis, wie gering man ihn in der Bastille achtete. Er begann zu schreien, so laut er konnte. Und er, der an augenblicklichen Gehorsam auf den leisesten Wink gewöhnt war, fürchtete wahnsinnig zu werden angesichts dieser Ohnmacht. Er zertrümmerte den Stuhl und hämmerte mit den Beinen so lange und so heftig gegen die Tür, daß ihm der Schweiß von der Stirn rann. Das Getöse war furchtbar und andauernd. Ringsum wurden undeutliche Stimmen laut.

Ludwig XIV. lauschte. Ein Schauer ergriff ihn. Das waren die Stimmen der Gefangenen, die einst seine Opfer, jetzt seine Gefährten waren. Diese Stimmen klangen wie Seufzer durch die dicken Zellendecken und die undurchdringlichen Mauern. Sie schimpften nun über den Mann, der solchen Lärm machte. Nachdem der König so vielen die Freiheit geraubt, kam er zu ihnen, um ihnen auch noch den Schlaf zu rauben.

Ludwig XIV. verdoppelte seine Kräfte; er wollte um jeden Preis Aufklärung haben oder ein Ende dieses Zustandes herbeiführen. Nach Verlauf einer Stunde geschah von außen ein heftiger Schlag gegen seine Tür. »Was fällt Euch ein, so zu toben?« rief jemand. »Seid Ihr etwa verrückt geworden? Haltet gefälligst Ruhe!« – »Sind Sie der Gouverneur?« fragte der König. – »Es geht Sie gar nichts an, wer ich bin,« war die Antwort. »Sie haben sich ruhig zu verhalten, verstanden!« – Der König hörte, wie der Mann sich entfernte. Aufs neue geriet Ludwig XIV. in Raserei, sprang jetzt zum Fenster und zertrümmerte die Scheibe, so daß die Splitter klirrend auf das Pflaster des Hofes fielen. – »Gouverneur!« brüllte er. »Gouverneur!«

Alles blieb still. Das eiserne Gitter widerstand seinen Fäusten, die Mauern waren so dick, daß er sich mit einem Stoß den Kopf daran hätte zerschlagen können – die Stuhlbeine waren ganz zerkleinert. Da lehnte er sich an die Wand und gab es auf zu schreien und zu toben. Seine Kräfte waren erschöpft, seine Kleider zerschlitzt, seine Manschetten beschmutzt. – »Man wird mir wie allen Gefangenen zu essen bringen,« murmelte er. »Dann werde ich jemand sehen, mit dem ich reden kann.« – Er sann nach, zu welcher Stunde in der Bastille die erste Mahlzeit angesetzt sei, und mußte zugeben, daß er es nicht wisse. Er hatte 25 Jahre lang als König glücklich gelebt und nie an die Leiden der Unglücklichen gedacht, die sein Machtwort der Freiheit beraubt hatte. Dieser Gedanke war für ihn ein Dolchstoß, tief und grausam. Er sagte sich, Gott bestrafe ihn jetzt, und diese Strafe treffe ihn verdientermaßen.

Das Geräusch hinter seiner Tür ließ sich wieder vernehmen. Ludwig sprang vor, um jedem, der einträte, entgegenzustürzen; doch bezwang er sich, nahm eine ruhige und edle Haltung an und wartete. Es war nur ein Schließer, der eine Mahlzeit brachte. Der König betrachtete voll Unruhe diesen Mann, der sich mit einem fast gutmütigen Lächeln umsah. – »Da habt Ihr nun Euern Stuhl zerbrochen,« sagte er. »Ihr seid von Sinnen.« – »Mann,« versetzte Ludwig XIV., »kennst du den König?« – »Nein, wir bekommen ihn hier nie zu sehen,« antwortete der Schließer und schüttelte ernst den Kopf. – »Laß den Gouverneur zu mir kommen,« rief Ludwig in dem gebieterischen Ton, der ihm zur zweiten Natur geworden war.

»Mein Junge,« sprach der Schließer, »Ihr waret sonst immer sehr manierlich. Die Tollheit hat Euch borstig gemacht. Wir halten’s Euch zugute, aber treibt es nicht zu arg. Solcher Lärm, wie Ihr diese Nacht gemacht habt, wird mit finsterm Kerker bestraft. Tut es nicht wieder, so will ich es diesmal nicht dem Gouverneur melden!« – »Ich will mit dem Gouverneur sprechen!« sagte der König. – »Wie Ihr mit den Augen rollt!« rief der Schließer. »Wohl, da lasse ich Euch heute kein Messer hier. Eßt mit den Fingern.« – Darauf ging er hinaus und schloß die Tür zu. Der König schleuderte voll Wut die Schüssel und Teller gegen die Wand und zum Fenster hinaus. Doch alles blieb still.

Und nun war er kein König, kein Edelmann, ja kein Mensch mehr! Er war ein irrsinniges Geschöpf, das sich die Nägel an dem Holz der Tür, an den Steinfliesen des Bodens zerkratzte und so fürchterlich schrie, daß die Bastille in ihren Grundfesten erbebte.

Herr von Baisemeaux kümmerte sich nicht darum. Er wünschte nur eins: der tolle Marchiali triebe seinen Wahnsinn soweit, sich am Gitter des Fensters aufzuhängen, und er legte sich alles Ernstes die Frage vor, ob es nicht das beste sei, ihn in der Stille aus dem Wege zu räumen.

5. Kapitel. Aus der Bastille auf den Thron

Die Weine des Herrn Oberintendanten hatten bei dem Festessen eine sehr ehrenwerte Rolle gespielt, allein d’Artagnan war völlig nüchtern, und als er den Befehl erhielt, Herrn Fouquet zu verhaften, griff er an seinen Degen. Es war seine Art, bei wichtigen Anlässen die Kälte dieses Stahls sein Inneres durchdringen zu lassen. – »Hm!« brummte er, »meine Nachkommen – wenn ich je welche habe – können sich damit brüsten, von dem Manne abzustammen, der seine Hand an den Rockkragen des allmächtigen Herrn Fouquet gelegt hat. Ei, mich dünkt, wenn ich kein Schuft sein will, muß ich es Herrn Fouquet sagen, wie der König ihm gesinnt ist. Wenn ich aber kein Verräter sein will, darf ich das Geheimnis meines Herrn nicht preisgeben. Nun, gib doch noch einmal etwas her, alter Schädel, der du mir so manchmal einen guten Gedanken beschertest! Zunächst, weshalb fällt Fouquet in Ungnade? Erstens, weil er Herrn Colbert verhaßt ist, zweitens, weil er Fräulein von Lavallière lieben wollte, und drittens, weil der König Herrn Colbert und die Lavallière liebt. Er ist verloren; aber soll ich ihn ergreifen, weil er den Ränken eines Schreibers und eines Weibes unterliegt? Pfui! Ist er wirklich ein gefährlicher Mensch, dann nieder mit ihm! Wird er zu Unrecht verfolgt, dann will ich sehen, was sich machen läßt. Und da bin ich auf den Punkt gekommen, wo kein Mensch, auch nicht der König, Einfluß auf meine Meinung hat. Anstatt also Herrn Fouquet zu packen und festzunageln, werde ich bemüht sein, mich als Mann von guter Art zu betragen. Man wird darüber sprechen, aber man wird gut davon sprechen.«

D’Artagnan gürtete den Degen um und ging geradeswegs zu Herrn Fouquet, der nach den Triumphen dieses Tages ruhig zu schlafen gedachte. Die Luft roch noch nach dem Qualm des Feuerwerks. Die Kerzen verbreiteten ihren ersterbenden Schein, die Blumen hauchten ihre letzten Düfte aus. Fouquet war allein mit seinem Kammerdiener, als d’Artagnan auf der Schwelle erschien. Es war für einen Mann wie d’Artagnan unmöglich, je bei Hofe populär zu werden; obwohl man ihn stets und überall sah, rief sein Erscheinen doch immer wieder eine fatale Wirkung hervor. – So war es auch jetzt bei Herrn Fouquet.

»Sie hier, Herr d’Artagnan?« rief er aus. – »Zu dienen,« antwortete der Musketier. – »Treten Sie nur ein.« – »Ich danke.« – »Haben Sie mir noch etwas mitzuteilen?« – »Das nicht, mein Herr,« antwortete der Gaskogner. »Sie schlafen also hier?« – »Wie Sie sehen,« sagte Fouquet, mehr und mehr betroffen. – »Sie haben da dem König ein sehr schönes Fest angerichtet,« sprach d’Artagnan. – »Finden Sie? War der König zufrieden?« fragte der Oberintendant. – »Einfach bezaubert!« sagte der Musketier. »Ist das Ihr Bett dort?« – »Jawohl. Warum fragen Sie danach? Gefällt Ihnen das Ihrige nicht? Sagt Ihnen Ihr Zimmer nicht zu?« »Offen gesagt, nein!« – »So trete ich Ihnen meins ab.« – »O, ich werde Sie nicht berauben. Aber vielleicht gestatten Sie mir, dieses Zimmer mit Ihnen zu teilen?« – Fouquet sah den Musketier scharf an. – »Sie kommen im Auftrag des Königs?« fragte er kurz. »Nun ja, Monseigneur. Doch ich versichere Ihnen, ich denke nicht daran, meine Order zu mißbrauchen…« Fouquet hieß den Kammerdiener hinausgehen und fragte dann: »Was haben Sie mir zu sagen, mein Herr?«

»Ich habe Ihnen gar nichts zu sagen,« versetzte der Gaskogner. »Mich verlangt nur nach Ihrer Gesellschaft.« »Sie verhaften mich also?« – »Bewahre!« – »Oder Sie bleiben als Wache bei mir?« – »Das ja.« – »So bin ich in Ungnade. Ich war todmüde und wollte schlafen. Das hat mich wieder munter gemacht. Herr, ich bestelle meine Pferde und reise nach Paris. Werden Sie mich zurückhalten?« – »Nein, aber mitreisen.« – »Genug!« rief Fouquet. »Warum verhaften Sie mich? Was habe ich getan?« – »Das weiß ich nicht – auch verhafte ich Sie bis jetzt noch nicht.«

»Bis jetzt noch nicht?« wiederholte Fouquet erbleichend. »Aber morgen vielleicht.« – »Wir haben noch nicht morgen,« sagte d’Artagnan. »Wer kann für das einstehen, was morgen geschehen mag?« – »Lassen Sie mich hinaus, ich muß mit Herrn d’Herblay sprechen.« – »Monseigneur, es ist unmöglich.« – »Mit d’Herblay, Ihrem Freunde!« – »Ich habe darüber zu wachen, daß Sie dieses Zimmer nicht verlassen, Herr Oberintendant. Aber wenn Sie mir Ihr Ehrenwort geben wollen hierzubleiben, dann will ich gehen und Herrn d’Herblay zu Ihnen bringen.«

»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort!« rief Fouquet erfreut. Der Kapitän ging hinaus. – Der Oberintendant stürzte auf seinen Schreibtisch zu und öffnete einige geheime Fächer. Er riß einen Ballen Papiere und Rechnungen heraus und warf sie in den Ofen. Dann sank er in den Lehnstuhl und wartete mit Ungeduld. Nach einer Viertelstunde kehrte d’Artagnan zurück. Er hatte d’Herblay nicht gefunden. Der Kapitän war von vornherein überzeugt gewesen, Fouquet wolle nicht fliehen sondern nur gewisse Papiere beiseiteschaffen, die ihn in einem Prozeß kompromittieren könnten. Als er nun den Rauch sah, der noch nicht ganz verzogen war, nickte er zum Zeichen der Zufriedenheit. Sie wechselten beide einen Blick und fühlten, daß sie sich verstanden hatten.

»Und wo ist d’Herblay?« fragte Fouquet. – »Er muß ein Freund nächtlicher Spaziergänge sein, denn er ist nicht auf seinem Zimmer,« antwortete d’Artagnan. – »Er ist nicht auf seinem Zimmer?« rief Fouquet, und seine letzte Hoffnung sank, denn er glaubte, daß ihm nur noch von seiten des Bischofs Hilfe kommen könne. – »Herr Fouquet, ich habe in meinem Leben viele Male bei Verhaftungen zugesehen,« sprach d’Artagnan, »zum Beispiel bei der des Prinzen Condé, des Herrn von Retz, des Herrn Broussel. Sie gleichen in diesem Moment dem letzteren, der – verzeihen Sie mir das Wort – ein recht gutmütiges Schaf war. Es fehlt nur noch, daß Sie Ihre Serviette in die Brieftasche stecken und sich mit Ihren Papieren den Mund abwischen. Wetter nochmal, Herr Fouquet! ein Mann wie Sie soll nicht so niedergeschlagen sein. Wenn Ihre Freunde Sie sähen –«

»Herr d’Artagnan,« antwortete Fouquet mit traurigem Lächeln, »eben weil mich meine Freunde nicht sehen, bin ich so. Ich bin’s nicht gewohnt, allein zu sein. Ich habe mir Freunde gemacht, um einmal in ihnen eine Stütze zu haben. Und gerade in solchem Augenblick soll ich nun verlassen sein?« – »Sie übertreiben, Herr Oberintendant. Der König will Ihnen wohl, nur Colbert haßt Sie und möchte Sie zugrunde richten.«

»O, was das betrifft,« sagte der Minister ruhig, »zugrunde gerichtet bin ich schon.« – D’Artagnan hob den Kopf und warf einen Blick um sich her. – »Ich weiß, was Sie bei sich denken,« fuhr Fouquet fort. »Sie fragen sich, weshalb ich dieses Schloß nicht verkaufe, man würde 40 Millionen daraus lösen. Lieber Kapitän, und wollte ich es für zwei Millionen losschlagen, es gäbe in Frankreich niemand, der es unterhalten könnte, so wie es jetzt aussieht. Nein, dieses Vaux kann und will ich nicht verkaufen. Mag es mit mir zugrunde gehen!«

»Das sieht Ihnen schon ähnlicher,« sagte d’Artagnan, »und vernichtet die unangenehme Aehnlichkeit mit Broussel, dem alten weinerlichen Frondeur. Wenn Sie auch zugrunde gerichtet sind, alle Wetter! Sie sind eine Person, die der Nachwelt angehört, und haben kein Recht, sich zu verkleinern. Mir hat das Schicksal eine weit weniger schöne Rolle zuerteilt als Ihnen, denn ich muß denjenigen machen, der Sie zu verhaften hat. Aber ich muß gehorchen, so sehr ich auch darunter leide. Neben Ihnen bin ich nichts wert, Monseigneur. Doch, den Teufel auch! die Rollen, die uns zufallen in diesem Mummenschanz des Lebens, müssen so gut wie möglich gespielt werden. Das Ende krönt das Werk.«

Fouquet stand auf, umarmte d’Artagnan und zog ihn an die Brust. »Gut gesprochen!« rief er. »Wer so redet, kann nur ein Freund von mir sein. Doch, wo mag Herr d’Herblay stecken? Gut, wir wollen den Tag abwarten. Was auch geschehen mag, dank Ihrer Liebenswürdigkeit trifft es mich nun nicht unerwartet. Wären Sie mitten beim Diner vor mich hingetreten, mich zu verhaften, ich wäre vor Scham und Zorn gestorben.« – »Freut mich, daß Sie mit mir zufrieden sind,« sprach d’Artagnan, »und nun, Monseigneur, lassen Sie den Dingen ihren Lauf. Sie sind abgespannt, Sie haben auch Ihre Lage durchzudenken. Ich beschwöre Sie, gehen Sie zu Bett. Ich mache mir’s hier in diesem Lehnstuhl bequem. Und ich werde so fest schlafen, daß eine Kanonenkugel mich nicht aufwecken soll. Das heißt, das Knarren von geheimen Türen, von verborgenen Ein- und Ausgängen, höre ich sehr genau, lassen Sie sich das gesagt sein. Das beruht auf einer angeborenen Antipathie. Sie mögen hin und her gehen, schreiben, zerreißen, verbrennen – nur berühren Sie keinen Schlüssel an einer Tür, keine Klinke, Sie würden mich dadurch aus dem schönsten Schlafe jäh aufwecken.«

»Herr d’Artagnan,« sagte der Minister, »Sie sind entschieden der geistvollste und artigste Mann, den ich kenne. Ich bedaure nur, Ihre Bekanntschaft so spät gemacht zu haben.« – »Und nun vielleicht doch noch zu früh,« murmelte d’Artagnan und ließ sich in den Lehnstuhl nieder. Beide ließen die Kerzen brennen und erwarteten den Tag – Fouquet seufzte, d’Artagnan schnarchte.

*

Das Bett, das in den unterirdischen Raum hinabgelassen war, hatte sich mit dem beweglichen Fußboden wieder erhoben, und blaß, mit pochendem Herzen stand Philipp vor dem Lager, das noch zerwühlt war von dem Leibe seines Zwillingsbruders. Die durcheinandergestoßenen Kissen und Laken redeten eine deutliche Sprache, schilderten allein eindringlich genug den Kampf, der in der Stille des Kellers stattgefunden hatte.

»Nun trete ich meinem Schicksal gegenüber,« sprach er vor sich hin. »Wird es schrecklicher sein als die Gefangenschaft? Der König hat auf diesem Bett geruht – nun soll ich mich darauf ausstrecken. Doch was zaudere ich? Es ist ja ein Platz, der mir gebührt, um den mich die Mutter und der Bruder betrogen haben! Philipp, alleiniger König von Frankreich, das Wappen, das diese Tücher ziert, gebührt dir! Habe kein Mitleid mit dem Usurpator, der selbst in diesem Augenblicke keine Gewissensbisse wegen der Leiden fühlt, zu denen er dich verurteilte!«

Mit diesen Worten legte er sich in das Bett, und als er den Kopf zurücklehnte, erblickte er über sich die Königskrone, die von einem Engel mit goldenen Flügeln gehalten wurde. Aber Philipp konnte nicht schlafen. Gespannt horchte er auf jedes Geräusch, und immer wieder fragte er sich, ob seine Kraft, seine Geschicklichkeit, seine Geistesgegenwart ausreichen würden, das Werk zum glücklichen Ausgang zu führen.

Gegen Morgen glitt ein Schatten in das Gemach. Philipp erwartete diesen Mann und erschrak nicht über sein Kommen. – »Nun, Herr d’Herblay?« – »Es ist geschehen, Sire.« – »Wie hat er’s getragen?« – »Er schrie und sträubte sich, tobte wie ein Rasender und versank dann in todesähnliche Erstarrung.« – »Ahnt der Gouverneur der Bastille etwas?« – »Nichts. Die völlige Aehnlichkeit läßt ihn alles glauben, was ich ihm sagte.«

»Aber der Gefangene wird selbst sprechen, bedenken Sie das wohl.« – »Ist auch bedacht. Nach einigen Tagen werden Sie ihn außer Landes schaffen lassen, werden ihn so weit wegschicken –« – »Sei es noch so weit, d’Herblay, man kann zurückkehren!« – »Wir werden ein Land aussuchen, in welchem es ihm zur Rückkehr an den materiellen und an den leiblichen Kräften fehlen soll.«

»Und Herr du Vallon?« – »Den stelle ich Ihnen heute vor. Er wird Ihnen Glück wünschen zu der Befreiung von dem verwegenen Usurpator.« – »Ich werde ihn zum Herzog machen.« – »Ja, zum Herzog,« sprach Aramis mit seltsamen Lächeln. »Sehr weise, Majestät. Sie sehen voraus, daß dieser Porthos auf die Dauer ein lästiger Zeuge werden könnte, und deshalb töten Sie ihn.« – »Wie? ich töte ihn?« – »Ja, indem Sie ihn zum Herzog machen. Der Schlag wird ihn vor Freude treffen.« – »Mein Gott!« stammelte Philipp. – »Ich werde dabei einen wackern Freund verlieren,« setzte Aramis phlegmatisch hinzu.

In diesem Augenblick hörte d’Herblay ein Geräusch.

»Der Tag bricht an, Sire,« sagte er. »Ehe Sie sich gestern zu Bette legten, hatten Sie sich vorgenommen, über Nacht einen Entschluß zu fassen.« – »Ich habe dem Kapitän meiner Musketiere gesagt, ich erwarte ihn am Morgen,« antwortete Philipp. – »Ich höre Tritte im Vorsaal,« sagte Aramis. »Wenn Sie ihn herbestellt haben, so ist er es, der da kommt.« – »So fangen wir an,« sprach Philipp entschlossen.

»Vorsicht!« rief Aramis. »Es wäre töricht, mit d’Artagnan anzufangen. Er weiß nichts, er ahnt nichts – aber wenn er an diesem Morgen zuerst eintritt, so wird er wittern, daß etwas vorgegangen ist.« – »Wie soll ich ihn aber zurückweisen?« fragte Philipp.« »Er ist bestellt. – »Das nehme ich auf mich,« antwortete der Bischof. »Zunächst will ich einen Streich führen, der ihn ein wenig betäuben soll.« – »So tun Sie das,« sagte der Prinz lebhaft, denn er wollte des Wartens und Bangens ein Ende machen.

Der Kapitän der Musketiere reckte sich in seinem Lehnstuhl in die Höhe, wusch sich in Fouquets Toilette, bürstete Wams und Hut ab, schnallte den Degen um und war bereit, sich auf den Weg zu machen. – »Sie gehen fort?« – »Ja, Monseigneur, und Sie?« – »Ich bleibe.« – »Auf Ihr Wort?« – »Auf Ehrenwort.« – »Gut. Ich gehe auch nur, um Ihnen die bewußte Antwort zu holen.« – »Die Verurteilung, wollen Sie sagen.« – »Wissen Sie, ich habe etwas von einem alten Römer,« sagte d’Artagnan. »Ich glaube an das, was mir mein Degen prophezeit. Heute morgen blieb er nirgends hängen und rutschte ganz glatt ins Wehrgehänge. Nein, nein, Herr Fouquet, das beruht auf jahrelangen Beobachtungen. Immer, wenn der Degen an meinem Rücken hängen blieb, so wurde mir von Mazarin eine Zahlung verweigert. Wenn er sich im Wehrgehänge verfing, so bekam ich einen unangenehmen Auftrag. Wenn er in der Scheide tanzte, so hatte ich ein glückliches Duell. Wenn er sich in den Fransen verhedderte, so wurde ich leicht verwundet. Und wenn er von selbst aus der Scheide fuhr, so wurde ich stets vom Schlachtfeld getragen und mußte mehrere Tage mit einem Verband herumlaufen. Das traf immer unfehlbar zu. Sehen Sie, mein Degen ist ein Glied meines Leibes. Gewisse Menschen werden durch ihr Bein oder durch ein Klopfen in den Schläfen an kommende Dinge gemahnt. Bei mir besorgt das der Degen. Heute morgen nun ist er ganz allein ins Wehrgehäng geglitten. Das bedeutet einen angenehmen Auftrag.«

»Welcher Art mag er sein?« – »Wetter! Ich werde jemand zu verhaften haben,« rief d’Artagnan. – »Nämlich mich!« sagte Fouquet, »und das nennen Sie einen angenehmen Auftrag?« – »Nein, die Weissagung betrifft nicht Sie. Denn Sie sind schon seit gestern abend verhaftet. Ich werde jemand anders zu verhaften haben, und deshalb wird es für mich ein glücklicher Tag werden.«

Mit diesen Worten ging d’Artagnan, um sich zum König zu begeben. Er hatte Fouquet trösten wollen; er glaubte selber nicht, daß sich die Prophezeiung dieses Morgens erfüllen würde; und doch sollte es geschehen. – Der Musketier klopfte an die Tür des Königs. Sie öffnete sich, doch war es nicht der König, der erschien. D’Artagnan starrte, den Mann, der sich vor ihm zeigte, verblüfft an und stieß einen Schrei der Ueberraschung aus.

»Aramis!« rief er. – »Guten Tag, lieber d’Artagnan,« sagte der Bischof kalt. – »Sie hier?« stammelte der Gaskogner. – »Seine Majestät läßt Ihnen sagen,« sprach Aramis, »daß er noch schlafen will, da er die ganze Nacht kein Auge geschlossen hat.« – »Hm!« brummte d’Artagnan, der nicht begreifen konnte, wie ein Mann, der vor wenigen Stunden noch gar nicht beim König in Gunst gestanden, über Nacht zum größten Glückspilz geworden sein sollte, der je an einem königlichen Bette emporgeschossen. Denn um an der Zimmertür des Monarchen dessen Willen zu verkünden, mußte man mehr sein, als Richelieu bei Ludwig XIII. gewesen war. Das ausdrucksvolle Auge d’Artagnans, sein weit offener Mund, sein Schnurrbart, der sich vor Staunen in die Höhe richtete, verrieten diese Gedanken dem lächelnden Prälaten.

»Herr Bischof,« sagte der Musketier, »Seine Majestät hat mich zu heute früh herbestellt.« – Da erklang aus dem Zimmer die Stimme des Königs. »Ich weiß,« rief er, »aber wir schieben das auf.« – D’Artagnan zuckte zusammen. War es wirklich der König, der da sprach? Verblüfft, fast erschrocken, verneigte er sich und wollte gehen. »Noch eins,« sagte der Bischof. »Hier ist ein Befehl, den Sie sofort vollziehen werden. Er betrifft Herrn Fouquet.« – D’Artagnan nahm das Papier entgegen, las es und murmelte: »In Freiheit zu setzen? Ah! Ah!« – Dann verneigte er sich abermals und ging. – »Ich begleite Sie,« sagte Aramis. »Ich will mich an Herrn Fouquets Freude ergötzen.«

»Potzblitz, Aramis!« brummte d’Artagnan, während sie hinweggingen. »Was haben Sie da gemacht? Sie müssen erstaunlich hoch in der Gunst des Königs gestiegen sein, um für Herrn Fouquet eine Begnadigung zu erwirken.« – »Aber nun begreifen Sie, nicht wahr?« – »Alle Wetter, nein!« stieß der Musketier zwischen den Zähnen hervor. »Ich begreife nichts. Doch das ist Nebensache – hier ist ein Befehl.«

6. Kapitel. Der Retter Ludwigs XIV

Fouquet wartete mit großer Ungeduld, und als er hinter d’Artagnan den Bischof von Vannes erblickte, von dem allein er noch Rettung erwartete, da war seine Freude ebenso groß wie am Tage zuvor seine Bestürzung. Der Prälat war schweigsam, d’Artagnan noch ganz verwirrt. – »Sie bringen mir Herrn d’Herblay, Kapitän,« rief Fouquet. – »Und noch etwas Besseres,« antwortete der Gaskogner. »Nämlich die Freiheit. Hier ist der Befehl des Königs.« – Fouquet warf einen fragenden Blick auf Aramis. – »Jawohl,« setzte d’Artagnan hinzu, »bedanken Sie sich bei dem Bischof von Vannes, er hat den König umgewandelt. Aramis, noch einmal! Wie sind Sie der Günstling des Königs geworden, da sie ihn doch nur zweimal im Leben gesehen haben?«

»Einem Freunde, wie Sie verhehlt man nichts,« antwortete Aramis. »Nun denn, ich habe den König nicht nur zweimal, wie Sie glauben, sondern hundertmal gesehen. Nur geschah es insgeheim, das ist das ganze. Monseigneur,« wendete er sich von dem erstaunten d’Artagnan zu dem nicht minder erstaunten Fouquet, »der König läßt Ihnen sagen, er sei mehr als je Ihr Freund, und Ihr schönes Fest hat ihn entzückt.« – Er verneigte sich vor Fouquet und schwieg. Der Oberintendant sah ihn fest an und vermochte nicht zu antworten.

D’Artagnan erriet, die beiden Männer hatten sich etwas zu sagen. Er machte ihnen eine flüchtige Verbeugung und ging. Fouquet eilte hinter ihm zur Tür, schloß ab und rief: »D’Herblay, erklären Sie mir, was vorgeht. Ich verstehe nichts von dem allen. Wie kommt es, daß der König mich in Freiheit setzt?« – »Sie hätten mich vielmehr fragen sollen, warum er Sie verhaften ließ,« antwortete Aramis. – »Es war ein wenig Eifersucht im Spiele, glaube ich,« sprach der Minister. – »Ja und mehr,« erwiderte d’Herblay. »Erinnern Sie sich jener Briefe und Quittungen von Herrn Mazarin, die einen gewissen Betrag von 13 Millionen betreffen? Erinnern Sie sich des Briefes, den Sie an die Lavallière geschrieben haben?«

»Weh mir!« rief Fouquet. »Da bin ich für den König ein Dieb und ein Verräter? Doch um so wunderbarer, daß er mir vergeben hat.« – »Wir sind noch bei der Begründung der Verhaftung,« fuhr Aramis fort. »Der König weiß also, daß Sie an einer Unterschlagung von Staatsgeldern mitschuldig sind. Pardon, ich weiß sehr wohl, Sie haben nicht das Mindeste veruntreut, allein der König hat die Quittung nicht gesehen und muß Sie also für schuldig halten. Ferner hat der König Ihren Liebesbrief gelesen und kann nicht daran zweifeln, daß Sie Absichten auf sein Schätzchen gehabt haben. Aus diesen zwei Gründen steht Ihnen der König als unversöhnlicher Todfeind gegenüber. Er hat unwiderruflich mit Ihnen gebrochen.«

»Aber jetzt gibt er mich doch frei,« rief Fouquet. – »Glauben Sie denn das wirklich?« fragte der Bischof kalt. – »Ohne an eine plötzliche Freundschaft des Königs zu glauben, glaube ich doch an die Wahrheit der Tatsache,« antwortete der Minister. – Aramis zuckte die Achseln. – »Warum sollte Ihnen Ludwig XIV. aufgetragen haben, mir zu sagen, was d’Artagnan eben mitangehört hat?« – »Der König hat mir gar nichts für Sie aufgetragen,« sagte Aramis, und er sprach diese Worte in so seltsamem Tone, daß Fouquet zusammenfuhr.

»Sie verheimlichen mir etwas, d’Herblay,« rief er. Aramis streichelte sein Kinn mit den weißen Fingern. – »Verhehlen Sie mir nichts, d’Herblay, Sie machen mir Angst!« stieß Fouquet hervor. »Bin ich noch immer Oberintendant?« – »Solange Sie wollen,« antwortete Aramis ruhig. – »Wer welche seltsame Herrschaft haben Sie über Seine Majestät erlangt?« rief der Minister. »Sie scheinen Sie nach Ihrem Gefallen auszunützen.«

»Allerdings.«

»D’Herblay, ich beschwöre Sie bei unserer Freundschaft! Sagen Sie mir, wodurch Sie bei Ludwig XIV. soweit gekommen sind? Ich weiß, er war Ihnen nicht hold.« – »Er wird mich jetzt lieben,« antwortete Aramis, das letzte Wort betonend. – »Was ist das für ein Geheimnis?« entgegnete der Oberintendant. »Reden Sie!« – »Sie haben es erraten, Monseigneur,« antwortete d’Herblay. »Es handelt sich um ein Geheimnis. Dieses Geheimnis ist in meinem Besitz, und es ist so wichtig, so schwerwiegend, daß es mir Macht über den König gibt. Erinnern Sie sich,« fragte er, die Augen niederschlagend, »der Geburt Ludwigs XIV?« –. »Wie heute,« antwortete Fouquet. – »Und haben Sie je über diese Geburt etwas Besonderes reden hören?« – »Nein.« – »So hören Sie!« sprach Aramis. »Die Königin hat an diesem Abend nicht ein Kind, sondern zwei geboren. Ludwig XIII. war abergläubisch und fürchtete, zwei gleichberechtigte Kinder könnten einmal in Streit um den Thron geraten und ihr Land ins Verderben stürzen. Er ließ die Geburt des zweiten Kindes verheimlichen. Die beiden Zwillinge wuchsen heran: der eine kam auf den Thron – der andere blieb verborgen und unbekannt. Sie sind der Minister des einen – ich bin der Freund des andern.«

»Mein Gott, was sagen Sie mir da, Herr d’Herblay?« rief der Minister. »Und was geschah mit jenem armen Prinzen?« – »Erst wurde er heimlich auf dem Lande erzogen, und dann brachte man ihn in die Bastille.« – »Und weiß seine Mutier darum?« – »Anna von Oesterreich weiß das alles.« – »Und der König?« – »Er weiß nichts. Dieser bedauernswerteste Prinz war der unglücklichste unter den Menschen, bis Gott ihm zu Hilfe kam und ihm Freunde schuf, ihm eine Stütze gab, ihm einen Rächer bestellte. Der regierende König nun – ich drücke mich so aus, weil von Rechts wegen beide Brüder kraft der Ebenbürtigkeit hätten regieren sollen, denn Zwillinge sind eins in zwei Körpern – der regierende König, sage ich – der Usurpator – Sie sind doch auch meiner Ansicht, wenn ich diesen ruhigen Genuß eines Erbteils, auf das er nur ein halbes Recht hatte, Usurpation nenne?« – Fouquet nickte und antwortete: »Ja Usurpation ist das richtige Wort.«

»Wie gesagt, dieser regierende König, der Usurpator,« fuhr Aramis fort, »hatte einen Mann von Talent und Geist zum ersten Minister, aber er zürnte ihm, raubte ihm langsam sein Vermögen und damit seine Macht und trachtete ihm dann nach Freiheit und Leben. Aber diesem ersten Minister, den man so grausam verfolgte, hatte Gott einen Freund zur Seite gegeben, dem das Staatsgeheimnis bekannt war und der die Kraft in sich fühlte, dieses Geheimnis ans Licht zu ziehen.« – »Halten Sie inne!« rief Fouquet. »Ich errate alles. Sie sind vor den König hingetreten, als er mich verhaften lassen wollte, und haben mit Veröffentlichung dieses furchtbaren Geheimnisses gedroht. Ja, ich begreife, der König mußte sich Ihnen fügen?« – »Nennen Sie das Logik, Herr Oberintendant?« versetzte Aramis ironisch. »Meinen Sie wirklich, ich lebte zu dieser Stunde noch, wenn ich dem König eine solche Entdeckung gemacht hätte? Er hätte mich auf der Stelle fesseln und in einen unterirdischen Kerker werfen lasten. Und hätte ich damit Ihnen gedient, wie ein Freund es soll? Ihm Geld gestohlen zu haben, das ist nichts; seiner Mätresse den Hof gemacht zu haben, ist wenig; aber seine Krone, seine Ehre in der Hand zu halten – ah! er würde Ihnen mit eigner Hand das Herz aus der Brust gerissen haben!«

»So haben Sie ihm nichts von dem Geheimnis gesagt?« – »Lieber hätte ich alle Gifte verschluckt, die Mithridates trank, um sich vor Vergiftung zu schützen. Und nun sind wir an dem Punkte, wo ich Ihnen mitzuteilen habe, was ich tat!« – Aramis schritt durchs Zimmer und setzte sich dann wieder in den Lehnstuhl. – »Ich habe noch eins vergessen,« fuhr er fort, »Gott hat die beiden Zwillingsbrüder einander so ähnlich geschaffen, daß selbst die Mutter sie nicht voneinander unterscheiden könnte. Beide haben den gleichen Adel in den Zügen, genau denselben Wuchs, dieselbe Stimme, denselben Gang!« – »Ist es möglich?« rief Fouquet. »Doch die Denkweise, der Verstand, die Lebensansicht?« – »Darin sind sie ungleich. Das arme Opfer der Bastille ist, was die Charaktereigenschaften betrifft, seinem Bruder unendlich weit überlegen. Würde er aus dem Gefängnis geholt und auf den Thron gesetzt, so hätte Frankreich vielleicht, seit es besteht, keinen König gekannt, der an Adel der Gesinnung und an Geist mit diesem zu vergleichen wäre.«

Fouquet legte auf einen Augenblick die von einem so furchtbaren Geheimnis niedergedrückte Stirn in beide Hände. – »Und auch in bezug auf Sie,« fuhr Aramis fort, »besteht ein Unterschied zwischen den beiden Königen; denn der letztgeborne Sohn kennt keinen Herrn Colbert.« – Der Oberintendant sah auf. – »Ich verstehe. Sie schlagen mir eine Verschwörung, einen Staatsstreich vor,« sagte er mit stockender Stimme. »Sie sprachen davon, den Sohn Ludwigs XIII., der gefangen sitzt, den Platz mit dem, der auf dem Throne sitzt, vertauschen zu lassen. Allein das ist ein Umsturz, der das ganze Reich über den Haufen werfen kann. Den Baum mit den zahllosen Wurzeln, den man König nennt, kann man nicht so ohne weiteres ausreißen und durch einen anderen ersetzen.«

»Mein Freund,« entgegnete Aramis im Tone einer leichten Vertraulichkeit, »wie macht es denn Gott, wenn er an die Stelle eines Königs einen andern setzt?« – »Gott!« rief der Minister. »Gott gibt seinem Vollzieher Befehl, den Verurteilten zu ergreifen und fortzuführen, um dann den Triumphator auf den erledigten Thron steigen zu lassen. Sie vergessen aber, dieser Bevollmächtigte Gottes heißt Tod. Haben Sie etwa vor, Herr d’Herblay–?« – »Sie gehen über das Ziel hinaus. Monseigneur!« antwortete Aramis. »Wer spricht davon, Ludwig XIV. in den Tod zu senden? Ich wollte damit nur sagen: Gott vollbringt das alles ohne Umsturz, ohne Aergernis. Er bedarf dazu nur eines auserwählten Mannes, dem er seinen Willen einflößt. Mit einem Worte. Freund! wenn ein Umsturz oder ein Aergernis geschehen mußte, um den Gefangenen der Bastille mit dem König den Platz tauschen zu lassen, so fordere ich Sie auf, mir das zu beweisen.«

»Was?« schrie Fouquet, blässer als das Taschentuch, mit dem er sich die Stirn abwischte. »Was sagen Sie da?« – »Gehen Sie in das Zimmer des Königs,« antwortete Aramis. »Sie wissen nun das Geheimnis. Ueberzeugen Sie sich davon, daß der Gefangene der Bastille im Bette seines Bruders liegt.« – »Und der König?« stammelte Fouquet. – »Der, der gestern noch König war?« antwortete d’Herblay. »Ueberzeugen Sie sich! Er ist in der Bastille an dem Platze, den seit so langer Zeit sein Opfer innegehabt.« – »Himmel! und wer hat ihn hingebracht?« – »Ich! Und zwar auf die einfachste Weise. Diese Nacht habe ich ihn entführt und den andern an seine Stelle gesetzt. Ich glaube nicht, daß es Aufsehen gemacht hat. Ein Blitz, auf den kein Donner folgt, weckt niemand auf.« – Fouquet tat einen Schrei, als hätte ein Schlag ihn getroffen, und preßte den Kopf zwischen beide Hände. – »Das haben Sie getan?« stöhnte er. »Den König entthront und ins Gefängnis geschleppt. Und das ist hier in Vaux geschehen! Und in dieser Nacht?« – »Hier in Vaux – und in dieser Nacht zwischen zwölf und eins.« –

Der Ober-Intendant machte eine Bewegung, als wollte er sich auf den Bischof stürzen; doch er hielt an sich. – »In Vaux!« stammelte er. »In meinem Hause!« – »Ja! In dem Hause, das jetzt erst richtig das Ihre ist, seit es Ihnen Herr Colbert nicht mehr rauben kann,« entgegnete Aramis. – »In meinem Hause ward dieses Verbrechen verübt,« sagte Fouquet, ohne auf den Prälaten zu hören. – »Verbrechen?« wiederholte dieser betroffen. – »Dieses fluchwürdige Verbrechen!« fuhr Fouquet fort. »Dieses Verbrechen, das verdammenswerter ist als der Totschlag! Dieses Verbrechen, das für immer meinen Namen entehrt und zum Abscheu für Mit- und Nachwelt macht!«

»Ah, Sie sind ja nicht bei Sinnen, Herr!« entgegnete Aramis mit bebender Stimme. »Sie reden zu laut, geben Sie acht!« – »Ich will schreien, daß alle Welt mich hört!« versetzte der Minister. »Ja, Sie haben mich entehrt durch diesen Verrat, durch diese Gewalttat, die Sie an meinem Gaste unter meinem Dache verübten! O, welch ein Unglück für mich!« – »Ihr Gast?« rief Aramis außer sich. »Und trachtete Ihnen nach Vermögen und Leben? Vergessen Sie das?« – »Er war mein Gast, er war mein König!«

»Habe ist es mit einem Tollhäusler zu tun?« sprach Aramis und stand auf. – »Nein, sondern mit einem Ehrenmanne!« – »Narr, der Sie sind!« – »Mit einem Manne, der Ihr Verbrechen noch jetzt vereiteln wird!« – »Narr!« – »Mit einem Manne, der lieber stirbt, als daß er sich von Ihnen entehren läßt!« – Er trat ganz dicht an Aramis und sprach in gepreßtem Tone: »Ich gebe zu, Sie handelten in meinem Interesse, aber ich nehme das nicht an! Doch will ich Sie zu dieser Stunde nicht verdammen. Die Tür steht Ihnen noch offen.« – »Ihnen auch noch, aber nicht mehr lange!« rief Aramis mit prophetischer Stimme.

»Sie weissagen da richtig, Herr d’Herblay,« antwortete Fouquet ruhig. »Dennoch soll mich nichts aufhalten. Sie verlassen Vaux und Frankreich. Ich gebe Ihnen vier Stunden Frist, sich in Sicherheit zu bringen. Sie haben damit einen entscheidenden Vorsprung vor allen, die der König Ihnen nachsenden konnte. Diese Zeit wird Ihnen genügen, sich nach Belle-Ile zu flüchten, wo Sie Zuflucht finden werden. Gehen Sie! Solange ich lebe, soll Ihnen kein Haar gekrümmt werden.« – »Ich danke,« versetzte Aramis in düsterer Ironie. – »Reisen Sie also ab und – reichen Sie mir noch einmal die Hand. Retten Sie sich das Leben – ich werde meine Ehre retten.«

Aramis zog die Hand aus der Brust; die Nägel waren von Blut gerötet, denn er hatte sie in sein eigenes Fleisch gegraben. Aber er berührte die ihm dargereichte Hand Fouquets nicht. Er hob sie über des Ministers Haupt, stieß einen Fluch aus, spritzte ihm ein paar Tropfen seines Blutes ins Gesicht und verließ das Zimmer.

Fouquet eilte hinter ihm hinaus, bestellte seine besten Pferde und fuhr im Galopp nach Paris.

»Soll ich allein gehen?« murmelte Aramis, »oder soll ich den Prinzen benachrichtigen? Und was dann? Mit ihm abreisen? Diesen lebenden Beweis meiner Tat überall mit mir herumschleppen? Unmöglich! Aber was wird er ohne mich tun? Ohne mich kann er sich nicht halten – doch mit mir jetzt auch nicht mehr! O, so vollende sich das Verhängnis! Er war verdammt – er ist wieder verdammt – er wird für immer verdammt sein! O, du finstere, rätselhafte Macht, die man Genius des Menschen nennt, Gott oder Teufel – du bist unberechenbarer als der Föhn, du versehrst das All mit einem Hauche deines Odems, du richtest Felsenmassen auf und stürzest Gebirge nieder. Du spielst mit Mächten, die du selbst nicht einmal kennst, die dich vielleicht leugnen und sich an dir rächen. So bin ich denn verloren? Ich – verloren? Nach Belle-Ile flüchten? Und soll Porthos hierbleiben? Nein, ich will nicht, daß Porthos Ungemach erleide. Er ist ein Stück von mir. Sein Schmerz ist auch der meine. Porthos muß mit mir.«

Wenige Minuten später saßen die beiden Flüchtlinge schon zu Pferde – Porthos in dem Wahne, es handle sich um eine wichtige Mission, die der König ihnen aufgetragen.

Inzwischen jagte das Gespann Fouquets auf der Landstraße dahin und erreichte die Vorstadt Saint-Antoine. Vor der Bastille ließ er halten, sprang heraus und wurde, als er sich als Finanzminister legitimiert hatte, ohne Umstände eingelassen und vor den Gouverneur geführt. Baisemeaux hatte seit dem letzten Besuch d’Herblays keine ruhige Minute gehabt. Die Ankunft Fouquets, der mit allen Zeichen furchtbarster Aufregung vor ihm erschien, versetzte ihn aufs neue in Schrecken. – »Mein Herr!« rief Fouquet. »Sie haben heute morgen den Bischof von Vannes gesprochen?« – »Ja, Monseigneur,« antwortete Baisemeaux. – »Und das sagen Sie so ruhig, wo es sich doch um ein entsetzliches Verbrechen handelt, an dem Sie mitschuldig sind?« – »Ein Verbrechen?« stöhnte Baisemeaux. »Ah, das wird immer schöner!« – »Ein Verbrechen! Ja! Für das Sie gevierteilt werden können, verstehen Sie mich? Führen Sie mich auf der Stelle zu dem Gefangenen!«

»Zu welchem Gefangenen?« stammelte Baisemeaux. – »Ah, Sie stellen sich unwissend?« rief Fouquet. »Gut, ich will annehmen, Sie wüßten nichts. Geständen Sie eine solche Mitschuld ein, so wären Sie ja auch verloren. Doch nochmals! Führen Sie mich auf der Stelle zu ihm!« – »Ja zu wem denn aber? Etwa zu Marchiali?« – »Marchiali? Wer ist das?« – »Der Gefangene, den Herr d’Herblay heute früh gebracht hat.« – »Man nennt ihn also Marchiali?« fragte der Oberintendant. – »Ja, unter diesem Namen wird er in den Büchern geführt,« antwortete Baisemeaux.

Fouquets Blick drang dem armen Gouverneur bis ins Herz, und der vollendete Menschenkenner las darin Unschuld und Aufrichtigkeit. Er erkannte, daß Baisemeaux nicht in das Geheimnis des Bischofs eingeweiht war. »Marchiali heißt also der Gefangene, den d’Herblay heute morgen hergebracht hat?« – »Ja, und wenn Monseigneur kommen, ihn abzuholen, so ist mir das lieb, denn ich wollte schon seinetwegen ans Ministerium schreiben. Er ist tobsüchtig geworden, wie es scheint. Er schreit wie toll und hat alles in seiner Zelle zertrümmert.« – »Ich will Sie allerdings von ihm befreien,« sprach Fouquet. »Führen Sie mich in seinen Kerker.« – »Monseigneur werden mir den königlichen Befehl vorlegen?« fragte der Gouverneur.

»Wie?« rief Fouquet. »Sie spielen den Gewissenhaften, Sie, der Sie die Gefangenen sonst so leicht entführen lassen? Zeigen Sie mir den Befehl, auf Grund dessen dieser Mann freigelassen worden ist.« – Baisemeaux legte den auf Seldon lautenden Befehl vor. – »Aber Seldon ist doch nicht Marchiali,« rief Fouquet. – »Marchiali ist ja auch nicht freigelassen worden,« sagte Baisemeaux. »Er ist hier.« – »Aber erst heute früh zurückgebracht worden, wie Sie selbst gesagt haben!« –

»Ich bleibe bei meiner Amtspflicht, Monseigneur,« sagte Baisemeaux ausweichend. »Mir ist ein Freilassungsbefehl für Seldon vorgelegt worden, und Seldon ist entlassen. Marchiali ist hier, und ohne ausdrücklichen Befehl des Königs darf ich niemand zu einem Gefangenen lassen.« – »Sie haben aber Herrn d’Herblay zu Marchiali gelassen,« versetzte der Minister. »Schweigen Sie, Baisemeaux, ich weiß das. Herr d’Herblay hat Sie beeinflußt, aber Herr d’Herblay hat ausgespielt und die Flucht ergreifen müssen. Wenn Sie bei Ihrer Weigerung beharren, lasse ich Sie mitsamt Ihren Offizieren auf der Stelle verhaften, oder ich gehe und komme mit 10 000 Mann und 30 Kanonen wieder, um Ihre verfluchten Türme in Grund und Boden zu schießen und ganz Paris gegen die Bastille aufzurufen. Und Sie selbst lasse ich an der Zinne des Eckturms aufknüpfen.«

»Mein Gott, sind Monseigneur verrückt geworden?« schrie der Gouverneur. – »Ich gebe Ihnen zehn Minuten Bedenkzeit. Sind Sie dann noch halsstarrig, dann gehe ich und führe aus, was ich eben sagte, ob Sie mich für verrückt halten oder nicht!« – »Monseigneur, halten Sie inne!« rief Baisemeaux, der sich nicht mehr zu helfen wußte. »Wohlan, ich lege die Sache in die Hände des Königs, der mag darüber urteilen, ob ich recht tat oder nicht, indem ich so vielen Schrecknissen nachgab. Auf! folgen Sie mir zu Marchiali!« – »Sehr wohl! Aber wir beide gehen ganz allein, verstanden,« sagte Fouquet. »Nun leben Sie wohl, es darf kein Mensch mit anhören, was ich mit diesem Marchiali zu reden habe!«

Baisemeaux senkte den Kopf und nahm die Schlüssel. Sie gingen beide über den Hof und nach dem Eckturm. Je näher sie kamen, um so deutlicher wurde das Geschrei hörbar, das der unglückliche Gefangene noch immer anstimmte. – »Was ist das?« rief Fouquet erschauernd. – »Das ist Ihr famoser Marchiali,« antwortete Baisemeaux. – Der Minister entriß ihm die Schlüssel, eilte zu der Tür, hinter der der Lärm erscholl, schloß auf und rief dem Gouverneur zu: »Bleiben Sie zurück, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist!« – »Ich will’s auch gar nicht mit ansehen, wenn zwei solche Wüteriche zusammenkommen,« brummte der Gouverneur. »Einer wird den andern verschlingen.«

Das Geschrei des Gefangenen war so furchtbar, daß Fouquets Hände zitterten, während er das schwere Schloß öffnete. – »Zu Hilfe! zu Hilfe!« schrie es drinnen. »Ich bin der König! Herr Fouquet hat mich hierher bringen lassen! Zu Hilfe dem König gegen Fouquet! In den Tod mit Fouquet!« – Das heisere Brüllen zerriß dem Minister das Herz. Endlich hatte er das Schloß geöffnet und trat in die Zelle.

Als der Minister und der König einander erblickten, stießen beide einen Schrei aus. – »Kommen Sie, mich umzubringen?« rief Ludwig. – »Der König in diesem Zustande?« rief Fouquet. – Der junge Fürst bot in der Tat einen entsetzlichen Anblick: finster, bleich, das Haar zerwühlt, die Kleider zerfetzt, die Hände zerrissen, von Angst und Hunger verzehrt. Diese wenigen Stunden in der Bastille hatten alles Königliche seiner Erscheinung hinweggewischt; er war nichts als ein Elender, ein Phantom dessen, was er gewesen. Er packte eins der zertrümmerten Stuhlbeine und schwang es gegen Fouquet. – »Sire,« rief dieser, »erkennen Sie nicht mehr Ihren treuesten Freund?« – »Sie ein Freund von mir?« schrie der König, vor Rachedurst mit den Zähnen knirschend. – »Ihr untertäniger Diener!« antwortete Fouquet und warf sich zu seinen Füßen nieder. Und er umschlang seine Knie und schmiegte den Kopf an die zerrissenen Kleider. »Mein König! mein König!« rief er. »Sie haben viel leiden müssen?«

Ludwig schien jetzt erst zu erkennen, wie er aussah, und sich seiner Lage, seines Zustandes zu schämen. Er erblaßte. – »Kommen Sie, Sire!« rief Fouquet. »Sie sind frei.« – »Ha!« rief der König. »Sie machen mich frei, nachdem Sie sich erfrecht haben, mich gefangenzusetzen?« – »O, glauben Sie doch das nicht! Ich bin ohne jede Schuld!« rief Fouquet. Und schnell und mit Wärme erzählte er den ganzen Hergang. Ludwig hörte schweigend zu, und als Fouquet schwieg, sah er wie ein Träumender vor sich hin, so sehr stand er noch unter dem Banne der schrecklichen Gefahr, in der er geschwebt hatte. Dann richteten seine Gedanken sich auf das Geheimnis, das die Grundlage des ganzen Staatsstreiches gewesen war. – »Mein Herr!« rief er aus. »Diese Zwillingsgeburt ist ein Märchen. Wie kann man einen solchen Verdacht gegen meine Mutter aussprechen? Ich habe nur einen Bruder, das ist Monsieur.« – »Zum mindesten muß dieser Marchiali Eurer Majestät in der Tat sehr ähnlich sehen,« antwortete der Minister. »Denn alle haben sich von dieser großen Aehnlichkeit täuschen lassen, alle, Ihre Mutter, Sire, Ihre Offiziere, der ganze Hof.«

»In Vaux?« rief der König. »Ich will mit Truppen gegen sie alle ziehen und die schändlichen Verräter vernichten.« – »Majestät, die hierzu nötigen Befehle sind schon erteilt. In einer Stunde können Sie an der Spitze von 10 000 Mann stehen.« – »Was? Sie haben dazu schon Anordnungen getroffen?« rief der König und ergriff Fouquets Hand mit einer Rührung, an der man erkennen konnte, wie tief bisher sein Mißtrauen gegen diesen Mann gewesen war. – »Allein, Sire,« fuhr Fouquet fort, »es wird nicht nötig sein, davon Gebrauch zu machen, denn das Haupt des Unternehmens, der Mann, der dies alles ausgeführt hat, ist von mir entlarvt worden.«

»Sie haben diesen falschen Prinzen gesehen?« rief Ludwig. – »Nein,« antwortete Fouquet. »Er ist nicht die Seele dieser Tat, er ist nur ein Werkzeug. Der Mann, der dieses furchtbare Verbrechen entworfen und ausgeführt hat, ist Herr d’Herblay, der Bischof von Vannes.«

»Ihr Freund!« rief Ludwig. – »Er war mein Freund,« antwortete Fouquet edel. »Ich wußte nichts von dem schändlichen Vorhaben.« – »Und wer war sein Helfershelfer? Wer war der Riese, der mit seiner herkulischen Kraft drohte?« – »Das muß Baron du Vallon gewesen sein.« – »Ha! Ich werde die Schuldigen züchtigen, einen wie alle!« rief Ludwig. – »Sire, erwägen Sie!« entgegnete Fouquet. »Ein Prozeß würde in diesem Falle die Ehre des Throns beeinträchtigen. Der erhabene Name Annas von Oesterreich darf nicht vor ein Gericht gezogen werden. Königliches Blut darf nicht auf dem Schafott fließen.« – »Wie? Sie glauben an diese Zwillingsgeburt?« rief der König. »Das ist eine Erfindung d’Herblays, die sein Verbrechen noch erschwert, wenn dies möglich ist. Er und sein Genosse müssen sterben, und sterben muß dieser Pseudoprinz, das elende Werkzeug des Verwegenen!«

»Sire, was ihn anbetrifft, so werden Sie die Ehre Ihrer Krone wahren, ich menge mich da nicht hinein. Nur eines wage ich anzudeuten, Sire,« antwortete Fouquet. »Ehe Sie Ihrem Zwillingsbruder Philipp von Frankreich den Kopf abschlagen lassen, sprechen Sie mit Ihrer Mutter. Was aber d’Herblay und du Vallon anbetrifft, so bitte ich für sie um Gnade!« – »Gnade für die Meuchelmörder?« rief der König. – »Zwei Rebellen, Sire, weiter nichts.« – »Und Ihre Freunde? Ja ich verstehe. Doch die Sicherheit meines Reiches erheischt es, daß ich die Schuldigen bestrafe.«

»Ich erinnere Eure Majestät daran,« sagte Fouquet bescheiden, »daß ich Ihnen eben die Freiheit gegeben und das Leben gerettet habe. Und hätte Herr d’Herblay die Rolle eines Mörders spielen wollen, so hätte er heute früh Eure Majestät unterwegs nur durch einen Pistolenschuß zu töten brauchen, und alles wäre abgetan gewesen.« – Ludwig XIV. fuhr zusammen. – »Ein Pistolenschuß in den Kopf,« setzte Fouquet hinzu, »hätte das Gesicht der Leiche bis zur Unkenntlichkeit zerschmettert, und niemand würde in dem Toten den König von Frankreich erkannt haben. Dann würde d’Herblay mir auch nicht seinen Plan enthüllt haben. Nachdem der wahre König beseitigt, hätte der falsche König sich an seine Stelle gesetzt, und kein Mensch hätte das Geheimnis entdeckt. Sicherheit für alle Zeiten, Straflosigkeit und den Erfolg seiner Tat – das alles hätte sich d’Herblay mit diesem Pistolenschuß verschafft. Danken Sie also auch ihm, Sire, daß man Sie noch retten kann!«

Fouquet wollte den König rühren, aber er erreichte das Gegenteil. Dieses stolze Gemüt vermochte nicht den Gedanken zu ertragen, daß ein Sterblicher sein Leben in der Hand gehabt habe. Er fühlte sich tief gedemütigt, und jedes Wort, durch das Fouquet die Begnadigung seiner Freunde zu erlangen hoffte, war ein Tropfen Gift, in das empörte Herz des Königs geträufelt. Mit Ungestüm wendete er sich an Fouquet und rief: »Mein Herr, wie können Sie mich um Gnade für diese Leute bitten? Warum auch tun Sie es? Sie haben es gar nicht nötig. Ich bin ja hier in der Bastille, und man hält mich für den wahnsinnigen Marchiali, der sich für den König ausgibt. Aendern Sie einfach nichts daran! Lassen Sie den Verrückten hier im Kerker, und der neue König wird nichts gegen Herrn d’Herblay und Herrn du Vallon tun.«

»Majestät,« antwortete Fouquet trocken, »wenn ich einen neuen König hätte machen wollen, würde ich in Vaux geblieben sein, statt zu Ihrer Rettung hierher zu eilen. Das ist doch einleuchtend. Majestät sind im Zorn, sonst würden Sie nicht denjenigen beleidigen, der Ihr treuester Diener ist und Ihnen den wichtigsten Dienst geleistet hat.« – Ludwig erkannte, er war zu weit gegangen, denn noch hatten sich ihm die Tore der Bastille nicht geöffnet, während sich allmählich die Schranken auftaten, hinter denen der edelsinnige Fouquet seinen Zorn zurückhielt. – »Ich habe das nicht gesagt, Herr Fouquet,« sprach er, »um Sie zu demütigen, sondern nur um festzustellen, daß ich gegen mein Gewissen handeln müßte, wenn ich diese Verbrecher straflos ließe. Es sei denn, Sie legen mir Bedingungen auf, zu denen ich mich verpflichten soll, ehe Sie mich freilassen.«

»Majestät, ich habe unrecht,« antwortete Fouquet. »Ich errege in der Tat den Anschein, als wollte ich eine Gnade erzwingen. Das tut mir sehr leid, und ich bitte Sie um Verzeihung.« – »Ihnen ist vergeben, Herr,« antwortete der König. »Aber Verzeihung für d’Herblay und du Vallon erlangen Sie nie, solange ich lebe. Reden Sie nie mehr davon.« – »Sire, ich werde gehorchen,« antwortete Fouquet kurz. »Auch sah ich voraus, Sie würden den beiden Ihre Gnade versagen, und habe demzufolge meine Maßregeln getroffen. Herr d’Herblay hat sich mir offenbart und mir dadurch das Glück verschafft, meinen König und mein Vaterland zu retten. Ich konnte ihn nicht zum Tode verdammen, indem ich ihn dem Zorn Eurer Majestät auslieferte. Ich habe ihm und Herrn du Vallon meine besten Pferde und vier Stunden Vorsprung gegeben. Eure Majestät können sie nicht mehr einholen. Sie werden Belle-Ile erreichen, wo ich ihnen ein Asyl zugestanden habe.« – »Sie vergessen, Belle-Ile haben Sie mir geschenkt.« – »Doch nicht, damit Sie da meine Freunde verhaften.« – »Sie nehmen es mir wieder?« – »Dann ja, Majestät.« – »Meine Musketiere werden es in Besitz nehmen.« – »Weder Ihre Musketiere noch Ihre ganze Armee, Sire,« erwiderte der Minister. »Belle-Ile ist uneinnehmbar.«

Der König wurde blaß, und ein Blitz flammte aus seinen Augen. In diesem Moment war das Schicksal Fouquets besiegelt. Er fühlte es, allein er gehörte nicht zu denen, die ihr Leben höher einschätzen als ihre Ehre. Er hielt dem tückischen Blicke des Königs stand. Ludwig bezwang seine Wut und sagte nach kurzem Schweigen: »Lassen Sie uns nach Vaux gehen.« – »Ich stehe zu Eurer Majestät Befehl,« antwortete Fouquet mit einer tiefen Verbeugung. »Doch, bitte, erst zum Louvre, Majestät, damit Sie die Kleider wechseln können.«

Und sie gingen von dem verblüfften Baisemeaux fort, der schon einmal Marchiali hatte gehen sehen und sich die wenigen Haare ausriß, die ihm noch verblieben waren.

2. Kapitel. Und zeigte ihm die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit

Es schlug sieben an der großen Uhr der Bastille, und es war die Stunde der Mahlzeit für die armen Gefangenen und auch für den Herrn Gouverneur. Baisemeaux hatte abermals Herrn d’Herblay zu Gaste. Sie ließen sich diesmal die Leckerbissen trefflich munden, und Aramis war gesprächiger, zwangloser als sonst, so daß Baisemeaux sich fast ein wenig darüber wunderte. Als sie beim Dessert angelangt waren und der Gouverneur sich schon der trügerischen Hoffnung hingab, der Bischof werde an diesem Tage, da er dem Weine sehr brav zugesprochen hatte, einmal keine Geheimnisse haben, wurde ein Kurier in den Hof gelassen, und gleich darauf überbrachte man Herrn Baisemeaux eine Order des Königs.

»Ah, das ist verdrießlich,« brummte er. »Muß das auch gerade beim schönsten Trinken kommen!« – »Baisemeaux, Baisemeaux!« lachte Aramis, »ein Befehl des Königs ist heilig! – »Ja doch,« antwortete der Gouverneur, »aber die Gemütlichkeit und die Gastfreundschaft sind mir auch heilig, und nun muß ich Sie vernachlässigen, um zu tun, was der König will. Also erlauben Sie!« – Mit diesen Worten öffnete er den Befehl. – »Es ist eine Freilassung,« sagte er verdrießlich. »Wieder einer weniger! Und es kommt kaum noch alle Wochen ein neuer herzu. Erst letztens – Sie waren ja dabei – mußte ich den Grafen de la Fère ziehen lassen, wo ich mich schon drauf gefreut hatte, wieder mal einen vornehmen Herrn hereinzubekommen. Eine schlechte Zeit, Herr Bischof, Gott sei’s geklagt!«

»Aber Sie sind doch Christ, lieber Baisemeaux, und sollten sich freuen, wenn ein armer Mann die Freiheit wiedererlangt,« sagte Aramis. »Wer soll denn entlassen werden?« – »Ah, Seldon, jener Pamphletist, der den Spottvers auf die Jesuiten gemacht hat. Und jetzt um acht Uhr abends!« – »Gleichviel!« meinte Aramis, »königliche Befehle müssen vollzogen werden.« – »Dieser muß sogar ohne weiteres vollzogen werden, denn er trägt den Vermerk eilig,« sprach der Gouverneur, »in jedem andern Falle würde ich bis morgen früh gewartet haben.«

»Ei, ei, und denken Sie gar nicht daran, daß Sie die Leiden eines Gefangenen abkürzen, wenn Sie ihn so rasch wie möglich losgeben? Ist es doch etwas Schönes um den Augenblick, wo man nach Jahren der Kerkerhaft die Luft der Freiheit atmet! Jede Minute, die Sie so einem armen Gefangenen schenken, wird Ihnen Gott im Paradiese durch Jahre der Glückseligkeit vergelten.«

»Wenn nur nicht das Essen drüber kalt würde!« seufzte der Gouverneur. Darauf wandte er sich nach der Tür, um mit dem Boten zu sprechen. Der Befehl war auf dem Tische liegen geblieben. Aramis benutzte diesen Augenblick, um ihn gegen einen, den er aus dem Rock zog, zu vertauschen. Es war ein ebensolches Papier, dem echten Befehl täuschend nachgeahmt. Nur ein andrer Name stand darauf.

»Eigentlich ist’s eine Grausamkeit, einen Gefangnen um diese Stunde an die Luft zu setzen,« brummte Baisemeaux. »Wohin soll er gehen? Nach so vielen Jahren der Haft wird er sich nicht mehr zurechtfinden.« – »Ich werde ihn führen,« sagte Aramis, »das ist Pflicht eines Mannes der Kirche.« – »Sie wissen auf alles eine Antwort,« sprach der Gouverneur, und seinem Diener rief er zu: »Man soll die Zelle Seldons aufschließen. Nordturm Nummer 3.« – »Wie sagten Sie?« rief Aramis. »Seldon? Sie meinen doch wohl Marchiali?« – »Der Befehl lautet auf Seldon,« sagte Baisemeaux. – »Aber Sie irren sich, Gouverneur,« rief d’Herblay und neigte sich über das auf dem Tische liegende Dokument. »Hier steht groß und deutlich: Marchiali.« – »Was?« versetzte Baisemeaux, »ich las doch eben Seldon. Das ist merkwürdig,« sagte er mit großer Unruhe, als er nun den Namen Marchiali las. »Ich weiß ganz genau, daß es Seldon geheißen hat. Unter dem Namen war ein Tintenfleck – hier ist jetzt keiner.« – »Wie es auch gewesen sein mag, lieber Baisemeaux,« erwiderte Aramis. »Der vom König unterzeichnete Befehl betrifft Marchiali. ›Marchiali ist in Freiheit zu setzen,‹ steht hier klar und deutlich. Also müssen Sie Marchiali loslassen.«

»Hm,« murmelte der Gouverneur, »Marchiali erhielt den Besuch des Beichtvaters vom Jesuitenorden –« und er sah Aramis mit unverhohlenem Mißtrauen an.

»Das weiß ich nicht,« antwortete dieser. – »Und doch ist es noch gar nicht so lange her,« meinte Baisemeaux. – »Das ist möglich, lieber Gouverneur, indessen ist es bei uns gut, daß der Mann von heute nicht wisse, was der Mann von gestern getan hat. – »Jedenfalls hat der Besuch des Beichtvaters diesem Menschen Glück gebracht,« sprach Baisemeaux. »Wohl, ich werde ihn loslassen; aber ich werde erst einen Eilboten ans Ministerium senden und fragen lassen, ob die Sache auch ihre Richtigkeit hat, ob wirklich Marchiali und nicht Seldon gemeint war.«

»Wozu das?« fragte Aramis kalt. – »Um mich vor einem Irrtum, vor einem Versehen zu schützen, das ich vielleicht schwer büßen müßte. Wohl sehe ich die Unterschrift des Königs und die Gegenzeichnung des Polizeiministers Lyonne unter dem Befehl, aber beide Schriftzüge können gefälscht sein, Herr d’Herblay. Das alles ist schon dagewesen.« – »Sie haben recht, Baisemeaux. Sie wollen Ihr Gewissen erleichtern,« sagte Aramis. »Sie würden aber vollständig beruhigt sein, wenn ein Vorgesetzter Sie autorisierte, den Ihnen vorliegenden Befehl ohne weitere Umstände auszuführen?« – »Allerdings,« nickte der Gouverneur.

»So geben Sie mir Schreibzeug,« sagte Aramis kurz. Darauf ergriff er, während Baisemeaux erstaunt zusah, eine Feder und schrieb. Der von Schrecken ergriffene Gouverneur las über seine Schulter hinweg. – »A.M.D.G.,« 13 schrieb der Bischof und zeichnete ein Kreuz dahinter. Dann folgten die Worte: »Herr Baisemeaux von Montlezun, Gouverneur der Bastille, hat den ihm überbrachten Befehl für echt und gültig zu halten und auf der Stelle zu vollziehen. D’Herblay, durch die Gnade Gottes General des Ordens.« Dabei drehte er den Ring an seinem Finger und ließ Baisemeaux das Abzeichen des Obersten der Jesuiten schauen. Der Gouverneur war starr vor Entsetzen und stand unbeweglich, wie am Boden fest gewurzelt. Man hörte in dem Gemach nichts als das Summen einer Fliege, die um die Lichter schwirrte. Aramis würdigte den Mann, den er in so klägliche Verblüffung gebracht hatte, keines Blickes, zog das Petschaft hervor, das er unter dem Wams trug, siegelte das Geschriebene und übergab es schweigend Herrn Baisemeaux, der es mit zitternden Händen entgegennahm, um wie niedergeschmettert auf einen Stuhl zu sinken.

»Auf, lieber Baisemeaux!« rief Aramis nach langem Schweigen. »Die Gegenwart des Ordens-Generals ist doch nichts so Schreckliches, daß man sterben müßte. Reichen Sie mir die Hand und folgen Sie mir.« – Baisemeaux küßte dem General die Hand und rief: »Ich kann es nicht fassen – ich werde mich von diesem Schlage nie wieder erholen. Ich habe mit Ihnen gescherzt und gelacht – ich habe es gewagt, mich auf gleichen Fuß mit Ihnen zu stellen.« – »Schweig, alter Kamerad,« entgegnete d’Herblay. »Gehen wir ein jeder seinen Lebensweg: Dir sei mein Schutz, meine Freundschaft, mir dein Gehorsam geweiht! Und nun, holen Sie Marchiali!«

Baisemeaux ging, um die Formalitäten zu erledigen, unter denen nach der Vorschrift die Freilassung eines Eingekerkerten zu erfolgen hatte. Dazu gehörte vor allem die Eidesleistung, nie etwas von dem kundzugeben, was man in der Bastille gesehen oder gehört hatte. Als der Gefangene diesen Schwur getan, trat Aramis aus dem Schatten hervor, in dem er gestanden. Marchiali errötete leicht und legte seinen Arm in den des Bischofs. Sie gingen in den Hof, wo eine Kutsche bereitstand. Die Räder rollten über das holperige Pflaster, rasselten von Hof zu Hof und dann zur Tür hinaus. Selbst Aramis atmete nicht, solange sie noch im Bannkreis der Bastille waren, man hätte das stürmische Klopfen seines Herzens hören können. Auch der Gefangene, in eine Ecke des Wagens gedrückt, gab kein Lebenszeichen von sich. Endlich war man über den letzten Wassergraben hinüber und durch die letzte Barriere hindurch. Das letzte Tor hatte sich hinter dem Wagen geschlossen; die Pferde griffen schneller aus und trugen den Wagen durch die Vorstadt Saint-Antoine und dann ohne Aufenthalt bis nach Melun, wo Aramis im Walde von Senart haltmachen ließ.

»Was gibt es?« rief der Gefangene und fuhr aus einem dumpfen Traume auf. – »Königliche Hoheit,« antwortete Aramis, »ehe wir weiterfahren, müssen wir uns besprechen.« – »Darauf warte ich schon,« antwortete der Prinz. – »Wir sind in einem Walde, wo niemand uns hörnen kann,« sagte Aramis. »Der Postillon ist taubstumm. Geruhen Sie auszusteigen und mit mir in die düstere Seitenallee einzutreten, die vor uns liegt.«

»Ich bin bereit, doch was machen Sie da?« antwortete der Prinz. – »Ich setze die Pistolen in Ruh, da wir sie nicht mehr brauchen, Königliche Hoheit,« erwiderte Aramis. »Ob ich auch nur,« fuhr er dann fort, während beide auf dem einsamen, von feuchtem Moos überwucherten Fußwege dahinschritten, »ein unbedeutender Mann, ein untergeordnetes Glied in der langen Reihe denkender Menschen bin, so ist es doch, wenn ich mit jemand spreche, stets mein Bestreben, in seine Gedanken einzudringen mitten durch die lebende Maske hindurch, die der Verständige dem Fremden gegenüber annimmt. Ich werde bei der Dunkelheit, die uns umgibt, und bei der Zurückhaltung, die Sie schon im Gefängnis gegen mich gezeigt haben, nichts in Ihren Zügen lesen können. Ich glaube daher, es wird mir Mühe kosten, Ihnen aufrichtige Worte zu entwinden. Ich bitte Sie inständig, jedes meiner Worte nicht aus Rücksicht auf mich, sondern aus Liebe zu sich selbst, ernsthaft zu erwägen, denn was wir zu besprechen haben, wird so wichtig sein, wie nur irgend etwas, das jemals auf dieser Welt zwischen zwei Menschen verhandelt worden ist.«

»Ich höre,« antwortete Prinz Philipp in festem Tone. – Schwarze, dichte Dunkelheit lag unter den Wipfeln der Bäume ausgebreitet; die tiefe Stille der Nacht herrschte ringsum. Das Fünklein der Kutschenlaterne schimmerte durch den weißen Dunst, der vom feuchten Boden empordampfte.

»Königliche Hoheit,« fuhr Aramis fort, »Sie kennen die Geschichte der Regierung, die heute Frankreichs Geschicke leitet. Des Königs Kindheit glich einer Gefangenschaft, die kaum unbarmherziger war als die Ihrige, nur daß er seine Martern nicht in der Finsternis und Einsamkeit eines Kerkers, sondern an hellem lichtem Tage, mitten in der geräuschvollen Welt des Hofs erdulden mußte. Er hat darunter viel gelitten, sein Herz ist verbittert, und der Durst nach Rache muß in ihm wohnen. Er wird ein böser König werden. Da er von einem geizigen Minister geknechtet worden ist, wird er in Verschwendungssucht ausarten. Ich kann ihn mit gutem Gewissen verurteilen. Gott macht alles recht, was er tut. Um dieses schwere Geheimnis, das ich Ihnen entdecken half, zu bewahren und zunutze zu machen, dazu bedurfte er eines zuverlässigen, ausharrenden Werkzeugs, und er erwählte mich. Ich besitze Schärfe des Urteils, unermüdliche Geduld, Unerschrockenheit und Klugheit. Dieses Werkzeug Gottes haben Sie an Ihrer Seite, Hoheit, dieser Mann hat Sie in einer großen Absicht aus der Nacht des Kerkers befreit, und zu einem erhabenen Zweck will er Sie zu einem Herrn der Erde erheben.«

»Sie sprechen da,« antwortete der Prinz, »von dem geistlichen Orden, dessen Oberhaupt Sie sind. Ich entnehme Ihren Worten, daß Sie eines Tages denjenigen, den Sie erhoben haben, ebenso stürzen werden, daß ich nur eine Kreatur Ihres Geistes sein soll.« – »Sie irren sich, Hoheit,« versetzte Aramis. »Wenn ich Sie einmal erhoben habe, werde ich Sie nie stürzen können. Vielmehr werden Sie beim Emporsteigen den Schemel weit wegrollen sehen, auf den Sie den Fuß gesetzt haben. Sie werden sich dann vielleicht nicht einmal mehr an sein Recht auf Erkenntlichkeit erinnern. Doch fürchten Sie nichts; um mich gegen diese Gefahr zu schützen, spreche ich jetzt mit Ihnen; denn es ist selbstverständlich, daß ich ein Interesse verfolge, indem ich mein Leben für das Ihrige aufs Spiel setze. Auf dem Gipfel angelangt, werden Sie mich für würdig halten, Ihr Freund, Ihr erster Minister zu werden, und gemeinsam werden wir dann so große Dinge tun, daß man Jahrhunderte lang von uns sprechen wird.«

»Sagen Sie mir, mein Herr, was ich jetzt bin und was ich nach Ihrer Meinung morgen sein werde,« sprach Prinz Philipp.

»Hoheit, Sie sind der Sohn Ludwigs XIII., der Bruder Ludwigs XIV., der natürliche, legitime Erbe des französischen Throns. Die Aerzte oder Gott allein könnten in diesem Punkte die Wahrheit ermitteln. Die Aerzte nun stimmen stets für den König, der gerade auf dem Thron sitzt; Gott aber ist unparteiisch und duldet nicht, daß ein rechtmäßig geborener Prinz Unrecht leidet; Sie haben göttliches Blut in sich, weil Ihre Verfolger bei aller Grausamkeit es nicht gewagt haben, dieses Blut zu vergießen, wie sie das Ihrer Diener vergossen haben. Und nun hat Gott, den Sie oft angeklagt haben, für Sie gehandelt. Erwägen Sie, was alles er für Sie getan hat: er gab Ihnen den Wuchs, das Antlitz, die Stimme, die Manieren Ihres Zwillingsbruders, und alle Ursachen Ihrer Verfolgung werden nun zur Grundlage Ihres Triumphes. Morgen, sobald der Tag anbricht, werden Sie sich auf den Thron Ludwigs XIV. setzen, während ihn der göttliche Wille durch mich, das göttliche Werkzeug, für immer vom Throne herabstürzen wird.«

»Ich meine, das Blut meines Bruders darf nicht vergossen werden,« sprach der Prinz. – »Sie allein werden über sein Schicksal zu entscheiden haben,« antwortete Aramis, »Sie werden das Geheimnis, mit dem man gegen Sie Mißbrauch getrieben hat, nun gegen ihn nützen, und Ihr Interesse wird es ebenso gebieterisch erheischen, ihn zu verbergen, wie man Sie verborgen hat. Er wird als Gefangener Ihnen ja doch ebenso gleichen, wie Sie ihm, als er noch König war, geglichen haben.« – »Ist das Geheimnis noch andern Personen bekannt?« fragte Philipp.

»Nur noch der Königin-Mutter und Frau von Chevreuse.« – »Was werden diese beiden tun?« – »Nichts, wenn Sie nur wollen. Denn wenn Sie handeln, daß man Sie nicht erkennen kann, so werden die beiden Sie nicht erkennen.« – »Das wohl, allein es gibt noch größere Schwierigkeiten. Mein Bruder ist verheiratet. Ich kann nicht die Frau meines Bruders nehmen.« – »Ich werde dafür sorgen, daß Spanien die Ehe zurückgehen läßt im Interesse der neuen Politik. Jeder derartige große Plan wächst sich aus, ergänzt sich von selbst. Der beiseitegeschaffte König wird übrigens die Kerkerhaft nicht lange ertragen, denn er ist nicht daran gewöhnt, wie Sie es waren. Ein Leben des Genusses hat seinen Leib verweichlicht – und die übergroßen Ehren, die fast göttliche Gewalt, die ihm bisher beschert gewesen, machen ihn ganz untauglich zu einem Dasein in Unglück und Nacht. Gott wird seine Seele bald zurücknehmen.«

Bei diesen düstern Worten des Jesuitengenerals stieß im Walde ein Nachtvogel einen unheimlichen Schrei aus; der Prinz erschrak und murmelte: »Ich werde den gestürzten König ins Ausland schicken; das wird menschlicher sein.« – »Sie werden diese Frage nach Ihrem Belieben entscheiden,« antwortete Aramis. »Und nun habe ich das Problem nach allen Seiten hin erschöpfend erörtert. Meinen Sie nicht auch?« – »Jawohl,« antwortete Philipp. »Nur zwei Punkte sind noch in Betracht zu ziehen. Erstens die Beweggründe, die Sie bei dem allem haben, zweitens die Gefahren, die wir laufen.«

»Reden wir von den Gefahren, Hoheit,« antwortete d’Herblay. »Gefahren sind gar keine da, sofern nur Sie mit Sündhaftigkeit und ohne Furcht in Ihre Rolle als König eintreten und die vollkommene Aehnlichkeit mit dem König, die die Natur Ihnen äußerlich verliehen hat, durch die nötige innere Majestät ergänzen. Darum ist mir aber gar nicht bange.« – »Mir auch nicht, Herr; allein Sie vergessen eine ganz besondere und schier unüberwindliche Gefahr: das Gewissen, das seine Stimme erhebt, die Gewissensbisse, die das Herz zerreißen. Haben Sie einen Bruder?«

»Ich bin allein auf der Welt,« antwortete Aramis trocken. »Doch, Königliche Hoheit, wenn Sie sich fürchten, sei es vor dem Pomp des Hofes, sei es vor den Kanonen der Festungen, sei es vor den Regungen des eigenen Gewissens, so kenne ich ein Ländchen, fern von aller Well, wo Sie ganz für sich leben können, unberührt von dem Treiben der Menschen, wo Sie alles das vergessen können, was ich Ihnen jetzt angeboten habe, wo die Versuchung nicht wieder an Sie herantreten wird. Ich will nicht, daß Sie sich, getrieben durch meinen Willen, meine Laune oder meinen Ehrgeiz, was es nun ist, blindlings in einen Abgrund stürzen. Jetzt sind Sie überreizt, geschwächt durch die Luft der Freiheit, die Sie seit einer Stunde ungehindert atmen. Soll ich glauben, daß Sie diese vollen, ungehinderten Atemzüge nicht fortsetzen wollen? Daß Sie sich ein niedriges Leben wünschen, für das Ihre Kräfte geeigneter sind? Dann würde ich Sie in jenes einsame kleine Ländchen führen, wo niemand Sie kennen und verfolgen wird, und Ihnen soviel Geld mit auf den Weg geben, daß Sie davon bis an Ihr Ende leben können, sorglos, frei und glücklich. Ich will Ihnen ein Gut schenken, mit Feld und Garten. Jagdgewehre, Hunde und Dienerschaft. Sie werden unabhängig sein. Gebieter in einem allerdings winzigen Eigentum im Vergleich zu dem Thron, den ich Ihnen auf der andern Seite angeboten habe. Wollen Sie es annehmen? Ich gebe es Ihnen gern, frohen Herzens. Von diesem Fleck aus kann der taubstumme Diener Sie in ununterbrochener Fahrt dorthin bringen. Ich werde mich begnügen mit der Gewißheit, meinem Fürsten den Dienst erwiesen zu haben, für den er sich selbst entschieden hat. Nun, Königliche Hoheit, entschließen Sie sich! Wählen Sie jenes Ländchen, so wagen Sie nichts – wählen Sie den Thron, so können Sie ermordet, ja im Gefängnis erdrosselt werden. Ich selbst, ich gestehe es offen, nachdem ich beide Wagschalen geprüft, würde Bedenken tragen.«

»Mein Herr,« antwortete der junge Prinz, »ehe ich mich endgültig entschließe, will ich mich zehn Minuten lang mit Gott beraten. Dann will ich Ihnen antworten.« – Aramis verneigte sich ehrerbietig und trat zurück. Der junge Mann entfernte sich mit unsicheren Schritten.

Es war am 15. August gegen elf Uhr abends. Dichte Wolken, die ein Unwetter verkündeten, hüllten den Himmel ein – kein Stern schien. Kaum konnte man die Baumwipfel zu Häupten erkennen, so schwarz war die Nacht. Ein lauer Wohlgeruch stieg von der Erde auf, frischen Odem hauchte das Laub der Bäume aus, und dies alles drang in der ringsum herrschenden Stille eindrucksvoll auf den jungen Mann ein, der zum ersten Mal in seinem Leben frei war. Er sah vor sich hin in die dichte Finsternis, die sein Auge nur auf wenige Schritte zu durchdringen vermochte. Er kreuzte die Arme auf der Brust und atmete mit Wonne die herbe Luft, die des Nachts durch die hohen Gewölbe des Waldes streift.

Der junge Prinz ließ die Seele zu Gott emporfliegen und um einen Lichtstrahl inmitten dieser Nacht flehen, aus der der Tag für ihn mit Leben oder Tod hervorgehen sollte. Es war ein furchtbarer Moment für Aramis; noch nie hatte er vor einer so schweren Entscheidung gestanden. Seine Seele war von Stahl. Mit den Hindernissen des Lebens hatte er immer nur gespielt und war nie besiegt worden. Sollte nun sein großes Unternehmen scheitern, weil er den Einfluß nicht vorausgesehen hatte, den ein paar Liter ozonreiche Waldluft auf den menschlichen Körper ausübten?

Die zehn Minuten, die der junge Mann sich zur Entscheidung ausbedungen, waren eine Ewigkeit für Aramis. Er bewegte sich nicht vom Platze, nur seine brennenden Augen folgten dem Prinzen, der langsam hin und her wandelte, stehenblieb und wieder weiterschritt.

Endlich kehrte der Blick des Prinzen vom Himmel zur Erde zurück. Seine Stirn zog sich in Falten, die Lippen preßten sich aufeinander, sein Auge leuchtete wild und begehrlich auf; er ergriff rasch und fest Aramis‘ Hand und rief: »Vorwärts! Ich will den Thron!« – »Ist das Ihr fester Entschluß?« – »Unwiderruflich!« antwortete Philipp. – »Sie werden ein großer König sein, Monseigneur, dafür bürge ich.« – »Wir wollen unser Gespräch an dem Punkte wieder aufnehmen,« sprach der Prinz, »wo wir es fallen ließen. Zwei Punkte nannte ich, die noch zu erörtern seien; den ersten, das Gewissen, haben wir abgetan, den zweiten, Ihre Beweggründe, fassen wir nun ins Auge. Erklären Sie sich, Herr d’Herblay! Welche Bedingungen stellen Sie mir? Sie werden mir nicht zumuten zu glauben, daß Sie ganz uneigennützig handelten. Teilen Sie nur ohne Furcht Ihre Gedanken mit!«

»Monseigneur, wenn Sie König sind –« – »Wann werde ich es sein?« – »Morgen abend – das heißt, im Laufe der Nacht.« – »Wie werde ich es werden? Erklären Sie mir erst das!« – »Wenn ich eine weitere Frage an Eure Königliche Hoheit gerichtet haben werde. Ich sandte Ihnen ein Heft mit sorgsam zusammengestellten Aufzeichnungen, aus denen Eure Hoheit von Grund aus alle Personen kennen lernen sollten, die Ihren Hof bilden werden.« – »Ich habe diese Notizen so aufmerksam durchgelesen, daß ich sie auswendig weiß. Ich glaube, Anna von Oesterreich, meine Mutter, vor mir zu sehen. Ich kenne Henriette von Stuart, ich kenne die Lavallière.« – »Vor ihr nehmen Sie sich in acht, Hoheit,« sagte Aramis, »die Augen einer liebenden Frau sind schwer zu täuschen.« – »Ich kenne Saint-Aignan und Fouquet – und Colbert, dessen Todfeind. Mit dem letzteren brauche ich mich nicht viel zu beschäftigen; er soll alsbald verbannt werden. Ich kenne meine Lektion gut, wie Sie sehen, und mit Gottes und Ihrer Hilfe werde ich keinen Fehler machen. Dann ist da noch der Kapitän der Musketiere, Herr d’Artagnan. Soll er auch verbannt werden?«

»Keineswegs, er ist mein Freund,« antwortete d’Herblay. »Zu gelegener Zeit werde ich ihm alles sagen. Einstweilen müssen wir vor ihm auf der Hut sein; denn wittert er etwas, so werden wir beide verhaftet und getötet.« – »Ich werde bedachtsam sein. Was soll mit Herrn Fouquet geschehen?« – »Er bleibt Ober-Intendant.« – »Soll er nicht erster Minister werden? Ein so unwissender König wie ich, wird einen haben müssen.« »Eure Majestät brauchen einen Freund.« – »Ich habe nur einen, und das sind Sie. Deshalb werden Sie mein erster Minister sein.« – »Nicht alsbald, Monseigneur, denn das würde Aufsehen erregen. Es ist besser, Eure Majestät machen mich erst zum Kardinal und dann zum Minister.«

»In zwei Monaten wird es geschehen,« antwortete Philipp. »Doch Sie würden mich betrüben, wenn das alles wäre, was Sie von mir zu verlangen haben.« – »Ich wage in der Tat auch noch mehr zu hoffen, Monseigneur,« sprach Aramis. »Der große Richelieu tat sehr unrecht daran, daß er sich anmaßte, Frankreich allein zu regieren. Er ließ auf diese Weise zwei Könige auf dem Throne sitzen, während er doch sehr gut einen Thron ganz für sich hätte haben können. Der Kardinal, der erster Minister in Frankreich gewesen ist und sich auf die Hilfe, auf die Fürsprache seines Königs stützen kann, braucht seinem Gebieter nicht den Thron streitig zu machen. Sie werden allein regieren können; Sie werden ein weiser, ein energischer König sein, und infolgedessen wird Ihr Einfluß in meiner Sache entscheidend sein. Ich habe Ihnen den Thron Frankreichs gegeben, Sie werden mir den Thron des heiligen Petrus geben. Und wenn dann Ihre edle, sanfte und doch starke Hand sich mit der Hand eines solchen Papstes vereint, dann wird weder Karl V., der zwei Drittel der Welt beherrschte, noch Karl der Große, der sie ganz beherrschte, an Ihre Macht heranreichen. Ich werde als Papst keine Vorurteile verfechten, keine Intrigen spinnen, keine Familienkriege anzetteln, keine Verfolgung von Ketzern befehlen; ich werde sprechen: Uns beiden die Welt: mir für die Seelen, Ihnen für die Leiber! – Was sagen Sie zu meinem Plane, Monseigneur?«

»Sie machen mich stolz und glücklich. Ja, Sie sollen Kardinal sein, dann erster Minister, und dann werden Sie mir angeben, was ich zu tun habe, um Ihre Wahl zum Papst zu sichern. Verlangen Sie Garantien?«

»Nein. Ich werde jederzeit zu Ihrem Vorteil handeln; wenn ich steige, wird auch Ihnen eine noch höhere Stufe bereitet sein. Ich werde mich Ihnen fern genug halten, um nicht Ihren Neid zu erwecken, und doch nahe genug, um Ihnen förderlich zu sein. Unsere Interessen sind wechselseitig.«

»Und mein Bruder wird verschwinden?« – »Auf die einfachste Weise. Wir holen ihn aus dem Bette, indem wir durch die Diele, die dem Druck des Fingers nachgibt, zu ihm hinabsteigen. Eingeschlafen unter einer Krone, wird er im Gefängnis erwachen.« – »Hier meine Hand, d’Herblay!« – »Erlauben Sie, daß ich vor Ihnen knie, Majestät! Umarmen werden wir uns an dem Tage, wo uns beiden die Stirn geschmückt ist, Ihnen mit der Krone, mir mit der Tiara.« – »Umarmen Sie mich heute schon!« rief Philipp, »und seien Sie für mich mehr als ein großer, erhabener Geist – seien Sie mein Vater!«

Als Aramis diese Worte hörte, hätte ihn beinahe die Rührung übermannt. Er glaubte in seinem Herzen eine bisher ungekannte Regung zu verspüren; doch es war ein flüchtiges Wallen, das ohne Spur vorüberging. – »Dein Vater,« dachte er, »ja, dein heiliger Vater!« – Und sie kehrten in den Wagen zurück und fuhren nach Schloß Vaux.

  1. Ad majorem dei gloriam (zum größern Ruhme Gottes): der Wahlspruch des Jesuitenordens.

5. Kapitel. Aufklärungen

So war denn Luise von Lavallière wieder am Hofe der Herzogin von Orléans. Außer den Eingeweihten wußte niemand etwas Genaues über ihre Zurückberufung zu sagen; ja man wußte nicht einmal bestimmt, ob sie wirklich verstoßen worden sei. Die Montalais, Malicorne, Saint-Aignan und der Kapitän der Musketiere hüteten sich wohl, mit ihrer Mitwissenschaft zu prahlen. Ebenso schwieg Madame über ihre Unterredung mit dem König und teilte niemand mit, auf welche Weise die Einigung zustande gekommen war. Die Erkenntnis, um welch gefährliches Geheimnis es sich hierbei handelte, ging bei den Höflingen und Hofdamen sogar so weit, daß sie nicht einmal Vermutungen anzustellen wagten. Man huldigte der Lavallière – aber man sah nichts von der Leidenschaft des Königs; man bemerkte den Zorn der Herzogin von Orléans, aber man wußte nichts über die Ursache.

Madame hatte nachgegeben, aber deshalb war Ludwig, der Liebende, seinem Ziele nicht um einen Schritt näher gekommen. Im Gegenteil! denn Madame hatte es sich in den Kopf gesetzt, ihm alle möglichen Schwierigkeiten in den Weg zu legen und ihm eine Zusammenkunft mit der Lavallière so gut wie unmöglich zu machen, sofern er es nicht auf einen offnen Affront ankommen lassen wollte. Ludwig war außer sich; er durchschaute alle ihre Machinationen und konnte doch nichts dagegen tun. Nach außenhin blieb sein Verhältnis zu seiner Schwägerin auf dem Boden der Höflichkeit, ja der Freundschaft, und doch gab es keine größere Feindschaft, als diese beiden Herzen, das eine in seiner Eifersucht, das andere in seinem Liebesdurst, gegeneinander hegten.

Aber zum Glück hatte Ludwig XIV. zwei Helfershelfer, die, ohne daß er sich durch die geringste Andeutung zu kompromittieren brauchte, das Verlangen seiner Seele erkannten und mit allen Mitteln zu befriedigen strebten. Malicorne, der ehrgeizige Freund der Montalais, wollte Karriere machen und erblickte in einem Kuppeldienst zwischen Ludwig und Luise das sicherste Sprungbrett. Da die Person des Königs ihm noch unerreichbar war, wandte er sich mit seinen Ratschlägen an Saint-Aignan, dem nichts mehr am Herzen lag, als seinen königlichen Herrn zufriedenzustellen. Der gute Hofmeister aber war von Natur ein wenig zaghaft und mußte ja in seiner Stellung auch scharf auf der Hut sein, um jede schiefe Situation zu vermeiden. Da kam ihm der findige Kopf Malicornes, der nie um Auskunftsmittel verlegen war, sehr zupaß, und ihren beiderseitigen Bemühungen konnte der glückliche Erfolg nicht lange fernbleiben, zumal Malicorne wiederum in der Montalais einen trefflichen Beistand hatte.

Madame ließ die Montalais und die Lavallière unmittelbar neben ihrem Schlafzimmer logieren, und nun begann die Montalais plötzlich im Traum zu sprechen, zu weinen, zu schreien, so daß Madame keine Nacht mehr ungestört schlafen konnte. Nervös wie sie war, schalt sie alle Morgen darüber, aber es half nichts; sie mußte die von ewigem Alpdrücken geplagte Montalais ausquartieren. Da es nun Vorschrift war, daß die Ehrenfräulein zu zweien in einem Zimmer schliefen, und die Montalais bisher stets die Lavallière zur Gefährtin gehabt hatte, so folgte Luise ihr nach. Man war in Verlegenheit um ein geeignetes Zimmer und fand schließlich eins unmittelbar über dem Gemach, das im Palast dem Herrn Grafen von Guiche eingeräumt war. Das war Madame aus gewissen Gründen sehr lieb; sie hatte in letzter Zeit begonnen, die Montalais zu ihrer Vertrauten zu machen, und hielt es für praktisch, diese Dame so nahe bei dem Grafen Guiche wohnen zu lassen. Allein der Graf war noch immer krank und konnte das Haus, in das man ihn als Verwundeten gebracht, noch nicht verlassen. Sein Zimmer, das zu ebner Erde lag, stand also leer.

Nachdem die beiden Ehrenfräulein in dem ersten Stockwerk einquartiert worden waren, stattete nun Saint-Aignan Herrn von Guiche einen Besuch ab, überbrachte ihm die Grüße des Königs und bat den Grafen, ihm einstweilen sein Palastzimmer einzuräumen. Graf Guiche hatte nichts dagegen, und der Hofmeister siedelte über und wohnte nun unter Fräulein von Lavallière. Das alles war auf Betreiben Malicornes geschehen, und Malicorne, der erfinderische, ging noch weiter. Er besprach sich mit einem Klempner und einem Tischler, die man mit verbundenen Augen in Saint-Aignans Zimmer führte. Während Madame mit ihren Damen einen Ausflug machte, gingen die beiden Handwerker an die Arbeit, stellten eine von dem unteren zum obern Zimmer führende Treppe her und brachten in der Decke eine Falltür an, deren Mündung im Parkett des oberen Fußbodens so sorgsam eingepaßt wurde, daß selbst ein mit solchen Geheimnissen vertrautes Auge nichts entdecken konnte. Vor die Falltür wurde noch ein Wandschirm gerückt, dessen Aufstellung niemand wundernehmen konnte, da es nur in der Ordnung war, daß sich die Damen einen kleinen Raum absonderten, der ihnen als Boudoir dienen konnte.

Die Falltür war auf beiden Seiten durch eine geräuschlos spielende Feder zu öffnen und zu schließen. Wenn nun auch das Zimmer der Lavallière stets der Kontrolle unterlag und niemals ein sicherer Aufenthalt für die Liebenden war, so konnten sie doch um so ungestörter zusammen sein, wenn die Lavallière sich in Saint-Aignans Zimmer begab. Der König war entzückt über die Anordnungen, die getroffen worden waren, die Bedenklichkeiten der Lavallière wurden leicht überwunden, und Ludwig sah sich am Ziel seiner heißesten Wünsche. Er konnte sich täglich mit ihr treffen, und seine beiden Helfershelfer waren diskret genug, ihn mit der Geliebten allein zu lassen.

Eines Tages ruhte sie wieder an der Brust ihres königlichen Geliebten. Eine süße Trunkenheit nahm beider Sinne gefangen, seliges Vergessen senkte sich über sie herab; für ihre Inbrunst war die Welt nicht mehr vorhanden, bis plötzlich die Lavallière erschrocken auffuhr. – »Sire, es klopft oben!« stammelte sie. »Ludwig, Ludwig, hören Sie nicht? man erwartet mich.« – »Wenn wir nur zusammen sind,« antwortete er, sie wieder an sich ziehend, »so mögen die andern warten.« – »Nein, nein,« rief sie und machte sich gewaltsam los, »ich höre die Stimme der Montalais.« Und sie eilte die Treppe hinauf, schlüpfte durch die Falltür und erschien hinter dem Wandschirm.

»Schnell, schnell!« rief die Montalais. »Er kommt herauf.« – »Wer denn?« – »Er! O, das habe ich vorausgesehen!« – »Aber wer denn?« stammelte Luise totenbleich. »Du marterst mich zu Tode.« – »Wer? fragst du noch?« antwortete ihre Freundin. »Bragelonne!« – Luise stieß einen furchtbaren Schrei aus. – Im selben Augenblick wurde die Tür aufgestoßen, und Rudolf erschien auf der Schwelle. »Ja, da bin ich, Luise!« rief er. »O, ich wußte es wohl, Sie lieben mich noch immer!«

Luise starrte ihn an, barg das Gesicht in den Händen und stammelte in wimmerndem Tone: »Nein, nein! kommen Sie mir nicht nahe!« – Rudolf blieb stehen, wie angewurzelt, wie erstarrt. – Die Montalais warf einen scheuen Seitenblick nach dem Wandschirm und flüsterte: »Die Unvorsichtige! Nicht einmal die Falltür hat sie hinter sich geschlossen.« – Sie wollte hinter den Schirm schlüpfen, da stürzte aus der Oeffnung der König hervor, kniete vor Luise nieder und schlang die Arme um ihre Knie. Er hatte Rudolf nicht gesehen – aber Rudolf sah und erkannte ihn, stob, wie vom Blitz getroffen, zurück und sprang die Treppe hinab. Nun hörte der König die Tritte und lief nach dem Korridor, allein Bragelonne verschwand, ehe Ludwig ihn sehen konnte.

Betäubt, erschreckt, wie von Sinnen, stürzte Rudolf davon. Er hatte den König zu den Füßen Luisens gesehen. Konnte er nun noch zweifeln? Nein! es war offenbar, alle Gerüchte, die ihn in Schrecken gesetzt hatten, beruhten auf Wahrheit. Luise war die Geliebte Ludwigs XIV. Obwohl nun eigentlich jede Frage überflüssig war, so begab er sich doch zu Herrn von Guiche, um ihn zu fragen, was er davon wisse. – »Guiche ist mein Freund,« sagte sich der Unglückliche, »er hat mir geschrieben, er muß mir etwas sagen können, und er wird mir nichts verheimlichen.« – Denn das eine war ihm ja noch ein Rätsel: wie der König so plötzlich im Zimmer Luisens hatte erscheinen können.

Graf Guiche trug noch den Verband, war aber bereits außer Bett. Er umarmte seinen Freund, er erzählte ihm, was ihm geschehen, er erging sich in allerlei Fragen nach Rudolfs Aufenthalt in London und war sichtlich beflissen, das Gespräch von dem Thema fernzuhalten, das Rudolf so sehr am Herzen lag. Endlich jedoch mußte er ihn die heikle Frage stellen lassen. »Sie haben mich hergerufen, Graf Guiche. Was haben Sie mir zu sagen?« – »Ich kann Ihnen nichts sagen,« antwortete der Graf. – »Mein Freund, wenn Sie etwas wissen, warum verhehlen Sie es mir?« versetzte Rudolf. »Wenn Sie nichts wissen, warum schrieben Sie mir?« Und er erzählte ihm ausführlich, was ihm soeben geschehen war. Aber Graf Guiche schüttelte nur traurig den Kopf. »Ich fühle mit Ihnen, Bragelonne,« sagte er, »ich kann mir denken, wie angstvoll Sie nach Aufklärung verlangen – doch ich kann sie Ihnen nicht geben. Fordern Sie nichts mehr von Ihrem unglücklichen Freunde.«

»Sie meinten, Guiche, wenn ich käme, würde ich sehen, nicht wahr? Nun, ich habe gesehen – ich sah Luise in Verwirrung – ich sah den König – nicht wahr, es ist der König?« – »Ich sage nichts darauf,« antwortete Guiche abermals. – »Guiche, Guiche, Sie bringen mich ins Grab!« stöhnte Bragelonne. »Reden Sie doch, Sie sehen ja, mein Herz verblutet.« – »Mein lieber Freund,« antwortete der Graf, »was ich Ihnen sagen könnte, erfahren Sie vom ersten Besten, den Sie fragen. Mehr kann, mehr darf auch ich nicht sagen. Wollen Sie, daß ich mich durch ein unbesonnenes Wort in die Bastille bringe? Meine Pflicht war, Ihnen Nachricht zu geben, das habe ich getan. Wachen Sie nun selbst über Ihre Angelegenheit!«

Ein Lakai trat ein. »Man erwartet den Herrn Grafen im Porzellankabinett.« Graf Guiches Antlitz leuchtete auf. – »O,« murmelte Rudolf, als der Graf gegangen war, »ich schalt Madame eine Kokette. Aber in ihren guten Stunden liebt sie doch wenigstens und macht Guiche zum glücklichsten der Menschen! – Ich gehe zu d’Artagnan! er ist mein Freund und war noch nie einer von denen, die hinterm Berge halten.«

Der Kapitän war außer Dienst und saß in seinem Zimmer. Er las einen Brief, den er von Athos erhalten und der sich mit derselben Person beschäftigte, die jetzt, aufgeregt, mit fiebernder Stirn und kochendem Blute, zu ihm hereintrat. – »Rudolf, mein Junge!« rief d’Artagnan und drückte ihn stürmisch an die Brust. »Wie schön, daß du ha bist! Hat der König dich zurückgerufen?« – »Nein, ich bin so gekommen!« erwiderte Rudolf dumpf. – »Was?« brummte der Gaskogner und sah Rudolf vielsagend an. »Zurück ohne Befehl des Königs? Das verstehe ich nicht. Und was machst du für eine Leichenbittermiene? Hat man dir in England die Laune verdorben? Potzblitz! auch ich war in England und kam lustig wie ein Fink zurück. Was hast du für Verdruß?«

»Mein Gott, das wissen Sie doch recht gut, Herr d’Artagnan!« rief Rudolf. – »Woher soll ich denn das wissen?« versetzte der Chevalier. – »O, Herr d’Artagnan,« sagte Bragelonne. »Ich bin kein witziger Kopf wie Sie, und jetzt überhaupt bin ich wie zerschlagen, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Helfen Sie mir.« – »Was fehlt dir denn aber?« – »Fräulein von Lavallière betrügt mich,« stieß Rudolf hervor. – »Wer hat dir das gesagt?« antwortete der Gaskogner trocken.

»Alle Welt.« – »Dann muß ja was Wahres dran sein,« brummte der Kapitän. »Wenn ich Rauch sehe, so glaube ich, daß es wo brennt. Allein ich menge mich nicht gern in solche Sachen, dafür kennst du mich.« – »Auch nicht für einen Freund, für einen Sohn?« rief Rudolf.– »Da du mein Freund bist, so will ich dir sagen,« antwortete d’Artagnan, aber er schlug sich auf den Mund und knurrte: »Nein, ich will dir nichts sagen. Wie geht es Porthos?«

»Herr d’Artagnan,« rief Rudolf, »im Namen der Freundschaft, die Sie mit meinem Vater verbindet –!«

»Teufel, die Neugierde plagt dich gewaltig.« – »Ich schwöre es Ihnen, es ist nicht Neugierde, es ist Liebe. Ich liebe Fräulein von Lavallière bis zum Wahnsinn.«

»Unmöglich! Du bist wie alle jungen Leute, du bist närrisch. Ein wirklich verständiger Mann läßt sich von seinem Herzen, ob es noch so gärte, nie vom rechten Wege abbringen. Potz Wetter! Wenn ich dir auch etwas sagte, du würdest mich nicht verstehen, und wenn du mich verständest, so würdest du mir doch nicht gehorchen.«

»O, probieren Sie es, Herr d’Artagnan!« flehte Bragelonne. – »Nun denn, so höre!« sprach der Gaskogner, »schnall die Sporen an und reite ein gutes Pferd müde.« – Rudolf wandte sich ab. »Man hat keine Freunde,« sagte er, »nur Spötter und Gleichgültige.« – »Und willst du etwa mein Freund sein, daß du mich zum Schwatzen zwingen möchtest!« rief der Chevalier. »Meinst du denn, wenn ich schon so unglücklich wäre, etwas zu wissen, ich würde so unklug sein, es dir mitzuteilen? Als ob ich nichts weiter zu tun hätte, als mich um Klempner und Tischler zu bekümmern.«

»Um was für einen Klempner? Um was für einen Tischler?« – »Ich weiß nicht. Man munkelt, ein Tischler hätte einen Zimmerboden durchlöchert und eine Treppe mit einer Falltür gemacht, und ein Klempner hätte sie eingesetzt.« – »Ha! im Zimmer der Lavallière, nicht wahr?« – »Du nennst immer wieder diese Person,« versetzte der Gaskogner. »Wer spricht von der Lavallière?«

»Nun, wenn es sie nicht betrifft, was geht es mich dann an?« rief Rudolf. – »Es soll dich ja auch gar nichts angehen. Du fragst nur, und ich gebe Antwort.«

»Das ist zum Sterben!« stöhnte der junge Mann. »Ich werde jemand aufsuchen, der mir die Wahrheit sagen wird.«

»Die Montalais? nicht wahr? Sprich nicht mit ihr, mein Junge. Du würdest nur ein Geheimnis preisgeben, das man zu deinem Schaden mißbrauchen könnte. Warte, wenn du kannst.« – »Ich kann nicht.«

Es klopfte an die Tür. Ein Musketier kam herein. »Ein Fräulein wünscht mit dem Herrn Kapitän zu sprechen.« – »Mit mir?« sprach d’Artagnan verwundert. »Sie trete ein.« Es war die Montalais. – »Ich suchte Herrn von Bragelonne,« sagte sie, »und man wies mich zu Ihnen. – »Ah, das trifft sich gut, Fräulein,« sagte der Chevalier, »er wollte eben zu Ihnen. Nun, so gehen Sie, Rudolf.« Er schob den jungen Mann zur Tür hinaus und flüsterte Aure zu: »Seien Sie gut und schonen Sie seiner!« – »Ah, ich will nicht mit ihm reden,« antwortete sie, »Madame läßt ihn holen.« – »O, das ist gut,« brummte der Kapitän. »Madame wird ihn kurieren.« – »Oder töten,« murmelte die Montalais. »Gott befohlen, Kapitän.«

Und sie lief Rudolf nach, der schon den Korridor entlangschritt. Er küßte ihr die Hand. – »Sie bringen Ihre Küsse da auf verlorenem Boden an,« sagte sie kalt. »Ich bürge Ihnen, sie werden Ihnen keine Zinsen tragen.« – »Aber Sie können mir doch sagen, Fräulein –«

»Madame wird Ihnen alles sagen,« antwortete sie. »Zu ihr führe ich Sie. Schleudern Sie nicht so wilde Blicke! Die Fenster haben hier Augen und die Mauern Ohren. Tun Sie mir den Gefallen und reden Sie mit mir recht laut vom Wetter oder vom Leben in England. Ich habe keine Lust, in die Bastille zu spazieren.«

Rudolf ballte die Fäuste, preßte die Zähne aufeinander und sprach kein Wort mehr, bis er vor Madame stand. Reizender als je ruhte Lady Henriette in einem Schlafsessel und spielte in dem seidenen Fell einer kleinen Katze. Sie schien in Träume versunken, die Montalais mußte sie anreden, dann erst sah sie auf und begrüßte Herrn von Bragelonne. – »Sieh da! Zurück aus England. Verlassen Sie uns, Montalais! Sie haben ein paar Minuten für mich übrig, Herr Graf?« – »Mein ganzes Leben gehört Ihrer Königlichen Hoheit,« antwortete Rudolf, der nichts davon erfahren hatte, daß Madame selbst es gewesen, die ihn hatte zurückkommen lassen.

»Herr von Bragelonne,« begann Madame nach kurzem Schweigen, »sind Sie gern zurückgekommen?« – »Und weshalb sollte ich ungern zurückgekommen sein, Hoheit?« antwortete er. – »Ein Mann Ihres Alters und ein so schöner Mann könnte dazu doch immer Ursache gehabt haben,« sagte sie lächelnd. »Oder sollte Gott Amor in England keine Stätte mehr haben?« – »Madame,« erwiderte Rudolf, »Sie wollen mir etwas sagen, und Ihr natürlicher Edelmut veranlaßt Sie, schonend vorzugehen. Nun, schonen Sie mich nicht, ich bin stark genug, alles zu hören – nur die Ungewißheit ist grausam.«

»Grausam auch die Gewißheit,« sagte die Herzogin leise. »Doch weil ich schon anfing – was hat Ihnen Herr von Guiche gesagt?« – »Nichts, Madame.« – »Nichts? Daran erkenne ich ihn; er wollte ohne Zweifel mich schonen. Aber d’Artagnan, von dem Sie eben kommen?« – »Sagte mir ebensowenig wie Guiche, Madame.« – Henriette machte eine Gebärde der Ungeduld. »Aber was der ganze Hof weiß, das wenigstens ist Ihnen bekannt?« – »Mir ist nichts bekannt.« – Henriette fühlte Rührung beim Anblick dieses Mannes, der so traurig und so tapfer war. – »Herr von Bragelonne,« sagte sie, »so will ich denn tun, was Ihre Freunde nicht zu tun wagten. Ich will als Ihre Freundin handeln. Sie tragen da den Kopf eines Ehrenmannes, und den sollen Sie nicht unter dem Spott jedes Witzlings beugen müssen. Hören Sie mich ruhig an!«

Und sie erzählte von jenem Gewitter, bei dem der König mit der Lavallière allein im Walde gewesen, von der Flucht Luisens nach Chaillot und von der Zurückberufung. – »Sie waren der Verlobte des Fräuleins,« schloß sie, »und als solchem teile ich Ihnen noch mit, daß ich heute oder morgen trotz dem König Fräulein von Lavallière fortjagen werde. Ich habe nicht länger Lust, auf die Tränen des Königs und seine verliebten Klagelieder Rücksicht zu nehmen. Mein Haus soll fürder nicht der Schauplatz solcher Umtriebe sein.«

Rudolf neigte den Kopf zur Erde; nur mit aller Kraft vermochte er sich aufrecht zu halten. – »Ich weiß, daß ich da schwere Beschuldigungen ausspreche,« sagte sie in sanfterem Tone, »doch werde ich nicht zaudern, sie Ihnen zu beweisen. Folgen Sie mir.« – Sie schritt mit ihm über den Hof auf die Wohnung der Lavallière zu. Das Schloß war um diese Stunde leer; der König war mit dem Hofstaate nach Saint-Germain gefahren. Madame hatte Unpäßlichkeit vorgeschützt, weil sie diese Gelegenheit benutzen wollte, um mit Bragelonne, um dessen Rückkunft zunächst sie allein wußte, zu sprechen. Sie konnte also sicher sein, die Zimmer der Lavallière und Saint-Aignans leer zu finden.

Mit einem Nachschlüssel öffnete sie die Zimmertür ihres Ehrenfräuleins. Sie traten ein und schlossen hinter sich zu. – »Sie wissen, wo Sie sind?« fragte Lady Henriette. – »Ich erkenne das Zimmer wieder,« antwortete er. »Es ist das des Fräuleins.« – Die Prinzessin schritt zu dem Wandschirm, rückte ihn beiseite und bückte sich zum Fußboden nieder. Ein Fingerdruck – und Rudolf sah eine Falltür aufspringen, die eine Treppe enthüllte. – »Sehr sinnreich, nicht wahr?« rief sie. »Der Druckknopf ist kaum zu erkennen. Beim vierten Blatt des Parketts, wo sich ein Knoten im Holz befindet. Die Feder spielt sehr leicht, damit auch eine kleine Damenhand sie in Tätigkeit setzen könne. Folgen Sie mir weiter!«

Und Rudolf stieg mit ihr die Treppe hinab und gelangte in das untere Zimmer, das selbst dem nüchternsten Auge als Treffpunkt eines Liebespaares erscheinen mußte. – »Es ist Herrn von Saint-Aignans Zimmer,« sagte Madame. »Es traf sich zufällig, daß es frei stand, und der Hofmeister des Königs zögerte nicht, hierhin überzusiedeln.«

Bragelonne glaubte, das Herz breche ihm. Er wankte und sank auf einen Stuhl. Sein letzter Zweifel war zerstört, die letzte schwache Hoffnung vernichtet. Das Luftschloß, in dem er seit vielen Jahren schon von Glück und Liebe träumte, stürzte in Trümmer und begrub ihn unter sich. – »Vergebung, Madame!« stammelte er. »Ich weiß, ich sollte in Ihrer Gegenwart mehr Herr über mich sein. Aber möge der Gott des Himmels und der Erde Sie nie mit einem solchen Schlage heimsuchen, wie mich in diesem Augenblick!« – »Herr von Bragelonne,« antwortete sie, »es wäre mir schmerzlich gewesen, Ihr ganzes Leben durch Treulosigkeit verbittert, durch Hohn befleckt zu sehen. Deshalb rief ich Sie aus London zurück – ja! ich selbst schrieb an meinen Bruder in dieser Sache. Hier habe ich Ihnen nun die Beweise geliefert die Sie heilen müssen, so schwer die Operation auch sein mag. Aber Sie werden sie bestehen, wenn sie ein Mann von Mut und kein weinerlicher Amadis 12 sind. Danken Sie mir nicht – denn ich tat es selbst nur sehr ungern – und dienen Sie um nichts weniger Ihrem König.«

»Ah, ich vergaß es fast,« murmelte Bragelonne düster, »es ist ja der König, mein Gebieter!« – »Und deshalb handelt es sich für Sie um Leben und Freiheit!« setzte Madame hinzu. – Ein flammender Blick Rudolfs verriet der Herzogin, daß der junge Mann nach beidem nicht mehr fragte. – »Seien Sie auf der Hut, Herr Graf,« sagte sie. »Wägen Sie Ihre Handlungen sorgsam ab, bringen Sie den König nicht in Zorn, Sie würden damit sich und die Ihrigen ins Unglück stürzen. Beugen Sie sich – heilen Sie sich!« – »Dank, Madame!« erwiderte der junge Mann. »Noch eine Frage! Wie haben Sie das Geheimnis dieser beiden Zimmer entdeckt?« – »Das war sehr einfach. Ich habe stets doppelte Schlüssel zu den Gemächern meiner Damen, um sie jederzeit überwachen zu können,« antwortete Lady Henriette. »Nun wunderte es mich, daß die Lavallière sich so oft auf ihr Zimmer zurückzog, daß Saint-Aignan eine andere Wohnung nahm, und zwar merkwürdigerweise gerade unter der Lavallière, und daß an der Tagesordnung bei Hofe manches auffallenderweise geändert wurde. Ich mag dem König nicht zum Spielball dienen; ich mag nicht den Deckmantel für seine Liebschaften hergeben; denn nach der weinerlichen Lavallière wird es die übermütige Tonnay-Charente sein, das sehe ich schon kommen. Das ist keine meiner würdige Rolle. Deshalb entdeckte ich das Geheimnis, indem ich die Handwerker bestach, die hier gearbeitet haben. Und nun entschuldigen Sie mich. Ich hatte eine Pflicht zu erfüllen und habe es getan. Sie sind gewarnt, bringen Sie sich nicht in Gefahr. Der Sturm steht über unsern Häuptern.«

»Erwarten Sie nicht, daß ich die Schmach, die man mir antut, ohne Widerrede hinnehmen werde!« versetzte Rudolf stolz. – »Sie sind Herr Ihrer Entschlüsse,« antwortete sie. »Nur nennen Sie die Quelle nicht, aus der Sie die Wahrheit schöpften.« – »Fürchten Sie nichts, Madame,« sagte Bragelonne mit bitterm Lächeln. Darauf riß er ein Blatt Papier aus seinem Notizbuch und schrieb darauf die folgenden Worte: »An den Grafen von Saint-Aignan. – Herr Graf! Sie werden den Besuch eines meiner Freunde erhalten. Rudolf Vicomte von Bragelonne.« – Er rollte den Zettel zusammen und schob ihn in den Spalt der zum Zimmer der beiden Liebenden führenden Tür. Auf dem Treppenabsatz verließ ihn Madame, und während sie in ihre Gemächer zurückeilte, sprach sie bei sich: »Hätte ich gewußt, wie nahe es ihm ginge, ich würde diesem armen Menschen die Wahrheit verschwiegen haben.«

  1. Der Held eines sentimentalen Ritter- und Liebesromans und Typus des empfindsamen, unglücklichen Liebenden.

6. Kapitel. Männerstolz vor Königsthronen

Ludwig XIV. hatte die Herren Fouquet und Colbert entlassen. Er fertigte die Staatsgeschäfte jetzt immer etwas rasch ab, um desto mehr Zeit für die Lavallière übrig zu haben. Mit Ungeduld wartete er auf Saint-Aignan, die einzige Person, mit der er von ihr sprechen konnte. – »Ah, Sie sind es, Graf!« rief er hocherfreut, als der Hofmeister eintrat. »Fouquet hat mich eben abermals nach Vaux eingeladen; und Sie werden mit von der Partie sein.« – »Ja, Majestät, wenn ich bis dahin nicht eine andere Partie machen muß, nämlich die Fahrt zum Styx,« antwortete der Kavalier. »Im Ernst, Sire! Ich bin dazu eingeladen worden, und zwar auf eine Weise, daß ich gar nicht weiß, wie ich davon loskommen soll.« – »Was willst du damit sagen?« fragte der König, betroffen über den Ton, den der Hofmeister anschlug. – »Damit will ich sagen, daß ich eine Forderung auf Pistolen von dem Vicomte von Bragelonne erhalten habe,« antwortete der Graf.

»Vom Vicomte von Bragelonne!« rief der König in höchster Bestürzung. Dann schwieg er, wischte sich den Schweiß von der Stirn und murmelte: »Von Bragelonne, dem Verlobten des Fräuleins von …« – »O, mein Gott, ja,« versetzte Saint-Aignan, »von dem Verlobten des Fräuleins von …« – Doch auch ihn unterbrach der König, ehe er aussprechen konnte. »Er war doch aber in London.« – »Ich weiß, indessen ist er jetzt in Paris, das heißt bei dem Kloster der Franziskaner, wo er auf mich wartet.« – »Also weiß er alles?« stieß der König hervor. – »Es scheint so,« sagte der Hofmeister. »Dieses Briefchen hier, in dem er mir den Besuch seines Sekundanten anmeldet, läßt es vermuten; denn ich fand es im Schloß der Tür, die zu dem Treppenzimmer führt.« – »So ist unser Geheimnis entdeckt!« rief der König achselzuckend. »Wie mag er dorthin gekommen sein?« – »Majestät, nur auf dem Wege der Treppe selbst – vom obern Zimmer durch die Falltür zum unteren Zimmer. Es ist gar nicht anders möglich!« setzte er hinzu, als der König Zweifel äußerte.

»Dann hat jemand das Geheimnis verkauft,« meinte Ludwig. – »Verkauft oder verschenkt,« sagte der Hofmeister. – »Wieso verschenkt?« – »Weil es gewisse Personen gibt, Sire, die zu hoch stehen, um sich wie Verräter bezahlen zu lassen.« – »Das geht auf Madame, nicht wahr?« fragte der König. »Und so meinst du, meine Schwägerin hätte Bragelonne von allem unterrichtet? Vielleicht gar ihn begleitet, ihn ins obere Zimmer geführt und von dort –?« – »Und von dort ins untere Zimmer, jawohl, Majestät,« antwortete Saint-Aignan. »Wissen Sie, Sire, ob Madame die Parfüms liebt?« – »Sie bevorzugt Eisenkraut,« sagte der König. – »Nun, und mein Zimmer hat nach Eisenkraut geduftet,« sprach der Hofmeister. »Doch, Majestät, die Stunde rückt heran; das Geheimnis soll in der Brust dessen sterben, der es sich angeeignet hat. Man muß gegen den Streich, den man uns gespielt hat, andere Streiche führen.« – »Ja, doch nicht von der Art, wie man sie im Walde von Vincennes führt,« antwortete der König streng.

»Majestät vergessen, ich bin ein Edelmann und gefordert worden,« versetzte der Kavalier. »Ich bin ehrlos, wenn ich ausbleibe.« – »Die größte Ehre eines Edelmannes ist der Gehorsam gegen seinen König,« entgegnete Ludwig XIV. »Du bleibst!« – »Sire!« – »Gehorche!« – »Eure Majestät haben nur zu befehlen.«

»Ich werde jetzt untersuchen, wer dieses kecke Spiel mit mir zu treiben sich erdreistet hat,« rief Ludwig zornig, »wer so frech in das Heiligtum der Dame gedrungen ist, die von mir geliebt wird. Das geht aber nicht dich an, denn man hat nicht deine Ehre angegriffen, sondern die meinige. Es ist hohe Zeit, gewissen Leuten zu zeigen, daß ich hier Herr im Hause bin.« – Kaum hatte der König diese Worte gesprochen, so trat ein Türhüter ein und sprach: »Majestät hatten befohlen, den Grafen de la Fère jederzeit vorzulassen, sobald er um Gehör bäte. Der Graf de la Fère ist hier und wartet.« – »Der Vater Bragelonnes,« murmelte der König und sah Saint-Aignan an. Doch nur einen Augenblick war er unentschlossen, dann sagte er: »Saint-Aignan, geh zu Luise und sage ihr, was geschehen ist, daß Madame abermals die Verfolgung aufnimmt und Leute ins Treffen führt, die besser daran täten, neutral zu bleiben. Wenn sie sich fürchtet, so sage ihr, die Liebe ihres Königs sei ein undurchdringlicher Schild, und ich würde sie diesmal nicht nur verteidigen,« setzte er, vor Zorn erglühend hinzu, »sondern rächen, und zwar so streng, daß fortan niemand mehr wagen wird, auch nur die Augen bis zu ihr zu erheben.« – »Ist das alles, Sire?« – »Ja, das ist alles, und bleibe mir treu, du, der du mitten in dieser Hölle stehst, ohne wie ich durch die Freuden des Paradieses entschädigt zu werden.« – Saint-Aignan küßte dem König die Hand und ging strahlend fort.

Ludwig faßte sich, um dem Grafen de la Fère ruhig gegenüberzutreten. Er fühlte voraus, daß eine heikle, schwierige Unterredung bevorstand. Athos, im Galaanzug, jenen Orden auf der Brust, den er allein am Hofe von Frankreich zu tragen berechtigt war, trat so ernst und feierlich ein, daß der König auf den ersten Blick erkannte, seine Ahnungen würden sich erfüllen. Er ging dem Grafen entgegen und reichte ihm lächelnd die Hand, auf die Athos sich voll Ehrerbietung niederbeugte.

»Herr Graf,« sprach der König, »Sie machen sich so selten, daß ich es als ein Glück betrachte, Sie bei mir zu sehen.« – Athos verneigte sich und antwortete: »Ich wünschte das Glück zu haben, stets bei Eurer Majestät sein zu können.« Und in dem Ton dieser Antwort lag der Zusatz: »Mein Rat würde Sie dann vor Fehltritten bewahren.« – Der König fühlte das, biß sich auf die Lippe und sprach: »Ich sehe, Sie haben mir etwas zu sagen.« – »Jawohl, denn sonst hätte ich es mir nicht erlaubt, die Zeit Eurer Majestät in Anspruch zu nehmen.«

»So reden Sie schnell,« antwortete der König und setzte sich, »es drängt mich, Sie zufriedenzustellen.« – »Ich bin überzeugt,« antwortete Athos, »Eure Majestät werden mir alle Genugtuung erweisen.«

»Wie?« rief der König stolz. »So haben Sie eine Beschwerde zu führen –« – »Es wird nur dann eine Beschwerde sein,« antwortete Athos, »wenn Eure Majestät – doch Verzeihung, Sire, ich will die Sache von vorn beginnen. Majestät werden sich erinnern, daß ich vor einiger Zeit die Ehre hatte, Sie um die Einwilligung zur Verheiratung meines Sohnes, des Grafen von Bragelonne, mit Fräulein von Lavallière zu bitten.« – »Da wären wir schon!« dachte der König. »Ja, ich erinnere mich,« sagte er laut. – »Und Majestät schlugen die Bitte ab,« fuhr Athos fort, »mit der Begründung, die Braut sei zu geringen Ranges, zu arm an Geld sowohl wie an Konnexionen und auch,« setzte de la Fère unerbittlich hinzu, »nicht schön genug.« – »Mein Herr, Sie haben ein sehr gutes Gedächtnis,« sprach der König. – »Das habe ich immer,« erwiderte Athos, ohne sich aus der Fassung bringen zu lassen, »wenn mir die große Ehre zuteil wird, mit dem König zu sprechen.«

»Ihr gutes Gedächtnis wird Ihnen dann auch ohne Zweifel noch sagen,« entgegnete Ludwig, »daß Sie selbst diese Verbindung nicht wünschten und die Bitte widerwillig an mich richteten.« – »Das ist wahr, Majestät.« – »Ich erinnere mich sogar noch recht gut Ihrer eigenen Worte: ›Ich glaube nicht daran,‹ sagten Sie, ›daß Fräulein von Lavallière Herrn von Bragelonne liebt.‹ War es so?«

Athos empfand den Hieb. Aber er wich nicht zurück. »Das war so,« antwortete er. »Majestät erklärten damals, die erbetene Verheiratung solle nur aufgeschoben werden. Herr von Bragelonne ist gegenwärtig so tiefunglücklich, daß er sie nicht länger aufschieben kann. Ich komme daher, um Eure Majestät in seinem Namen jetzt um eine Lösung zu bitten.«

Der König erblaßte. Athos sah ihn fest an. – »Und was verlangt Herr von Bragelonne?« – »Er erneuert seine Bitte um Ihre Einwilligung zu seiner Heirat,« sprach Athos. »Die Schwierigkeiten sind für uns nicht mehr vorhanden. Obwohl ohne Rang, ohne Geburtsadel, ohne Schönheit, ist Fräulein von Lavallière die einzige Partie, die für meinen Sohn paßt, einfach aus dem Grunde, weil er nur sie liebt.« – Der König preßte die Hände ineinander. – »Ich schlage das Gesuch ab,« antwortete er.

De la Fère schwieg einen Augenblick, dann sagte er in sanftem Tone: »Möge es uns nun vergönnt sein, nach der Ursache dieser Weigerung zu fragen?« – Der König stemmte beide Hände auf den Tisch und antwortete mit fester Stimme: »Eine Frage, wenn der König sagt: ich will es so? Sie haben die Sitten des Hofes verlernt, Graf. Den König fragt man nicht um Begründung seines Willens.« – »Das ist richtig, Sire; allein wenn man nicht fragen darf, so vermutet man.« – »Was vermutet man?« rief der König. – »Sire, die Verweigerung einer Auskunft bedeutet einen Mangel an Offenheit,« sprach Athos fest. – »Mein Herr!« – »Oder an Vertrauen,« setzte der Graf rasch hinzu.

»Ich glaube, Sie verirren sich,« sagte Ludwig, der seinen Zorn nicht länger bezähmen konnte. – »Sire, ich muß dann wohl anderswo suchen, was ich bei Eurer Majestät zu finden hoffte. Wenn ich von Ihnen keine Antwort erhalte, muß ich sie mir selber geben.« – Der König erhob sich. »Herr Graf,« sagte er kurz, »ich habe Ihnen jetzt soviel Zeit gewidmet, als ich gerade frei hatte.« – Das hieß in die gewöhnliche Sprache übertragen: »Machen Sie, daß Sie hinauskommen.« – »Majestät,« antwortete Athos, »ich habe gleichwohl noch nicht Zeit gehabt, Ihnen das zu sagen, was zu sagen ich herkam. Ich sehe Eure Majestät so selten, daß ich die Gelegenheit wahrnehmen muß –«

»Sie sprachen von Voraussetzungen, Graf,« sagte Ludwig XIV., »und wollten zu Beleidigungen übergehen –« »Den König beleidigen?« rief der Graf. »Ich? Niemals! Ich habe mein ganzes Leben hindurch den Standpunkt vertreten, daß die Könige über den andern Menschen stehen, nicht nur durch Rang und Macht, sondern durch den Adel ihres Herzens, durch die Stärke ihres Geistes. Ich werde nie der Meinung Raum geben. Majestät verberge in dem Worte, das Sie sprachen, einen Hintergedanken.« – »Was für einen Hintergedanken?«

»Ich werde mich erklären,« antwortete Athos kalt. »Wenn Eure Majestät die von uns gewünschte Heirat aufschieben wollen und, statt das Glück Ihres treuen Dieners, des Grafen von Bragelonne, zu fördern, damit nur den Zweck verfolgen, den Bräutigam des Fräuleins von Lavallière von ihr fernzuhalten –«

»Sie sehen wohl, Sie beleidigen mich.« – »Das habe ich überall sagen hören, Majestät. Alle Welt spricht von der Liebe Eurer Majestät zu Fräulein von Lavallière.« – Der König zerriß seine Manschetten, an denen er seit einigen Minuten ungeduldig zupfte. »Wehe denen,« brach er aus, »die sich in meine Angelegenheiten mischen! Mein Entschluß ist gefaßt, ich greife durch! ich werfe alle Hindernisse nieder!« – Der König hielt plötzlich inne, wie ein Pferd, dem man mit scharfem Ruck Kandare gibt. – »Was für Hindernisse?« fragte Athos ruhig. – »Ich liebe Fräulein von Lavallière,« sprach der König mit ebensoviel Stolz wie Innigkeit.

»Das ist für Eure Majestät kein Hindernis, Herrn von Bragelonne mit ihr zu vermählen,« erwiderte Athos schlicht. »Ein solches Opfer ist eines Königs würdig, und Herr von Bragelonne verdient es, da er ein wackerer Mann ist und sein Leben schon oft für seinen König in die Schanze geschlagen hat. Indem der König seiner Liebe entsagt, beweist er zugleich Edelmut, Erkenntlichkeit und Staatskunst.« – »Aber Fräulein von Lavallière,« versetzte Ludwig, »liebt Herrn von Bragelonne nicht!« – »Das wissen Majestät?« fragte Athos mit einem durchdringenden Blick. – »Ich weiß es.« – »Erst seit kurzem jedenfalls. Denn hätten Majestät es schon bei unserer ersten Unterredung gewußt, so würden Sie es mir gesagt haben.« – »Erst seit kurzem.«

Nach einem peinlichen Schweigen sprach Athos: »Ich begreife nicht, weshalb Majestät Herrn von Bragelonne nach London sandten. Diese Art von Verbannung befremdet mit Recht alle, denen die Ehre ihres Königs am Herzen liegt.« – »Wer spricht von der Ehre des Königs?« rief Ludwig. – »Die Ehre des Königs, Majestät, ist untrennbar von der Ehre des gesamten Adels. Wenn der König einen seiner Edelleute beschimpft, das heißt, ihm ein Stück seiner Ehre nimmt, so bringt er sich selbst dadurch um dieses Stück Ehre.« – »Herr de la Fère!« – »Majestät haben den Grafen von Bragelonne nach London geschickt, nicht zu einer Zeit, da Sie Fräulein von Lavallière noch nicht liebten, sondern erst als Sie sie liebten!« – Der König wollte Athos mit einer Gebärde verabschieden; doch dieser fuhr fort:

»Majestät, ich gehe von hier nur fort, nachdem mir Genugtuung geworden entweder durch Eure Majestät oder durch mich selbst. Und Genüge wird mir getan sein, wenn Sie mir bewiesen haben, daß Sie im Recht sind, oder wenn ich Ihnen bewiesen habe, daß Sie im Unrecht sind. O, Sie werden mich anhören, Sire! Ich bin alt, ich halte auf alles, was in Ihrem Königreiche wahrhaft groß und ehrenvoll ist. Ich bin ein Edelmann, der sein Blut für Ihren Vater vergossen hat, und auch schon für Sie, ohne dafür jemals etwas von Ihnen oder von Ihrem Vater verlangt zu haben. Ich habe noch keinem Menschen auf dieser Welt Unrecht getan und habe mir Könige zu Danke verpflichtet. Sie werden mich anhören! Ich verlange von Ihnen Rechenschaft, weshalb Sie einen Ihrer Edelleute an seiner Ehre gekränkt haben, indem Sie ihn in erlogener Sendung fortschickten. Ich weiß, Sie wollen mich meiner Freimütigkeit wegen züchtigen, aber ich weiß auch, welche Strafe ich von Gott für Sie fordern werde, wenn ich ihm Ihren Treubruch und das Unglück meines Sohnes klage.«

Der König durchmaß mit großen Schritten das Zimmer, sein Auge flammte, seine Hand zerknitterte das Spitzenjabot, das seine Brust schmückte. – »Mein Herr,« sprach er, »stände ich Ihnen jetzt als König gegenüber, so würden Sie schon gezüchtigt sein; aber ich stehe vor Ihnen als Mensch, der das Recht für sich beansprucht, die zu lieben, von der er geliebt wird.« – »Fern sei es von mir, Eurer Majestät dieses Recht streitig zu machen,« erwiderte Athos, »das dem ärmsten Ihrer Untertanen zusteht; allein Sie hätten es sich auf ehrliche Weise nehmen und Herrn von Bragelonne davon in Kenntnis setzen sollen, statt ihn zu verbannen.«

»Ich glaube, ich lasse mich hier wirklich dazu treiben, mich zu verantworten,« rief Ludwig XIV. mit jener Majestät, die er in Blick und Stimme so meisterlich auszudrücken wußte. – »Ich hoffte allerdings, Sie würden mir antworten,« sagte de la Fère. – »Sie werden meine Antwort bald genug vernehmen,« rief Ludwig. »Sie haben vergessen, daß Sie den König vor sich haben, das ist ein Verbrechen.« – »Und Sie haben vergessen, daß Sie zwei Menschen umbringen, das ist eine Todsünde.«

»Gehen Sie jetzt!« – »Nicht eher, als bis ich Ihnen gesagt habe, Sohn Ludwigs XIII., Sie fangen Ihre Regierung schlecht an, denn Ihr Anfang ist Raub und Verhöhnung des Gesetzes. Mein Geschlecht und ich selbst sind aller Ihnen schuldigen Zuneigung ledig, und die Achtung vor dem König, die ich bei den Gräbern von Saint-Denis, vor den Särgen Ihrer erlauchten Ahnen meinem Sohn ans Herz legte, ist dahin. Sie sind unser Feind geworden, Sire. Wir haben künftighin nur noch einen Herrn, den da droben. Merken Sie sich das!«

»Sie drohen mir?« – »O, wahrlich nicht,« erwiderte Athos traurig. »Trotz kenne ich ebensowenig wie Furcht. Noch jetzt würde ich für das Wohl der Krone all das Blut verspritzen, das mir eine zwanzigjährige Bürgerfehde und auswärtige Kriege übriggelassen haben. Allein ich sage Ihnen, Sie richten zwei treue Diener zugrunde, indem Sie in dem Vater den Glauben, in dem Sohne die Liebe töten. Der eine glaubt nicht mehr an das königliche Wort, der andere nicht mehr an die Reinheit der Frauen. Der eine ist der Achtung, der andere des Gehorsams ledig. Gott befohlen!«

Nach diesen Worten zerbrach Athos seinen Degen über dem Knie, legte die Stücke auf den Boden und verneigte sich vor dem König, der vor Wut und Beschämung dem Ersticken nahe war. Dann ging er hinaus. Ludwig brauchte ein paar Minuten, um zu sich zu kommen, dann klingelte er ungestüm und rief: »Man schicke mir Herrn d’Artagnan!«

Rudolf hatte vergebens beim Franziskaner-Kloster auf den Grafen von Saint-Aignan gewartet. Als er nach Hause zurückkehrte, fand er einen Brief, in welchem der Graf ihm klar und bündig mitteilte, daß er auf ausdrücklichen Befehl des Königs es sich habe versagen müssen, mit Herrn von Bragelonne zusammenzutreffen. Rudolf wußte nun, woran er war, es war ihm nicht einmal vergönnt, den Diener statt des Herrn zu strafen. »Ohnmächtig! ohnmächtig!« stöhnte er, mit den Zähnen knirschend. »Ich muß den Groll, den Gram hinunterwürgen. Es gibt gegen die Majestät keine Genugtuung, es gibt keine Strafe für einen gekrönten Räuber und Schänder!«

Athos war, wie schon gesagt, von d’Artagnan benachrichtigt worden und nach Paris geeilt; dort kam Rudolf zu ihm und erzählte ihm alles. »Ich glaube nicht daran,« war die Antwort seines Vaters gewesen. »Der König sollte einen Edelmann beschimpfen? Unmöglich! Warte hier, ich werde dir und mir Gewißheit verschaffen.« Und nun war Athos zum König gegangen. Als er nach der Unterredung, die eben mitgeteilt wurde, zu Rudolf zurückkehrte, saß der junge Mann, düster und in Gedanken versunken, noch an derselben Stelle. Er sah auf und erkannte an dem finstern Ausdruck des blassen Gesichts, mit dem sein Vater hereintrat, daß die Zuversicht, mit der er zum König gegangen war, ihn betrogen hatte.

»Du hast recht, mein Sohn,« sprach der Graf de la Fère, »der König liebt sie.« – »Und bekennt es gar?« – »Frei und offen.« – »Und sie?« – »Ich habe sie nicht gesehen.« – »Aber der König hat doch von ihr gesprochen?« – »Ja, und mir beteuert, sie liebe ihn.« – »O, mein Vater!« –»Rudolf, mein Sohn, ich habe dem König alles gesagt, was du ihm sagen könntest, und eindrucksvoller, glaube ich, als du es vermocht hättest. Rudolf, ich habe es ihm ins Gesicht gesagt, zwischen ihm und uns sei nun alles aus, wir seien nicht mehr seine Diener, sondern seine Feinde. Mir bleibt nun nur noch eins zu wissen übrig. Was denkst du zu tun? Hast du deinen Entschluß gefaßt?« – Rudolf ließ die Arme herabsinken. »Mein Vater!« sprach er, »vielleicht gelingt es mir eines Tages, diese Liebe aus meinem Herzen zu reißen. Ich hoffe dabei auf Gottes Hilfe und auf Ihre weisen Ratschläge.« – Athos schüttelte den Kopf und murmelte: »Armes Kind!«

In diesem Augenblick meldete der Lakai Herrn d’Artagnan. Athos erschrak unwillkürlich. Der Musketier trat lächelnd ein. Die beiden alten Freunde wechselten einen raschen Blick, dann trat der Kapitän zu dem jungen Manne. Rudolf sah, unwillkürlich betroffen, von einem zum andern. – »Nun, Athos,« sprach d’Artagnan freundlich, »trösten wir den unglücklichen Burschen.« – »Wollen Sie mir bei dem schwierigen Geschäft helfen?« antwortete Athos. »Sie sind doch immer gütig.« – »Ja, deshalb komme ich,« sagte der Chevalier, Athos die Hand schüttelnd. – »Sie kamen gerade dazu, wie mein Vater mir von seiner Unterredung mit dem König erzählte, Herr Kapitän,« sagte Rudolf, »Sie gestatten wohl, daß er in seinem Bericht fortfahre.«

»Ah, Sie haben mit dem König gesprochen, Athos?«

»Ja, ich komme eben von ihm.« – »Wußten Sie nichts davon, Herr d’Artagnan?« fragte Rudolf. – »Meiner Treu, nein.« – »Nun, das beruhigt mich,« rief Bragelonne, »denn ich fürchtete, mein Vater hätte seiner Liebe und seinem Schmerz zu heftig Ausdruck gegeben, und der König sei dann –« – »Nun, was denn? was denn? Sprechen Sie doch aus, Rudolf,« sagte d’Artagnan. – »Kurz, ich glaubte, Sie kämen nicht als Freund meines Vaters, sondern als Kapitän der Musketiere,« sagte Rudolf. – »Sie sind närrisch, armer Junge!« rief der Gaskogner lachend. »Und nun hören Sie noch einmal meinen Rat: zwingen Sie sich zur Ruhe! Schlafen Sie ordentlich aus und dann reiten Sie, bis Sie wieder schläfrig werden. Das ist die beste Medizin.«

Er zog ihn an sich und umarmte ihn, als sei er sein eigener Sohn. Bragelonne sah die beiden Männer noch einmal an, aber sein forschender Blick ward stumpf an dem lachenden Gesicht des einen und dem ruhigen, sanften Ausdruck des andern. – »Wohin gehst du jetzt?« fragte der Vater. – »Heim,« erwiderte der Sohn. – »So weiß man, wo man dich findet.« – »Glauben Sie, mir bald etwas sagen zu können?« fragte Rudolf. – »Ja, neuen Trost,« antwortete d’Artagnan und schob den jungen Mann zur Tür hinaus.

Rudolf begab sich in seine Wohnung. Unterwegs sah er nicht rechts noch links; sein Blick war in sein eignes Inneres gerichtet, und er suchte in der Nacht seiner Seele den rechten Weg zu finden. – »So ist es denn geschehen!« sprach er bei sich. »Es ist aus – mein Leben hat einen Riß bekommen – ist wie ein Gefäß, das eine böse Hand am Boden zerschellt hat. Es ist nur noch ein Traum, das große Glück, das ich seit zehn Jahren erhofft habe. Liebe und Glückseligkeit soll es für mich nicht geben. O, wenn ich sein könnte wie alle diese Spötter, die mir in den letzten Stunden das Herz zerrissen haben, dann würde ich lachen oder wohl gar meinen Nutzen aus dem allem ziehen. Bah! Was hat mein Vater getan, als er jung war und es ihm ebenso erging? Er hat mir’s oft erzählt: dem Trunk hat er sich ergeben. Warum soll ich nicht auch an die Stelle der Liebe das Vergnügen setzen? Ach, er hat ja aber ebenso gelitten wie ich, vielleicht noch mehr. Die Geschichte des einen Menschen ist die Geschichte des andern Menschen: eine längere oder kürzere Qual. Die Stimme der ganzen Menschheit ist nichts als ein langer Schrei. Ach, Luise, wir sind zusammen gewandelt durch den süßen Jugendmorgen unsers Lebens – und nun kommen wir an einen Kreuzweg, wo unsere Pfade sich scheiden – deiner führt in den Abgrund der Schande, meiner in den Abgrund des Leids. Vernichtet sind wir beide.«

Er langte zu Hause an und trat in sein Zimmer. Eine weibliche Gestalt erhob sich von einem Stuhle, schlug den Schleier zurück und trat vor ihn hin.

»Luise!« schrie er auf und wich zurück. – »Ja, ich bin es,« sagte sie leise. »Ich habe auf Sie gewartet. Ich mußte mit Ihnen reden – ganz allein. Und es muß geheim bleiben, Herr Graf, denn niemand außer Ihnen könnte begreifen, was ich da tue. Ich wage mehr als mein Leben, indem ich zu Ihnen komme. Setzen Sie sich und hören Sie mich an!« Ihre Stimme klang noch immer so süß, ihre Augen blickten noch immer so lieb und sanft. Rudolf preßte die Hand auf die Brust, schüttelte den Kopf und sank auf einen Stuhl. »Reden Sie!« stieß er hervor.

Luise fuhr sich mit einem Taschentuch über die Augen, dann sprach sie: »Rudolf, wenden Sie Ihren gütigen, freien Blick nicht von mir ab, Sie gehören nicht zu den Männern, die eine Frau verachten, weil sie einem andern ihr Herz schenkt. Nein, wenn auch meine Liebe zu jenem andern Sie unglücklich macht und Ihren Stolz verletzt, so werden Sie mich doch nicht verachten.« – Rudolf gab keine Antwort. »Ach, es ist nur zu wahr,« fuhr die Lavallière fort, »meine Sache steht schlecht, ich weiß nicht, wie ich beginnen soll. Ich werde Ihnen ganz einfach erzählen, wie es mir ergangen ist. Ich werde mich streng an die Wahrheit halten und so am besten alle Hindernisse, alles Dunkle überwinden, das sich mir dabei in den Weg stellen wird.« – Sie verstummte abermals, und Rudolf schwieg noch immer.

»O, ermutigen Sie mich doch durch ein einziges Wort!« Doch Bragelonne beharrte in seinem Schweigen, und Luise mußte fortfahren. »Herr von Saint-Aignan ist eben im Auftrag des Königs zu mir gekommen und hat mir gesagt –« dabei schlug sie die Augen nieder – »Sie wüßten alles und zürnten mir, wie es ja wohl auch nicht anders sein kann.« – Rudolf sah das junge Mädchen an – ein verächtliches Lächeln auf den Lippen. – »O, Rudolf, hegen Sie kein anderes Gefühl gegen mich als diesen Zorn!« rief sie aus. »Lassen Sie mich zu Ende sprechen! Fürs erste bitte ich Sie, den großherzigsten und edelsten der Männer, um Verzeihung! Wenn ich Sie auch nicht wissen ließ, was in mir vorging, so war es doch nicht meine Absicht, Sie zu hintergehen. O, Rudolf, ich bitte Sie auf den Knien, antworten Sie mir doch – und müßten Sie mich beleidigen! Lieber ein zorniges Wort als dieses verächtliche Lächeln!«

»So fein Sie auch die Worte spalten, Fräulein,« versetzte Rudolf, sich zur Ruhe zwingend, »ein Betrug bleibt eine Schlechtigkeit, deren ich Sie nicht fähig gehalten hätte.« – »Mein Herr, ich war lange Zeit des Glaubens, nur Sie zu lieben, und solange dieser Glaube währte, habe ich auch erklärt, ich liebte Sie. Der König kam nach Blois – und noch glaubte ich daran. Ich hatte es am Altar beschwören können. Dann aber kam ein Tag, der mir die Augen öffnete.« – »Und an demselben Tage, Fräulein, hätten Sie auch mir die Augen öffnen sollen, wenn Sie ehrlich handeln wollten.« – »An diesem Tage, da ich auf den Grund meines Herzens blickte, da ich eine andere Zukunft vor mir sah und erkannte, daß Sie mir nicht genügen würden, an diesem Tage waren Sie nicht bei mir.« – »Sie hätten schreiben können.« – »Das wagte ich nicht. Ich wußte, wie sehr Sie mich liebten, und zitterte bei dem Gedanken an den Schmerz, den ich Ihnen bereiten würde. Ach, Rudolf, diese Liebe schlug über mir zusammen wie ein Flammenmeer – ich gehörte mir selbst kaum noch – alle meine Gedanken, alle meine Gefühle waren wie ein Feuerbrand. Ich wußte mir selbst keinen Rat. Es ist ja meine einzige Entschuldigung, daß ich diesen andern mehr liebe als mein Leben, mehr als Gott! Verzeihen Sie mir oder zürnen Sie mir in Ewigkeit! Ich kam nicht hierher, mich zu verteidigen, sondern um Ihnen zu sagen: Sie wissen ja, was lieben heißt, nun, und ich liebe jenen andern so, daß ich ihm Leib und Seele opfere! Wenn er einmal aufhört, mich zu lieben, dann wird der Schmerz mich töten!«

»Gut,« versetzte Bragelonne, »Sie haben mir alles gesagt, was Sie mir zu sagen hatten – mehr noch, als ich zu erfahren wünschen konnte. Und nun bitte ich Sie um Vergebung, daß ich ein Hindernis in Ihrem Leben war, daß ich nicht nur mich selbst täuschte, sondern auch Sie veranlaßte, sich zu täuschen. Ich hätte klarer sehen sollen, da ich das Leben schon besser kannte als Sie. Auch ich kann zu meiner Entschuldigung nur meine große Liebe anführen. Luise, ich liebte Sie so innig, daß ich mein Blut tropfenweis für Sie hätte hingeben können, meinen Leib stückweis für Sie zum Opfer hätte bringen mögen. Ich liebte Sie so sehr, daß die Enttäuschung nun mein Herz zermalmt, allen Glauben in mir tötet. Mir ist, als sei ich blind geworden, Luise – die Nacht der Verzweiflung ist um mich her. Sie haben aus mir den unglücklichsten, den letzten der Menschen gemacht. Und nun – Gott befohlen!«

»Nicht, eh‘ Sie mir sagen, daß Sie mir verzeihen!«

»Habe ich es nicht schon getan?« rief er, die Hände vors Gesicht schlagend. »Ich sage Ihnen doch, ich kann nicht anders als Sie allezeit liebbehalten! Und Ihnen das sagen, Luise, Ihnen das in einem solchen Moment sagen, das heißt mein Todesurteil sprechen. Gott befohlen! Wir dürfen in dieser Welt einander nie mehr vor Augen kommen!«

Sie wollte rufen, doch er legte ihr leicht die Hand auf den Mund. Sie wollte diese Hand küssen – und wurde ohnmächtig. Bragelonne rief seinen Diener. – »Tragen Sie diese Dame zu Ihrer Kutsche!« befahl er. Als der Diener sie mit Rudolfs Hilfe aufhob, machte der Unglückliche eine Bewegung, als wollte er sie noch einmal ans Herz drücken, um ihr den ersten und letzten Kuß zu geben. Doch er bezwang sich und murmelte: »Nein! dieses Gut gehört nicht mehr mir. Ich bin nicht der König von Frankreich, daß ich rauben könnte.«

Als Rudolf seinen Vater und d’Artagnan verlassen hatte, sahen die beiden Freunde sich in die Augen. – »Und nun ohne Hehl,« sprach de la Fère, »Sie kommen, mich zu verhaften.« – »Getroffen,« sagte d’Artagnan. »Aber es hat keine Eile. Lassen Sie sich erzählen! Sie gingen gerade die letzten Stufen hinab, als der König mich rufen ließ. Freund, er war nicht mehr rot, er war violett. Ich sah auf dem Boden die Stücke eines zerbrochenen Degens, und nun wußte ich, was die Glocke geschlagen hatte. ›D’Artagnan!‹ schrie er mich an. ›Ich mag mit Herrn de la Fère nichts mehr zu tun haben. Er ist ein frecher Patron.‹ – ›Oho!‹ antwortete ich in einem Tone, über den er erschrak. – ›Kapitän,‹ rief er, ›Sie werden mich anhören und mir gehorchen.‹ – ›Wie es meine Pflicht ist,‹ war meine Antwort. – ›Nehmen Sie einen Wagen und verhaften Sie den Grafen de la Fère!‹ und da ich eine Bewegung machte, setzte er hinzu: ›Wenn es Ihnen nicht paßt, so kann ich auch meinen Gardekapitän rufen.‹ – ›Majestät,‹ sprach ich, ›Dienst ist Dienst, und damit gut! Ich warte nur noch auf den schriftlichen Befehl.‹ Das war dem Herrn nicht genehm, denn er mußte nun diesen Akt der Willkür schwarz auf weiß geben; dennoch schrieb er folgende Order: ›Kapitän d’Artagnan erhält Befehl, den Grafen de la Fère, wo immer er ihn antreffen mag, im Namen des Königs zu verhaften und in die Bastille zu schaffen.‹ So, nun wissen Sie es, alter Freund!«

»Also gehen wir!« antwortete Athos. »Ich habe hier nichts weiter zu besorgen. Erledigen wir die uns beiden widerliche Sache so rasch wie möglich. Muß ich vor oder hinter Ihnen gehen?« – »Wir gehen Arm in Arm.« Und d’Artagnan faßte unter und stieg mit dem Grafen die Treppe hinab. Gleich darauf saßen sie im Wagen, der rasch davonfuhr. – »Wir fahren geradeswegs zur Bastille?« fragte Athos ruhig. – »Wir fahren, wohin Sie wollen,« antwortete der Gaskogner ebenso ruhig. »Denken Sie etwa, ich will Sie dem Kerkermeister übergeben? Da hätte ich den Herrn Gardekapitän schicken lassen, statt selbst zu kommen.« – »Lieber Freund!« rief Athos, den Musketier umarmend, »daran erkenne ich Sie wieder!« – »Wir fahren also, wenn es Ihnen recht ist, zur Barrière du Cours-la-Reine, dort finden Sie ein Pferd – das beste, das ich auswählen konnte – und reiten schnurstracks nach Havre. Ich werde mich vor dem König erst wieder blicken lassen, wenn Ihr Vorsprung so groß ist, daß selbst ich Sie nicht einholen könnte. Von Havre fahren Sie nach England und begeben sich in das hübsche Haus, das General Monk mir zur Verfügung gestellt hat, oder genießen die Gastfreundschaft Karls II. Einverstanden?«

Aber Athos schüttelte den Kopf und antwortete: »Führen Sie mich in die Bastille!« – »Starrkopf!« rief d’Artagnan, »überlegen Sie sich das! Sie sind nicht mehr zwanzig Jahre alt. Ein Kerker ist für Leute in unsern Jahren tödlich. Ich denke nicht dran, Sie in einem Gefängnis schmachten zu lassen.« – »Die Ehre über alles, Freund!« entgegnete de la Fère. »Ich werde stark sein bis zum letzten Seufzer.« – »Das ist nicht mehr Stärke, das ist Wahnwitz.« – »Höchst vernünftig ist es. Glauben Sie mir, ich sorge mich gar nicht drum, daß Sie sich durch meine Rettung zugrunde richten. Ich hätte dasselbe für Sie getan. Entspräche die Flucht meinen Grundsätzen, so würde ich drein willigen. Aber es ist nicht drüber zu reden! und ich kenne Sie zu gut, um zu glauben, daß Sie in meiner Lage anders handeln würden. Mir liegt gerade dran verhaftet zu werden. Ließen Sie mich laufen, so würde ich selbst zurückkommen und mich stellen. Ich will diesem jungen Manne beweisen, daß er den Glanz seiner Krone verdunkelt, daß er nur dann der erste der Menschen ist, wenn er der Edelste und Weiseste ist. Indem er mich einsperrt und bestraft, mißbraucht er seine Gewalt, und ich will ihn fühlen lassen, was Gewissensbisse sind, und daß Gott den Ungerechten schwerer züchtigt, als je ein König einen Menschen züchtigen kann.«

»Bravo, Athos!« rief der Musketier. »Was Sie aus Heroismus tun, das hätte ich aus Dickköpfigkeit getan. Und wenn Sie überzeugt sind, Gott wird Sie rächen, so kann ich Ihnen versichern, ich kenne Leute auf Erden, die Gott dabei zur Hand gehn werden.«

Als sie vor Herrn Baisemeaux, den Gouverneur der Bastille, geführt wurden, war das erste, was sie erblickten: Aramis, der am Tische saß und mit Baisemeaux speiste. Man war allerseits sehr erstaunt, sich hier wiederzusehen. »Ei, welch ein Zufall!« rief d’Herblay sogleich, »wie kommt es nur –?« – »Danach wollten wir eben Sie befragen,« unterbrach d’Artagnan ihn rasch. – »Stellen wir lauter Gefangene vor?« rief Aramis heiter.

»Teufel ja, die Mauern riechen hier sehr nach Kerker,« antwortete der Gaskogner. »Doch nein, ich komme nur, weil Baisemeaux mich mal eingeladen hat, ihn zu besuchen. Sie tun ja, als wenn Sie aus den Wolken fielen, alter Freund!« setzte er hinzu, sich an den Gouverneur wendend, »haben Sie ein so schlechtes Gedächtnis? Sie waren zu mir gekommen und sprachen mit mir über gewisse Verpflichtungen gegen die Herren Tremblay und Louviere. Sie brauchten Geld und fragten nach der Adresse des Herrn d’Herblay.« – »Ah!« rief Aramis dazwischen. »Sie hatten also doch Angst, man würde Sie im Stich lassen, Baisemeaux?« – »Nicht doch, nicht doch!« versetzte der Gouverneur verlegen. »Ich fragte ja nur nach Ihrer Adresse. Ja, ja, Herr d’Artagnan, ich erinnere mich jetzt –«

»Und deshalb komme ich,« sagte der Gaskogner. »Und da ich unterwegs unsern alten Freund hier traf, so habe ich ihn mitgebracht.« – »Der Herr Graf ist mir willkommen,« sagte Baisemeaux mit einer Verbeugung. – Aramis sah von d’Artagnan zu Athos; ihm kam die Sache nicht recht geheuer vor, allein er fand die Lösung des Rätsels nicht. – »Lassen Sie den Herrn Grafen mitspeisen,« fuhr d’Artagnan fort, »ich armer Windhund muß meinem Dienst nachlaufen. Ich habe noch eine wichtige Besorgung, bin aber in einer halben Stunde wieder hier – so oder so, Athos,« setzte er leise hinzu. »Und plaudern Sie nichts aus, bei der Liebe Gottes!«

D’Artagnan verabschiedete sich mit diesen Worten, und Aramis hoffte nun den schlichten ehrlichen Athos auszuhorchen; aber der Graf besaß alle Tugenden: er konnte nicht nur trefflich reden, wenn es sein mußte, er konnte im Notfall auch ebenso trefflich schweigen; und diesmal sprach er keine Silbe. Die drei Herren saßen an dem mit allen Delikatessen gedeckten Tische, aßen, tranken und schwiegen. Und inzwischen war d’Artagnan mit dem Rufe: »Zum König, daß das Pflaster sprüht!« in den Wagen gesprungen und ins Palais zurückgefahren.

Ludwig XIV. gab sich Gedanken hin, die nicht sehr erfreulich waren; die Gewissensbisse, von denen Athos gesprochen, begannen sich schon leise zu regen. Er dachte an die Liebe der beiden jungen Leute, die er durch sein Dazwischentreten zerstört hatte, und bei diesem Gedanken peinigte ihn abermals die Eifersucht. Statt zur Kurzweil zu seiner Mutter, zur Königin oder zu Madame zu gehen, warf er sich in jenen breiten Lehnstuhl, in welchem sich sein erhabener Vater Ludwig XIII. so viele Tage und Jahre gelangweilt hatte. Da wurde der Türvorhang aufgehoben – es war kein Liebesbote von der Lavallière, wie Ludwig erwartete – es war der Kapitän seiner Musketiere.

»Ah, d’Artagnan!« rief der König. »Nun?« – »Befehl ausgeführt!« meldete der Musketier ernst. – »Was hat der Graf gesagt?« – »Nichts, Sire.« – »Wer er hat sich doch nicht verhaften lassen, ohne ein Wort zu sprechen?« rief Ludwig. – »Er sagte, er sei darauf gefaßt gewesen,« antwortete d’Artagnan. – Der König sah stolz empor und sprach: »Der Graf de la Fère hat doch nicht etwa seine rebellische Rolle weitergespielt?«

»Was nennen Majestät rebellisch?« fragte d’Artagnan ruhig. »Halten Sie den für einen Rebellen, der sich nicht bloß in die Bastille schleppen läßt, sondern sich sogar denen widersetzt, die ihn nicht dorthin führen wollten?«– »Die ihn nicht dorthin führen wollten?« rief Ludwig, »Sie sind wohl verrückt geworden?« – »Ich glaube nicht, Sire.« – »Na, hatten Sie etwa die Absicht, Herrn de la Fère nicht zu verhaften?« – »Allerdings, Sire!« – »Sie wollten trotz meines Befehls den Mann nicht verhaften, der mich beschimpft hat?« – »Ich war dazu fest entschlossen,« antwortete d’Artagnan. »Ich machte ihm den Vorschlag, ein Pferd zu besteigen, das ich für ihn bereitgestellt hatte, nach Havre zu reiten und sich nach England zu begeben.«

»Das ist Verrat, Kapitän!« rief Ludwig mit blitzenden Augen. – »Nichts anderes, Sire!« erwiderte der Musketier ganz gelassen. – Der König faßte sich; mit übermenschlicher Gewalt bezwang er seine lodernde Wut und sprach: »Sie müssen dazu zum mindesten einen Beweggrund gehabt haben.« – »Ich habe immer einen Grund, Sire,« versetzte d’Artagnan. – »Und der Grund der Freundschaft allein wäre hier keine Entschuldigung, denn ich stellte es Ihnen frei, von dem Befehl zurückzutreten.« – »Jawohl, Sire, aber Sie sagten, wenn ich es nicht machen wollte, so würden Sie Ihren Gardekapitän schicken – na, und der Gardekapitän hätte meinem Freunde doch gewiß nicht die Möglichkeit gelassen zu entfliehen.«

»Da sieht man Ihre Ergebenheit, Mann! Eine Treue mit Hintergedanken! Sie sind kein Soldat, Herr!«

»Wollen mir Majestät sagen, was ich bin?« – »Sie sind ein Frondeur!« rief Ludwig außer sich. – »Es gibt ja keine Fronde mehr,« antwortete der Gaskogner.

»Wenn aber das, was Sie sagen, wahr ist,« begann der König. – »Was ich sage, ist immer wahr,« unterbrach ihn der Chevalier. »Und ich sage hiermit: Graf de la Fère ist in der Bastille –« – »Und kam nicht durch Sie dorthin, wie mir scheint.« – »Das ist beinahe so, jawohl; aber kurz und gut, er befindet sich dort, und es ist vielleicht wichtig, daß Eure Majestät das wissen.«

»Ha, Herr d’Artagnan, Sie verhöhnen Ihren König?« – »Im Gegenteil, ich komme, um gleichfalls um meine Verhaftung zu bitten. Mein Freund langweilt sich in der Bastille, und ich bitte Eure Majestät, lassen Sie mich ihm Gesellschaft leisten. Eure Majestät brauchen nur ein Wort zu sprechen, und ich verhafte mich selbst; es bedarf dazu nicht des Gardekapitäns, dessen können Sie versichert sein.«

Der König stürzte zum Tische und ergriff die Feder. »Geben Sie acht, daß das nicht auf Lebenszeit ist!« schrie er. – »Darauf rechne ich eben,« erwiderte der Musketier. »Denn wenn Sie diese Absicht wirklich vollführt haben, werden Sie sich nie mehr getrauen, mir ins Gesicht zu sehen.« – Der König schleuderte die Feder weg und schrie: »Hinaus mit Ihnen!« – »Sire, nicht doch!« sagte d’Artagnan noch immer ganz ruhig, »ich kam, um in aller Güte mit Ihnen zu sprechen, Majestät geraten aber in Hitze, das ist schade; doch wird es mich nicht abhalten, Ihnen zu sagen, was ich zu sagen habe.« – »Ich entlasse Sie, mein Herr, ich entlasse Sie!« rief Ludwig.

»Sie wissen, Sire,« entgegnete der Chevalier, »daran liegt mir wenig, ich habe Sie schon einmal darum gebeten, als Eure Majestät in Blois dem unglücklichen König von England die Million ausschlugen, die ihm nachher mein Freund, der Graf de la Fère, gegeben hat. Sire, um meine Entlassung handelt es sich nicht. Eure Majestät hatten die Feder ergriffen, um mich zur Bastille zu verdammen. Warum änderten Sie Ihren Entschluß?«

»D’Artagnan, starrsinniger Gaskogner,« rief Ludwig, »wer ist König, Sie oder ich?« – »Sie, leider –« – »Was? Leider?« – »Ja, Majestät, denn wenn ich es wäre –« – »So würden Sie diese Rebellion des Herrn d’Artagnan ruhig hinnehmen –« sagte der König, die Achseln zuckend. – »Gewiß, Majestät, und ich würde den Kapitän meiner Musketiere mit den Augen eines Menschen, nicht mit zwei glühenden Kohlen anschauen und zu ihm sprechen: D’Artagnan, ich habe vergessen, daß ich der König bin. Ich habe meinen Thron verlassen und einen Edelmann beschimpft –« – »Herr! glauben Sie Ihrem Freund zu nützen, indem Sie seine Unverschämtheit überbieten?« rief der König.

»Ja, ich werde noch weiter gehen als er,« antwortete der Musketier, »und das wird Ihre eigene Schuld sein. Ich werde Ihnen das sagen, was de la Fère, dieser zartfühlendste aller Männer, nicht gesagt hat, nämlich folgendes: Sire, Sie haben seinen Sohn umgebracht, er hat seinen Sohn verteidigt; damit haben Sie auch ihn selbst zugrunde gerichtet. Er sprach im Namen der Ehre, der Religion, der Tugend; Sie haben ihn zurückgestoßen und gefangengesetzt! – Ja, ich werde noch härter sein und zu Ihnen sprechen: Sire, wählen Sie, wollen Sie Freunde oder Knechte, Soldaten oder Krummbuckler, große Männer oder Hanswurste? Soll man Ihnen dienen oder vor Ihnen im Staube kriechen? Soll man Sie lieben oder sich vor Ihnen fürchten? Wenn Ihnen Niedrigkeit, Intrige, Falschheit lieber sind, so sagen Sie es. Wir Kerle vom alten Schrot und Korn gehen dann, wir einzigen Ueberreste der ehemaligen Kraft und Tapferkeit. Wählen Sie, Sire, und zaudern Sie nicht. Erhalten Sie sich, was Ihnen an großen Männern noch übrig ist, Höflinge werden Sie immer genug haben. Schicken Sie mich zu meinem Freunde in die Bastille, denn da Sie den Grafen de la Fère nicht anzuhören verstanden, da Sie d’Artagnan nicht anhören können, die offene, derbe Stimme der Aufrichtigkeit, dann sind Sie ein schlechter König und werden morgen ein armer König sein. Die schlechten Könige verabscheut man, die armen vertreibt man. Das, Sire, wollte ich Ihnen sagen. Sie taten Unrecht, mich soweit zu treiben.«

Der König warf sich in den Lehnstuhl, starr und leichenblaß. Wenn ein Blitzstrahl zu seinen Füßen niedergefahren wäre, es hätte ihn nicht heftiger erschüttern können. Es war, als sei ihm der Atem ausgegangen. D’Artagnan aber nahm seinen Degen und legte ihn auf den Tisch. Der König machte eine wütende Gebärde und stieß die Waffe zurück, so daß sie auf den Boden fiel und dem Musketier vor die Füße rollte. So sehr d’Artagnan sich zu beherrschen vermochte, so erblaßte er jetzt doch und preßte vor Grimm die Zähne aufeinander. »Ein König kann die Ungnade über einen Soldaten aussprechen,« rief er, »er kann ihn verdammen und zum Tode verurteilen, aber wäre er auch hundertmal König, er hat nicht das Recht, ihn zu beschimpfen, indem er seinen Degen entehrt. Sire, noch nie hat ein König von Frankreich den Degen eines Mannes wie ich zurückgestoßen. Dieser befleckte Degen, Sire, merken Sie sich das, hat künftig keine Scheide mehr als Ihr Herz oder das meinige! Ich wähle meiniges – danken Sie dafür Gott und meiner Geduld!« Er riß den Degen empor und rief: »Mein Blut falle auf Ihr Haupt!« Dabei setzte er die Spitze des Degens an seine Brust.

Doch noch schneller stürzte der König hinzu, schlang den rechten Arm um den Hals des Musketiers, griff mit der linken Hand in die Degenklinge und schob sie schweigend in die Scheide. D’Artagnan, noch blaß, stumm und mit den Zähnen knirschend, ließ es geschehen. Dann kehrte Ludwig XIV. zum Tische zurück, schrieb ein paar Zeilen auf ein Blatt Papier und reichte es dem Kapitän.

»Sire, was ist das?« murmelte der Chevalier.

»Der Befehl an Herrn d’Artagnan, den Grafen de la Fère augenblicklich in Freiheit zu setzen,« antwortete Ludwig.

D’Artagnan ergriff die königliche Hand, küßte sie, steckte das Papier ein und stürzte hinaus. – »O, menschliches Herz, Kompaß der Könige!« sprach Ludwig vor sich hin. »Wann werde ich in deinen Falten wie in den Blättern eines Buches lesen können? O, nein, ich bin kein schlechter König – ich bin auch kein armer König. Aber ich bin noch ein Kind.«

1. Kapitel. Aramis als Beichtvater

Herr d’Artagnan holte seinen Freund Athos zur größten Ueberraschung Baisemeaux‘ und d’Herblays aus der Bastille zurück, nicht ohne daß der Gouverneur dem Grafen versicherte, er verliere etwas, indem ihm das gute Leben im Staatsgefängnis versagt bliebe. Trotz seiner guten Bekanntschaft mit den beiden Herren unterließ er es nicht, sich davon zu überzeugen, daß der Freilassungsbefehl ebenso wie der Haftbefehl eigenhändig vom König geschrieben war. D’Artagnan wiederum unterließ es nicht, dem Herrn Bischof zu imponieren, indem er erklärte, der König täte alles, was er wollte, und da er die Freilassung des Grafen verlangt hätte, so sei sie erfolgt. Allein Aramis sah tiefer und erkannte, daß der Musketier log. Seine Aufregung, sein noch immer blasses Gesicht, sein nervöses Gebahren verrieten, welchen Sturm er überstanden.

Der Gouverneur und der Bischof blieben allein zurück. Aramis, entschlossen, dem merkwürdigen Zwischenfall keine unnützen Gedanken zu widmen, kehrte alsbald zu seinen eigenen Geschäften zurück. – »Herr Baisemeaux,« sprach er, »es ist mir bekannt, daß Sie zu einer geheimen geistlichen Organisation gehören, deren Mitglieder untereinander zu bestimmten Dienstleistungen und Verbindlichkeiten verpflichtet sind. Im besondern haben alle dem Orden angehörenden Gefängnisleiter und Festungskommandanten die Pflicht, zu den Kranken oder Sterbenden ihrer Anstalten einen dem Orden angehörenden Beichtvater zu rufen. Ich hielt es für angebracht, Sie auf diesen Paragraphen der Ordensstatuten hinzuweisen.« – »Er ist mir bekannt,« antwortete Baisemeaux, etwas kleinlaut. »Allein – bei mir liegt zur Zeit niemand krank oder im Sterben.« – »Wissen Sie das so genau?« fragte Aramis in seltsamem Tone.

Kaum hatte er gesprochen, so erschien ein Sergeant und meldete: »Der Gefangene Marchiali fühlt sich krank und verlangt nach einem Beichtvater.« – In den Augen des Bischofs leuchtete es auf. – »Ah!« rief Baisemeaux erstaunt. »Es ist gut, gehen Sie, ich werde für das Weitere sorgen.« Und als der Sergeant sich entfernt hatte, sah er den Bischof von Vannes an. »Was nun?« – »Tun Sie Ihre Pflicht,« antwortete Aramis. – »Ja, ich werde einen Boten schicken und mir einen Beichtvater ausbitten,« stammelte der Gouverneur in sichtlicher Verlegenheit. – »Es ist nicht nötig,« versetzte Aramis, »der Beichtvater bin ich.« – Diese Worte wirkten auf Baisemeaux wie ein Donnerschlag. Er wurde totenbleich; es war ihm zumute, als seien die schönen Augen d’Herblays zwei leuchtende Fackeln, die bis in die Tiefe seiner Seele drangen. – »O, Monseigneur,« rief er, »wie hätte ich ahnen sollen –? Was ordnen Sie nun an, Monseigneur?« – »Ich?« antwortete Aramis lächelnd, »nichts! Ich bin nur ein armer Priester, ein schlichter Beichtiger. Befehlen Sie mir, den Kranken zu besuchen?« – »O, Monseigneur, ich befehle es Ihnen nicht – ich bitte Sie darum,« stammelte der Gouverneur.

Aramis wurde zu Marchiali geführt. Der junge Mann lag in dem Bett, welches mit feinster Leinwand bezogen war; sein Kopf ruhte auf seidenweichen Kissen. Während sonst nach dem Gefängnisstatut zu dieser Zeit schon alle Zellen finster sein mußten, hatte Marchiali noch Licht. Die auf dem Tische stehenden Teller bezeugten, daß er das Abendessen kaum angerührt hatte. Als Aramis eintrat, veränderte der junge Mann seine Lage nicht. Er hob nur den Kopf und fragte: »Was will man von mir?« – »Sie haben einen Beichtvater verlangt?« antwortete Aramis, »sind Sie krank?« – »Ja,« sprach er. »Sind Sie einer? Sie waren schon einmal bei mir.«

Aramis verneigte sich. Offenbar gefiel dem jungen Manne der verschmitzte, kalte Charakter nicht, der sich in den Zügen des Bischofs von Vannes ausprägte. »Es wird nicht nötig sein,« sagte er, wenig geneigt, diesem Manne sein Vertrauen zu schenken, »es geht mir jetzt besser.« – »Sie haben ein Briefchen in Ihrem Brote gefunden,« sagte Aramis ruhig, »worin Ihnen eine wichtige Mitteilung verheißen wurde.« – Der junge Mann stutzte. – »Wenn Sie der Mann sind, der sich darin ankündigte,« sprach er, »so ist es etwas anderes. Ich höre.«

D’Herblay betrachtete ihn genauer und erstaunte über diesen Ausdruck schlichter, lieblicher Majestät, den man nie erlangt, wenn Gott ihn uns nicht ins Blut gelegt hat. – »Setzen Sie sich,« sagte er, und Aramis, sich verneigend, nahm Platz. – »Gefällt es Ihnen noch immer in der Bastille?« begann Aramis. »Beklagen Sie nach wie vor nichts?« – »Was soll ich beklagen?« erwiderte Marchiali. – »Daß Sie nicht frei sind,« sagte der Bischof.

»Was verstehen Sie unter Freiheit?« antwortete der Gefangene. – »Die Blumen sehen, die Luft atmen, den Tag erschauen, die Sterne betrachten, das Glück haben herumzulaufen, wohin uns zwanzigjährige Beine tragen können.«

Der junge Mann lächelte. Es wäre schwer gewesen zu sagen, ob mit Resignation oder mit Verachtung. – »Ich habe die schönsten Rosen aus dem Garten des Gouverneurs hier,« antwortete er. »Warum sollte ich mir andere Blumen wünschen? Mein Fenster steht viel offen, es fehlt mir nicht an Luft. Auch sehe ich durch das Fenster die Sonne und den Tag, den Mond und die Nacht. Ist das nicht genug? Man hat mir gesagt, es gebe Unglückliche, die in Bergwerken arbeiten müssen und die Sonne nimmer schauen. Und die Sterne? Ihr Flimmern hat oft meine Augen erquickt. Das alles habe ich, mein Herr. Ich darf auch im Garten spazieren gehen. Die Menschen haben also alles für mich getan, was ich hoffen und wünschen kann.«

»Ich bin Ihr Beichtvater,« sprach der Bischof. »Als mein Beichtkind müssen Sie mir die Wahrheit sagen. Jeder Gefangene, der in einen Kerker geworfen wird, muß ein Verbrechen begangen haben. Was war Ihr Verbrechen?« – »Sie haben mich danach schon das erste Mal gefragt, als ich Sie sah,« antwortete Marchiali. – »Und Sie verweigerten die Antwort,« sagte Aramis. – »Warum sollte ich Ihnen heute antworten?« erwiderte der junge Mann. – »Weil ich heute als Beichtvater vor Ihnen stehe,« sprach der Bischof.

»Wenn ich Ihnen sagen soll, welches Verbrechen ich begangen, so sagen Sie mir erst, was ein Verbrechen ist. Ich habe mir selbst um nichts Vorwürfe zu machen und erkläre, ich bin kein Verbrecher.« – »Bisweilen ist man in den Augen der Großen ein Verbrecher, nicht weil man ein Verbrechen begangen, sondern weil man um Verbrechen weiß, die andere begangen haben.« – Der Gefangene nickte. – »Ich verstehe,« sagte er. »In dieser Hinsicht könnte ich in den Augen der Großen ein Verbrecher sein. Wenn ich schärfer darüber nachdenken wollte, so würde ich entweder verrückt werden oder sehr viele Dinge erraten.«

»Ah, Sie wissen etwas?« rief Aramis. – Doch Marchiali brach ab. »Ich bin zufrieden mit dem, was ich hier habe,« murmelte er düster. »Warum soll ich mich dem Verlangen nach anderem hingeben? Doch Siel« rief er aus, »Sie haben mich veranlaßt, einen Beichtvater zu rufen, und Sie kommen nun hierher mit dem Versprechen, mir vieles mitzuteilen. Warum schweigen Sie jetzt? warum soll ich reden? Wir tragen beide eine Maske, aber ich werde sie nur zusammen mit Ihnen ablegen.«

Aramis fühlte die Richtigkeit dieses Urteils. – »Hier habe ich es mit keinem gewöhnlichen Menschen zu tun,« dachte er. »Nun,« fragte er laut, »besitzen Sie Ehrgeiz?« – »Was ist Ehrgeiz?« erwiderte Marchiali.

»Der Trieb, mehr zu haben, als man hat,« sagte d’Herblay. – »Ich habe schon erklärt, ich bin hier zufrieden,« versetzte der Gefangene; »allein darin kann ich mich auch irren. Es ist möglich, daß ich Ehrgeiz habe. Können Sie mir das Gefühl des Ehrgeizes noch näher erläutern?« – »Ein Ehrgeiziger ist derjenige, der über seinen Stand hinaustrachtet.« – »Ich trachte nicht über meinen Stand hinaus,« sagte der Gefangene in einem so sichern Tone, daß Aramis stutzte.

»Sie haben mich belogen, als ich das erste Mal hier war,« sprach d’Herblay. – »Belogen?« rief Marchiali in so heftigem Tone und mit so flammenden Augen, daß Aramis erschrak. – »Ich will sagen,« fuhr er mit einer Verbeugung fort, »Sie haben mir verschwiegen, daß Sie etwas von Ihrer Jugend wissen.« – »Mein Herr, meine Geheimnisse gehören nicht dem ersten besten, der da herkommt.« – »Bin ich der erste beste, Monseigneur?« fragte Aramis mit einem Lächeln. – Dieser Titel verursachte dem Gefangnen Unruhe, doch schien er sich nicht zu wundern, daß man ihn so nannte. – »Mein Herr,« versetzte er, »Sie sind mir unbekannt.« – »O, wenn ich den Mut hätte,« entgegnete der Bischof, »würde ich Ihre Hand ergreifen und küssen.« – Der Gefangene machte eine Bewegung, als wollte er die Hand ausstrecken; aber das Leuchten seiner Augen erlosch am Rande der Wimpern, und die Finger zogen sich wieder kalt und mißtrauisch zurück.

»Einem Gefangenen die Hand küssen?« sagte er. »Wozu?« – »Sie trauen mir nicht,« fuhr Aramis fort. »Doch das begreife ich: denn wenn Sie wissen, was Sie wissen müßten, so können Sie nicht anders, als aller Welt mißtrauen.« – »Nun, so wundern Sie sich nicht darüber,« antwortete der junge Mann ruhig. – »O, Sie bringen mich in Verzweiflung, Monseigneur!« rief d’Herblay, betroffen über diesen hartnäckigen Widerstand. »Ich begreife, Sie müssen allen mißtrauen, aber machen Sie doch eine Ausnahme bei Ihren alten Freunden!« – »Gehören Sie zu meinen alten Freunden?« fragte Marchiali. – »Erinnern Sie sich nicht mehr?« antwortete der Bischof. »Sie sahen doch einst in jenem Dorfe, wo Sie Ihre Jugend verlebten –«

»Kennen Sie den Namen dieses Dorfes?« fragte der Gefangene. – »Noisy-le-Sec,« antwortete Aramis fest.

»Fahren Sie fort,« sprach der junge Mann, ohne merken zu lassen, ob er zustimmte oder verneinte. – »Gut, da Monseigneur durchaus dieses Spiel fortsetzen wollen,« erwiderte Aramis. »Gewiß, ich bin gekommen, Ihnen vieles zu sagen, aber Sie müssen mir auch zeigen, daß Sie Verlangen hegen, all das zu erfahren. Bevor ich diese Dinge preisgebe, die lange Jahre in meiner Brust eingeschlossen waren, erwarte ich von Ihnen, das werden Sie begreifen, ein wenig Entgegenkommen, ein wenig Sympathie, eine Spur von Vertrauen. Sie stellen sich unwissend – das schreckt mich ab. Und wenn Sie auch wirklich ganz unwissend sein sollten, so sind Sie doch nichtsdestoweniger derjenige, der Sie sind, und nichts, nichts, Monseigneur – auch keine Bastille – kann machen, daß Sie es nicht sind!«

»Ich werde Sie in aller Ruhe anhören,« entgegnete der Gefangene. »Nur glaube ich das Recht zu haben, die Frage zu wiederholen, die ich schon einmal an Sie stellte: Wer sind Sie?« – »Erinnern Sie sich, vor 15 oder 13 Jahren einen Reiter in Noisy-le-See gesehen zu haben, zusammen mit einer Dame, welche gewöhnlich ein schwarzseidenes Kleid und grellrote Bänder im Haar trug?« – »Ja, und ich fragte auch einmal nach seinem Namen. Man sagte, er heiße Abt d’Herblay und sei früher ein Musketier des Königs gewesen.« – »Und der ehemalige Musketier, der dann Abt wurde, dann Bischof von Vannes, ist jetzt Ihr Beichtiger. Ich bin d’Herblay«. – »Ich weiß es,« antwortete der junge Mann ruhig, »ich habe Sie wiedererkannt.«

»Nun, Monseigneur, wenn Sie das wissen,« erwiderte Aramis, »so muß ich etwas hinzufügen, was Sie nicht wissen, nämlich folgendes: Wäre es dem König bekannt, daß dieser Musketier, Abt, Bischof und Beichtvater heute abend hier hei Ihnen ist, so würde derselbe Mann, der alles aufs Spiel setzte, um zu Ihnen zu gelangen, morgen schon das Beil des Henkers in einem Kerker blitzen sehen, der viel tiefer und verborgener wäre, als der Ihrige.« – Als der junge Mann diese mit eindrucksvoller Stimme gesprochenen Worte hörte, richtete er sich in seinem Bette auf und versenkte den Blick mit Gier in die Augen des Beichtvaters. Er schien mehr Vertrauen gewonnen zu haben, lehnte sich zurück und sagte: »Ja, ich erinnere mich – jene Dame, von der Sie sprechen, kam einmal zusammen mit Ihnen und zweimal mit der Frau –« Er hielt inne.

»Mit der Frau, Monseigneur,« vollendete Aramis, »die Sie alle Monate besuchte?« – »Ja.« – »Wissen Sie, wer die Dame war?« – »Eine Dame des Hofes,« sagte der Gefangene. »Ich erinnere mich ihrer deutlich. Einmal kam sie mit einem Manne von etwa 45 Jahren, einmal sah ich sie mit Ihnen und jener Frau mit den roten Bändern im Haar. Diese vier Personen, mein Erzieher und die alte Perronnette sind – außer dem Kerkermeister hier und dem Gouverneur – die einzigen Menschen, die ich je gesehen habe.« – »Sie wurden aber auch in Noisy-le-Sec gefangengehalten.« – »Im Verhältnis zu diesem Kerker war ich dort frei. Nur daß der Garten eine hohe Mauer hatte, über die ich nicht hinwegsehen konnte. Ich war daran gewöhnt und sehnte mich nicht hinaus. Da ich folglich von dieser Welt so gut wie nichts gesehen habe, so kann ich auch nichts wünschen, und wenn Sie etwas von mir wollen, so müssen Sie sich erklären.«

»Das werde ich auch tun, Monseigneur,« antwortete Aramis, »denn es ist meine Pflicht.« – »Nun, so fangen Sie an. Wer war mein Erzieher?« – »Ein gutmütiger, ehrbarer Edelmann, Monseigneur, sehr geeignet, Ihren Leib und Ihre Seele zu schulen. Hatten Sie sich über ihn zu beklagen?« – »Keineswegs. Er sagte mir oft, mein Vater und meine Mutter seien tot. Hat er damit gelogen oder die Wahrheit gesagt?« – »Ihr Vater war tot,« antwortete Aramis. – »Und meine Mutter?« fragte Marchiali. – »Sie war für Sie gestorben,« erwiderte d’Herblay. – »Doch für die Welt lebt sie noch, nicht wahr?« – »Ja.« – »Und dennoch muß ich in der Finsternis eines Kerkers schmachten? Weil mein Erscheinen ein schweres Geheimnis aufdecken würde?«

»Ein gefährliches Geheimnis,« antwortete Aramis.

»Wenn ein Kind in dieser Weise in die Bastille gesperrt wird, dann muß sein Feind sehr mächtig sein.« – »Das ist er auch.« – »Mächtiger als meine Mutter.« – »Warum das?« – »Weil mich meine Mutter sonst gegen ihn verteidigt hätte.« – Aramis zauderte, dann sagte er: »Ja, er ist mächtiger als Ihre Mutter, Monseigneur.« – »Und mein Erzieher, meine Amme, waren meinem Feinde auch im Wege, daß er sie von mir nahm?«

»Ja,« antwortete Aramis ruhig, »sie erschienen ihm beide so gefährlich, daß er sie verschwinden ließ. Man vergiftete sie.«

Der junge Mann erbleichte, dann antwortete er: »Diese unschuldigen Personen sind ermordet worden, und zwar an einunddemselben Tage? Dann muß mein Feind sehr grausam sein, oder die Notwendigkeit muß ihn dazu gedrängt haben. Und ich habe da meine Vermutungen. Ich werde sie Ihnen mitteilen.« – »Sprechen Sie, Monseigneur,« versetzte Aramis, »ich sagte Ihnen ja schon, ich riskiere mein Leben, indem ich mit Ihnen rede.« – »Hören Sie!« erzählte der junge Mann. »Ursprünglich hat man wohl nicht die Absicht gehabt, mich auf Lebenszeit einzusperren, denn es wurde viel Sorgfalt auf meine Erziehung verwendet. Ich erhielt Unterricht in allen Wissenschaften und in den Fertigkeiten eines Kavaliers von Stande. Eines Morgens – es war sehr heiß – schlief ich im Zimmer ein. Bisher hatte ich noch niemals irgendwelchen Argwohn betreffs meiner Herkunft gefaßt. Ich zählte damals 15 Jahre.« – »Das war also vor acht Jahren,« unterbrach ihn d’Herblay. – »Ja. Mein Erzieher hatte mir stets gesagt, ich sei als arme, unbekannte Waise zur Welt gekommen und müsse mir viel Kenntnisse aneignen, um es in der Welt zu etwas zu bringen. Ich könnte auf keine Hilfe von anderer Seite rechnen. In diesem Glauben befand ich mich bis zu jenem Tage, von dem ich jetzt spreche. Ich war im Zimmer eingeschlafen – mein Erzieher befand sich in seiner Stube gerade über mir. Ich hörte ihn die Amme rufen, »Perronnette!« rief er. »Perronnette!« Sie war wohl im Garten, denn er lief die Treppe hinab. Ich stand auf, um zu sehen, was geschehen sei. Ich sah, wie mein Erzieher zu einem Brunnen ging, der am Rande des Gartens lag, fast unmittelbar unter den Fenstern seines Zimmers, hinabblickte und aufs neue nach der Amme zu rufen begann. Sie eilte herbei, und nun guckten beide in den Brunnen, mit unverkennbaren Gebärden des Schreckens. ›Es ist der letzte Brief von der Königin!‹ rief mein Erzieher. ›O, welch ein Unglück, welch ein Unglück!‹– ›Beruhigen Sie sich doch nur,‹ antwortete die Perronnette, ›das Wasser wird ihn rasch zerstören.‹– Als ich diese wenigen Worte vernahm, lauschte ich mit verdoppelter Aufmerksamkeit, denn es nahm mich Wunder, daß mein Erzieher, der mir stets Bescheidenheit und Demut empfahl, in Briefwechsel mit der Königin stand. – ›Wie ist er hier denn hereingekommen?‹ fragte die Amme. – ›Ich las ihn am Fenster,‹ antwortete er, ›ein Windstoß entriß ihn meiner Hand!‹ – ›Er ist hier unten so gut wie verbrannt,‹ meinte die Perronnette, ›und da die Königin, so oft sie kommt, ihre Briefe verbrennt–‹ So oft sie kommt, hören Sie wohl!« unterbrach sich der Gefangene. »Die Frau, die alle Monate kam, war also die Königin. – ›Ja, aber die Königin wird an einen solchen Zufall nicht glauben,‹ rief mein Erzieher untröstlich. ›Sie wird denken, ich wollte diesen Brief zurückbehalten, um ihn als Waffe gegen sie zu benützen, und dieser Mazarin ist ja so mißtrauisch. Er wird uns beide gefangensetzen. Sie wissen, wo es sich um Philipp handelt –.‹ Das war also mein Name,« unterbrach der Gefangene abermals seine Erzählung.

Aramis nickte. – »›Wir müssen jemand hinabsteigen und den Brief heraufholen lassen,‹ sagte mein Erzieher, und sie gingen beide fort, um jemand zu holen. Ich wußte nicht, was ich tat – mir schwindelte der Kopf von dem, was ich vernommen – ich schwang mich aus dem Fenster, lief rasch an den Brunnen und sah hinab. Auf dem dunkeln Spiegel des Wassers schwamm etwas Weißes. Und dieser weiße Gegenstand schien mich zu sich hinabzulocken, meine Augen waren starr, mein Atem ging keuchend, der Brunnen wehte mich mit seinem breiten Munde und seinem eisigen Atem an, und mir war, als läse ich auf dem weißen Zettel feurige Schriftzüge. Einem Instinkt gehorchend, rollte ich den Strick auf und ließ mich daran hinab. Noch während ich im Brunnen schwebte, ging das Papier unter. Aber das Wasser war zum Glück nicht tief, ich brauchte nur mit dem halben Leibe einzutauchen, um das Papier vom Grunde aufzufangen. Es zerriß aber unter meinen Fingern. Rasch kletterte ich wieder hinauf, rollte den Strick in fliegender Hast wieder auf und flüchtete in den Garten, wo ich mich an einem sonnigen Fleck versteckte, um mich trocknen zu lassen. Hier hatte ich Zeit genug, den kostbaren Brief zu lesen, dessen Schriftzüge schon zu verlöschen begannen.«

»Und was haben Sie gelesen, Monseigneur?« fragte d’Herblay. – »Genug, um zu glauben, daß ich von sehr hoher Abkunft sei, da Anna von Oesterreich und Kardinal Mazarin sich so sehr mit mir beschäftigten. Doch weiter! Der Mann, den man in den Brunnen steigen ließ, fand nichts, dagegen entdeckte man, daß der Strick und der Eimer naß waren, vermißte mich, suchte und fand mich. Meine noch feuchten Kleider verrieten mich, zudem ergriff mich tags darauf ein heftiges Fieber infolge des Wasserbads und der erlittenen Aufregung. Und im Delirium erzählte ich nun vollends alles, was der Brief mir gesagt hatte, den man dann unter meinem Kopfkissen fand.« – »Ah, nun verstehe ich alles,« sagte Aramis. – »Mein Erzieher getraute sich nun nicht, das Geheimnis weiter zu behüten, dessen ich durch Zufall teilhaftig geworden war, und schrieb der Königin alles. Darauf wurde ich in die Bastille gebracht, und Erzieher und Amme verschwanden.«

»Lassen wir die Toten ruhen,« sagte Aramis. »Beschäftigen wir uns mit den Lebenden. Haben Sie sich in Ihr Schicksal ergeben? Ohne Ehrgeiz, ohne Schmerz, ohne Hoffnungen? Sie schweigen?« – »Ich glaube genug gesagt zu haben,« versetzte der junge Mann. »Das Reden ist nun an Ihnen. Ich bin müde.« – Aramis sammelte sich. Sein Gesicht nahm einen feierlichen Ausdruck an, war er doch bei dem wichtigsten Teil der Rolle angelangt, die er im Gefängnis zu spielen hatte. – »Eine Frage zuerst, die von Bedeutung ist,« begann er. »In dem Hause zu Noisy-le-Sec gab es keine Spiegel?« – »Ich weiß nicht, was ein Spiegel ist,« erwiderte der junge Mann. – »Glas, das so präpariert ist,« erklärte d’Herblay, »daß man sich darin so deutlich sieht, wie Sie mich sehen.« – »Nein,« sagte der junge Mann, »so etwas gab es in dem Hause nicht.« – »Und auch hier gibt es keinen,« fuhr Aramis fort, sich umsehend. »Man gebraucht hier die gleiche Vorsicht. Doch Verzeihung! Man unterwies Sie also in Wissenschaft und allerlei Künsten. Lehrte man Sie auch die Geschichte kennen?«

»Man erzählte mir,« antwortete der junge Mann, »von Ludwig dem Heiligen, von Franz I., von Heinrich IV.« – »Also auch hier Berechnung,« sagte d’Herblay. »Ich will Ihnen in wenigen Worten mitteilen, was seit 23 oder 24 Jahren, also seit der Zeit Ihrer Geburt, in Frankreich geschehen ist. Auf Heinrich IV. folgte Ludwig XIII., ein großer König, voll hoher Entwürfe und schöner Gedanken. Leider mußte er sie unvollendet lassen, da er zu schwach war, seinen Willen gegen den allmächtigen Minister, den Kardinal Richelieu, durchzusetzen. Er fand in noch jungen Jahren ein trauriges Ende. Das Glück der Nachkommenschaft war ihm lange versagt geblieben; schon verzweifelte er, als seine Gemahlin, Anna von Oesterreich –« Der Gefangene zuckte jäh zusammen. – »Als Anna von Oesterreich,« fuhr der Beichtvater fort, »ihm eines Tages ankündigte, sie sei gesegneten Leibes. Am 5. September genas sie eines Sohnes.«

Aramis hielt inne und sah den jungen Mann, der erbleichte, fest an. Dann fuhr er fort: »Sie werden jetzt eine Geschichte hören, die gegenwärtig nur noch zwei Menschen zu erzählen wissen; ein Geheimnis, das man für begraben hält. Ich wage nichts dabei,« setzte er in etwas ironischem Tone hinzu, »daß ich es einem Gefangenen mitteile, der gar kein Verlangen trägt, die Bastille jemals zu verlassen. Die Königin gebar also einen Sohn. Der Hof stimmte ein Freudengeschrei an, und der König saß schon wieder vergnügt bei Tische, um mit seinen Günstlingen ein Freudenfest zu feiern, da wurde die Königin, die in ihrem Zimmer mit der Hebamme allein war, ein zweitesmal von Wehen befallen und brachte noch einen Sohn zur Welt. Diesen zweiten Sohn nahm die Hebamme, Frau Perronnette, in den Arm.«

»Frau Perronnette?« stammelte der junge Mann.

»Man schickte nach dem König, und seine Freude verwandelte sich in Entsetzen; denn in Frankreich kann man nur einen Kronprinzen gebrauchen. Kronprinz ist der ältere Sohn, so lautet das Gesetz, und die Aerzte erklärten, aus verschiedenen Gründen in diesem Falle nicht mit der absoluten Sicherheit entscheiden zu können, ob der zuerst zur Welt gekommene Sohn der ältere sei.« – Der Gefangene stieß einen dumpfen Schrei aus und wurde weiß wie das Laken seines Bettes. – »Sie begreifen nun,« fuhr Aramis fort, »weshalb der König so erschrocken war. Zwei gleichberechtigte Dauphins – das war ein ganz unhaltbarer Zustand. Der zweite Sohn hätte eines Tages zu den Waffen greifen und dem andern den Thron streitig machen können; was zu blutigem Hader geführt hätte. Und deshalb wurde einer dieser Zwillingssöhne, und zwar der zu zweit ans Licht getretene, beiseite geschafft, und deshalb ist es seitdem verschwunden, so daß in Frankreich niemand weiß, ob er noch lebt, ausgenommen seine Mutter, die ihn verlassen hat, jene Dame im schwarzen Kleide und den grellroten Bändern und –«

»Und endlich Sie!« fiel der Gefangene ein. »Sie, der Sie in meiner Seele Haß und Ehrgeiz und vielleicht den Durst nach Rache erwecken! Sie, der Mann, den ich erwartete, der Mann, den mir Gott sendet, und der, wenn er das ist, das bei sich haben muß –« – »Was?« fragte Aramis. – »Ein Porträt des Königs Ludwig XIV., der jetzt auf Frankreichs Thron sitzt.«

»Hier ist das Porträt,« sagte der Bischof und legte vor den Gefangenen ein schönes Emaillebild hin, auf dem Ludwig in all seinem Stolz, in all seiner Schönheit dargestellt war. – Der Gefangene ergriff es mit Gier und heftete den brennenden Blick darauf. – »Und hier, Monseigneur,« fuhr Aramis fort, »ist ein Spiegel.« – Der junge Mann sah hinein und verglich sein Antlitz mit dem des Königs.

»Was denken Sie davon?« fragte Aramis. – »Daß ich verloren bin,« murmelte der Gefangene. »Der König kann mich niemals neben sich dulden.« – »Und ich frage mich,« sagte der Bischof, mit einem leuchtenden Blick auf den Gefangenen, »welcher von beiden der König ist, der, den dieses Porträt darstellt, oder der, dessen Antlitz ich hier im Spiegel sehe!« – »Der König, Herr, ist der, der auf dem Throne sitzt,« erwiderte der junge Mann traurig, »der nicht im Gefängnis schmachtet, ja vielmehr dahin schickt, wen immer er will. Wer den Thron hat, hat die Macht – ich bin ohnmächtig.« – »Monseigneur,« antwortete Aramis mit einer Ehrerbietung, die er bis jetzt noch nicht gezeigt hatte, »der König werden Sie sein, wenn Sie nur wollen, und wenn Sie der Mann dazu sind, sich auf dem Throne zu behaupten, auf den Ihre Freunde Sie setzen werden.«

»Herr, führen Sie mich nicht in Versuchung,« versetzte der Gefangene in bitterem Tone. – »Monseigneur, keine Schwäche! Ich habe alle Beweise Ihrer Geburt mitgebracht. Ueberzeugen Sie sich selbst, daß Sie ein Königssohn sind, dann wollen wir weiter sehen.«

»Sie reden von Freunden?« rief der junge Mann mit einer Heftigkeit, die den Adel seines Bluts verriet. »Wie sollte denn ich zu Freunden kommen, ich, der keinen Menschen kennt und weder Freiheit, noch Geld, noch Macht besitzt?« – »Mich dünkt, ich hatte die Ehre,« antwortete Aramis, »mich Eurer Königlichen Hoheit zum – Freunde anzubieten.«

»O, nennen Sie mich nicht so, Herr, das ist Hohn, das ist Barbarei! Lassen Sie mein Sinnen nicht über diese Kerkermauern hinausgehen, lassen Sie mich in Finsternis und Sklaverei – ich will’s ertragen!«

»Monseigneur, wenn Sie, nachdem ich Ihnen Ihre Herkunft bewiesen, so arm an Geist, Willen und Leben sind, diese mutlosen Worte sprechen zu können, so will ich nach Ihrem Wunsche handeln und dem Dienste des Herrn entsagen, dem ich mein Leben und meinen Beistand zuzuschwören gekommen bin!« – »Herr, wäre es nicht besser gewesen, Sie hätten, ehe Sie mir das alles sagten, bedacht, daß Sie mir damit das Herz brechen?« rief der Prinz. »Sie lassen mich an Glanz denken, und hier ist Nacht um mich her. Sie schwärmen von Allmächtigkeit, und draußen im Korridor hallt der Tritt des Kerkermeisters – ein Schall, der Sie mehr zittern macht als mich. Wenn ich daran glauben soll, geben Sie mir ein Pferd, ein Schwert in die Hand und Sporen an die Füße. Dann vielleicht werden wir uns verstehen.«

»Es ist meine Absicht, Monseigneur, Ihnen das alles und noch mehr zu geben,« antwortete Aramis. »Nur – wollen Sie es auch?« – »Herr, ich weiß, es gibt Wachen auf jedem Korridor, Riegel und Barren vor jeder Tür, Posten auf allen Höfen. Wollen Sie alle diese Hindernisse durchbrechen?« – »Alle, Monseigneur,« erwiderte d’Herblay mit Zuversicht. – Der Prinz schüttelte den Kopf und fuhr fort: »Wem es gelänge, das für mich zu tun, der wäre schon mehr als ein Mensch. Aber es kommt noch hinzu, daß ich ein Prinz bin, ein Bruder des Königs. Wollen Sie mir den Rang und die Macht geben, die Mutter und Bruder mir genommen haben? Ich soll in ein Leben voll Streit und Haß hinein, wie soll ich da ohne Wunden bleiben oder gar Sieger werden? O, bedenken Sie das, Herr! Werfen Sie mich lieber in eine finstere Bergschlucht, wo ich das Rauschen eines Flusses hören und die freie Flut, den blauen Himmel schauen und genießen kann, und ich will mich damit begnügen. Sie können mir nicht mehr geben, und es wäre ein Verbrechen, mich zu täuschen!«

Nach kurzem Besinnen sprach Aramis: »Ich bewundere diesen festen, weisen Sinn, Monseigneur, und erkenne daran, daß ich meinen König gefunden habe.« – »Wieder? O, haben Sie Mitleid,« rief der Prinz und preßte die glühende Stirn in die eisigen Hände. »Verspotten Sie mich doch nicht. Ich brauche gar nicht König zu werden, um der glücklichste Mensch zu sein.« – »Aber ich will, daß Sie König seien,« antwortete Aramis schwärmerisch, »auf daß die Menschheit glücklich werde! Wenn Sie sich von mir leiten lassen, wenn Sie einwilligen, der mächtigste Fürst der Erde zu sein, dann dienen Sie den Interessen meiner Freunde, die für unsere Sache ihr Leben einsetzen und zwar an Zahl noch nicht groß, dafür aber sehr mächtig sind.«

»Aber mein Bruder?« fragte der Gefangene. – »Sie werden sein Los bestimmen. Beklagen Sie ihn?« – »Ihn, der mich hier sterben lassen will? Nein! Könnte er nicht herkommen und zu mir sprechen: Du bist mein Bruder! Gott hat uns geschaffen, daß wir uns lieben, nicht, daß wir uns befehden. Ein beklagenswertes Vorurteil war daran schuld, daß du im Dunkeln schmachten mußtest. Ich will dich an meiner Seite sitzen lassen und dir das Schwert unsers Vaters umgürten. Wirst du es gebrauchen, mein Blut zu verspritzen? – Und ich hätte geantwortet: Nein, nein, ich betrachte dich als meinen Erlöser, als meinen Herrn. Du gibst mir mehr, als Gott mir gegeben, nämlich die Freiheit und das Recht, Menschen zu lieben und von Menschen geliebt zu werden.«

»So aber –?« sprach Aramis. – »So habe ich Schuldige zu bestrafen und, da Gott mich zu gleicher Zeit mit meinem Bruder und ihm ähnlich geschaffen hat, die Gleichberechtigung herzustellen,« antwortete der Prinz. – »Und das will besagen,« sprach d’Herblay, »daß Sie mit Ihrem Bruder die Plätze tauschen werden. Er wandert ins Gefängnis, Sie besteigen den Thron.« – »O, im Gefängnis leidet man viel,« murmelte der Prinz, »zumal wenn man schon den Becher des Lebens an den Lippen gehabt hat.« – »Sie werden tun, was Ihnen gefällt, Hoheit,« antwortete der Beichtvater. »Haben Sie bestraft, so werden Sie auch verzeihen. Und nun genug, Hoheit. Sie werden von mir hören. Nur noch einmal werden Sie mich hier sehen, und zwar, wenn ich komme, Sie abzuholen. Bis dahin sprechen Sie mit niemand, wer es auch sei.«

Aramis verbeugte sich tief. Der Gefangene reichte ihm die Hand und sprach in einem Tone, der zu Herzen ging: »Mein Herr, nur noch ein Wort! Wenn Sie zu mir gekommen sind, als Werkzeug meiner Feinde, um mich zu vernichten, um mich zu einem Bekenntnis zu bewegen, das mein Tod sein soll, o, auch dann seien Sie gesegnet, denn Sie enden meinen Jammer und bringen Ruhe nach jahrelangen Qualen. Sind Sie aber gekommen, um mir einen Platz an der Sonne des Glücks und des Ruhms zu verschaffen, mir eine Stellung zu geben, in der ich mir durch ausgezeichnete Dienste und Taten einen Namen für alle Zeiten erringen kann – kurz, um mich aus dem Elend, in dem ich hier dahinsieche, zum Gipfel aller Macht und Würde zu erheben – nun denn! so schenke ich Ihnen unter Dank und Segen die Hälfte meiner Macht und meines Reichtums. Sie werden damit noch bei weitem nicht genugsam belohnt sein! Ich werde nie imstande sein, das Glück zu vergelten, das ich Ihnen verdanke!«

Aramis kniete nieder. »Der Adel Ihres Herzens,« sprach er, »erfüllt mich mit Bewunderung. Mein Dank wird in dem Glück der Völker liegen, über die Sie herrschen werden, in dem Lobe der Nachkommen, die von Ihrem Ruhme singen werden. Und dies,« sagte er und küßte die Hand des Gefangenen, »ist die erste Huldigung, die ich dem künftigen König darbringe. Wenn ich wieder hier eintrete, wird es mit dem Gruß sein: Guten Tag, Majestät!« – »Bis dahin,« sprach der junge Mann und legte die weißen, dünnen Finger auf seine Brust, »keine Träume, keine Täuschungen – es würde mir das Leben kosten! Ach, wie klein ist meine Zelle, wie schmal das Fenster, wie niedrig die Tür! Wie konnte nur soviel Stolz und Glückseligkeit dort hereinkommen und hier drinnen Raum finden!«

Aramis ging und wurde von dem Wachtposten zu Baisemeaux zurückbegleitet. »Welch eine Beichte!« rief der Gouverneur; »ich hätte nie geglaubt, daß dieser obskure Gefangene soviel auf dem Gewissen haben könne!«

1. Kapitel. In Ungnade

Am folgenden Tage fand die Rückkehr des gesamten Hofes nach Paris statt, und es war ein herrlicher Anblick, diese erlauchte Gesellschaft in Reisekleidern, diese stattliche Menge von prächtig gesattelten Pferden und prunkvollen Kaleschen zu sehen, diese unzählbare Schar von Kavalieren und Damen, von Pagen und Lakaien, von Bereitern und Troßknechten. Die Kutsche des Königs, die er mit seiner Mutter und seiner Gemahlin teilte, fuhr zuerst ab, dann folgte die des herzoglichen Paares und dann, dem Range entsprechend, die große Reihe der anderen.

Die Sonne schien drückend, und Madame war die erste, die sich über die große Hitze beklagte. »Ich hätte Sie für galanter gehalten,« sagte sie zu ihrem Gemahl, »Sie sollten doch mir den Wagen allein überlassen und den Weg zu Pferde zurücklegen.« – »Reiten? Bei der Glut?« versetzte Monsieur entsetzt. »Aber ich denke gar nicht daran, Madame! Ich habe auch kein Pferd hier.«

»Ich sehe doch aber dort Ihren Lieblingsfuchs,« antwortete sie, zum Fenster hinaussehend. »Ihr Stallmeister, Herr Malicorne, führt ihn am Zügel.« –

»Tatsächlich,« sagte Monsieur, sah auch hinaus und fiel gleich darauf zurück in die Kissen. »Das arme Tier! Ihm mag schön heiß sein.«

Inzwischen wurde es dem König ebenfalls zu eng im Wagen, doch weniger der Hitze wegen als aus Liebesverlangen. Er wünschte im Sattel zu sitzen, um an den Wagen der Ehrendamen zu reiten und sich am Anblick der geliebten Lavallière zu erfreuen. Die vielen Fragen der jungen Königin, die sich immer wieder nach seinem Befinden erkundigte, das Geschwätz der Königin-Mutter, die ihn um jeden Preis zerstreuen wollte, fielen ihm schwer auf die Nerven. Er klagte schließlich über Schmerzen in den Beinen, und Maria-Theresia fragte, ob er mit ihr aussteigen und ein Stück zu Fuß gehen wolle. Das war freilich ein Strich durch die Rechnung, aber er konnte es ihr nicht abschlagen. Nach wenigen Minuten merkte sie, daß ihm der Weg zu Fuß auch nicht besser behagte als die Fahrt im Wagen. Sie erklärte, sie wolle wieder einsteigen. Er führte sie an den Kutschenschlag, ließ sie aber allein Platz nehmen und sah sich, draußen stehenbleibend, nach einem Pferde um.

»Majestät haben einen Zelter verlangt?« rief eine Stimme hinter ihm, und Malicorne verneigte sich und bot dem König den Lieblingsfuchs Monsieurs an. – »Das ist kein Tier aus meinem Marstall,« sagte Ludwig. – »Es gehört Seiner Königlichen Hoheit,« antwortete Malicorne, »allein Monsieur reitet bei einer solchen Hitze nicht.« – Mit diesen Worten hielt er den Steigbügel, und Ludwig schwang sich hinauf. Lachend sprengte er an den Wagen der Königinnen. »Gott sei Dank, daß ich im Sattel sitze!« rief er ihnen zu. Dann hielt er an, ließ sie vorbeifahren und ritt im Galopp zurück. Anna von Oesterreich neigte sich zum Fenster hinaus und sah ihm nach.

Er ritt nicht weit; schon beim sechsten Wagen zog er die Zügel straff; der Fuchs blieb stehen. Ludwig XIV. zog anmutsvoll den Hut und grüßte mit einem glückseligen Lächeln Fräulein von Lavallière, die zusammen mit der Montalais fuhr. Er folgte dem Wagen ein Weilchen, ohne ein Wort, nur seine Augen führten eine beredte Sprache. Dann begann er eine belanglose Plauderei. – »Ich wäre erstickt im Wagen. Ein verständiger junger Mann erriet meinen Wunsch nach einem Reitpferd und erlöste mich von der furchtbaren Plage. Ich möchte seinen Namen wissen, denn ich kenne ihn noch nicht.« – Die Montalais ließ sich das nicht zweimal sagen. »Der Herr, der Eurer Majestät das Pferd gebracht hat,« sagte sie, »heißt Malicorne. Das war er doch, der dort drüben reitet, nicht wahr, Sire?« – Dabei wies sie auf ihren Verehrer, der natürlich hörte, daß von ihm die Rede war, sich aber mit heuchlerischer Miene das Ansehen gab, als sei er taub. – »Das war er, mein Fräulein,« antwortete Ludwig XIV. »Malicorne, ich werde mir den Namen merken.«

Nach kurzem Schweigen wandte der König sich an Fräulein von Lavalliere. »Nun ist die ländliche Freiheit zu Ende, mein Fräulein,« sagte er. »Mit der Rückkehr nach Paris wird Ihr Dienst bei Madame Sie mehr in Anspruch nehmen, und wir werden uns nur selten sehen.« – »Eure Majestät lieben Madame zu sehr, als daß Sie nicht oft zu ihr kommen werden,« antwortete Luise, »und wenn Majestät nur durchs Zimmer gehen …« – »Ah, das würde mir nicht genügen,« versetzte Ludwig, »und doch scheinen Sie damit zufrieden zu sein.« – Luise antwortete nur mit einem Seufzer. – »Sie haben sich sehr in der Gewalt,« sagte der König. »Gebrauchen Sie diese Kraft, um zu lieben, und ich werde Gott preisen, der sie Ihnen gegeben.«

Die Lavallière schwieg, doch ein seelenvoller Blick in des Königs Auge sagte mehr, als Worte vermocht hätten. Und als wäre dieser Blick wie ein brennender Strahl in sein Herz gedrungen, fuhr er mit der Hand an die Stirn und trieb das Pferd durch einen plötzlichen Druck der Schenkel vorwärts. Sie folgte dem schönen Reiter, dessen Hutfedern im Winde wallten. Sie lehnte sich zurück und verlor die geliebte Gestalt mit den schönen Locken nicht aus den Augen.

Nach wenigen Minuten schon war der König wieder an ihrer Seite. – »Fräulein,« sagte er, »es zerreißt mir das Herz, daß Sie so beharrlich schweigen. Sie sind unbarmherzig, so verschlossen zu bleiben. Ich muß das schließlich für Koketterie halten. Ich fürchte, Sie erwidern die tiefe Liebe nicht, die ich für Sie empfinde.« »O nein, Majestät,« erwiderte sie, »wenn ich lieben werde, so ist’s für’s ganze Leben!« – »Lieben werde!« rief er, »ah, da haben wir’s! Sehen Sie, daß ich recht habe, Sie der Koketterie, der Launenhaftigkeit anzuklagen!« – »O, nein, Sire, nein!« – »Versprechen Sie mir, für mich stets die gleiche zu bleiben!« – »O, immer, Majestät!«

»Ich liebe es, das, was mein Herz bewegt, unter die Bürgschaft eines Schwurs zu stellen,« sagte er. »Schwören Sie mir, wenn wir in dem Leben, das vor uns liegt, in diesem Leben, voll von Opfern, Geheimnissen, Schmerzen und vielleicht auch Zerwürfnissen, uns einmal falsch verstanden oder einander unrecht getan haben sollten, schwören Sie mir, Luise –«

Die Lavallière erbebte bis in den Grund ihrer Seele hinein, denn es war das erstemal, daß sie ihren Namen so vom Munde des Geliebten hörte. – »Schwören Sie mir,« fuhr er fort, »daß wir in einem solchen Falle, wenn eins dem andern fern ist, nie eine Nacht verstreichen lassen wollen, ohne einander aufzusuchen oder wenigstens einen beruhigenden oder erklärenden Brief zu wechseln.«

Luise nahm die heiße Hand des Geliebten in ihre beiden kalten Hände und drückte sie lange und zärtlich, bis ein Geräusch das Pferd erschreckte, das mit einem Satz vorwärts sprang. Sie hatten das Gelübde getauscht. »Majestät,« flüsterte Luise, »kehren Sie zu den Königinnen zurück – ich fühle es, dort droht mir ein Unwetter.«

Ludwig grüßte und ritt im Galopp zu dem Königswagen. Im Vorüberreiten sah er Monsieur – er schlief – sah er auch Madame – sie schlief nicht. – Die junge Königin lächelte ihm traurig zu und sprach nichts als die Worte: »Ist dir nun wohler, mein lieber Mann?«

In Paris begann der König sofort mit Colbert zu arbeiten, denn es galt, am folgenden Tage die Gesandten von Spanien und Holland zu empfangen: eine Aufgabe, die mit diplomatischem Geschick gelöst werden mußte, da in letzter Zeit die Beziehungen zwischen Frankreich und diesen beiden Reichen sich verhängnisvoll zugespitzt hatten. Während Majestät im Arbeitszimmer war, suchte Maria-Theresia, seine Gattin, die Königin-Mutter, auf, um ihr wieder einmal ihr Leid zu klagen. – »Ach, meine Mutter! der König liebt mich nicht mehr!« – Es war das alte Lied, aber es hatte diesmal eine neue Wirkung auf Anna von Oesterreich, nachdem sie unterwegs dem König aus dem Wagen nachgeschaut hatte. – »Was nennst du denn Liebe, mein Kind?« – »Wenn man immer an jemand denkt, sich immer nach jemand sehnt.« – »Und findest du, der König tue das? Ein König gehört seinem ganzen Reiche.«

»Und deshalb sind wohl auch fast alle Königinnen verlassen und vergessen,« sagte das arme Kind, »während andere Frauen Liebe, Ruhm und Ehren genießen. O, Mutter, der König ist so schön! Wie oft werden ihm andere das sagen! Und wenn ich daran denke, er könnte sich noch einen Herd neben dem unserigen schaffen – noch eine zweite Familie! Ach, wenn ich je Kinder vom König sähe, ich würde sterben!«

Anna von Oesterreich lächelte und faßte Maria bei der Hand: »Meine Tochter,« sagte sie, »trösten Sie sich: der König kann keinen Kronprinzen haben ohne Sie, Sie aber können einen haben ohne ihn.«

Madame ließ sich melden. Sie erschien mit einer Miene, die darauf deutete, daß sie einen bestimmten Plan entworfen habe und ein gewisses Ziel zu erreichen willens sei. – »Ich kam zu sehen,« begann sie, »ob die kleine Reise Ihre Majestäten angegriffen habe.« – »Mich gar nicht,« antwortete Anna. – »Mich ein wenig,« antwortete Maria-Theresia. – »Und dem König scheint sie gut bekommen zu sein, obwohl er bei der Hitze zu Pferde stieg.« – »Ich selbst habe ihm dazu geraten,« sagte Maria-Theresia. – »Haben Sie denn schon die schreckliche Geschichte vom Grafen Guiche erfahren?« fragte die Herzogin. – »Von seinem Kampf mit dem Eber, ja,« sagte Anna von Oesterreich. – Madame trat näher und sagte leise: »Es war ja ein Duell.«

»Ein Duell?« rief Maria-Theresia. »Und weshalb fand es statt?« – »Wegen einer meiner Ehrendamen,« antwortete Madame mit vielsagendem Blick. – »Etwa gar wegen der Lavallière?« fragte die Königin-Witwe. – »Ja, ihretwegen.« – »Sie ist wohl verlobt, wie ich höre, doch weder mit Herrn von Guiche, noch mit Herrn von Wardes,« fuhr Anna fort. »Alles in allem fängt diese Person nachgerade an, unausstehlich zu werden. Ich leide es nicht, daß an meinem Hofe die jungen Männer die Waffen miteinander kreuzen. Es ist ein Frevel, auf diese Weise meinem Sohne auch nur einen seiner Diener zu rauben. Aber nicht nur die Männer sind in solchem Falle zu bestrafen, sondern vor allem die koketten Dämchen, die die jungen Herren gegeneinander hetzen.« Sie wendete sich an die junge Königin und fragte: »Was soll mit dieser Lavallière geschehen?«

Maria-Theresia arbeitete an einer Stickerei, sah mit ^ einem eiskalten Blick auf und antwortete: »Lavallière? Kenne ich nicht.« Und sie zeigte dazu ein so frostiges Lächeln, wie es nur königlichen Lippen eigen ist. – »Man schickt sie in ihre Heimat zurück und gibt ihr eine Pension,« sagte Madame. – »Das ist meine Angelegenheit,« sprach die Königin-Witwe. – »Hoheit,« versetzte die Herzogin von Orléans, »sie ist eine meiner Ehrendamen.«

»Gleichviel!« antwortete Anna. »Ich bin des Königs Mutter und das Haupt der Familie. Kein Aufsehen, wenn ich bitten darf! Das alles muß en famille abgemacht werden. Lassen Sie das Mädchen hierher rufen, Madame! Und Sie, meine Tochter, begeben sich auf ein paar Augenblicke in Ihre Gemächer!«

Die Lavallière trat bei der Königin-Mutter ein, ohne zu ahnen, daß sich ein verhängnisvolles Komplott gegen sie entsponnen habe. Sie glaubte, es handle sich um eine dienstliche Angelegenheit, und im Dienst hatte die Königin-Mutter sich nie unfreundlich gezeigt. Sie näherte sich also der Fürstin mit jenem sanften Lächeln, das sie so gut kleidete. Da sie in gemessener Entfernung stehenblieb, der erwarteten Befehle harrend, rief Anna von Oesterreich: »Treten Sie nur ganz nahe heran, Fräulein, damit wir mit Ihnen plaudern, da doch schon alle Welt von Ihnen schwatzt.«

Die Lavallière erbleichte und sah auf Madame – aber die Herzogin trug eine Gleichgültigkeit zur Schau, die den Mutigsten entwaffnet hätte. – »Spielen Sie nur noch gar die Unwissende!« fuhr Anna fort. »Was sagen Sie zu dem Duell zwischen Herrn von Guiche und Herrn von Wardes?« – »Mein Gott, Königliche Hoheit, ich habe gestern erst davon gehört,« antwortete die Lavallière, die Hände faltend. – »Und haben nicht vorher schon gewußt, daß es dahin kommen würde?« – »Aber wie sollte denn ich das gewußt haben?« – »Weil Ihnen bekannt sein muß, weshalb die beiden Herren sich entzweit haben!« – »Das ist mir nicht bekannt, Königliche Hoheit.«

»Dieses System der Ausflüchte und des Leugnens sollte Ihnen selbst doch zu erbärmlich erscheinen,« begann Anna. – »Mein Gott, Eure Königliche Hoheit erschrecken mich!« rief die Lavallière. »Warum dieser eiskalte Ton? Sollte ich das Unglück haben, in Ungnade gefallen zu sein?« – »Man spricht zuviel von Ihnen, Fräulein,« versetzte die Königin-Mutter, »und ich sehe es nicht gern, wenn von den Mädchen des Hofes viel gesprochen wird.«

»Aber ich begreife nicht, Königliche Hoheit, wer sich mit mir beschäftigen sollte!« erwiderte Luise. – »Herr von Guiche zum Beispiel, der Sie verteidigt hat. Er ist Kavalier, und die schönen Abenteuerinnen haben es gern, wenn ein Kavalier eine Lanze für sie bricht. Ich hasse die Duelle, und ich hasse die Abenteuerinnen, die Ursache dazu geben.«

Die Lavallière machte eine tiefe Verneigung um sich stolz wieder aufzurichten. »Königliche Hoheit,« sprach sie leise, »ich habe gefragt, was mein Verbrechen sei. Noch habe ich es nicht vernommen, und Königliche Hoheit sollten mich nicht verdammen, ohne mir Gelegenheit zur Rechtfertigung zu geben.« – »Hören Sie nur die hübschen Redensarten, Madame!« rief Anna von Oesterreich. »Man sieht es, meine Allerschönste, wir haben schon viel gelernt durch den Verkehr mit gekrönten Häuptern. Nun, um deutlicher zu sprechen! Wenn Sie fortfahren, ein solches Benehmen zur Schau zu tragen, dann erniedrigen Sie uns Frauen dergestalt, daß wir uns schämen müssen, neben Ihnen zu figurieren. Werden Sie einfach, Fräulein! Uebrigens, was habe ich gehört? Sie sind Braut?« »Ja, Königliche Hoheit,« antwortete Luise, bleich wie eine Lilie. – »Verlobt mit einem Edelmann. Wie heißt er?« – »Graf von Bragelonne.« – »Wissen Sie auch, daß Sie da von Glück sagen können, Fräulein? Ein Mädchen ohne Vermögen, ohne Rang, ohne große persönliche Vorzüge sollte den Himmel preisen, der ihm eine solche Zukunft beschert. Wo ist Graf von Bragelonne?«

»In England,« mischte sich Madame ins Gespräch, »im Auftrag des Königs. Das Gerücht von den Erfolgen des Fräuleins wird wohl inzwischen schon zu ihm gelangt sein.«

»Man wird diesen jungen Mann zurückrufen, Fräulein,« fuhr Anna von Oesterreich fort, »und Sie werden Ihre Angelegenheiten mit ihm in Ordnung bringen. Sind Sie etwa anderer Meinung? Junge Mädchen haben manchmal wunderliche Ansichten. Ich gedenke Sie noch auf den guten Weg zurückzuführen. Ich nehme nun an, Sie haben mich verstanden.« – »Königliche –« – »Kein Wort mehr!« – »Königliche Hoheit, ich bin unschuldig an allem, was Sie mir vorwerfen! Sie sehen meine Verzweiflung –« – »Keine Komödie, wenn ich bitten darf!« unterbrach sie Anna von Oesterreich. »Ich könnte sonst eine gewaltsame Lösung des Knotens herbeiführen. Kehren Sie auf Ihr Zimmer zurück und beherzigen Sie diese Lektion!«

Luise wandte sich an die Herzogin von Orléans. »Nun, so bitten Sie für mich, Madame,« flehte sie. »Sie sind ja so gütig.« – »Ich?« erwiderte Henriette schadenfroh, »was fällt Ihnen denn ein, Fräulein?« – Und sie stieß brüsk die Hand des jungen Mädchens zurück. Die Lavallière gewann plötzlich all ihre Würde wieder. Statt in Tränen auszubrechen, wie die Fürstinnen erwartet hatten, sah sie diese ruhig an, verneigte sich und ging hinaus.

»Meinen Sie, daß sie wieder anfangen wird?« fragte Anna von Oesterreich. – »Diesen sanften Lämmern traue ich nicht,« erwiderte Madame. »Nichts besitzt so großen Mut wie ein duldsames Herz.« – »Ich bürge Ihnen dafür, sie wird sich sehr in acht nehmen,« antwortete die Königin-Mutter.

Es war halb sieben Uhr, als der König sein Mahl beendet hatte. Er stand auf, verließ die Tafel, nahm Saint-Aignans Arm und befahl, ihn zur Lavallière zu führen. Der Hofmeister erschrak. – »Was denn?« sagte der König. »Es wird mir doch zur Gewohnheit werden. Also fangen wir mal an!« – »Aber Sire, man muß uns sehen,« wandte der Graf ein, »es wäre doch ein Vorwand nötig.« – »Nichts von Vorwand! Ich mag nicht länger warten, ich habe genug von aller Geheimniskrämerei! Entehrt sich denn der König, wenn er mit einem geistreichen Mädchen spricht? Honny soit qui mal y pense9

»Und die Königin?« sprach Saint-Aignan. – »Na ja doch! Die Königin muß berücksichtigt werden. Gut! Diesen Abend will ich noch einmal so zur Lavallière gehen. Morgen will ich auf Vorwände sinnen.«

Darauf gab es nichts zu erwidern, und Saint-Aignan war nur froh, daß sie unbemerkt über den Hof und in den Seitenflügel gelangten, wo die Ehrendamen logierten. An der Tür wollte der Hofmeister sich entfernen, aber Ludwig hielt ihn zurück, er mußte dem König zur Lavallière folgen. Ludwig fand seine Geliebte in Tränen.

»Wie?« rief er aus. »Was haben Sie? was stimmt Sie traurig?« Doch sie weigerte sich, es zu sagen. – »Und Sie vermeiden es gar, mir ins Auge zu sehen?« fuhr der König fort, denn in der Tat wandte sie sich von ihm ab. »In des Himmels Namen, was ist vorgefallen? Hat man Sie verletzt, beleidigt vielleicht gar?«

»Nein, nein, Sire! mich hat niemand beleidigt.« – »Nun, so zeigen Sie mir wieder die schwärmerische Heiterkeit, die Mischung von Frohsinn und Melancholie, die mich so sehr an Ihnen entzückt.« – »Ja, mein Königlicher Herr –« – Ludwig stampfte mit dem Fuße. »Eine so tiefgehende Veränderung ist mir unerklärlich.« Er sah Saint-Aignan an, der sich ebenfalls über die düstere Einsilbigkeit der Lavallière wunderte.

Doch soviel der König auch in sie drang, soviel er auch nachsann, so sehr er sich auch bemühte, die traurige Stimmung zu besiegen – das Mädchen blieb wie erstarrt. Schließlich vermutete der König, sie sei an ihr Verlöbnis mit Bragelonne gemahnt worden und habe sich selbst der Treulosigkeit schuldig befunden. Dieser Argwohn lag nahe, da die Lavallière in ihrem Zimmer ein Jugendporträt des Grafen de la Fère hatte, welches seinem Sohne täuschend ähnlich sah.

Der König warf drohende Blicke auf dieses Bild. Die Lavallière, zu sehr mit ihrem Kummer beschäftigt, sah nichts davon. Ihr beharrliches Schweigen bestärkte Ludwig in seinem Verdacht, erinnerte ihn daran, daß der Graf de la Fère selber für seinen Sohn bei ihm um Luisens Hand angehalten hatte, und ließ ihn nun glauben, sie hätte bei ihrer Rückkehr nach Paris Briefe aus London erhalten. Von Eifersucht erfaßt, fragte er aufs neue, drang mit noch heftigerer Ungeduld auf Erklärung. Die Lavallière aber konnte und durfte nichts sagen, denn sie hätte sonst des Königs Mutter und des Königs Schwägerin anklagen müssen. Mit diesen zwei mächtigen Prinzessinnen aber konnte sie nicht in offene Fehde treten. Ueberdies bildete sie sich wirklich ein, sie brauche gar nichts zu sagen; wenn der König sie wahrhaft liebte, müsse er ahnen, was in ihr vorginge. Gab es eine Sympathie, so mußte sie vor allem der Liebe zu eigen sein. Sie schwieg also nach wie vor, seufzte, weinte und verbarg den Kopf in den Händen.

Diese Seufzer und Tränen hatten den König zuerst gerührt, dann erschreckt, jetzt erzürnten sie ihn. Opposition konnte er überhaupt nicht vertragen, am wenigsten aber die Opposition in Gestalt von Tränen. Nun wurden alle seine Worte scharf, fast verletzend. Aber sie schien entschlossen, selbst der Ungerechtigkeit von dieser Seite Trotz zu bieten. Statt aller Antwort schüttelte sie nur den Kopf und sprach nichts als die Worte: »Ach, mein Gott! Ach, mein Königlicher Herr!«

Diese sanften Laute reizten den König noch mehr, statt ihn zu beschwichtigen. Saint-Aignan blies obendrein noch in das Feuer seines Zorns, denn er hoffte angesichts dieser Szene, daß die dem ganzen Hofe unbegreifliche Liebe des Königs ein rasches Ende nehmen werde. Er erblickte in der armen Lavallière bereits eine gestürzte Größe und war zu sehr Hofmann, um nicht alsbald sein Verhalten danach einzurichten. Allein er kannte die Größe dieser königlichen Leidenschaft nicht.

Der König erhitzte sich noch mehr. Er ging hin und her, er lief zur Tür, als wollte er gehen. Endlich blieb er mit gekreuzten Armen vor der Lavallière stehen und rief: »Ein letztes Mal, mein Fräulein, wollen Sie sprechen? Wollen Sie sagen, weshalb Sie mit einem Male so anders, so verwandelt sind? Wollen Sie den Grund dieser Laune nennen?« – »Was soll ich sagen? Mein Gott, Sire, Sie sehen doch, Ihr Zorn zermalmt mich; ich bin jetzt nicht fähig zu denken, zu reden, etwas zu wollen.« – »Ist es denn so schwierig, die Wahrheit zu sagen? Sie hätten weniger Worte dazu gebraucht, als Sie jetzt vergeudet haben.« – »Was denn für eine Wahrheit?« – »Die ganze Wahrheit! Alles!« – Die Wahrheit drängte sich vom Herzen der Lavallière auf ihre Lippen. Sie wollte die Arme öffnen, doch sie sanken zurück, und ihr Mund blieb stumm. »Ich kann nichts sagen,« das war alles, was sie sprach. – »Das ist mehr als Koketterie, mehr als Laune,« rief der König. »Das ist Verrat!« Und er stürzte mit einer Gebärde des Zornes hinaus. Saint-Aignan folgte ihm. Auf der Treppe hielt Ludwig XIV. inne. »Da siehst du es, ich werde schändlich genarrt!« stieß er hervor. »Von Guiche hat sich im Namen dieses Bragelonne duelliert, und den Bragelonne liebt sie noch immer! Wahrlich, Saint-Aignan, ich würde vor Scham sterben, wäre in drei Tagen noch ein Atom von dieser Liebe in meinem Herzen!« – »Ich habe es Eurer Majestät immer gesagt,« murmelte Saint-Aignan, indem er dem König nacheilte und unterwegs zu den Hoffenstern hinaufsah.

Diesmal waren sie nicht so glücklich wie beim Hinweg: ein Vorhang wurde gelüftet. Das Gesicht der Herzogin von Orléans zeigte sich. Sie hatte den König aus den Räumen ihrer Ehrendamen weggehen sehen, verließ alsbald ihr Zimmer und eilte in das Gelaß, aus dem der König eben kam.

Die Lavallière sah dem Geliebten nach und hob die Arme, hob den Fuß, als wollte sie ihn zurückhalten, als wollte sie ihm nachgehen. Aber der Klang seiner Schritte verlor sich im hallenden Korridor. Kraftlos sank sie vor dem Kruzifix nieder. Da blieb sie gebrochen, zermalmt, zerschmettert von ihrem Schmerz liegen, unfähig, sich zu vergegenwärtigen, was eigentlich geschehen sei. Die Tür ging auf – sie hörte es wohl, aber sie sah nicht danach. Da schoß es ihr in den Kopf, es sei vielleicht der König, der zurückkehre. Sie hob das in Tränen gebadete Gesicht.

Madame stand vor ihr. Doch was lag ihr an der Herzogin? Sie sank zurück und ließ das Haupt wieder auf den Betstuhl fallen.

»Fräulein,« sprach Madame zornig, aufgeregt, »es ist sehr schön, auf den Knien zu liegen und die Fromme zu spielen. Doch da Sie dem König des Himmels so sehr ergeben sind, so geziemt es sich auch, ein wenig den Willen der irdischen Fürsten zu respektieren.« – Die Lavallière sah auf, ein starrer, fast unbewußter Blick bewies, daß sie kaum verstand, was zu ihr gesprochen wurde.

»Die Königin-Mutter hat Sie doch gewarnt, sich in acht zu nehmen, damit niemand Ursache fände, üble Gerüchte über Sie auszusprechen. Und jetzt ging doch schon wieder jemand von Ihnen fort, dessen Hiersein eine Ursache zu üblem Reden ist. Da mein Haus das der ersten Prinzessin ist, so soll es dem Hofe kein schlechtes Beispiel geben; und das geschieht durch Ihr Betragen. Ich erkläre Ihnen daher, Fräulein – ich sage es Ihnen ohne Zeugen, da ich Sie nicht öffentlich demütigen will – Sie sind von Stund ab frei und können zu Ihrer Mutter nach Blois zurückkehren.«

Die Lavallière antwortete nicht; nur ein Schauer, der ihren ganzen Körper erzittern ließ, verriet, daß sie verstanden hatte. Madame ging hinaus.

Luise lag noch lange regungslos da; sie betete nicht einmal mehr. Allmählich kehrten die Gedanken zurück – sie fing an zu begreifen, was geschehen war. Ein Strahl der Hoffnung schimmerte in die Nacht ihres Herzens, wie ein Strahl Tageslicht in den Kerker eines Verurteilten. Sie dachte an die Fahrt nach Paris, sie sah den König neben ihrem Wagen, sie hörte, wie er ihr süße Worte der Liebe, der Treue zuflüsterte, sie fühlte seine Hand in der ihren und erinnerte sich des Gelübdes, das sie einander getan. »Es soll nach einem Zerwürfnis keine Nacht verfließen, ohne daß wir einander aufsuchen oder uns durch Briefe verständigen!« Es war ja nicht möglich, daß der König sein Versprechen nicht hielte, hatte er selbst ihr doch diesen Schwur abgerungen, wie ein Despot, der Liebe ebenso verlangt wie Gehorsam. Wenn er nicht kam, dann bewies er damit eben, daß er keine Liebe hatte, oder daß dieses erste Hindernis auf dem Wege ihn schon zur Umkehr bewog.

Er mußte also kommen! – Und so wartete das arme Kind mit bangender Seele, Stunde um Stunde! – O, wenn er käme, wie würde sie ihm entgegeneilen – wie würde sie alles vergessen über der Freude, ihn wiederzusehen, wie wollte sie ihm sagen: »Nicht ich bin es, die Sie nicht liebt – jene sind es, die mich hindern wollen, Sie zu lieben!« – Indessen sie nachsann, mußte sie sich sagen, der König sei unschuldig. Er konnte nichts wissen. Wenn sie ihn in Gedanken beschuldigt hatte, an dem Komplott ihrer Feindinnen teilzuhaben, so war das unrecht von ihr. Ihr hartnäckiges Schweigen mußte ihn befremden. Ja ungeduldig, herrisch, reizbar, wie er war, hatte er sich wirklich lange genug bemüht, sie zum Sprechen zu bewegen. O, wenn er nur käme, wenn er nur käme, wie würde sie ihm beweisen, daß sie ihn liebte!

So verrann die Zeit, und der König kam nicht. Nun hoffte sie wenigstens auf eine Nachricht. Er würde Saint-Aignan schicken, sagte sie sich, und sie würde auch ihm ihr Herz ausschütten. Und sie wartete. Selbst als es elf Uhr schlug, verlor sie die Hoffnung nicht; konnte doch bis Mitternacht noch immer ein Bote kommen. Doch die Stunde kam – die Lichter im Schloß erloschen – und auch für das arme Mädchen erlosch das Licht der letzten Hoffnung. Der König hatte den Schwur gebrochen, den er am selben Tage erst geleistet. Also liebte der König sie nicht mehr; der schöne Traum hatte jäh geendet. Ihre Herrin hatte sie verstoßen – schmählich hinausgewiesen, und doch war der König die einzige Ursache dieser Beschimpfung.

Ein bitteres Lächeln spielte um ihren Mund, die einzige Spur von Zorn, die sich während dieses langen Kampfes auf dem Engelantlitz des Opfers zeigte. An wen sollte sie sich nun wenden, bei wem Zuflucht suchen, da der König der Erde sie verließ? Ihr blieb nur noch der König des Himmels! Und sie blickte auf das Kruzifix und murmelte: »Mein Gott, du selbst schreibst mir vor, was ich zu tun habe. Tu bist der Herr, der nimmer die Verlassenen und Vergessenen verläßt und vergißt. Dir will ich mich weihen.« – Sie sank wieder vor dem Betstuhl nieder, legte den Kopf auf die Platte. So lag sie, bis der Tag dämmerte.

Beseelt von einem festen Entschlüsse, stand sie auf, warf einen Mantel über und ging hinaus. Sie erreichte die Gartentür in dem Augenblick, als ein Posten der Schweizergarden eingelassen wurde. Sie schlüpfte hinaus, ehe noch der Patrouillenführer Zeit hatte, sich zu fragen, wer diese junge Frau sei, die so früh aus dem Palast entwich.

  1. Der Spruch des englischen Hosenbandordens: Schande dem, der Schlechtes dabei denkt.

2. Kapitel. Triumph und Demütigung

Luise eilte die Straße linker Hand hinab, ohne zu wissen, wohin sie in dieser Richtung gelangen würde. Es war das erste Mal, daß sie allein durch Paris ging, und obwohl es um diese Zeit überall noch menschenleer war, so erschrak sie doch über das Gewirr von Straßen und Gassen, das sich allenthalben vor ihren Blicken öffnete. Sie eilte weiter und gelangte an den Seine-Hafen. Hin und wieder begegnete ihr ein später Nachtschwärmer oder eine lichtscheue Gestalt, aber das einsame Mädchen blieb unbehelligt. So kam sie schließlich auf den Grèveplatz. Während sie sich ratlos auf dem Häuserviereck umsah, taumelten aus einem Gasthause ein paar Männer heraus, schritten schwankend über den Platz, erblickten die weibliche Gestalt und umringten sie plötzlich unter lautem Geschrei.

Ehe Luise wußte, wie ihr geschah, erkannte sie, daß sie verloren sei, wenn nicht im letzten Augenblick Hilfe käme. Die Füße versagten ihr vor Schreck den Dienst, sie fiel und stieß einen Schrei des Entsetzens aus. Da teilte sich der Kreis, der sie umringte; der eine der rohen Gesellen flog Hals über Kopf nach links und blieb stöhnend auf dem Pflaster liegen, der andere rollte in den Rinnstein, der dritte ergriff die Flucht.

Ein Offizier der Musketiere stand vor dem Mädchen. »Potzblitz!« rief er. »Das ist ja Fräulein von Lavallière!« – Die Lavallière sah auf, als sie ihren Namen hörte, und erkannte, halb betäubt, Herrn d’Artagnan. »Ja, ich bin es,« stammelte sie, sich auf seinen Arm stützend. »Nehmen Sie sich meiner an, ich bitte Sie!« – »Aber wohin wollen Sie zu dieser Stunde?« – »Nach Chaillot, Herr d’Artagnan!« – »Da müssen Sie in entgegengesetzter Richtung gehen, mein Fräulein.«

»So bringen Sie mich auf den rechten Weg und gehen Sie ein Stück mit mir. Doch wie kommt es, daß ich Sie hier treffe? Welche Gnade des Himmels hat es gefügt, daß Sie mir zu Hilfe kommen konnten? Fast möchte ich glauben, ich träumte.«

»Ich besitze ein Haus hier am Grèveplatz und habe gestern abend meine Miete einkassiert. Die Nacht über bin ich dort geblieben, und nun wollte ich frühzeitig ins Palais, um meine Posten zu revidieren.« – Er bot ihr den Arm. »Was mag sie nur so zeitig in Chaillot wollen?« dachte er bei sich. Doch stellte er nicht diese Frage, sondern eine andere: »Ohne Zweifel wissen Sie gar nicht, wo Chaillot liegt? Es ist sehr weit von hier. Eine reichliche Meile.« – »Ich werde hinkommen.« – D’Artagnan antwortete nicht; er hörte aus ihrem Ton den unerschütterlichen Entschluß heraus. – »Aber wohin wollen Sie denn dort, Fräulein?« fragte er nach kurzem Schweigen. – »Ins Kloster der Karmeliterinnen. Und da wir uns noch einmal getroffen haben, so nehmen Sie zu gleicher Zeit meinen Dank und meinen letzten Gruß!«

»Ihren letzten? Sie wollen ins Kloster? Sie?!« – Und in diesem Ausruf lag viel; Luise fühlte sich durch dieses Wort an alles erinnert, was in Blois geschehen war, als noch Rudolf sie besuchte, was in Fontainebleau geschehen, seit der König ihr seine Liebe erklärt hatte. – »Sie, die Sie mit Rudolf glücklich, mit dem König mächtig sein könnten, Sie wollen ins Kloster?« So sprach d’Artagnan zu ihr in diesem einen Wort.

»Ja, ich werde eine Dienerin des Herrn,« antwortete sie, »ich entsage der Welt. Sie kennen nun meinen Entschluß. Sie kennen mein Ziel. Ich habe nun nur noch eine letzte Bitte an Sie. Der König darf von meiner Flucht aus dem Palais nichts erfahren; er darf auch nicht wissen, wohin ich gegangen bin.« – »Fräulein, Sie berechnen die Tragweite dieses Schrittes nicht,« wandte der Gaskogner ein. »Niemand darf bei Hofe etwas tun, was der König nicht wissen darf.« – »Ich gehöre nicht mehr zum Hof,« erwiderte Luise.

Der Kapitän sah sie erstaunt an. – »Beunruhigen Sie sich nicht, Herr,« sagte sie. »Das alles ist berücksichtigt worden, und abgesehen davon ist es jetzt zu spät, von meinem Entschluß umzukehren. Die Würfel sind gefallen. Herr, bei dem Mitleid, das man einer Unglücklichen schuldet, bei dem Edelmut Ihres Herzens, bei der Treue eines Edelmanns fordere ich Sie auf, mir zu schwören, daß Sie dem König nicht sagen werden, wohin ich gegangen bin.«

»Das soll ich beschwören?« versetzte der Musketier, die Stirn runzelnd, »nein, Fräulein, das beschwöre ich nicht.« – »Warum nicht?« rief Luise trostlos. – »Weil ich den König kenne, weil ich Sie kenne, weil ich mich selber kenne, weil ich die ganze Menschheit kenne! Nein, das beschwöre ich nicht!« – »Dann,« rief die Lavallière mit einer Energie, die man ihr nicht zutraute, »dann sollen Sie statt der Segnungen, die ich von Stund ab mein Leben lang über Sie herabgefleht hätte, verflucht sein! Denn Sie machen mich zum unglücklichsten aller Geschöpfe!«

D’Artagnan erkannte, daß ein furchtbarer Ernst aus ihr sprach und ein längerer Widerstand sie töten könnte. »So geschehe denn, was Sie verlangen, Fräulein!« sagte er. »Ich werde dem König nichts sagen.« – »O, Dank, Dank!« rief Luise. »Sie sind der edelste der Menschen!« Und sie ergriff seine Hand und drückte sie. – »Potzblitz!« brummte er, »das ist eine, die dort anfängt, wo die andern aufhören. Das finde ich rührend.«

Er begleitete sie soweit, bis man das Kloster erblickte. Dann ging sie allein weiter. »Meiner Treu,« sagte er, während er ihr nachschaute, bis sie durch die Pforte der Umfassungsmauer verschwunden war, »das ist, was man eine heikle Geschichte nennt. Solch ein Geheimnis bewahren, heißt eine glühende Kohle in der Tasche tragen und erwarten, daß sie das Kleid nicht versenge. Das Geheimnis nicht bewahren, wie man es geschworen, hieße ehrlos handeln. Ich weiß wahrhaftig nicht, wie ich mich aus dieser Patsche ziehen soll!«

In den Palast zurückgekehrt, erkundigte er sich nach dem König. Majestät schlief noch. – »So hat sie mir die Wahrheit gesagt,« dachte er, »denn wüßte der König drum, so ginge jetzt hier alles drunter und drüber.«

Ludwig XIV. hatte bis spät in die Nacht hinein mit Colbert gearbeitet und alles für den Empfang der Gesandten vorbereitet. Als er den Minister entlassen, führten Stolz und Liebe einen heftigen Kampf in seinem Innern. Er war auf dem Punkte, zur Lavallière zurückzukehren; doch im letzten Moment entschied er sich noch zu bleiben. – Die Dienerschaft trat ein, ihn beim Zubettgehen zu bedienen. Die Königin wartete seit einer Stunde auf ihren Gemahl. Er ging mit einem Seufzer zu ihr.

Er wachte zeitig auf: ein Beweis, daß er schlecht geschlafen. Um sieben Uhr öffnete er die Tür und ließ Saint-Aignan rufen. D’Artagnan, der am Fenster stand, sah sie zusammen fortgehen, und wunderte sich nicht, daß sie den Weg zu den Ehrendamen einschlugen. Er pfiff den alten Musketiermarsch, den er nur bei sehr wichtigen Gelegenheiten hören ließ, und bedachte, was es wohl für einen Lärm geben würde, wenn der König entdeckte, daß die Lavallière verschwunden sei.

Ludwig XIV. trat in das Zimmer der Geliebten und fand nur Aure von Montalais. Sie konnte ihm keine Aufklärung geben. »Luise ist eine sentimentale Person,« sagte sie, »und ist oft schon bei Tagesanbruch spazieren gegangen; ich denke mir, sie wird im Park sein.« – Ludwig hielt dies für wahrscheinlich und ging in den Schloßgarten.

»Hm!« murmelte d’Artagnan, »Seine Majestät tut da Dinge, die er für Fräulein von Mancini gewiß nicht getan hätte. Seine Leidenschaft ist stärker, als ich glaubte.«

Nach einer Viertelstunde kam der König wieder, außer Atem und in großer Aufregung. Saint-Aignan fächelte ihm mit seinem Hute Luft zu und erkundigte sich unterwegs bei allen Lakaien und Türhütern nach der Vermißten. Niemand wußte etwas von ihr. Inzwischen war es acht Uhr geworden; um diese Zeit frühstückte der König gewöhnlich. Diesmal berührte er die Speisen kaum. Dann erschienen einige militärische Personen, denen Audienz gegeben war; er fertigte sie schnell ab. Mit Ungeduld wartete er auf Saint-Aignan, den er weggeschickt hatte, um Erkundigungen einzuziehen. Der Graf kam unterrichteter Dinge zurück.

Nun schlug es neun Uhr. Es war die Stunde, zu der die Gesandten beschieden waren, und Ludwig ging in den großen Saal. Die zu diesem Akt der Politik geladenen Personen waren bereits versammelt; die Königin-Mutter, die Königin und Madame waren kurz vorm König eingetreten. Der König begrüßte die Gesellschaft. Die Gesandten, drei für Holland, zwei für Spanien, wurden vorgestellt. Ludwig XIV. gab sich alle Mühe, jede Spur seiner heftigen Erregung zu tilgen, um das wichtige Geschäft mit Würde zu erledigen, doch gelang es ihm nur unvollkommen. Er hörte die Ansprache des spanischen Gesandten an und ergrimmte fast, daß dieser Mann ihn zwinge, die kostbare Zeit, die der Suche nach seiner Geliebten gewidmet sein sollte, an ihn zu verlieren. Als der Spanier mit einem Hinweis auf die Vorteile schloß, die Frankreich aus einer freundschaftlichen Allianz mit Spanien ziehen würde, antwortete Ludwig kurz: »Mein Herr, wenn eine Allianz gut für Frankreich wäre, so würde sie für Spanien sehr gut sein.« – Die beiden Königinnen erröteten, denn sie waren Spanierinnen und fühlten sich in ihrem Nationalstolz verletzt.

Der holländische Gesandte nahm das Wort. Ludwig ließ ihn nicht lange sprechen. »Mein Herr;« rief er, »wollen Sie sich beklagen, wo ich mich zu beklagen hätte? Wollen Sie es mir verübeln, wenn ich mich vorsehe gegen eine Regierung, die es duldet, daß beleidigende Pamphlete über mich in ihrem Lande gedruckt werden?« – »Sire, Sie können für ein Pamphlet nicht die Nation verantwortlich machen,« antwortete der Holländer. »Die Drucker suchen sich von Sensationen zu nähren, sonst müßten sie Hungers sterben.« – »Das sei zugegeben,« sagte Ludwig. »Wenn aber die Münze von Amsterdam Medaillen prägt, deren Inschrift eine Beleidigung für mich enthält, ist das auch das Werk einiger Hungerleider?« – »Was für Medaillen, Majestät?« erwiderte der Gesandte. – Ludwig warf einen Blick auf Colbert, von dem er eine nähere Erklärung erwartete, da trat d’Artagnan vor, nahm ein Münzstück aus der Tasche und zeigte es dem König. Ludwig XIV. sah es an und erblickte darauf eine Gestalt, in der sich Holland deutlich symbolisierte, welche die Hand Wider die Sonne erhob, über welche sich eine Wolke lagerte. Die Inschrift lautete: » In conspectu meo stetit sol10

»Nun werden Sie wohl nicht länger leugnen?« rief Ludwig in unverhohlnem Zorn dem holländischen Gesandten zu. Ein tiefes Schweigen herrschte ringsum, der Gesandte suchte nach einer Entschuldigung.

In diesem Schweigen vernahm man plötzlich die Stimme d’Artagnans, der laut zu Herrn von Saint-Aignan sagte: »Wissen Sie schon die Geschichte von Fräulein von Lavallière, Graf?« – Der König zuckte zusammen. – »Nein, was denn? was denn?« – »Das arme Kind ist ins Kloster gegangen,« sprach der Musketier. – »Ins Kloster?« rief Saint-Aignan. – »Ins Kloster?« rief der König dazwischen. – Nun begann der holländische Gesandte zu sprechen und versuchte den Vorfall zu erklären und als ganz harmlos hinzustellen. Der König hörte nicht auf ihn; sein Ohr war ganz bei d’Artagnan, der fortfuhr: »Ja, ins Kloster der Karmeliterinnen zu Chaillot.« – »Woher wissen Sie denn das?« fragte der Hofmeister. – »Von ihr selbst. Ich habe sie hingeführt.« – »Aber warum ist sie denn entflohen?« – »Weil man sie gestern von Hofe verjagt hat.«

Nun konnte der König sich nicht länger bezwingen. Er schnitt dem Holländer mit einer herrischen Gebärde und mit den Worten: »Ich habe genug gehört,« das Wort ab und trat auf den Kapitän zu: »Ist das wahr, was Sie da sagen?« rief er. – »Wahr wie die Wahrheit selbst, Majestät.« – Der König wurde bleich und ballte die Hände. – »Und es ist auch wahr, daß man sie verjagt hat?« stieß er hervor. – »Sire, erkundigen Sie sich,« antwortete der Musketier. – »Verjagt!« schrie der König. »Von wem?«

Er vergaß die Gesandten, die Politik, die Etikette, die Minister und die ganze Gesellschaft. Seine Mutter stand auf – Madame erhob sich neben ihr, unwillkürlich zitternd, die Königin bedeckte das Gesicht mit den Händen. – »Meine Herren,« rief Ludwig XIV., »die Audienz ist zu Ende; ich werde Spanien und Holland schriftlich meinen Willen kundtun.« Und er entließ die Gesandten mit einer gebieterischen Handbewegung.

»Geben Sie acht, mein Sohn,« sagte die Königin-Mutter im Tone des Unwillens, »Sie sind, wie mir scheint, nicht Herr über sich selbst.« – »Ha, Königliche Hoheit,« brüllte der junge Löwe in furchtbarem Grimm, »wenn ich nicht Herr über mich bin, so schwöre ich Ihnen, ich werde Herr über die sein, die mich beschimpfen! Folgen Sie mir, Herr d’Artagnan!« – Unter dem Entsetzen aller verließ er rasch den Saal. Die Gesandten bezogen seine letzten Worte auf sich selbst und ihre Länder, doch Colbert hatte Geistesgegenwart genug, sie zu beschwichtigen.

Ludwig XIV. eilte die Treppe hinab und stürmte durch den Hof. – »Majestät gehen falsch,« sagte d’Artagnan. – »Nein, ich will zum Marstall,« rief Ludwig. – »Nicht nötig, Sire. Ein Pferd steht schon bereit.« – Der König antwortete seinem Diener nur mit einem Blick, doch dieser Blick verhieß mehr, als der Ehrgeiz von drei d’Artagnans zu hoffen gewagt hätte.

Manicamp und Malicorne, die d’Artagnan als Begleiter mitnehmen wollte, weniger weil er sie für sehr geeignet hielt, als weil er niemand anders zur Hand hatte, saßen bereits im Sattel, und in zehn Minuten – denn der Musketier hatte die besten Pferde genommen – traf die Kavalkade in Chaillot ein. Ludwig klopfte ungestüm an die Pforte und ließ sich ins Sprechzimmer führen. Luise befand sich dort – sie lag vor einem großen Kruzifix auf den Knien. Der König behielt nur d’Artagnan bei sich. Als Luise das Geräusch der Eintretenden hörte, sah sie erschrocken auf, und beim Anblick des Königs stieß sie einen furchtbaren Schrei aus. Er sprang hinzu und zog sie in die Arme.

Die Aebtissinnen und mehrere Klosterschwestern eilten herbei und erhoben ein lautes Geschrei beim Anblick der zwei Männer; aber an der hoheitsvollen Haltung des einen erkannte die Vorsteherin, daß sie einen hochstehenden Herrn vor sich habe, und zog sich mit ihren Frauen zurück. Ludwig war bereits willens, einen seiner Kavaliere nach seinem Arzt zu schicken, als die Lavallière die Augen aufschlug und ihn erkannte.

»Ha!« stammelte sie, »so ist das Opfer noch nicht vollendet?« – »Nein, nein!« rief der König, »und wird es nie werden! Das schwöre ich Ihnen!« – Sie erhob sich. »Und doch muß es sein,« sagte sie, »man hindere mich nicht.« – »Ich werde nicht dulden, daß man Sie opfert!« erwiderte der König. – Bei diesen Worten verließ d’Artagnan das Zimmer.

»Sire,« fuhr die Lavallière fort, »treten Sie nicht zwischen mich und die einzige Zukunft, von der ich noch Heil zu erwarten habe; und opfern auch Sie nicht all Ihre Zukunft einem Gefühl, das doch nur Laune bleibt.«

»Laune!« rief der König. – »Ja, Sire, ob Sie auch anderer Meinung sind – dieses Gefühl muß zuletzt doch den Pflichten weichen, die Ihnen obliegen, Sie müssen mich vergessen!« – »Sie vergessen?« rief der König. – »Ja, Sie haben es ja auch schon getan. Sie können doch nicht eine Person lieben, in deren Tod Sie in dieser Nacht selbst eingewilligt haben. Oder muß ich Sie an das erinnern, was Sie mich gestern früh schwören ließen – was Sie selbst beschworen? Nie eine Nacht über einem Mißverständnis verstreichen zu lassen, ohne uns aufzusuchen oder Briefe auszutauschen?«

»O, verzeihen Sie mir, Luise, die Eifersucht hatte mich närrisch gemacht!« – »Sire, die Eifersucht ist ein böses Unkraut, das immer nachwächst. Sie werden wieder eifersüchtig sein und mich schließlich töten. Lassen Sie mich hier sterben!« – »Noch ein solches Wort, und Sie werden mich zu Ihren Füßen sterben sehen!« – »O, Sire. Sie werden sich doch nicht für eine Unglückliche, die alle Welt verachtet, zugrunde richten wollen!« – »Nennen Sie mir die, die Sie beschuldigen!« – »O, ich habe gegen niemand Klage zu führen, Majestät. Lassen Sie mich! Sie kompromittieren sich, indem Sie mit mir sprechen. Ueberlassen Sie mich Gott!«

»Nein, ich werde Sie selbst dem Himmel entreißen!«

»Sire,« versetzte Luise fest, »da müßten Sie mich zuvörderst den grausamen Feinden entreißen, die mir nach Ehre und Leben trachten. Wenn Sie den Mut haben, mich zu lieben, so haben Sie auch Macht genug, mich zu verteidigen. Und doch ist die, die Sie lieben, beschimpft, verhöhnt, verjagt worden. Sie sehn nun wohl, ich habe keinen andern Beschützer als Gott, keinen andern Trost als das Gebet, keine andere Zuflucht als das Kloster!«

»Sie werden in meinem Palast, an meinem Hofe bleiben. Fürchten Sie nichts mehr, Luise! Die Frauen, die Sie gestern verstoßen haben, sollen morgen vor Ihnen zittern. Mit blutigen Tränen sollen sie die Tränen bezahlen, die sie Ihnen verursacht haben. Nennen Sie mir nur Ihre Feinde!« – »Nimmermehr!« antwortete sie entschlossen. »Sire, diejenigen, die zu bestrafen wären, sind mächtig genug, die Hand des Königs gegen mich selbst zu wenden!« – »Sie kennen mich nicht!« rief Ludwig entrüstet. »Ich werde alles vernichten, was sich zum Feinde des sanftesten Geschöpfes auswirft, das Gott geschaffen hat.«

»Sire, ein letztes Mal, gehen Sie! Ueberlassen Sie mich der Ruhe, in die ich mich geflüchtet; ich fühle mich sicherer unter der Hand Gottes.« – »O, so sagen Sie erst, Sie lieben mich nicht und mein Schmerz sei Ihnen gleichgültig. Sie hätten nur mit mir gespielt, um Ihrem Stolze zu schmeicheln!« – »Majestät, glauben Sie, was Sie für gut befinden! Nur glauben Sie nicht, ich könnte einen Krieg gegen Ihre ganze Familie beginnen! Ich könnte es dulden, daß Sie sich meinetwegen mit Mutter, Gemahlin und Schwester entzweien.«

»Ah, endlich haben Sie Ihre Feindinnen genannt. Diese also waren es! Beim allmächtigen Gott, ich werde sie bestrafen.« – »Das eben ist es, was mir Angst vor der Zukunft einflößt, warum ich nicht will, daß Sie mich rächen sollen. Es ist genug der Schmerzen, Tränen und Klagen! Ich habe genug geweint, geseufzt und gelitten. Ich bedarf all meines Mutes, mein Opfer zu vollenden. Machen Sie mich nicht wankend!«

»So liebst du mich nicht?« – »O, Sire, wenn ich Sie nicht liebte, so würde ich drein willigen, daß Sie mich rächen. Ich würde als Entgelt für den mir angetanen Schimpf den süßen Triumph hinnehmen, meine Feinde gedemütigt zu sehen. O, Sire! Sie sehen ja, ich verlange nicht einmal, daß Sie mich lieben, und doch ist Ihre Liebe für mich soviel wie das Leben! Ja, ich wollte sterben, weil ich der Meinung war, Sie liebten mich nicht mehr.«

»Ja, nun erkenne ich, Sie sind die frömmste, die verehrungswürdigste der Frauen! Und drum soll keine so geehrt, so geliebt sein wie Sie Luise! Ich schwöre es Ihnen, ich werde alles zerschmettern, was sich erhebt, Sie mir zu rauben! Doch nein, Luise! Sie wünschen, daß alles in Liebe und Güte abgetan werde – diktieren Sie mir nur mein Verhalten, ich werde gehorchen.«

»O, Sire, was bin ich armes Mädchen, einem König, wie Sie sind, etwas vorzuschreiben!« – »Sie sind mein Leben und meine Seele – und die Seele regiert doch den Leib, nicht wahr?« – »O, Sie lieben mich also, mein teurer Herr? Sie lieben mich! Dann habe ich nichts mehr zu wünschen auf Erden! Dann ist mir alles Glück zuteil geworden das ich von diesem Leben erhoffe!« – »Ja, Luise, und dieses Glück soll dir erhalten bleiben, ich gelobe es! Keine Gedanken mehr von Trennung und düsterer Verzweiflung! Die Liebe ist unser Gott – und du mußt für mich leben, wie ich für dich!«

»O, Sire! ich kann ja nicht an den Hof zurück – man hat mich verbannt!« – »Verbannt? Wer verbannt, wen ich zurückrufe?« – »O, Sire, etwas, das über den Königen steht: die Welt und die öffentliche Meinung. Sie können keine Frau lieben, die man hinausgewiesen hat, die von Ihrer Mutter, von Ihrer Schwägerin mit Schande überhäuft worden ist!« – »Luise, ich werde Ihnen beweisen, wie sehr ich Sie liebe. Ich werde etwas tun, was ich für niemand anders täte – ich werde mit Madame sprechen, ich werde sie zwingen, ihren Urteilsspruch zu widerrufen, ja, wenn es sein muß, werde ich bitten!«

»O, Sire, demütigen Sie sich nicht um meinetwillen – lieber will ich sterben!« rief Luise, überwältigt von seiner großen Liebe. – »Ich werde lieben, wie Sie lieben, und ich werde leiden, wie Sie gelitten haben,« antwortete Ludwig. »So will ich sühnen, daß ich mein Gelübde vergaß! Ja, teures Fräulein, seien wir groß wie unser Schmerz, und stark wie unsere Liebe! Mein einziges Gut, mein Leben, folge mir!« – Sie sträubte sich nicht länger, sie ließ sich von ihm emporheben und hinaustragen. Draußen sah sie d’Artagnan. – »O,« murmelte sie schmerzlich, »so haben Sie mich doch verraten, Herr d’Artagnan. Sie hatten geschworen –«

»Ich hatte geschworen, dem König nichts zu sagen,« antwortete der Chevalier lächelnd. »Ich habe mein Wort gehalten, denn ich habe es nicht dem König, sondern Herrn von Saint-Aignan erzählt. Ich kann nichts dafür, wenn es der König gehört hat.« – Die Lavallière lächelte und reichte dem König die zitternde Hand. Ach, sie war ja nur zu glücklich, daß der Geliebte zu ihr gekommen war. – »D’Artagnan,« befahl der König, »lassen Sie eine Kutsche holen.« – »Sire, die Kutsche steht schon unten,« antwortete der Kapitän. – »Sie sind das Muster eines Dieners,« rief der König entzückt. Er trug das junge Mädchen auf seinen Armen hinab und hob sie in den Wagen. Dann ließ er sie in d’Artagnans Schutz und sprengte selbst zum Palast zurück, um alsbald Madame aufzusuchen.

Er war rot vom schnellen Ritt. Seine bestaubten, unordentlichen Kleider bildeten einen auffallenden Kontrast zu der sorgfältigen Toilette der Herzogin. Sie hatte die Aufregung der Szene im Empfangssaal noch nicht überwunden, und nun warf sein unerwarteter Besuch sie von neuem in die größte Verlegenheit zurück. Er ersparte sich jegliche Vorrede, setzte sich zu ihr und begann: »Königliche Hoheit, Sie wissen, Fräulein von Lavallière ist in ihrer Verzweiflung heute morgen entflohen und hat in einem Kloster Schutz gesucht.« – »Das erfahre ich jetzt erst von Eurer Majestät,« antwortete sie. – »Ich dachte, Sie hätten es heute früh beim Empfange der Gesandten erfahren,« sagte er. »Doch gleichviel! Warum haben Sie Fräulein von Lavallière weggeschickt?«

»Weil ich mit ihr nicht mehr zufrieden war,« antwortete sie. – Der König wurde blutrot, und seine Augen loderten auf. Doch hielt er an sich. – »Sie blamieren damit nicht nur das Mädchen, sondern dessen ganze Familie, und dazu bedarf es doch wohl eines sehr triftigen Grundes. Ein Ehrenfräulein wegschicken heißt, es eines Verbrechens, mindestens eines Fehlers beschuldigen. Welches Verbrechen hat Fräulein von Lavallière begangen?«

»Da Sie sich zum Beschützer dieses Mädchens aufwerfen, Majestät,« antwortete sie, »so will ich Ihnen eine Erklärung geben, die ich sonst niemand geben würde.« – »Wie? Niemand? auch dem König nicht?« rief Ludwig. »Madame, niemand in meinem Reiche darf sagen, er sei berechtigt, mir Erklärungen zu verweigern.« – »Ich nehme mir dieses Recht,« erwiderte sie trotzig, »und werde schweigen.« – Ludwig schämte sich schon ein wenig über seine Heftigkeit. »Madame, verstehen wir uns nicht falsch,« lenkte er ein, »Sie wissen, ich bin das Oberhaupt des gesamten Adels und habe über die Ehre aller Familien zu wachen. Wenn nun ein Ehrenfräulein – ob die Lavallière oder ein anderes –« Madame zuckte die Achseln. – »Ich wiederhole,« rief Ludwig, von neuem ungestüm, »ob sie oder eine andere durch Verbannung entehrt wird, so verlange ich eine Erklärung, damit ich dieses Urteil bestätigen oder verwerfen kann.«

»Verwerfen?« entgegnete sie stolz. »Wenn ich eine meiner Zofen wegschicke, so wollen Sie mir gebieten, sie wieder anzunehmen? Das war nicht nur ein Uebergriff, das wäre sogar eine Unanständigkeit!« – »Madame!« – »Jawohl! Wir reden ja unter vier Augen! Ich würde mich auflehnen gegen einen solchen Mißbrauch Ihrer Macht, der überhaupt gegen alle Würde ist, durch den Sie mich zu einer niedrigen Kreatur machen würden, noch niedriger als die, die ich fortschickte!«

Der König sprang voll Wut auf. – »Sie sind herzlos,« rief er. »Wenn Sie so an mir tun, so werde ich mit der gleichen Rücksichtslosigkeit gegen Sie verfahren.«

»Zur Sache, Sire!« antwortete sie, den Rückzug antretend. »Was verlangen Sie von mir?« – »Ich will zunächst wissen, inwiefern Fräulein von Lavallière gefehlt hat.« – »Sie hat Anlaß zu einem Duell gegeben, sie hat in einer Weise von sich reden machen, daß alle Welt empört ist. Ja, sie! denn unter dieser Hülle von Frommheit und Sanftmut birgt sich ein verschlagener, tückischer Geist. Ich kenne sie. Sie ist imstande, die ganze Königsfamilie gegeneinander zu hetzen. Hat sie nicht schon Zwietracht genug unter uns gesät? Wir beide zum Beispiel lebten in gutem Einvernehmen – sie hat mich bei Ihnen angeschwärzt.«

»Ich schwöre, es ist nie ein unwilliges Wort über ihre Lippen gekommen,« antwortete der König. »So zornig ich war, sie ließ sich dadurch nicht hinreißen, irgendwen anzuklagen. Ich versichere Ihnen, Sie haben keine ehrfurchtsvollere Freundin als sie!« – »Freundin!« rief Madame im Tone tiefster Verachtung. – »Madame,« versetzte der König erbittert, »ich sage Ihnen, die Lavallière wird das sein, was ich aus ihr mache, und wenn ich will, so setze ich sie auf einen Thron!« – »Er wird ihr wenigstens nicht durch Geburt zukommen,« antwortete die Herzogin kalt. »Sie können etwas tun für die Zukunft, aber nichts für die Vergangenheit.« – »Madame, Sie erinnern mich wieder daran, daß ich der Herr bin! Wollen Sie mir zugestehen, daß Fräulein von Lavallière zu Ihnen zurückkehren darf?« – »Wozu das, Sire, wenn Sie sie auf einen Thron setzen wollen?« – »Gut, ich muß wohl einen Waffenstillstand mit Ihnen schließen,« sagte Ludwig, wohl einsehend, daß er auf diesem Wege nicht zum Ziele kommen werde, »wollen Sie sich unserer Freundschaft erinnern, wollen Sie zu mir wie eine Schwester sein? Henriette! lassen Sie Ihr Herz sprechen! Denken Sie daran, daß Sie mich geliebt haben! Seien Sie nicht unbeugsam – um meinetwillen, Schwägerin, Schwester! Vergeben Sie der Lavallière!«

»Sire, alles in der Welt will ich für Sie tun – nur das nicht!« – »Treiben Sie mich nicht zur Verzweiflung – zwingen Sie mich nicht zum letzten äußersten Mittel – entfachen Sie nicht meinen Zorn – er könnte alles hinwegreißen–!« – »Sire, ich rate Ihnen Vernunft an.« – »O, Schwester, ich habe keine Vernunft mehr! Mitleid, Schwester! Es ist das erste Mal, daß ich bitte – meine letzte Hoffnung ist bei Ihnen!«

»O, Sire, Sie weinen!« – »Vor Wut, ja! vor Demütigung! Ich, der König, mußte mich erniedrigen, mußte bitten! Ich werde diesen Augenblick mein Leben lang verwünschen! Schwester, Sie haben mich in einer Sekunde mehr Böses erleiden lassen, als ich in der härtesten Bedrängnis meines Lebens erlitten habe!« – Der König stand auf und ließ seinen Tränen freien Lauf – Tränen des Zorns und der Scham. Madame empfand weder Rührung noch Mitleid; aber sie fürchtete, diese Tränen könnten alles Menschliche aus dem Herzen des Königs wegschwemmen.

»Sire, ehe Sie gedemütigt werden, muß ich mich der Demütigung unterziehen,« antwortete sie stolz, »befehlen Sie, ich werde dem König gehorchen.« – »Nun denn!« antwortete er, »nehmen Sie dieses arme Mädchen wieder an, vergeben Sie ihr?« – »Sie mag wieder in meinem Hause sein.« – »Und Sie werden sie aus Liebe zu mir gut behandeln, Schwester?« – »Ich werde sie behandeln, wie es einer Mätresse von Ihnen zukommt.«

Der König trat zurück. Durch dieses eine unglückselige Wort, das der stolzen Kokette entschlüpfte, vernichtete sie das ganze Verdienst ihres Opfers. Der König war ihr nichts mehr schuldig. – »Ich danke Ihnen, Madame,« sagte er, »und werde mich allzeit des mir erwiesenen Gefallens erinnern.« – Er verneigte sich förmlich und ging hinaus. An einem Spiegel vorübereilend, sah er, daß seine Augen gerötet waren, und stampfte mit dem Fuße. Es war zu spät; Malicorne und d’Artagnan, die an der Tür standen, hatten seine Augen gesehen. – »Der König hat geweint,« dachte Malicorne.

Der Kapitän aber näherte sich ehrfurchtsvoll und sagte leise: »Sire, Sie müssen über die kleine Treppe zurückkehren.« – »Warum?« – »Weil Sie noch Straßenstaub im Gesicht haben,« antwortete d’Artagnan. »Kommen Sie, Sire!«

  1. Wenn ich mich zeige, macht die Sonne halt. (Ludwig hatte die Sonne zu seinem Sinnbild.)