Sechstes Kapitel


Sechstes Kapitel

In dem der im vorigen Kapitel erwähnte Unfall einigen Herren Gelegenheit gibt, sich Geschichten zu erzählen.

»O ha!« rief der Schaffner, der in einem Augenblick wieder auf den Beinen war und zu den Vorderpferden des Zuges eilte. »Ist kein Herr da, der hier Hand anlegen kann? Ruhig, ihr verwünschten Bestien. O ha!«

»Was gibt’s?« fragte Nicolaus, schlaftrunken aufsehend.

»Was es gibt? Es gibt genug für eine Nacht«, versetzte der Schaffner. »Der Henker hole die einäugige Mähre; sie ist toll geworden und bildet sich was drauf ein, daß sie die Kutsche umgeworfen hat. Da, können Sie nicht Hand mit anlegen? Hol’s der Teufel, ich tät’s, wenn auch alle meine Knochen zerbrochen wären.«

»Ich bin bereit«, rief Nicolaus, sich auf die Beine helfend. »Meine Sinne waren nur nicht ganz beieinander, das ist alles.«

»Ziehen Sie fest an«, rief der Schaffner, »ich will inzwischen die Stränge abschneiden. Recht so, Musje. Jetzt können Sie sie fahren lassen. Blitz und Hagel, sie werden schnell genug heimlaufen.«

In der Tat waren die Tiere auch kaum erlöst, als sie gar umsichtig wieder nach dem Stall zurücktrabten, den sie erst vor ein paar Minuten verlassen hatten.

»Können Sie Horn blasen?« fragte der Schaffner, eine der Kutschenlaternen losmachend.

Nicolaus bejahte.

»Nun, so blasen Sie einmal in das, das dort auf dem Boden liegt, hinein«, fuhr der Mann fort; »es ist so gut, daß man die Toten damit wecken könnte. Ich will inzwischen dem Gekreisch in der Kutsche da drinnen Einhalt tun. Kommen Sie heraus, kommen Sie heraus, Frauenzimmer! Machen Sie keinen solchen Lärm.«

Unter diesen Worten war es dem Manne gelungen, den nach oben gekehrten Kutschenschlag aufzureißen, und Nicolaus weckte mit einer der außerordentlichsten Leistungen, die je von menschlichen Ohren auf einem Posthorn gehört wurden, das Echo auf eine weite Ferne hin. Die Töne taten auch ihre Wirkung, denn sie brachten nicht nur die Passagiere, die sich allmählich von den betäubenden Wirkungen ihres Falles erholten, auf die Beine, sondern riefen auch Beistand herbei, denn man sah bereits Lichter in der Ferne, die immer näher kamen.

In der Tat galoppierte auch, noch ehe sich die Passagiere gehörig gesammelt hatten, ein Reiter heran, und bei einer sorgfältigen Untersuchung stellte sich heraus, daß die Dame im Innern ihre Lampe und der Herr seinen Kopf zerstoßen hatte; zwei Reisende von dem vorderen Außensitz waren mit blauen Augen, einer aus der Droschke mit blutiger Nase, der Postillion mit einer Beule an der Schläfe, Herr Squeers mit einer Beule an seinem Gesäß und die übrigen Reisenden – Dank sei es der Weichheit der Schneeschicht, auf die sie geworfen wurden – ohne alle Beschädigung davongekommen. Sobald man sich hierüber Gewißheit verschafft hatte, wollte die Dame in Ohnmacht fallen; aber man bedeutete ihr, daß man sie, wenn sie das täte, einem Herrn auf die Schultern laden und sie so nach dem nächsten Wirtshause bringen würde, weshalb sie sich weislich eines Bessern besann und mit dem Rest der Gesellschaft auf ihren eigenen Beinen nach demselben zurückgehen wollte.

Als sie daselbst anlangten, fanden sie, daß es ein ziemlich einsamer Ort war, der hinsichtlich des Raumes, den er bot, keine sonderlichen Bequemlichkeiten gewährte, da sich dieser nur auf das einzige, reichlich mit Sand bestreute und mit etlichen Stühlen versehene Wirtschaftszimmer beschränkte. Als man jedoch ein großes Reisigbündel und eine tüchtige Portion Kohlen auf dem Herde aufgehäuft hatte, gewann das Ganze bald ein besseres Aussehen, und ehe man noch alle vertilgbaren Spuren des kürzlichen Unfalles wegwaschen konnte, war das Zimmer warm und hell – kein übler Tausch für die Nacht und Kälte im Freien.

»Nun, Herr Nickleby«, sagte Squeers, der für sich die wärmste Ecke ausgesucht hatte; »es war sehr gut, daß Sie die Pferde hielten. Ich hätte es auch so gemacht, wenn ich zeitig genug dazugekommen wäre; es freut mich aber recht, daß Sie es taten. Sie haben sehr wohl daran getan – sehr wohl.«

»So wohl«, sagte der Herr mit dem heiteren Gesicht, dem der Gönnerton, den Squeers Nickleby gegenüber anschlug, nicht sonderlich zu gefallen schien, »daß Ihnen wahrscheinlich kein Gehirn geblieben wäre, mit dem Sie hätten Unterricht erteilen können, wenn sie nicht gerade in diesem Augenblick festgehalten worden wären.«

Diese Bemerkung veranlaßte eine reichlich mit Komplimenten und Danksagungen gewürzte Erörterung über die Gewandtheit, die Nicolaus bei dieser Gelegenheit an den Tag gelegt hatte.

»Ich bin natürlich sehr froh, so davongekommen zu sein«, bemerkte Squeers; »denn jedermann freut sich, eine Gefahr glücklich überstanden zu haben. Aber wenn einer meiner Pflegebefohlenen Schaden genommen hätte – wenn ich verhindert worden wäre, einen dieser kleinen Knaben seinen Eltern wieder ganz gesund zurückzugeben, wie ich ihn erhielt –, was hätten da meine Gefühle sein müssen? Es würde mir weit lieber gewesen sein, wenn mir ein Rad über den Kopf gegangen wäre.«

»Sind es lauter Brüder, Sir?« fragte die Dame, die den ›Davy‹ oder die Sicherheitslampe bei sich geführt hatte.

»In einem gewissen Sinne sind sie es, Madame«, antwortete Squeers, in seinen Überrocktaschen nach Karten suchend. »Sie stehen alle unter der gleichen, liebevollen und väterlichen Leitung. Madame Squeers und ich, wir beide sind jedem derselben Mutter und Vater. Herr Nickleby, geben Sie der Dame und den Herren diese Karten. Vielleicht kennen sie einige Eltern, die sich freuen würden, mein Institut zu benutzen.«

Mit diesen Worten legte Herr Squeers, der keine Gelegenheit versäumte, seine Anzeige unentgeltlich unter die Leute zu bringen, die Hände auf seine Knie und blickte mit so viel Wohlwollen, als er zur Schau zu stellen vermochte, auf seine Zöglinge, während Nicolaus schamrot dem Auftrag entsprach und die Karten umherbot.

»Ich hoffe, Sie haben bei dem Umwerfen keinen Schaden genommen, Madame«, sagte der Herr mit dem heiteren Gesicht zu der gezierten Dame, als sei es sein sehnlichster Wunsch, den Gegenstand des Gesprächs zu wechseln.

»Körperlich nicht«, versetzte die Dame.

»Wie, ich will nicht hoffen, daß Sie im Geiste –«

»Der Vorfall ist für meine Gefühle zu schmerzlich, Sir«, entgegnete die Dame in großer Aufregung, »und ich bitte Sie als einen Mann von Erziehung, seiner nicht mehr zu erwähnen.«

»Du mein Himmel!« sagte der Herr mit dem heiteren Gesicht, eine noch heiterere Miene annehmend, »ich wollte bloß fragen –«

»Ich hoffe, daß man keine Fragen an mich stellt«, sagte die Dame, »oder ich werde mich genötigt sehen, den Schutz der übrigen Herren aufzurufen. Herr Wirt, ich bitte, lassen Sie einen Knaben vor der Tür achtgeben. Wenn eine grüne Kutsche von Grantham herkommt, so soll er sie sofort anhalten.«

Die Leute im Hause waren augenscheinlich durch diese Bitte überrascht, und als die Dame dem Knaben anempfahl, als Erkennungszeichen der erwarteten grünen Kutsche auf den mit Goldborten versehenen Hut des Kutschers auf dem Bock und auf den Lakaien hinten, der wahrscheinlich seidene Strümpfe tragen würde, zu achten, verdoppelte sich die Aufmerksamkeit der Wirtin. Selbst der Passagier aus der Droschke ließ sich hiervon anstecken, wurde wunderbar höflich und fragte sogleich, ob es in dieser Gegend nicht sehr gute Gesellschaft gäbe, was die Dame auf eine Weise bejahte, die deutlich merken ließ, daß sie sich eigentlich auf der obersten Spitze derselben bewege.

»Da der Schaffner nach Grantham geritten ist, um eine andere Kutsche zu holen«, sagte der Herr mit dem heiteren Gesicht, als sie eine Weile schweigend um das Feuer gesessen hatten, »und er vor ein paar Stunden nicht wieder zurückkommen kann, so mache ich den Vorschlag, eine Bowle Punsch miteinander zu leeren. Was sagen Sie dazu, Sir?«

Diese Frage war an den Mann gerichtet, der sich im Innern der Kutsche den Schädel zerstoßen hatte. Er war von sehr achtbarem Äußeren, in Trauer gekleidet und nicht über das mittlere Alter hinaus, obgleich sein Haar – vielleicht von Gram und Sorge – frühzeitig gebleicht war. Er ging auf den Vorschlag bereitwillig ein und schien an der freimütigen guten Laune dessen, der ihn gemacht hatte, Gefallen zu finden.

Dieser übernahm, als der Punsch fertig war, das Amt des Mundschenken und leitete, nachdem er alle mit dem dampfenden Naß versehen hatte, die Unterhaltung auf die Altertümer von York, mit denen sowohl er als der grauhaarige Herr sehr vertraut zu sein schienen. Als dieser Gegenstand erschöpft war, wandte er sich lächelnd an den Herrn mit dem grauen Haar und fragte ihn, ob er singen könne.

»Nein, das kann ich wirklich nicht«, erwiderte dieser, gleichfalls lächelnd.

»Schade«, sagte der Eigentümer des heiteren Gesichtes. »Ist niemand hier, der ein Liedchen singen könnte, um uns die Zeit zu kürzen?«

Die Passagiere beteuerten samt und sonders, daß sie nicht singen könnten; die einen wünschten, daß sie es könnten, die andern konnten sich des Textes nicht erinnern, wenn sie nicht das Buch hatten usw.

»Vielleicht wäre es der Dame angenehm«, sagte der Vorsitzer mit einer tiefen Verbeugung und einem heitern Blinzeln seines Auges. »Irgendeine kleine italienische Arie aus der Oper, die letzthin in der Stadt gegeben wurde, würde gewiß von allen mit dem größten Beifall aufgenommen werden.«

Da sich die Dame nicht herabließ, etwas zu erwidern, sondern nur verächtlich den Kopf in die Höhe warf und etwas von Verwunderung, daß die grüne Kutsche so lange ausbliebe, murmelte, drängten einige Stimmen den Vorsitzenden selber, einen Versuch zum allgemeinen Besten zu machen.

»Gerne, wenn ich könnte«, sagte der Herr mit dem heiteren Gesicht; »denn ich halte es für passend, daß in diesem, wie in allen anderen Fällen, wo Fremde unerwartet zusammentreffen, alle sich bemühen sollten, sich der kleinen Gesellschaft so angenehm wie möglich zu machen.«

»Ich wünschte, daß dieser Grundsatz überall und allgemeiner gehandhabt würde«, erwiderte der Mann mit dem grauen Haar.

»Ich höre das nicht ungerne«, erwiderte der andere. »Vielleicht würde es Ihnen, da Sie nicht singen können, recht sein, uns eine Geschichte zu erzählen?«

»Nein, ich würde Sie darum bitten.«

»Nach Ihnen – mit Vergnügen.«

»Wirklich?« versetzte der grauhaarige Herr lächelnd. »Nun, so sei es. Ich fürchte nur, der Gang meiner Gedanken ist nicht geeignet, die Zeit, die wir hier zubringen müssen, auf eine heitere Weise zu töten; da Sie aber so wünschen, so mögen Sie selbst urteilen. Wir haben eben von dem Münster in York gesprochen. Meine Geschichte steht in einiger Beziehung zu demselben; ich nenne sie daher:

»Die fünf Schwestern von York.«

Nach einem Beifallsgemurmel seitens der übrigen Passagiere, währenddessen die empfindliche Dame heimlich ein Glas Punsch austrank, nahm der Herr mit dem grauen Haar wieder das Wort:

Vor einer langen Reihe von Jahren – denn das fünfzehnte Jahrhundert war damals kaum zwei Jahre alt, und König Heinrich IV. saß auf dem Thron von England – wohnten in der alten Stadt York fünf jungfräuliche Schwestern, die den Gegenstand meiner Erzählung bilden.

Diese fünf Schwestern waren von außerordentlicher Schönheit. Die älteste stand in ihrem dreiundzwanzigsten Jahre, die zweite war ein Jahr jünger, die dritte ein Jahr jünger als die zweite und die vierte ein Jahr jünger als die dritte. Alle waren hohe, stattliche Gestalten mit dunklen, leuchtenden Augen und kohlschwarzen Haaren. In jeder ihrer Bewegungen lag Anmut und Würde, und der Ruf ihrer hohen Schönheit war im ganzen Lande verbreitet.

Aber, wenn die vier älteren Schwestern liebenswürdig waren, wie bezaubernd war nicht erst die jüngste, ein holdes Wesen von fünfzehn Jahren! Das sanfteste Rot einer Frucht, die zarteste Färbung der Blume sind nicht lieblicher als die Mischung der Rosen und Lilien in ihrem edlen Antlitz oder als das tiefe Blau ihres Auges. Die Rebe in ihrer zierlichsten Üppigkeit ist nicht anmutiger als die reichen braunen Locken, die um ihre Stirne wehten.

Wenn wir alle so leichte Herzen hätten, wie sie in der Brust der Jugend und Schönheit schlagen, welch ein Himmel würde die Erde sein! Wenn unsere Herzen ihre jugendliche Frische bewahren könnten, während unsere Körper hinwelken, was könnten uns dann Sorge und Leiden anhaben? Aber das schwache Abbild des Paradieses, das unserer Kindheit eingeprägt ist, reibt sich auf in den rauhen Kämpfen mit der Welt und schwindet bald dahin – nur zu oft, um nichts zurückzulassen als eine traurige Öde.

Das Herz dieses schönen Mädchens hüpfte vor Heiterkeit und Freude. Eine aufopfernde Anhänglichkeit an ihre Schwestern und eine glühende Liebe für alles Schöne in der Natur waren ihre reinen Gefühle. Ihre frohe Stimme und ihr heiteres Lachen bildeten die süßeste Musik an ihrem heimischen Herde, dessen eigentliches Licht und Leben sie selbst war. Die schönsten Blumen des Gartens waren von ihr gezogen; die Vögel in den Käfigen sangen, wenn sie ihre Stimme hörten, und trauerten, wenn sie dieses Wohllauts entbehren mußten. O Alice, holde Alice, welches lebende Wesen hätte in deinem süßen Zauberkreise weilen und dich nicht lieben müssen.

Man würde jetzt vergeblich nach der Stätte forschen, wo die Schwestern wohnten, denn selbst ihre Namen sind verklungen, und der im Schutt wühlende Altertumsforscher spricht von ihnen nur als von einer Fabel. Sie wohnten jedoch in einem alten, hölzernen Hause – alt schon in jenen Tagen – mit überhängenden Giebeln und eichenen, durch rohes Schnitzwerk verzierten Balkonen, das in einem anmutigen Garten stand. Dieser wurde von einer einfachen, steinernen Mauer umschlossen, von wo aus ein tüchtiger Bogenschütze einen Pfeil nach der Abtei der heiligen Maria hätte hinüberschießen können. Die alte Abtei befand sich damals in ihrer Blüte, und die fünf Schwestern, die auf dem Grund und Boden des Klosters wohnten, hatten an die schwarzen Benediktinermönche, die in demselben hausten, jährliche Abgaben zu entrichten.

Eines Tages, an einem köstlichen Sommermorgen, tauchte einer jener schwarzen Mönche aus der Klosterpforte auf und lenkte seine Schritte nach dem Hause der schönen Schwestern. Der Himmel oben war blau, und die Erde unten war grün. Der Strom blitzte im Schein der Sonne wie ein Pfad von Diamanten; die Vögel sangen unter den schattigen Bäumen ihre Lieder; die Lerche schwebte hoch über den wogenden Kornfeldern, und das tiefe Summen der Insekten füllte die Luft. Alles atmete Lust und Heiterkeit, aber der heilige Mann ging düster, mit gesenkten Augen seines Weges. Die Schönheit der Erde ist nur ein Hauch und der Mensch nur ein Schatten; welche Mitgefühle hätten sie wecken können in der Brust eines Mannes, der den Eitelkeiten der Welt entsagt hatte?

Mit zur Erde gesenktem Blick, den er nur erhob, wenn es durch ein auf seinem Wege liegendes Hindernis nötig ward, ging der Mönch langsam vorwärts, bis er ein kleines Pförtchen in der Gartenmauer der Schwestern erreichte, durch das er hineintrat und es wieder hinter sich abschloß. Er war jedoch noch nicht weit gegangen, als er den Ton sanfter Stimmen und fröhlichen Gelächters vernahm. Er erhob nun seine Augen höher, als es seine demütige Gewohnheit war, und sah in geringer Entfernung die fünf Schwestern, wie gewöhnlich mit Stickereien beschäftigt, Alice in der Mitte, im Grase sitzen.

»Gott sei mit euch, schöne Töchter«, sagte der Mönch. Sie waren aber auch in der Tat so schön, daß selbst ein Mönch sie als auserlesene Meisterstücke aus der Hand seines Schöpfers hätte lieben können.

Die Schwestern begrüßten den heiligen Mann mit geziemender Ehrfurcht, und die älteste winkte ihm, auf einer Moosbank neben ihnen Platz zu nehmen; aber der gute Mönch schüttelte den Kopf und ließ sich auf einen sehr harten Stein nieder, woran ohne Zweifel die Engel im Himmel eine sehr große Freude hatten.

»Ihr wart fröhlich, meine Töchter«, sagte der Mönch.

»Ihr wißt, wie leichten Herzens die gute Alice ist«, versetzte die älteste Schwester, indem sie mit den Fingern durch die Locken des lächelnden Mädchens fuhr.

»Muß es nicht Freude und Wonne in unsere Herzen gießen, wenn wir die ganze Natur in ihrem Festgewand und in den heitersten Strahlen der Sonne sehen, Vater?« fügte Alice, unter dem strengen Blick des Asketen errötend, bei.

Der Mönch antwortete nur durch ein ernstes Neigen des Kopfes, und die Schwestern fuhren schweigend in ihrer Arbeit fort.

»Ihr vergeudet also noch immer« – sagte endlich der Mönch, indem er sich an die älteste Schwester wandte – »ihr vergeudet also noch immer die kostbaren Stunden auf dieses eitle Treiben. Ach! ach! daß die wenigen Schaumblasen auf der Fläche der Ewigkeit – alles, was uns der Himmel von jenem dunkeln, tiefen Strome schauen lassen will – so leichtfertig umhergestreut werden müssen.«

»Vater«, entgegnete das Mädchen, indem sie wie die übrigen in ihrem Geschäft innehielt; »wir haben diesen Morgen die Messe gehört, das tägliche Almosen an der Tür verteilt, die Kranken besucht und unser Morgentagewerk vollendet. Ich hoffe, unsere gegenwärtige Beschäftigung ist nicht von der Art, daß sie Tadel verdiente?«

»Seht hier« – sagte der Mönch, den Stickrahmen aus ihrer Hand nehmend – »ein buntes Farbengewirr, ohne irgendeinen anderen Zweck, als daß es eines Tages zu einer eitlen Zierde diene und den Hochmut eines schwachen und unbeständigen Geschlechtes unterstütze. Wie viele Tage sind auf dieses bedeutungslose Geschäft verwendet worden, und doch ist es noch nicht halb vollendet. Der Schatten eines jeden entschwundenen Tages fällt auf unsere Gräber, und die Würmer frohlocken, wenn sie ihn niedersinken sehen; denn sie wissen, daß wir ihm bald folgen werden. Töchter! Töchter! wißt ihr die flüchtigen Stunden nicht besser zu benutzen?«

Die vier älteren Schwestern senkten, beschämt durch den Vorwurf des heiligen Mannes, die Blicke, aber Alice erhob die ihrigen und richtete sie sanft auf den Mönch.

»Unsere liebe Mutter – möge Gott ihrer Seele gnädig sein –« begann die Jungfrau.

»Amen«, entgegnete der Mönch mit tiefer Stimme.

»Unsere liebe Mutter« – stotterte die schöne Alice – »war noch am Leben, als wir diese langwierigen Arbeiten begannen, und befahl uns, sie in unseren Mußestunden mit aller Sorgfalt und Heiterkeit fortzusetzen, wenn sie das Zeitliche gesegnet haben würde. Sie sagte, wenn wir diese Stunden in harmloser Fröhlichkeit und bei jungfräulichen Beschäftigungen verlebten, so würden sie die glücklichsten und friedvollsten in unserem Leben sein; und wenn wir später in die Welt hinausträten und mit ihren Sorgen und Prüfungen bekannt würden – wenn wir, durch ihre Versuchungen angelockt und durch ihren Flitter geblendet, je der Liebe und Pflicht vergäßen, die die Kinder einer Mutter mit heiligen Banden umschlingen sollten – dann würde ein Blick auf die alte Arbeit unserer gemeinschaftlich verlebten Mädchenjahre gute Gedanken an die Vergangenheit in uns wecken und unsere Herzen aufs neue der Innigkeit und Liebe erschließen.«

»Alice spricht wahr, Vater«, sagte die älteste Schwester mit einigem Stolze. Sie nahm mit diesen Worten ihre Arbeit wieder auf, und die übrigen folgten ihrem Beispiel.

Jede der Schwestern hatte ein Modell von großem Umfang vor sich; das Muster war verwickelt und schwierig, Zeichnung und Farben aber bei allen die gleichen. Die Schwestern beugten sich anmutig über ihre Arbeit nieder, und der Mönch, der das Kinn auf seine Hände stützte, blickte schweigend von der einen auf die andere.

»Wie viel besser wäre es«, sagte er endlich, »allen solchen Gedanken und Möglichkeiten vorzubeugen und in dem friedlichen Schirme der Kirche das Leben dem Himmel zu weihen! Kindheit, Jugend, das Alter des Mannes und das des Greises schwinden so schnell dahin, wie sie aufeinander folgen. Bedenkt, wie der Staubmensch dem Grabe zueilt, wendet eure Augen ohne Unterlaß auf dieses Ziel eurer Rennbahn und meidet die Wolke, die über den irdischen Lüsten der Welt aufsteigt und die Sinne der Weltmenschen betrügt. Nehmt den Schleier, meine Töchter, nehmt den Schleier!«

»Nimmermehr, Schwestern!« rief Alice. »Vertauscht nicht das Licht und die Luft des Himmels, die Frische der Erde und alle diese Herrlichkeiten, die auf ihr atmen, gegen eine kalte Klosterzelle. Die Segnungen der Natur sind die eigentlichen Lebensgüter, und wir dürfen uns ihrer recht wohl erfreuen, ohne befürchten zu müssen, eine Sünde zu begehen. Der Tod ist zwar unser bitteres Erbteil, aber ach – laßt uns sterben im Kreise des Lebens. Wenn unsere Pulse stocken, mögen warme Herzen in unserer Nähe schlagen, und unser letzter Blick hafte auf den Grenzen, die Gott seinem schönen Himmel gesteckt hat – nicht aber auf steinernen Mauern und eisernen Gittern. Liebe Schwestern, hört auf meine Worte: laßt uns in der Umzäunung dieses schönen Gartens leben und sterben; laßt uns das Düstere und die Trauer des Klosters meiden!«

Tränen entquollen den Augen der Jungfrau, als sie ihren leidenschaftlichen Aufruf schloß und ihr Gesicht an dem Busen einer Schwester verbarg.

»Beruhige dich, Alice«, sagte die Älteste, indem sie die schöne Stirne des Mädchens küßte. »Der Schleier soll nie dein junges Antlitz beschatten. Was sagt ihr, Schwestern? Sprecht für euch selbst, und nicht für Alice oder für mich.«

Die Schwestern riefen wie mit einem Mund, daß ihre Lose zusammengeworfen seien und daß es auch außerhalb der Klostermauern Wohnungen des Friedens und der Tugend gebe.

»Vater!« sagte die Älteste, indem sie mit Würde aufstand, »Ihr habt unsern unabänderlichen Entschluß vernommen. Die gleiche fromme Sorgfalt, die die Abtei zur heiligen Maria bereicherte und uns Waisen ihrer wohlwollenden Obhut anheimgab, befahl, daß unsern Neigungen kein Zwang auferlegt werden, sondern daß wir frei und ganz nach unserer eigenen Wahl leben sollen. Wir bitten Euch, laßt uns nichts mehr von alledem hören. Doch Schwestern, es ist bald Mittag; wir wollen bis zum Abend Schutz im Hause suchen.«

Die Dame erhob sich mit einer Verbeugung gegen den Mönch und ging, Hand in Hand mit Alice, dem Hause zu; die übrigen Schwestern folgten.

Der heilige Mann, der früher schon oft dieselbe Angelegenheit zur Sprache gebracht, aber nie eine so unumwundene Abfertigung erhalten hatte, ging mit zur Erde gesenkten Blicken in kurzer Entfernung hinter ihnen her und bewegte seine Lippen wie im Gebet. Als die Schwestern die Tür erreicht hatten, beschleunigte er seinen Schritt und rief ihnen zu, daß sie halten möchten.

»Verweilt noch«, sagte der Mönch, die rechte Hand in die Höhe hebend, indem er abwechselnd einen zürnenden Blick auf Alice und die älteste Schwester warf; »verweilt noch und hört von mir, was diese Rückerinnerungen sind, die ihr höher schätzt als die Ewigkeit, und die ihr, wenn sie durch die Gnade des Himmels schlummern, kraft solchen eitlen Tandes wieder erwecken möchtet. Die Erinnerung an Erdendinge ist in späteren Jahren immer mit bitterer Täuschung, Schmerz und Tod belastet und spricht nur von traurigem Wechsel und verzehrendem Gram. Es wird eines Tages eine Zeit kommen, wo ein Blick auf dieses nichtige Spielwerk in den Herzen einiger von euch tiefe Wunden aufreißen und eure innerste Seele treffen wird. Wenn diese Stunde kommt – und denkt an mich, sie wird kommen –, so wendet euch von der Welt, die ihr so brünstig umschließt, nach dem Zufluchtsort, den ihr verachtet. Die Zelle ist nicht so kalt wie das Herz des Sterblichen, wenn sein Feuer durch Prüfungen und Unglück gelöscht ist; sucht sie daher auf und weint um die Träume eurer Jugend. Doch diese Dinge sind der Wille des Himmels und nicht der meine«, sagte der Mönch mit leiserer Stimme, als er die erbebenden Mädchen der Reihe nach anblickte. »Der Segen der heiligen Jungfrau komme über euch, meine Töchter.«

Mit diesen Worten verschwand er durch das Pförtchen, und die Schwestern, die in das Haus eilten, ließen sich an diesem Tage nicht mehr blicken.

Aber die Natur lachte trotz des Stirnrunzelns der Priester. Die Sonne schien hell und klar am nächsten Tage, wie auch am zweiten und dritten. Die fünf Schwestern lustwandelten nach wie vor im Morgenrot und in der sanften Ruhe des Abends, oder vertrieben sich die Zeit mit Arbeit und heiterer Unterhaltung in ihrem friedlichen Garten.

Die Zeit entschwand einem Märchen gleich, das erzählt ist, – schneller sogar, als manche Geschichten sich erzählen lassen, unter die, wie ich fürchte, auch die gegenwärtige gehört. Das Haus der fünf Schwestern stand noch immer an derselben Stelle, und dieselben Bäume warfen ihren lieblichen Schatten auf den Rasen des Gartens. Auch die Schwestern waren da, liebenswürdig wie ehedem, aber in ihrer Wohnung hatte sich gar vieles verändert. Man vernahm bisweilen Waffenlärm, und der Mond beleuchtete stählerne Helme. Ein andermal sprengten abgehetzte Rosse vor das Tor, und eine weibliche Gestalt glitt rasch hervor, als harrte sie neugierig der Kunde, die der ermüdete Bote brachte. Einmal übernachtete ein stattlicher Zug von Rittern und Damen in den Mauern der Abtei, und am nächsten Morgen ritten sie mit zweien der schönen Schwestern wieder fort. Dann begannen die Reiter sich seltner zu zeigen, und wenn sie kamen, schienen sie nur böse Nachrichten zu bringen. Endlich blieben sie ganz aus, und Bauern mit wunden Füßen schlichen sich nach Sonnenuntergang an die Tür, um heimlich ihre Botschaft zu bestellen. Einmal wurde in stiller Mitternacht eilig ein Diener nach der Abtei geschickt, und als der Morgen kam, hörte man Jammerlaute und Wehegeschrei in der Wohnung der Schwestern. Dann umfing die Stille des Grabes das Haus, und weder Ritter noch Dame, weder Roß noch Rüstung wurden je wieder in der Nähe desselben gesehen.

Ein unheimliches Düster umflorte den Himmel, und die Sonne war zürnend untergegangen, die dunklen Wolken mit den letzten Spuren ihres Grolles färbend, als derselbe schwarze Mönch, einen Steinwurf weit von der Abtei entfernt, mit übereinandergeschlagenen Armen einherging. Die Bäume und Gesträuche ließen ihre Zweige sinken, und der Wind, der endlich die unnatürliche Stille, die den ganzen Tag über geherrscht hatte, zu unterbrechen begann, seufzte hin und wieder schwer auf, als wolle er mit Wehmut die Verheerungen des kommenden Sturmes voraussagen. Die Fledermaus flatterte in gespenstigen Kreisen durch die schwüle Luft, und der Boden wimmelte von kriechendem Gewürm, das der Instinkt an die Oberfläche brachte, um sich an dem kommenden Regen zu erquicken.

Die Augen des Mönches waren nicht mehr zur Erde gesenkt; er warf sie frei umher und ließ sie von einer Stelle zur andern schweifen, als ob das Düster und die Verödung der Szene einen raschen Anklang in seiner eigenen Brust fände. Er blieb wieder vor der Gartenmauer des Hauses der Schwestern stehen und trat abermals durch das Pförtchen.

Aber jetzt begegnete sein Ohr keinem frohen Gelächter, und sein Auge traf nicht auf die schönen Gestalten der fünf Schwestern; alles war stumm und öde. Die Zweige der Bäume waren niedergebogen und zerbrochen, und das Gras wucherte hoch und wild auf dem Boden. Ach, so viele, viele Tage hatte es kein leichter Fuß niedergetreten!

Mit der Unempfindlichkeit oder Gleichgültigkeit eines Mannes, der an den Wechsel gewöhnt ist, glitt der Mönch in das Haus und trat in ein niederes, düsteres Gemach. Hier saßen vier Schwestern. Ihre schwarzen Gewänder ließen ihre bleichen Gesichter noch blasser erscheinen. Zeit und Kummer hatten tiefe Spuren der Verheerung auf denselben zurückgelassen. Es waren noch immer stattliche Gestalten, aber die Wärme und der Stolz jugendlicher Schönheit war dahin.

Und Alice – wo war sie? Im Himmel!

Der Mönch – selbst der Mönch – konnte sich hier einigen Schmerzes nicht erwehren; denn die Schwestern hatten sich lange nicht zusammengefunden, und in ihren bleichen Gesichtern zeigten sich Furchen, wie sie die Zeit allein nicht eingraben konnte. Er setzte sich schweigend nieder und winkte ihnen, ihr Gespräch fortzusetzen.

»Hier sind sie, Schwestern«, sagte die Älteste mit bebender Stimme. »Ich habe es seitdem nicht vermocht, sie wieder anzusehen, und ich schäme mich jetzt meiner Schwäche. Liegt denn etwa in der Erinnerung an die Schwester, was wir scheuen müßten? Sollte es uns jetzt nicht eher eine wehmütige Lust gewähren, die Tage der Vergangenheit uns ins Gedächtnis zurufen?«

Sie warf bei diesen Worten einen Blick auf den Mönch, öffnete ein Gemach und brachte fünf Stickrahmen zum Vorschein, daran die Arbeit längst vollendet war. Ihr Schritt war fest, aber ihre Hand zitterte, als sie den letzten vorzeigte. Die andern Schwestern machten bei dem Anblick desselben ihren Gefühlen durch Tränen Luft, und die Älteste vereinigte die ihrigen damit und sprach schluchzend: »Gottes Frieden sei mit ihr!«

Der Mönch stand auf und trat ihnen näher.

»Es war wohl der letzte Gegenstand, den sie in den Tagen ihrer Gesundheit berührte«, sagte er mit leiser Stimme.

»Er war’s«, sprach die Älteste, bitterlich weinend.

Der Mönch wandte sich an die zweite Schwester.

»Der tapfere Jüngling, der dir ins Auge blickte und an jedem deiner Atemzüge hing, als er dich zuerst mit diesem Tand beschäftigt sah, liegt unter dem Rasen begraben, den sein Blut rötete. Rostige Bruchstücke einer sonst so herrlich glänzenden Rüstung liegen zerfressen auf dem Boden und sind von seinen eigenen Überresten so wenig zu unterscheiden wie in Moder verfallene Gebeine.«

Die Dame seufzte und rang die Hände.

»Die Schlauheit der Höfe«, fuhr er gegen die beiden andern Schwestern fort – »führte euch aus eurer friedlichen Heimat zu Schauplätzen des Prunkes und der Lust. Dieselbe Arglist und der nie rastende Ehrgeiz stolzer, übermütiger Männer hat euch als verwitwete Jungfrauen entehrt und gedemütigt zurückgeschickt. Spreche ich wahr?«

Das Schluchzen der beiden Schwestern war die einzige Antwort.

»Warum wollt ihr« – fuhr der Mönch mit vielsagendem Blicke fort – »eure Zeit mit einem Tand vergeuden, der nur die bleichen Geister entschwundener Hoffnungen heraufbeschwört? Begrabt sie, bringt sie durch Reue und Buße zur Ruhe und laßt sie die Mauern eines Klosters umschließen.«

Die Schwestern baten um drei Tage Bedenkzeit, und es war ihnen in jener Nacht, als ob der Schleier in der Tat das passendste Leichentuch für ihre hingestorbenen Freuden wäre. Aber der Morgen kam, und obgleich die Zweige der Bäume herniederhingen oder auf dem Boden umherlagen, so war es doch noch derselbe Garten. Das Gras war dicht und hoch, aber sie fanden doch noch die Stelle, auf der sie so oft beieinander gesessen hatten, als sie Wechsel und Kummer nur dem Namen nach kannten. Alle die Pfade und Ecken waren noch vorhanden, denen Alices heiterer Sinn Leben verliehen hatte, und in dem Schiff der Klosterkirche lag ein flacher Stein, unter dem sie im Frieden schlummerte.

Und konnten sie, wenn sie sich erinnerten, wie Alices Herz bei dem Gedanken an Klostermauern erbebte – konnten sie in Gewändern auf ihr Grab blicken, die sogar die Asche in demselben noch verletzt haben würden? Konnten sie in dem Niedersinken bei klösterlichen,Gebeten, selbst wenn der ganze Himmel sich ihnen aushorchend zugeneigt hätte, den tiefen Schatten der Trauer über das Antlitz eines Engels bringen? – Nein!

Sie sandten nach den berühmtesten Künstlern und ließen, als sie die Genehmigung der Kirche zu ihrem frommen Werk erlangt hatten, mit kostbarem buntem Glase eine Kopie ihrer Stickereien in fünf großen Feldern ausführen. Diese wurden einem großen Fenster, das bisher ohne allen Schmuck gewesen war, eingepaßt, und wenn die Sonne prachtvoll leuchtete, wie es die Schwestern ehedem so gerne gesehen hatten, so strahlten die liebgewonnenen Bilder in ihren ursprünglichen Farben und warfen ihren schimmernden Lichtstrom warm auf den Namen Alice.

Die Schwestern gingen jeden Tag viele Stunden langsam in dem Schiff der Kirche auf und ab oder knieten an der Seite des breiten, flachen Steines nieder. Im Verlaufe der Jahre sah man nur noch drei, dann zwei und endlich nur noch eine einzige Frauengestalt. diese aber von Alter gebeugt, an dem gewohnten Art. Endlich blieb auch sie aus, und der Stein trug einfach fünf Taufnamen.

Man hat den Stein weggenommen und durch einen andern ersetzt, und manche Generation wurde seitdem geboren und wieder zu Grabe getragen. Die Zeit hat die Farben gebleicht, aber derselbe Lichtstrom fällt noch auf das vergessene Grab, das durch kein Denkmal mehr angezeigt ist; und bis auf den heutigen Tag zeigt man dem Volk in der Kathedrale zu York ein altes Fenster, das den Namen: » Die fünf Schwestern« trägt.

 

»Das ist eine trübselige Geschichte«, sagte der Herr mit dem heiteren Gesicht, indem er sein Glas leerte.

»Es ist eine Geschichte nach dem Leben, wie denn überhaupt unser Erdenwallen eine Kette derartiger Leiden ist«, entgegnete der andere höflich, aber mit einem ernsten und traurigen Tone der Stimme.

»Jedes gute Gemälde hat seine Schattenflächen, aber auch seine Lichtseiten, wenn wir sie nur suchen wollen«, sagte der Herr mit dem heiteren Gesicht. »Die jüngste Schwester in Ihrer Erzählung war immer frohen Sinnes.«

»Und starb früh«, entgegnete der andere weich.

»Sie würde wohl früher gestorben sein, wenn sie weniger glücklich gewesen wäre«, erwiderte der erste Sprecher mit Gefühl. »Glauben Sie, die Schwestern, die sie so sehr liebten, hätten sich weniger gegrämt, wenn ihr Leben reich an Schmerz und Trübsal gewesen wäre? Wenn irgend etwas den ersten Schmerz eines schweren Verlustes sänftigen kann, so ist es meiner Ansicht nach der Gedanke, daß diejenigen, um die wir trauern, in ihrem unschuldigen Glück, dessen sie sich hienieden erfreuten, und in der Liebe, mit der sie ihre Umgebung umfingen, für ein reineres und glücklicheres Dasein sich vorbereiteten. Verlassen Sie sich darauf, die Sonne scheint nicht auf diese Erde, um finstern Gesichtern zu begegnen.«

»Ich glaube. Sie haben recht«, sagte der Herr, der die Geschichte erzählt hatte.

»Glauben?« versetzte der andere. »Kann das wohl einem Zweifel unterliegen? Rufen Sie sich was immer für einen schmerzlichen Gegenstand ins Gedächtnis und sehen Sie, ob sich nicht auch viel Wonne daran knüpft. Dagegen kann die Erinnerung entschwundener Freuden schmerzlich werden –«

»Gewiß«, fiel der andere ein.

»Es ist eine bekannte Tatsache. Der Rückblick auf ein Glück, das unwiederbringlich dahin ist, erzeugt Schmerz, aber einen Schmerz milderer Art. Unsere Erinnerungen sind unglücklicherweise mit vielem gemischt, was wir beklagen, und mit manchen Handlungen, die wir bitter bereuen. Aber ich bin der festen Überzeugung, daß auch in dem getrübtesten Leben so viele kleine Sonnenstrahlen sind, auf die man zurückblicken kann, daß ich nicht glaube, irgendein Sterblicher, der sich nicht selbst alle Lichtblicke der Hoffnung abgeschnitten hat, würde mit Vorbedacht einen Trunk aus Lethes Strom tun, wenn er es auch könnte.«

»Ihre Ansicht ist vielleicht richtig«, sagte der grauhaarige Herr nach einem kurzen Nachdenken, »und ich bin nicht abgeneigt, Ihrer Meinung beizupflichten.«

»Je nun«, erwiderte der andere, »dann überwiegt das Gute, dem wir in unserm Erdenleben begegnen, das Schlimme, mögen auch die sogenannten Philosophen sagen, was sie wollen. Wenn unsere Gefühle auch manche Prüfungen erdulden müssen, so bleiben sie doch unser Trost und unsere Lust, wie denn auch die Erinnerung, selbst wenn sie noch so düster ist, die schönste und reinste Verbindung zwischen dieser und einer bessern Welt bildet. – Doch, fahren wir fort; ich will Ihnen ein Geschichtchen anderer Art erzählen.«

Nach einem kurzen Schweigen füllte der Herr mit dem heiteren Gesicht die Gläser der Anwesenden aufs neue mit Punsch, warf einen schlauen Blick nach der gezierten Dame, die sich mit der Besorgnis, es möchte irgend etwas Unschickliches erzählt werden, abzuängstigen schien, und nannte den Titel seiner Geschichte:

»Der Freiherr von Weinzapf«.

Der Freiherr von Weinzapf auf Zapfenburg war ein so liebenswürdiger junger Edelmann, wie man nur einen sehen kann. Ich habe nicht nötig zu sagen, daß er in einer Burg wohnte, weil sich das von selber versteht. Auch brauche ich nicht zu bemerken, daß er in einer alten Burg lebte; denn welcher deutsche Baron hat je in einer neuen gewohnt? Es standen viele sonderbare Umstände mit diesem ehrwürdigen Gebäude in Verbindung, und unter diesen war auch der nicht am wenigsten befremdende und geheimnisvolle, daß es, wenn der Wind blies, in den Schornsteinen orgelte oder durch die Bäume des naheliegenden Forstes heulte, und daß die Strahlen des Mondes durch gewisse kleine Öffnungen in der Mauer ihren Weg fanden und in der Tat einige Teile der weiten Hallen und Galerien hell erleuchteten, während andere in tiefem Schatten blieben. Ich glaube, daß einer von des Freiherrn Vorfahren, als es ihm an Geld gebrach, einen Herrn, der in einer Nacht hier ansprach, um nach dem Weg zu fragen, erdolchte, und man vermutete, daß diese wunderbaren Ereignisse eine Folge dieser Untat wären. Freilich kann ich mir die Möglichkeit davon kaum denken, denn der Ahnherr des Freiherrn war ein sehr achtbarer Mann, und seine übereilte Handlung ging ihm nachher sehr zu Herzen, weshalb er sich auch mit Gewalt einer Partie von Steinen und Bauholz bemächtigte, die einem schwächeren Baron gehörte, zur Sühne seines Vergehens eine Kapelle daraus baute und sich auf diese Weise eine Gesamtquittung für alle Forderungen, die der Himmel an ihn machen konnte, erwarb.

Da gerade von einem Vorfahren des Freiherrn die Rede ist, so darf ich nicht vergessen zu erwähnen, welche hohe Ansprüche auf Achtung der Erbe seinem Stammbaum verdankte. Es tut mir zwar leid, daß ich die Zahl seiner Ahnen nicht anzugeben vermag; jedenfalls aber weiß ich, daß er mehr hatte als irgendein anderer Mann seiner Zeit, und ich wünschte nur, daß er in unsern Tagen gelebt hätte, um sich einer noch größeren Anzahl rühmen zu können. Es ist überhaupt ein großes Unglück für die großen Männer vergangener Jahrhunderte, daß sie so früh geboren werden mußten, weil sich von einem Mann, der vor drei- oder vierhundert Jahren in die Welt trat, vernünftigerweise nicht erwarten läßt, daß er so viele Vorfahren aufzuweisen habe als einer, der in unsern Tagen lebt. Der letzte Mensch, wer er auch immer sein mag – und wäre er nur ein Schuhflicker oder sonst irgendein armseliger Tropf – wird einen längeren Stammbaum haben als ein Mann vom ältesten Adel in unsern Tagen; und das ist doch gewiß etwas, was von Rechts wegen nicht sein sollte.

Gut also: der Freiherr von Weinzapf auf Zapfenburg war ein hübscher, dunkelgebräunter Herr mit schwarzen Haaren und einem großen Schnurrbart, der in hellgrünen Kleidern, mit Juchtenstiefeln an den Füßen und einem Horn über seiner Schulter, ähnlich dem der englischen Postkutschenschaffner, auf die Jagd zu reiten pflegte. Wenn er in dieses Horn stieß, brachen sogleich vierundzwanzig andere Edelleute von untergeordnetem Range in etwas gröberer, grüner Tracht und etwas dicker besohlten Juchtenstiefeln auf und galoppierten in einem Trupp mit Spießen in den Händen, die lackierten Gitterstäben glichen, dahin, um Eber zu hetzen oder vielleicht einen Bären aufzutreiben, in welch letzterem Fall ihm der Freiherr zuerst den Genickfang gab und dann mit dem Fett desselben seinen Schnurrbart wichste.

Das war ein lustiges Leben für den Freiherrn von Weinzapf und ein noch lustigeres für seine Vasallen, die jede Nacht Rheinwein tranken, bis sie unter den Tisch fielen, wo sie dann noch auf dem Boden fortzechten und nach Pfeifen riefen. Nie gab es so muntere, lärmende, Scherz liebende Gesellen als Weinzapfs lustige Bande.

Aber die Freuden der Tafel oder die Freuden unter der Tafel fordern eine kleine Abwechslung, besonders wenn dieselben fünfundzwanzig Leute Tag für Tag unter demselben Tische liegen, über dieselben Gegenstände sprechen und dieselben Geschichten erzählen. Der Freiherr wurde es endlich satt und sah sich nach etwas Anregenderem um. Er fing daher mit seinen Kameraden Händel an und machte sich das schöne Vergnügen, zwei oder drei davon jedesmal nach dem Mittagessen mit den Füßen zu treten. So angenehm aber auch dieser Wechsel im Anfang war, so wurde er doch dem Freiherrn nach ungefähr einer Woche zu einförmig. Seine gute Laune wich, und so sah er sich denn in der Verzweiflung nach neuen Belustigungen um.

Eines Abends nach einer Jagd, in der er sogar Nimrod ausgestochen und abermals einen schönen Bären erlegt hatte, den er im Triumph nach Hause brachte, saß der Baron von Weinzapf übelgelaunt oben an seinem Tisch und betrachtete die rauchige Decke der Halle mit mißvergnügten Blicken. Er schüttete ungeheure Humpen Weines durch seine Kehle, aber je mehr er trank, desto finsterer wurde seine Stirn. Die Herren, die mit der gefährlichen Auszeichnung beehrt wurden, ihm zur Rechten und Linken zu sitzen, taten es ihm zum Wunder im Trinken gleich und warfen sich gleichfalls finstere Blicke zu.

»Ich will’s!« rief der Freiherr plötzlich, indem er mit der rechten Hand auf den Tisch schlug und mit der linken seinen Schnurrbart drehte. »Füllt die Humpen zu Ehren der Freifrau von Weinzapf!«

Die vierundzwanzig Grünröcke erblaßten, mit Ausnahme ihrer Nasen, die unverändert blieben.

»Ich brachte die Gesundheit der Freifrau von Weinzapf aus!« wiederholte der Freiherr, indem er die Blicke an dem Tische hingleiten ließ.

»Die Freifrau von Weinzapf!« brüllten die Grünen, und vierundzwanzig gewaltige Humpen von so herrlichem alten Gewächs flossen durch ihre vierundzwanzig Kehlen hinunter, so daß sie mit ihren achtundvierzig Lippen schnalzten und von neuem nach dem Fasse blinzten.

»Die schöne Tochter des Freiherrn von Schwillenhausen!« erklärte von Weinzapf herablassend. »Wir wollen sie von ihrem Vater zur Ehe begehren, ehe noch die Sonne morgen in ihr Bett steigt. Wenn er unsere Bewerbung zurückweist, so werden wir ihm die Nase abschneiden.«

Die Gesellschaft ließ ein wildes Hurra vernehmen, und jeder griff mit schrecklicher Bedeutsamkeit zuerst nach dem Hefte seines Schwertes und dann nach der Spitze seiner Nase.

Es ist doch etwas Schönes um den kindlichen Gehorsam! Hätte die Tochter des Freiherrn von Schwillenhausen von einem bereits verschenkten Herzen gesprochen oder sich ihrem Vater zu Füßen geworfen und diese mit Tränen gebadet, oder wäre sie nur in Ohnmacht gefallen und dem alten Herrn mit schrecklichen Gefühlsausbrüchen zu Leibe gegangen, so hätte man hundert gegen eins wetten können, daß Burg Schwillenhausen zum Fenster hinausgeworfen worden wäre, oder besser, daß der Freiherr aus dem Fenster geflogen und in der Burg alles darunter und darüber gegangen wäre. Das Freifräulein verhielt sich jedoch, als am nächsten Morgen ein Bote das Gesuch des Freiherrn von Weinzapf vorbrachte, ganz ruhig und zog sich bescheiden nach ihrem Kämmerlein zurück, von wo sie der Ankunft ihres Freiers und seines Gefolges entgegensah. Sie hatte sich kaum überzeugt, daß der Reiter mit dem großen Schnurrbart der Freier wäre, als sie sogleich zu ihrem Vater eilte und ihm ihre Bereitwilligkeit ausdrückte, sich für seinen Frieden zum Opfer zu bringen. Der ehrwürdige Baron umarmte sein Kind und vergoß eine Freudenträne.

Auf der Burg war an diesem Tage ein großes Bankett. Weinzapfs vierundzwanzig Grüne tauschten das Gelübde ewiger Freundschaft mit zwölf Grünen des von Schwillenhausen aus und versprachen dem alten Freiherrn, daß sie von seinem Weine trinken wollten, »bis alles blau wäre« – was wahrscheinlich soviel sagen sollte, bis ihre Gesichter dieselbe Farbe erhalten hätten wie ihre Nasen. Als die Zeit des Aufbruchs kam, klopften sich alle gegenseitig auf die Schulter, und der Freiherr von Weinzapf ritt mit seinem Gefolge frohen Muts nach Hause.

Sechs sterbenslange Wochen hatten die Bären und Eber Feiertage. Die Häuser von Weinzapf und Schwillenhausen waren vereinigt, die Spieße rosteten, und das Horn des Freiherrn wurde heiser, weil es nicht mehr geblasen wurde.

Das waren glückliche Tage für die vierundzwanzig; aber ach, diese glorreiche Zeit hatte bereits Stiefeln angezogen und war im Begriff, sich auf und davon zu machen.

»Mein Bester«, sagte die Freifrau.

»Meine Liebe«, sagte der Freiherr.

»Diese rohen, lärmenden Menschen –«

»Welche?« fragte der Freiherr auffahrend.

Die Freifrau deutete aus dem Fenster, an dem sie mit ihrem Gemahl stand, nach dem Hof hinunter, wo die nichtsahnenden Grünen im Steigbügel noch einen guten Schluck zu sich nahmen, um sich für die Eberhetze zu stärken.

»Mein Jagdgefolge?« fragte der Baron.

»Entlasse sie, mein Bester«, flüsterte die Freifrau.

»Sie entlassen?« rief der Freiherr erstaunt.

»Mir zu Gefallen, mein Lieber«, versetzte die Baronesse.

»Dem Teufel zu Gefallen!« antwortete der Baron.

Die Freifrau stieß hierauf einen lauten Schrei aus und sank ohnmächtig zu den Füßen des Freiherrn nieder.

Was konnte der Freiherr tun? Er rief nach der Kammerfrau, eilte in den Hof hinunter, trat zwei der Grünen, die am meisten daran gewöhnt waren, mit den Füßen, verwünschte die übrigen der Reihe nach und hieß alle zum – – doch es ist gleichgültig, wohin er sie gehen hieß.

Ich halte es nicht für meinen Beruf, anzudeuten, welcher Mittel und Wege sich manche Frauen bedienen, die Männer ihrem Regiment in einer Weise zu unterwerfen, wie sie es tun, obgleich ich meine eigene Meinung über diesen Gegenstand haben mag und vollkommen der Ansicht bin, daß kein Parlamentsmitglied verheiratet sein sollte, da unter vier Verheirateten immer drei nach dem Gewissen ihrer Weiber (wenn sie anders eines haben) und nicht nach ihrem eigenen votieren, weil sie so votieren müssen. Ich brauche hier nichts weiter zu sagen, als daß die Freifrau von Weinzapf so oder so eine große Gewalt über den Freiherrn auf Zapfenburg gewann, und daß der Baron allmählich mehr und mehr bei irgendeiner strittigen Frage den kürzeren zog oder schlau aus dem Sattel irgendeines alten Steckenpferdes geworfen wurde. Nach und nach war er ein wohlgenährter und rüstiger Achtundvierziger und hatte weder Gelage noch Jagden – kurz nichts mehr, was ihm sonst Freude machte, oder was er zu haben gewöhnt war. Er war zwar immer noch unbändig wie ein Löwe und starr wie Erz. Demungeachtet aber hatte ihn entschieden seine Frau auf seinem eigenen Schlosse gemeistert und zu Paaren getrieben.

Das war jedoch nicht der ganze Umfang von dem Mißgeschick des Freiherrn. Ungefähr ein Jahr nach seiner Vermählung kam ein lustiger junger Freiherr in die Welt, dem zu Ehren ein großes Feuerwerk abgebrannt und eine Unmasse von Wein getrunken wurde. Aber im nächsten Jahr kam ein kleines Freifräulein, das Jahr darauf wieder ein junger Freiherr, und so abwechselnd jedes Jahr ein Freiherr oder ein Freifräulein, in einem Jahr sogar beides zumal, bis der Baron Vater einer kleinen Familie von zwölf Kindern war. Bei jedem dieser jährlichen Ereignisse war die verehrliche Freifrau von Schwillenhausen in tausend Nöten wegen des Wohls ihres Kindes, der Freifrau von Weinzapf, und obwohl man nicht finden konnte, daß die gute Dame etwas Wesentliches zu der Genesung ihres Kindes beitrug, so machte sie sich’s doch zu einer Ehrensache, auf der Burg Zapfenburg so bekümmert wie möglich zu tun und ihre Zeit zwischen moralischen Bemerkungen über des Barons Haushalt und Klagen über das harte Schicksal ihrer unglücklichen Tochter zu teilen. Wenn dann der Freiherr von Weinzapf sich dadurch ein wenig gekränkt fühlte und sich ein Herz zu der Gegenbemerkung faßte, daß seine Gattin wenigstens nicht übler daran sei als die Frauen anderer Barone, so rief die Baronesse von Schwillenhausen alle Welt zum Zeugen auf, daß niemand als sie ein Mitgefühl für die Leiden ihrer lieben Tochter hätte, worauf natürlich alle ihre Verwandten und Freunde bemerkten, daß sie jedenfalls weit mehr Tränen vergösse als ihr Schwiegersohn, und daß es keinen hartherzigeren Unmenschen gäbe als den Freiherrn von Weinzapf.

Der arme Freiherr ertrug dies alles, solange er konnte, und als er es nicht länger vermochte, verlor er Appetit und Heiterkeit und setzte sich düster und niedergeschlagen in eine Ecke. Aber es stand ihm noch Schlimmeres bevor, und als dieses kam, vermehrte sich seine Schwermut. Die Zeiten änderten sich, und er geriet in Schulden. In Weinzapfs Kassen ging es auf die Neige, obgleich die Familie Schwillenhausen sie für unerschöpflich gehalten hatte, und als die Freifrau im Begriff war, den Stammbaum des Hauses mit einem dreizehnten Sproß zu vermehren, machte der Freiherr die betrübende Entdeckung, daß er keine Mittel besäße, die Kassen wieder zu füllen.

»Ich sehe nicht, was ich weiter tun kann«, sagte der Freiherr. »Es wird wohl das beste sein, wenn ich mich umbringe.«

Das war ein großartiger Gedanke. Der Freiherr nahm ein altes Jagdmesser aus einem Wandschrank, wetzte es an seiner Stiefelsohle und fuhr damit nach seiner Kehle.

»Hm!« sagte der Baron innehaltend; »vielleicht ist es nicht scharf genug.«

Der Freiherr wetzte es abermals und machte einen zweiten Versuch, aber er wurde wieder durch ein lautes Schreien der jungen Freiherren und Freifräulein gestört, deren Stube sich eine Treppe höher in einem Turme befand, dessen Fenster von außen mit Eisenstäben verwahrt waren, damit die hoffnungsvolle Jugend nicht in den Graben hinunterpurzle.

»Wäre ich ein Junggeselle«, sagte der Freiherr seufzend, »so hätte ich’s wohl fünfzigmal tun können, ohne eine Störung erleiden zu müssen. – Heda! bringt mir eine Flasche Wein und die größte Pfeife in das kleine Zimmer hinter der Halle.«

Einer der Dienstboten führte den Befehl des Freiherrn gar dienstfertig im Verlauf einer halben Stunde oder drüber aus, und der Freiherr ging, als er davon Nachricht erhielt, nach dem gewölbten Zimmer, dessen schwarzgetäfelte und polierte Wände von dem Feuer des im Kamin lodernden Holzstoßes widerstrahlten, Flasche und Pfeife waren bereit, und der Ort sah im ganzen recht behaglich aus.

»Laß die Lampe da«, sagte der Freiherr.

»Steht sonst noch etwas zu Befehl, gnädiger Herr?« fragte der Diener.

»Nichts, als daß du das Zimmer räumst«, erwiderte der Freiherr.

Der Diener gehorchte, und der Baron verschloß die Tür.

»Ich will noch meine letzte Pfeife rauchen«, sagte der Freiherr, »und dann der Welt Lebewohl sagen.«

Mit diesen Worten legte der Herr von Weinzapf das Messer auf den Tisch, bis er es brauchen würde, goß ein ziemliches Quantum Wein hinunter, warf sich in seinem Stuhl zurück, streckte seine Füße vor dem Feuer aus und blies tüchtige Rauchwolken von sich.

Er machte sich allerlei Gedanken über seine gegenwärtige Trübsal, über die entschwundenen Tage seines Junggesellenlebens und über die vierundzwanzig Grünröcke, die sich seitdem nach allen vier Himmelsgegenden zerstreut hatten, ohne wieder etwas von sich hören zu lassen, zwei ausgenommen, denen unglücklicherweise der Kopf abgeschlagen worden war, und vier, die durch ihr Trinken sich selbst unter den Boden gebracht hatten. Sein Geist war mit Bären und Ebern beschäftigt, und er hatte eben sein Glas angesetzt, um es bis auf den Boden zu leeren, als er auf einmal mit grenzenlosem Erstaunen bemerkte, daß er nicht allein sei.

Er war auch wirklich nicht allein; denn an der entgegengesetzten Seite des Feuers saß mit verschlungenen Armen eine runzlige, greuliche Gestalt mit tief eingesunkenen, blutunterlaufenen Augen und einem ungemein langen, leichenhaften Gesicht, das durch verfilztes und struppiges schwarzes Haar beschattet wurde. Sie trug ein einfaches Kleid von einer dunklen, ins Blaue spielenden Farbe, das, wie der Freiherr bei aufmerksamer Betrachtung bemerkte, vorn von oben bis unten mit Sarggriffen verziert und zusammengeheftet war. Auch ihre Beine waren, statt in die Schienen einer Rüstung, in Sargschilder eingeschlossen, und über der linken Schulter trug sie einen kurzen, dunklen Mantel, der aus dem Überrest eines Sargtuches gemacht zu sein schien. Sie achtete des Freiherrn nicht, sondern blickte unablässig ins Feuer.

»Heda!« sagte der Freiherr, mit dem Fuß stampfend, um sich bemerklich zu machen.

»Nun, was gibt’s?« versetzte der Fremde, indem er wohl seine Augen, nicht aber sein Gesicht oder seine Person dem Freiherrn zuwandte.

»Was es gibt?« fuhr der Freiherr fort, dem die hohle Stimme und die glanzlosen Augen keine Furcht einzujagen vermochten. »Diese Frage steht eigentlich mir zu; wie bist du hierher gekommen?«

»Durch die Tür«, entgegnete die Gestalt.

»Wer bist du?« fragte der Freiherr.

»Ein Mensch«, antwortete die Gestalt.

»Das glaube ich nicht«, erwiderte der Freiherr.

»So laß es bleiben«, sagte die Gestalt.

»Das will ich«, versetzte der Freiherr.

Die Gestalt blickte den kühnen Baron von Weinzapf eine Weile an und sagte dann vertraulich:

»Ich sehe wohl, daß du dich nicht täuschen läßt. Ich bin kein Mensch.«

»Was bist du denn?« fragte der Freiherr.

»Ein Engel«, antwortete die Gestalt.

»Du siehst nicht gerade wie ein solcher aus«, meinte der Freiherr verächtlich.

»Ich bin der Engel der Verzweiflung und des Selbstmordes«, sagte die Erscheinung. »Nun kennst du mich.«

Mit diesen Worten wandte sich das Gespenst gegen den Freiherrn, als wollte es erst jetzt recht mit ihm sprechen. Es war übrigens höchst bemerkenswert, daß es seinen Mantel beiseite warf und einen Pfahl sehen ließ, der ihm mitten durch den Leib geschlagen war1: diesen zog es mit einem Ruck heraus und legte ihn so kaltblütig auf den Tisch, als ob er ein Spazierstock gewesen wäre.

»Nun«, sagte das Gespenst, nach dem Jagdmesser schielend, »bist du für mich bereit?«

»Noch nicht ganz«, antwortete der Freiherr. »Ich muß zuvor diese Pfeife ausrauchen.«

»So mache schnell«, sagte die Gestalt.

»Du scheinst es sehr eilig zu haben«, entgegnete der Freiherr.

»Das ist allerdings der Fall«, versetzte die Gestalt. »In Frankreich und England bin ich zurzeit überaus beschäftigt, so daß meine Zeit sehr in Anspruch genommen ist.«

»Trinkst du?« fragte der Freiherr, die Flasche mit dem Pfeifenkopf berührend.

»In neun Fallen unter zehn, und dann tüchtig«, erwiderte das Gespenst trocken.

»Niemals mit Maß?« fragte der Baron.

»Niemals«, antwortete die Gestalt mit einem Schauder; »das würde Heiterkeit erzeugen.«

Der Freiherr betrachtete seinen neuen Freund abermals und meinte, daß er ein gar seltsamer Kauz wäre. Endlich fragte er ihn, ob er in so kleinen Angelegenheiten, wie er (der Baron) gerade eine im Schild führe, auch einen tätigen Anteil nehme.

»Nein«, antwortete das Gespenst ausweichend; »aber ich bin immer zugegen.«

»Um zu sehen, daß alles in Ordnung zugeht, denke ich?« fragte der Freiherr.

»Ja«, versetzte der Geist, indem er mit seinem Pfahl spielte und den Eisenbeschlag desselben untersuchte. »Aber mache jetzt so schnell, wie du kannst, denn ich wittere, daß ein junges Herrlein, das mit zuviel Geld und Muße geplagt ist, gegenwärtig meiner bedarf.«

»Wie? er will sich umbringen, weil er zuviel Geld hat?« rief der Baron, nicht wenig gekitzelt; »ha! ha! das ist ein seltsamer Gedanke!« – Es war wieder das erste Lachen, das man seit manchem langen Tag an dem Baron bemerken konnte.

»Ich muß dir bedeuten«, erklärte ihm der Geist mit einer sehr gekränkten Miene, »daß du mir dies in Zukunft unterläßt.«

»Warum?« fragte der Freiherr.

»Weil es mir bis ins Mark schneidet«, antwortete die Gestalt. »Seufze, so viel du willst; das tut mir wohl.«

Der Freiherr seufzte unwillkürlich bei der Erwähnung dieses Wortes; das Gespenst wurde wieder heiter und händigte ihm mit der gewinnendsten Höflichkeit das Jagdmesser ein.

»In der Tat, es ist kein übler Gedanke, sich den Hals abzuschneiden, weil man zu viel Geld hat«, sagte der Baron, indem er die Schneide seines Messers prüfte.

»Bah!« meinte die Erscheinung, »nicht schlimmer, als wenn sich jemand umbringt, weil er wenig oder keines hat.«

Sprach der Geist aus Unachtsamkeit so, oder hielt er den Entschluß des Freiherrn für so fest begründet, daß er sich nichts mehr um solche hingeworfene Worte kümmerte? – ich habe es nicht ausfindig machen können. Nur so viel weiß ich, daß der Freiherr seine Hand plötzlich anhielt, die Augen weit öffnete und ganz so aussah, als sei ihm zum erstenmal ein neues Licht aufgegangen.

»Ei, in der Tat«, sagte von Weinzapf; »nichts ist so schlimm, daß es sich nicht wieder gutmachen ließe.«

»Leere Kassen ausgenommen«, sagte das Gespenst.

»Je nun, sie lassen sich wieder füllen«, meinte der Freiherr.

»Keifende Weiber«, schnarrte ihn der Geist an.

»Oh, auch diese lassen sich zähmen«, entgegnete der Freiherr.

»Dreizehn Kinder«, brüllte der Geist.

»Können gewiß nicht alle mißraten«, erwiderte der Freiherr.

Der Geist wurde augenscheinlich ganz wütend über den Freiherrn, daß er auf einmal seine Ansichten so ganz und gar geändert hatte, aber er versuchte es, seinen Grimm wegzulachen, und sagte, »er würde sich dem Baron sehr verpflichtet fühlen, wenn er mit seinen Scherzreden aufhören wollte.«

»Es ist mir nie weniger eingefallen zu scherzen als gegenwärtig«, versetzte der Freiherr.

»Nun, es freut mich, das zu hören«, sagte das Gespenst mit einer äußerst grämlichen Miene, »denn der Scherz ist im eigentlichsten Sinne mein Tod. Wohlan denn, so gib sie rasch auf, diese traurige Welt.«

»Ich weiß nicht«, sagte der Freiherr, mit dem Messer spielend; »sie ist allerdings sehr traurig, aber ich glaube nicht, daß die deine viel besser ist; denn dein Aussehen wenigstens ist nicht besonders tröstlich, und da meine ich – welche Sicherheit habe ich denn dafür, daß ich besser daran sein werde, wenn ich aus dieser Welt gehe?« rief er aufspringend; »ich habe die Sache nie in diesem Lichte betrachtet.«

»Beeile dich!« rief das Gespenst, mit den Zähnen knirschend.

»Weiche von hinnen«, sagte der Freiherr. »Ich will nicht länger über meinem Unglück brüten, sondern eine gute Miene dazu machen und es wieder mit der frischen Luft und den Bären versuchen. Hilft das nicht, so will ich ein vernünftiges Wörtlein mit der gnädigen Frau sprechen und die Schwillenhausen totschlagen.«

Mit diesen Worten sank der Freiherr in seinen Stuhl zurück und lachte so laut, daß das Zimmer dröhnte.

Das Gespenst wich um einige Schritte zurück, indem es zugleich den Freiherrn mit einem Blick des größten Entsetzens betrachtete. Dann griff es wieder nach dem Pfahl, stieß ihn sich mit aller Macht durch den Leib, heulte fürchterlich und verschwand.

Von Weinzapf sah den Geist nie wieder. Da er einmal entschlossen war zu handeln, so brachte er die Freifrau und die von Schwillenhausen bald zur Vernunft und starb viele Jahre nachher, wenigstens als ein glücklicher, wenn auch nicht als ein reicher Mann, obschon ich in letzterer Hinsicht keine bestimmte Auskunft zu geben vermag. Er hinterließ eine zahlreiche Familie, die unter seiner persönlichen Aufsicht zur Bären- und Eberjagd herangebildet worden war.

Die Nutzanwendung meiner Geschichte besteht darin, daß alle Männer, die aus ähnlichen Ursachen melancholisch geworden sind – was wohl bei gar vielen der Fall sein mag –, beide Seiten der Frage betrachten und an die bessere ein Vergrößerungsglas halten sollten. Fühlen sie sich dann noch versucht, sich ohne Abschied aus der Welt zu machen, so mögen sie vorher noch eine große Pfeife rauchen, eine Flasche Wein austrinken und aus dem lobenswerten Beispiel des Freiherrn v. Weinzapf Nutzen ziehen.

»Der neue Wagen ist bereit! Wenn´s gefällig ist, meine Herren und Damen –« rief ein neuer Postillion in das Zimmer.

Diese Kunde bewirkte, daß die Punschgläser in großer Eile geleert wurden, und verhinderte eine Besprechung der letzten Geschichte. Man bemerkte jedoch, daß Herr Squeers, ehe man aufbrach, den grauhaarigen Herrn angelegentlich beiseite zog, um ihm eine Frage vorzulegen. Sie bezog sich auf die fünf Schwestern von York und war in der Tat nichts weiter als eine Erkundigung, ob der Herr ihm nicht sagen könne, wieviel Pensionsgeld die Klöster von Yorkshire sich in jener Zeit von ihren Kostgängern hätten zahlen lassen.

Die Reise wurde wieder fortgesetzt. Nicolaus schlief gegen Morgen ein, und als er wieder erwachte, fand er zu seinem großen Leidwesen, daß während seines Schlummers beide, der Baron von Weinzapf und der grauhaarige Herr, ausgestiegen und davongegangen waren. Der Tag schleppte sich langweilig genug hin, und ungefähr abends gegen sechs Uhr wurden Herr Squeers, der Hilfslehrer, die Knaben und das gesamte Gepäck vor dem neuen Gasthof zum Georg in Greta Bridge abgesetzt.

Siebentes Kapitel.


Siebentes Kapitel.

Herr und Madame Squeers in ihrem häuslichen Kreise.

Als Herr Squeers wohlbehalten die Kutsche verlassen hatte, ließ er Nicolaus und die Knaben mit dem Gepäck auf der Straße stehen, damit sie sich an dem Wechseln der Pferde unterhalten könnten, und eilte in das Wirtshaus, um an dem Schenktisch die Beine zu strecken. Nach einigen Minuten kam er mit sehr gestreckten Beinen zurück, wenn anders die Farbe seiner Nase und ein kurzes Schlucksen als ein geeignetes Merkmal dafür betrachtet werden konnten. Zu gleicher Zeit wurde ein schmutziger Einspänner und ein Karren, an den zwei Arbeiter gespannt waren, aus dem Hofe gezogen.

»Setzt die Knaben und die Koffer in den Karren«, sagte Squeers, die Hände reibend, »während wir, dieser junge Mann und ich, den Einspänner benutzen wollen. Steigen Sie ein, Nickleby.«

Nicolaus gehorchte, und nachdem Herr Squeers die Mähre nicht ohne einige Mühe veranlaßt hatte, gleichfalls zu gehorchen, fuhren sie ab und ließen den mit Kinderelend beladenen Karren in Muße folgen.

»Friert es Sie, Nickleby?« fragte Squeers, nachdem sie schweigend eine Strecke gefahren waren.

»Ziemlich, Sir, ich kann´s nicht leugnen.«

»Nun, ich finde es sehr begreiflich«, meinte Squeers; »es ist eine lange Reise bei solchem Wetter.«

»Ist es noch weit nach Dotheboys Hall, Sir?« fragte Nicolaus.

»Noch etwa drei Meilen«, versetzte Squeers. »Aber Sie können hier unten das Hall weglassen.«

Nicolaus hustete, als wollte er damit andeuten, daß es ihm angenehm wäre, den Grund hiervon zu erfahren.

»Es gibt nämlich kein Hall hier«, bemerkte Squeers trocken.

»Ah, so!« entgegnete Nicolaus, nicht wenig durch diese Mitteilung befremdet.

»In London nennen wir es Hall«, fuhr Herr Squeers fort, »weil es vornehmer klingt; aber hier herum ist dieser Name unbekannt. Es kann einer sein Haus eine Insel heißen, wenn es ihm beliebt, denn soviel ich weiß, ist dies durch keine Parlamentsakte verboten.«

»Ich glaube nicht, Sir«, erwiderte Nicolaus.

Squeers warf bei dem Schluß dieses kleinen Zwiegesprächs einen schlauen Blick auf seinen Begleiter, und da er fand, daß sich dieser in Gedanken vertiefte und keineswegs geneigt war, weiter auf sein Gespräch einzugehen, so begnügte er sich, auf den Gaul loszuschlagen, bis sie an dem Ziel ihrer Reise anlangten.

»So, Herr Nickleby, steigen Sie hier aus«, sagte Squeers. »Heda! heraus! Das Pferd ausgespannt! Wird’s bald?«

Während der Schulmeister diese und ähnliche ungeduldige Rufe erschallen ließ, hatte Nicolaus Zeit, Beobachtungen anzustellen. Herrn Squeers Anstalt war ein langes, kalt aussehendes, einstöckiges Haus, hinter dem sich einige Nebengebäude, eine Scheune und ein Stall befanden. Nach einigen Minuten hörte man den Riegel des Hoftors zurückschieben, und unmittelbar darauf trat ein langer, ausgemergelter Junge mit einer Laterne in der Hand heraus.

»Bist du’s, Smike?« rief Squeers.

»Ja, Sir«, erwiderte der Junge.

»Warum, zum Teufel, hast du uns so lange warten lassen?«

»Ich bitte um Verzeihung, Sir; ich bin bei dem Feuer eingeschlafen«, antwortete Smike demütig.

»Feuer? Was für ein Feuer? Wo ist Feuer?« fragte der Schulmeister scharf.

»Nur in der Küche, Sir«, entgegnete der Junge; »die Madame sagte, ich könne hineingehen und mich wärmen, da ich aufbleiben müsse.«

»Ich glaube, die Madame ist toll geworden«, erwiderte Squeers; »ich wette, du wärst in der Kälte um ein gut Teil wacher geblieben.«

Herr Squeers war mittlerweile ausgestiegen und befahl nun dem Jungen, nach dem Pferd zu sehen und dafür Sorge zu tragen, daß es an diesem Abend keinen Hafer mehr bekomme. Dann hieß er Nicolaus an der Vordertür warten, da er um das Haus herumgehen und die Tür von innen öffnen wolle.

Ein Heer schlimmer Ahnungen, die unserem Nicolaus bereits auf der ganzen Reise zugesetzt hatten, drängte sich jetzt, als er allein war, mit doppelter Gewalt seiner Seele auf. Die große Entfernung von der Heimat und die Unmöglichkeit, sie anders als zu Fuß zu erreichen, wenn er genötigt sein sollte, dahin zurückzukehren, malte sich ihm in den beunruhigendsten Farben; und als er sich das trübselige Haus mit den dunklen Fenstern und die wilde, rund umher mit Schnee bedeckte Gegend betrachtete, fühlte er ein Herzweh, wie er es früher nie empfunden hatte.

»Nun«, rief Squeers, den Kopf aus der vorderen Tür steckend, »wo sind Sie, Nickleby?«

»Hier, Sir«, versetzte Nicolaus.

»So kommen Sie herein«, sagte Squeers. »Der Wind saust hier durch die Tür, daß er einen umwerfen könnte.«

Nicolaus gehorchte seufzend. Herr Squeers legte, um die Tür gegen den Wind zu sichern, einen Balken vor und führte dann seinen Hilfslehrer in ein kleines, sparsam mit Stühlen versehenes Zimmer. An der Wand hing eine vergilbte Landkarte, und von zwei Tischen trug der eine einige Vorbereitungen zum Nachtessen, während auf dem andern »der wohlberatene Hofmeister«, Murrays Grammatik, ein halbes Dutzend Pensions-Offerten und ein alter, an Wackford Squeers Wohlgeboren adressierter Brief in malerischer Verwirrung umherlagen.

Sie waren kaum ein paar Minuten in diesem Gemach, als eine Weibsperson hereinstürzte, Herrn Squeers bei der Kehle faßte und ihm zwei schallende Küsse versetzte, die sich so rasch, wie das Pochen eines Briefträgers folgten. Die Dame, eine hagere, grobknochige Gestalt, war fast um einen halben Kopf größer als Herr Squeers und trug einen barchentnen Bettkittel, Papierwickeln in den Haaren und eine schmutzige Nachthaube, gegen die ein gelbes, baumwollenes Schnupftuch, das sie unter dem Kinn zusammengeknüpft hatte, gar liebenswürdig abstach.

»Was macht mein Squeerschen?« sagte die Dame in scherzendem Ton und mit rauher, heiserer Stimme.

»Ich bin wohl, ganz wohl, meine Liebe«, versetzte Squeers. »Wie steht’s mit den Kühen?«

»Alles in Ordnung, Stück für Stück«, antwortete die Dame.

»Und die Schweine?« fuhr Squeers fort.

»Sind so munter, wie sie bei deinem Abgang waren.«

»Gott sei Dank«, sagte Squeers, seinen Überrock ausziehend. »Die Jungen sind wahrscheinlich auch, wie sie sein sollen?«

»O ja, wohl genug«, versetzte Frau Squeers verdrießlich. »Der kleine Pitcher hat das Fieber.«

»Hol der Henker den Jungen«, rief Squeers; »der ist doch auch immer krank.«

»Ich glaube, die ganze Welt hat keinen solch nichtsnutzigen Burschen mehr aufzuweisen«, erwiderte Frau Squeers; »und wenn etwas an ihn kommt, so ist es noch obendrein immer ansteckend. Aber glaube mir, es ist nichts als eitle Widerspenstigkeit, und kein Mensch soll mich von dem Gegenteil überzeugen. Verlaß dich drauf, Schläge würden ihn kurieren, wie ich dir schon vor sechs Monaten gesagt habe.«

»Ja, ich erinnere mich, meine Liebe«, erwiderte Squeers. »Wir wollen aber sehen, was sich machen läßt.«

Während dieses kleinen Zärtlichkeitsaustausches stand Nicolaus verlegen in der Mitte des Zimmers, ohne mit sich eins werden zu können, ob man wohl von ihm erwarte, daß er sich nach der Hausflur zurückziehe, oder daß er an Ort und Stelle bleibe. Aber nun erlöste ihn Herr Squeers aus dieser peinlichen Ungewißheit.

»Dies ist der neue junge Mann, mein Schatz«, sagte der Herr.

»Ah!« erwiderte Madame Squeers, indem sie Nicolaus mit dem Kopf zunickte und ihn kalt vom Wirbel bis zur Zehe musterte.

»Er wird mit uns zu Nacht speisen«, sagte Squeers, »und morgen sein Geschäft bei den Jungen beginnen. Du kannst ihm doch eine Streu zurechtmachen, nicht wahr?«

»Will sehen, wie’s geht«, entgegnete die Dame. »Sie machen sich wohl nichts daraus, wie Sie schlafen, Sir?«

»O nein«, erwiderte Nicolaus, »ich bin in dieser Hinsicht nicht verwöhnt.«

»Das ist ein Glück«, sagte Frau Squeers.

Der Witz dieser Dame bestand hauptsächlich in ihren beißenden Antworten. Herr Squeers lachte herzlich bei dem letzten Scherz seiner werten Hälfte und schien von Nicolaus dasselbe zu erwarten.

Es folgte nun zwischen dem Schulmeister und der Schulmeisterin eine weitere Verhandlung über den Erfolg von Herrn Squeers Abstecher, der sich hauptsächlich um geleistete Zahlungen und böse Schuldner drehte, bis endlich ein junges Dienstmädchen eine Yorkshirer Pastete nebst einem Stück kalten Rindfleisches hereintrug und beides auf den Tisch setzte. Als das geschehen war, erschien der Knabe Smike mit einem Krug Bier.

Herr Squeers leerte die Taschen seines Überrocks von den Briefen an verschiedene Knaben und von andern kleinen Dokumenten, die er in diesen mit herbefördert hatte. Der Knabe blickte mit einem scheuen und ängstlichen Ausdruck auf die Papiere, als hege er die schwache Hoffnung, daß auch etwas für ihn darunter sei. Der Blick war ein sehr schmerzlicher und drang Nicolaus tief ins Herz; denn er erzählte eine lange und traurige Geschichte.

Nicolaus wurde dadurch veranlaßt, den Jungen aufmerksamer zu betrachten, und fand sich nicht wenig überrascht, als er die seltsame Mischung von Kleidern, die dessen Anzug bildeten, gewahrte. Obgleich er nicht weniger als achtzehn oder neunzehn Jahre zählen konnte und für dieses Alter ziemlich groß war, war doch seine Kleidung ungefähr eine solche, wie man sie kleinen Knaben zu geben pflegt, zwar an Armen und Beinen abgeschmackt kurz, demungeachtet aber weit genug für das ausgehungerte Gerippe. Um die untere Partie seiner Beine mit dieser seltsamen Garderobe in Einklang zu bringen, trug er ein Paar ungeheure Stiefel, die ursprünglich mit Stulpen versehen gewesen und für einen stämmigen Bauern gemacht worden sein mochten, jetzt aber sogar für einen Bettler zu sehr geflickt und zerrissen waren. Gott weiß, wie lange er sich schon bei Squeers befand; aber er trug noch immer dasselbe Weißzeug, das er mit sich hergebracht hatte; denn um seinen Hals hing eine zerrissene Kinderkrause, die zur Hälfte von einem groben Mannshalstuch bedeckt war. Er hinkte, und während er sich anstellte, als sei er emsig mit der Zurüstung des Tisches beschäftigt, warf er einen so scharfen und doch so entmutigenden und hoffnungslosen Blick auf die Briefe, daß Nicolaus es kaum mit ansehen konnte.

»Was schnupperst du da herum, Smike?« rief Madame Squeers. »Willst du die Sachen liegenlassen, he?«

»Ah, bist du da?« fragte Squeers aufsehend.

»Ja, Sir«, versetzte der Junge, die Hände zusammendrückend, als ob er mit Gewalt die zuckenden Finger abhalten müsse, nach den Papieren zu greifen; »ist da –«

»Nun?« entgegnete Squeers.

»Haben Sie – ist jemand – hat man nichts gehört – über mich?«

»Zum Henker, nein«, erwiderte Squeers verdrießlich.

Der Junge blickte weg und bewegte sich, die Hand vor das Gesicht haltend, gegen die Tür.

»Nicht ein Wort«, nahm Squeers wieder auf, »und ich werde wohl auch nie etwas zu hören bekommen. Ist es nicht eine feine Geschichte, daß du schon so viele Jahre hier bist, und daß nach den ersten sechsen kein Heller mehr für dich bezahlt wurde? Ja, man hat nicht einmal nach dir gefragt, so daß man etwa hätte ausfindig machen können, wohin du gehörst. Eine feine Geschichte das – einen so großen Schlingel wie du auffüttern zu müssen, ohne die Hoffnung zu haben, je einen Pfennig dafür zu bekommen. Wie?«

Der Junge drückte die Hand an seine Stirn, als versuche er, sich irgendeine Erinnerung zurückzurufen, blickte dann ausdruckslos auf den Frager, verzog allmählich sein Gesicht zu einem Lächeln und hinkte hinaus.

»Ich muß dir etwas sagen, Squeers«, bemerkte die Frau Schulmeisterin, als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte; »ich glaube, der junge Bursche wird noch blödsinnig.«

»Ich hoffe nicht«, versetzte Herr Squeers, »denn er ist außer dem Hause ein anstelliger Bursche, der sein Essen und Trinken wohl verdient. Wäre es aber auch der Fall, so hätte er, denke ich, immerhin noch genug Verstand für uns. Doch komm, wir wollen zu Nacht essen. Ich bin hungrig und müde und will deshalb machen, daß ich zu Bett komme.«

Auf diese Erinnerung wurde noch extra ein Beefsteak für Herrn Squeers herbeigebracht, der nicht versäumte, demselben volle Gerechtigkeit angedeihen zu lassen. Nicolaus zog seinen Stuhl an den Tisch, aber der Appetit war ihm gänzlich vergangen.

»Wie findest du das Beefsteak, Squeers?« fragte die Schulmeisterin.

»Zart wie Lammfleisch«, erwiderte Squeers. »Willst du’s versuchen?«

»Ich könnte keinen Bissen mehr hinunterbringen«, entgegnete die Frau. »Was soll der junge Mann haben, mein Lieber?«

»Was ihm von dem Vorhandenen beliebt«, erwiderte Squeers in einer höchst ungewöhnlichen Anwandlung von Großmut.

»Nun, was wünschen Sie, Herr Knittelbrei?« fragte Frau Squeers.

»Ich möchte mir ein kleines Stückchen von der Pastete ausbitten – nur ein ganz kleines; denn ich bin nicht hungrig«, antwortete Nicolaus.

»Ist es aber nicht schade, die Pastete anzuschneiden, wenn Sie nicht hungrig sind?« meinte Frau Squeers. »Wollen Sie nicht ein Stückchen von dem Rindfleisch versuchen?«

»Wie Ihnen beliebt«, versetzte Nicolaus zerstreut; »es ist mir ganz gleichgültig.«

Frau Squeers machte auf diese Antwort eine sehr gnädige Miene, nickte Squeers zu, als ob sie ihre Zufriedenheit darüber ausdrücken wolle, daß sich der junge Mann so gut in seine Stellung zu finden wisse, und legte Nicolaus mit eigenen schönen Händen eine Fleischschnitte vor.

»Bier, Squeerchen?« fragte die Dame, indem sie ihrem Mann durch Blinzen und Stirnrunzeln zu verstehen gab, daß die Frage nicht so gemeint sei, ob er Bier trinken wolle, sondern ob Nicolaus welches haben solle.

»Allerdings«, versetzte Squeers unter ähnlichen Gebärden. »Ein Glas voll.«

Nicolaus erhielt also ein Glas voll, und da er eben mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt war, so trank er es in glücklicher Nichtbeachtung dessen, was an seiner Seite verhandelt wurde, aus.

»Das Beefsteak ist ungemein saftig«, sagte Squeers, indem er Messer und Gabel, mit denen er eine Zeitlang schweigend gespielt hatte, niederlegte.

»Es ist Mastochsenfleisch«, entgegnete die Dame. »Ich kaufte ein schönes, großes Stück in der Absicht –«

»In was für einer Absicht?« rief Squeers hastig. »Doch nicht für die – –«

»Nein, nein, nicht für sie«, erwiderte Frau Squeers, »sondern für dich, wenn du wieder nach Hause kämest. Du mein Himmel, wie kann dir nur einfallen, daß mir ein solcher Mißgriff begegnen könnte?«

»Auf Ehre, meine Liebe, ich konnte mir nicht denken, was du sagen wolltest«, entschuldigte sich Squeers, der ganz blaß geworden war.

»Brauchst dir keine unnötigen Sorgen zu machen«, bemerkte die Frau, herzlich lachend. «Auch nur zu denken, ich könnte eine solche Gans sein! Ei, Ei!«

Dieser Teil der Unterhaltung war etwas unverständlich, wenn man keine Kunde von dem in der Gegend im Umlaufe befindlichen Gerüchte hatte, Herr Squeers hasse alle Grausamkeit gegen Tiere so sehr, daß er für die Küche seiner Zöglinge Fleisch von Rindvieh aufkaufe, das eines natürlichen Todes gestorben sei; und vielleicht fürchtete er, bei dem vorerwähnten Anlasse, ohne es zu wissen, ein auserlesenes Stückchen, das für die jungen Herrchen bestimmt war, verzehrt zu haben.

Als das Nachtessen vorüber war, wurde es von einem kleinen Dienstmädchen mit hungrigen Augen wieder abgetragen, und Madame Squeers entfernte sich, um die Überbleibsel einzuschließen. Desgleichen trug sie Sorge, die Anzüge der fünf eben angekommenen Knaben aufzubewahren, die sich jetzt auf dem Wege zu ihrem Nachtlager, nämlich auf einer steilen Wendeltreppe, befanden, die man nicht mit Unrecht die Todesleiter nennen konnte, da es selten ohne eine Erkältung auf derselben ablief. Man hatte sie vorher mit einem leichten Süppchen beköstigt und packte sie nun, Seite an Seite, in eine kleine Bettstelle, wo sie sich gegenseitig wärmen und von einem besseren Mahle nebst einem geheizten Stübchen träumen konnten, wenn, wie nicht unwahrscheinlich, ihre Einbildungskraft diese Richtung einschlug.

Herr Squeers labte sich selbst mit einem tüchtigen Glase Grog, wobei er dem beliebten Grundsatze »ebensoviel Branntwein wie heißes Zuckerwasser« folgte, und sein liebenswürdiges Ehegemahl mischte für Nicolaus ein kleines Glas voll desselben Getränkes, nur in weit wässerigerer Zusammensetzung. Als dies geschehen war, rückten Herr und Frau Squeers dicht an das Feuer, setzten ihre Füße auf das Kamingitter und flüsterten vertraulich zusammen, während Nicolaus »den wohlberatenen Hofmeister« aufnahm und die ansprechenden Artikel desselben, nebst den darin enthaltenen Bildern, mit ebensoviel Bewußtsein dessen, was er tat, durchblätterte, als wäre er in magnetischem Schlaf gewesen.

Endlich gähnte Herr Squeers entsetzlich und meinte, es wäre hohe Zeit zu Bett zu gehen, worauf Frau Squeers und das Dienstmädchen eine kleine Strohmatratze und ein paar Decken in das Zimmer schleppten und sie zu einem Lager für Nicolaus zurüsteten.

»Wir wollen Ihnen morgen Ihr regelmäßiges Schlafgemach anweisen, Nickleby«, sagte Squeers. »Wer schläft in Brooks‘ Bett, meine Liebe?«

»In Brooks‘ Bett? versetzte Frau Squeers nachsinnend. »Jennings, der kleine Bolder, Graymarsh und – wie heißt doch der vierte –«

»Ach, so«, entgegnete Squeers; »richtig, Brooks‘ Bett ist voll.«

»Voll?« dachte Nicolaus. »Ich sollte es wohl selbst auch glauben.«

»Es muß aber irgendwo noch Platz geben«, fuhr Squeers fort, »ich kann mich nur im Augenblick nicht recht darauf besinnen. Doch lassen wir das bis morgen. Gute Nacht, Nickleby! Vergessen Sie nicht – morgen früh um sieben Uhr!«

»Ich werde bereit sein, Sir«, erwiderte Nicolaus. »Gute Nacht.«

»Ich will selbst kommen und Ihnen den Brunnen zeigen«, sagte Squeers. »Sie werden immer ein Stückchen Seife auf dem Küchenfenster finden; das gehört Ihnen.«

Nicolaus machte große Augen, ohne jedoch etwas zu entgegnen; und Squeers schickte sich aufs neue zum Fortgehen an, kehrte jedoch abermals zurück.

»Ich weiß in der Tat nicht«, sagte er, »wessen Handtuch ich Ihnen anweisen soll. Doch Sie können sich ja morgen früh mit etwas anderem behelfen, meine Frau wird dann im Laufe des Tages dafür Sorge tragen. Vergiß mir’s nicht, meine Liebe.«

»Ich will darauf Bedacht nehmen«, entgegnete Frau Squeers; »und Sie, junger Mann, sehen Sie darauf, daß Sie zuerst an den Brunnentrog kommen. Es ist nicht mehr als billig, daß der Lehrer sich desselben zuerst bediene; wenn Sie aber nicht eilen, so werden die Jungen Ihnen zuvorkommen.«

Ehe sich das edle Paar entfernte, gab Herr Squeers seiner Frau noch einen Wink, die Branntweinflasche fortzuschaffen, damit nicht Nicolaus in der Nacht Gebrauch davon mache, was denn auch von der Dame mit großer Eile besorgt wurde.

Als Nicolaus allein war, ging er ein halb dutzendmal in großer Aufregung durch das Zimmer. Allmählich wurde er jedoch ruhiger, setzte sich auf einen Stuhl und faßte den Entschluß, alles Ungemach, was da kommen möchte, eine Zeitlang geduldig über sich ergehen zu lassen, um seinem Onkel keinen Vorwand zu geben, die Hand von seiner hilflosen Mutter und Schwester abzuziehen. Eine edle Absicht verfehlt selten, gute Früchte in der Seele, in der sie entspringt, zu treiben. Sein Kleinmut legte sich, und – so lebhaft sind die Traume der Jugend – er hoffte sogar, daß sich die Angelegenheiten in Dotheboys Hall noch besser machen dürften, als es das Aussehen hatte.

Er wollte sich eben, wieder etwas erheitert, auf sein Lager werfen, als ein versiegelter Brief aus seiner Rocktasche fiel. Er hatte in der Eile, womit er London verließ, diesen ganz vergessen und sich seiner nicht mehr erinnert; setzt fiel ihm auf einmal wieder Newman Noggs und sein geheimnisvolles Benehmen ein.

»Himmel, was für eine wunderliche Hand!« sagte Nicolaus.

Der Brief war an ihn selbst adressiert, auf ein ungemein schmutziges Papier geschrieben und die Buchstaben so undeutlich gekritzelt, daß man sie kaum lesen konnte. Nach vieler Mühe gelang es ihm endlich, das Folgende herauszubringen:

»Mein lieber junger Herr!

Ich kenne die Welt. Ihr Vater kannte sie nicht, sonst würde er mir keine Wohltaten erwiesen haben, da er auf keinen Wiederersatz rechnen durfte. Auch Sie kennen sie nicht, sonst hätten Sie sich zu keiner solchen Reise verpflichtet.

Wenn Sie je eines Obdachs in London bedürfen sollten, (zürnen Sie nicht wegen dieses Ausdrucks, denn ich hielt es ehedem gleichfalls für unmöglich), so können Sie meine Wohnung bei dem Wirt zur Krone, Golden Square in der Silberstraße, erfahren. Es ist das Eckhaus der Silber- und Jacobsstraße und hat nach beiden Straßen hinaus eine Tür. Sie können abends kommen. Einst schämte sich niemand – doch das ist jetzt gleichgültig – es ist alles vorüber.

Entschuldigen Sie die schlechte Schrift. Ich würde sogar nicht einmal wissen, wie man einen ganzen Rock trägt. Ich habe alles Frühere vergessen und damit wohl auch meine Orthographie.

Newman Noggs.

P.S.

Wenn Sie nach Barnet Castle kommen, so treffen Sie im Königskopf gutes Bier. Sagen Sie, daß Sie mich kennen, und man wird Ihnen keine Rechnung machen. Sie können dort von Herrn Noggs sprechen, denn ich war damals ein Mann von Stande – ja, in der Tat.«

Es ist vielleicht nicht der Erwähnung wert; aber als Nicolaus Nickleby das Schreiben zusammenlegte und in seiner Brieftasche verwahrte, trübte eine Feuchtigkeit seine Augen, die man hätte für Tränen halten können.

Achtes Kapitel.


Achtes Kapitel.

Von dem inneren Haushalt in Dotheboys Hall.

Eine Fahrt von zweihundert und etlichen Meilen bei schlechtem Wetter kann auch das härteste Bett weich machen. Vielleicht ist sie auch imstande, die Träume zu versüßen; denn Träume, die Nicolaus‘ rauhes Lager umgaukelten und ihr luftiges Nichts in sein Ohr flüsterten, waren von der angenehmsten und glücklichsten Art. Er war eben im Begriff, das Glück auf Windesflügeln einzuholen, als der schwache Schimmer eines ersterbenden Lichtes auf seine Augen fiel und eine Stimme, die er ohne Schwierigkeit für die des Herrn Squeers erkennen konnte, ihn erinnerte, daß es Zeit sei aufzustehen.

»Sieben Uhr vorbei«, sagte Herr Squeers.

»Ist es schon Morgen?« fragte Nicolaus, im Bette aufsitzend.

Ah, freilich ist es«, antwortete Squeers, »und dazu ein recht eisiger. Nun, Nickleby, beeilen Sie sich.«

Nicolaus bedurfte keiner weitern Ermahnung, sondern beeilte sich und kleidete sich bei dem Kerzenlicht, das Herr Squeers in der Hand hatte, an.

»Das ist ein schöner Auftritt«, sagte der Schulmann; »der Brunnen ist eingefroren.«

»So«, entgegnete Nicolaus, den diese Nachricht nicht besonders interessierte.

»Ja«, erwiderte Squeers. »Sie können sich diesen Morgen nicht waschen.«

»Mich nicht waschen?« rief Nicolaus.

»Nein, es ist nicht daran zu denken«, erwiderte Squeers spitzig. »Sie müssen sich begnügen, sich eine trockene Politur zu geben, bis wir das Eis im Brunnen einstoßen und einen Eimer voll für die Jungen herausholen können. Was starren Sie mich so an? Geschwind! Geschwind!«

Nicolaus erwiderte nichts, sondern schlüpfte hastig in seine Kleider, während Squeers die Läden öffnete und das Licht ausblies. Bald darauf ließ sich die Stimme der liebenswürdigen Frau Schulmeisterin vernehmen, die Einlaß begehrte.

»Komm herein, mein Schatz«, sagte Squeers.

Frau Squeers kam herein, noch in denselben Bettkittel gekleidet, in dem sie sich schon in der vorigen Nacht so vorteilhaft ausgenommen hatte, nur daß sie als weitere Zierde einen altertümlichen Biberhut mit vieler Anmut und Leichtigkeit über der früher erwähnten Nachthaube trug.

»Hol’s» der Henker«, begann die Dame, den Wandschrank öffnend; »ich kann den Schullöffel nirgends finden.«

»Laß dich das nicht anfechten, meine Liebe«, bemerkte Squeers begütigend: »wir haben ihn ja vorderhand nicht nötig.«

»Nicht nötig? Wie kannst du nur so reden«, versetzte Frau Squeers beißend. »Ist heute nicht der Schwefelmorgen?«

«Ja, ja, du hast recht, ich habe das ganz vergessen«, entgegnete Herr Squeers. »Wir reinigen den Knaben hin und wieder das Blut, Nickleby.«

»Pah! Albernheiten!« sagte die Dame. »Glauben Sie ja nicht, junger Mann, daß wir uns für Schwefelblumen und Sirup in Unkosten versetzen, bloß um ihr Blut zu reinigen. Wenn Sie glaubten, wir trieben das Geschäft in dieser Weise, so wären Sie sehr im Irrtum. Ich will daher gleich offen Farbe bekennen.«

»Mein Schatz«, wandte Squeers mit einem Stirnrunzeln ein. »Hm!«

»Pah, Dummheiten!« erwiderte Frau Squeers. »Wenn der Herr hier Lehrer sein will, so muß er von vornherein wissen, daß es da keiner Alfanzereien bei den Knaben bedarf. Sie erhalten den Schwefel und Sirup – einmal, weil sie, wenn man anders mit ihnen dokterte, immer etwas zu klagen hätten, so daß man gar nicht fertig mit ihnen würde, und dann, weil es ihnen den Appetit verdirbt und auch wohlfeiler zu stehen kommt, als ein Frühstück und ein Mittagessen. So tut es zu gleicher Zeit ihnen und uns gut, und was will man weiter?«

Nach dieser Erklärung steckte Frau Squeers den Kopf in den Schrank und stellte genauere Nachforschung nach dem Löffel an, wobei ihr Herr Squeers half. Während des Suchens flüsterten sie miteinander; aber der Schrank dämpfte den Ton der Stimme, so daß Nicolaus nichts weiter unterscheiden konnte, als daß Herr Squeers meinte, seine Frau hätte etwas Unverständiges gesagt, eine Ansicht, die indessen Frau Squeers für dummes Geschwätz erklärte.

Als sich alles Suchen und Herumstöbern als fruchtlos erwies, wurde Smike herbeigerufen, der nun von Frau Squeers so lange mit Püffen und von Herrn Squeers mit Ohrfeigen bearbeitet wurde, bis sich im Laufe dieser Doppelbehandlung sein Geist so weit aufhellte, daß er die Vermutung auszusprechen imstande war, Madame Squeers habe ihn vielleicht in der Tasche, was sich denn auch als richtig herausstellte. Da jedoch Frau Squeers vorher beteuert hatte, sie wisse ganz bestimmt, daß er nicht dort wäre, so erhielt Smike eine weitere Ohrfeige, weil er sich unterfangen hatte, seiner Gebieterin zu widersprechen, und zugleich die Verheißung einer gesunden Tracht Schläge, wenn er sich in Zukunft nicht respektvoller benehme; so daß ihm also sein Scharfsinn keinen besonderen Gewinn brachte.

»Ein unbezahlbares Weib, Nickleby«, sagte Squeers, als seine Gattin hinauseilte und den armen Haussklaven vor sich hin stieß.

»Es scheint so«, bemerkte Nicolaus.

»Ich kenne nicht ihresgleichen«, fuhr Squeers fort. »Sie ist immer dieselbe, Nickleby – immer das gleiche, geschäftige, rührige, tätige, sparsame Geschöpf, wie Sie es zur Stunde sehen.«

Nicolaus seufzte unwillkürlich bei dem Gedanken an die liebenswürdigen Aussichten, die sich ihm in diesem Hause auftaten; aber Squeers war zufällig zu sehr von seinen eigenen Gedanken erfüllt, um es zu bemerken.

»Wenn ich in London oben bin«, fuhr Squeers fort, »so brauche ich gewöhnlich die Redensart, daß sie den Knaben eine Mutter sei. Aber sie ist ihnen zehnmal mehr als eine Mutter. Sie tut Dinge für die Jungen, Nickleby, daß ich wohl behaupten kann, die Hälfte der Mütter vermöchten es nicht, etwas der Art für ihre eigenen Söhne zu tun.«

»Ich glaube das selber auch, Sir«, entgegnete Nicolaus.

Das Wahre an der Sache war übrigens, daß beide, Herr und Frau Squeers, die Knaben als ihre eigentlichen und natürlichen Feinde betrachteten, oder mit andern Worten, sie waren der Ansicht, es sei ihr Beruf und Gewerbe, von jedem Knaben soviel wie nur immer möglich herauszupressen. Über diesen Punkt waren beide einig und richteten demgemäß ihr Benehmen ein. Es gab nur den einen Unterschied zwischen ihnen, daß Frau Squeers den Krieg gegen den Feind offen und furchtlos führte, während Squeers auch zu Hause seine Schuftigkeit mit einem Anstrich seiner gewohnten Verstellung verhüllte, als meine er wirklich, eines Tages sich selbst täuschen und überreden zu können, daß er eigentlich doch eine seelensgute Haut wäre.

»Aber kommen Sie«, sagte Squeers, einen ähnlichen Gedankengang in dem Geiste seines Gehilfen unterbrechend: »wir wollen nach dem Schulzimmer gehen. Helfen Sie mir meinen Schulrock anziehen.«

Nicolaus half seinem Dienstherrn ein altes barchentnes Jagdwams anzuziehen, das dieser von einem Kleiderständer in der Hausflur herunternahm. Squeers bewaffnete sich mit seinem spanischen Rohr und führte den Unterlehrer über einen Hof zu einer Tür des Hinterhauses.

»So!« sagte der Schulmeister, als sie miteinander eintraten: »das ist unsere Arbeitsstätte.«

Man traf hier auf ein so buntes Schauspiel und auf so viele Dinge, die die Aufmerksamkeit auf sich zogen, daß Nicolaus im Anfang nur aufschauen konnte, ohne eigentlich etwas zu unterscheiden. Nach und nach löste sich jedoch der Ort in ein kahles und schmutziges Zimmer mit ein paar Fenstern auf, an denen übrigens das Glas kaum den zehnten Teil ausmachen mochte, da der Rest mit Papier aus alten Schreibbüchern geflickt war. Außerdem fand man noch ein paar lange, alte, gebrechliche Tische, die mit Messern zerschnitten, mit Tinte beschmiert und auf jede nur mögliche Weise beschädigt waren, einige Bänke, ein besonderes Pult für Herrn Squeers und ein anderes für seinen Gehilfen. Die Decke war, wie die einer Scheune, durch Querbalken und Sparren unterstützt und die Wände so besudelt und geschwärzt, daß es unmöglich war zu ermitteln, ob ihr ursprünglicher Anstrich, wenn ein solcher vorhanden war, von dem Tüncher oder dem Maler herrührte.

Und erst die Zöglinge – die jungen Edelleute! Die letzten schwachen Hoffnungsstrahlen, der entfernteste Lichtblick einer Möglichkeit, daß seine Bemühungen in dieser Schauerhöhle je etwas Gutes erzielen könnten, schwanden aus Micolaus‘ Seele, als er mit Schrecken der Wirklichkeit ansichtig wurde. Bleiche, hagere Gesichter, abgezehrte Gerippe, Kinder mit den Zügen von Greisen, Mißgestalten mit eisernen Schienen an den Gliedern, Knaben von verkümmertem Wuchs, und andere, deren lange, dürre Beine die gebeugten Körper kaum zu tragen vermochten –, alles dieses drängte sich vor seinem Blick. Da waren Triefaugen, Hasenscharten, Klumpfüße, kurz jede Häßlichkeit und Entstellung, die auf eine unnatürliche Abneigung der Eltern gegen ihre Sprößlinge oder auf ein Leben hindeutete, das von frühester Kindheit an nur Grausamkeit und Vernachlässigung gekannt hatte. Man sah einige kleine Gesichter, die schön gewesen sein würden, wären sie nicht durch den finstern Blick eines durch Leiden verstockten Inneren verdüstert gewesen; eine Kindheit, der der Glanz des Auges erloschen, deren Schönheit entschwunden und wo nur die Hilflosigkeit zurückgeblieben war; boshafte Gesichter, die bleiernen Auges, wie Übeltäter in einem Gefängnis, vor sich hinbrüteten; und arme Geschöpfe, die, die Sünden ihre schwachen Eltern büßend, selbst nach den gedungenen Wärterinnen weinten – dem einzigen, was sie gekannt hatten, und wo sie doch nicht ganz verlassen in ihrer Einsamkeit waren. Welche heranschießende Höllensaat wurde hier erzogen, wo Mitgefühl und Liebe schon in der Geburt erstickt wurden, wo man jedes frische und jugendliche Gefühl durch Schläge und Hunger erdrückte und wo jede der Rachsucht entquellende Leidenschaft sich leise ihre Eitergänge bis in das Innerste des übervollen Herzens fraß!

Und doch hatte dieser Anblick, so schmerzlich er auch war, seine komischen Züge, die bei einem minderbeteiligten Zuschauer, als Nicolaus es war, wohl ein Lächeln hervorrufen konnten. Frau Squeers stand hinter einem der Lehrerpulte und hatte eine ungeheure Schüssel mit Schwefel und Sirup vor sich. Von dieser köstlichen Mischung gab sie einem jeden Knaben eine starke Dosis, wobei sie sich eines gemeinschaftlichen, ursprünglich wohl für einen Riesen angefertigten hölzernen Löffels bediente, der den Mund eines jeden der jungen Herrchen beträchtlich erweiterte, da sie unter schweren Strafandrohungen den ganzen Löffel voll auf einmal hinunterschlucken mußten. In einer Ecke der Stube hatten sich, der Kameradschaft halber, die in der Nacht angekommenen kleinen Knaben zusammengedrückt, drei von ihnen in ungemein weiten Lederhosen und zwei in alten langen Hosen, die sogar noch bedeutend enger anlagen, als man gewöhnlich Unterbeinkleider zu tragen pflegt. In einer kleinen Entfernung von ihnen saß Herrn Squeers‘ jugendlicher Sohn und Erbe, ein sprechendes Ebenbild seines Vaters. Er wehrte sich aus Leibeskräften mit Händen und Füßen gegen Smike, der ihm ein Paar neue Stiefel von verdächtiger Ähnlichkeit mit denen, die der kleinste der neuen Ankömmlinge auf der Herreise getragen hatte, anziehen wollte; und auch der kleine Knabe schien sein Eigentum zu erkennen, denn er betrachtete dasselbe mit einem Blick der kläglichsten Verwunderung. Außerdem stand eine lange Reihe von Knaben harrend da, freilich mit Gesichtern, die nicht das angenehmste Vorgefühl hinsichtlich des Gesiruptwerdens aussprachen; und ein anderes Häuflein, das eben diese Tortur überstanden hatte, deutete durch allerhand Mundverzerrungen an, daß dieses Löffeltraktament eben nicht zu den angenehmsten gehöre. Die Knaben waren insgesamt so buntscheckig, übel zusammenpassend und ungewöhnlich gekleidet, daß man sich des Lachens nicht hätte erwehren können, wäre nicht der ekelerregende Anblick von Schmutz, Unordnung und Kränklichkeit damit verbunden gewesen.

»Nun«, sagte Squeers, indem er mit seinem Rohr so heftig auf den Tisch schlug, daß die Hälfte der Knaben beinahe aus ihren Stiefeln gesprungen wäre; »ist das Doktern endlich vorbei?«

»Im Augenblick«, versetzte Frau Squeers, die dem letzten Knaben, den sie in ihrer Eile beinahe erstickt hätte, mit dem hölzernen Löffel auf den Scheitel klopfte, um ihn wieder zu sich zu bringen. »Smike, nimm die Schüssel fort – geschwind!«

Smike hinkte mit der Schüssel hinaus, und Frau Squeers folgte ihm, nachdem sie zuvor ihre schmutzigen Finger in dem Lockenkopfe eines Knaben abgewischt hatte, hastig nach einer Art Waschhaus, wo ein kleines Feuer unter einem großen Kessel brannte und eine Anzahl kleiner hölzerner Näpfe auf einem Tische standen.

In diese Näpfe goß Frau Squeers, unter dem Beistände ihres ausgehungerten Dienstmädchens, ein braunes Gemisch, das wie Lohbrühe aussah und Suppe genannt wurde. In jeden Napf kam ein winziges Scheibchen Schwarzbrot, und als die Knaben ihre Suppe mit dem Brote ausgelöffelt und hintendrein auch diesen Löffel verzehrt hatten, womit das Früstück beendigt war, sprach Herr Squeers mit feierlicher Stimme: »Herr, laß uns aufrichtig dankbar sein für alles Gute, was wir von dir empfangen«, und begab sich dann zu seiner eigenen Morgenerquickung.

Nicolaus erweiterte seinen Magen mit einem Napf Suppe, wohl aus demselben Grunde, der einige Milde veranlaßt, Erde zu verschlucken – damit nämlich hernach ihr Eingeweide sie nicht quäle, wenn sie nichts zu essen hätten. Als er hierauf noch eine Brotschnitte mit Butter verzehrt hatte, die ihm vermöge seiner Eigenschaft als Lehrer zuteil wurde, so setzte er sich nieder und harrte, bis der Unterricht begänne.

Es konnte ihm nicht entgehen, daß statt des Lebensmutes nur stumme Trauer unter den Knaben herrschte. Dort war keine Spur von dem Tumult und Lärmen eines Schulzimmers, nichts von seinen geräuschvollen Spielen und seiner herzlichen Fröhlichkeit. Die Kinder kauerten sich zitternd zusammen und schienen nicht den Mut zu haben, sich zu bewegen. Der einzige Zögling, der einige Neigung zu Scherz und Bewegung kundgab, war der junge Herr Squeers. Da aber seine Hauptbelustigung darin bestand, daß er mit seinen Stiefeln den andern Knaben auf die Zehen trat, so konnte man an seiner Munterkeit gerade keinen besonderen Gefallen finden.

Nach einer halben Stunde trat Herr Squeers wieder ein. Die Knaben gingen an ihre Plätze und griffen nach ihren Büchern, von denen durchschnittlich etwa eins auf acht Schüler kam. Herr Squeers nahm einige Minuten eine sehr gelehrte Miene an, als könne er alles in den Büchern auswendig und wisse jedes Wort aus dem Kopfe herzusagen, wenn er sich nur die Mühe nehmen wollte, und rief dann die erste Klasse auf.

Dem Geheiße gehorsam, stellten sich ein halb Dutzend Vogelscheuchen mit Löchern an den Knien und Ellenbogen vor dem Pulte des Schulmeisters auf, und eine davon legte ein zerrissenes und schmutziges Buch unter sein gelehrtes Auge.

»Dies ist die erste Klasse; sie erhält Unterricht im Englischlesen und in der Philosophie, Nickleby«, sagte Squeers, indem er Nicolaus näher zu treten winkte. »Wir wollen auch eine lateinische Klasse gründen und sie Ihnen übertragen. Wohlan denn, wo ist der Primus?«

»Er putzt in der hintern Stube die Fenster«, sagte der damalige Zugführer der philosophischen Klasse.

»Ah, richtig«, erwiderte Squeer«. »Wir halten uns an die praktische Lehrmethode, Nickleby – das einzige richtige Erziehungssystem. P-u-tz, Putz, e-n, en, Putzen, Zeitwort, reinmachen, reinigen. F-e-n, Fen, s-t-e-r, ster, Fenster, eine mit einer durchsichtigen Substanz verwahrte Öffnung, durch die Licht in die Häuser fällt. Wenn ein Knabe etwas der Art aus dem Buche gelernt hat, so geht er hin und tut es. Wir folgen hier ganz demselben Grundsatz, den man beim Gebrauch der Globen geltend macht. Wo ist der Zweite?«

»Er jätet im Garten Unkraut aus«, entgegnete eine zarte Stimme.

»Ja ja«, fuhr Squeers fort, ohne sich aus der Fassung bringen zu lassen;, »so ist’s. B-o, Bo, t-a, ta, Bota, n-i-k, nik, Botanik, Hauptwort, Kenntnis der Pflanzen. Wenn er gelernt hat, daß Botanik Kenntnis der Pflanzen bedeutet, so geht er hin und lernt sie kennen. Dies ist unser System, Nickleby. Was halten Sie davon?«

»Jedenfalls ist es ein sehr nutzenbringendes«, antwortete Nicolaus bedeutsam.

»Das will ich meinen«, entgegnete Squeers, dem die ironische Betonung seines Hilfslehrers nicht aufgefallen war. »Nun, du Dritter, was ist ein Pferd?«

»Ein Tier, Sir«, versetzte der Knabe.

»Richtig«, sagte Squeers: »nicht wahr, Nickleby?«

»Ich glaube, daß hier kein Zweifel obwalten kann, Sir«, erwiderte Nicolaus.

»Natürlich nicht«, sagte Squeers. »Ein Pferd ist ein Quadruped, und Quadruped ist das lateinische Wort für Tier, wie jeder, der die Grammatik durchgemacht hat, weiß; denn wo läge sonst der Nutzen der Grammatik?«

»In der Tat, wo läge er?« sprach Nicolaus zerstreut.

»Da du deine Sache so gut gemacht hast«, nahm Squeers wieder auf, »so geh und sieh nach meinem Pferd; striegle es ordentlich, sonst will ich dich striegeln. Die übrigen der Klasse gehen hinaus und schöpfen Wasser, bis man sie aufhören heißt; denn die Kessel müssen für die morgige Wäsche gefüllt werden.«

Mit diesen Worten entließ er die erste Klasse zu ihren Übungen in der praktischen Philosophie und sah Nicolaus mit einem halb verschmitzten, halb zweifelhaften Blick an, als wolle er sich überzeugen, welchen Eindruck dieses Verfahren auf seinen Hilfslehrer gemacht hatte.

»So wird die Sache bei uns betrieben, Nickleby«, sagte er nach einer langen Pause.

Nicolaus zuckte auf eine kaum bemerkliche Weise die Achseln und sagte, daß ihn dies der Augenschein lehre.

»Es ist übrigens eine sehr gute Methode«, fuhr Squeers fort. »Doch lassen Sie jetzt diese vierzehn kleinen Knaben lesen; denn Sie müssen anfangen, sich nützlich zu machen. Faulenzerei geht hier nicht an.«

Herr Squeers sagte dies mit einem Ton, als sei ihm plötzlich eingefallen, daß er seinem Hilfslehrer nicht zuviel sagen dürfe, oder daß dieser ihm nicht genug zum Lobe der Anstalt gesagt hätte. Die Kinder mußten sich nun in einen Halbkreis um den neuen Lehrer stellen, und bald horchte dieser auf ihr träges, schleppendes und stockendes Hersagen jener wichtigen Geschichten, die in den älteren Fibelbüchern zu finden sind.

Unter dieser angenehmen Beschäftigung schlich der Morgen schwerfällig hin. Um ein Uhr kamen die Knaben, nachdem man ihnen vorher den Appetit durch Haferbrei und Kartoffeln benommen hatte, zu einem Stückchen tüchtig eingepökelten Ochsenfleisches in die Küche, und Nicolaus erhielt gnädigst die Erlaubnis, seinen Anteil nach seinem einsamen Pult zu tragen, um es dort ungestört verzehren zu können. Dann kauerten sich die Knaben abermals eine Stunde fröstelnd in dem kalten Schulzimmer zusammen, worauf der Unterricht wieder seinen Anfang nahm.

Herr Squeers pflegte nach jedem seiner halbjährlichen Besuche in der Hauptstadt die Knaben zusammenzurufen und ihnen eine Art Mitteilung zu machen über Verwandte, die er gesehen, Neuigkeiten, die er gehört, Briefe, die er mitgebracht, Rechnungen, die man bezahlt, oder Auslagen, die man schuldig geblieben war usw. Diese festliche Musterung fand jedesmal an dem Nachmittag des ersten Tages nach seiner Zurückkunft statt; vielleicht, um durch die Spannung des Morgens die Selbstüberwindung der Knaben zu kräftigen, vielleicht auch, weil Herr Squeers durch gewisse warme Getränke, die er gewöhnlich nach dem Mittagessen zu sich zu nehmen pflegte, größeren Ernst und größere Unbeugsamkeit gewann. – Doch, sei dem, wie ihm wolle – die Knaben wurden von den Fenstern, dem Garten, dem Stall und dem Hof zurückgerufen, und das Schulzimmer barg die volle Versammlung, als Herr Squeers, mit einem kleinen Paketchen Briefschaften in der Hand und von Frau Squeers begleitet, die ein paar Haselnußstöcke trug, in das Zimmer trat und Stillschweigen gebot.

»Wenn einer, ohne daß er gefragt wird, das Maul auftut«, sagte Herr Squeers in mildem Tone, »so kriegt er Hiebe, bis ihm die Haut vom Leibe fällt.«

Diese Ankündigung hatte den beabsichtigten Erfolg; denn im Augenblick trat eine totengleiche Stille ein, und Herr Squeers fuhr fort:

»Jungen, ich bin in London gewesen und so gesund und wohl wie je wieder zu meiner Familie und zu euch zurückgekehrt.«

Die Jungen begrüßten diese erfreuliche Nachricht, dem halbjährlichen Brauche zufolge, mit drei schwachen Freuderufen. Aber was für Freuderufe? – kaum wie ein starker Seufzer aus der Brust eines Menschen, dem der Todesschweiß auf der Stirn steht.

»Ich habe die Eltern von einigen unter euch gesehen«, fuhr Squeers, seine Papiere durchblätternd, fort; »und sie sind so erfreut über die Fortschritte ihrer Söhne, daß an ein Zurücknehmen derselben gar nicht zu denken ist, was natürlich allen Parteien in gleicher Weise zustatten kommt.«

Bei diesen Worten fuhren zwei oder drei Hände zu zwei oder drei Augen, aber der größere Teil der jungen Leutchen wußte nicht viel von seinen Eltern zu sagen und war daher bei der Sache in keiner Weise beteiligt.

»Ich hatte mit Widerwärtigkeiten zu kämpfen«, sagte Squeers, indem er eine zürnende Miene annahm; »Bolders Vater blieb zwei Pfund, zehn Schillinge schuldig. Wo ist Bolder?«

»Hier, Sir«, erwiderten zwanzig diensteifrige Stimmen. Knaben sind in solchen Fällen gerade wie die Männer.

»Komm her, Bolder«, rief Squeers.

Ein kränklich aussehender Knabe mit von Warzen bedeckten Händen trat leichenblaß und klopfenden Herzens an das Pult des Lehrers und erhob seine Augen flehend zu Squeers‘ Gesicht.

»Bolder«, begann Squeers in einem langsamen Ton; denn er überlegte im Sprechen, wie er ihm am besten beikommen könne.

»Bolder, wenn dein Vater glaubt, daß – doch was soll das, Bürschlein?«

Mit diesen Worten faßte Squeers die Hand des Knaben bei dem Ärmelaufschlag und betrachtete sie mit einem erbaulichen Ausdruck von Entsetzen und Ekel.

»Wie nennst du dies, Musje?« fragte der Schulmeister, indem er dem Knaben gleich vornweg einen Streich mit der Haselnußgerte gab, um die Antwort zu beschleunigen.

»Ach, ich kann ja nicht dafür, Sir«, erwiderte der Knabe weinend. »Sie kommen von selbst; ich glaube, es ist die schmutzige Arbeit, Sir – wenigstens weiß ich nicht, woher es kommt, Sir; aber meine Schuld ist es gewiß nicht.«

»Bolder«, sagte Squeers, indem er seine Hemdärmel zurückschlug und die Fläche der rechten Hand anfeuchtete, um den Stock besser fassen zu können; »du bist ein unverbesserlicher junger Schlingel, und da die letzte Tracht Prügel nicht angeschlagen hat, so wollen wir sehen, ob eine andere nicht bessere Wirkung tut.«

Squeers fiel sofort, ohne des kläglichen Geschreis um Schonung zu achten, über den Knaben her und bearbeitete denselben so lange mit seinem Rohr, bis er kaum mehr den Arm zu rühren vermochte.

»So!« sagte Squeers, als er fertig war; »reibe dir den Rücken, so viel du willst. Das wenigstens wirst du nicht sofort herunterreiben. – Wie, du willst nicht zu heulen aufhören? Führe ihn hinaus, Smike.«

Der Haussklave wußte aus Erfahrung zu gut, daß durch Zögerung nichts gewonnen werde, und schaffte daher das arme Opfer durch eine Seitentür, während Herr Squeers sich wieder auf seinen Stuhl pflanzte und Frau Squeers einen andern an seiner Seite einnahm.

»Nun laßt uns weiter sehen«, sagte Squeer«. »Ein Brief für Cobbey. Steh auf, Cobbey!«

Ein anderer Knabe erhob sich und betrachtete mit ängstlichen Blicken den Brief, während Squeers den Inhalt in einem kurzen Auszug vortrug.

»Ah!« sagte Squeers, »Cobbeys Großmutter ist tot und sein Onkel Johann hat sich dem Trinken ergeben. Das sind alle Neuigkeiten, die seine Schwester sendet, achtzehn Penc ausgenommen, die gerade hinreichen werden, die zerbrochene Fensterscheibe zu bezahlen. Liebe Frau, willst du das Geld zu dir nehmen?«

Die würdige Dame steckte die achtzehn Pence mit der gleichgültigsten Geschäftsmiene ein, und Squeers ging so kaltblütig wie möglich zu dem nächsten Knaben über.

»Die Reihe kommt jetzt an Graymarsh«, sagte Squeers. »Steh auf, Graymarsh!«

Der Knabe gehorchte, und der Schulmeister überflog wie vorher den Brief.

»Graymarsh‘ Tante mütterlicherseits –« fuhr Squeers fort, nachdem er sich den Inhalt zu eigen gemacht hatte – »ist sehr erfreut über die Nachricht, daß er so gesund und zufrieden ist: sie läßt Madame Squeers ihre achtungsvollsten Komplimente vermelden und glaubt, daß sie ein Engel sein müsse. In gleicher Weise meint sie, Herr Squeers sei zu gut für diese Welt, hofft jedoch, daß er ihr noch lange erhalten bleibe, um sein Geschäft fortzusetzen. Sie würde die verlangten zwei Paar Strümpfe geschickt haben, wenn in ihrer Kasse nicht Ebbe wäre; statt dessen sendet sie ein Traktätlein und hofft, daß Graymarsh sein Vertrauen auf Gott setzen werde. Vor allem aber wünscht sie, daß er sich Mühe gebe, Herrn und Frau Squeers in jeder Hinsicht zu Gefallen zu leben und sie als seine einzigen Freunde zu betrachten. Er solle den jungen Herrn Squeers lieben und sich nicht auf eine unchristliche Weise darüber beschweren, daß er zu fünf in einem Bett schlafen müsse. »Ah!« sagte Squeers, das Schreiben zusammenschlagend, »ein köstlicher Brief, sehr liebreich – in der Tat!«

Er war in einem gewissen Sinne allerdings sehr liebreich, denn Graymarsh‘ mütterlicherseits Tante war, wie sich ihre vertrauten Freundinnen ins Ohr flüsterten, niemand anders, als Graymarsh‘ wirkliche Mutter. Squeers fuhr jedoch, ohne auf diesen Teil der Geschichte anzuspielen, da es vor dem Knaben unmoralisch geklungen haben würde, in seinem Geschäft fort, indem er den Namen »Mobbs« rief, worauf sich ein anderer Knabe erhob und Graymarsh wieder Platz nahm.

»Mobbs Stiefmutter –« sagte Squeers – »mußte sich zu Bett legen, als sie hörte, daß er kein Fett essen wolle, und ist seitdem immer krank gewesen. Sie wünscht mit einer der nächsten Posten zu erfahren, wo er hingebracht zu werden erwartet, da er sich über die Kost beklagt, und will wissen, mit welchen Gefühlen er seine Nase über die Kuhleberbrühe rümpfen kann, nachdem sein guter Lehrer den Segen darüber gesprochen hat. Daß das letztere geschieht, hat sie aus den Londoner Zeitungen und nicht von Herrn Squeers erfahren, der zu menschenfreundlich und wohlwollend ist, um Leute gegeneinander aufzuhetzen; sie fühlt sich übrigens in einer Weise gekränkt, daß sich Mobbs gar keinen Begriff davon machen kann. Es tut ihr leid, eine sündhafte und abscheuliche Unzufriedenheit an ihm zu bemerken, weshalb sie hofft, Herr Squeers werde ihn schon in einen ruhigeren Gemütszustand hineinprügeln. Wegen seines schlechten Betragens behält sie auch den wöchentlichen halben Penny Taschengeld zurück und hat ein Messer mit doppelter Klinge und einem Korkzieher, das für ihn gekauft worden war, den Missionaren geschenkt.

Ein widerspenstiger Gemütszustand führt zu nichts«, fuhr Herr Squeers fort, indem er abermals die Fläche seiner rechten Hand anfeuchtete; »Heiterkeit und Zufriedenheit müssen stets aufrechterhalten werden. Mobbs, tritt hervor!«

Mobbs bewegte sich langsam nach dem Pult hin und rieb in der Vorahnung, bald genug Anlaß dazu zu erhalten, seine Augen; er erhielt auch denselben in so hohem Grade, wie sich’s ein Knabe nur immer wünschen kann, und wurde gleichfalls durch die Seitentür entfernt.

Herr Squeers fuhr dann fort, die verschiedenen übrigen Briefe zu öffnen. Einige von ihnen enthielten Geld, das Frau Squeers »zum Aufheben« gegeben wurde, und andere bezogen sich auf verschiedene kleine Anzugsartikel, wie Mützen usw., die aber alle nach der Ansicht der genannten Dame bald zu groß, bald zu klein waren und für niemand als den jungen Squeers passen wollten, der in der Tat die allergefügigsten Gliedmaßen zu haben schien, da alles, was in die Anstalt kam, ihm wie angegossen war; besonders mußte sein Kopf eine wunderbare Elastizität besitzen, da ihm Hüte und Mützen von jeder Weite gleich gut saßen.

Nach Abmachung dieses Geschäfts hudelte man noch einige Schulstunden ab, worauf sich Herr Squeers in seinen Familienkreis zurückzog und dem Lehrgehilfcn die Obhut der Knaben in der äußerst kalten Schulstube überließ, wo man, sobald es dunkel wurde, eine Abendmahlzeit von Brot und Käse austeilte.

In einer Ecke der Schulstube, zunächst dem Pult des Schulmeisters, befand sich ein kleiner Ofen, bei dem sich Nicolaus niedersetzte und in dem Gefühl seiner herabgewürdigten Stellung den Tod als einen beglückenden Erlöser aus seiner traurigen Lage herbeiwünschte. Die Grausamkeit, deren unfreiwilliger Zeuge er gewesen, Squeers‘ rohes und schuftiges Benehmen, selbst wenn er in der besten Laune war – überhaupt alles, was er an diesem schmutzigen Ort sah oder hörte, vereinigte sich, diese trübe Stimmung hervorzurufen. Wenn er aber gar dachte, daß er dabei mitwirken und – gleichgültig, welche Verkettung der Umstände ihn dazu gezwungen hatte – als Helfer und Mitschuldiger eines Systems erscheinen mußte, das nur Ekel und Unwillen in seiner Seele hervorrief, so verabscheute er sich selbst, und es kam ihm in diesem Augenblick vor, als ob es ihm schon die bloße Rückerinnerung an seine gegenwärtige Erniedrigung für alle Zeiten unmöglich mache, sein Antlitz wieder vor den Leuten zu erheben.

Vorderhand war jedoch sein Entschluß gefaßt, und die Vorsätze der vorangehenden Nacht blieben ungetrübt. Er hatte seiner Mutter und Schwester geschrieben, ihnen die glückliche Beendigung seiner Reise mitgeteilt und von Dotheboys Hall nur sehr wenig, aber auch dieses Wenige in der möglichst heitern Weise erzählt. Er hoffte, wenn er bliebe, selbst hier einiges Gute wirken zu können, und jedenfalls hingen andere zu sehr von der Gunst seines Onkels ab, als daß er sich jetzt schon seinen Groll hätte zuziehen dürfen.

Ein Gedanke beunruhigte ihn jedoch weit mehr, als alle aus seiner Lage entsprießenden Rücksichten für die eigene Persönlichkeit – nämlich das wahrscheinliche Los seiner Schwester. Sein Onkel hatte ihn hintergangen, und stand da nicht zu befürchten, daß er sie auf irgendeinen elenden Ort beschränke, wo ihre Schönheit und Jugend ihr zu einem weit größeren Fluch gereichen konnten als Häßlichkeit und Alter? Dies war ein schrecklicher Gedanke für einen an Händen und Füßen gebundenen Mann; – doch nein, seine Mutter war ja bei ihr und auch die Malerin, freilich ein sehr einfaches Wesen, die aber doch in und von der Welt lebte. Er war geneigt zu glauben, daß Ralph einen persönlichen Widerwillen gegen ihn nährte. Da nun hinlänglicher Grund vorhanden war, einen gleichen in seinem eigenen Innern zu hegen, so wurde ihm diese Vermutung zur Gewißheit, obgleich er sich zu überreden suchte, daß der gegenseitige Groll auf niemand anders als auf sie beide Bezug habe.

In solche Betrachtungen vertieft, fiel sein Blick zufällig auf Smike, der auf seinen Knien vor dem Ofen lag, ein paar abgesprungene Aschenfunken von dem Herde auflas und sie wieder in das Feuer legte. Der arme Junge hatte eben innegehalten, um einen verstohlenen Blick auf Nicolaus zu werfen. Als er jedoch sah, daß er bemerkt wurde, schrak er zurück, als fürchte er, dafür gezüchtigt zu werden.

»Du brauchst dich nicht vor mir zu fürchten«, sagte Nicolaus freundlich. »Friert es dich?«

»N–e–i–n.«

»Deine Zähne klappern?«

»Es friert mich nicht«, versetzte Smike rasch. »Ich bin daran gewöhnt.«

In seinem Benehmen zeigte sich so augenscheinlich die Furcht, Anstoß zu geben, auch war er überhaupt so scheu und niedergedrückt, daß Nicolaus sich des Ausruf«: »Armer Junge!« nicht erwehren konnte.

Wenn er den armen Leidensträger geschlagen hätte, so würde sich dieser, ohne ein Wort zu sprechen, davongeschlichen haben; so aber brach er in Tränen aus.

»Ach du mein Gott!« rief er, indem er mit den aufgesprungenen und schwieligen Händen sein Gesicht bedeckte; »das Herz bricht mir, – ach, das Herz bricht mir.«

»Ruhig«, sagte Nicolaus, die Hand auf seine Achsel legend. »Sei ein Mann – du bist´s ja fast an Jahren; Gott helfe dir.«

»An Jahren?« rief Smike. »O mein Himmel, wie viele sind ihrer! Wie viele Jahre sind dahingegangen, seit ich als ein kleines Kind hierherkam, jünger, als irgendeines von denen, die jetzt da sind! Wo sind sie alle!«

»Wovon sprichst du?« fragte Nicolaus, der das arme, halb blödsinnige Geschöpf zur Vernunft zurückbringen wollte. »Rede.«

»Meine Verwandte«, erwiderte er, »ich – mein – ach! welche Leiden habe ich erduldet!«

»Die Hoffnung stirbt nicht«, versetzte Nicolaus, ohne zu wissen, was er sagen sollte.

»Nein, entgegnete der andere, »nein, für mich gibts keine. Erinnern Sie sich des Knaben, der hier starb?« »Du weißt, ich war damals noch nicht hier«, sagte Nicolaus sanft, »aber was ist mit ihm?«

»Ei«, antwortete Smike, indem er dem Frager näher rückte, »ich wachte bei ihm, und als alles still um uns her war, rief er nicht mehr nach seinen Verwandten, von denen er wünschte, daß sie sich bei ihm niedersetzen möchten, sondern er fing an, Gesichter um sich her zu sehen, die von Hause kamen. Er sagte, sie lächelten ihm zu und sprächen mit ihm, und endlich starb er, als er eben den Kopf aufrichtete, um sie zu küssen. Hören Sie?«

»Ja, ja«, entgegnete Nicolaus.

»Welche Gesichter werden mir zulächeln, wenn ich sterbe?« fuhr Smike schaudernd fort. »Wer wird zu mir sprechen in jenen langen Nächten? Sie können nicht von Hause kommen; sie würden mich erschrecken, wenn sie es täten; denn ich weiß nichts von einer Heimat und würde sie nicht kennen. Für mich gibt’s nur Furcht und Leiden – Furcht und Leiden im Leben und im Tode; aber keine Hoffnung – keine Hoffnung.«

Die Glocke läutete zum Schlafengehen, und Smike, der bei diesem Ton wieder in seinen gewohnten, gleichgültigen Stumpfsinn versank, schlich fort, als scheue er sich bemerkt zu werden. Bald hernach folgte ihm Nicolaus, da er kein eigenes Gemach hatte, nach dem schmutzigen und überfüllten Schlafsaal.

Sechsundzwanzigstes Kapitel.


Sechsundzwanzigstes Kapitel.

In dem Käthchen Nicklebys Seelenfrieden in Gefahr gerät.

Wir führen den Leser nach einer Reihe schöner Zimmer in der Regentenstraße. Die Zeit ist drei Uhr nachmittags für den geplagten Arbeiter und die erste Morgenstunde für den lustigen Lebemann. Dort finden wir den Lord Friedrich Verisopht und seinen Freund Sir Mulberry Hawk.

Das edle Paar lümmelte verdrossen auf zwei Sofas. Zwischen ihnen stand ein Tisch, auf dem die Materialien eines unberührten Frühstücks in bunter Verwirrung umherlagen. Durch das Zimmer waren Zeitungsblätter zerstreut; aber auch diese blieben, wie das Mahl, unbeachtet. Freilich nicht, weil eine lebhafte Unterhaltung die Aufmerksamkeit von den Journalen ablenkte; denn man vernahm keine Silbe aus dem Munde der beiden und auch keinen anderen Ton, als wenn etwa einer von ihnen sich umherwälzte, um eine bequemere Unterlage für seinen schmerzenden Kopf zu suchen, oder wenn er ungeduldig knurrte, was dann den Gefährten in seiner Ruhe störte.

Schon diese Merkmale hätten einen hinreichenden Schlüssel zu der Ausdehnung der in der vergangenen Nacht stattgehabten Schwelgerei geben können, wenn auch keine anderen Spuren vorhanden gewesen wären, aus denen die Art ihrer Vergnügungen sich hätte erkennen lassen. Ein paar beschmutzte Billardbälle, zwei zerknüllte Hüte, eine Champagnerflasche, um deren Hals ein unsauberer Handschuh gewunden war, um sie bequemer als eine Angriffswaffe benutzen zu können, ein zerbrochener Stock, umhergestreute Karten, ein leerer Geldbeutel, eine zersprengte Uhrkette, eine Handvoll Silbermünzen mit den Resten halbausgerauchter Zigarren vermischt – diese und andere Abzeichen von Unordnung und Ausschweifung bekundeten unverkennbar die Art, wie sich die beiden gnädigen Herren in der letzten Nacht belustigt hatten.

Lord Friedrich Verisopht war der erste, der zu sprechen begann. Er ließ einen bepantoffelten Fuß auf den Boden gleiten, gähnte gewaltig, mühte sich aufzusitzen, heftete die abgelebten Augen auf seinen Freund und rief ihm mit schläfriger Stimme zu.

»Was gibt’s?« versetzte Sir Mulberry, sich umwendend.

»Wollen wir den ganzen Ta-ag hier liegen?« sagte der Lord.

»Ich weiß nicht, ob wir zu etwas anderem zu brauchen sind«, entgegnete Sir Mulberry. »Vorderhand können wir wenigstens nichts Besseres tun. Ich habe diesen Morgen kein Quentchen Leben in mir.«

»Leben?« rief Lord Verisopht; »mir wäre nichts angenehmer und beha-aglicher, als wenn ich auf der Stelle sterben könnte.«

»Nun, warum sterben Sie denn nicht?« erwiderte Sir Mulberry.

Mit diesen Worten kehrte er sein Gesicht auf die andere Seite und versuchte aufs neue einzuschlafen.

Sein hoffnungsvoller Freund und Zögling zog einen Stuhl an den Frühstückstisch und versuchte zu essen. Als er aber fand, daß dies nicht möglich sei, schleppte er sich nach dem Fenster, schlenderte dann, die Hand an den glühenden Kopf gelegt, im Zimmer auf und ab, warf sich endlich wieder auf das Sofa und weckte seinen Freund aufs neue.

»Was zum Teufel wollen Sie denn von mir?« stöhnte Sir Mulberry, indem er sich auf seinem Diwan aufrichtete.

Obgleich Sir Mulberry das in ziemlich übler Laune sagte, schien er doch nicht zu glauben, daß er sich ganz ruhig verhalten dürfe; denn nachdem er sich ziemlich oft gerekelt und unter einigem Frösteln erklärt hatte, daß es teufelmäßig kalt wäre, machte er gleichfalls einen Versuch mit dem Frühstück und blieb, da ihm dieser besser gelang als seinem weniger aufgelegten Freunde, an dem Tisch sitzen.

»Angenommen«, sagte Sir Mulberry, ein Stückchen Fleisch auf seiner Gabelspitze betrachtend, »wir kämen wieder auf den Nicklebyschen Gegenstand zurück, – wie?«

»Welchen Nicklebyschen? Meinen Sie den Geldjuden oder das Mädchen?« fragte Lord Verisopht.

»Ich sehe. Sie verstehen mich«, versetzte Sir Mulberry. »Natürlich das Mädchen.«

»Sie versprachen mir, sie ausfindig zu machen«, sagte Lord Verisopht.

»Wahr«, erwiderte sein Freund, »aber ich habe seitdem reiflicher über die Sache nachgedacht. Sie trauen mir in der Sache nicht, und ich überlasse es daher Ihnen selbst, sie aufzufinden.«

»O nicht doch«, antwortete Lord Verisopht.

»Und ich sage ja«, versetzte Sir Mulberry. »Forschen Sie nach ihr nur selber nach. Aber ich setze meinen Kopf daran, wenn Sie auch nur eine Spur von ihr ohne mich zu Gesicht bekommen. Doch ich will Sie nicht zappeln lassen. Ich sage. Sie sollen sie auffinden – werden sie auffinden, und ich will Ihnen den Weg andeuten.«

»Nun, mich soll der Teufel holen, wenn Sie nicht ein wahrer, verteufelter, aufrichtiger, durch und durch wackerer Freund sind«, entgegnete der junge Lord, auf den diese Worte die belebendste Wirkung geübt hatten.

»Ich will Ihnen sagen, wie sich’s machen läßt«, versetzte Sir Mulberry. »Sie war bei jenem Diner als ein Köder für Sie zugegen.«

»Ha!« rief der junge Lord, »das wäre der Teu–«

»Als ein Köder für Sie«, wiederholte sein Freund; »der alte Nickleby hat es mir selbst gesagt.«

»Das ist ja ein Mordkerl«, rief Lord Verisopht, »ein nobler Spitzbube.«

»Ja«, entgegnete Sir Mulberry, »er wußte, daß sie ein niedliches Geschöpfchen –«

»Niedlich?« fiel der junge Lord ein. »So wahr ich lebe, Hawk, sie ist eine vollendete Schönheit, ein – ein Bild, ein Kunstwerk, ein – ein – meiner Seele, das ist sie.«

»Meinetwegen«, erwiderte Sir Mulberry, indem er die Achseln zuckte und wenigstens gleichgültig schien, mochte er es nun sein oder nicht. »Das ist Geschmacksache; es ist nur um so besser, wenn der meine nicht mit dem Ihrigen harmoniert.«

»Hol Sie der Teufel«, sagte der Lord; »Sie waren an jenem Tage scharf genug auf sie. Ich konnte kaum zu Worte kommen.«

»Sie war gut genug für einmal – gut genug für einmal«, versetzte Sir Mulberry, »aber keineswegs so, daß ich es der Mühe wert hielt, ein zweites Mal den Kavalier bei ihr zu spielen. Wenn Sie allen Ernstes die Nichte aufspüren wollen, so sagen Sie dem Onkel, Sie müßten wissen, wo, wie und mit wem sie lebt, oder Sie würden allen Geschäftsverkehr mit ihm abbrechen. Passen Sie auf, er wird’s Ihnen schnell genug sagen.«

»Warum sagten Sie das nicht schon früher«, fragte Lord Verisopht, »und lassen mich da brennen, vergehen und ein miserables Dasein durch ein ganzes Menschenalter hinschleppen?«

»Erstlich wußte ich es nicht«, antwortete Sir Mulberry unbekümmert, »und zweitens glaubte ich nicht, daß es Ihnen so Ernst mit der Sache wäre.«

Nun verhielt sich aber die Sache so, daß Sir Mulberry Hawk seit Ralph Nicklebys Diner im geheimen alle ihm zu Gebot stehenden Mittel angewandt hatte, um zu entdecken, woher Käthchen so plötzlich erschienen und wohin sie so plötzlich verschwunden war. Da ihm aber Ralphs Beistand fehlte, den er seit dem damaligen nicht sehr freundlichen Abschied nicht mehr gesehen hatte, so waren alle seine Anstrengungen vergeblich. Dadurch wurde er denn auch bewogen, dem jungen Lord das Wesentliche des Zugeständnisses, das er Ralph, dem Ehrenmanne, entlockt hatte, mitzuteilen. Hierzu bewogen ihn verschiedene Rücksichten, unter denen die Gewißheit, daß der schwache junge Mann alle Nachrichten, die er einzuholen vermochte, ihm mitteilen würde, nicht die geringste war. Der Wunsch nämlich, die Nichte des Wucherers wiederzusehen, durch Anwendung aller seiner Künste ihren Stolz zu beugen und sich für die Verachtung, die sie ihm erwiesen, zu rächen, hatte in seiner Seele ganz die Oberhand gewonnen. Sein Verfahren war dabei allerdings so schlau berechnet, daß sich alles, wie es auch gehen mochte, zu seinem Vorteile wenden mußte. Denn die Tatsache, daß er Ralph Nickleby seine wahre Absicht, warum er Käthchen in eine solche Gesellschaft eingeführt, entlockt hatte, wie auch die hohe Uneigennützigkeit, womit er diese so unverhohlen seinem Freunde mitteilte, mußte nicht nur seinen Plänen in der gedachten Hinsicht förderlich sein, sondern auch die ohnehin schon häufigen Geldwanderungen aus den Taschen des Lord Friedrich Verisopht in die des Sir Mulberry Hawk ungemein erleichtern.

So folgerte Sir Mulberry und begab sich daher bald darauf mit seinem Freund zu Ralph Nickleby, um dort einen von ihm entworfenen Feldzugsplan in Gang zu setzen, der angeblich die Absichten seines Freundes unterstützen, in der Tat aber nur seinen eigenen Vorschub leisten sollte.

Sie fanden Ralph zu Hause und allein. Als er sie in das Besuchszimmer führte, schien ihm die Erinnerung an den Auftritt, der hier stattgehabt hatte, wieder aufzutauchen; denn er warf einen forschenden Blick auf Sir Mulberry, der diesen nur mit einem unbekümmerten Lächeln erwiderte.

Sie sprachen eine kleine Weile über Geldangelegenheiten, und als diese abgemacht waren, erklärte (infolge von Sir Mulberrys Anweisungen) der hochgeborne Pinsel mit einiger Verlegenheit, daß er Ralph allein sprechen wollte.

»Wie – allein?« rief Sir Mulberry mit geheuchelter Überraschung. »Ah, sehr gut, ich will in das nächste Zimmer gehen. Halten Sie mich aber nicht lange auf.«

Mit diesen Worten nahm Sir Mulberry seinen Hut, summte einige Takte aus einer Arie, entfernte sich durch die Verbindungstüre der beiden Zimmer und schloß sie hinter sich ab.

»Nun, Mylord«, sagte Ralph, »womit kann ich Ihnen dienen?«

»Nickleby«, sagte der Lord, indem er sich der Länge nach auf dem Sofa, wo er vorhin gesessen, ausstreckte, um seine Lippen dem Ohr des alten Mannes näher zu bringen, »was Sie nicht für ein niedliches Geschöpfchcn als Nichte haben!«

»Meinen Sie, Mylord?« versetzte Ralph. »Mag sein – mag sein – ich bemühe meinen Kopf nicht mit derartigen Dingen.«

»Sie wissen, daß sie ein verdammt hübsches Mädchen ist«, entgegnete der Lord; »Sie müssen das wissen, Nickleby. Versuchen Sie’s nur nicht, zu leugnen.«

»Nun, ich glaube, man hält sie dafür«, erwiderte Ralph, »und in der Tat, ich weiß auch, daß sie es ist. Wenn das aber auch nicht der Fall ist, so gelten Sie mir als eine gewichtige Autorität für derartige Dinge, denn Ihr Geschmack, Mylord, ist in jeder Hinsicht als der beste anerkannt.«

Keinem als dem jungen Manne, an den diese Worte gerichtet waren, hätte der Ton des Hohns in ihnen oder der Blick der Verachtung, womit sie begleitet wurden, entgehen können. Aber Lord Friedrich Verisopht gewahrte nichts davon, sondern er sah in dem Ganzen nur die gerechte Anerkennung seiner Verdienste.

»Nun«, sagte er, »vielleicht haben Sie ein wenig recht – vielleicht auch ein wenig unrecht – möglicherweise auch ein wenig von beiden, Nickleby. Ich möchte eigentlich wissen, wo diese Schönheit wohnt, um ihr noch einmal einen Blick nachwerfen zu können, Nickleby.«

»Wirklich –« begann Ralph in seinem gewöhnlichen Tone.

»Sprechen Sie nicht so laut«, rief der andere, der diesen Hauptpunkt der ihm erteilten Anweisungen zum Wundern gut aufgefaßt hatte; »Hawk braucht nichts davon zu hören.«

»Sie wissen, daß er Ihr Nebenbuhler ist?« fragte Ralph, den Lord scharf ansehend.

»Das ist der verda-ammte Spitzbube immer«, versetzte der Lord, »und ich möchte ihm einmal ganz sacht den Rang ablaufen. Hahaha! Es wird ihn schon genug empören, Nickleby, daß wir hier ohne ihn miteinander reden. Wo wohnt sie, Nickleby? Ich brauche nichts weiter zu wissen. Sagen Sie mir nur, wo sie wohnt, Nickleby.«

»Er beißt an«, dachte Nickleby, »er beißt an.«

»Nun, so reden Sie doch«, fuhr der Besucher fort. »Wo wohnt sie?«

»In der Tat«, sagte Ralph, indem er langsam die Hände übereinanderrieb, »ich muß erst überlegen, ehe ich es Ihnen sagen kann.«

»Ei, lassen Sie das bleiben, Nickleby«, versetzte Verisopht. »Sie sollten überhaupt nie überlegen. Wo ist sie?«

»Es kommt vielleicht nichts Gutes dabei heraus, wenn Sie es wissen«, entgegnete Ralph. »Sie ist tugendhaft und wohlerzogen; auch schön, aber arm und schutzlos – ein armes, armes Mädchen.« –

Ralph überflog diesen kurzen Inbegriff von Käthchens Stellung, als ginge er ihm nur so durch den Kopf, ohne daß er die Absicht hätte, laut zu sprechen; aber der verschmitzte Blick, den er auf den jungen Herrn richtete, strafte diese armselige Verstellung Lügen.

»Ich versichere Ihnen, daß ich sie nur sehen will«, rief der Lord. »Man darf doch einem hübschen Mädchen nachschauen, ohne daß es ihr Scha-aden tut – oder nicht? Nun, wo wohnt sie? Sie wissen, daß Sie mit mir gute Geschäfte machen, Nickleby, und meiner Seele, niemand soll mich vermögen, zu jemand anderem zu gehen, wenn Sie mir diese Kleinigkeit mitteilen.«

»Da Sie mir dies versprechen, Mylord«, sagte Nalph mit verstelltem Widerstreben, »und ich Ihnen recht gerne einen Gefallen erweisen möchte – und da außerdem kein Schaden daraus erwachsen kann – ja, kein Schaden –, so will ich’s Ihnen sagen. Aber Sie werden gut tun, wenn Sie es für sich behalten, Mylord – ausschließlich für sich.«

Ralph deutete bei diesen Worten nach der Tür des anstoßenden Zimmers und nickte ausdrucksvoll mit dem Kopfe.

Der junge Lord tat, als fühle er gleichfalls die Notwendigkeit dieser Vorsichtsmaßregel, und Ralph teilte ihm nun mit, wo und unter welchen Verhältnissen seine Nichte zurzeit lebte, indem er zugleich den Charakter der Familie, in deren Hause sich Käthchen befand, näher bezeichnete und die Ansicht äußerte, daß ein Lord ohne Zweifel leicht Zutritt finden könnte, wenn er Lust hätte, da man dort viel auf vornehme Bekanntschaften zu halten schiene.

»Und da Sie meine Nichte nur zu sehen wünschen«, schloß Ralph, »so können Sie auf diesem Wege zu jeder Zeit Ihren Zweck erreichen.«

Lord Verisopht dankte für diesen Wink mit manchem Druck auf Ralphs harte und hornige Hand und flüsterte dann, daß sie jetzt gut tun würden, die Unterhaltung abzubrechen, worauf er Sir Mulberry Hawk wieder hereinrief.

»Es kam mir fast vor, als wäret ihr eingeschlafen«, sagte Sir Mulberry, als er sehr übelgelaunt wieder in das Zimmer trat.

»Tut mir leid, daß Sie warten mußten«, versetzte der Gimpel; »aber Nickleby ist so erstaunlich spa-aßhaft gewesen, daß ich mich nicht von ihm losreißen konnte.«

»Nicht doch«, entgegnete Ralph; »die Schuld liegt ganz an Seiner Herrlichkeit. Sie wissen, welch ein witziger, humoristischer, geistreicher junger Herr Lord Friedrich ist. Bitte, spazieren Sie voran, Mylord – Sir Mulberry?«

Mit solchen Höflichkeitsphrasen, vielen tiefen Bücklingen und dem gleichen, kalten, höhnischen Zug im Gesicht, den er die ganze Zeit über bewahrt hatte, begleitete Ralph die beiden adligen Herren die Treppe hinunter, ohne den verwunderten Blick Sir Mulberrys, der ihm ein Kompliment über seine vollendete Spitzbüberei zu machen schien, mit etwas anderem als einem leichten Zucken der Mundwinkel zu erwidern.

Einige Augenblicke vorher hatte die Klingel getönt, und Newman Noggs öffnete eben die Tür, als sie in der Hausflur anlangten. Der gewöhnlichen Hausordnung zufolge würde Newman den neuen Besuch schweigend eingelassen oder ihn ersucht haben, ein wenig beiseite zu treten, bis die Herren hinaus wären; er hatte jedoch kaum die Person erkannt, als er sich auf eigene Faust hin eine Abweichung von der Regel erlaubte und mit einem Rückblick auf das achtbare Trio laut ausrief: »Madame Nickleby.«

»Madame Nickleby?« rief Sir Mulberry Hawk, als sich Ralph umwandte und ihm ins Gesicht sah.

Es war in der Tat diese dienstfertige Dame, die, da ein Anerbieten für das leere Haus in der City gemacht worden war, sich ohne Zögern mit der Eile eines Briefträgers auf den Weg gemacht hatte, um das Schreiben Herrn Nickleby selber zu überbringen.

»Es ist niemand, den Sie kennen«, sagte Ralph. »Treten Sie in das Kontor, meine – meine – Liebe. Ich werde sogleich bei Ihnen sein.«

»Niemand, den ich kenne?« rief Sir Mulberry Hawk, auf die bestürzte Dame zugehend. »Ist dies Madame Nickleby – die Mutter von Fräulein Nickleby – dem bezaubernden Wesen, das ich so glücklich war, bei dem letzten Diner in diesem Hause zu sehen? –- Aber nein«, sprach Sir Mulberry, plötzlich abbrechend, »nein, es kann nicht sein. Es ist zwar der nämliche Schnitt des Gesichts, derselbe unbeschreibliche Ausdruck des – aber nein, nein. Diese Dame ist zu jung dazu.«

»Ich denke, Sie können dem Herrn sagen, wenn es ein Interesse für ihn hat«, sagte Madame Nickleby, indem sie das Kompliment mit einer huldvollen Verbeugung anerkannte, »daß Käthchen Nickleby meine Tochter ist.«

»Ihre Tochter, Mylord?« rief Sir Mulberry, sich zu seinem Freunde wendend. »Die Tochter dieser Dame, Mylord!«

»Mylord?« dachte Madame Nickleby. »Nun, ich hätte mir doch nimmer –!«

»Das, Mylord, ist also die Dame«, fuhr Sir Mulberry fort, »deren holdem Ehebund wir so viel Glück verdanken. Diese Dame ist die Mutter des liebenswürdigen Käthchens. Bemerken Sie nicht die außerordentliche Ähnlichkeit, Mylord? Nickleby – stellen Sie uns vor.«

Ralph tat es in einer Art von Verzweiflung.

»Aber nein, das ist ja köstlich«, rief Lord Friedrich, sich vordrängend. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«

Madame Nickleby war infolge dieser ungewöhnlich freundlichen Begrüßungen, wie auch eines innerlichen Ärgers, nicht ihren andern Hut aufgesetzt zu haben, zu verwirrt, als daß sie eine Antwort hätte geben können, weshalb sie sich begnügte, fortwährend zu knixen, zu lächeln und große Aufregung zu verraten.

»Und wa-as macht Fräulein Nickleby?« sagte Lord Friedrich. »Sie ist hoffentlich wohl?«

»Ganz wohl, danke der Nachfrage, Mylord«, antwortete Madame Nickleby sich sammelnd. »Sie war einige Tage nach dem Diner hier im Hause unwohl, und ich kann mir nicht anders denken, als daß sie sich beim Heimfahren in der Mietkutsche erkältete. Mietkutschen, Mylord, sind solche garstige Dinger, daß man fast besser tut, wenn man zu Fuß geht. Obgleich ich nämlich glaube, daß ein Mietkutscher Deportation auf Lebenszeit verdient, wenn er zerbrochene Fenster hat, so sind doch alle so unbekümmert, daß es wohl kaum einen einzigen gibt, der nicht zerbrochene Fenster hätte. Ich habe mir einmal beim Fahren in einer Mietkutsche einen Gesichtsrheumatismus geholt, Mylord, wegen dem ich sechs Wochen im Bett bleiben mußte – ich glaube, es war eine Mietkutsche«, fuhr Madame Nickleby nach einigem Besinnen fort, »wenn ich gleich nicht ganz gewiß bin, ob es nicht eine Chaise war. Jedenfalls erinnere ich mich, daß sie grün angestrichen war und eine sehr lange Nummer hatte, die mit einer Null anfing und mit einer Neun endigte – nein, mit einer Neun anfing und mit einer Null endigte. Ja, so war’s – und natürlich würde die Polizei, wenn sie Nachforschungen anstellte, leicht ausfindig machen können, ob es eine Kutsche oder eine Chaise gewesen. Sei dem jedoch wie ihm wolle, sie hatte ein zerbrochenes Fenster, und ich bekam auf sechs Wochen einen Gesichtsrheumatismu«. Ich denke, es war dieselbe Mietkutsche, in der wir nachher wieder fuhren und die die ganze Zeit über ein zurückgeschlagenes Verdeck hatte – wir würden dieses Umstandes nicht einmal wahrgenommen haben, wenn man uns deshalb nicht einen Schilling extra für die Stunde abgefordert hätte, was Gesetz zu sein scheint oder vielleicht damals Gesetz war; aber jedenfalls ist es ein schändliches Gesetz. Ich verstehe mich zwar nicht auf die Sache, aber ich darf sagen, die Korngesetze sind nichts gegen eine solche Parlamentsakte.«

Nachdem Madame Nickleby in dieser Weise ihrer Zunge den Lauf gelassen hatte, hielt sie so plötzlich, als sie angefangen hatte, inne und wiederholte, daß Käthchen ganz wohl wäre.

»In der Tat«, fügte sie bei, »ich glaube nicht, daß sie sich je wohler befand, seit sie den Keuchhusten, das Scharlachfieber und die Masern – und zwar alle drei zu gleicher Zeit – hatte. Ja, das muß wahr sein.«

»Ist das Schreiben an mich?« brummte Ralph, auf das Päckchen deutend, das Madame Nickleby in ihrer Hand hielt.

»Ja, an Sie, Schwager«, versetzte Madame Nickleby, »und ich bin deshalb den ganzen Weg hierher, so schnell ich konnte, gelaufen, um es Ihnen zu geben.«

»Den ganzen Weg hierher gelaufen?« rief Sir Mulberry, der diese Gelegenheit erfaßte, um zu erfahren, woher Madame Nickleby käme. »Das muß wohl eine verdammte Entfernung sein? Wie weit ist es wohl?«

»Wie weit?« entgegnete Madame Nickleby. »Warten Sie mal – es ist genau eine Meile von unserer Haustür bis nach Oldbailey.«

»Nein – nein – nein, so weit kann’s nicht sein«, meinte Sir Mulberry.

»Aber, ganz gewiß«, erwiderte Madame Nickleby. »Ich berufe mich auf Seine Herrlichkeit.«

»Ich kann Ihnen bestimmt versichern, daß es eine Meile ist«, bemerkte Lord Friedrich mit der ernsthaftesten Miene.

»Es muß so sein – gewiß, keine Elle weniger«, fuhr Madame Nickleby fort. »Die ganze Newgatestraße und ganz Cheapside herunter, die ganze Lombardstraße hinauf, die Gnadenkirchstraße hinunter und auf der Themsestraße fort bis zum Spigwiffins-Kai. O, es ist eine Meile.«

»Wenn ich mir’s näher betrachte, so haben Sie recht«, sagte Sir Mulberry. »Aber Sie haben doch gewiß nicht im Sinn, den ganzen Weg wieder zu Fuß zurückzulegen?«

»O nein«, erwiderte Madame Nickleby, »ich will einen Omnibus benutzen. Ach, ich bin freilich nicht in Omnibussen gefahren, als mein armer Nicolaus noch lebte, Schwager! Aber Sie wissen, wie’s geht.«

»Ja, ja«, entgegnete Ralph ungeduldig, »und Sie täten besser, sich auf den Weg zu machen, ehe es dunkel wird.«

»Sie haben recht, Schwager – ich danke Ihnen«, erwiderte Madame Nickleby. »Es wird daher wohl am besten sein, wenn ich mich gleich verabschiede.«

»Wollen Sie nicht noch ein wenig bleiben und – ausruhen?« sagte Ralph, der selten eine Erfrischung anbot, wenn nichts dabei zu gewinnen war.

»Ach, lieber Gott, nein«, versetzte Madame Nickleby mit einem Blick nach der Uhr.

»Lord Friedrich«, sagte Sir Mulberry, »wir haben mit Madame Nickleby einen Weg. Wir müssen doch sehen, daß sie sicher in einem Omnibus unterkommt.«

»J-a freilich.«

»Ach, eine solche Ehre wäre allzu groß«, meinte Madame Nickleby.

Aber Sir Mulberry Hawk und Lord Verisopht bestanden darauf, ihr diese Ehre zu erweisen, und verließen, Madame Nickleby in der Mitte, das Haus, ohne auf Ralph Rücksicht zu nehmen, der – und zwar nicht mit Unrecht – anzunehmen schien, daß er als bloßer Zuschauer eine weniger lächerliche Rolle spielen würde, als wenn er in den Verhandlungen Partei ergriffe. Die gute Dame fühlte sich überglücklich, sowohl durch die Aufmerksamkeiten, die ihr von zwei adligen Herren erwiesen wurden, als auch durch die feste Überzeugung, daß ihr Käthchen jetzt mindestens zwischen zwei ungeheuer reichen und durchaus tadellosen Freiern die Wahl hätte.

Während sie sich so einem Strom von Gedanken, die alle mit der künftigen Größe ihrer Tochter in Verbindung standen, hingab, wechselten Sir Mulberry Hawk und sein Freund über den Hut weg, den die arme Frau nicht zu Hause gelassen zu haben so sehr bedauerte, Blicke der Verständigung und ließen sich in hohem Entzücken, jedoch auch mit vieler Achtung über Fräulein Nicklebys mannigfaltige Vorzüge aus.

»Welche Wonne, welcher Trost, welches Glück muß nicht dieses holde Wesen für Sie sein!« sagte Sir Mulberry mit dem Ausdruck des wärmsten Gefühls in seiner Stimme.

»Das ist sie in der Tat, Sir«, versetzte Madame Nickleby. »Sie ist das sanfteste und gutherzigste Geschöpf – und so verständig!«

»Man steht ihr den Versta-and an«, sagte Lord Verisopht mit der Miene eines Mannes, dem ein Urteil in derartigen Dingen zusteht.

»Ich versichere Ihnen, sie ist es, Mylord«, entgegnete Madame Nickleby. »Als sie in der Pension zu Devonshire war, galt sie allgemein und ohne alle Ausnahme für das gescheiteste Mädchen, und es waren doch viele recht verständige unter den Pensionärinnen – das muß man sagen. Fünfundzwanzig junge Damen, von denen jede fünfzig Guineen ohne die Nebenausgaben bezahlte. Die beiden Fräulein Dowdles, die vollkommensten, elegantesten und bezauberndsten Wesen. – Ach du mein Himmel«, fuhr Madame Nickleby fort, »ich werde nie vergessen, wieviel Freude sie mir und ihrem armen Vater bereitete, als sie in jener Pension war – nie! Wenn ich nur an die herrlichen Briefe denke, die sie jedes halbe Jahr schrieb, und in denen sie uns sagte, daß sie die Erste in der ganzen Anstalt sei und bessere Fortschritte gemacht habe als alle andern. Ach, ich darf kaum mehr daran denken! Die Mädchen schrieben die Briefe alle selber«, fügte Madame Nickleby bei, »und der Lehrer verbesserte sie nachher mit einem Vergrößerungsglas und einer silbernen Feder. Wenigstens glaube ich, daß es eigenhändige Briefe waren, obgleich es Käthchen nicht ganz gewiß behaupten konnte, weil sie nachher ihre Handschrift nicht erkannte. Jedenfalls weiß ich aber, daß es ein Musterbrief war, den alle abzuschreiben hatten, und die Eltern mußten dann natürlich eine große Freude darüber haben.«

Mit ähnlichen Erinnerungen verscheuchte Madame Nickleby die Langeweile des Weges, bis sie bei dem Omnibus anlangten. Die neuen Freunde wollten sie aus lauter Höflichkeit nicht verlassen, bis sie wirklich abgefahren wäre. Bei dieser Gelegenheit, so versicherte Madame Nickleby nachher ihren Zuhörern oft genug, nahmen die Kavaliere ihre Hüte »ganz« ab und küßten Madames strohfarbenen Glacéhandschuhe, bis sie ihnen aus dem Gesicht entschwunden war.

Madame Nickleby drückte sich in die hinterste Ecke des Omnibusses zurück, schloß ihre Augen und überließ sich einer Fülle der angenehmsten Betrachtungen. Käthchen hatte nie ein Wort von diesen Herren gesagt, »und dies«, dachte sie, »beweist, daß sie einen von ihnen begünstigt«. Aber welcher von beiden mochte es wohl sein? Der Lord war der jüngste und sein Rang entschieden der höhere; aber Käthchen war nicht das Mädchen, das sich durch derartige Rücksichten bestimmen ließ. »Ich werde ihren Neigungen nie einen Zwang antun«, sagte Madame Nickleby zu sich selbst. »Aber in der Tat, ich glaube, es kann zwischen Seiner Lordschaft und Sir Mulberry von einer schwierigen Wahl gar keine Rede sein – Sir Mulberry ist ein gar aufmerksamer, galanter Herr, hat so viel Manier, so viel Ton und überhaupt so viel, was für ihn spricht. Ich hoffe, es ist Sir Mulberry – ja gewiß, es muß Sir Mulberry sein!« Und dann kehrten ihre Gedanken auf ihre alten Prophezeiungen zurück, indem sie sich erinnerte, wie viel hundertmal sie gesagt hätte, Käthchen würde ohne Vermögen eine weit bessere Versorgung finden, als anderer Leute Töchter mit Tausenden. Als sie sich aber dabei mit der lebhaften Phantasie einer Mutter die Schönheit und Anmut des armen Mädchens vergegenwärtigte, die sich so ganz ohne Murren den Mühseligkeiten und Beschwerden der letzteren Zeit unterzogen hatte, da schwoll ihr das Herz, und die Tränen rollten ihr über die Wangen.

Ralph ging inzwischen in seinem kleinen Bureau auf und ab, nicht wenig durch das, was eben vorgefallen, beunruhigt. Es wäre zwar die gröbste Verleumdung, wenn man sagen wollte, daß Ralph gegen irgendein Geschöpf Gottes Liebe oder Teilnahme – in dem gewöhnlichen Sinn dieser Worte – empfand. Trotzdem aber beschlich ihn hin und wieder ein Gedanke an seine Nichte, der eine leichte Färbung von Mitleid hatte – freilich nur ein matter Schimmer, im günstigsten Falle ein schwacher, kränkelnder Strahl, der durch die düstere Wolke von Unlust oder Gleichgültigkeit, womit er alle Menschen betrachtete, brach – aber dennoch ein Etwas, das ihm das arme Mädchen in einem bessern und reinern Lichte zeigte, als ihm bis jetzt die Menschheit überhaupt erschienen war.

»Ich wünschte«, dachte Ralph, »ich hätte es nicht getan. Und doch – es wird diesen jungen Laffen an mich fesseln, solange noch Geld bei ihm herauszuholen ist. – Freilich, ein Mädchen verkaufen! Ihr Versuchung, Beleidigung, Roheiten in den Weg werfen! Aber bereits fast zweitausend Pfund Profit von ihm gezogen? Ach was! Heiratstiftende Mütter tun jeden Tag das nämliche.«

Er setzte sich nieder und zählte die Möglichkeiten für und gegen an den Fingern ab.

»Wenn ich sie heute nicht auf die rechte Spur geleitet haben würde«, dachte Ralph, »so hätte es dieses einfältige Weib getan. Je nun, wenn ihre Tochter so fest ist, wie sie den Vorgängen nach zu sein scheint, was kann daraus Übles erwachsen? Ein bißchen Quälerei, ein wenig Demütigung, ein paar Tränen – ja«, sagte Ralph laut, indem er seine eiserne Kasse verschloß, »sie mag sich selber durchhelfen. Ihr Geschick liegt in ihrer eigenen Hand.«

Siebenundzwanzigstes Kapitel.


Siebenundzwanzigstes Kapitel.

Madame Nickleby wird mit den Herren Pyke und Pluck bekannt, deren Ergebenheit und Teilnahme über alle Grenzen geht.

Wie stolz und wichtig fühlte sich nicht Madame Nickleby, als sie ihre Wohnung erreichte und sich ganz den schönen Träumen hingeben konnte, die sie auf ihrem Wege begleitet hatten. Lady Mulberry Hawk! – Dies war die vorwaltende Idee. Lady Mulberry Hawk! – Am letzten Dienstag wurde in der St. Georgskirche Hannovers Square durch den hochwürdigen Bischof von Clandaff Sir Mulberry Hawk von Mulberry Castle in Nordwales mit Katharina, der einzigen Tochter des verstorbenen Nicolaus Nickleby, Esquire in Devonshire, ehelich verbunden. »Meiner Treu«, rief Herrn Nicolaus Nicklebys Hinterbliebene, »das klingt ja ganz prächtig.«

Nachdem die Trauungszeremonie mit den dazu gehörigen Festlichkeiten abgetan war, vergegenwärtigte sich die phantasievolle Mutter eine lange Reihe von Ehren und Auszeichnungen, die notwendig im Gefolge von Käthchens neuer und glänzender Laufbahn sein mußten. Sie wurde natürlich bei Hofe vorgestellt. An ihrem Geburtstage, der auf den neunzehnten fiel (»zehn Minuten nach drei Uhr morgens«, dachte Madame Nickleby in einer Parenthese, »denn ich erinnere mich noch recht gut, daß ich fragte, wieviel Uhr es wäre«), gab Sir Mulberry allen seinen Pächtern ein großes Fest und erließ ihnen dreieinhalb Prozent von dem Ertrage des letzten halbjährigen Pachtes, was dann natürlich zum unbegreiflichen Vergnügen und Staunen aller Leser umständlich in den öffentlichen Blättern beschrieben wurde. Käthchens Porträt erschien wenigstens in einem halben Dutzend von Taschenbüchern, und auf der andern Seite war in den elegantesten Lettern zu lesen: »Verse bei Betrachtung eines Porträts der Lady Mulberry Hawk, von Sir Dingleby Dabber.« Vielleicht enthielt auch ein nach einem umfassenderen Plane bearbeitetes Taschenbuch ein Porträt von Lady Mulberry Hawks Mutter mit Versen von Sir Dingleby Dabbers Vater. Es kommen ja jeden Tag noch viel unwahrscheinlichere Dinge vor. Schon viel unbedeutendere Porträts sind erschienen. Als der guten Dame dieser Gedanke auftauchte, nahm ihr Gesicht unwillkürlich jenen gemischten Ausdruck von Schmachten und Schläfrigkeit an, der allen derartigen Porträts eigen ist, und in dem vielleicht der Grund liegt, daß sie immer so reizend und liebenswürdig aussehen.

Mit solchen glorreichen Luftschlössern beschäftigte sich Madame Nickleby den ganzen Abend, an dem sie zufälligerweise Ralphs vornehmen Freunden vorgestellt worden war. Nicht weniger prophetische und verheißungsvolle Träume umgaukelten die Nacht über ihren Schlaf. Sie bereitete des andern Tages eben ihr einfaches Mittagessen – natürlich noch immer in denselben Ideen sich ergehend, die vielleicht durch den Schlaf und das Licht der Sonne etwas gemildert waren –, als das Mädchen, das ihr teils als Gesellschafterin, teils als Beistand in ihrem Haushalt diente, mit ungewohnter Aufregung in das Zimmer stürzte und zwei Herren anmeldete, die in dem Hausflur stünden und um die Erlaubnis bäten, Madame Nickleby ihren Besuch zu machen.

»Allmächtiger Himmel!« rief Madame Nickleby, hastig Haube und Locken ordnend; »wenn es am Ende gar die – um Himmels willen! Müssen da die ganze Zeit in der Hausflur stehen. Warum läufst du nicht und fragst sie, ob sie nicht heraufspazieren wollen, du dummes Ding?«

Sobald sich das Mädchen mit diesem Auftrage entfernt hatte, fuhr Madame Nickleby mit allen Spuren von Essen und Trinken in den Schrank und setzte sich dann in möglichst gefaßter Haltung nieder, als auf einmal zwei ihr völlig fremde Herren ins Zimmer traten.

»Wie befinden Sie sich?« fragte der eine Herr, indem er einen großen Nachdruck auf das zweite Wort seiner Frage legte.

» Wie befinden Sie sich?« fragte der andere Herr, das erste Wort stärker betonend, um eine Abwechslung in die Frage zu bringen.

Madame Nickleby knixte und lächelte, und knixte wieder und bemerkte händereibend, »daß sie nicht – wirklich – daß sie nicht die Ehre hätte –«

»Uns zu kennen?« sagte der erste Herr. »Der Nachteil ist auf unserer Seite, Madame Nickleby. Ist der Nachteil nicht auf unserer Seite, Pyke?«

»Ohne Widerrede, Pluck«, antwortete der andere Herr.

»Wir haben es, glaube ich, schon sehr oft bedauert«, bemerkte der erste Herr.

»Sehr oft«, versetzte der zweite.

»Aber jetzt«, sagte der erste Herr, »jetzt erfreuen wir uns des lange ersehnten Glückes. Haben lange nach diesem Glück geschmachtet – oder haben wir nicht, Pyke?«

»Sie können unmöglich vergessen haben, Pluck, daß wir es taten«, entgegnete Pyke vorwurfsvoll.

»Hören Sie ihn?« fragte Herr Pluck, indem er sich umsah. »Sie hören das unparteiische Zeugnis meines Freundes Pyke. Doch das erinnert mich – Förmlichkeiten, Madame – Förmlichkeiten dürfen nie in einer gebildeten Gesellschaft hintangesetzt werden. Pyke – Madame Nickleby.«

Herr Pyke legte die Hand aufs Herz und verbeugte sich tief.

»Ob ich mich selbst mit derselben Förmlichkeit einführen soll«, fuhr Herr Pluck fort, »ob ich selbst sagen soll, daß mein Name Pluck ist, oder ob ich meinen Freund Pyke bitten soll (der jetzt als regelmäßig eingeführt dieses Amt versehen kann), mich Ihnen, Madame Nickleby, als Herrn Pluck vorzustellen; ob ich den Anspruch, den ich auf Ihre Bekanntschaft mache, auf das lebhafte Interesse, das ich an Ihrem Wohle nehme, begründe, oder ob ich mich Ihnen als einen Freund des Sir Mulberry Hawk vorstellen soll – das, Madame Nickleby, sind Erwägungen, die ich Ihrer Entscheidung überlassen will.«

»Ein Freund des Sir Mulberry Hawk bedarf bei mir keiner weitern Einführung«, bemerkte Madame Nickleby huldvoll.

»Es macht mich glücklich, Sie so sprechen zu hören«, versetzte Herr Pluck, indem er einen Stuhl zu Madame Nickleby rückte und sich niedersetzte. »Es tut mir in allen Gliedern wohl, zu erfahren, daß Sie meinen vortrefflichen Freund, Sir Mulberry, so hochschätzen. Ein Wort ins Ohr, Madame Nickleby. Wenn Sir Mulberry es erfährt, so wird er sich überglücklich fühlen – ich sage Ihnen, Madame, überglücklich fühlen; Pyke, setzen Sie sich!«

» Meine gute Meinung«, entgegnete Madame Nickleby – und die arme Frau frohlockte bei dem Gedanken, daß sie ihr Sprüchlein wundervoll angebracht hätte, » meine gute Meinung kann für einen Herrn, wie Sir Mulberry, nur von sehr geringer Bedeutung sein.«

»Von geringer Bedeutung?« rief Herr Pluck. »Pyke, von welcher Bedeutung ist die gute Meinung der Frau Nickleby für Sir Mulberry?«

»Von welcher Bedeutung?« echote Pyke.

»Ja«, entgegnete Pluck. »Ist sie für ihn nicht von der größten Bedeutung?«

»Von der allergrößten Bedeutung«, erwiderte Pyke.

»Es kann Madame Nickleby nicht unbekannt sein«, sagte Herr Pluck, »welchen allmächtigen Eindruck jenes süße Mädchen auf –«

»Pluck!« verwies ihm sein Freund; »was tun Sie?«

»Pyke hat recht«, murmelte Herr Pluck nach einer kurzen Pause. »Ich hätte mir keine derartige Anspielung erlauben sollen. Pyke hat vollkommen recht. Ich danke Ihnen, Pyke.«

»Was Sie sagen!« dachte Frau Nickleby; »eine solche interessante Geschichte ist mir noch nie vorgekommen.«

Herr Pluck tat einige Minuten, als hätte ihn seine Unbedachtsamkeit in große Verlegenheit gesetzt, und nahm dann die Unterhaltung wieder auf, indem er Madame Nickleby bat, nicht auf das zu achten, was ihm so unwillkürlich entwischt wäre, und ihn lieber für unklug, voreilig und gedankenlos zu betrachten. Dabei wolle er sich weiter nichts zu seinen Gunsten ausbitten, als daß seine gute Absicht nicht verkannt werden möchte.

»Aber wenn ich« – fuhr Herr Pluck fort, – »wenn ich so viel Schönheit und Anmut auf der einen Seite und so viel Glut und aufopferungsfähige Liebe auf der anderen sehe, so – verzeihen Sie, Pyke, ich kam unabsichtlich wieder auf das Thema zurück. Beginnen Sie eine andere Unterhaltung, Pyke.«

»Wir versprachen Sir Mulberry und Lord Friedrich«, sagte Pyke, »daß wir Sie diesen Morgen besuchen und nachfragen wollten, ob Sie sich gestern abend nicht erkältet hätten.«

»O, gestern abend? – nein, nicht im mindesten, Sir«, versetzte Madame Nickleby. »Ich danke übrigens Seiner Herrlichkeit und Sir Mulberry untertänigst für diese gnädige Nachfrage. – O nein, nicht im mindesten, was mich um so mehr wundernimmt, da ich in der Tat zu Erkältungen sehr geneigt bin – ja gewiß und wahrhaftig, sehr geneigt bin. Ich habe mir einmal bei einer Erkältung einen Schnupfen geholt«, fuhr Madame Nickleby fort. »Ich glaube, es war im Jahr Achtzehnhundertundsiebzehn. Warten Sie einmal – vier und fünf ist neun, und – ja, Achtzehnhundertundsiebzehn – und ich meinte, ich könne ihn gar nimmer loswerden. Gewiß und wahrhaftig, ich meinte, er wolle gar nicht mehr von mir weichen. Ich wurde endlich nur durch ein Mittel kuriert, von dem Sie vielleicht nie etwas gehört haben, Herr Pluck. Sie nehmen einige Liter Wasser, so heiß, als Sie es nur kriegen können, tun ein Pfund Salz und für sechs Pence feinste Kleie hinein und baden sich damit alle Abende vor dem Schlafengehen wenigstens zwanzig Minuten lang den Kopf – ach nein, nicht den Kopf – ich wollte sagen, die Füße. Es ist ein ganz außerordentliches Mittel – gewiß ein höchst außerordentliches Mittel. Ich erinnere mich noch, daß ich es das erstemal den Tag nach dem Christfest anwandte, und in der Mitte des April war der Schnupfen weg. Es scheint ein wahres Wunder zu sein, wenn man bedenkt, daß ich ihn vom Anfang des September an hatte.«

»Welch ein bedauerlicher Unfall«, sagte Herr Pyke.

»Ganz schrecklich!« rief Herr Pluck.

»Aber es ist wohl der Pein wert, es zu hören, wenn man nur hintendrein erfährt, daß Madame Nickleby wieder davon genas – nicht wahr, Pluck?« rief Herr Pyke.

»Und eben das ist es, was die Sache so sehr interessant macht«, versetzte Herr Pluck.

»Aber wir dürfen in dem Vergnügen dieser Begegnung unsern Auftrag nicht vergessen«, sagte Herr Pyke in einem Ton, als ob er sich desselben plötzlich entsinne. »Wir haben nämlich einen Auftrag, Madame Nickleby.«

»Einen Auftrag?« rief die gute Dame, deren Geist sich plötzlich einen Heiratsantrag für Käthchen in den lebhaftesten Farben vergegenwärtigte.

»Von Sir Mulberry«, fuhr Pyke fort. »Sie müssen hier ein sehr langweiliges Leben führen?«

»Ich gestehe es – ziemlich langweilig«, versetzte Madame Nickleby.

»Sir Mulberry Hawk läßt Ihnen beste Grüße bestellen und Sie inständig bitten, daß Sie ein Privatlogenbillett für das heutige Stück von ihm annehmen möchten«, entgegnete Herr Pluck.

»Ach du mein Himmel!« erwiderte Madame Nickleby. »Aber ich gehe ja nie aus.«

»Das ist gerade der triftigste Grund, Madame Nickleby, heute abend auszugehen«, versicherte Herr Pluck. »Pyke, helfen Sie mir Madame Nickleby erweichen.«

»Ach, ich bitte«, sagte Pyke.

»Sie müssen durchaus«, drängte Pluck.

»Sie sind allzu gütig«, versetzte Madame Nickleby; »aber –«

»Wir lassen uns von keinem Aber abspeisen, verehrteste Madame Nickleby«, entgegnete Herr Pluck. »Es gibt im ganzen Wörterbuch kein solches Wort. Ihr Schwager kommt, Lord Friedrich kommt, Sir Mulberry kommt, Pyke kommt – es kann also von einer Ablehnung keine Rede sein. Sir Mulberry sendet Ihnen einen Wagen – genau fünfundzwanzig Minuten vor sieben. Sie werden nicht so grausam sein, der ganzen Gesellschaft die Freude zu verderben, Madame Nickleby?«

»Sie drängen mich so, daß ich kaum weiß, was ich sagen soll«, erwiderte die würdige Dame.

»Sagen Sie nichts – kein Wort – keine Silbe, meine Verehrteste«, drängte Herr Pluck. »Madame Nickleby«, fuhr der treffliche Herr flüsternd fort, »ich mißbrauche zwar ein Vertrauen, wenn ich Ihnen eine Mitteilung mache, aber ich denke, es läßt sich entschuldigen. Und doch, wenn mein Freund Pyke davon hörte – er hat ein so ungemein zartes Ehrgefühl, Madame Nickleby, daß er mich, glaube ich, noch vor dem Mittagessen herausfordern würde.«

Madame Nickleby warf einen besorgten Blick auf den gurgelschneiderischen Pyke, der an das Fenster getreten war, während Herr Pluck ihr die Hand drückte und fortfuhr:

»Ihre Tochter hat eine Eroberung gemacht – eine Eroberung, zu der ich Ihnen nur Glück wünschen kann. Sir Mulberry, meine Verehrteste, Sir Mulberry schmachtet in ihren Fesseln – ahem.«

»Ha«, rief jetzt Herr Pyke, indem er mit theatralischer Stellung etwas von dem Kamingesims wegnahm, »was ist das? Was sehe ich?«

»Was sehen Sie, mein lieber Freund?« fragte Herr Pluck.

»Es ist das Gesicht, der Ausdruck, die Züge«, rief Herr Pyke, mit einem Miniaturporträt in der Hand auf einen Sessel sinkend. »Zwar nur in schwachen Umrissen und unvollkommener Auffassung, aber doch das Gesicht, der Ausdruck, die Züge

»Ich erkenne es schon auf diese Entfernung«, rief Herr Pluck in einem Anfall von Begeisterung. »Ist es nicht, meine Verehrte, ist es nicht das unvollkommene Ebenbild von –«

»Es ist das Porträt meiner Tochter«, sagte Madame Nickleby mit großem Stolz.

Und so war es. Das kleine Fräulein La Creevy hatte es einige Tage vorher zum Ansehen hergebracht.

Herr Pyke hatte sich kaum überzeugt, daß er mit seiner Vermutung auf dem rechten Wege war, als er sich in die ausschweifendsten Lobsprüche des göttlichen Originals ergoß. In der Wärme seiner Begeisterung küßte er das Bildchen tausend Male, während Herr Pluck Madame Nicklebys Hand an sein Herz drückte und ihr mit so viel Feuer und Teilnahme zu dem Besitz einer solchen Tochter Glück wünschte, daß ihm die Tränen in den Augen standen oder doch zu stehen schienen. Die arme Madame Nickleby, die anfangs in einem Zustande beneidenswerter Selbstgefälligkeit zugehört hatte, wurde endlich durch so viele Beweise von Achtung und Zuneigung in ihren Gefühlen ganz überwältigt; und selbst das Dienstmädchen, das durch die Tür hereinsah, blieb vor Erstaunen über die Begeisterung der beiden freundlichen Herren wie angewurzelt auf ihrer Stelle stehen.

Die Ausbrüche des Entzückens milderten sich nach und nach, und Madame Nickleby schickte sich an, ihre Gäste mit Wehklagen über ihre gesunkenen Glücksumstände und einer malerischen Beschreibung ihrer alten Wohnung auf dem Lande zu unterhalten. Sie erging sich in einer umständlichen Schilderung der verschiedenen Gemächer, wobei sie ihnen nicht einmal das kleine Speisekämmerchen schenkte, erzählte ihnen, wie viele Stufen in den Garten hinuntergingen, welchen Weg man von den Wohnzimmern eingeschlagen hatte, und wie alles so solide in ihrer Küche ausgesehen. Diese letzte Erinnerung führte sie natürlich in das Waschhaus, wo sie über den Brauapparat stolperte und wahrscheinlich auch eine volle Stunde unter demselben herumgewandclt wäre, wenn nicht schon die bloße Erwähnung derartiger Requisiten vermöge einer naheliegenden Ideenverknüpfung Herrn Pyke gemahnt hätte, daß er »erstaunlich durstig« wäre.

»Und ich will Ihnen etwas sagen«, fügte Herr Pyke bei; »wenn Sie nach dem Wirtshaus hinüberschicken und eine Kanne milden Halbundhalb holen lassen wollten, so würde ich sie gewiß unfehlbar trinken.«

Und Herr Pyke leerte sie zielbewußt und unentwegt unter Herrn Plucks Beistand, während Madame Nickleby ihre Verwunderung zwischen der Herablassung der beiden Herren und der Fertigkeit, womit sie die Zinnkanne zu handhaben wußten, teilte. Um dieses scheinbare Wunder zu erklären, erlauben wir uns hier die Bemerkung, daß Herren, die wie Pyke und Pluck von ihrem Verstand (oder vielleicht besser – von der Abwesenheit des Verstandes bei andern Leuten) leben, hin und wieder ziemlich in die Klemme kommen und bei solchen Anlässen sich auf eine sehr einfache Weise zu erholen pflegen.

»Zwanzig Minuten vor sieben Uhr also« – sagte Herr Pyke aufstehend – »wird die Kutsche hier sein. Doch jetzt nur noch einen Blick – nur noch einen einzigen kleinen Blick auf dieses holde Antlitz! Ach, da ist es – bewegungslos, unverändert!« (Das war allerdings ein höchst merkwürdiger Umstand, da Miniaturporträts so gar vielen Wechseln des Ausdrucks unterworfen sind). »O Pluck! Pluck!«

Herrn Plucks Erwiderung bestand bloß darin, daß er mit vielem Sentiment Madame Nicklebys Hand küßte. Als Herr Pyke das gleiche getan hatte, entfernten sich beide Herren mit großer Eile.

Madame Nickleby tat sich gern etwas auf ihren Scharfsinn und ihre Menschenkenntnis zugut. Aber nie war sie so ganz und gar mit sich selbst zufrieden gewesen, wie an diesem Tag. Sie hatte das alles schon am gestrigen Abend gewußt. Sie hatte zwar Sir Mulberry und Käthchen nie zusammen gesehen – nicht einmal Sir Mulberrys Namen gehört, und doch – war nicht alles von ihr vorausgesagt worden? Lag nicht alles schon von dem ersten Augenblick an klar vor ihrer Seele? Welch ein Triumph jetzt für sie; denn wer hätte auch noch daran zweifeln können? Wenn man die schmeichelhaften Aufmerksamkeiten gegen sie nicht für einen hinreichenden Beweis wollte gelten lassen, hatte nicht Sir Mulberrys vertrauter Freund das Geheimnis in so manchen Worten verlauten lassen?

»In der Tat, ich bin ganz verliebt in diesen entzückenden Herrn Pluck«, sagte Madame Nickleby.

Aber mitten in diesem Glück war es ihr doch nicht wohl; denn sie hatte niemanden, dem sie es hätte vertrauen können. Einige Male war sie fast entschlossen, schnurstracks zu Fräulein La Creevy zu eilen und ihr alles zu erzählen. »Aber ich weiß nicht«, dachte die gute Frau; »sie ist zwar eine sehr achtbare Person, jedoch ich fürchte, sie steht zu tief unter Sir Mulberrys Rang, als daß sie eine passende Gesellschaft für uns wäre. Das arme Ding!«

Aus diesem wichtigen Grund wies sie den Gedanken ab, die kleine Porträtmalerin in ihr Vertrauen zu ziehen, und begnügte sich, einige unbestimmte und geheimnisvolle Hoffnungen hinsichtlich einer bevorstehenden großen Veränderung gegen das Dienstmädchen laut werden zu lassen, die diese unklaren Hindeutungen auf eine aufdämmernde Größe mit heiliger Verehrung hinnahm.

Der versprochene Wagen erschien pünktlich zu der bestimmten Zeit – kein Mietwagen, sondern eine Privatequipage mit einem Lakaien hintenauf, dessen Beine, obgleich sie etwas zu groß für seinen Körper waren, an sich betrachtet Modelle für die königliche Akademie hätten abgeben können. Es war ganz entzückend, das Getöse und den Lärm zu hören, womit er den Kutschenschlag auf- und zuwarf und dann, sobald Madame Nickleby innen saß, wieder hinten hinaufsprang. Da die gute Dame keine Ahnung davon hatte, daß derselbe den goldenen Knopf seines langen Stocks an seine Nase hielt und in dieser Weise gerade über ihrem Haupte weg höchst respektwidrig dem Kutscher telegraphisch Zeichen zugehen ließ, so saß sie auch nicht wenig stolz auf ihre dermalige Stellung mit vieler Steifheit und Würde da.

An dem Theatereingang wurde der Kutschenschlag noch entzückender auf- und zugeworfen. Auch waren schon die Herren Pyke und Pluck zugegen, die ihrer harrten, um sie nach der Loge zu führen. Sie waren dabei so ungemein höflich und zuvorkommend, daß Herr Pyke einem sehr alten Mann, der zufällig mit einer Laterne über ihren Weg stolperte, mit vielen Eiden zuschwor, er wolle ihn »kanonisieren« – zum großen Schrecken der Dame Nickleby, die mehr aus der Aufregung des Herrn Pyke als aus einer nähern Vertrautheit mit der Bedeutung des Wortes schloß, daß Kanonisieren und Blutvergießen in der Hauptsache wohl ein und dasselbe sein müsse, und daher ob des Gedankens, daß sich so etwas zutragen könnte, über die Maßen geängstigt war.

Glücklicherweise beschränkte sich jedoch Herrn Pykes Kanonisieren nur auf Worte, und sie gelangten zu ihrer Loge, ohne eine ernstere Unterbrechung zu erfahren, als daß derselbe kampflustige Herr den Logenhüter »zu Haarpuder zermalmen« wollte, weil er sich in der Nummer geirrt hatte.

Madame Nickleby hatte sich kaum in einem Armsessel hinter dem Logenvorhang niedergelassen, als Sir Mulberry und Lord Verisopht, von dem Scheitel bis zu den Enden ihrer Handschuhe und von den Enden ihrer Handschuhe bis zu den Spitzen ihrer Stiefel aufs eleganteste und kostbarste gekleidet, eintraten. Sir Mulberry war noch ein wenig heiserer als tags zuvor, und Lord Verisopht sah etwas schläfrig und verstört aus, wozu sich noch der weitere Umstand gesellte, daß beide etwas unsicher auf ihren Beinen waren – lauter Anzeichen, aus denen Madame Nickleby den richtigen Schluß zog, daß sie vom Dinieren herkämen.

»Wir haben – wir haben – Ihre liebenswürdige Tochter hochleben lassen, Madame Nickleby«, flüsterte ihr Sir Mulberry zu, der hinter ihr Platz nahm.

»Ah – so«, dachte die erfahrene Frau; »der Wein geht hinein, die Wahrheit heraus. – Sie sind sehr gütig, Sir Mulberry.«

»Nein, nein, meiner Seele!« entgegnete Sir Mulberry Hawk. »S i e sind gütig, meiner Seele! Es war sehr gütig von Ihnen, daß Sie diesen Abend kamen.«

»Sie wollen sagen, daß es sehr gütig von Ihnen war, mich einzuladen, Sir Mulberry«, entgegnete Madame Nickleby, indem sie mit einem zum Verwundern schlauen Blick den Kopf in die Höhe warf.

»Ich wünsche so sehr, Sie näher kennenzulernen, so sehr, Ihre gute Meinung zu gewinnen, und hoffe so sehnlich, es möchte sich eine Art süßen Familienverhältnisses zwischen uns bilden«, sagte Sir Mulberry, »daß Sie ja nicht glauben dürfen, meinen Handlungen liege nicht auch ein bestimmtes Interesse zugrunde. Ich bin verdammt selbstsüchtig – ja das bin ich, meiner Seele.«

»Gewiß, Sie können nicht selbstsüchtig sein, Sir Mulberry«, versetzte Madame Nickleby. »In Ihrem offenen, edlen Antlitz steht wenigstens nichts davon geschrieben.«

»Was Sie nicht für eine außerordentliche Beobachtungsgabe haben!«

»O nicht doch, mein Blick ist nicht besonders scharf, Sir Mulberry«, versetzte Madame Nickleby mit einem Ton in der Stimme, der dem Baronet andeuten sollte, daß sie in der Tat sehr scharfsichtig sei.

»Ich muß mich wahrhaftig vor Ihnen fürchten«, entgegnete der Baronet. »Wahrhaftig«, wiederholte Sir Mulberry, indem er sich nach seinem Gefährten umsah, »ich muß mich vor Madame Nickleby fürchten. Sie ist ein wahrer Schrecken von Verstand.«

Die Herren Pyke und Pluck schüttelten geheimnisvoll ihre Köpfe und bemerkten miteinander, daß sie das schon längst gefunden hätten, worauf Madame Nickleby kicherte, Sir Mulberry lachte und Pyke und Pluck brüllten.

»Aber wo ist denn mein Schwager, Sir Mulberry?« fragte Madame Nickleby. »Es schickt sich nicht, daß ich ohne ihn hier bin. Ich hoffe, er wird doch noch kommen?«

»Pyke«, sagte Sir Mulberry, indem er seinen Zahnstocher herausnahm und sich in seinem Stuhl zurücklehnte, als wäre er zu trüge, eine Antwort auf diese Frage zu ersinnen, »wo ist Ralph Nickleby?«

»Pluck«, sagte Pyke, die Miene des Baronets nachahmend und die Lüge auf seinen Freund überwälzend, »wo ist Ralph Nickleby?«

Herr Pluck war im Begriff, irgendeine ausweichende Antwort zu geben, als ein Geräusch, veranlaßt durch den Eintritt einiger Personen in die nächste Loge, die Aufmerksamkeit aller vier Herren, die sich vielsagende Blicke zuwarfen, in Anspruch zu nehmen schien. Sobald übrigens die neuen Ankömmlinge unter sich zu sprechen begannen, nahm Sir Mulberry plötzlich die Stellung eines aufmerksamen Horchers an und beschwor seine Freunde, nicht zu atmen – nein, nicht einmal zu atmen.

»Warum nicht?« fragte Madame Nickleby. »Was gibt’s denn?«

»Pst«, versetzte Sir Mulberry, indem er eine Hand auf ihren Arm legte. »Lord Friedrich, erkennen Sie den Ton dieser Stimme?«

»Der Teufel soll mich holen, wenn es mir nicht vorkommt, als wäre es die Stimme von Fräulein Nickleby.«

»O Himmel, Mylord!« rief Fräulein Nicklebys Mama, indem sie den Kopf um den Vorhang hinumsteckte. »Ei, in der Tat, Käthchen, mein liebes Käthchen!

»Sie hier, Mama? – Ist’s möglich?«

»Möglich – meine Liebe? Warum nicht?«

»Und wen – um Gottes willen – wen haben Sie bei sich, Mama?« sagte Käthchen zurückfahrend, als sie eines Mannes ansichtig wurde, der ihr lächelnd Kußhändchen zuwarf.

»Was meinst du wohl, meine Liebe?« versetzte Madame Nickleby, indem sie sich ein wenig gegen Madame Wititterly hinbeugte und etwas lauter sprach, damit sich auch diese Dame daran ergötzen könnte. »Es ist Herr Pyke, Herr Pluck, Sir Mulberry Hawk und Lord Friedrich Verisopht.«

»Barmherziger Gott!« dachte Käthchen, »wie kommt sie in solche Gesellschaft?«

Das rasche Aufblitzen dieses Gedankens, die plötzliche Überraschung und die Erinnerung alles dessen, was bei Ralphs ergötzlichem Diner vorgefallen war – alles dieses bewirkte, daß Käthchcn ungemein blaß wurde und sehr aufgeregt erschien, was Madame Nickleby im Augenblick wahrnahm und vermöge ihres ungemeinen Scharfsinns als die Wirkungen einer leidenschaftlichen Liebe deutete. Aber obgleich sie nicht wenig entzückt bei dieser Entdeckung war, die ihrer schnellen Auffassungsgabe so viel Ehre machte, so minderte sie doch ihre mütterliche Besorgnis um Käthchen nicht. Deshalb verließ sie denn auch mit allen zärtlichen Bekümmernissen einer Mutter ihre eigene Loge, um in die der Madame Wititterly zu eilen. Madame Wititterly, gespornt durch die Aussicht auf den Ruhm, einen Lord und einen Baronet unter ihre Hausfreunde zu zählen, verlor keine Zeit, Herrn Wititterly zuzuwinken, er möchte die Tür öffnen, und in weniger als dreißig Sekunden hatte Madame Nicklebys Gesellschaft einen Einfall in Madame Wititterlys Loge gemacht, die dadurch bis zur Tür angefüllt und in der Tat so vollgepfropft wurde, daß für die Herren Pyke und Pluck der Raum nur so weit reichte, ihre Köpfe und Westen hereinzustecken.

»Mein liebes Käthchen«, sagte Madame Nickleby, indem sie ihre Tochter zärtlich küßte, »wie blaß hast du vor einem Augenblick ausgesehen! Ich versichere dir, daß du mich vorhin ganz erschrecktest.«

»Es kam Ihnen nur so vor, Mama, – der – der – Widerschein der Lichter vielleicht«, versetzte Käthchen, indem sie sich ängstlich umsah und die Unmöglichkeit erkannte, ihrer Mutter irgendeine Erklärung oder Warnung zuzuflüstern.

»Siehst du Sir Mulberry Hawk nicht, meine Liebe?«

Käthchen bückte sich leicht, biß sich in die Lippe und wandte den Kopf gegen die Bühne.

Aber Sir Mulberry Hawk ließ sich nicht so leicht zurückweisen: denn er trat mit ausgestreckter Hand näher, und da Madame Nickleby dienstfertig Käthchen diesen Umstand mitteilte, so sah sich diese gleichfalls genötigt, die ihrige auszustrecken. Sir Mulberry hielt sie fest, murmelte eine Flut von Schmeicheleien, die Käthchen – nach dem, was zwischen ihnen vorgefallen war – mit Recht als eben so viele Erschwerungen der Beleidigung betrachtete, die er ihr bereits zugefügt hatte. Dann folgte eine Erkennungsszene mit Lord Verisopht, dann eine Begrüßung von Herrn Pyke, dann ein Kompliment von Herrn Pluck, und endlich, um den Verdruß vollkommen zu machen, sah sich Käthchen durch Madame Wititterlys Geheiß genötigt, die Personen, die sie nur mit dem höchsten Unwillen und Abscheu betrachten konnte, förmlich vorzustellen.

»Madame Wititterly ist ganz entzückt«, sagte Herr Wititterly, die Hände reibend: – »ich versichere Ihnen, Mylord – ganz entzückt ob dieser Gelegenheit, eine Bekanntschaft anzuknüpfen, die, wie ich hoffe, Mylord, eine dauerndere sein wird. Liebe Julia, ich bitte dich, laß dich nicht zu sehr aufregen – in der Tat, du darfst es nicht. Madame Wititterly ist von äußerst sensiblem Wesen, Sir Mulberry – die Schnuppe einer Kerze – der Docht einer Lampe – der Duft auf einer Pfirsich – der Flügelstaub eines Schmetterlings – Sie könnten sie wegblasen, Mylord: Sie könnten sie wegblasen.«

Sir Mulberry schien zu denken, daß es gar bequem sein dürfte, wenn die Dame weggeblasen, nur weggeblasen werden möchte. Er sagte jedoch nur, daß das Entzücken wechselseitig wäre, und Lord Verisopht versicherte das gleiche, wie denn auch die Herren Pyke und Pluck, die man aus der Entfernung murmeln hörte, gleichfalls an dieser Wechselseitigkeit des Entzückens im höchsten Grad teilnehmen wollten.

»Ich nehme ein Interesse, Mylord –« sagte Madame Wititterly mit schmachtendem Lächeln – »ach, ein zu großes Interesse an dem Schauspiel.«

»I-a, es ist sehr interessant«, versetzte Lord Verisopht.

»Ich fühle mich immer nach Shakespeare unwohl«, entgegnete Madame Wititterly. »Ich bin am nächsten Tage kaum mehr vorhanden; ich befinde mich nach einem Trauerspiel in einer zu großartigen Reaktion, Mylord, und Shakespeare ist ein zu köstliches Geschöpf.«

»I-a«, erwiderte Lord Verisopht. »Er war ein gescheiter Mann.«

»Ich kann Ihnen sagen, Mylord«, fuhr Madame Wititterly nach einer langen Pause fort, »daß ich, nachdem ich in dem zu allerliebsten armseligen Häuschen war, worin er geboren wurde, ein noch viel größeres Interesse an seinem Stücke finde. Sind Sie einmal dort gewesen, Mylord?«

»Nein, nie«, versetzte Verisopht.

»Dann müssen Sie in der Tat hingehen, Mylord«, entgegnete Madame Wititterly mit einer ungemein schmachtenden und gedehnten Betonung. »Ich weiß nicht, wie es zugeht, aber wenn man den Ort gesehen und seinen Namen in das kleine Buch eingeschrieben hat, so scheint man irgendwie ganz begeistert: es entzündet ein eigentliches Feuer in dem Innern.«

»I-a«, erwiderte Lord Verisopht, »ich muß wahrhaftig hingehen.«

»Julia, mein Leben«, fiel Herr Wititterly ein, »du täuschest Seine Herrlichkeit – Mylord, sie täuscht Sie, ohne es zu wollen. Dein poetisches Temperament, meine Liebe – deine ätherische Seele – deine glühende Einbildungskraft stürzt dich in eine Glut von Aufregung und Begeisterung. Der Platz will nichts heißen, meine Liebe – nichts – gar nichts.«

»Ich sollte doch meinen, daß es etwas damit wäre«, sagte Madame Nickleby, die bisher schweigend zugehört hatte; »denn bald nach meiner Hochzeit fuhr ich mit meinem armen seligen Manne von Birmingham aus in einer Postkutsche – war es auch eine Postkutsche?« unterbrach sich Madame Nickleby überlegend. – »Ja, es muß eine Postkutsche gewesen sein; denn ich erinnere mich noch recht gut, wie es mir auffiel, daß der Postillion einen grünen Schirm über dem linken Auge hatte. – Ich fuhr also in einer Postkutsche von Birmingham nach Stratford, und nachdem wir Shakespeares Grab und das Haus, wo er geboren wurde, gesehen hatten, gingen wir in das Wirtshaus zurück, wo wir über Nacht blieben, und ich erinnere mich, daß mir die ganze Nacht über von nichts als einem schwarzen, gipsernen Herrn in Lebensgröße träumte, dessen umgeschlagener Kragen mit zwei Troddeln zusammengeknüpft war. Er lehnte nachdenkend an einem Pfahl, und als ich am andern Morgen aufwachte und die Gestalt meinem seligen Manne beschrieb, so sagte er, das wäre Shakespeare gewesen, wie er geleibt und gelebt hätte. Das war doch gewiß höchst sonderbar. Stratford – Stratford«, fuhr Madame Nickleby sich besinnend fort. »Ja, ich bin dessen ganz gewiß, denn ich erinnere mich, ich war damals mit meinem Sohn Nicolaus guter Hoffnung, und an demselben Morgen hatte mir ein junger italienischer Gipsfigurenhändler einen großen Schrecken eingejagt. Es war in der Tat Gnade vom Himmel, Madame«, flüsterte Madame Nickleby Madame Wititterly zu, »daß mein Sohn nicht als ein Shakespeare auf die Welt kam, was ja ganz etwas Schreckliches gewesen wäre.«

Als Madame Nickleby diese ansprechende Anekdote zu Ende erzählt hatte, machten Pyke und Pluck – stets eifrig in den Angelegenheiten ihres Gönners – den Vorschlag, einen Teil der Gesellschaft in die nächste Loge zu verlegen. Die Einleitungen wurden mit solcher Gewandtheit getroffen, daß Käthchen trotz alles ihres Einspruches keine andere Wahl blieb, als sich von Sir Mulberry Hawk hinüberführen zu lassen. Ihre Mutter und Herr Pluck begleiteten sie. Aber die würdige Dame nahm sich mit einer Diskretion, auf die sie sich wunder was zugute tat, soviel wie möglich in acht, den ganzen Abend nicht auf ihre Tochter zu sehen, und tat, als wäre sie durch Herrn Plucks humoristische Unterhaltung ganz hingerissen. Dieser Ehrenmann aber hatte die Aufgabe, Madame Nickleby zu hüten, weshalb er auch keine Gelegenheit versäumte, ihre Aufmerksamkeit zu fesseln.

Lord Friedrich Verisopht blieb in der nächsten Loge, um sich mit Madame Wititterly zu unterhalten, und Herr Pyke war zur Hand, um, wo nötig, ein oder zwei Worte einzuflicken. Was Herrn Wititterly anbelangt, so war dieser im ganzen Hause herum ungemein geschäftig, indem er allen Freunden und Bekannten, die er aufzufinden vermochte, mitteilte, die zwei Herren, die sie in der Loge mit Madame Wititterly hätten sprechen sehen, wären der ausgezeichnete Lord Friedrich Verisopht und dessen vertrautester Freund, der heitere Sir Mulberry Hawk, – eine Eröffnung, die mehrere achtbare Personen, die auf gesellschaftlichen Verkehr hielten, mit der größten Wut und Eifersucht erfüllte und sechzehn unverheiratete Töchter ganz an den Rand der Verzweiflung brachte. Das Stück war endlich vorüber. Aber Käthchen mußte sich noch durch den von ihr verabscheuten Sir Mulberry die Stiege hinunterführen lassen, wobei die Herren Pyke und Puck so geschickt manövrierten, daß sie und der Baronet die letzten des Zuges waren und sogar – ohne daß es den Anschein eines überdachten Planes hatte – ein wenig hinter der übrigen Gesellschaft zurückblieben.

»Nur etwas langsam – etwas langsam«, sagte Sir Mulberry, als Käthchen vorwärtsdrängte und ihren Arm loszumachen suchte.

Sie erwiderte nichts, sondern vermehrte ihre Bemühungen.

»Wohlan denn« – bemerkte Sir Mulberry kaltblütig, indem er sie ohne weitere Umstände zum Stehen zwang.

»Sie werden guttun, wenn Sie mich nicht zurückzuhalten suchen, Sir«, sagte Käthchen unwillig.

»Und warum – wenn ich fragen darf?« entgegnete Sir Mulberry. »Mein holdes Wesen, warum stellen Sie sich denn immer noch so ungnädig?«

» Stellen?« wiederholte Käthchen mit Entrüstung. »Wie kommen Sie überhaupt zu der Frechheit, mit mir zu sprechen, Sir, – mich anzureden – mir unter die Augen zu treten?«

»Ihre Aufwallung macht Sie nur noch hübscher, Fräulein Nickleby«, versetzte Sir Mulberry Hawk, sich niederbeugend, um ihr besser ins Gesicht sehen zu können.

»Ich kenne Ihnen gegenüber kein anderes Gefühl als das der tiefsten Verachtung und des höchsten Abscheus, Sir«, sagte Käthchen. »Wenn Sie an Blicken, die solche Empfindungen ausdrücken, Gefallen finden, so – doch zurück! Lassen Sie mich augenblicklich zu meiner Gesellschaft. Wenn mich noch Rücksichten zurückgehalten haben, ich werde alle schwinden lassen und einen Weg einschlagen, der selbst Ihnen empfindlich fallen dürfte, wenn Sie mich nicht auf der Stelle loslassen.«

Sir Mulberry lächelte und ging – noch immer in ihr Gesicht blickend und ihren Arm festhaltend – nach der Tür.

»Wenn nicht die Achtung für mein Geschlecht oder meine hilflose Lage Sie veranlassen kann, von dieser rohen und unmännlichen Verfolgung abzulassen«, fuhr Käthchen fort, indem sie in dem Sturm ihrer Gefühle kaum wußte, was sie sagte; »so habe ich einen Bruder, der es eines Tages schwer zu rächen wissen wird.«

»Wahrhaftig«, rief Sir Mulberry, gleichsam als spräche er nur mit sich selber, indem er zugleich seinen Arm um ihren Leib legte, »ihr Äußeres gewinnt immer mehr, und sie gefällt mir in diesem Zorne viel besser, als wenn sie die Augen niederschlägt und vollkommen ruhig ist!«

Käthchen gelangte zu der in der Vorhalle ihrer harrenden Gesellschaft, ohne selbst zu wissen wie, stürzte rücksichtslos an dieser vorbei, stieß ihren Begleiter zurück und sprang in die Kutsche, wo sie sich in den hintersten Winkel warf und in Tränen ausbrach.

Die Herren Pyke und Pluck, die ihr Schlagwort wußten, brachten auf einmal die Gesellschaft in eine große Verwirrung, indem sie nach dem Wagen riefen und mit einigen Umherstehenden einen heftigen Streit anfingen. Mitten in diesem Tumult brachten sie die erschrockene Madame Nickleby in ihren Wagen, und nachdem man sich dieser glücklich entledigt hatte, faßten sie Madame Wititterly ins Auge, deren Aufmerksamkeit sie in sehr wirksamer Weise dadurch von Käthchen ablenkten, daß sie die Dame in einen Zustand der höchsten Bestürzung und Verwirrung versetzten. Endlich rollte der Wagen, in dem sie angekommen war, mit seiner Last weiter, und die vier Braven, die allein in der Säulenhalle zurückblieben, brachen nun in ein schallendes Gelächter aus.

»So!« sagte Sir Mulberry zu seinem edlen Freund. »Sagte ich Ihnen nicht gestern abend, daß wir diese Leute übertölpeln würden, wenn wir durch Bestechung eines Dieners ihre Loge ausfindig machten und mit der Mutter gerade nebenan Platz nähmen? Da haben wir’s jetzt – alles in vierundzwanzig Stunden fertiggebracht!«

»J-a«, versetzte der adelige Pinsel, »aber ich habe den ga-anzen Abend bei dem alten Weibe aushalten müssen.«

»Hört doch«, sagte Sir Mulberry zu seinen zwei Freunden – »hört nur diesen unzufriedenen Brummer. Sollte man’s da nicht satt bekommen, ihm je wieder bei seinen Entwürfen und Ränken Beistand zu leisten? Muß das einen nicht verdammt verdrießen?«

Pyke fragte Pluck, ob einen so etwas nicht verdammt verdrießen müsse, und Pluck fragte Pyke das gleiche, ohne daß einer von beiden die Frage beantwortete.

»Habe ich nicht recht?« fragte Verisopht. »War es nicht so?«

»War es nicht so?« wiederholte Sir Mulberry. »Wie haben Sie’s denn haben wollen? Wie hätten wir bei der ersten Begegnung eine allgemeine Einladung erhalten können, zu kommen, wenn’s beliebt, zu gehen, wenn’s beliebt, zu bleiben, solange es beliebt, zu tun, was beliebt – wenn nicht Sie, der Lord, – sich der einfältigen Frau vom Hause angenehm machten? Kümmere ich mich um das Mädchen aus einem anderen Grund, als um Ihretwillen? Habe ich nicht den ganzen Abend Ihr Loblied in ihr Ohr gesungen und um Ihretwillen ihre empfindlichen und schnippischen Reden hingenommen? Meinen Sie denn, ich sei aus einem besonderen Stoffe gemacht? Würde ich das für jedermann tun? – Und habe ich nicht einen Anspruch auf Ihre Dankbarkeit?«

»Sie sind ein teufelmäßig guter Kerl«, sagte der arme Lord, den Arm seines Freundes ergreifend. »Bei meinem Leben, Sie sind ein teufelmäßig guter Kerl, Hawk.«

»Und habe ich’s nicht recht gemacht – wie?« fragte Sir Mulberry.

»Ga-anz recht.«

»Und wie ein gutmütiger Tropf gehandelt, der alles den Rücksichten für den Freund opfert – wie?«

»J-a – wie ein Freund«, entgegnete der andere.

»Nun denn, dann bin ich zufrieden«, erwiderte Sir Mulberry. »Aber jetzt lassen Sie uns gehen und an dem deutschen Baron und dem Franzosen Revanche nehmen, die Ihnen gestern abend die Taschen so rein ausfegten.«

Mit diesen Worten nahm der aufopferungsvolle Freund den Lord beim Arm und führte ihn fort, indem er sich dabei halb umdrehte und mit einem verächtlichen Lächeln den Herren Pyke und Pluck zublinzelte, die, um ihre geheime Freude über den ganzen Verlauf der Sache anzudeuten, ihre Taschentücher in den Mund preßten und ihrem Gönner nebst dessen Opfer in einiger Entfernung nachfolgten.

Achtundzwanzigstes Kapitel.


Achtundzwanzigstes Kapitel.

Käthchen Nickleby, durch Sir Mulberry Hawks Verfolgung und die verschiedenen Schwierigkeiten und Unfälle, die sie umgeben, zur Verzweiflung gebracht, sucht, als letztes Mittel, den Schutz ihres Onkels nach.

Der andere Morgen brachte, wie es gewöhnlich zu gehen pflegt, Überlegung. Aber ganz verschieden war der Gang der Gedanken bei den verschiedenen Personen, die den Abend vorher durch die gewandte Tätigkeit der Herren Pyke und Pluck so unerwartet zusammengeführt worden waren.

Die Betrachtungen Sir Mulberry Hawks – wenn sich anders die Gedanken eines systematischen, berechnenden Lüstlings so nennen lassen, dessen Freuden und Leiden, Schmerzen und Vergnügungen sämtlich selbstsüchtig sind, und der von seinen geistigen Fähigkeiten kaum etwas anderes behalten zu haben scheint, als das Vermögen, sich zu erniedrigen und die menschliche Natur zu schänden – die Betrachtungen Sir Mulberry Hawks wandten sich Käthchen Nickleby zu und bestanden – kurz zusammengefaßt – darin, daß das Mädchen unbestritten schön sei, daß ihre Sprödigkeit durch einen Mann von seiner Gewandtheit und Erfahrung sich leicht besiegen lassen müsse, und daß der Sieg über ein solches Mädchen nicht verfehlen könne, den Ruf, dessen er sich in der Welt erfreute, durch neuen Glanz zu erhöhen. Damit jedoch diese letztere Erwägung – für Sir Mulberry keineswegs eine geringfügige oder untergeordnete – nicht allzu befremdlich in den Ohren der Leser klinge, möchten wir daran erinnern, daß die meisten Menschen in ihrer eigenen Welt leben, und daß ihr Ehrgeiz nur von diesem beschränkten Zirkel Auszeichnung und Beifall erwartet. Sir Mulberrys Welt war mit Wüstlingen bevölkert, und demgemäß handelte er.

Wir sehen Handlungen der Ungerechtigkeit, der Unterdrückung, der Tyrannei und der maßlosesten Scheinheiligkeit um uns vorgehen, und man pflegt nicht zu unterlassen, verwundert und erstaunt in die Welt hineinzuschreien, daß die Täter solcher Handlungen der öffentlichen Meinung so ganz und gar Hohn sprächen. Aber man tut ihnen Unrecht, wenn man ihnen allein die Schuld zur Last legt, denn derartige Dinge könnten nicht stattfinden und die große Welt in starres Erstaunen versetzen, wenn sie nicht dabei den Beifall ihrer eigenen kleinen Welt für sich hätten.

Madame Nicklebys Erwägungen waren von der stolzesten und selbstgefälligsten Art, weshalb sie sich auch unter dem Einflusse der lieblichen Trugbilder, die sie umgaben, sogleich niedersetzte und einen langen Brief an Käthchen abfaßte, in dem sie ihre volle Billigung über die vortreffliche Wahl ihrer Tochter ausdrückte und Sir Mulberry bis in den Himmel erhob. Sie fügte diesen Lobsprüchen noch die beruhigende Versicherung bei, daß sie keinen andern Schwiegersohn gewählt haben würde, wenn ihr auch das Aussuchen unter der ganzen Männerwelt freigestanden hätte. Hierauf erteilte die gute Dame – nach der vorläufigen Bemerkung, daß sie gewiß nicht solange in der Welt gelebt haben könne, ohne erfahren zu haben, wie es in derselben zuginge – eine große Menge schlauer Lehren über Käthchens Benehmen gegen ihren Freier, deren Weisheit sie durch eigene Erfahrung erprobt hatte. Vor allem aber empfahl sie eine strenge jungfräuliche Zurückhaltung, da sie nicht nur an sich selbst sehr löblich wäre, sondern auch wesentlich dazu diente, die Glut eines Liebhabers zu kräftigen und zu vermehren. »Und in meinem ganzen Leben war ich nie entzückter, meine Liebe«, fügte Madame Nickleby bei, »als gestern abend, weil ich bemerkte, daß dein eigenes richtiges Gefühl dir bereits ein gleiches gesagt hat.« Zu diesem Gefühlserguß fügte sie noch wiederholt hinzu, wie sehr sie erfreut darüber sei, daß ihre Tochter einen so großen Teil ihrer eigenen Klugheit und ihres richtigen Taktes geerbt hätte und deren volles Maß sie ihr seinerzeit hinterlassen zu können hoffte, wenn Käthchen nach Kräften mitwirkte. Also schloß Madame Nickleby ihren sehr langen und ziemlich unleserlichen Brief.

Das arme Käthchen war dem Wahnsinn nahe, als die Mutter ihr auf vier eng übers Kreuz geschriebenen Seiten zu einer Sache Glück wünschte, ob der sie die ganze Nacht kein Auge schließen konnte, sondern voller Tränen in ihrem Kämmerlein gewacht hatte. Noch schmerzlicher und drückender empfand sie die Notwendigkeit, sich Madame Wititterly angenehm zu machen, die nach der Aufregung des letzten Abends äußerst herabgestimmt war und daher von ihrer Gesellschafterin (denn wofür anders gab sie Kost und Lohn?) die heiterste Stimmung verlangte.

Was Herrn Wititterly betraf, so ging er den ganzen Tag bebend von Entzücken umher, daß ihm ein Lord die Hand gedrückt und daß er diesen wirklich eingeladen hatte, ihn in seinem eigenen Zirkel zu besuchen. Der Lord selbst, der von keiner allzu reichlichen Denkkraft geplagt war, labte sich an einer Unterhaltung mit den Herren Pyke und Pluck, die ihren Witz durch lebhaften Genuß verschiedener köstlicher Herzstärkungen auf seine Kosten schärften.

Es war vier Uhr nachmittags – das heißt des gewöhnlichen Nachmittags der Sonne und der Uhr – und Madame Wititterly ruhte wie gewöhnlich auf dem Sofa ihres Besuchzimmers, während ihr Käthchen einen neuen Roman in drei Bänden, betitelt: »Die Lady Flabella«, vorlas, den Alphons der Zweifelhafte am Morgen aus der Leihbibliothek geholt hatte. Der Roman war wirklich wunderbar geeignet für eine Dame, die an Madame Wititterlys Krankheit litt, da er vom Anfang bis zum Ende nicht eine einzige Zeile enthielt, die auch nur in der entferntesten Beziehung die mindeste Spur einer Aufregung bei irgendeinem lebenden Wesen hätte hervorbringen können.

Käthchen las:

»›Cherizette‹, sagte Lady Flabella, mit den mäuschengleichen Füßchen in die blauen Seidenschuhchen schlüpfend, jene Schuhchen, die sozusagen den halb ernst-, halb scherzhaften Wortwechsel zwischen ihr und dem jugendlichen Obersten Befillaire letzten Abend im › Salon de dance‹ des Herzogs von Mincefenille veranlaßt hatten. › Cherizette, donnez moi de l’eau-de-cologne, s’il vous plaît, mon enfant!

Merci – ich danke‹, sagte Lady Flabella, als die lebhafte, aber warm ergebene Cherizette Lady Flabellas Mouchoir mit der duftenden Essenz benetzt hatte. Das Mouchoir war mit reichen Spitzen besetzt und in den vier Ecken mit der Flabellakrone und dem prächtigen Wappen dieser altadligen Familie in reicher Stickerei geschmückt; › Merci – das wird mir wohl bekommen.‹

In diesem Augenblick, wahrend Lady Flabella noch ihr Mouchoir an die herrliche, gedankenvoll geformte Nase hielt und den köstlichen Wohlgeruch einatmete, öffnete sich die Tür des Boudoirs (künstlich verhüllt durch reiche Damastvorhänge von der Farbe des italienischen Himmels), und mit lautlosen Schritten traten zwei Kammerdiener, in prachtvolle pfirsichblütrote und mit Gold verbrämte Livreen gekleidet, in das Zimmer. Hinter ihnen ein Page in bas de soie – seidenen Strümpfen – der sich, während die beiden in einiger Entfernung die anmutigsten Verbeugungen machten, seiner liebenswürdigen Gebieterin näherte, auf ein Knie niedersank und ihr auf einem prachtvoll getriebenen, goldenen Präsentierteller ein parfümiertes Billett überreichte.

Die Dame Flabella riß mit einer Aufregung, die sie nicht zu unterdrücken vermochte, hastig die Enveloppe ab und erbrach das duftende Siegel. Ja, es war von Befillaire – dem jugendlichen, dem schlanken, dem schmachtenden – von ihrem Befillaire.«

»Ach, entzückend!« fiel Käthchens Gebieterin ein, die bisweilen die Kritikerin spielte; »in der Tat sehr poetisch. Lesen Sie diese Schilderung noch einmal, Mamsell Nickleby.«

Käthchen gehorchte.

»In der Tat, recht süß!« sagte Madame Wititterly mit einem Seufzer. »So wollustatmend, so weich – nicht wahr?«

»Ja, es kommt mir ungemein weich vor«, versetzte Käthchen schüchtern.

»Schließen Sie das Buch, Mamsell Nickleby«, sagte Madame Wititterly. »Ich kann heute nichts mehr hören: denn ich möchte nicht gerne den Eindruck dieser Schilderung verwischen. Schließen Sie das Buch.«

Käthchen gehorchte mit Freuden. Madame Wititterly aber brachte mit matter Hand ihre Lorgnette vor das Auge und bemerkte, daß sie blaß aussähe.

»Vielleicht von dem Schrecken – der Lärm, die Verwirrung des gestrigen Abends«, versetzte Käthchen.

»Wie sonderbar!« rief Madame Wititterly mit einem Blick der Überraschung.

Und in der Tat, bei genauerer Überlegung mußte es sehr sonderbar erscheinen, daß irgend etwas einen beunruhigenden Eindruck auf eine Gesellschafterin machen konnte. Das Explodieren einer Dampfmaschine oder die Zerstörung irgendeiner anderen sinnreichen Maschine wäre nichts dagegen gewesen.

»Wie machten Sie die Bekanntschaft des Lord Friedrich und der andern angenehmen Herren, Kind?« fragte Madame Wititterly, Käthchen fortwährend durch ihre Lorgnette beäugelnd.

»Ich traf sie im Hause meines Onkels«, antwortete Käthchcn verlegen; denn sie fühlte, daß sie tief errötete, wie sie denn überhaupt unfähig war, ihrem Blut zu wehren, nach ihrem Antlitz zu strömen, sooft sie an jenen Mann dachte.

»Datiert sich diese Bekanntschaft schon von lange?«

»Nein, nicht von lange«, entgegnete Käthchen.

»Ich war sehr erfreut, daß uns die achtbare Frau, Ihre Mutter, Gelegenheit gab, sie kennenzulernen«, sagte Madame Wititterly in ziemlich herablassendem Tone. »Übrigens ist es ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß einige unserer Freunde auf dem Punkte waren, sie bei uns einzuführen.«

Das wurde gesagt, damit Käthchen sich nicht zu viel auf die Ehre zugute täte, vier Personen von Stande – denn Pyke und Pluck wurden den angenehmen Herren beigezählt – gekannt zu haben, die Madame Wititterly nicht kannte. Da aber Käthchen in keiner Weise einen Wert auf die Tatsache legte, so ging die beabsichtigte Wirkung natürlich ganz verloren.

»Sie haben um die Erlaubnis gebeten, mich besuchen zu dürfen«, sagte Madame Wititterly, »und es versteht sich von selber, daß ich diese nicht versagte.«

»Erwarten Sie heute ihren Besuch?« wagte Käthchen zu fragen.

Madame Wititterlys Antwort verlor sich unter dröhnendem Klopfen an die Haustür, und ehe dieses noch verklungen war, fuhr eine schöne Equipage vor, aus der Sir Mulberry Hawk und sein Freund Lord Verisopht heraussprangen.

»Da sind sie«, sagte Käthchen aufstehend und forteilend.

»Mamsell Nickleby!« lief Madame Wititterly, ganz erstarrt ob dem Unterfangen ihrer Gesellschafterin, das Zimmer verlassen zu wollen, ohne zuerst Erlaubnis nachgesucht und erhalten zu haben; »Sie werden das Zimmer nicht verlassen.«

»Sie sind sehr gütig«, versetzte Käthchen, »aber –«

»Um des Himmels willen, bringen Sie mich nicht in Wallung, indem Sie mich so viel sprechen lassen«, entgegnete Madame Wititterly scharf. »Mein Gott, Mamsell Nickleby, ich bitte –«

Käthchen versicherte vergeblich, daß sie unwohl wäre; denn die Fußtritte der Besuchenden, wer sie auch sein mochten, ließen sich schon auf der obersten Treppe vernehmen. Sie setzte sich wieder, und kaum war das geschehen, als der zweifelhafte Boy in das Zimmer stürzte und Herrn Pyke, Herrn Pluck, Lord Friedrich Verisopht und Sir Mulberry Hawk – alle zumal – ankündigte.

»Wie höchst sonderbar es auf der Welt zugeht«, sagte Herr Pluck, nachdem er die beiden Damen mit der größten Herzlichkeit begrüßt hatte; »in der Tat, höchst sonderbar. Als Lord Friedrich und Sir Mulberry anfuhren, pochten Pyke und ich eben an der Tür.«

»Wir pochten eben«, pflichtete Pyke bei.

»Da Sie einmal hier sind, so ist es gleichgültig, wie Sie kamen«, versetzte Madame Wititterly, die, da sie dreieinhalb Jahr auf demselben Sofa gelegen, ziemlich viele anmutige Körperhaltungen eingelernt hatte und nun die imposanteste von diesen annahm, um die Besuchenden in Staunen zu versetzen. »Gewiß, ich bin ganz entzückt, Sie bei mir zu sehen.«

»Und was macht Fräulein Nickleby?« sagte Sir Mulberry Hawk mit leiser Stimme zu Käthchen, jedoch nicht so leise, daß seine Worte nicht Madame Wititterlys Ohren erreicht hätten.

»Ach, sie beklagt sich über Unwohlsein infolge des Schreckens der gestrigen Nacht«, antwortete die Dame. »Ich wundere mich übrigens nicht darüber; denn meine Nerven sind ganz zerrissen.«

»Und doch sehen Sie«, bemerkte Sir Mulberry, sich umwendend – »und doch sehen Sie –«

»Unvergleichlich aus«, fiel Herr Pyke, seinem Gönner zu Hilfe kommend, ein; und Herr Pluck sagte natürlich dasselbe.

»Ich fürchte, Sir Mulberry ist ein Schmeichler, Mylord«, sagte Madame Wititterly, sich an Verisopht wendend, der schweigend an seinem Stockknopf sog und Käthchen anstierte.

»O, teufelmäßig«, versetzte Verisopht.

Und nach dieser geistreichen Erwiderung nahm er seine frühere Beschäftigung wieder auf.

»Fräulein Nickleby ist darum nicht weniger interessant geworden«, sagte Sir Mulberry, indem er sie mit dreisten Blicken musterte. »Sie war immer schön, aber bei meiner Seele, Madame, es scheint, Sie haben ihr außerdem noch etwas von Ihrem eigenen guten Aussehen mitgeteilt.«

Der Glut nach zu schließen, die bei diesen Worten das Antlitz des armen Mädchens übergoß, hätte Madame Wititterly mit einigem Schein von Grund annehmen mögen, daß sich etwas von der künstlichen Blume ihrer eigenen Wangen in Käthchens Zügen widerstrahle. Madame Wititterly mußte nun – freilich nicht in der gnädigsten Weise – zugestehen, daß Käthchen hübsch aussähe. Auch fing sie an zu glauben, daß Sir Mulberry nicht ganz der angenehme Mann wäre, für den sie ihn anfangs gehalten; denn obgleich der gewandteste Schmeichler der ergötzlichste Gesellschafter ist, wenn man ihn ganz für sich behalten kann, so wird doch sein Geschmack sehr zweifelhaft, wenn er sich unterfängt, anderen Leuten Artigkeiten zu sagen.

»Pyke«, begann der achtsame Herr Pluck, als er die Wirkung gewahrte, die Käthchens Lob hervorgebracht hatte.

»Wie beliebt, Pluck«, versetzte Pyke.

»Gibt es nicht jemanden«, fragte Herr Pluck geheimnisvoll; »eine Dame, die Sie kennen – an die Madame Wititterlys Profil erinnert?«

»Erinnert?« erwiderte Pyke. »Ei freilich.«

»Was meinen Sie?« sagte Pluck in derselben geheimnisvollen Weise. »Die Herzogin von B…?«

»Die Gräfin von B…«, versetzte Pyke mit einem leichten Zucken der Mundwinkel. »Die schöne Schwester ist die Gräfin, nicht die Herzogin.«

»Richtig«, entgegnete Pluck, »die Gräfin von B…. Ist die Ähnlichkeit nicht wundervoll?«

»Zum Sprechen«, erwiderte Herr Pyke.

Wie nun jetzt? Madame Wititterly war durch das Zeugnis zweier wahrheitsliebender und kompetenter Beurteiler für das leibhaftige Ebenbild einer Gräfin erklärt! So geht es, wenn man mit guter Gesellschaft verkehrt. Sie hätte sich zwanzig Jahre unter ordinären Leuten herumtreiben können, ohne je etwas von dieser Tatsache zu erfahren. Wie wäre es auch möglich gewesen – denn was wissen die von Gräfinnen?

Nachdem die beiden Herren aus der Gier, womit dieser kleine Köder verschluckt wurde, den Umfang von Madame Wititterlys Hunger nach Schmeichelei erprobt hatten, fuhren sie fort, diese Ware in den allerkräftigsten Dosen auszuteilen, wodurch sie Sir Mulberry Hawk Gelegenheit verschafften, Fräulein Nickleby mit Fragen und Bemerkungen zu quälen, auf die sie notwendig etwas erwidern mußte. Lord Verisopht erfreute sich inzwischen unbelästigt des vollen Wohlgeschmacks seines goldenen Stockknopfes – ein Genuß, der wohl bis zum Schluß dieses Besuchs nicht unterbrochen worden wäre, wenn nicht durch Herrn Wititterlys Nachhausekommen die Unterhaltung auf das Lieblingsthema dieses würdigen Mannes übergeleitet worden wäre.

»Mylord«, sagte Herr Wititterly, »ich fühle mich hochgeehrt – bin ganz entzückt – stolz. Bitte, Mylord, nehmen Sie wieder Platz. Ich bin stolz – in der Tat ungemein stolz auf diese Gnade.«

Madame Wititterly hatte keinen kleinen Ärger über die Worte ihres Gemahls. Obgleich sie nämlich vor Stolz und Hochmut fast bersten wollte, so wäre es ihr doch lieber gewesen, wenn sie ihre vornehmen Gäste hätte können glauben machen, daß ihr Besuch ein ganz gewöhnliches Ereignis wäre, und daß sie jeden Tag der Woche Lords und Baronets bei sich empfange. Aber Herrn Wititterlys Gefühle gingen einen zu erhabenen Schwung, um sich unterdrücken zu lassen.

»Ja gewiß, wir fühlen uns hochgeehrt«, sagte Herr Wititterly. »Julia, mein Herz, du wirst morgen dafür zu leiden haben.«

»Zu leiden?« rief Lord Verisopht.

»Die Reaktion, Mylord, die Reaktion«, erwiderte Herr Wititterly. »Diese gewaltsame Anspannung des ganzen Nervensystems, Mylord –was kann die Folge sein? Ein Sinken, eine Abspannung, eine Erschlaffung, eine Herunterstimmung, eine Schwäche. Mylord, wenn der Arzt Sir Tumley Snuffim dieses zarte Wesen in dem gegenwärtigen Augenblick sehen könnte, er würde kein – kein – nicht so viel für ihr Leben geben.«

Um diese Bemerkung näher zu erläutern, nahm Herr Wititterly eine Prise Schnupftabak aus seiner Dose und warf sie leicht in die Luft, um damit die Vergänglichkeit sinnbildlich anzudeuten.

»Nicht so viel«, sagte Herr Wititterly, indem er sich mit einem ernsten Gesicht umsah; »nicht eine Prise Tabak würde Sir Tumley Snuffim für Madame Wititterlys Dasein geben.«

Herr Wititterly sagte das mit einer Art von besonnener Begeisterung, als ob es keine kleine Auszeichnung für einen Mann sei, eine Gattin zu besitzen, die sich in einem so verzweifelten Zustande befand. Madame Wititterly aber seufzte und sah aus, als fühle sie die Ehre, die sie ihrem Gemahle damit machte, recht wohl, obschon sie entschlossen sei, sich dieser so wenig als möglich zu überheben.

»Madame Wititterly« – sagte der Gatte – »ist Sir Tumley Snuffims Lieblingspatientin. Ich glaube, wohl behaupten zu dürfen, daß Madame Wititterly die erste war, die die neue Arznei einnahm, von der man glaubt, sie hätte eine ganze Familie in den Kensingtonkiesgruben getötet. Ich glaube, sie war’s. Wenn ich im Irrtum bin, liebe Julia, so wirst du mich verbessern.«

»Ja, ich glaube, daß ich die erste war«, sagte Madame Wititterly mit schwacher Stimme.

Da es zweifelhaft erscheinen mochte, ob Sir Mulbcrry sich gut in diese Unterhaltung finden könne, so warf sich der unermüdliche Herr Pyke selbst in die Bresche und fragte, um doch wenigstens etwas dazu zu sagen, ob denn die eben erwähnte Arznei gut zu nehmen wäre.

»Nein, Sir – nicht im geringsten. Sie hatte nicht einmal diese Empfehlung«, antwortete Herr Wititterly.

»Madame Wititterly ist eine wahre Märtyrerin«, bemerkte Pyke mit einer höflichen Verbeugung.

»Ich glaube das selber auch«, versetzte Madame Wititterly lächelnd.

»Und ich gleichfalls, meine liebe Julia«, entgegnete der Gatte in einem Ton, der anzudeuten schien, daß er zwar nicht eitel sei, aber doch auf seinen Vorrechten bestehen wolle. »Wenn mir jemand, Mylord«, fügte Herr Wititterly mit einer Wendung gegen Seine Herrlichkeit bei, »wenn mir jemand einen größeren Märtyrer als Madame Wititterly zeigen will, so kann ich weiter nichts sagen, als daß es mich freuen würde, diesen Märtyrer, sei er nun ein männlicher oder ein weiblicher, zu sehen – das ist alles, Mylord.«

Pyke und Pluck bemerkten hierauf sogleich, daß man nicht mehr von ihm verlangen könne. Da aber der Besuch bereits schon ziemlich lange gedauert hatte, so gehorchten sie Sir Mulberrys Wink und standen auf, um sich zu entfernen. Das brachte auch Sir Mulberry selbst und Lord Verisopht auf die Beine. Man tauschte viele Freundfchaftsbeteuerungen aus und sprach von dem Vergnügen, das man sich unausbleiblich von einer so angenehmen Bekanntschaft versprach. Endlich entfernte sich der Besuch unter der erneuerten Versicherung, daß sich das Haus der Wititterlys zu jeder Tageszeit sehr geehrt fühlen würde, so unschätzbare Gäste unter seinem Dach zu empfangen.

Daß sie zu jeder Tageszeit kamen – daß sie das eine Mal in Herrn Wititterlys Hause dinierten, das andere Mal soupierten, dann wieder dinierten, kurz, beständig ab- und zugingen – daß gemeinschaftliche Vergnügungausflüge und zufällige Begegnungen an öffentlichen Orten stattfanden – daß bei all diesen Anlässen Fräulein Nickleby den beharrlichen Verfolgungen Sir Mulberrys ausgesetzt war, der seine Ehre sogar bei seinen Helfershelfern gefährdet glaubte, wenn es ihm nicht gelänge, den Stolz des Mädchens kirre zu machen – daß sie nur dann Ruhe hatte, wenn sie sich in ihrem einsamen Kämmerlein über die Prüfungen des Tages ausweinen konnte – all das waren Folgen, die notwendig aus Sir Mulberrys wohlüberlegten Plänen und einer geschickten Ausführung derselben durch seine Handlanger, die Herren Pyke und Pluck, entstehen mußten.

So ging es vierzehn Tage lang fort. Wir brauchen aber kaum zu bemerken, daß jeder, der nicht an der höchsten Beschränktheit und Geistesarmut litt, bei der ersten Begegnung erkennen mußte, wie wenig Lord Verisopht und Sir Mulberry Hawk, obgleich beide dem höheren Adel angehörten, an gute Gesellschaft gewöhnt waren, und wie wenig ihr Benehmen, ihre Bildung und ihre Unterhaltung in Gesellschaft von Namen zu glänzen vermochten. Aber für Madame Wititterly waren die beiden Titel vollkommen hinreichend. Die Roheit galt als Humor, die Gemeinheit milderte sich zur bezauberndsten Originalität, und die Unverschämtheit wurde als unbefangener Freimut betrachtet, den nur solche sich anzueignen vermögen, die das Glück gehabt haben, sich in höheren Kreisen zu bewegen.

Wenn sich die Gebieterin die Aufführung ihrer neuen Freunde in dieser Weise deutete, was durfte dann wohl eine Gesellschafterin gegen diese einwenden? Wenn die seinen jungen Herrchen sogar der Dame des Hauses gegenüber sich alles Zwanges begaben, um wie viel rückhaltsloser mußte dann nicht ihr Benehmen gegen eine bezahlte Dienerin sein! Aber das war noch nicht das Schlimmste. Als Sir Mulberry Hawk seine Maske immer mehr und mehr ablegte und Käthchen seine ausschließliche Aufmerksamkeit zuwendete, fing Madame Wititterly an, auf die überlegenen Reize ihres Dienstboten eifersüchtig zu werden. Wenn dieses Gefühl zu einer Verbannung aus dem Besuchszimmer, sobald derartige Gesellschaft zugegen war, geführt haben würde, so hätte sich Käthchen dazu nur Glück wünschen können. Aber unglücklicherweise besaß sie jene angeborene Anmut, jenen wahren Adel des Benehmens und jene tausend namenlosen Vorzüge, die dem Weibe den schönsten Reiz geben: und da diese allenthalben Anerkennung finden, so mußte dies um so mehr in einem Hause der Fall sein, wo die Gebieterin nur eine belebte Puppe war. Für Käthchen folgte daraus ein zweifaches Leiden, einmal daß sie ein unentbehrliches Gesellschaftsglied war, wenn Sir Mulberry und seine Freunde das Haus mit einem Besuch beehrten, und dann, daß sie aus demselben Grund alle üblen Launen der Dame Wititterly zu tragen hatte, sobald die feine Gesellschaft fort war. Sie fühlte sich daher ganz und gar unglücklich.

Madame Wititterly hatte hinsichtlich des Sir Mulberry die Maske nie abgeworfen, sondern jedesmal ein Übermaß ihrer üblen Laune, wie Damen bisweilen zu tun pflegen, einer nervösen Verstimmtheit zugeschrieben. Als aber endlich der schreckliche Gedanke in ihrem Geist zu dämmern und allmählich zur Gewißheit zu werden begann, daß Lord Verisopht gleichfalls in Käthchen verliebt sei, und sie nur eine ganz untergeordnete Rolle spiele, so überkam sie auf einmal ein solches Übermaß von zartem Anstandsgefühl und hoher tugendhafter Entrüstung, daß sie es für ihre Pflicht betrachtete, als eine verheiratete Frau und als ein sittlich reines Glied der Gesellschaft »der jungen Person« die Sache ohne Zögerung vorzuhalten.

Demgemäß nahm Madame Wititterly des andern Morgens während einer Pause im Romanlesen die Gelegenheit wahr.

»Mamsell Nickleby«, sagte Madame Wititterly, »ich muß ein ganz ernstes Wörtchen mit Ihnen reden. Es tut mir leid, dazu genötigt zu sein – in der Tat sehr leid; aber Sie lasÿsen mir keine andere Wahl, Mamsell Nickleby.«

Hier warf Madame Wititterly ihren Kopf in die Höhe – nicht leidenschaftlich, sondern nur tugendhaft – und bemerkte mit einigem Anschein von Aufregung, daß sie eine Rückkehr ihres Herzklopfens befürchte.

»Ihr Benehmen, Mamsell Nickleby«, nahm die Dame wieder auf, »ist sehr weit entfernt, sich meines Beifalls zu erfreuen – ja, sehr weit. Ich bin auf Ihre Wolfahrt ängstlich bedacht, aber verlassen Sie sich darauf, Mamsell Nickleby, daß Sie Ihr Glück selbst verscherzen, wenn Sie so fortfahren.«

»Madame!« rief Käthchen stolz.

»Regen Sie mich nicht auf, indem Sie in diesem Tone mit mir sprechen, Mamsell Nickleby«, sagte Madame Wititterly, »oder Sie werden mich zwingen, die Klingel zu ziehen.«

Käthchen blickte ihre Gebieterin an und schwieg.

»Glauben Sie ja nicht, Mamsell Nickleby«, fuhr Madame Wititterly fort, »daß Sie mich durch derartige Blicke verhindern werden, das auszusprechen, was ich für eine heilige Pflicht halte. Sie brauchen mich nicht so anzusehen –« fügte sie mit einem plötzlichen Hohnausbruch bei – »ich bin nicht Sir Mulberry, nicht Lord Friedrich Verisopht, Fräulein, und ebensowenig Herr Pyke oder Herr Pluck.«

Käthchen sah sie wieder an, aber weniger fest als früher. Dann stützte sie ihren Ellbogen auf den Tisch und bedeckte mit der Hand ihre Augen.

»Wenn etwas Derartiges zur Zeit meiner Jugend vorgefallen wäre«, sagte Madame Wititterly – wir bemerken nebenbei, daß darüber eine ziemliche Frist hingeschwunden sein mochte –, »so würde es in der Tat kein Mensch geglaubt haben.«

»Ach, es wird auch kein Mensch glauben, zu welchen Leiden ich verdammt zu sein scheine, wenn er es nicht mit mir fühlen kann!« flüsterte Käthchen.

»Sprechen Sie mir nicht von ›verdammt zu sein scheinen‹ und ›leiden‹, Mamsell Nickleby, wenn ich bitten darf«, sagte Madame Wititterly mit einer Schrillheit des Tones, die bei einer so gebrechlichen Dame wirklich ungemein überraschen mußte. »Ich will keine Erwiderung, Mamsell Nickleby. Ich bin an Erwiderungen nicht gewöhnt und werde sie auch keinen Augenblick dulden. – Hören Sie?« fügte sie bei, indem sie etwas inkonsequent dennoch eine Erwiderung zu erwarten schien.

»Ich höre es allerdings, Madame«, versetzte Käthchen, »und zwar mit einer Überraschung, die ich nicht auszudrücken vermag.«

»Ich habe Sie immer als eine für Ihre Stellung besonders wohlanständige junge Person betrachtet«, entgegnete Madame Wititterly; »und da Sie gesund aussehen, ordentlich in Ihrer Kleidung sind und dergleichen, so habe ich ein Interesse an Ihnen genommen und tue es auch noch, da ich dieses für eine Art von Pflicht halte, die ich der achtbaren alten Frau, Ihrer Mutter, schuldig bin. Aber eben deshalb, Mamsell Nickleby, muß ich Ihnen ein für allemal sagen und Sie bitten, daß Sie sich meine Worte zu Herzen nehmen. Ich verlange durchaus, daß Sie Ihr dreistes Benehmen gegen die Herren, die dieses Haus besuchen, ändern. Es ist in der Tat nicht passend« – fuhr Madame Wititterly fort, indem sie während dieser Worte ihre keuschen Augen schloß – »es ist unschicklich, äußerst unschicklich!«

»Ach!« rief Käthchen, indem sie ihre Augen gen Himmel richtete und die Hände zusammenschlug, »muß auch diese grausame Prüfung noch über mich kommen? Ist es nicht genug, daß ich Tag und Nacht gelitten und geduldet habe, und daß ich mich fast selber verachten mußte aus Scham, mit solchen Leuten in Berührung gebracht worden zu sein! Muß auch diese ungerechte und ganz grundlose Beschuldigung auf mein Haupt fallen?«

»Wollen Sie sich erinnern, Mamsell Nickleby«, sagte Madame Wititterly, »daß Sie mich geradezu einer Unwahrheit beschuldigen, wenn Sie sich Ausdrücke wie ›ungerecht‹ und ›grundlos‹ – erlauben.«

»Das ist auch meine Absicht«, versetzte Käthchen mit edlem Unwillen. »Es ist mir gleichgültig, ob Sie aus eigenem Antrieb oder aus Veranlassung anderer mir einen solchen Vorwurf machen – jedenfalls ist er so niederträchtig wie böswillig unwahr. Ist’s möglich«, rief Käthchen, »daß eine meines eigenen Geschlechts zusehen und nicht bemerken konnte, welchen Jammer mir diese Menschen bereiteten? Ist es möglich, daß Sie, Madame, anwesend sein konnten, ohne die beleidigende Dreistigkeit, die aus jedem ihrer Blicke sprach, zu gewahren? Konnte es Ihnen entgehen, daß diese Wüstlinge, die alle Achtung gegen Sie, gegen ihre eigene Ehre und gegen alles Schicklichkeitsgefühl beiseite setzten, bei ihrem Eindringen in Ihr Haus nur einen bestimmten Zweck hatten, der darin besteht, ihre Absichten gegen ein freund- und hilfloses Mädchen auszuführen, das, sogar ohne dieses demütigende Geständnis, Beistand und Teilnahme von einer so viel älteren Frau hätte sollen erwarten dürfen? Nein – nein, ich kann es nicht glauben, daß Sie von all dem nichts bemerkten!«

Wenn das arme Käthchen nur die mindeste Menschenkenntnis besessen hätte, so würde sie es doch gewiß, trotz der Aufregung, in die sie gesetzt worden war, nicht gewagt haben, so unüberlegte Äußerungen fallen zu lassen. Der Erfolg war auch genau so, wie ihn jeder von mehr Weltkenntnis voraussehen konnte. Madame Wititterly hatte den Angriff auf ihre Wahrheitsliebe mit musterhafter Ruhe hingenommen und Käthchens Schilderung ihrer eigenen Leiden mit dem größten Heldenmut mit angehört. Als aber Käthchen auf die geringe Achtung hindeutete, mit der sie von den Herren behandelt wurde, zeigten sich bereits Symptome heftiger Erregung, und als diesem Schlage gar eine Hinweisung auf ihr höheres Alter folgte, so fiel sie unter jämmerlichem Kreischen auf das Sofa zurück.

»Was gibt’s?« rief Herr Wititterly, ins Zimmer stürzend. »Himmel – was sehe ich! Julia! Julia! Blicke auf, mein Herz – blicke auf!«

Da aber Julia durchaus nicht aufblicken wollte und nur um so lauter schrie, so zog Herr Wititterly die Klingel und tanzte wie wahnsinnig um das Sofa herum, auf dem Madame Wititterly lag, wobei er ohne Unterlaß nach Sir Tumley Snuffim rief und fortwährend nach einer Erklärung des Auftritts fragte.

»Lauf zu Sir Tumley!« rief Herr Wititterly dem Boy mit drohend geschwungenen Fäusten zu.

»Ich wußte es wohl, Mamsell Nickleby«, fuhr er mit melancholisch-triumphierender Miene fort, daß diese Gesellschaft zu viel für sie sein würde. Da ist alles Geist und Leben, jedes Wort, das gesprochen wird.«

Mit dieser Versicherung nahm Herr Wititterly seine hingestreckte Gattin auf und schleppte sie nach ihrem Bett.

Käthchen wartete, bis Sir Tumley Snuffim seinen Besuch gemacht und den Bericht erstattet hatte, daß Madame Wititterly durch die Dazwischenkunft einer gnädigen Vorsehung – Sir Tumleys eigene Worte – in Schlaf verfallen sei. Sie kleidete sich dann hastig zum Ausgehen an, versprach in ein paar Stunden zurückzukommen und eilte dem Hause ihres Onkels zu.

Ralph Nickleby hatte einen guten – einen ganz glücklichen Tag gehabt. Er ging in seinem kleinen Hinterzimmer mit auf dem Rücken zusammengeschlagenen Armen auf und ab und berechnete im Kopf all die Summen, die er aus dem Geschäfte des Morgens ergaunert hatte oder zu ergaunern hoffte. Sein Mund verzog sich dabei zu einem harten, strengen Lächeln, und das Eherne der Linien desselben wie auch der verschmitzte Blick seines ruhigen, stechenden Auges schienen anzudeuten, daß er es nicht an Pfiffen und Schlichen fehlen zu lassen gedächte, wenn dadurch der Gewinn vergrößert werden könnte.

»Sehr gut!« dachte Ralph, ohne Zweifel in Beziehung auf irgendeinen Vorfall des Tages. »Er bietet dem Wucherer Trotz – wirklich? Nun wir werden ja sehen. Ehrlichkeit ist die beste Klugheit‘ – meinst du? Auch das können wir probieren.«

Er hielt eine Weile inne und setzte dann seinen Spaziergang wieder fort.

»Er begnügt sich«, setzte Ralph sein Selbstgespräch fort, indem er den Mund zu einem milderen Lächeln verzog, »seinen anerkannt ehrenwerten Charakter gegen die Macht des Geldes ankämpfen zu lassen – der Treber, wie er es nennt. Ha! ha! Was für ein Dummkopf muß der Kerl sein – Treber – gar Treber! – Wer ist da?«

»Ich«, versetzte Newman Noggs hereinsehend. »Ihre Nichte.«

»Was ist mit ihr?« fragte Ralph scharf.

»Sie ist hier.«

»Hier?«

Newman winkte mit dem Kopf gegen sein kleines Gemach, um dadurch anzudeuten, daß sie dort harre.

»Was will sie?« fragte Ralph.

»Weiß nicht«, entgegnete Newman. »Soll ich fragen?« fügte er rasch bei.

»Nein«, erwiderte Ralph. »Führen Sie sie her – doch halt!«

Er stellte hastig eine mit einem Vorlegschloß versehene Geldkasse, die auf dem Tische stand, beiseite, und legte statt ihrer einen leeren Geldbeutel hin.

»So«, sagte Ralph; »jetzt kann sie hereinkommen.«

Newman schnitt eine grinsende Fratze ob dieses Manövers, winkte der Dame hereinzutreten, stellte ihr einen Sitz hin und hinkte langsam hinaus, indem er Ralph über die Achseln verstohlen einen Nick zuwarf.

»Nun«, begann Ralph in ziemlich rauhem Ton, obgleich in seinem Benehmen mehr Freundlichkeit lag, als er gegen sonst jemanden an den Tag gelegt haben würde: »nun, meine – Liebe. Was gibt’s?«

Käthchen schlug ihre in Tränen schwimmenden Augen auf und gab sich alle Mühe, ihre Erregung niederzukämpfen und zu sprechen – aber umsonst. Sie ließ ihren Kopf sinken und schwieg. Sie hatte ihr Gesicht mit den Händen bedeckt, aber Ralph konnte sehen, daß sie weinte.

»Ich kann den Grund erraten«, dachte Ralph, nachdem er sie eine Weile schweigend angeblickt hatte: »ja, ich kann – ich kann den Grund erraten. Je nun« – meinte er dann weiter, denn der Anblick des Kummers seiner schönen Nichte hatte ihn ganz aus der Fassung gebracht –, »was hats viel zu sagen? Ein paar Tränen – und außerdem ist’s eine herrliche Lehre für sie – eine herrliche Lehre.«

»Was führt dich zu mir?« fragte Ralph, indem er ihr gegenüber einen Stuhl hinstellte und sich niederließ.

Er fuhr jedoch etwas zurück ob der plötzlichen Festigkeit, mit der Käthchen aufsah und ihm antwortete.

»Was mich zu Ihnen führt, Sir«, sagte sie, »ist von der Art, daß es Ihnen das Blut in die Wangen jagen und Ihr Gesicht glühen machen muß, wenn Sie es hören, wie es auch die gleiche Wirkung auf mich übt, wenn ich es erzähle. Ich bin mißhandelt worden; meine Gefühle wurden verletzt, gekränkt, unheilbar verwundet – und zwar durch Ihre Freunde.«

»Freunde?« rief Ralph mit Nachdruck. »Ich habe keine Freunde, Mädchen.«

»Nun denn – durch die Männer, die ich hier sah«, entgegnete Käthchen rasch. »Wenn es nicht Ihre Freunde waren und Sie diese kannten – ach, um so mehr Schande für Sie, Onkel, daß Sie mich in ihre Gesellschaft brachten. Wäre ich dem, was mir hier widerfuhr, durch irgendein übel angebrachtes Vertrauen oder eine unvollkommene Kenntnis Ihrer Gäste ausgesetzt worden, so würden Sie sich kaum zu entschuldigen vermögen. Wenn Sie es aber taten, während Sie den Charakter dieser Menschen kannten – wie ich jetzt glauben muß –, so war es eine Unmenschlichkeit und Niederträchtigkeit, die nicht ihresgleichen hat.«

Ralph rückte bei dieser unverhohlenen Sprache in höchstem Erstaunen seinen Stuhl etwas zurück und betrachtete Käthchen mit strengem Blick. Sie begegnete aber demselben mit Stolz und Festigkeit, und obgleich ihr Antlitz äußerst blaß war, so erschien es doch in seiner Aufregung edler und schöner als je.

»Es ist etwas von dem Blut des Knaben in dir, wie ich bemerke«, sagte Ralph in seinem rauhesten Ton, da ihn etwas in ihrem blitzenden Auge an sein letztes Zusammentreffen mit Nicolaus erinnerte.

»Ich hoffe es«, versetzte Käthchen, »und darf stolz darauf sein. Ich bin jung, Onkel, und die Not und der Kummer meiner Lage haben es niedergehalten. Aber heute hat es allen Zwang durchbrochen, und – mag kommen, was da will – ich werde, so wahr ich das Kind Ihres Bruders bin, diese Kränkungen nicht länger ertragen.«

»Welche Kränkungen, Mädchen?« fragte Ralph mit Schärfe.

»Rufen Sie sich das, was hier an dieser Stelle vorging, ins Gedächtnis und fragen Sie sich selbst«, sagte Käthchen hoch errötend. »Onkel, Sie müssen – und ich bin überzeugt, daß Sie es werden –, Sie müssen mich von dem schändlichen und entehrenden Umgang befreien, dem ich bis jetzt ausgesetzt war. – Es ist nicht meine Absicht«, fuhr Käthchen fort, indem sie auf den Alten zueilte und ihre Hand auf seine Schulter legte, »es ist nicht meine Absicht, leidenschaftlich und heftig zu sein, und ich bitte um Verzeihung, wenn es den Anschein hatte, lieber Onkel. Aber Sie wissen in der Tat nicht, was ich erduldet habe. Sie kennen das Herz eines jungen Mädchens nicht – und ich kann dies auch unmöglich von Ihnen verlangen; aber ich bin überzeugt, daß Sie mir helfen werden, wenn ich Ihnen sage, daß ich elend bin und daß mein Herz bricht. Ja, gewiß – gewiß, Sie werden mir helfen.«

Ralph sah sie einen Augenblick an, wandte dann den Kopf seitwärts und stampfte heftig mit dem Fuß auf den Boden.

»Ich habe von einem Tag auf den andern gehofft«, sagte Käthchen, indem sie sich über ihn hinbeugte und ihre kleine Hand schüchtern in die seine legte, »diese Verfolgung würde ein Ende nehmen. Ein Tag verstrich um den andern, und ich mußte sogar heiter scheinen, trotz der tiefen Wunde in meinem Herzen. Ich hatte niemanden, bei dem ich mir Rat holen oder Schutz suchen konnte. Die Mutter hält diese Menschen für achtbar, reich und angesehen; und wie kann ich – wie kann ich sie enttäuschen – da sie sich in diesem Wahn so glücklich fühlt – das einzige Glück, das sie hat? Die Dame, in deren Haus Sie mich untergebracht haben, ist keine Frau, der ich eine Angelegenheit von so zarter Natur anvertrauen könnte, und ich komme daher zu Ihnen, dem einzigen Freund, der mir nahe ist – fast dem einzigen Freund, den ich überhaupt besitze –, um Ihre Hilfe, Ihren Beistand zu erflehen.«

»Und wie könnte ich dir beistehen, Kind?« versetzte Ralph, indem er von seinem Stuhle aufstand und wieder im Zimmer auf und ab ging.

»Ich weiß. Sie haben Einfluß bei einem dieser Männer«, entgegnete Käthchen mit Nachdruck. »Würde nicht ein Wort aus Ihrem Munde sie veranlassen, von ihrem unmännlichen Benehmen abzustehen?«

»Nein«, erwiderte Ralph, indem er sich plötzlich umwandte – »wenigstens das – ich kann nicht über die Sache mit ihm sprechen, selbst wenn sich ein Erfolg davon versprechen ließe.«

»Sie können nicht?«

»Nein«, sagte Ralph, der mit einem Male regungslos stillstand und seine Hände hinter dem Rücken noch dichter zusammenklammerte, »ich kann es nicht.«

Käthchen trat ein paar Schritte zurück und sah ihn an, als zweifle sie, ob sie recht gehört hätte.

»Wir stehen in Geschäftsverbindung«, sagte Ralph, indem er sich abwechselnd auf den Zehen und den Fersen wiegte und seiner Nichte kaltblütig ins Gesicht sah – »ja in Geschäftsverbindung, und ich darf es nicht wagen, sie zu beleidigen. Was ist’s denn auch im Grunde? Wir alle haben unsere Nöte, und das ist eine von den deinigen. Manche Mädchen würden stolz sein, solche Kavaliere zu ihren Füßen liegen zu sehen.«

»Stolz?« rief Käthchen.

»Ich sage nicht«, versetzte Ralph, indem er seinen Zeigefinger erhob, »daß du nicht recht daran tust, sie zÿu verachten. Nein, du zeigst hierin nur dein richtiges Urteil, und in der Tat, ich wußte es voraus, daß du so handeln würdest. Was willst du nun weiter, da deine Stellung in jeder Hinsicht eine behagliche ist? Wie magst du von Leiden sprechen? Wenn dieser junge Lord dir überall nachläuft und dir seine läppischen Albernheiten ins Ohr flüstert – was macht es? Wenn’s auch eine unehrenhafte Leidenschaft ist – nun so sei’s drum – er wird es bald satt haben. Es kommt ihm irgend etwas Neues in dn Wurf, und du bist erlöst. Inzwischen –«

»Inzwischen« – fiel Käthchen mit einem Stolz und mit einer Entrüstung ein, wie sie für ihre Lage paßten – »soll ich die Verachtung meines eigenen Geschlechtes auf mich häufen und das Spielzeug des andern sein – mit Recht verdammt von allen züchtigen Frauen, verachtet von allen ehrenhaften Männern, gesunken in meiner eigenen Achtung und erniedrigt vor jedem Auge, das auf mich blickt. Nein, ich ertrage es nicht länger, und wenn ich mir die Finger bis auf die Knochen abarbeiten und mich den rauhesten und schwersten Arbeiten unterziehen müßte. Mißverstehen Sie mich nicht! Ich will Ihrer Empfehlung keine Unehre machen und in dem Hause bleiben, in dem Sie mich untergebracht haben, bis ich durch die Bedingungen meines Vertrages berechtigt bin, es zu verlassen. Aber merken Sie sich’s, daß ich diese Männer nie wiedersehen werde. Wenn ich das Haus verlasse, so werde ich mich vor jenen Elenden und vor Ihnen verbergen, und ich hoffe dann, indem ich meine Mutter durch harte Händearbeit ernähre, wenigstens im Frieden leben zu können; denn gewiß – Gott wird mich nicht verlassen.«

Mit diesen Worten winkte sie mit der Hand, eilte aus dem Zimmer und ließ Ralph Nickleby regungslos wie eine Steinfigur stehen.

Die Überraschung, womit Käthchen, als sie die Zimmertür schloß, dicht hinter dieser Newman Noggs wie eine Vogelscheuche im Winterquartier kerzengerade in einer kleinen Mauervertiefung stehen sah, hätte ihr fast einen Schrei erpreßt. Aber Newman legte den Finger auf seine Lippen, und so behielt sie Geistesgegenwart genug, an sich zu halten.

»Nicht doch«, sagte Newman, als er aus seinem Winkel hervorschlüpfte und sie über die Hausflur hingeleitete, »Sie müssen nicht weinen – Sie müssen nicht weinen.«

Wir müssen nebenbei bemerken, daß zwei große Tränen in Newmans Wimpern hingen, als er so sprach.

»Ich sehe, wie die Sachen stehen«, fuhr der arme Noggs fort, indem er etwas aus der Tasche zog, was einem alten Wischlappen glich, und damit Käthchens Auge so sanft, als ob sie ein Kind wäre, abtrocknete. »Sie lassen Ihren Tränen jetzt den Lauf. Nun, nun, das ist schon gut und gefällt mir, aber Sie taten recht, vor ihm sich zusammenzunehmen. Ja, ja! Hahaha! Ach ja. Armes Kind! Ach ja. Armes Kind!«

Unter diesen unzusammenhängenden Ausrufen wischte Newman seine eigenen Augen mit dem vorerwähnten Wischlappen und hinkte nach der Haustür, um das Mädchen hinauszulassen.

»Weinen Sie nicht mehr«, sagte Ncwman, »ich werde Sie bald besuchen. Hahaha! Und auch ein anderer soll es tun. Ja, ja! Haha!«

»Gott behüte Sie«, entgegnete Käthchen hinauseilend: »Gott behüte Sie.«

»Sie gleichfalls«, versetzte Noggs, indem er die Tür wieder ein wenig öffnete, um ihr nachrufen zu können: »Hahaha! Hohoho!«

Und Newman Noggs öffnete die Tür abermals, um ihr freudig zuzuwinken und zu lachen; dann schloß er sie, um traurig den Kopf zu schütteln und zu weinen. Ralph blieb in derselben Stellung, bis er die Tür ins Schloß fallen hörte, dann zuckte er die Achseln, ging einigemal im Zimmer hin und her – zuerst rasch, aber allmählich langsamer, je ruhiger er wurde, und setzte sich endlich an seinem Pult nieder.

Es gehört unter die Rätsel der menschlichen Natur, deren man wohl gewahrt, ohne sie jedoch lösen zu können: – obgleich Ralph in jenem Augenblick wegen seines Betragens gegen das unschuldige, aufrichtige Mädchen keine Gewissensbisse fühlte, und obgleich seine zügellosen Kumpane genau das getan, was er erwartet, gewünscht und seinen Zwecken förderlich erachtet hatte, so haßte er sie doch um ihres Betragens willen aus dem Grunde seiner Seele. »Wartet nur«, sagte Ralph, indem er finster zürnend umherblickte und die geballte Hand schüttelte, als die Gesichter der beiden Wüstlinge vor seinem geistigen Auge auftauchten; »ihr sollt mir dafür bezahlen. Oh, ihr sollt mir dafür bezahlen!«

Während der Wucherer sich bei seinen Büchern und Papieren Trost holen wollte, ging vor der Tür seines Bureaus ein Auftritt vor, der ihn nicht wenig überrascht haben würde, wenn er irgendwie hätte Kunde davon erhalten können.

Newman Noggs war die einzige handelnde Person. Er stand in einiger Entfernung von der Tür, der er das Gesicht zukehrte, hatte die Ärmel seines Rockes über die Handgelenke zurückgeschlagen und war eben beschäftigt, die kräftigsten und kunstgerechtesten Hiebe in die leere Luft zu führen.

Bei dem ersten Anblicke hätte das bloß als eine kluge Vorsichtsmaßregel eines zu einer sitzenden Lebensweise bestimmten Mannes erscheinen mögen, der die Absicht hatte, die Brust zu erweitern und seine Armmuskeln zu kräftigen. Aber die lebhafte Freude, die sich in Newman Noggs‘ von Schweiß triefendem Gesicht spiegelte, der wunderbare Nachdruck, womit er seine Schläge fortwährend gegen eine bestimmte Stelle ungefähr fünf Fuß über dem Boden führte, und die unermüdliche Ausdauer, in der er sich abarbeitete, würde einem aufmerksamen Beobachter hinreichend erklärt haben, daß er im Geiste den Körper seines Chefs, des Herrn Ralph Nickleby, windelweich prügelte.

Zweites Kapitel


Zweites Kapitel

Von Herrn Ralph Nickleby, seinen Geschäften und Unternehmungen; desgleichen von einer großen Aktiengesellschaft, die für das ganze Land von höchster Bedeutung ist.

Herr Ralph Nickleby war, im eigentlichen Sinne des Wortes, weder Kaufmann, noch Bankier, noch Notar, und man hätte ihn überhaupt nicht leicht irgendeinem bestimmten Gewerbe zuteilen können. Demungeachtet aber ließ sich aus dem Umstande, daß er in einem geräumigen Hause in Golden Square wohnte, das nebst einer Messingplatte an der Haustür eine zweite viel kleinere an dem Türpfosten linker Hand hatte, die sich an dem Messingmodell einer Kinderhand befand und die Aufschrift »Bureau« trug, entnehmen, daß Herr Ralph Nickleby irgendein Geschäft betrieb oder zu betreiben schien. Dies ging auch noch zum Überfluß aus der weiteren Tatsache hervor, daß zwischen halb zehn und fünf Uhr täglich ein Mann mit einem aschfahlen Gesicht und in einem rostbraunen Anzug zugegen war, der in einem speisekammerähnlichen Gemache am Ende der Hausflur auf einem ungewöhnlich harten Stuhl saß und stets eine Feder hinter dem Ohr hatte, wenn er auf den Ruf der Klingel die Haustür öffnete.

Golden Square ist ziemlich abgelegen; es hat seine Zeit durchlebt und gehört nunmehr unter die herabgekommenen Plätze, so daß nur wenige Geschäftsleute dort ihren Aufenthalt wählen. Die Wohnungen werden meistens vermietet, und die ersten und zweiten Stockwerke gewöhnlich bereits möbliert an ledige Herren abgegeben, die zugleich auch im Hause einen Kosttisch finden. Es ist der vorzugsweise Zufluchtsort der Fremden. Die sonnverbrannten Männergestalten mit großen Ringen, schweren Uhrketten und buschigen Backenbärten, die sich zwischen vier und fünf des Nachmittags unter der Säulenhalle des Opernhauses und um Herrn Seguins Bureau versammeln, sobald er es geöffnet hat, um die Logenbillets auszugeben – all diese leben in Golden Square oder in dessen Nähe. Einige Violinisten und ein Trompeter von der Opernbande haben hier ihren Wohnsitz aufgeschlagen. In den Kosthäusern wird musiziert, und die Töne der Klaviere und Harfen schwimmen in den Abendstunden um das Haupt der trauernden Statue, des Schutzgeistes eines kleinen wirren Buschwerks in dem Mittelpunkt des Platzes. In Sommernächten kann man aus den offenen Fenstern Gruppen von dunklen schnurrbärtigen Gesichtern sehen, die schreckliche Rauchwolken von sich blasen. Die Töne rauher, im Singen sich übender Stimmen unterbrechen die Stille des Abends, und der Rauch aller Sorten von Tabak durchduftet die Luft. Schnupftabak und Zigarren, Flöten, Violinen oder Violoncellos streiten hier miteinander ohne Unterlaß um die Oberherrschaft. Es ist das Reich des Rauches und der Töne. Herumziehende Musikantenbanden fühlen sich in Golden Square wieder neu belebt und erbeben unwillkürlich, wenn sie ihre Stimmen an diesem Ort laut werden lassen.

Dem Anscheine nach eignet sich ein derartiger Platz nicht besonders für einen Geschäftsmann. Aber Herr Ralph Nickleby wohnte bereits seit vielen Jahren hier, ohne daß man je eine Beschwerde von ihm vernommen hätte. Er kannte niemanden in der ganzen Umgebung und niemand kannte ihn, obgleich er in dem Rufe eines unermeßlich reichen Mannes stand. Die Handwerker oder Kaufleute hielten ihn für eine Art von Rechtsgelehrten, und die andern Nachbarn meinten, er wäre ein Generalagent oder so etwas; alle diese Vermutungen waren aber so genau und richtig, wie Mutmaßungen über anderer Leute Angelegenheiten gewöhnlich sind oder zu sein pflegen.

Herr Ralph Nickleby saß eines Morgens, vollständig zum Ausgehen angekleidet, in seinem Bureau. Er trug einen flaschengrünen Umhang über einem blauen Frack, eine weiße Weste, graumelierte Hosen und darüberhergezogene Wellingtonstiefeln. Der Zipfel eines schmalgefältelten Busenstreifs kämpfte sich, als ob er sich mit Gewalt sehen lassen wolle, zwischen dem Kinn und dem obersten Knopfe seines Umhangs hervor, während das besagte Überwämschen nicht weit genug herunterging, um eine lange, aus einer Reihe von einfachen goldenen Ringen bestehende Uhrkette zu verbergen. Diese nahm in dem Griffe einer goldenen Repetieruhr in Herrn Nicklebys Tasche ihren Ursprung und endete in zwei Schlüssel, von denen der eine zu der Uhr selbst und der andere zu irgendeinem Patentvorlegeschloß gehörte. Er trug etwas Puder in den Haaren, als wünsche er, sich dadurch ein wohlwollendes Aussehen zu geben. Wenn dies aber wirklich seine Absicht war, so hätte er wohl auch sein Gesicht pudern müssen, denn in jeder Falte desselben, nicht minder wie in seinen kalten, unsteten Augen lag etwas, was die im Innern hausende Arglist gegen den Willen des Mannes kundgab. Sei dem jedoch, wie ihm wolle – er saß einmal da, und in der Einsamkeit, in der er sich befand, brachten weder Puder noch Falten noch die Augen auch nur den mindesten guten oder schlimmen Eindruck auf irgend jemand hervor, weshalb auch alles dieses vor der Hand von keinem Belange für uns ist.

Herr Nickleby schlug ein auf seinem Pulte liegendes Kontobuch zu, warf sich in seinem Stuhle zurück und blickte mit zerstreuter Miene durch die glanzlosen Fensterscheiben. Einige Häuser in London haben einen trübseligen kleinen Raum hinter sich, der gewöhnlich durch vier hohe, weißgetünchte Mauern umschlossen ist, von denen die Schornsteine zürnend herabblicken. Auf diesem Erdfleckchen welkt alle Jahre ein verkümmerter Baum, der im Spätherbst, wenn andere Bäume ihre Blätter verlieren, tut, als ob er etwas Laub hervorbringen wolle, gar bald aber wieder von seiner Anstrengung abläßt und bis zum nächsten Sommer ausgedörrt dasteht, wo er dann den gleichen Prozeß wiederholt und vielleicht, wenn das Wetter besonders günstig ist, irgendeinen rheumatischen Sperling in Versuchung führt, auf seinen Zweigen zu zirpen. Man nennt diese dunkeln Höfe bisweilen »Gärten«; doch darf man nicht glauben, daß sie jemals angebaut werden, da sie allem Anschein nach nichts weiter als ein unbenutztes Land mit der verwitterten Vegetation des ursprünglichen Tonbodens sind. Niemand denkt daran, an solchen verödeten Plätzen spazierenzugehen oder sie in irgendeiner Weise zu benutzen. Der Mieter wirft vielleicht gleich bei seinem Einzuge – dann aber nimmer – einige Packkörbe, ein halb Dutzend zerbrochener Gläser und ähnlichen Schutt hinein, und da bleibt alles, bis wieder ausgezogen wird, liegen, um unter dem spärlichen Buchsbaum, dem verkümmerten Immergrün und den zerbrochenen Blumentöpfen im Schmutz und Kot nach Belieben zu modern.

Nach einem derartigen Raum blickte Herr Ralph Nickleby, als er, die Hände in die Taschen gesteckt, durch das Fenster sah. Er hatte seine Augen auf eine krumme Tanne geheftet, die irgendein früherer Hausbewohner in eine ehedem grüne Kufe gepflanzt und vor Jahren dagelassen hatte, wo sie nach und nach vom Moder aufgezehrt wurde. Der Anblick hatte gerade nichts Einladendes; aber Herr Nickleby war ganz in düstere Gedanken verloren und betrachtete daher diesen Gegenstand mit weit größerer Aufmerksamkeit, als er solche bei klarerem Bewußtsein vielleicht der seltensten ausländischen Pflanze geschenkt haben würde. Endlich wanderten seine Augen zu einem kleinen schmutzigen Fenster linker Hand, durch das das Gesicht des Schreibers undeutlich sichtbar war; und da dieser Ehrenmann gerade aufblickte, so winkte er diesem, hereinzutreten.

Der Aufforderung entsprechend, erhob sich der Schreiber von dem hohen Stuhle, der von dem ewigen Auf- und Abrutschen wie poliert aussah, und zeigte sich in Herrn Nicklebys Zimmer. Er war ein großer Mann in mittleren Jahren mit einem Paar Glotzaugen, von denen das eine unbeweglich war, einer Karfunkelnase, einem leichenfahlen Gesichte und einem Anzug, der aufs äußerste abgetragen, um ein namhaftes zu knapp und kurz, und mit so wenigen Knöpfen versehen war, daß man sich wohl höchlich verwundern durfte, wie es der Eigentümer anfing, um ihn überhaupt auf dem Leibe zu behalten.

»War das halb ein Uhr, Noggs?« fragte Herr Nickleby mit einer scharfen und unangenehmen Stimme.

»Nicht mehr als fünfundzwanzig Minuten nach der –« Noggs wollte beifügen, nach der Wirtshausuhr; er besann sich jedoch noch und ergänzte den Schluß seiner Rede – »nach der Sonnenzeit.«

»Meine Uhr ist stehengeblieben«, sagte Herr Nickleby, »ohne daß ich mir denken könnte, warum.«

»Nicht aufgezogen«, meinte Noggs.

»Nein, das ist nicht der Fall«, versetzte Herr Nickleby.

»Dann vielleicht zu stark aufgezogen«, entgegnete Noggs.

»Kann auch nicht wohl sein«, entgegnete Herr Nickleby.

»Muß sein«, erwiderte Noggs.

»Nun, meinetwegen«, sagte Herr Nickleby, die Repetieruhr wieder in seine Tasche steckend. »Vielleicht ist’s so.«

Noggs gab einen eigentümlich grunzenden Laut von sich, wie er gewöhnlich am Schlusse eines jeden Wortwechsels mit seinem Herrn zu tun pflegte, um dadurch anzudeuten, daß das Recht auf seiner eigenen Seite sei, und versank darauf, da er selten sprach, ohne daß er angeredet wurde, in ein grämliches Schweigen, wobei er sich langsam die Hände rieb, an den Fingern knackte und sie in allen möglichen Richtungen verdrehte. Der Umstand, daß er diese Manipulationen bei jeder Gelegenheit anbrachte, und daß er dem gesunden Auge denselben starren und ungewöhnlichen Ausdruck zu geben wußte, den das andere besaß, wodurch es unmöglich wurde, zu ermitteln, nach was er sehe, war eine von den zahlreichen Eigentümlichkeiten des Herrn Noggs, der jedem, selbst dem gleichgültigsten Beobachter auf den ersten Blick auffallen mußte.

»Ich will jetzt nach der London Taverne gehen«, sagte Herr Nickleby.

»Öffentliche Versammlung?« fragte Noggs.

Herr Nickleby nickte bejahend und versetzte:

»Ich erwarte einen Brief von meinem Sachwalter wegen Ruddles Pfandverschreibung. Wenn das Schreiben überhaupt eintrifft, so muß es um zwei Uhr hier sein. Ich werde um diese Zeit die City verlassen und auf der linken Seite des Wegs nach Charing-Croß gehen. Wenn also Briefe anlangen, so werden Sie mir dieselben entgegenbringen.«

Noggs nickte, und während er nickte, wurde die Klingel des Bureaus gezogen. Der Herr blickte von seinen Papieren auf, und der Schreiber blieb unbeweglich stehen.

»Man hat geläutet«, sagte Noggs, als halte er es für nötig, seinen Gebieter darauf aufmerksam zu machen. »Zu Hause?«

»Ja.«

»Für jedermann?«

»Ja.«

»Für den Steuereinnehmer?«

»Nein. Er soll ein andermal wiederkommen.«

Noggs ließ sein gewohntes Grunzen vernehmen, was so viel als »ich dacht‘ es ja« sagen sollte, und ging, da das Läuten wiederholt wurde, nach der Tür. Er kehrte übrigens schnell wieder mit einem blassen Herrn, namens Bonney, zurück, der eine sehr schmale weiße Halsbinde ganz nachlässig umgeknöpft trug, mit verwirrten Haaren und ungestümer Hast ins Zimmer trat, und überhaupt aussah, als wäre er in der Nacht aus den Federn geklopft worden, ohne daß er sich zum Ankleiden hätte Zeit nehmen können.

»Mein lieber Nickleby«, sagte der Herr, seinen weißen Hut abnehmend, der mit Papieren so vollgepfropft war, daß er kaum auf dem Kopfe festsitzen konnte – »es ist kein Augenblick zu verlieren; ich habe einen Wagen vor der Türe. Sir Matthäus Pupker übernimmt den Vorsitz, und auf drei Parlamentsmitglieder können wir mit Bestimmtheit rechnen. Ich habe selbst zwei von ihnen wohlbehalten aus dem Bett gebracht, und der dritte, der die ganze Nacht durch bei Crockfords am Spieltische gesessen, ist eben nach Hause gegangen, um seine Wäsche zu wechseln und einige Flaschen Sodawasser zu sich zu nehmen; er wird jedoch bestimmt zur rechten Zeit dort eintreffen, um vor der Versammlung seine Rede zu halten. Die durchwachte Nacht hat ihn zwar in einen etwas aufgeregten Zustand versetzt, aber das hat nichts zu sagen; seine Worte werden dadurch nur um so mehr an Nachdruck gewinnen.«

»Es scheint, man kann sich etwas Nettes von der Sache versprechen«, versetzte Herr Ralph Nickleby, dessen bedächtiges Benehmen in einem scharfen Gegensatz zu der Lebhaftigkeit des andern Geschäftmannes stand.

»Etwas Nettes?« wiederholte Herr Bonney. »Es ist die schönste Idee, die je in eines Menschen Gehirn entsprang. Vereinigte, verbesserte, hauptstädtische, warme Semmel- und Kuchenbäckerei- und pünktliche Ablieferungsgesellschaft. Kapital fünf Millionen in fünfmal hunderttausend Aktien zu je zehn Pfund. Ha, schon der Name wird machen, daß die Aktien in zehn Tagen mit Agio verkauft werden.«

»Und wenn’s so weit ist?« entgegnete Herr Ralph Nickleby lächelnd.

»Wenn’s so weit ist, so wissen Sie so gut wie irgendeine andere lebende Seele, was man damit anzufangen hat, und wie man sich in Zeiten ganz ruhig aus der Sache ziehen kann«, versetzte Herr Bonney, indem er dem Kapitalisten vertraulich auf die Schulter klopfte. »Übrigens, Sie haben da einen gar seltsamen Menschen zum Schreiber.«

»Hm, es ist ein armer Teufel«, sagte Ralph, seine Handschuhe anziehend; »und doch hat Newman Noggs seinerzeit sich Pferde und Jagdhunde gehalten.«

»Ach was!« versetzte der andere gleichgültig.

»Ja«, fuhr Ralph fort, »und zwar vor noch nicht langer Zeit; aber er brachte sein Geld durch, legte es aufs Geratewohl an, borgte auf Zinsen und wurde, mit einem Worte, aus einem vollständigen Narren in kurzer Zeit zu einem Bettler. Er ergab sich dem Trinken, wurde von einem Schlagfluß gerührt und kam dann zu mir, um ein Pfund zu borgen, weil ich zur Zeit, als er noch in besseren Verhältnissen war –«

»Ah, Sie standen damals mit ihm in Geschäftsverbindung?« entgegnete Herr Bonney mit einem bedeutungsvollen Blicke.

»Ganz richtig«, entgegnete Ralph, »Sie werden begreifen, daß ich ihm nichts leihen konnte.«

»Ganz natürlich!«

»Aber ich bedurfte gerade eines Schreibers und Dieners, der die Tür öffnete usw., weshalb ich ihn aus Barmherzigkeit aufnahm, und so ist er denn seitdem hier geblieben. Ich glaube zwar, daß es in seinem Kopf nicht ganz richtig ist«, fügte Herr Nickleby mit einem Blicke affektierten Mitleids bei – »aber er ist mir nützlich genug, der arme Bursche; ich kann ihn zur Not schon brauchen.«

Der weichherzige Mann unterließ es jedoch, hinzuzusetzen, daß der gänzlich verarmte Newman Noggs ihm fast für einen geringeren Lohn diente, als man gewöhnlich einem dreizehnjährigen Knaben zahlt; und in gleicher Weise fand er es nicht für passend, in seiner kurzen Geschichtserzählung des Umstandes zu erwähnen, daß die außerordentliche Schweigsamkeit des Dieners ihn zu einer besonders wertvollen Person an einem Ort machte, wo so viele Geschäfte abgetan wurden, von denen Ralph wünschen mußte, daß diese außer dem Hause nicht zur Sprache kämen. Der andere Herr war jedoch augenscheinlich sehr beeilt, und so verfügten sich denn beide mit einer Hast nach einer Mietdroschke, daß es Herr Nickleby ganz vergaß, solche unwesentlichen Dinge zu erwähnen.

Als sie in der Bischoftorstraße anlangten, trafen sie auf ein sehr rühriges Treiben. Es war ein sehr windiger Tag, und ein halb Dutzend Männer durchzogen mit ungeheuren Papierbogen die Straße, auf denen mit riesigen Buchstaben die Ankündigung zu lesen war, daß Punkt ein Uhr eine öffentliche Versammlung stattfinden würde, um die Zweckmäßigkeit einer Petition an das Parlament hinsichtlich der Vereinigten, verbesserten, hauptstädtischen, warmen Semmel- und Kuchenbäckerei- und pünktlichen Ablieferungsgesellschaft zu beraten, deren Kapital aus fünf Millionen in fünfmal hunderttausend Aktien zu je zehn Pfund bestände. Die genannten Zahlen waren gebührend in gewaltigen schwarzen Ziffern auf den Plakaten gemalt. Herr Bonney brach sich unter den tiefen Bücklingen der Aufwärter, die ihm die Treppe hinauf Platz machten, mit dem Ellenbogen Bahn und gelangte mit Herrn Nickleby in eine Reihe von Gemächern hinter dem großen öffentlichen Vorplatz, In dem zweiten derselben befand sich ein geschäftsmäßig aussehender Tisch, um den mehrere geschäftsmäßig aussehende Personen versammelt waren.

»Hört!« rief ein Herr mit einem doppelten Kinn, als sich Herr Bonney vorstellte – »einen Stuhl, meine Herren, einen Stuhl!«

Die neuen Ankömmlinge wurden mit allgemeinem Beifall aufgenommen. Herr Bonney trat rasch an das Ende des Tisches, nahm seinen Hut ab, strich mit den Fingern durch das Haar und schlug mit einem kleinen Hammer kräftig auf den Tisch, worauf mehrere Herren »Hört!« riefen und sich gegenseitig leicht zunickten, als wollten sie ihre Bewunderung über dieses geistreiche Benehmen ausdrücken. In demselben Augenblicke riß ein Aufwärter in fieberhafter Aufregung geräuschvoll die Tür auf, stürzte in das Gemach und schrie: »Sir Matthäus Pupker!«

Das Komitee stand auf und klatschte vor Freude in die Hände; und während man noch klatschte, trat Sir Matthäus Pupker ein, begleitet von zwei leibhaftigen Parlamentsmitgliedern, einem irischen und einem schottischen. Alle drei lächelten, verbeugten sich und benahmen sich so liebenswürdig, daß es als ein wahres Wunder hätte erscheinen müssen, wenn irgendwer den Mut gehabt hätte, gegen sie zu stimmen. Besonders war Sir Matthäus Pupker, der auf dem Scheitel seines kleinen runden Kopfes eine Flachsperücke trug, von einer solchen Verbeugungswut befallen, daß die Perücke jeden Augenblick herunterzufliegen drohte. Als sich diese Symptome einigermaßen gelegt hatten, drängten sich die Herren, die mit Sir Matthäus Pupker und den beiden Parlamentsmitgliedern näher vertraut waren, in drei kleine Gruppen um sie her, während die, die sich einer solchen Ehre nicht zu erfreuen hatten, sich sehnsüchtig heranmachten und lächelnd die Hände rieben, in der verzweifelten Hoffnung, etwas anbringen zu können, was die Aufmerksamkeit auf sie lenken möchte. Inzwischen teilten Sir Matthäus Pupker und die beiden andern Parlamentsmitglieder den sie umgebenden Kreisen die Auffassungen mit, die die Regierung hinsichtlich der Aufnahme der Bill hege, berichteten ausführlich, was ihnen die Minister, als sie das letztemal bei denselben gespeist, zugeflüstert, und welche bedeutungsvollen Winke sie dabei hätten fallen lassen. Aus all diesen Vorgängen könnten sie nur die Folgerung ziehen, daß, wenn sich die Regierung irgendeinen Gegenstand vorzugsweise zu Herzen nähme, dieser kein anderer sei, als das Gedeihen der Vereinigten, verbesserten, hauptstädtischen, warmen Semmel- und Kuchenbäckerei- und pünktlichen Ablieferungsgesellschaft.

In der Zwischenzeit, während die Verhandlungsvorbereitungen getroffen und die Ordnung, in der die Sprecher auftreten sollten, festgesetzt wurde, betrachtete das Publikum in dem weiten Raume abwechselnd die leere Tribüne und die Damen auf der Musikantengalerie. Da jedoch der größere Teil der Anwesenden sich schon einige Stunden vorher in dieser erbaulichen Weise unterhalten hatte, und da selbst die angenehmste Zerstreuung, wenn sie allzu lange währt, endlich ermüdet, so begannen einige entschlossene Geister den Boden mit ihren Stiefelabsätzen zu bearbeiten und ihre Unzufriedenheit durch verschiedene Rufe an den Tag zu legen. Diese Musik rührte von denen her, die am längsten da waren und daher der Tribüne am nächsten und dem um der Ordnung willen aufgestellten Polizeipersonal am fernsten standen. Da nun das letztere nicht im Sinn hatte, sich durch das Gedränge durchzukämpfen, trotzdem aber den lobenswerten Wunsch hegte, etwas zu tun, um den Tumult zu beschwichtigen, so begann es sofort allmählich das ruhige, in der Nähe der Tür stehende Volk an den Kragen und Rockschößen zu zerren und gelegentlich einige Hiebe und Stöße mit den Amtsstöcken auszuteilen, ganz in der sinnreichen Weise des Meister Polichinell, dessen glänzendes Beispiel bei diesem Zweig der exekutiven Gewalt, sowohl hinsichtlich der Waffengattung, als der Art ihrer Anwendung, so häufig Nachahmung findet.

Es war bereits zu einigen sehr lebhaften Scharmützeln gekommen, als plötzlich ein lauter Ruf die Aufmerksamkeit selbst der kriegführenden Parteien auf sich zog. Jetzt trat durch eine Nebentür eine lange Reihe von Herren mit unbedeckten Häuptern auf die Tribüne, die mit rückwärts gewandten Blicken laute Freudenrufe ausstießen. Die Ursache davon erklärte sich bald in der Erscheinung des Sir Matthäus Pupker und der beiden andern Parlamentsmitglieder, die unter einem betäubenden Geschrei vortraten und sich gegenseitig durch stumme Winke zu verstehen gaben, daß sie in ihrer ganzen öffentlichen Laufbahn nie einen so glorreichen Augenblick wie den gegenwärtigen erlebt hätten.

Endlich ließ der Lärm nach, wiederholte sich aber aufs neue für die Dauer von fünf Minuten bei der Ankündigung, daß Sir Matthäus Pupker zum Präsidenten gewählt sei. Als sich der Tumult abermals beschwichtigt hatte, schickte sich Sir Matthäus Pupker an zu sagen, welche Gefühle ihn bei dieser feierlichen Gelegenheit durchdrängen, was der gegenwärtige Augenblick in den Augen der Welt sein würde, wie groß die Einsicht seiner Mitbürger vor ihm und der Reichtum und die Achtbarkeit seiner ehrenwerten Freunde hinter ihm sein müßten; und endlich, welchen wichtigen Einfluß auf den Wohlstand, das Glück, die Bequemlichkeit, die Freiheit und sogar auf die ganze Existenz eines freien und großen Volkes ein Institut üben könne, wie das der Vereinigten, verbesserten, hauptstädtischen, warmen Semmel- und Kuchenbäckerei- und pünktlichen Ablieferungsgesellschaft.

Nun trat Herr Bonney vor, um die erste Entscheidung zu beantragen. Er fuhr mit der Rechten durch sein Haar, pflanzte seine Linke gar zierlich gegen seine Rippen, vertraute seinen Hut der Sorgfalt des Herrn mit dem doppelten Kinn, der außerdem auch noch die Weinflaschen für die Redner bereit hielt, und erklärte, daß er den ersten Antrag vorzulesen gedenke – »daß nämlich diese Versammlung nur mit Besorgnis und Unruhe auf den gegenwärtigen Stand des Semmelhandels in der Hauptstadt und deren Nachbarschaft blicken könne; daß die Semmeljungen, wie sie gegenwärtig wären, das Vertrauen des Publikums ganz und gar nicht verdienten, und daß das ganze Semmelsystem ebenso benachteiligend für die Gesundheit und Sittlichkeit des Volkes, wie verderblich für die höchsten Interessen einer großen Handelsstadt wären.« Die Rede des ehrenwerten Herrn lockte Tränen aus den Augen der Damen und weckte bei allen Anwesenden die lebhaftesten Empfindungen. Er hatte die Wohnungen der Armen in den verschiedenen Distrikten Londons besucht und auch nicht die mindesten Semmelspuren daselbst aufgefunden, wodurch er sich zu der Annahme berechtigt glaubte, daß manche dieser dürftigen Personen jahraus, jahrein keine Semmel zu kosten bekämen. Er hatte bemerkt, daß unter den Semmelverkäufern Trunkliebe und Ausschweifungen aller Art herrschten, was er der entsittlichenden Natur ihres Geschäftes in dem gegenwärtigen Betrieb desselben zuschrieb. Er hatte die gleichen Laster unter der ärmeren Klasse des Volkes, die doch auch an der Semmelkonsumtion teilnehmen sollte, entdeckt und glaubte den Grund in der Verzweiflung zu finden, die diese Leute antrieb, ein falsches Reizmittel in berauschenden Getränken zu suchen, weil sie nicht in der Lage wären, sich ein so ungemein kräftigendes Nahrungsmittel wie die Semmel zu verschaffen.

Er wollte es auf sich nehmen, vor einem Komitee des Unterhauses zu beweisen, daß eine geheime Verbindung bestehe, um den Preis der Semmeln stets recht hoch zu halten und um deren Austrägern ein Monopol zu verschaffen. Er erklärte sich bereit, dieses durch die eigenen Worte der Verkäufer vor den Schranken dieses Hauses zu beweisen. Er wollte auch dartun, daß diese Menschen sich gegenseitig durch geheime Worte und Zeichen als »Snooks«, »Walker«, »Ferguson«, »Ist Murphy fertig« und dergleichen in ein Einvernehmen setzten. Die Gesellschaft beabsichtige nun, diesem betrübenden Zustand der Dinge abzuhelfen, indem sie erstlich beantrage, daß aller und jeder Privatsemmelverkauf bei schwerer Strafe verboten werde, und zweitens, daß sie selbst das Publikum ausschließlich mit dieser Ware versehe, und zwar so, daß auch die Armen in ihren eigenen Häusern mit Semmeln von vorzüglicher Güte zu herabgesetzten Preisen bedient werden könnten.

Der patriotische Präsident dieser Versammlung, Sir Matthäus Pupker, habe über diesen Gegenstand bereits eine Bill vor das Parlament gebracht, zu deren Unterstützung die gegenwärtige Versammlung beantragt worden sei. Wer diese Bill unterstütze, würde unsterblichen Ruhm und Glanz über England bringen unter dem Namen der Vereinigten, verbesserten, hauptstädtischen, warmen Semmel- und Kuchenbäckerei- und pünktlichen Ablieferungsgesellschaft mit einem Kapital von fünf Millionen in fünfmal hunderttausend Aktien zu je zehn Pfund.

Herr Ralph Nickleby unterstützte diesen Antrag, und ein anderer Herr machte den Vorschlag, daß in dem Aufsatze des Herrn Bonney, wo immer das Wort Semmeln vorkäme, auch die Kuchen beigefügt werden sollten, was auch siegreich durchging. Nur ein Mann im Gedränge rief »nein«, wurde aber dafür auf der Stelle festgenommen und ohne weiteres fortgeschafft.

Der zweite Vorschlag, der die Zweckmäßigkeit einer unmittelbaren Ausrottung aller Semmel- und Kuchenverkäufer – mochten sie nun Männer oder Weiber, Knaben oder Erwachsene, Glockenmänner oder mit keinen Schellen versehene Leute sein – behandelte, wurde durch einen weinerlichen Herrn in halb geistlichem Habit vorgebracht, der mit einem so ergreifenden Pathos sprach, daß er augenblicklich den ersten Sprecher rein ausstach. Man hätte eine Stecknadel – doch, was sage ich, eine Stecknadel! nein, man hätte eine Feder fallen hören können, als er die Grausamkeit schilderte, mit der die Semmeljungen von ihren Herren behandelt würden und die, wie er weislich hervorhob, an sich schon ein hinreichender Grund wäre, um die beantragte, in ihrem Werte nicht genug zu schätzende Gesellschaft zu bilden. Er sagte, die unglücklichen Jungen würden jede Nacht, selbst in der rauhesten Jahreszeit, auf die nassen Straßen hinausgestoßen, um stundenlang ohne Obdach, Nahrung oder warme Bekleidung durch Finsternis und Regen, Hagel und Schnee umherzuwandern, und machte das Publikum insbesondere darauf aufmerksam, daß man die Knaben, völlig verwahrlost, nur ihren eigenen kümmerlichen Hilfsquellen überlasse, während man doch die Semmeln in warme Tücher einschlage. (Schändlich!) Der ehrwürdige Herr erzählte einen Fall von einem Semmeljungen, der diesem unmenschlichen und barbarischen System nicht weniger als fünf Jahre ausgesetzt war und endlich das Opfer einer Erkältung wurde, unter der er immer weiter herunterkam, bis er endlich in einen Schweiß verfiel und wieder genas. Diesen Vorfall konnte er als Augenzeuge bekräftigen. Er hatte aber auch von einem andern viel herzzerreißenderen und schrecklicheren gehört, dessen Wahrheit zu bezweifeln er keinen Grund finden konnte. Er hatte sich von einem verwaisten Semmelknaben erzählen lassen, der durch einen Mietwagen überfahren wurde, sich in dem Krankenhaus den Fuß unter dem Knie abnehmen lassen mußte und im gegenwärtigen Augenblick noch sein Geschäft auf Krücken fortsetzte. O Quell der Gerechtigkeit! sollen diese Abscheulichkeiten nie aufhören?

Dies war der rührendste Teil der Verhandlung, der seine Wirkung auf das Mitgefühl der Versammlung nicht verfehlte. Die Männer riefen Beifall, und die Damen weinten in ihre Taschentücher, bis sie ganz naß, und schwenkten sie so lange, bis sie wieder trocken waren. Die Aufregung war außerordentlich, und Herr Nickleby flüsterte seinem Freunde zu, daß die Aktien bereits jetzt schon fünfundzwanzig Prozent über dem Nennwert anzuschlagen wären.

Der Antrag ging natürlich mit lautem Beifall durch, und jeder bekundete seine Zustimmung mit beiden Händen. Man würde in der Begeisterung sogar beide Beine in die Höhe gestreckt haben, wenn es sich füglich hätte ausführen lassen. Es ging nun an das förmliche Verlesen der Petition, in der – wie bei allen Petitionen – vorkam, daß die Bittsteller sehr untertänig und die Empfänger derselben sehr ehrenwert wären, und daß es sich bei der Frage um das allgemeine Beste handle, weshalb der Antrag alsbald, zum unvergänglichen Ruhme der höchst ehrenwerten und ruhmwürdigen versammelten Unterhaus-Abgeordneten des englischen Parlaments, in Gesetzeskraft treten müsse.

Dann trat der Herr auf, der die ganze Nacht über im Spielhause gesessen und daher etwas verstörten Blicks war, erklärte seinen Mitbürgern, was für eine Prachtrede er zugunsten der Petition zu halten gedächte, wenn sie im Parlament zur Sprache käme, und setzte ihnen auseinander, mit welchem verzweifelten Hohn er die Unterhaus-Abgeordneten behandeln wolle, wenn es ihnen einfallen sollte, den Antrag zu verwerfen. Er drückte sofort sein Bedauern aus, daß seine ehrenwerten Freunde nicht eine Klausel beigefügt hätten, die es allen Klassen der bürgerlichen Gesellschaft zur zwingenden Aufgabe mache, Semmeln und Kuchen zu kaufen; denn er sei kein Freund von halben Maßregeln und ziehe es vor, allenthalben geradedurch unmittelbar aufs Ziel loszugehen; er behalte sich jedoch vor, dem Komitee hierüber seine Vorschläge zu machen. Der ehrenwerte Herr wurde, nachdem er diese Absicht kundgegeben, scherzhaft; und da Patentstiefel, zitronenfarbige, ziegenlederne Handschuhe und ein Pelzkragen einen Spaß wesentlich unterstützen, so erfolgte ungemeines Lachen und lebhafte Heiterkeit, wobei die Taschentücher der Damen auf eine so glänzende Weise mitwirkten, daß der vorhergehende Sprecher mit seiner empfindsamen Rede ganz in den Schatten zu stehen kam.

Als die Petition nach einem abermaligen Verlesen eben förmlich angenommen werden sollte, trat das irische Parlamentsmitglied, ein junger Mann von feurigem Temperament, mit einer Rede auf, wie sie nur ein irisches Parlamentsmitglied halten kann; denn sie war ganz Poesie und schoß in einem solchen Glutstrom dahin, daß man sich schon erwärmt fühlte, wenn man nur den Sprecher ansah. Im Verlauf derselben sagte er, daß er die Ausdehnung dieser großen Wohltat auch auf sein Geburtsland beantragen wolle, für das er, wie bei allen andern, so auch bei dem Semmelgesetz Rechtsgleichheit beanspruche. Auch hoffe er noch den Tag zu erleben, wo Kuchen in Irlands armseligsten Hütten gebacken würden und das Geläut der Semmelglocke dessen reiche, grüne Täler durchtöne.

Nach ihm kam das schottische Parlamentsmitglied mit verschiedenen erfreulichen Hindeutungen auf den wahrscheinlichen Belauf des Gewinns, was die gute Laune, die der dichterische Schwung des Irländers geweckt hatte, nur noch mehr erhöhte. Mit einem Wort, alle diese Reden zusammengenommen bewirkten gerade das, was sie erzielen sollten, und brachten den Zuhörern die Überzeugung bei, daß keine Spekulation so vielverheißend und zu gleicher Zeit so preiswürdig sei als die der Vereinigten, verbesserten, hauptstädtischen, warmen Semmel- und Kuchenbäckerei- und pünktlichen Ablieferungs-Gesellschaft.

So wurde denn die Petition zugunsten der Bill einstimmig angenommen, und die Versammlung ging unter Beifallrufen auseinander. Herr Nickleby und die andern Direktoren verfügten sich nach einem Speisehause, wo sie das gewöhnliche Halbzweiuhrmahl einnahmen, und brachten, da die Gesellschaft erst im Entstehen war, nur je drei Guineen für ihre eigenen Bemühungen bei dieser Sache in Anrechnung.

Neunundzwanzigstes Kapitel.


Neunundzwanzigstes Kapitel.

Von Nicolaus‘ weiteren Schicksalen und gewissen Spaltungen in der Gesellschaft des Herrn Vincent Crummles.

Herr Vincent Crummles ließ sich durch den unerwarteten Erfolg und den Beifall, den sein Unternehmen in Portsmouth gefunden, veranlassen, seinen Aufenthalt in dieser Stadt um vierzehn Tage über die ursprünglich beabsichtigte Zeit zu verlängern. Nicolaus trat bei dieser Gelegenheit in den verschiedensten Rollen mit ungemindertem Beifall auf und lockte so viele Personen an, die man früher nie im Theater gesehen hatte, daß dem Direktor ein Benefiz als eine vielversprechende Spekulation erschien. Nicolaus willigte in die vorgeschlagenen Bedingungen ein, und das Benefiz fand statt, was ihm nicht weniger als die Summe von zwanzig Pfunden einbrachte.

Sobald er sich so unerwartet reich fühlte, packte er zuerst den Betrag von Johann Browdies freundlichem Darlehen ein und begleitete die Rücksendung mit vielen Dankes- und Achtungsversicherungen, nebst vielen Wünschen für sein eheliches Glück. Dann übermachte er Newman Noggs die Hälfte seiner Einnahme mit der Bitte, sie gelegentlich Käthchen im geheimen einzuhändigen und sie seiner wärmsten und innigsten brüderlichen Liebe zu versichern. Er erwähnte seine theatralische Laufbahn gar nicht, sondern gab Newman bloß die Weisung, daß ein Brief unter der Adresse seines angenommenen Namens und des Postamts Portsmouth ihn unfehlbar treffen würde, und bat dabei seinen treuen Freund, ihm alle Einzelheiten über die Lage seiner Mutter und Schwester zu schreiben und über alle die großartigen Dinge, die Ralph Nickleby seit seiner Entfernung von London für sie getan hatte, Bericht zu erstatten.

»Sie sind niedergeschlagen?« sagte Smike an dem Abend, an dem der Brief abgesandt worden war.

»O nicht doch«, entgegnete Nicolaus mit angenommener Heiterkeit, denn eine Bejahung würde den armen Jungen die ganze Nacht über unglücklich gemacht haben; »ich dachte an meine Schwester, Smike.«

»Schwester?«

»Ja.«

»Ist sie Ihnen ähnlich?« fragte Smike.

»Die Leute sagen es«, versetzte Nicolaus lachend, »freilich aber um ein gut Teil schöner.«

»Dann muß sie sehr schön sein«, entgegnete Smike nach einer Weile Besinnens, währenddem er seine Hände gefaltet und die Augen auf seinen Freund geheftet hatte.

»Einer, der dich nicht so gut kennt wie ich, mein lieber Junge, würde sagen, du wärest ein vollendeter Kavalier«, sagte Nicolaus.

»Ich weiß nicht, was das ist«, versetzte Smike kopfschüttelnd. »Werde ich je Ihre Schwester sehen?«

»Gewiß«, rief Nicolaus. »Wir werden eines Tages alle beisammen sein – wenn wir reich sind, Smike.«

»Wie kommt es, daß Sie, der Sie doch so freundlich und gütig gegen mich sind, niemanden haben, der auch gegen Sie wohlwollend wäre?« fragte Smike. »Ich kann mir das nicht erklären.«

»Ach, das ist eine lange Geschichte«, versetzte Nicolaus, »die du, wie ich fürchte, nicht einmal leicht fassen würdest. Ich habe einen Feind – du weißt, was das ist?«

»O ja, das weiß ich wohl«, entgegnete Smike.

»Nun, diesem hab ich´s zu verdanken«, erwiderte Nicolaus. »Er ist reich und kann nicht so leicht gezüchtigt werden wie dein alter Feind, der Schulmeister Squeers. Er ist mein Onkel, aber ein Schurke, der mich aufs tiefste verletzt hat.«

»Hat er das?« fragte Smike, sich lebhaft vorbeugend. »Wie heißt er? Sagen Sie mir seinen Namen.«

»Ralph – Ralph Nickleby.«

»Ralph Nickleby«, wiederholte Smike. »Ralph. Ich will diesen Namen auswendig lernen.«

Er hatte ihn etwa zwanzigmal vor sich hingemurmelt, als ihn ein lautes Pochen an der Tür in seiner Beschäftigung unterbrach. Ehe er jedoch öffnen konnte, steckte bereits Herr Folair, der Pantomimist, seinen Kopf herein.

Herrn Folairs Kopf war gewöhnlich mit einem runden Hut geziert, der eine ungewöhnlich hohe Krone und schmal aufgeschlagene Krempen hatte. Bei dem gegenwärtigen Anlaß trug er ihn ganz schräg gestellt und den Hinterteil nach vorn gekehrt, weil derselbe am wenigsten abgenützt war. Um den Hals hatte er einen flammroten wollenen Schal gewunden, dessen Zipfel unter dem von oben bis unten zugeknöpften Newmarketrock hervorsahen. In seiner Hand trug er einen sehr schmutzigen Handschuh und einen billigen Kleiderausklopfer mit einem gläsernen Handgriff – kurz, sein ganzes Äußere war ungewöhnlich blank und bekundete eine weit sorgfältigere Aufmerksamkeit auf seine Toilette, als sie sonst bei ihm üblich war.

»Guten Abend, Sir«, sagte Herr Folair, indem er seinen Hut abnahm und mit den Fingern durch das Haar fuhr. »Ich bringe eine Mitteilung – hm!«

»Von wem und weshalb?« fragte Nicolaus. »Sie sind ja diesen Abend ungemein geheimnisvoll.«

»Kalt vielleicht«, entgegnete Herr Folair – »kalt vielleicht. Die Schuld davon trifft meine Stellung, nicht meine Persönlichkeit, Herr Johnson. Meine Stellung fordert dies, da ich ein Freund von beiden Parteien bin, Sir.«

Herr Folair hielt jetzt mit einem sehr ausdrucksvollen Blicke inne, griff in den vorerwähnten Hut, holte ein kleines Stück seltsam gefalteten, weißlich-braunen Papiers heraus, in das der Schonung wegen ein Schreiben eingewickelt war, und händigte das letztere Nicolaus mit dem Ersuchen ein, daß er es lesen möchte.

Nicolaus nahm verwundert das Schreiben hin, erbrach das Siegel mit einem Blick auf Herrn Folair, der, die Augen beharrlich nach der Decke kehrend, dasaß, die Stirne runzelte und den Mund mit großer Würde aufwarf.

Das Billett trug die Adresse: »Herr Johnson, Esquire – Herrn Augustus Folair, Esquire, zur gefälligen Besorgung übertragen«; und Nicolaus‘ Verwunderung war keineswegs gemindert, als er innen die folgenden lakonischen Worte las:

»Herr Lenville vermeldet Herrn Johnson seinen höflichen Gruß und wird es dankbar anerkennen, wenn Herr Johnson ihm wissen lassen will, zu welcher Stunde des kommenden Morgens es ihm bequem sein wird, mit Herrn Lenville im Schauspielhause zusammenzutreffen, um sich von letzterem in Gegenwart der ganzen Gesellschaft die Nase zerschlagen zu lassen.

Herr Lenville ersucht Herrn Johnson, der von ihm etwa zu machenden Bestimmung nachzukommen, da Herr Lenville einige Kollegen eingeladen hat, Zeugen der Zeremonie zu sein, deren Erwartungen er in keinem Fall getäuscht sehen möchte. Portsmouth, Dienstag abend –«

So entrüstet auch Nicolaus über diese Unverschämtheit war, so erschien ihm doch die ganze Aufforderung so ausgesucht abgeschmackt, daß er sich in die Lippen beißen und den Wisch zwei- oder dreimal überlesen mußte, ehe er genug Würde und Ernst zusammenbringen konnte, um den Kartellträger anzureden, der die ganze Zeit über weder die Augen von der Decke verwandte, noch den Ausdruck seines Gesichts auch nur im mindesten veränderte.

»Kennen Sie den Inhalt dieses Schreibens?« fragte endlich Nicolaus.

»Ja«, versetzte Herr Folair, indem er sich eine kurze Weile umsah, aber dann schnell wieder seine Augen nach der Decke richtete.

»Und wie unterstehen Sie sich, den Überbringer zu machen, Sir«, fuhr Nicolaus fort, indem er das Papier in viele kleine Stücke zerriß und die Schnitzel dem Boten ins Gesicht warf. »Fürchteten Sie sich nicht, die Treppe hinuntergeworfen zu werden, Sir?«

Herr Folair wandte seinen Kopf, der nunmehr mit einigen Bruchstücken des Aufforderungsschreibens geziert war, gegen Nicolaus und erwiderte kurz mit derselben unzerstörlichen Würde:

»Nein.«

»Dann«, sagte Nicolaus, indem er Herrn Folair seinen hohen Hut abnahm und gegen die Tür schleuderte, »dann werden Sie guttun, Ihrem Deckel, noch ehe zwölf Sekunden vergehen, zu folgen. Sie könnten sonst auf eine unangenehme Weise enttäuscht werden.«

»Ich sage Ihnen, Johnson«, entgegnete Herr Folair, der plötzlich alle seine Würde aufgab, »ein solches Betragen ist nicht am Orte. Nur keine solche Possen mit eines Gentlemans Garderobe.«

»Verlassen Sie mein Zimmer«, herrschte ihm Nicolaus zu. »Wie konnten Sie sich unterstehen, mir eine solche Botschaft zu überbringen, Sie Halunke!«

»Pah! pah!« sagte Herr Folair, indem er seinen Schal löste und sich allmählich herauswickelte. »So – das ist genug.«

»Genug?« rief Nicolaus, auf ihn zutretend. »Ich frage Sie zum letztenmal, Sir, ob Sie sich packen wollen?«

»Nur Ruhe, ich sage Ihnen«, versetzte Herr Folair, indem er die Hand vorhielt, als wolle er jeden weiteren Wutausbruch abwehren; »es war von keinem Ernst die Rede. Ich brachte den Zettel bloß des Spaßes halber.«

»So werden Sie guttun, bei derartigen Späßen zuvor Ihre Leute genau anzusehen«, entgegnete Nicolaus, »Ihr Witz könnte sonst Ihnen selber eine zerschlagene Nase eintragen. Sollte der Wisch auch nur ein Spaß sein?«

»Nein, nein, das ist gerade das Schöne an der Sache«, antwortete Herr Folair. »Er ist purer, trockener Ernst – auf Ehre.«

Nicolaus konnte sich eines Lächeln ob der sonderbaren Gestalt vor ihm nicht erwehren, die zu allen Zeiten eher Heiterkeit als Unwillen zu erregen imstande war, besonders aber in dem gegenwärtigen Augenblick, wo Herr Folair, mit einem Knie auf dem Boden, seinen alten Hut auf der Hand im Kreise herumtanzen ließ und eine ängstliche Besorgnis zur Schau stellte, ob sich nicht etwa einige Filzfasern abgestoßen hätten, eine Zierde, deren sich übrigens – wie wir kaum anzumerken nötig haben werden – seine Kopfbedeckung seit vielen Monaten nicht mehr zu rühmen hatte.

»Aber jetzt, Sir, werden Sie die Güte haben, mir eine Erklärung zu geben«, sagte Nicolaus, wider Willen lachend.

»Je nun, ich will Ihnen sagen, wie sich die Sache verhält«, entgegnete Herr Folair, indem er sich mit großer Kaltblütigkeit auf einen Stuhl setzte. »Seit Ihrem Eintritt fielen Lenville nur zweite Rollen zu, und statt wie früher jeden Abend eine Rezeption zu haben, benahm sich das Publikum bei seinem Auftreten, als ob er der Niemand wäre.«

»Was verstehen Sie unter dem Ausdruck Rezeption?« fragte Nicolaus.

»Lieber Himmel!« rief Herr Folair, »was sind Sie nicht für ein unschuldiger Schäfer, Johnson. So nennt man das Klatschen des Publikums bei dem ersten Betreten der Bühne. Er mußte Abend für Abend spielen, ohne daß sich eine Hand rührte, während Sie mindestens ihrer zwei, bisweilen auch drei Beifallsszenen erhielten. Endlich ist er darüber ganz verzweifelt, so daß er erst gestern abend halb und halb im Sinne hatte, den Tybalt mit einem wirklichen Schwert zu spielen und Ihnen eins zu versetzen – nicht gefährlich zwar, aber doch so, daß Sie für einen Monat oder zwei fest hätten liegen müssen.«

»Sehr gut ausgedacht«, bemerkte Nicolaus.

»Ja, das war es den Umständen nach in der Tat; denn sein Künstlerruhm stand auf dem Spiel«, sagte Herr Folair mit dem ernsthaftesten Gesicht. »Aber es gebrach ihm an Mut, und so sann er auf ein anderes Mittel, Ihnen beizukommen, wodurch er sich zugleich populär zu machen gedachte – denn das ist die Hauptsache. Ruhm, Berühmtheit ist das höchste Ziel des Schauspielers. Du mein Himmel, wenn er Sie mit scharfer Klinge gekitzelt hätte«, fuhr Herr Folair fort, nachdem er eine Weile innegehalten hatte, um eine Berechnung zu machen, »es wäre ihm – ah, es wäre ihm acht oder zehn Schillinge in der Woche wert gewesen. Die ganze Stadt wäre gekommen, um den Schauspieler zu sehen, der infolge eines Mißgriffs beinahe einen Menschen tötete. Es sollte mich nicht wundernehmen, wenn es ihm ein Engagement in London eingetragen hätte. Sei dem übrigens, wie es sei, er mußte einen andern Weg zur Popularität einschlagen, und da fiel ihm der gegenwärtige ein. Der Gedanke ist in der Tat nicht übel. Hätten Sie sich einschüchtern lassen und ihm Ihre Nase offeriert, so wäre die Geschichte in die Zeitungen gekommen, und hätten Sie einen Frieden mit ihm geschworen, so wäre das gleiche geschehen, da man dann ebensoviel von ihm als von Ihnen gesprochen haben würde. Begreifen Sie?«

»Allerdings«, versetzte Nicolaus; »aber angenommen, ich kehre den Stiel um und zerbläue ihm die Nase – was dann? Kann daraus auch ein Vorteil für ihn erwachsen?«

»Glaube kaum«, entgegnete Herr Folair, sich am Kopfe kratzend, »denn es wäre nichts Romantisches dabei, und er würde dadurch nicht zu seinem Vorteil bekannt. Doch offen gestanden, auf so etwas rechnet er nicht besonders, denn Sie haben sich immer als sanftmütig gezeigt und sind so populär unter den Frauen, daß wir hinter Ihnen nicht viel kriegerischen Sinn vermuteten. Führen Sie aber das im Schilde, so hat er – verlassen Sie sich darauf – ein Mittel, sich leicht aus der Sache zu ziehen.«

»Wirklich?« erwiderte Nicolaus. »Wir wollen´s doch morgen früh versuchen. Inzwischen mögen Sie ihm über unsere Unterredung mitteilen, was Ihnen beliebt. Gute Nacht.«

Da Herr Folair unter seinen Kollegen als schadenfroh bekannt war, der keineswegs seine Schritte ängstlich erwog, wenn es Unheil zu stiften gab, so zweifelte Nicolaus nicht, daß das Ganze eine Aufhetzung von seiten dieses Ehrenmanns wäre und daß dieser seine Sendung hochtrabend genug ausgeführt haben würde, wenn er nicht durch den höchst unerwarteten Empfang, der ihm zuteil wurde, eingeschüchtert worden wäre. Es verlohnte sich jedoch nicht der Mühe, ernsthaft gegen ihn zu verfahren, und Nicolaus entließ daher den Pantomimisten mit einer höflichen Andeutung, daß ihm die nächste derartige Beleidigung einen zerbrochenen Schädel eintragen könnte. Herr Folair nahm die Warnung in ungemein guter Laune hin und entfernte sich, um mit seinem Auftraggeber Rücksprache zu nehmen und diesem von dem Erfolge seiner Bemühungen einen Bericht zu erstatten, wie er ihn zur Durchführung des Scherzes am geeignetsten hielt.

Er hatte ohne Zweifel erzählt, daß Nicolaus in die größte Angst und Furcht geraten sei; denn als dieser des andern Morgens zur gewohnten Stunde ganz ruhig in dem Schauspielhaus erschien, fand er die ganze Gesellschaft augenscheinlich erwartungsvoll versammelt, während Herr Lenville mit dem grimmigsten Thcatergesicht majestätisch auf einem Tisch saß und herausfordernd pfiff.

Die Damen waren auf Nicolaus‘ Seite, während die neidischen Herren für den ausgestochenen Tragöden Partei nahmen; sie bildeten eine kleine Gruppe um den furchtbaren Herrn Lenville, während jene nicht ohne ängstliches Herzklopfen aus einiger Entfernung zusahen. Als Nicolaus haltmachte, um sie zu begrüßen, brach Herr Lenville in ein verächtliches Lachen aus und machte eine allgemeine Bemerkung hinsichtlich der Naturgeschichte der Hasenfüße.

»Ach«, sagte Nicolaus, sich ruhig umsehend, »sind Sie da?«

»Knecht!« versetzte Herr Lenville, indem er mit seinem rechten Arm ausholte und in einem Theaterschritt auf Nicolaus zuging.

Er schien jedoch in diesem Augenblick mit einigem Schrecken wahrzunehmen, Nicolaus sehe doch nicht ganz so furchtsam aus, als er erwartet hatte, weshalb er auch auf einmal so linkisch haltmachte, daß die versammelten Damen in ein schrilles Gelächter ausbrachen.

»Gegenstand meines Grolles und Hasses«, sagte Herr Lenville, »ich verachte dich.«

Nicolaus setzte dieser Komödiantenphrase ein höchst unerwartetes Lachen entgegen, und die Damen, die ihren Günstling ermutigen wollten, lachten noch lauter als vorher, worauf Herr Lenville den Mund zu seinem bittersten Lächeln verzog und seine Meinung dahin abgab, daß sie »Zierpüppchen« wären.

»Aber sie sollen dich nicht schützen«, fuhr der Tragöde fort, indem er Nicolaus Blicke zuwarf, die von seinen Stiefelspitzen begannen und auf dem Scheitel endigten, dann aber bei dem Scheitel wieder anfingen und mit den Stiefelspitzen schlossen – Blicke, die, wie männiglich bekannt, auf der Bühne Herausforderung bedeuten. »Sie sollen dich nicht schützen, Knabe!«

Mit diesen Worten schlug Herr Lenville seine Arme zusammen und gab Nicolaus eines jener Gesichter zum besten, mit denen er im Melodrama die tyrannischen Könige anzusehen pflegte, wenn sie sagten: ›Hinweg mit ihm ins tiefste Gefängnis unter dem Schloßgraben!‹ und die, wenn es von ein wenig Kettengeklirr begleitet wurde, seinerzeit jedesmal die trefflichste Wirkung taten.

Lag es nun an der Abwesenheit der Fesseln oder nicht – jedenfalls war der Eindruck auf Herrn Lenvilles Gegner kein sehr tiefer; denn die heitere Laune, die sich in seinem Antlitze ausdrückte, schien dadurch nur erhöht zu werden. Aber während die Sachen so standen, wurden einige der Herren, die ausdrücklich hergekommen waren, um das Zerschlagen von Nicolaus‘ Nase mit anzusehen, ungeduldig und ließen sich murrend darüber vernehmen, daß die Sache, wenn sie überhaupt vor sich gehen solle, rasch abgemacht werden möchte, und daß Herr Lenville, wenn er keine Lust dazu hätte, besser täte, es gleich zu sagen, damit sie nicht durch vergebliches Harren hingehalten würden. So gedrängt, schlug der Tragöde den Aufschlag seines Rockärmels zurück, um die Operation vorzunehmen, und ging mit pompösen Schritten auf Nicolaus zu, der ihn bis auf die erforderliche Entfernung herankommen ließ und ihn dann mit der größten Ruhe mit einem Streiche zu Boden schlug.

Ehe noch der gefallene Tragöde seinen Kopf von den Brettern erheben konnte, stürzte Madame Lenville (die sich, wie schon früher angedeutet wurde, in anderen Umständen befand) aus der Hinterreihe der Damen hervor und warf sich mit einem durchbohrenden Geschrei über ihren Gatten hin.

»Siehst du dies, Ungeheuer? Siehst du dies?« rief Herr Lenville, indem er sich aufsetzte und auf seine neben ihm hingestreckte Gattin deutete, die ihre Arme um seinen Leib geschlungen hielt.

Nicolaus nickte mit dem Kopfe und sagte: »Leisten Sie Abbitte wegen des unverschämten Schreibens, das Sie mir gestern abend sandten, und vergeuden Sie nicht noch mehr Zeit mit albernen Phrasen.«

»Nie!« rief Herr Lenville.

»Ja – ja – ja –« kreischte seine Gattin. »Um meinetwillen, um meinetwillen, Lenville – unterziehe dich allen diesen eitlen Förmlichkeiten, wenn du mich nicht als eine Leiche zu deinen Füßen sehen willst.«

»Das ist angreifend«, sagte Herr Lenville, indem er mit dem Rücken seiner Hand über die Augen fuhr. »Die Bande der Natur sind stark. Der schwache Gatte und Vater – der zukünftige Vater läßt sich erweichen. Ich leiste Abbitte.«

»De- und wehmütig?« fragte Nicolaus.

»De- und wehmütig«, entgegnete der Tragöde, finster aufblickend. »Aber nur um ihrer zu schonen; denn es wird eine Zeit kommen – –«

»Genug«, sagte Nicolaus. »Ich hoffe, für Madame Lenville wird eine gute kommen, und wenn das der Fall ist und Sie die Freuden eines Vaters fühlen, so können Sie die Erklärung zurücknehmen, wenn Sie den Mut dazu haben. Wir sind jetzt fertig, Sir. Überlegen Sie aber ein andermal besser, wohin Sie Ihre Verärgerung führen kann, und vergessen Sie nicht, ehe Sie zu weit gehen, sich über das Temperament Ihres Gegners Gewißheit zu verschaffen.«

Mit diesen Worten nahm Nicolaus Herrn Lenvilles Eschenstock, der ihm aus der Hand geflogen war, auf, brach ihn entzwei, warf ihm die Stücke vor die Füße und entfernte sich mit einer leichten Verbeugung gegen die Zeugen des Auftritts.

Denselben Abend zollte man Nicolaus die tiefste Ehrerbietung, und die, die am begierigsten darauf gewesen waren, ihm die Nase zerschlagen zu sehen, benutzten jede Gelegenheit, ihn beiseite zu nehmen und ihm mit der größten Teilnahme zu versichern, wie sehr es sie gefreut hätte, daß er diesen Lenville so nach Verdienst heimgeschickt hätte, da er ein ganz unerträglicher Kerl wäre, dem sie alle – gewiß ein höchst merkwürdiges Zusammentreffen – zu verschiedenen Malen schon die verdiente Züchtigung zugedacht hätten, die nur aus Rücksichten des Mitleids unterblieben wäre. In der Tat mußte man aus dem stereotypen Schluß aller dieser Phrasen die Folgerung ziehen, daß es auf der ganzen Erde keine humaneren und mitleidigeren Menschen gäbe als die männlichen Mitglieder von Herrn Crummles´ Truppe.

Nicolaus bewies bei seinem Triumphe, wie überhaupt bei seinen Erfolgen in der kleinen Theaterwelt, die größte Mäßigung und Ruhe. Der aus dem Feld geschlagene Herr Lenville machte zwar noch einen letzten Racheversuch, indem er einen Knaben auf die Galerie schickte, um dort zu pfeifen. Aber dieser fiel als ein Opfer der allgemeinen Entrüstung, denn er wurde ohne weiteres hinausgeworfen und erhielt sein Geld nicht wieder zurück.

»Nun, Smike«, sagte Nicolaus, als er nach dem ersten Stück sich fast ganz zum Nachhausegehen angekleidet hatte: »ist noch immer kein Brief da?«

»Ja«, versetzte Smike, »hier ist einer, den ich von der Post geholt habe.«

»Von Newman Noggs«, sagte Nicolaus, die Schwefelhölzerschrift der Adresse ansehend. »Es ist nicht leicht, diese Züge zu entwirren. Doch – wir wollen sehen, wir wollen sehen.«

Nach halbstündigem Studium gelang es ihm, den Inhalt des Briefes herauszubringen, der übrigens keineswegs imstande war, sein Gemüt zu beruhigen. Newman hatte es auf sich genommen, die zehn Pfund zurückzuschicken, denen er die Bemerkung beifügte, er wisse bestimmt, daß weder Madame Nickleby noch Käthchen für den Augenblick das Geld nötig hätten. Es könne aber in vielleicht kurzer Zeit der Fall eintreten, daß es Nicolaus selber besser zustatten käme. Er ersuchte ihn, sich durch das, was er ihm zu melden hätte, nicht beunruhigen zu lassen – es wäre nichts Schlimmes vorgefallen, und alles befände sich in guter Gesundheit. Aber es käme ihm vor, als könnten sich Dinge ereignen, oder wären vielleicht wirklich schon im Gange, die für Käthchen ihres Bruders Schutz unbedingt nötig machten. Wenn dies jedoch einträfe, meinte Newman, so wolle er Nicolaus das Geeignete unverzüglich melden.

Nicolaus las diese Stelle wieder und wieder, und je mehr er darüber nachdachte, desto mehr ahnte ihm irgendeine Schurkerei von seiten Ralph Nicklebys. Ein- oder zweimal fühlte er sich versucht, auf jede Gefahr hin sofort nach London zu eilen. Aber ein wenig Nachdenken belehrte ihn, daß Newman, wenn ein solcher Schritt nötig wäre, ohne Rückhalt sich darüber ausgesprochen haben würde.

»Jedenfalls sollte ich die Leute hier auf die Möglichkeit meines plötzlichen Austritts vorbereiten«, sagte Nicolaus. »Ich will daher keine Zeit verlieren, es zu tun.«

Sobald ihm dieser Gedanke aufgetaucht war, nahm er seinen Hut und eilte in das Garderobenzimmer.

»Nun, Herr Johnson«, sagte Madame Crummles, die in dem vollen Kostüm einer Königin dasaß und das Wunderkind mit ihren mütterlichen Armen umschloß, »die nächste Woche geht’s nach Ryde, dann nach Winchester, dann nach – –«

»Ich habe einigen Grund, zu fürchten«, fiel Nicolaus ein, »daß meine Laufbahn bei Ihnen geschlossen sein wird, noch ehe Sie Portsmouth verlassen.«

»Geschlossen?« rief Madame Crummles, ihre Hände erstaunt emporhebend.

»Geschlossen?« rief Fräulein Snevellicci, die in ihren Beinkleidern so heftig zitterte, daß sie ihre Hand auf die Schulter der Direktorin legen mußte, um sich zu stützen.

»Er will damit doch nicht sagen, daß er uns zu verlassen gedenkt?« fügte Madame Grudden bei, indem sie sich zu Madame Crummles durchdrängte. »Donnerwetter, was wäre das für ein Unsinn!«

Das Wunderkind, das von gar zarter Natur und sehr reizbarem Wesen war, erhob ein lautes Geschrei, und Fräulein Belvawney vergoß nebst Fräulein Bravassa wirkliche Tränen. Selbst die männlichen Mitglieder der Gesellschaft unterbrachen ihre Unterhaltung und beteten die Worte ›uns verlassen‹ nach, obgleich einige darunter (namentlich die, die den Tag über in ihren Glückwünschen am lautesten gewesen waren) sich gegenseitig zunickten, als täte es ihnen nicht sehr leid, einen so begünstigten Nebenbuhler zu verlieren – eine Ansicht, die in der Tat auch der ehrliche Herr Folair, der bereits als Wilder angekleidet war, ganz offen gegen einen Teufel aussprach, mit dem er sich eben in einen Krug Porter teilte.

Nicolaus erklärte rasch, er fürchte, daß es so kommen könnte, obgleich er sich vorderhand keinesfalls mit Bestimmtheit darüber auszusprechen vermöge. Er entfernte sich dann, sobald er konnte, und ging nach Haus, um Newmans Brief noch einmal durchzubuchstabieren und aufs neue Betrachtungen darüber anzustellen.

Wie geringfügig erschien ihm in jener schlaflosen Nacht alles, was seit so vielen Wochen seine Zeit und seine Gedanken in Anspruch genommen hatte, und wie beharrlich und unablässig vergegenwärtigte sich seiner Einbildungskraft der eine Gedanke, daß Käthchen mitten in Gefahr und Unglück – ach und vergeblich – nach ihm aussähe.

Dreißigstes Kapitel.


Dreißigstes Kapitel.

Festlichkeiten, die Nicolaus zu Ehren veranstaltet werden. Dieser entzieht sich plötzlich der Vincent Crummlesschen Theatergesellschaft.

Herr Vincent Crummles hatte kaum von der öffentlichen Erklärung gehört, die Nicolaus über die Wahrscheinlichkeit seines baldigen Austritts aus der Gesellschaft abgegeben hatte, als er viele Zeichen des Kummers und der Bestürzung an den Tag legte. In dem Übermaß seiner Verzweiflung machte er sogar gewisse unbestimmte Versprechungen wegen einer baldigen Aufbesserung nicht nur der regelmäßigen Gage, sondern auch der schriftstellerischen Nebeneinkünfte. Als er aber fand, daß Nicolaus sich von seinem Vorhaben, die Gesellschaft zu verlassen, nicht abbringen lassen wollte – denn dieser war nun fest entschlossen, auch ohne weitere Nachrichten von Newman auf jede Gefahr hin sich nach London zu begeben und durch persönlichen Augenschein sich über die Lage seiner Schwester Beruhigung zu verschaffen –, so mußte er sich begnügen, auf dessen Zurückkunft zu hoffen, wobei er es jedoch nicht unterließ, schnelle und energische Maßregeln zu treffen, um ihn vor seinem Abgang noch bestmöglich auf die Bühne zu stellen.

»Warten Sie einmal«, sagte Herr Crummles, indem er seine Geächtetenperücke abnahm, um die Lage der Dinge um so ruhiger überschauen zu können – »warten Sie einmal: heute haben wir Mittwoch abend. Das erste Geschäft für morgen soll sein, daß Zettel angeklebt werden, die für diesen Tag Ihr letztes Auftreten ankündigen.«

»Sie können aber nicht wissen, ob ich morgen zum letzten Male auftrete«, versetzte Nicolaus. »Wenn ich nicht abgerufen werde, so sollen Sie durch mich bis zum Ende dieser Woche in keine Angelegenheit geraten.«

»Um so besser«, entgegnete Herr Crummles. Wir können dann aufs allerbestimmteste Ihr letztes Auftreten auf den Donnerstag ankündigen – ein neues Engagement noch für eine einzige Nacht am Freitag – und endlich auf ausdrückliches Verlangen der einflußreichsten Gönner, die bei der letzten Vorstellung keine Sitze mehr erhalten haben, ein allerletztes Auftreten am Samstag. Das muß uns drei ganz anständig gefüllte Häuser bringen.«

»So soll ich also dreimal zum letzen Male auftreten?« fragte Nicolaus lächelnd.

»Ja«, erwiderte der Theaterdirektor, indem er sich verdrießlich am Kopfe kratzte, »es ist das noch zu wenig und verdirbt mir das ganze Konzept, daß wir nicht noch einige ›zum letzten Male‹ zusammenbringen können. Aber da läßt sich nun einmal nichts machen, und durch Schwatzen darüber wird nichts gewonnen. Etwas Neues käme auch sehr gelegen. Glauben Sie wohl, ein komisches Liedchen, auf dem Pony sitzend, singen zu können?«

»Das wird sich in der Tat kaum machen lassen«, versetzte Nicolaus.

»Es hat früher schon Geld eingebracht«, entgegnete Herr Crummles mit einem Blick unangenehmer Enttäuschung. »Was halten Sie von einem brillanten Feuerwerk?«

»Daß es ziemlich kostspielig werden dürfte«, erwiderte Nicolaus trocken.

»Achtzehn Pence würden ausreichen«, sagte Herr Crummles. »Sie stünden auf einer Tribüne mit dem Wunderkind in eleganter Haltung: hinten ein Transparent mit einem ›Lebewohl‹; an den Kulissen neun Leute mit einem bengalischen Licht in jeder Hand – das ganze anderthalb Dutzend müßte auf einmal losgehen – es würde sich von vorn ganz grandios – ergreifend, wahrhaft ergreifend auenehmen.«

Da Nicolaus von der Großartigkeit einer solchen Szene nicht sonderlich überzeugt zu sein schien, sondern im Gegenteil den Vorschlag auf eine höchst unehrerbietige Weise recht herzlich verlachte, so gab ihn Herr Crummles sogleich wieder auf und bemerkte düster, daß sie eben dann den Zettel aufs beste mit Kämpfen und Tänzen ausstatten und sich an das regelmäßige Drama halten müßten.

Um diesen Plan augenblicklich auszuführen, verfügte sich der Theaterdirektor sogleich in ein anstoßendes kleines Ankleidezinnner, wo Madame Crummles eben beschäftigt war, die Gewänder einer Kaiserin aus einem Melodrama gegen den gewöhnlichen Anzug von Frauen des neunzehnten Jahrhunderts zu vertauschen. Mit dieser Dame und der in allen Sätteln gerechten Madame Grudden, die ein wahres Genie zu Abfassung von Theaterprogrammen besaß (denn sie wußte die auf Bewunderung abzielenden Bemerkungen recht gut einzuschalten und kannte aus langjähriger Erfahrung genau, was in fetter Schrift gedruckt werden müsse), wurde nun die Abfassung der Anschlagzettel aufs ernstlichste beraten.

»Ach«, seufzte Nicolaus, sich in dem Stuhl des Souffleurs zurücklehnend, nachdem er Smike die nötigen telegraphischen Zeichen gegeben hatte, der in einem Zwischenspiel als ein magerer Schneider aufgetreten war und als solcher nur einen Rockschoß besaß, in dem sich ein kleines, sehr durchlöchertes Taschentuch befand, eine wollene Nachtmütze auf dem Kopf trug und nebst anderen charakteristischen Merkmalen der Schneider auf den Brettern eine rote Nase hatte. »Ach, ich wünschte, all das wäre vorüber.«

»Vorüber, Herr Johnson?« wiederholte hinter ihm eine weibliche Stimme mit einer Art schmerzlichen Staunens.

»Es klang allerdings etwas ungalant«, versetzte Nicolaus, der, als er sich umsah, in der Sprecherin Fräulein Snevellicci erkannte, »und ich würde nicht so gesprochen haben, wenn ich gewußt hätte, daß ich mich in dem Bereiche Ihres Ohres befände.«

»Was für ein köstlicher Mensch der Herr Dickby ist!« sagte Fräulein Snevellicci, als der Schneider am Ende des Stücks unter großem Beifall auf der andern Seite der Bühne abtrat. (Smikes Theatername war Dickby.)

»Ich will ihm sogleich Ihre Worte hinterbringen, die ihn natürlich ungemein erfreuen müssen«, versetzte Nicolaus.

»O Sie loser Mensch!« entgegnete Fräulein Snevellicci. Aber es kann mir so ziemlich gleichgültig sein, ob er meine Meinung von ihm erfährt, während es in der Tat bei andern Leuten –«

Fräulein Snevellicci hielt hier inne, als erwarte sie eine Frage, die aber nicht erfolgte, weil Nicolaus an weit ernstere Dinge dachte.

»Wie freundlich es von Ihnen ist«, nahm Fräulein Snevellicci nach einer kurzen Pause wieder auf, »dazusitzen und Abend für Abend auf ihn zu warten, so ermattet Sie auch sein mögen. Und was Sie sich Mühe mit ihm geben, und alles mit so viel Freude und Bereitwilligkeit tun, als ob es Ihnen Geld einbrächte.«

»Er verdient alle Freundlichkeit, die ich ihm erweisen kann, und noch viel mehr«, versetzte Nicolaus. »Er ist das dankbarste, redlichste und liebevollste Geschöpf, das je geatmet hat.«

»Und auch das sonderbarste – nicht wahr?« bemerkte Fräulein Snevellicci.

»Das weiß Gott, und möge er denen verzeihen, die ihn dazu gebracht haben!« entgegnete Nicolaus, seinen Kopf schüttelnd.

»Er ist ein verdammt schweigsamer Kunde«, sagte Herr Folair, der ein wenig näher getreten war und sich nun in die Unterhaltung mischte. »Kein Mensch kann etwas aus ihm herausbringen.«

»Und was will man denn aus ihm herausbringen?« fragte Nicolaus jäh und wandte sich nach dem Sprecher um.

»Donnerwetter, wie das gleich sprudelt und kocht, Johnson«, erwiderte Herr Folair, indem er die Ferse seines Tanzschuhes in die Höhe zog. »Ich spreche nur von der natürlichen Neugierde der Leute hier, die auch etwas von seinem Leben erfahren möchten.«

»Der arme Junge! Ich sollte aber meinen, es liege klar auf der Hand, daß er nicht genug Klarheit besitzt, um für Sie oder für jemand anders von besonderem Interesse zu sein«, sagte Nicolaus.

»Freilich«, versetzte der Schauspieler, indem er den Effekt seines Gesichtes in einem Lampenreflektor betrachtete; »aber eben deshalb liegt die ganze Frage um so näher.«

»Welche Frage?« entgegnete Nicolaus.

»Je nun, das wer und was er ist, und wie Sie beide, trotz der großen Verschiedenheit der Charaktere, so enge Freunde geworden sind«, erwiderte Herr Folair, ganz entzückt über die Gelegenheit, jemandem etwas Unangenehmes sagen zu können. »Alle Welt spricht davon.«

»Diese alle Welt besteht übrigens, wie ich mir denke, nur in dem Theatervolk?« sagte Nicolaus verächtlich.

»In Theatervolk und andern Leuten«, versetzte der Schauspieler. »Wissen Sie nicht, daß Lenville sagt –«

»Ich dachte, ich hätte diesen wohl für einige Zeit zum Schweigen gebracht«, fiel Nicolaus rot werdend ein.

»Möglich«, entgegnete der unabweisliche Herr Folair, »und wenn dies der Fall ist, so sagte er es wahrscheinlich vorher. Lenville sagte also, Sie wären ein wahrer Stock von einem Schauspieler, und das ganze Glück, das Sie hier bei dem Publikum gemacht hätten, läge in dem Geheimnis, womit Sie sich umgäben, und das Crummles wegen seines eigenen Vorteils begünstigte. Dabei meint Lenville, es stecke wohl weiter nichts hinter dem Ganzen, als daß Sie irgendwo tief in der Patsche gesessen und wegen irgendeinem Streich davongelaufen wären.«

»Ah!« sagte Nicolaus, ein Lächeln erzwingend.

»Das ist übrigens nur ein Teil von dem, was er sagt«, fügte Herr Folair bei, »und ich teile es Ihnen als Freund beider Teile und im strengsten Vertrauen mit. Sie wissen, daß ich nicht seiner Ansicht bin. Er sagt, er halte Dickby mehr für einen Spitzbuben als für einen Einfaltspinsel, und unser Packesel, der alte Fluggers, erzählt, in der vorletzten Saison, als er im Conventgarden Ausläufer war, sei immer ein Taschendieb um den Fiakerplatz herumgeschlichen, der genau das Gesicht von Dickby gehabt hätte. Er fügte übrigens hinzu, es sei doch vielleicht nicht Dickby gewesen, sondern nur sein Bruder oder ein anderer naher Verwandter.«

»Ah!« rief Nicolaus abermals.

»Ja, so sagen sie«, fuhr Folair in ungetrübter Ruhe fort. »Ich nahm mir vor, es Ihnen zu erzählen, weil Sie eigentlich davon wissen sollten. Ah, da kommt endlich das holdselige Wunderkind. Uff! Du kleiner Wechselbalg, ich wollte, ich hätte dich – ich komme gleich, mein Schätzchen. – Der Affe! Klingeln Sie zum Aufziehen, Madame Grudden, und lassen Sie das Schoßhündchen des Publikums seinen Tanz aufführen.«

Während Folair das, was von den letzteren Anspielungen für das Wunderkind schmeichelhaft war, laut aussprach und den Rest Nicolaus vertraulich »beiseite« zuflüsterte, folgte er dem aufgehenden Vorhang mit den Augen und war mit höhnischem Bick Zeuge des Beifallsturmes vor Fräulein Crummles. Dann trat er ein paar Schritte zurück, um einen bessern Anlauf zu gewinnen, ließ ein einleitendes Geheul erschallen und schoß, mit den Zähnen klappernd und einen blechernen Tomahawk schwingend, als wilder Indianer auf die Bühne.

»Das sind also einige von den Geschichtchen, die über uns erdichtet werden und von Mund zu Mund laufen?« dachte Nicolaus. »Will jemand ein unverzeihliches Verbrechen gegen irgendeine Gesellschaft, mag sie groß oder klein sein, begehen, so braucht er nur Glück zu haben; alles andere wird ihm vergeben, nur nicht dieses.«

»Sie nehmen’s sich doch nicht zu Herzen, was dieser boshafte Mensch sagte?« bemerkte Fräulein Snevellicci in ihren gewinnendsten Tönen.

»Nicht doch«, versetzte Nicolaus. »Wenn ich im Sinn hätte hierzubleiben, so würde ich es vielleicht der Mühe wert halten, die Sache weiter zu verfolgen. Da dies aber nicht der Fall ist, so mögen sie sich meinetwegen heiser schwatzen. Doch da kommt der, den ein Teil Ihres Wohlwollens trifft«, fügte Nicolaus bei, als Smike näher trat; »und so wollen wir Ihnen denn miteinander gute Nacht sagen.«

»Nein, nein, Sie dürfen mir nicht so kommen«, entgegnete Fräulein Snevellicci. »Sie müssen mich nach Haus begleiten und meine Mutter besuchen, die erst heute in Portsmouth ankam und vor Begierde stirbt, Sie kennenzulernen. »Liebe Led, helfen Sie mir Herrn Johnson überreden.«

»O gewiß«, erwiderte Fräulein Ledrook mit großer Lebhaftigkeit; »wenn Sie ihn nicht überreden können –«

Fräulein Ledrook sagte nichts weiter, gab aber durch eine geschickte Pantomime zu verstehen, daß ihn wohl niemand zu überreden vermöchte, wenn es Fräulein Snevellicci nicht gelänge.

»Herr und Madame Lillyvick haben sich in unserem Hause einquartiert und teilen für den Augenblick unser Zimmer«, sagte Fräulein Snevellicci. »Wird nicht vielleicht dies Sie bestimmen?«

»Was kann es eines weiteren Bestimmungsgrundes nach Ihrer Einladung bedürfen?« versetzte Nicolaus.

»O, das find ich auch!« entgegnete Fräulein Snevellicci.

Und Fräulein Ledrook meinte: »Hab ich’s nicht gesagt?« worauf Fräulein Snevellicci sagte, Fräulein Ledrook wäre ein loses Ding; und Fräulein Ledrook versicherte, Fräulein Snevellicci brauche nicht so rot zu werden; und Fräulein Snevellicci gab Fräulein Ledrook einen Klaps, und Fräulein Ledrook klapste Fräulein Snevellicci wieder.

»Kommen Sie, Herr Johnson«, sagte Fräulein Ledrook, »es ist hohe Zeit zum Nachhausegehen, sonst meint die arme Madame Snevellicci, Sie seien mit ihrer Tochter davongelaufen, und da würden wir nur zu trösten haben.«

»Liebe Led, wie können Sie nur so sprechen«, verwies ihr Fräulein Snevellicci.

Fräulein Ledrook erwiderte nichts, sondern nahm Smikes Arm und überließ es Nicolaus und ihrer Freundin, nach Gefallen zu folgen. Es gefiel ihnen jedoch, oder vielmehr es gefiel Nicolaus, dem es unter obwaltenden Umständen nicht besonders um ein trauliches Beisammensein zu tun war, ihr auf dem Fuße nachzukommen.

Es fehlte, als sie die Straße erreichten, nicht an Unterhaltungsstoff; denn es fand sich, daß Fräulein Snevellicci ein kleines Körbchen und Fräulein Ledrook eine kleine Schachtel nach Hause zu tragen hatten, in denen sie jeden Abend den kleineren Toilettenbedarf mit sich zu führen pflegten. Nicolaus wollte es sich nun nicht nehmen lassen, das Körbchen zu tragen, und Fräulein Snevellicci bestand darauf, es selber zu tun, was zu einem Kampf Veranlassung gab, in dem Nicolaus sich des Körbchens und der Schachtel zugleich bemächtigte. Dann sagte Nicolaus, er möchte doch wissen, was in dem Körbchen wäre, und versuchte es, hineinzusehen, worauf Fräulein Snevellicci schrie und die Erklärung abgab, daß sie, wenn sie denken müßte, er hätte etwas gesehen, gewiß in Ohnmacht sinken würde. Er machte nun einen ähnlichen Versuch mit der Schachtel, was dieselben Demonstrationen von Fräulein Ledrook zur Folge hatte. Dann beteuerten beide Damen, daß sie keinen Schritt von der Stelle gehen würden, bis Nicolaus versprochen hätte, nicht mehr hineinzusehen. Endlich gelobte Nicolaus, keine fernere Neugierde zu verraten, und sie gingen weiter, wobei beide Damen sehr viel kicherten und erklärten, sie hätten all ihrer Lebtage keinen so gottlosen Menschen gesehen – nein, in ihrem Leben nie!

Indem sie sich den Weg mit derartigen Scherzen kürzten, erreichten sie bald das Haus des Schneiders, wo sich nun eine recht hübsche kleine Gesellschaft zusammengefunden hatte; denn außer Herrn und Frau Lillyvick war nicht nur Fräulein Snevelliccis Mutter, sondern auch ihr Vater zugegen. Und was für ein ungemein schöner Mann war nicht dieser Vater? Er hatte eine Habichtsnase, eine weiße Stirne, krauses schwarzes Haar, hohe Backenknochen und im ganzen ein hübsches Gesicht, das nur – vielleicht vom Trinken – etwas kupfern angelaufen war. Er hatte eine sehr breite Brust und trug einen dicht zugeknöpften, fadenscheinigen blauen Rock mit vergoldeten Knöpfen. Sobald er Nicolaus in das Zimmer treten sah, steckte er die beiden Vorderfinger seiner rechten Hand zwischen die beiden mittleren Knöpfe, indem er zugleich den andern Arm anmutig in die Seite stemmte, als wolle er sagen: »Nun, hier bin ich, junger Mensch; was ist dein Begehr?«

Dies war das Äußere und die Haltung von Fräulein Snevelliccis Papa, der, seit er die zehnjährigen Teufelchen in den Weihnachtspantomimen gespielt hatte, der Kunst lebte. Er konnte ein wenig singen, ein wenig tanzen, ein wenig fechten, ein wenig spielen und von allem ein wenig, aber nicht viel. Er war bald beim Ballett, bald als Chorist, und überhaupt bei jedem Theater in London engagiert gewesen und wurde seiner Figur wegen für die Rollen militärischer Besuche und stummer Edelleute ausgewählt. Er war immer schmuck gekleidet und nahm sich besonders gut aus, wenn er Arm in Arm mit einer hübschen Dame in kurzem Röckchen ging, was er mit so viel Würde tat, daß ihm das Publikum im Parterre immer »Bravo« zurief, weil es ihn für etwas Besonderes hielt. Dies war Fräulein Snevelliccis Papa, dem einige neidische Personen nachsagten, er prügle hin und wieder Fräulein Snevelliccis Mama, die noch immer eine Tänzerin von ziemlich niedlicher Figur war und noch einige Reste eines früher schönen Gesichts zeigte. Sie saß jetzt da, wie sie tanzte, nämlich im Hintergrunde, da sie etwas zu alt für den vollen Glanz der Lampen des Proszeniums geworden war.

Diesen guten Leutchen wurde Nicolaus mit großer Förmlichkeit vorgestellt. Als die Zeremonie vorüber war, sagte Fräulein Snevelliccis Papa (der bedeutend nach Grog roch), er wäre ganz entzückt, die Bekanntschaft eines so ungemein talentvollen jungen Mannes zu machen, und bemerkte dabei noch weiter, daß ihm noch kein Künstler vorgekommen sei, der so rasch sein Glück gemacht hätte – nein, keiner – seit dem ersten Auftreten seines Freundes, des Herrn Glavormelly auf dem Coburg-Theater.

»Sie haben ihn wohl gesehen, Sir?« fragte Fräulein Snevelliccis Papa.

»Nein, ich kann mich dessen nicht rühmen«, versetzte Nicolaus.

»Wie – meinen Freund Glavormelly nicht gesehen, Sir?« rief Fräulein Snevelliccis Papa. »Dann haben Sie noch nie einen Schauspieler gesehen. Wenn er noch am Leben wäre – –«

»Ach, er ist also tot?« fiel Nicolaus ein.

»Ja«, antwortete Herr Snevellicci; »aber er ist zur Schande seines Zeitalters nicht in der Westminsterabtei. Er war ein – – Nun, gleichgültig! Er ist hingegangen nach dem Lande, aus dem kein Wanderer wiederkehrt. Ich hoffe, daß dort sein Wert mehr Anerkennung finden wird.«

Bei diesen Worten rieb Fräulein Snevelliccis Papa die Spitze seiner Nase mit einem sehr gelben seidenen Taschentuch und gab dadurch der Gesellschaft zu verstehen, daß ihn diese Rückerinnerungen überwältigten.

»Nun, Herr Lillyvick«, sagte Nicolaus, »wie geht es Ihnen?«

»Ganz gut«, erwiderte der Steuereinnehmer. »Verlassen Sie sich darauf, es geht nichts über den Ehestand.«

»Was Sie sagen!« entgegnete Nicolaus lachend.

»Nichts, gar nichts, Sir«, bekräftigte Herr Lillyvick. »Was meinen Sie?« flüsterte der Steuereinnehmer Nicolaus ins Ohr, indem er ihn beiseite nahm. »Wie kommt Ihnen diesen Abend ihr Aussehen vor?«

»So schön wie immer«, erwiderte Nicolaus mit einem Blick nach dem vormaligen Fräulein Petowker.

»Es liegt etwas in ihrem Wesen, Sir«, flüsterte der Steuereinnehmer fort, »das ich nie bei einem andern Frauenzimmer sah. Sehen Sie nur jetzt, wie sie dahinschwebt, um den Kessel auf das Feuer zu setzen. Ist nicht ein wahrer Zauber darin, Sir?«

»Sie sind ein glücklicher Mann«, sagte Nicolaus.

»Hahaha!« lachte der Steuereinnehmer. »Meinen Sie wirklich? Kann sein, kann sein! Ich sage Ihnen, ich hätte es nicht besser treffen können, wenn ich ein junger Mann gewesen wäre – meinen Sie nicht auch? Sie selbst hätten keinen besseren Treffer machen können. Oder hätten Sie – wie? – hätten Sie?«

Unter diesen und vielen ähnlichen Fragen stieß Herr Lillyvick fortwährend seinen Ellbogen in Nicolaus‘ Seite und kicherte, bis sein Gesicht unter der Bemühung, sein Vergnügen nicht laut werden zu lassen, ganz rot wurde.

Mittlerweile war durch die vereinten Bemühungen aller Damen das Tischtuch auf zwei aneinandergerückte Tische gelegt worden, von denen der eine hoch und schmal, der andere niedrig und breit war. Am oberen Ende standen Austern, unten Würste, in der Mitte eine Lichtputze und überall, wo es anging, Teller mit gebratenen Kartoffeln. Man hatte aus dem Schlafzimmer zwei weitere Stühle herbeigebracht. Fräulein Snevellicci saß oben an der Tafel, Herr Lillyvick unten, und Nicolaus hatte nicht nur die Ehre, neben Fräulein Snevellicci zu sitzen, sondern erhielt auch noch Fräulein Snevelliccis Mama auf die rechte Seite und Fräulein Snevelliccis Papa zum Visavis. Mit einem Wort, er war der Held des Festes, und als die Tafel aufgeräumt war und warmes Getränk herumgereicht wurde, stand Herr Snevellicci auf und hielt auf die Gesundheit des abreisenden Künstlers eine so rührende Rede, daß Fräulein Snevellicci weinte und sich nach ihrem Schlafgemach zurückziehen mußte.

»Pst! Lassen Sie sich nicht stören!« sagte Fräulein Ledrook, als sie aus dem Schlafzimmer herausblickte. »Sagen Sie ihr, wenn sie wieder zurückkommt, sie möchte sich nicht so sehr angreifen.«

Fräulein Ledrook stattete, ehe sie die Tür wieder schloß, ihre Worte mit so viel geheimnisvollem Nicken und Winken aus, daß auf einmal ein tiefes Schweigen eintrat, währenddem Fräulein Snevelliccis Papa sich sehr breit machte, der Reihe nach jedermann, insbesondere aber Nicolaus, mit vollen Blicken von oben her maß und ohne Unterlaß sein Glas leerte und wieder füllte, bis die Damen in einer Gruppe, in deren Mitte sich Fräulein Snevellicci befand, wieder zurückkehrten.

»Sie brauchen sich nicht im mindesten zu beunruhigen, Herr Snevellicci«, sagte Madame Lillyvick. »Sie ist nur etwas schwach und angegriffen und war es schon den ganzen Tag über.«

»Ach – so; ist’s weiter nichts?« entgegnete Herr Snevellicci.

»Nein, weiter nichts. Machen Sie nur kein Wesen davon«, riefen die Damen untereinander.

Das war nun freilich keine Antwort für Herrn Snevellicci, der seine ganze Bedeutung als Mann und Vater fühlte; und so griff er sich denn die unglückliche Madame Snevellicci heraus und fragte sie, was zum Teufel das heißen wolle, daß sie so mit ihm spreche.

»Ach Gott, mein Lieber – –« entgegnete Madame Snevellicci.

»Nenne mich nicht deinen Lieben, wenn ich bitten darf«, versetzte Herr Snevellicci.

»Bitte, Papa, nicht so«, fiel Fräulein Snevellicci ein.

»Was nicht so, mein Kind?«

»Reden Sie nicht in dieser Weise.«

»Warum nicht?« sagte Herr Snevellicci. »Du nimmst hoffentlich nicht an, daß hier jemand ist, der mir verbieten kann zu reden, wie mir beliebt?«

»Das hat ja niemand im Sinn, Papa«, versetzte die Tochter.

Und niemand würde es vermögen, wenn man es auch im Sinn hätte«, entgegnete Herr Snevellicci. »Ich brauche mich meiner selbst nicht zu schämen. Ich heiße Snevellicci und bin Bogenstraße im ›Breiten Hof‹ zu finden, wenn ich mich in der Stadt aufhalte. Bin ich nicht zu Hause, so kann man mich im Theater erfragen. Gott verdamme mich, ich denke, man kennt mich dort! Die meisten Leute haben mein Porträt an dem Tabaksladen um die Ecke gesehen. Auch in den Zeitungen hat man von mir gelesen – oder etwa nicht? – Nicht sprechen sollen! Ich will dir was sagen: wenn ich ausfindig machte, daß ein Mann mit den Gefühlen meiner Tochter sein Spiel getrieben hätte, so würde ich nicht sprechen; aber er sollte mir aufsehen, ohne daß ein Wort von meinen Lippen käme – das ist so meine Weise.«

So sprechend schlug Herr Snevellicci dreimal mit der geballten Faust in die Fläche seiner linken Hand, knuffte eine »Nase« mit den Knöcheln der Vorderfinger seiner rechten Hand und schluckte ein weiteres Glas voll auf einen Zug hinunter.

»Das ist so meine Weise«, wiederholte Herr Snevellicci.

Die meisten öffentlichen Persönlichkeiten haben ihre Mängel: und die Wahrheit ist, daß Herr Snevellicci ein wenig dem Trunk ergeben war, oder wenn wir die ganze Wahrheit zugestehen wollen, daß er fast nie nüchtern wurde. Er kannte in seinem Zechersystem drei bestimmte Grade der Betrunkenheit – den würdevollen, den streitsüchtigen und den zärtlichen. Wenn er auftreten mußte, so ging er nie über den würdevollen hinaus. In Privatgesellschaften pflegte er jedoch alle drei, und zwar mit einer solchen Raschheit des Übergangs durchzumachen, daß die, die nicht die Ehre seiner näheren Bekanntschaft hatten, ganz verblüfft darüber wurden.

Herr Snevellicci hatte kaum noch ein weiteres Glas hinuntergeschluckt, als er in glücklicher Vergessenheit der eben zur Schau gestellten Kampflust allen Anwesenden zulächelte und in liebenswürdiger Aufregung einen Toast »auf die süßen Herzen der Damen« ausbrachte.

»Ich liebe sie«, sagte Herr Snevellicci, indem er sich an dem Tische umsah. »Ich liebe sie samt und sonders.«

»Nicht samt und sonders«, entgegnete Herr Lillyvick mild.

»Ja, samt und sonders«, wiederholte Herr Snevellicci.

»Da wären ja auch die verheirateten Damen mit eingeschlossen?« versetzte Herr Lillyvick.

»Ich liebe auch diese, Sir«, erwiderte Herr Snevellicci.

Der Steuereinnehmer sah auf die ihn umgebenden Gesichter mit einem Blicke würdevoller Verwunderung, der zu sagen schien, »das ist mir ein sauberes Früchtchen.« Er war auch augenscheinlich ein wenig überrascht, daß Madame Lillyvick keine Zeichen von Entsetzen und Entrüstung an den Tag legte.

»Eine Hand wäscht die andere«, fuhr Herr Snevellicci fort. »Ich liebe sie und sie lieben mich.«

Und als ob durch diese Äußerung der Sittlichkeit nicht genug Hohn gesprochen wäre – was tat Herr Snevellicci? Er blinzelte – blinzelte offen und ohne Hehl; blinzelte mit seinem rechten Auge – Madame Henriette Lillyvick zu!

Der Steuereinnehmer fiel im Übermaß seines Entsetzens auf seinem Stuhle zurück. Wenn ihr jemand als Henriette Petowker zugeblinzelt hätte, so wäre es schon im höchsten Grade unanständig gewesen! Aber als Madame Lillyvick – der Gedanke trieb ihm den kalten Schweiß auf die Stirn, und während er darüber nachsann, ob es wirklich auch möglich sei und er nicht bloß träume, wiederholte Herr Snevellicci sein Blinzeln, trank Madame Lillyvick mit allerlei Gesten zu und sandte – wirklich, er sandte sogar ein Kußhändchcn nach ihr hinüber. Herr Lillyvick verließ seinen Stuhl, ging geradezu nach dem andern Ende der Tafel und fiel augenblicklich – fallen im buchstäblichen Sinn genommen – über ihn her. Herr Lillyvick war keine leichte Last, und wenn er also über Snevellicci herfiel, so mußte Herr Snevellicci unter den Tisch fallen. Herr Lillyvick folgte ihm, und die Damen kreischten laut auf.

»Was haben die zwei miteinander? Sind sie toll?« rief Nicolaus, indem er unter den Tisch griff, den Steuereinnehmer mit kräftiger Faust hervorzog und denselben wie einen Strohmann in einen Stuhl warf. »Was soll das bedeuten? Was hatten Sie vor? Was ist über Sie gekommen?«

Während sich Nicolaus mit dem Steuereinnehmer zu schaffen machte, leistete Smike Herrn Snevellicci den gleichen Liebesdienst, der jetzt seinen Gegner mit dem leeren Blicke der Trunkenheit anstierte.

»Sehen Sie dorthin, Sir«, versetzte Herr Lillyvick, indem er auf seine erstaunte Gattin zeigte. »Da ist Reinheit und Anmut vereinigt; und ihre Gefühle sind beleidigt – tief verwundet worden.«

»Um Gottes willen, was schwatzt er für Unsinn!« rief Madame Lillyvick auf Nicolaus‘ fragenden Blick. »Niemand hat etwas zu mir gesagt.«

»Gesagt, Henrietta?« rief der Steuereinnehmer. »Habe ich nicht selbst mit angesehen, wie er dir –«

Herr Lillyvick konnte es nicht über sich gewinnen, das Wort auszusprechen, sondern äffte das Blinzeln des andern nach.

»Nun«, entgegnete Madame Lillyvick heftig, »glaubst du, niemand dürfe mich ansehen? Wenn das Brauch wäre, so möchte der Henker verheiratet sein!«

»Du fühltest dich also nicht gekränkt?« rief der Steuereinnehmer.

»Gekränkt?« wiederholte Madame Lillyvick mit einem Ton der Verachtung. »Du solltest die ganze Gesellschaft auf den Knien um Verzeihung bitten.«

»Um Verzeihung bitten, meine Liebe?« entgegnete der verblüffte Steuereinnehmer.

»Ja, und mich zuerst«, versetzte Madame Lillyvick. »Glaubst du, ich wisse nicht selbst am besten, was sich schickt, und was sich nicht schickt?«

»Ganz natürlich«, riefen alle Damen. »Meinen Sie, wir würden nicht die ersten sein, die sprächen, wenn etwas Auffallendes vorkäme?«

»Und glauben Sie etwa, daß den Damen kein Urteil zusteht, Sir?« fragte Fräulein Snevelliccis Papa, indem er seinen Kragen in die Höhe zog und etwas von Schädelzertrümmern sprach, wenn ihn nicht die Rücksicht auf das Alter seines Gegners zurückhielte. Herr Snevellicci faßte hierauf Herrn Lillyvick einige Augenblicke fest und strenge ins Auge, stand dann ganz bedächtig vom Stuhle auf und küßte die Damen der Reihe nach, wobei er mit Madame Lillyvick den Anfang machte.

Der unglückliche Steuereinnehmer warf seiner Gattin einen kläglichen Blick zu, als wolle er sich überzeugen, ob auch nur noch ein Zug von Fräulein Petowker in Madame Lillyvick übriggeblieben sei. Als er aber – leider nur zu deutlich – das Gegenteil fand, so bat er die ganze Gesellschaft demütig um Verzeihung und setzte sich – niedergeschlagen, entmutigt und entzaubert, so daß er trotz seiner Selbstsucht und Eigenliebe ein würdiger Gegenstand des Erbarmens war.

Fräulein Snevelliccis Papa schwebte ob diesem Triumph und dem augenfälligen Belege seines Glückes bei den Damen ganz in höheren Gefilden und ließ seiner Munterkeit so weit den Zügel, daß man es fast Ausgelassenheit hätte nennen können. Er gab dann mehr als ein beträchtlich langes Lied zum besten und ergötzte in den Pausen den geselligen Zirkel mit Reminiszenzen an verschiedene herrliche Frauen, die im Verdacht gestanden hätten, in ihn verliebt zu sein. Auf die Namen einiger von ihnen brachte er Toaste aus und verfehlte dabei nicht anzumerken, daß er, wenn er in früheren Jahren seinen Vorteil besser verstanden hätte, gegenwärtig mit vieren fahren könnte. Diese Erinnerungen schienen jedoch in Madame Snevelliccis Brust keine besonders schmerzlichen Gefühle zu erwecken, denn sie war zu sehr beschäftigt, Nicolaus die mannigfaltigen Vorzüge und Verdienste ihrer Tochter auseinanderzusetzen.

Auch die junge Dame selbst verfehlte nicht, allen ihren Zauber spielen zu lassen. Aber so sehr dieser durch Fräulein Ledrooks kleine Künste gehoben war, so vermochte er doch Nicolaus‘ Aufmerksamkeit nicht zu vermehren, da dieser junge Mann das Bild von Fräulein Squeers noch zu lebhaft im Gedächtnis hatte, um sich neuen Lockungen hinzugeben, weshalb er auch sein Benehmen so sorgfältig bewachte, daß ihn, als er sich entfernt hatte, die Damen einstimmig für ein wahres Ungeheuer von Fühllosigkeit erklärten.

Am andern Tage wurden die Theaterzettel pflichtschuldig ausgehängt, und das Publikum erfuhr durch Buchstaben, die in allen Farben des Regenbogens und in jeder nur denkbaren Rückgratsverkrümmung prangten, Herr Johnson werde die Ehre haben, diesen Abend zum letztenmal aufzutreten, weshalb man bitte, die Plätze zeitig zu bestellen, da ein ungeheurer Zudrang zu erwarten stehe. Es ist gewiß ein merkwürdiger Umstand in den Chroniken des Theaterwesens, der aber längst durch Erfahrung über allen Zweifel erhaben ist, daß man sich vergeblich bemühen wird, Leute zum Besuch eines Schauspielhauses zu veranlassen, wenn man ihnen nicht den Glauben beibringen kann, daß sie keinen Platz finden würden.

Als Nicolaus am Abend die Bühne betrat, wußte er sich die ungewöhnliche Verstörung und Aufregung, die sich in den Gesichtern aller Gesellschaftsmitglieder spiegelten, nicht recht zu deuten. Er blieb aber nicht lange über die Ursache im Zweifel, denn ehe er noch Zeit hatte, darüber Nachfrage anzustellen, trat Herr Crummles auf ihn zu und teilte ihm ziemlich erhitzt mit, daß ein Londoner Theaterdirektor in einer der Logen säße.

»Sicherlich wegen des Wunderkindes, Sir«, sagte Crummles, indem er Nicolaus nach der kleinen Öffnung in dem Vorhang hinzog, damit er sich den Londoner Theaterdirektor betrachte. »Ich zweifle nicht im geringsten, daß ihn der Ruf des Wunderkindes hergelockt hat. Dort ist er – der Mann in dem Überrock und ohne Hemdkragen. Er muß ihr zehn Pfund wöchentlich zahlen, Johnson. Ich lasse sie um keinen Heller weniger auf den Londoner Brettern auftreten. Auch gebe ich sie nicht her, wenn nicht meine Frau zu gleicher Zeit engagiert wird – zwanzig Pfund wöchentlich für beide; oder ich will Ihnen was sagen, ich gebe mich und die zwei Jungen in den Kauf, wenn er für die ganze Familie dreißig zahlt. Ehrlicher kann man gewiß nicht zu Werke gehen. Er muß uns alle nehmen, denn keines geht ohne das andere. Viele Londoner machen’s so, und es entspricht immer ihrem Zweck. Dreißig Pfund wöchentlich, Johnson – es ist ein Spottgeld, Johnson, ein Spottgeld.«

Nicolaus pflichtete bei, und Herr Vincent Crummles eilte, nachdem er sich durch mehrere tüchtige Prisen gestärkt hatte, hinweg, um Madame Crummles zu sagen, daß er über die einzigen annehmbaren Bedingungen mit sich eins geworden wäre und den festen Entschluß gefaßt hätte, um keinen Heller davon abzuweichen.

Als alles angekleidet war und der Vorhang aufgezogen wurde, steigerte sich die durch die Anwesenheit des Londoner Theaterdirektors veranlaßte Aufregung tausendfältig. Jedes Mitglied der Gesellschaft war fest überzeugt, der besagte Herr wäre ausdrücklich hierhergekommen, um sein eigenes Spiel anzusehen, weshalb sich auch alle in der höchsten Spannung befanden. Einige von denen, die in der ersten Szene nichts zu tun hatten, eilten zwischen die Kulissen und reckten ihre Hälse, um den gefeierten Mann zu sehen, und andere stahlen sich in die zwei kleinen Schauspielerlogen über dem Eingang, um von da aus den Londoner Direktor zu mustern.

Einmal bemerkte man, daß der Londoner Direktor lächelte – er lächelte über den komischen Landmann, der tat, als ob er Schmeißfliegen fange, während Madame Crummles eben eine Glanzszene hatte. »Sehr gut, Bursche«, sagte Herr Crummles, indem er dem komischen Landmann, als er abtrat, die Faust nachschüttelte, »künftigen Sonntag kannst du dich um ein anderes Engagement umsehen.«

In der gleichen Weise sah jeder auf der Bühne kein Auditorium, sondern nur eine Person – den Londoner Theaterdirektor, für den alle ausschließlich spielten. Als Herr Lenville in einem plötzlichen Ausbruch der Wut den Kaiser einen Elenden nannte, dann aber in seinen Handschuh biß und sagte: »Ich muß mich verstellen«, so hielt er, statt, wie sonst in solchen Fällen üblich ist, finster zur Erde zu sehen und auf sein Stichwort zu warten, den Blick unverwandt auf den Londoner Direktor geheftet. Als Fräulein Bravassa in ihrem Liedchen ihren Geliebten ansang, der wie gewöhnlich bereit stand, um ihr zwischen den Versen die Hände zu schütteln, sahen sie sich nicht gegenseitig an, sondern blickten einzig und allein nach dem Londoner Direktor. Herr Crummles starb und richtete noch im Sterben seine Augen nach ihm, und als die Leibwache kam, um den in einem harten Todeskampf Verschiedenen hinauszutragen, bemerkte man, wie er aufs neue die Augen öffnete und nach dem Londoner Direktor schielte. Endlich entdeckte man, daß der Londoner Direktor eingeschlafen war. Als er dann bald nachher wieder aufwachte und das Theater verließ, fiel der ganze Schwarm über den unglücklichen komischen Landmann her und erklärte, daß seine Buffonerie einzig und allein schuld daran wäre. Herr Crummles behauptete, daß er lange Zeit damit Geduld gehabt hätte, nun aber sie nicht mehr länger ertragen könnte; es würde daher ihm, dem Direktor, sehr angenehm sein, wenn er sich nach einem andern Engagement umsehe.

All das gewährte Nikolaus viel Belustigung, und er freute sich aufrichtig, daß der große Mann von hinnen ging, noch ehe er selbst aufzutreten hatte. Er spielte seine Rollen in den zwei letzten Stücken so rasch wie möglich, und nachdem er mit unbegrenztem Wohlwollen und unerhörtem Beifall seinen Abschied gefeiert hatte – so sagten wenigstens die Zettel für den andern Tag, die schon ein paar Stunden vor dem Spiel gedruckt worden waren –, nahm er Smikes Arm und ging nach Hause, um sich schlafen zu legen.

Mit der Post des nächsten Morgens traf ein sehr verkleckster, sehr kurzer, sehr schmutziger, sehr kleiner und sehr geheimnisvoller Brief von Newman Noggs ein, der Nicolaus zu einer unverzüglichen Rückkehr nach London aufforderte. Er solle keine Zeit verlieren, hieß es darin, und womöglich noch am selben Abend in London anlangen.

»Das soll geschehen«, sagte Nicolaus. »Der Himmel weiß, ich bin in der besten Absicht und sehr gegen meinen eigenen Willen hiergeblieben, vielleicht habe ich aber doch zu lange gezögert. Was mag sich wohl zugetragen haben? Smike, guter Junge, da – nimm meinen Geldbeutel. Packe unsere Sachen ein und bezahle unsere kleinen Schulden. Beeile dich, daß wir die Morgenpost noch benutzen können. Ich will nur Crummles meine Abreise anzeigen und werde im Augenblick wieder hier sein.«

Er nahm nun seinen Hut und eilte nach Herrn Crummles‘ Wohnung, wo er die Klingel so kräftig handhabte, daß er diesen Herrn, der noch im Bett lag, aufweckte und Herrn Bulph, den Lotsen, so erschreckte, daß ihm beinahe seine Morgenpfeife aus dem Mund gefallen wäre.

Die Tür wurde geöffnet, und Nicolaus eilte ohne besondere Förmlichkeit die Treppe hinauf. Er trat rasch in das Wohnzimmer des ersten Stocks, wo die beiden jüngeren Herren Crummles aus der Sofabettstelle gesprungen waren und nun in aller Eile ihre Kleider anzogen, weil sie wähnten, es sei mitten in der Nacht, und das nächste Haus stehe in Feuer.

Ehe ihnen Nicolaus ihren Irrtum aufklären konnte, kam der Theaterdirektor im Flanellschlafrock und in der Nachtmütze herunter; und der junge Mann setzte ihm nun die Umstände, die eine schleunige Reise nach London nötig machten, in Kürze auseinander.

»Und somit Gott befohlen«, sagte Nicolaus; »leben Sie wohl! leben Sie wohl!«

Er war bereits schon wieder zur Hälfte die Treppe hinunter, ehe sich Herr Crummles von seiner Überraschung so weit erholt hatte, um etwas hinsichtlich der Theaterzettel hervorzustottern.

»Ich kann’s nicht ändern«, entgegnete Nicolaus. »Setzen Sie das, was ich für diese Woche zu fordern habe, dagegen, oder wenn Sie das nicht entschädigen sollte, so sagen Sie ohne Umschweife, was Sie verlangen. Geschwind! Geschwind!«

»Wir wollen da gegenseitig unsere Rechnungen streichen«, versetzte Crummles. »Aber könnten wir nicht wenigstens noch ein einziges zum letzenmal haben?«

»Jede Stunde – jede Minute ist mir unersetzlich«, erwiderte Nicolaus ungeduldig.

»Wollen Sie nicht auch noch Madame Crummles Lebewohl sagen?« sagte Herr Crummles, indem er ihm nach der Tür hinunter folgte.

»Ich dürfte nicht länger verweilen, und wenn ich dadurch mein Leben um zwei Jahrzehnte verlängern könnte«, antwortete Nicolaus. »Da, nehmen Sie meine Hand und zugleich meinen herzlichsten Dank. O, daß ich meine Zeit hier so lange mit Faseleien vergeudete!«

Er begleitete diese Worte mit einem ungeduldigen Stampfen auf den Boden. Dann entriß er sich gewaltsam den Armen des Direktors, stürzte in großer Eile auf die Straße hinunter und war in einem Augenblick verschwunden.

»Lieber Himmel«, sagte Herr Crummles, indem er spähend nach der Stelle sah, an der Nicolaus eben unsichtbar geworden war, »was müßte es nicht Geld eintragen, wenn er sich so auf der Bühne benähme! Hätte er nur noch diese Szene mit mir gemacht, wo er mir sonst schon von so gutem Nutzen gewesen ist. Aber er weiß nicht, was ihm gut ist. Er ist ein Hans Obenhinaus; aber so sind junge Leute – immer voreilig, schrecklich voreilig.«

Da Herr Crummles einmal im Moralisieren war, so würde er wohl leicht noch einige Minuten fortgefahren haben, wenn nicht seine Hand mechanisch nach der Westentasche gegriffen hätte, wo er seinen Schnupftabak gewöhnlich aufzubewahren pflegte. Die gänzliche Abwesenheit einer Tasche an der gewohnten Stelle rief ihm jedoch ins Gedächtnis, daß er keine Weste anhatte, und das führte ihn zu einer weiteren Betrachtung seines äußerst knappen Anzugs. Er schloß daher plötzlich die Tür und verfügte sich in großer Eile wieder die Treppe hinauf.

Smike hatte sich in Nicolaus‘ Abwesenheit nach Kräften beeilt, und durch seine Beihilfe war alles bald zur Abreise bereit. Sie erlaubten sich kaum, ein mageres Frühstück zu sich zu nehmen, und in weniger als einer halben Stunde befanden sie sich ganz atemlos vor Eile in dem Postbureau. Sie hatten nur noch einige Minuten übrig, die Nicolaus, nachdem er die Plätze bezahlt hatte, dazu benutzte, um in einem benachbarten Kleidergeschäft für Smike einen Überrock zu kaufen; er wäre zwar für einen stämmigen Pächter groß genug gewesen, aber der Kleiderhändler versicherte – und das war keine Lüge –, daß er ganz außerordentlich passe, und Nicolaus würde ihn in seiner Ungeduld gekauft haben, wenn er auch noch mal so groß gewesen wäre.

Als sie wieder zu der Postkutsche zurückkamen, die nun bereits auf der Straße und zum Aufbruche bereitstand, war Nicolaus nicht wenig überrascht, als er sich plötzlich so dicht und ungestüm umarmt fühlte, daß er mit den Füßen fast in der Luft baumelte. Auch wurde seine Verwunderung nicht im geringsten gemindert, als er Herrn Crummles ausrufen hörte: »Er ist’s – mein Freund! mein Freund!«

»Um Gottes willen«, rief Nicolaus, indem er sich in den Armen des Theaterdirektors sträubte, »was wandelt Sie an?«

Herr Crummles nahm auf diese Frage keine Rücksicht, sondern drückte ihn abermals an seine Brust und rief:

»Lebe wohl, mein edler, mein löwenherziger Junge!«

Die Sache verhielt sich nämlich so: Herr Crummles, der keine Gelegenheit unbenutzt vorbeigehen ließ, sein mimisches Talent zu entfalten, war ausdrücklich in der Absicht hergekommen, sich von Nicolaus öffentlich zu verabschieden, und um die Szene noch imponierender zu machen, entwickelte er nun zu Nicolaus‘ größtem Verdruß eine Reihe von Bühnenumarmungen, die bekanntermaßen darin bestehen, daß der oder die Umarmende das Kinn auf die Schulter des Gegenstandes ihrer Neigung legt und über diese wegsieht. Herr Crummles tat das im höchsten melodramatischen Stile und ließ dabei die beweglichsten Abschiedsphrasen entströmen, an die er sich aus seinem Komödienvorrat erinnern konnte. Aber das war noch nicht alles, denn der ältere Sohn des Herrn Crummles machte eine ähnliche Zeremonie mit Smike durch, während Herr Percy Crummles in einem aus einer Trödelbude gekauften Lakaienmantel, den er theatralisch über seine linke Schulter geworfen hatte, danebenstand, ganz in der Haltung eines Dieners der Gerechtigkeit, der bereit ist, die beiden Opfer nach dem Schafott zu führen.

Die Zuschauer lachten herzlich, und da es das Geratenste war, zum bösen Spiele eine gute Miene zu machen, so lachte Nicolaus mit, sobald er sich Herrn Crummles‘ Krallen entrissen hatte. Er kam dann dem erstaunten Smike zu Hilfe, kletterte mit diesem auf das Kutschendach, küßte die Hand zu Ehren der abwesenden Madame Crummles, und also fuhren sie von dannen.

Einunddreißigstes Kapitel.


Einunddreißigstes Kapitel.

Von Ralph Nickleby und Newman Noggs, nebst einigen weisen Vorsichtsmaßregeln, deren günstiges oder ungünstiges Ergebnis die Folge zeigen wird.

In glücklicher Unwissenheit darüber, daß sein Neffe sich mit der vollen Eile von vier guten Pferden seinem Wirkungskreise näherte und daß jede entschwindende Minute die gegenseitige Entfernung verminderte, saß Ralph Nickleby an jenem Morgen bei seinen gewohnten Geschäften, ohne es übrigens verhindern zu können, daß seine Gedanken hin und wieder zu der Besprechung zurückkehrten, die tags zuvor zwischen ihm und seiner Nichte stattgefunden hatte. Bei solchen Unterbrechungen, die für Augenblicke sein Gehirn verwirrten, pflegte Ralph irgendeine unmutige Verwünschung vor sich hin zu murmeln und kehrte dann mit erneuter Emsigkeit zu dem vor ihm liegenden Hauptbuche zurück. Aber der gleiche Gedankengang kam wieder und wieder trotz seiner Bemühungen, ihn fernzuhalten, wodurch Verwirrung in seine Berechnung kam und seine Aufmerksamkeit ganz von den Ziffern, über denen er brütete, abgelenkt wurde. Endlich legte er seine Feder nieder und lehnte sich in seinem Stuhle zurück, als sei er entschlossen, dem aufdringlichen Ideenstrome seinen Lauf zu lassen, um dadurch, daß er ihm vollen Spielraum gäbe, sich seiner auf eine wirksame Weise zu entledigen.

»Ich bin nicht der Mann, der sich durch ein hübsches Gesicht rühren läßt«, brummte Ralph vor sich hin. »Ein grinsender Schädel liegt dahinter, und Männer wie ich, die nicht bloß an dem Oberflächlichen hängen, sehen das Tieferliegende, ohne sich durch die hinfällige Hülle blenden zu lassen. Und doch kommt es mir fast vor, als liebe ich dies Mädchen, oder ich könnte sie lieben, wenn sie weniger stolz und weniger eigen erzogen wäre. Läge der Bube in irgendeinem Flusse oder hinge an einem Galgen und wäre die Mutter tot, so sollte dies Haus ihre Heimat sein. Ja, ich wünsche von ganzem Herzen, daß es so wäre.«

Ungeachtet des tödlichen Hasses, den Ralph gegen Nicolaus hegte, und der bittern Verachtung, womit er die arme Frau Nickleby verhöhnte –, ungeachtet der Schlechtigkeit, mit der er sich sogar gegen Käthchen benommen hatte, noch benahm und sich zu jeder Zeit benommen haben würde, wenn es mit seinem Vorteile im Einklang stand –, ungeachtet alles dessen lag doch, so sonderbar es auch klingen mag, in diesem Augenblick etwas Menschliches und sogar Zartes in seinen Gedanken. Er stellte Betrachtungen darüber an, was sein Haus sein könnte, wenn Käthchen darin waltete, vergegenwärtigte sich diese auf einem der leeren Stühle, blickte nach ihr hin und hörte den Ton ihrer Stimme. Er fühlte abermals auf seinem Arme den sanften Druck ihrer zitternden Hand. Er erfüllte seine kostbaren Gemächer mit den hundert stummen Anzeichen weiblicher Gegenwart und Geschäftigkeit; dann kehrten seine Gedanken zu dem verödeten Herde und zu dem stummen und traurigen Prunk seiner Wohnung zurück. In diesem einzigen Lichtblick seiner bessern Natur, so sehr er auch durch Selbstsucht verkümmert war, fühlte sich der reiche Mann einsam, freund- und kinderlos. Das Gold hatte in diesem Augenblicke keinen Wert für ihn: denn er fühlte eine Ahnung zahlloser Schätze des Herzens, die sich nicht durch klingende Münze erkaufen ließen.

Ein höchst geringfügiger Umstand war jedoch hinreichend, derartige Betrachtungen aus der Seele eines solchen Mannes zu verscheuchen. Als Ralph zerstreut über den Hof nach dem Fenster des andern Bureaus hinblickte, gewahrte er plötzlich, daß Newman Noggs mit seiner roten Nase fast das Glas berührte, scheinbar zwar mit dem rostigen Bruchstücke eines Federmessers seine Feder spitzend, in Wirklichkeit aber seinen Brotherrn mit dem aufmerksamsten Späherblicke beobachtend.

Ralph änderte seine träumerische Stellung und beugte sich wieder über sein Buch. Newmans Gesicht verschwand, und der eben unterbrochene Gedankenzug war mit einemmal dahin.

Nach einigen Minuten zog Ralph seine Klingel. Newman trat ein und Ralph erhob verstohlen seine Augen zu dessen Gesicht, als fürchte er auf diesem ein Wissen um seine kürzlichen Gedanken zu lesen.

In Newman Noggs‘ Gesicht lag jedoch nicht die mindeste Spur einer ausforschenden Absicht. Wenn man sich einen Mann mit zwei weit offenen Augen im Kopf denken kann, die in keine Richtung hinschauen und nichts sehen, so mochte Newman in dem Augenblick, als ihn Ralph Nickleby betrachtete, einen solchen Mann vorstellen.

»Nun, was gibt’s?« brummte Ralph.

»Ach«, sagte Newman, der plötzlich eine Spur von Verstand in seine Augen legte und sie auf seinen Herrn fallen ließ, »ich glaubte, Sie hätten geklingelt.«

Ntit dieser lakonischen Bemerkung wandte sich Newman um und hinkte der Tür zu.

»Halt!« rief Ralph.

Newman blieb ohne die mindeste Verlegenheit stehen.

»Ich klingelte.«

»Das wußte ich.«

»Wenn Sie das wußten, warum wollten Sie gehen?«

»Ich dachte, Sie hätten geklingelt, um mir zu sagen, daß Sie nicht geklingelt hätten«, versetzte Newman. »Sie machen’s oft so.«

»Wie können Sie sich unterstehen, den Spürhund zu machen, nach mir zu sehen und mich anzugaffen. Sie Lumpenkerl«, fragte Ralph.

»Sie anzugaffen«, rief Newman. »Haha!«

Das war die ganze Erwiderung, die Newman dieser Frage würdigte.

»Sehen Sie sich vor, Herr«, sagte Ralph, indem er ihn festen Blickes betrachtete. »Ich will keinen betrunkenen Narren in meinem Hause haben. Sehen Sie dieses Paket?«

»Es ist groß genug«, versetzte Newman.

»Tragen Sie es in die City – zu Croß in der Breiten Straße und lassen Sie es dort – rasch. Hören Sie?«

Newman nickte eine verdrießliche Bejahung, verließ das Zimmer und kehrte nach einigen Sekunden mit seinem Hut zurück. Nachdem er einige erfolglose Versuche gemacht hatte, das ein paar Fuß im Quadrat habende Paket in seiner Kopfbedeckung unterzubringen, nahm er es unter den Arm, zog dann, die ganze Zeit über Herrn Ralph Nickleby fixierend, sehr sorgfältig seine fingerlosen Handschuhe an, setzte mit scheinbarer oder wirklicher Bedächtigkeit seinen Hut auf den Kopf, als wäre er nagelneu und von der ausgesuchtesten Qualität, und verließ endlich das Zimmer, um seine Botschaft zu bestellen.

Er vollzog seinen Auftrag mit großer Pünktlichkeit und Eile, indem er nur auf eine halbe Minute in einem einzigen Wirtshaus einsprach, das ihm recht eigentlich auf dem Wege lag; denn er ging durch die eine Tür hinein und kam durch die andere wieder heraus. Als er jedoch wieder umkehrte und auf seinem Heimweg den Strand berührte, begann er mit der unsicheren Miene eines Mannes, der nicht ganz schlüssig ist, ob er halten oder weitergehen soll, zu zögern. Nach einer sehr kurzen Überlegung entschied er sich für das erstere, klopfte mit einem bescheidenen, oder besser gesagt mit einem unsicheren einfachen Doppelschlag an Fräulein La Creevys Tür.

Sie wurde durch ein fremdes Dienstmädchen geöffnet, auf das die sonderbare Figur des Besuchers nicht den günstigsten Eindruck zu machen schien; denn sie war seiner kaum ansichtig geworden, als sie die Tür wieder beinahe schloß und sich mit der Frage, was er begehre, hinter die schmale Spalte stellte. Newman ließ aber nur ganz einsilbig das Wort »Noggs« hören, als habe dasselbe beschwörende Bedeutung und müßten vor seinem Klang die Riegel zurück- und die Türen weit auffliegen. Er drängte sich rasch an dem Mädchen vorbei und erreichte die Tür von Fräulein La Creevys Arbeitszimmer, ehe noch der erschrockene Dienstbote etwas einzuwenden vermochte.

»Um Gottes willen!« rief Fräulein La Creevy erschreckt, als Newman auf ihr »Herein!« ins Zimmer stürzte. »Was steht zu Diensten, Sir?«

»Sie erinnern sich meiner nicht mehr?« sagte Newman mit einer Kopfneigung. »Das nimmt mich nicht wunder. Es ist freilich begreiflich genug, daß mich niemand kennt, der mich in früheren Tagen gekannt hat; aber es gibt wenige, die mich, wenn sie mich jetzt sehen – und wäre es auch nur ein einziges Mal – wieder vergessen.«

Er blickte bei diesen Worten auf seine abgetragenen Kleider und sein gelähmtes Bein und schüttelte leicht den Kopf.

»Ich konnte mich allerdings nicht gleich Ihrer entsinnen«, versetzte Fräulein La Creevy, indem sie aufstand und Newman entgegentrat; »und ich schäme mich deshalb vor mir selber; denn Sie sind ein guter und wohlwollender Mann, Herr Noggs. Setzen Sie sich und erzählen Sie mir, was Sie von Fräulein Nickleby wissen. Das arme Kind! Ich habe sie seit vielen Wochen nicht gesehen.«

»Warum das?« fragte Newman.

»Offen gestanden, Herr Noggs«, sagte Fräulein La Creevy, »ich habe auswärts einen Besuch gemacht – die erste Reise seit fünfzehn Jahren.«

»Das ist eine lange Zeit«, entgegnete Newman melancholisch.

»Es ist allerdings eine sehr lange Zeit, wenn man die Jahre zählt. Aber die einzelnen Tage schwinden, Gott sei Dank, auf die eine oder die andere Weise friedlich und glücklich genug dahin«, versetzte die Miniaturmalerin. »Ich habe einen Bruder, Herr Noggs – der einzige Verwandte, der mir geblieben ist –, und ich habe ihn in dieser ganzen Zeit kein einziges Mal gesehen. Nicht daß wir je im Streit miteinander gelebt hatten, aber er wurde im Lande unten in die Lehre getan, verheiratete sich dort, und in den neuen Banden, die ihn da umschlossen, vergaß er ein so armes kleines Frauenzimmer, wie ich bin, was auch ganz begreiflich ist. Glauben Sie übrigens nicht, daß ich mich darüber beklage; denn ich sagte mir immer: ›Es liegt in der Natur der Sache. Der arme Johann sucht sich in der Welt fortzuhelfen, so gut er kann, hat eine Frau, der er seinen Kummer und seine Sorgen mitteilen kann, und Kinder, die um ihn spielen, und so möge Gott ihn und sie segnen und uns alle seinerzeit an einem Ort zusammenführen, wo wir uns nie wieder trennen werden.‹ – Aber was sagen Sie dazu, Herr Noggs?« fuhr die Porträtmalerin fort, indem sie mit erheitertem Gesicht ihre Hände zusammenschlug. »Derselbe Bruder kommt kürzlich nach London und läßt nicht ab, bis er mich aufgefunden hat. Was meinen Sie – er kam hierher, saß in demselben Stuhl, in dem Sie sitzen, und weinte wie ein Kind aus lauter Freunde, mich wiederzusehen. Was sagen Sie dazu, daß er darauf bestand, mich mit aufs Land in sein Haus zu nehmen – ein ganz prächtiges Haus, Herr Noggs, mit einem großen Garten und ich weiß nicht wieviel Morgen Feld, einem Diener in Livree, der bei Tisch aufwartet, mit Kühen, Pferden, Schweinen und Gott weiß was sonst noch. Er hielt mich einen ganzen Monat zurück und drang in mich, mein ganzes Leben über bei ihm zu bleiben – ja, mein ganzes Leben über. Das gleiche tat sein Weib und dasselbe taten seine Kinder – es sind ihrer vier; und dem ältesten davon, einem Mädchen, haben sie vor gut acht Jahren meinen Namen beigelegt – ja, das haben sie. Ich war nie so glücklich, – in meinem ganzen Leben nie!«

Die gute Dame verbarg ihr Gesicht in ihrem Taschentuch und schluchzte laut; denn Newmans Besuch gab ihr zum erstenmal Gelegenheit, ihrem Herzen Luft zu machen.

»Aber du mein Himmel«, fuhr Fräulein La Creevy nach einer kurzen Pause fort, indem sie ihre Augen trocknete und ihr Tuch mit großer Geschäftigkeit und Hast in den Strickbeutel steckte, »wie töricht muß es Ihnen vorkommen, Herr Noggs! Ich hätte eigentlich davon schweigen sollen, und ich erzählte es Ihnen nur, um Ihnen zu erklären, warum ich Fräulein Nickleby so lange nicht gesehen habe.«

»Sind Sie auch nicht mit der alten Frau zusammengekommen?« fragte Newman.

»Sie meinen Madame Nickleby?« versetzte Fräulein La Creevy. »Dann will ich Ihnen was sagen, Herr Noggs – wenn Sie bei ihr gut angeschrieben bleiben wollen, so werden Sie guttun, sie nie mehr die alte Frau zu nennen, denn ich vermute, daß sie diesen Ehrentitel nicht besonders wohlgefällig aufnehmen dürfte. – Ja, ich besuchte sie vorgestern abend, aber sie schwebte ganz auf dem hohen Seile und tat so vornehm und geheimnisvoll, daß ich nicht wußte, was ich aus ihr machen sollte. Offen gestanden, ich spielte dann auch die Vornehme, und so kamen wir auseinander. Ich dachte, sie würde bald ihre Saiten wieder herunterspannen; sie hat mich aber noch nicht wieder besucht.«

»Und Fräulein Nickleby?« entgegnete Newman.

»Sie war in meiner Abwesenheit zweimal hier«, erwiderte Fräulein La Creevy. »Ich fürchtete, sie möchte es ungern sehen, wenn ich sie unter den vornehmen Leuten, bei denen sie lebt, besuchte, und so wollte ich ein paar Tage abwarten, ob sie nicht wieder herkäme, und ihr dann schreiben.«

»Ah!« rief Newman, an seinen Fingern knackend.

»Ich möchte übrigens durch Sie Neuigkeiten von ihnen erfahren«, sagte Fräulein La Creevy. »Was macht das alte, grobe und zähe Ungeheuer von Golden Square? Es ist natürlich wohl, denn solches Volk ist es immer. Ich meine also nicht seine Gesundheit, sondern wie er sich gegen seine Verwandten benimmt?«

»Gott verdamm‘ ihn!« rief Newman, seinen gehätschelten Hut auf den Boden schleudernd; »er benimmt sich wie der nichtswürdigste Hund, den die Erde trägt.«

»Barmherziger Himmel, Herr Noggs, Sie erschrecken mich«, rief Fräulein La Creevy erbleichend.

»Ich würde ihm gestern nachmittag sein Gesicht gezeichnet haben, wenn ich es hätte wagen dürfen«, sagte Newman, indem er in großer Aufregung auf und ab ging und seine Faust gegen Cannings Porträt über dem Kaminsims schüttelte. »Ich war nahe daran und mußte meine Hände mit Gewalt in der Tasche festhalten; aber ich tue es einmal – gewiß, ich tue es einmal in dem kleinen Hinterzimmer. – Ich hätte ihn schon früher einmal in Arbeit genommen, wenn ich nicht gefürchtet hätte, das Übel noch viel schlimmer zu machen. Aber ich will mich einschließen mit ihm und die Sache mit ihm ausfechten, ehe ich sterbe – gewiß und wahrhaftig.«

»Ich werde schreien, wenn Sie sich nicht zusammennehmen, Herr Noggs«, entgegnete Fräulein La Creevy. »Ich kann so nicht allein mit Ihnen im Zimmer bleiben.«

»Kehren Sie sich nicht daran«, erwiderte Newman, ungestüm auf und ab schießend. »Er kommt heute abend; ich habe ihm geschrieben. Er hat keine Ahnung davon, daß ich um seine Schliche weiß und daß ich mich um diese kümmere. Der verschmitzte Schurke! Er träumt sich nichts davon – nein, nein! Doch gleichgültig. Ich will ihm einen Strich durch die Rechnung machen, ich, Newman Noggs. Ho, ho, der Bösewicht!«

Newmans Wut steigerte sich bis zum höchsten Gipfel, und er schoß mit so exzentrischen Bewegungen im Zimmer hin und her, wie man sie wohl nie an einem menschlichen Wesen gesehen, indem er bald gegen die kleinen Miniaturbilder an der Wand gestikulierte, bald, um die Illusion zu erhöhen, mit den Fäusten seinen Kopf zerhämmerte, bis er ganz atemlos und erschöpft wieder auf seinen früheren Sitz sank.

»So!« sagte Newman, seinen Hut wieder aufnehmend: »das hat mir gutgetan. Ich fühle mich jetzt besser, und Sie sollen nun alles erfahren.«

Es bedurfte einiger Zeit, um Fräulein La Creevy, die durch diese merkwürdige Demonstration aufs höchste erschreckt und ganz außer Fassung gekommen war, wieder zu beruhigen. Dann aber erstattete Newman treuen Bericht über alles, was sich bei Gelegenheit von Käthchens Unterredung mit ihrem Onkel zugetragen hatte, wobei er seine Erzählung mit der Versicherung, daß er schon früher aus diesen und jenen Gründen Argwohn geschöpft, bekräftigte, und mit der Mitteilung schloß, daß er heimlich an Nicolaus geschrieben hätte.

Obgleich sich die Entrüstung der kleinen La Creevy nicht in einer so ungewöhnlichen Weise äußerte wie bei Newman, so war sie doch kaum weniger lebhaft. In der Tat – wenn Ralph Nickleby in diesem Augenblick ins Zimmer getreten wäre, so hätte man nicht wissen können, ob er in Fräulein La Creevy oder in Newman Noggs einen gefährlicheren Gegner gefunden haben würde.

»Gott verzeih‘ mir die Sünde«, schloß Fräulein La Creevy ihren Zornerguß, »aber es ist mir, als könnte ich ihm mit Vergnügen das ins Herz stoßen.«

Fräulein La Creevys Waffe war freilich keine besonders furchtbare: denn sie bestand in nicht mehr und nicht minder als in einem Bleistift. Als sie jedoch ihren Irrtum wahrnahm, vertauschte ihn die kleine Malerin mit einem Perlenmutterobstmesser, womit sie, zum Beweis ihrer Wut, einen Stoß führte, der kaum ein Krümchen von einem Brotlaib heruntergesäbelt haben würde.

»Sie wird morgen nicht mehr in dem Hause sein«, sagte Newman; »das ist ein Trost.«

»Ach, ich wollte, sie hätte es schon vor Wochen verlassen«, rief Fräulein La Creevy.

»Ja, wenn man’s hätte wissen können«, versetzte Newman: »aber das war eben nicht der Fall. Es steht niemandem zu, sich in die Sache zu mischen, als ihrer Mutter oder ihrem Bruder. Die Mutter ist schwach – ein armes, schwaches Ding. Aber der liebe junge Mann wird noch diesen Abend hier sein.«

»Um Gottes willen«, rief Fräulein La Creevy, »er wird etwas Verzweifeltes beginnen, wenn Sie ihm gleich alles sagen.«

Newman hörte auf, die Hände zu reiben, und nahm eine gedankenvolle Miene an.

»Verlassen Sie sich darauf«, sagte Fräulein La Creevy mit Nachdruck, »wenn Sie ihm die Wahrheit nicht sehr behutsam beibringen, so wird er irgendeine Gewalttätigkeit gegen seinen Onkel oder einen dieser Menschen verüben, die ihn in ein schreckliches Unglück stürzen und Gram und Sorge über uns bringen kann.«

»Daran dachte ich nicht«, versetzte Newman, dessen Gesicht sich immer mehr verdunkelte. »Ich kam her, um Sie zu fragen, ob Sie die Schwester aufnehmen würden, wenn sie zu Ihnen gebracht würde, aber –«

»Aber es ist von weit größerer Wichtigkeit«, unterbrach ihn Fräulein La Creevy, »daß Sie die Sache besser bedacht hätten, ehe Sie kamen; denn der Ausgang dieser Dinge läßt sich nicht voraussehen, wenn Sie nicht mit der größten Behutsamkeit zu Werke gehen.«

»Was kann ich tun?« rief Noggs, indem er sich verlegen am Kopf kratzte. »Wenn er sagt, er wolle sie alle totschießen, was bleibt mir da anders zu erwidern, als: ›Nur zu – aber treffen Sie gut.‹«

Fräulein La Creevy konnte bei diesen Worten einen Angstruf nicht unterdrücken und ging sogleich ans Werk, Newman das feierliche Versprechen abzudringen, daß er alles aufbieten wolle, den Zorn des jungen Nickleby zu besänftigen, was denn auch nach einigem Zögern zugestanden wurde. Dann hielten sie miteinander Rat, wie man ihm die Umstände, die seine Gegenwart notwendig machten, auf die sicherste und gefahrloseste Weise mitteilen könne.

»Man muß es so einrichten, daß er Zeit hat, um ruhiger zu werden, ehe er entsprechende Schritte tun kann«, sagte Fräulein La Creevy. Das ist von der größten Wichtigkeit. Man darf es ihm erst spät in der Nacht sagen.«

»Aber er wird schon abends zwischen sechs und sieben Uhr in der Stadt sein«, versetzte Newman. »Ich darf ihm den wahren Stand der Dinge nicht vorenthalten, wenn er mich fragt.«

»So müssen Sie ausgehen, Herr Noggs«, entgegnete Fräulein La Creevy. »Sie können ja leicht durch ein Geschäft verhindert worden sein und dürfen nicht vor Mitternacht nach Hause kommen.«

»Dann wird er schnurstracks hierherkommen«, erwiderte Newman.

»Wahrscheinlich wird er das tun«, erwiderte Fräulein La Creevy; »aber er soll auch mich nicht finden; denn ich gehe, sobald Sie mich verlassen, in die City, versöhne mich mit Madame Nickleby und nehme sie mit ins Theater, so daß er nicht einmal den Aufenthalt seiner Schwester erfährt.«

Nach einer weiteren Erörterung stellte sich dieser Ausweg als der sicherste und tunlichste heraus. Es wurde daher ausgemacht, die Maßregeln danach zu nehmen, und Newman, der zum Schlusse noch viele Verwarnungen und Bitten anhören mußte, verabschiedete sich von Fräulein La Creevy und humpelte nach Golden Square zurück, wobei er unterwegs eine Unzahl von Wahrscheinlichkeiten und Unwahrscheinlichkeiten wiederkäute, die infolge der eben geendigten Unterhaltung sein Gehirn bedrängten.