Einunddreißigstes Kapitel.
Von Ralph Nickleby und Newman Noggs, nebst einigen weisen Vorsichtsmaßregeln, deren günstiges oder ungünstiges Ergebnis die Folge zeigen wird.
In glücklicher Unwissenheit darüber, daß sein Neffe sich mit der vollen Eile von vier guten Pferden seinem Wirkungskreise näherte und daß jede entschwindende Minute die gegenseitige Entfernung verminderte, saß Ralph Nickleby an jenem Morgen bei seinen gewohnten Geschäften, ohne es übrigens verhindern zu können, daß seine Gedanken hin und wieder zu der Besprechung zurückkehrten, die tags zuvor zwischen ihm und seiner Nichte stattgefunden hatte. Bei solchen Unterbrechungen, die für Augenblicke sein Gehirn verwirrten, pflegte Ralph irgendeine unmutige Verwünschung vor sich hin zu murmeln und kehrte dann mit erneuter Emsigkeit zu dem vor ihm liegenden Hauptbuche zurück. Aber der gleiche Gedankengang kam wieder und wieder trotz seiner Bemühungen, ihn fernzuhalten, wodurch Verwirrung in seine Berechnung kam und seine Aufmerksamkeit ganz von den Ziffern, über denen er brütete, abgelenkt wurde. Endlich legte er seine Feder nieder und lehnte sich in seinem Stuhle zurück, als sei er entschlossen, dem aufdringlichen Ideenstrome seinen Lauf zu lassen, um dadurch, daß er ihm vollen Spielraum gäbe, sich seiner auf eine wirksame Weise zu entledigen.
»Ich bin nicht der Mann, der sich durch ein hübsches Gesicht rühren läßt«, brummte Ralph vor sich hin. »Ein grinsender Schädel liegt dahinter, und Männer wie ich, die nicht bloß an dem Oberflächlichen hängen, sehen das Tieferliegende, ohne sich durch die hinfällige Hülle blenden zu lassen. Und doch kommt es mir fast vor, als liebe ich dies Mädchen, oder ich könnte sie lieben, wenn sie weniger stolz und weniger eigen erzogen wäre. Läge der Bube in irgendeinem Flusse oder hinge an einem Galgen und wäre die Mutter tot, so sollte dies Haus ihre Heimat sein. Ja, ich wünsche von ganzem Herzen, daß es so wäre.«
Ungeachtet des tödlichen Hasses, den Ralph gegen Nicolaus hegte, und der bittern Verachtung, womit er die arme Frau Nickleby verhöhnte –, ungeachtet der Schlechtigkeit, mit der er sich sogar gegen Käthchen benommen hatte, noch benahm und sich zu jeder Zeit benommen haben würde, wenn es mit seinem Vorteile im Einklang stand –, ungeachtet alles dessen lag doch, so sonderbar es auch klingen mag, in diesem Augenblick etwas Menschliches und sogar Zartes in seinen Gedanken. Er stellte Betrachtungen darüber an, was sein Haus sein könnte, wenn Käthchen darin waltete, vergegenwärtigte sich diese auf einem der leeren Stühle, blickte nach ihr hin und hörte den Ton ihrer Stimme. Er fühlte abermals auf seinem Arme den sanften Druck ihrer zitternden Hand. Er erfüllte seine kostbaren Gemächer mit den hundert stummen Anzeichen weiblicher Gegenwart und Geschäftigkeit; dann kehrten seine Gedanken zu dem verödeten Herde und zu dem stummen und traurigen Prunk seiner Wohnung zurück. In diesem einzigen Lichtblick seiner bessern Natur, so sehr er auch durch Selbstsucht verkümmert war, fühlte sich der reiche Mann einsam, freund- und kinderlos. Das Gold hatte in diesem Augenblicke keinen Wert für ihn: denn er fühlte eine Ahnung zahlloser Schätze des Herzens, die sich nicht durch klingende Münze erkaufen ließen.
Ein höchst geringfügiger Umstand war jedoch hinreichend, derartige Betrachtungen aus der Seele eines solchen Mannes zu verscheuchen. Als Ralph zerstreut über den Hof nach dem Fenster des andern Bureaus hinblickte, gewahrte er plötzlich, daß Newman Noggs mit seiner roten Nase fast das Glas berührte, scheinbar zwar mit dem rostigen Bruchstücke eines Federmessers seine Feder spitzend, in Wirklichkeit aber seinen Brotherrn mit dem aufmerksamsten Späherblicke beobachtend.
Ralph änderte seine träumerische Stellung und beugte sich wieder über sein Buch. Newmans Gesicht verschwand, und der eben unterbrochene Gedankenzug war mit einemmal dahin.
Nach einigen Minuten zog Ralph seine Klingel. Newman trat ein und Ralph erhob verstohlen seine Augen zu dessen Gesicht, als fürchte er auf diesem ein Wissen um seine kürzlichen Gedanken zu lesen.
In Newman Noggs‘ Gesicht lag jedoch nicht die mindeste Spur einer ausforschenden Absicht. Wenn man sich einen Mann mit zwei weit offenen Augen im Kopf denken kann, die in keine Richtung hinschauen und nichts sehen, so mochte Newman in dem Augenblick, als ihn Ralph Nickleby betrachtete, einen solchen Mann vorstellen.
»Nun, was gibt’s?« brummte Ralph.
»Ach«, sagte Newman, der plötzlich eine Spur von Verstand in seine Augen legte und sie auf seinen Herrn fallen ließ, »ich glaubte, Sie hätten geklingelt.«
Ntit dieser lakonischen Bemerkung wandte sich Newman um und hinkte der Tür zu.
»Halt!« rief Ralph.
Newman blieb ohne die mindeste Verlegenheit stehen.
»Ich klingelte.«
»Das wußte ich.«
»Wenn Sie das wußten, warum wollten Sie gehen?«
»Ich dachte, Sie hätten geklingelt, um mir zu sagen, daß Sie nicht geklingelt hätten«, versetzte Newman. »Sie machen’s oft so.«
»Wie können Sie sich unterstehen, den Spürhund zu machen, nach mir zu sehen und mich anzugaffen. Sie Lumpenkerl«, fragte Ralph.
»Sie anzugaffen«, rief Newman. »Haha!«
Das war die ganze Erwiderung, die Newman dieser Frage würdigte.
»Sehen Sie sich vor, Herr«, sagte Ralph, indem er ihn festen Blickes betrachtete. »Ich will keinen betrunkenen Narren in meinem Hause haben. Sehen Sie dieses Paket?«
»Es ist groß genug«, versetzte Newman.
»Tragen Sie es in die City – zu Croß in der Breiten Straße und lassen Sie es dort – rasch. Hören Sie?«
Newman nickte eine verdrießliche Bejahung, verließ das Zimmer und kehrte nach einigen Sekunden mit seinem Hut zurück. Nachdem er einige erfolglose Versuche gemacht hatte, das ein paar Fuß im Quadrat habende Paket in seiner Kopfbedeckung unterzubringen, nahm er es unter den Arm, zog dann, die ganze Zeit über Herrn Ralph Nickleby fixierend, sehr sorgfältig seine fingerlosen Handschuhe an, setzte mit scheinbarer oder wirklicher Bedächtigkeit seinen Hut auf den Kopf, als wäre er nagelneu und von der ausgesuchtesten Qualität, und verließ endlich das Zimmer, um seine Botschaft zu bestellen.
Er vollzog seinen Auftrag mit großer Pünktlichkeit und Eile, indem er nur auf eine halbe Minute in einem einzigen Wirtshaus einsprach, das ihm recht eigentlich auf dem Wege lag; denn er ging durch die eine Tür hinein und kam durch die andere wieder heraus. Als er jedoch wieder umkehrte und auf seinem Heimweg den Strand berührte, begann er mit der unsicheren Miene eines Mannes, der nicht ganz schlüssig ist, ob er halten oder weitergehen soll, zu zögern. Nach einer sehr kurzen Überlegung entschied er sich für das erstere, klopfte mit einem bescheidenen, oder besser gesagt mit einem unsicheren einfachen Doppelschlag an Fräulein La Creevys Tür.
Sie wurde durch ein fremdes Dienstmädchen geöffnet, auf das die sonderbare Figur des Besuchers nicht den günstigsten Eindruck zu machen schien; denn sie war seiner kaum ansichtig geworden, als sie die Tür wieder beinahe schloß und sich mit der Frage, was er begehre, hinter die schmale Spalte stellte. Newman ließ aber nur ganz einsilbig das Wort »Noggs« hören, als habe dasselbe beschwörende Bedeutung und müßten vor seinem Klang die Riegel zurück- und die Türen weit auffliegen. Er drängte sich rasch an dem Mädchen vorbei und erreichte die Tür von Fräulein La Creevys Arbeitszimmer, ehe noch der erschrockene Dienstbote etwas einzuwenden vermochte.
»Um Gottes willen!« rief Fräulein La Creevy erschreckt, als Newman auf ihr »Herein!« ins Zimmer stürzte. »Was steht zu Diensten, Sir?«
»Sie erinnern sich meiner nicht mehr?« sagte Newman mit einer Kopfneigung. »Das nimmt mich nicht wunder. Es ist freilich begreiflich genug, daß mich niemand kennt, der mich in früheren Tagen gekannt hat; aber es gibt wenige, die mich, wenn sie mich jetzt sehen – und wäre es auch nur ein einziges Mal – wieder vergessen.«
Er blickte bei diesen Worten auf seine abgetragenen Kleider und sein gelähmtes Bein und schüttelte leicht den Kopf.
»Ich konnte mich allerdings nicht gleich Ihrer entsinnen«, versetzte Fräulein La Creevy, indem sie aufstand und Newman entgegentrat; »und ich schäme mich deshalb vor mir selber; denn Sie sind ein guter und wohlwollender Mann, Herr Noggs. Setzen Sie sich und erzählen Sie mir, was Sie von Fräulein Nickleby wissen. Das arme Kind! Ich habe sie seit vielen Wochen nicht gesehen.«
»Warum das?« fragte Newman.
»Offen gestanden, Herr Noggs«, sagte Fräulein La Creevy, »ich habe auswärts einen Besuch gemacht – die erste Reise seit fünfzehn Jahren.«
»Das ist eine lange Zeit«, entgegnete Newman melancholisch.
»Es ist allerdings eine sehr lange Zeit, wenn man die Jahre zählt. Aber die einzelnen Tage schwinden, Gott sei Dank, auf die eine oder die andere Weise friedlich und glücklich genug dahin«, versetzte die Miniaturmalerin. »Ich habe einen Bruder, Herr Noggs – der einzige Verwandte, der mir geblieben ist –, und ich habe ihn in dieser ganzen Zeit kein einziges Mal gesehen. Nicht daß wir je im Streit miteinander gelebt hatten, aber er wurde im Lande unten in die Lehre getan, verheiratete sich dort, und in den neuen Banden, die ihn da umschlossen, vergaß er ein so armes kleines Frauenzimmer, wie ich bin, was auch ganz begreiflich ist. Glauben Sie übrigens nicht, daß ich mich darüber beklage; denn ich sagte mir immer: ›Es liegt in der Natur der Sache. Der arme Johann sucht sich in der Welt fortzuhelfen, so gut er kann, hat eine Frau, der er seinen Kummer und seine Sorgen mitteilen kann, und Kinder, die um ihn spielen, und so möge Gott ihn und sie segnen und uns alle seinerzeit an einem Ort zusammenführen, wo wir uns nie wieder trennen werden.‹ – Aber was sagen Sie dazu, Herr Noggs?« fuhr die Porträtmalerin fort, indem sie mit erheitertem Gesicht ihre Hände zusammenschlug. »Derselbe Bruder kommt kürzlich nach London und läßt nicht ab, bis er mich aufgefunden hat. Was meinen Sie – er kam hierher, saß in demselben Stuhl, in dem Sie sitzen, und weinte wie ein Kind aus lauter Freunde, mich wiederzusehen. Was sagen Sie dazu, daß er darauf bestand, mich mit aufs Land in sein Haus zu nehmen – ein ganz prächtiges Haus, Herr Noggs, mit einem großen Garten und ich weiß nicht wieviel Morgen Feld, einem Diener in Livree, der bei Tisch aufwartet, mit Kühen, Pferden, Schweinen und Gott weiß was sonst noch. Er hielt mich einen ganzen Monat zurück und drang in mich, mein ganzes Leben über bei ihm zu bleiben – ja, mein ganzes Leben über. Das gleiche tat sein Weib und dasselbe taten seine Kinder – es sind ihrer vier; und dem ältesten davon, einem Mädchen, haben sie vor gut acht Jahren meinen Namen beigelegt – ja, das haben sie. Ich war nie so glücklich, – in meinem ganzen Leben nie!«
Die gute Dame verbarg ihr Gesicht in ihrem Taschentuch und schluchzte laut; denn Newmans Besuch gab ihr zum erstenmal Gelegenheit, ihrem Herzen Luft zu machen.
»Aber du mein Himmel«, fuhr Fräulein La Creevy nach einer kurzen Pause fort, indem sie ihre Augen trocknete und ihr Tuch mit großer Geschäftigkeit und Hast in den Strickbeutel steckte, »wie töricht muß es Ihnen vorkommen, Herr Noggs! Ich hätte eigentlich davon schweigen sollen, und ich erzählte es Ihnen nur, um Ihnen zu erklären, warum ich Fräulein Nickleby so lange nicht gesehen habe.«
»Sind Sie auch nicht mit der alten Frau zusammengekommen?« fragte Newman.
»Sie meinen Madame Nickleby?« versetzte Fräulein La Creevy. »Dann will ich Ihnen was sagen, Herr Noggs – wenn Sie bei ihr gut angeschrieben bleiben wollen, so werden Sie guttun, sie nie mehr die alte Frau zu nennen, denn ich vermute, daß sie diesen Ehrentitel nicht besonders wohlgefällig aufnehmen dürfte. – Ja, ich besuchte sie vorgestern abend, aber sie schwebte ganz auf dem hohen Seile und tat so vornehm und geheimnisvoll, daß ich nicht wußte, was ich aus ihr machen sollte. Offen gestanden, ich spielte dann auch die Vornehme, und so kamen wir auseinander. Ich dachte, sie würde bald ihre Saiten wieder herunterspannen; sie hat mich aber noch nicht wieder besucht.«
»Und Fräulein Nickleby?« entgegnete Newman.
»Sie war in meiner Abwesenheit zweimal hier«, erwiderte Fräulein La Creevy. »Ich fürchtete, sie möchte es ungern sehen, wenn ich sie unter den vornehmen Leuten, bei denen sie lebt, besuchte, und so wollte ich ein paar Tage abwarten, ob sie nicht wieder herkäme, und ihr dann schreiben.«
»Ah!« rief Newman, an seinen Fingern knackend.
»Ich möchte übrigens durch Sie Neuigkeiten von ihnen erfahren«, sagte Fräulein La Creevy. »Was macht das alte, grobe und zähe Ungeheuer von Golden Square? Es ist natürlich wohl, denn solches Volk ist es immer. Ich meine also nicht seine Gesundheit, sondern wie er sich gegen seine Verwandten benimmt?«
»Gott verdamm‘ ihn!« rief Newman, seinen gehätschelten Hut auf den Boden schleudernd; »er benimmt sich wie der nichtswürdigste Hund, den die Erde trägt.«
»Barmherziger Himmel, Herr Noggs, Sie erschrecken mich«, rief Fräulein La Creevy erbleichend.
»Ich würde ihm gestern nachmittag sein Gesicht gezeichnet haben, wenn ich es hätte wagen dürfen«, sagte Newman, indem er in großer Aufregung auf und ab ging und seine Faust gegen Cannings Porträt über dem Kaminsims schüttelte. »Ich war nahe daran und mußte meine Hände mit Gewalt in der Tasche festhalten; aber ich tue es einmal – gewiß, ich tue es einmal in dem kleinen Hinterzimmer. – Ich hätte ihn schon früher einmal in Arbeit genommen, wenn ich nicht gefürchtet hätte, das Übel noch viel schlimmer zu machen. Aber ich will mich einschließen mit ihm und die Sache mit ihm ausfechten, ehe ich sterbe – gewiß und wahrhaftig.«
»Ich werde schreien, wenn Sie sich nicht zusammennehmen, Herr Noggs«, entgegnete Fräulein La Creevy. »Ich kann so nicht allein mit Ihnen im Zimmer bleiben.«
»Kehren Sie sich nicht daran«, erwiderte Newman, ungestüm auf und ab schießend. »Er kommt heute abend; ich habe ihm geschrieben. Er hat keine Ahnung davon, daß ich um seine Schliche weiß und daß ich mich um diese kümmere. Der verschmitzte Schurke! Er träumt sich nichts davon – nein, nein! Doch gleichgültig. Ich will ihm einen Strich durch die Rechnung machen, ich, Newman Noggs. Ho, ho, der Bösewicht!«
Newmans Wut steigerte sich bis zum höchsten Gipfel, und er schoß mit so exzentrischen Bewegungen im Zimmer hin und her, wie man sie wohl nie an einem menschlichen Wesen gesehen, indem er bald gegen die kleinen Miniaturbilder an der Wand gestikulierte, bald, um die Illusion zu erhöhen, mit den Fäusten seinen Kopf zerhämmerte, bis er ganz atemlos und erschöpft wieder auf seinen früheren Sitz sank.
»So!« sagte Newman, seinen Hut wieder aufnehmend: »das hat mir gutgetan. Ich fühle mich jetzt besser, und Sie sollen nun alles erfahren.«
Es bedurfte einiger Zeit, um Fräulein La Creevy, die durch diese merkwürdige Demonstration aufs höchste erschreckt und ganz außer Fassung gekommen war, wieder zu beruhigen. Dann aber erstattete Newman treuen Bericht über alles, was sich bei Gelegenheit von Käthchens Unterredung mit ihrem Onkel zugetragen hatte, wobei er seine Erzählung mit der Versicherung, daß er schon früher aus diesen und jenen Gründen Argwohn geschöpft, bekräftigte, und mit der Mitteilung schloß, daß er heimlich an Nicolaus geschrieben hätte.
Obgleich sich die Entrüstung der kleinen La Creevy nicht in einer so ungewöhnlichen Weise äußerte wie bei Newman, so war sie doch kaum weniger lebhaft. In der Tat – wenn Ralph Nickleby in diesem Augenblick ins Zimmer getreten wäre, so hätte man nicht wissen können, ob er in Fräulein La Creevy oder in Newman Noggs einen gefährlicheren Gegner gefunden haben würde.
»Gott verzeih‘ mir die Sünde«, schloß Fräulein La Creevy ihren Zornerguß, »aber es ist mir, als könnte ich ihm mit Vergnügen das ins Herz stoßen.«
Fräulein La Creevys Waffe war freilich keine besonders furchtbare: denn sie bestand in nicht mehr und nicht minder als in einem Bleistift. Als sie jedoch ihren Irrtum wahrnahm, vertauschte ihn die kleine Malerin mit einem Perlenmutterobstmesser, womit sie, zum Beweis ihrer Wut, einen Stoß führte, der kaum ein Krümchen von einem Brotlaib heruntergesäbelt haben würde.
»Sie wird morgen nicht mehr in dem Hause sein«, sagte Newman; »das ist ein Trost.«
»Ach, ich wollte, sie hätte es schon vor Wochen verlassen«, rief Fräulein La Creevy.
»Ja, wenn man’s hätte wissen können«, versetzte Newman: »aber das war eben nicht der Fall. Es steht niemandem zu, sich in die Sache zu mischen, als ihrer Mutter oder ihrem Bruder. Die Mutter ist schwach – ein armes, schwaches Ding. Aber der liebe junge Mann wird noch diesen Abend hier sein.«
»Um Gottes willen«, rief Fräulein La Creevy, »er wird etwas Verzweifeltes beginnen, wenn Sie ihm gleich alles sagen.«
Newman hörte auf, die Hände zu reiben, und nahm eine gedankenvolle Miene an.
»Verlassen Sie sich darauf«, sagte Fräulein La Creevy mit Nachdruck, »wenn Sie ihm die Wahrheit nicht sehr behutsam beibringen, so wird er irgendeine Gewalttätigkeit gegen seinen Onkel oder einen dieser Menschen verüben, die ihn in ein schreckliches Unglück stürzen und Gram und Sorge über uns bringen kann.«
»Daran dachte ich nicht«, versetzte Newman, dessen Gesicht sich immer mehr verdunkelte. »Ich kam her, um Sie zu fragen, ob Sie die Schwester aufnehmen würden, wenn sie zu Ihnen gebracht würde, aber –«
»Aber es ist von weit größerer Wichtigkeit«, unterbrach ihn Fräulein La Creevy, »daß Sie die Sache besser bedacht hätten, ehe Sie kamen; denn der Ausgang dieser Dinge läßt sich nicht voraussehen, wenn Sie nicht mit der größten Behutsamkeit zu Werke gehen.«
»Was kann ich tun?« rief Noggs, indem er sich verlegen am Kopf kratzte. »Wenn er sagt, er wolle sie alle totschießen, was bleibt mir da anders zu erwidern, als: ›Nur zu – aber treffen Sie gut.‹«
Fräulein La Creevy konnte bei diesen Worten einen Angstruf nicht unterdrücken und ging sogleich ans Werk, Newman das feierliche Versprechen abzudringen, daß er alles aufbieten wolle, den Zorn des jungen Nickleby zu besänftigen, was denn auch nach einigem Zögern zugestanden wurde. Dann hielten sie miteinander Rat, wie man ihm die Umstände, die seine Gegenwart notwendig machten, auf die sicherste und gefahrloseste Weise mitteilen könne.
»Man muß es so einrichten, daß er Zeit hat, um ruhiger zu werden, ehe er entsprechende Schritte tun kann«, sagte Fräulein La Creevy. Das ist von der größten Wichtigkeit. Man darf es ihm erst spät in der Nacht sagen.«
»Aber er wird schon abends zwischen sechs und sieben Uhr in der Stadt sein«, versetzte Newman. »Ich darf ihm den wahren Stand der Dinge nicht vorenthalten, wenn er mich fragt.«
»So müssen Sie ausgehen, Herr Noggs«, entgegnete Fräulein La Creevy. »Sie können ja leicht durch ein Geschäft verhindert worden sein und dürfen nicht vor Mitternacht nach Hause kommen.«
»Dann wird er schnurstracks hierherkommen«, erwiderte Newman.
»Wahrscheinlich wird er das tun«, erwiderte Fräulein La Creevy; »aber er soll auch mich nicht finden; denn ich gehe, sobald Sie mich verlassen, in die City, versöhne mich mit Madame Nickleby und nehme sie mit ins Theater, so daß er nicht einmal den Aufenthalt seiner Schwester erfährt.«
Nach einer weiteren Erörterung stellte sich dieser Ausweg als der sicherste und tunlichste heraus. Es wurde daher ausgemacht, die Maßregeln danach zu nehmen, und Newman, der zum Schlusse noch viele Verwarnungen und Bitten anhören mußte, verabschiedete sich von Fräulein La Creevy und humpelte nach Golden Square zurück, wobei er unterwegs eine Unzahl von Wahrscheinlichkeiten und Unwahrscheinlichkeiten wiederkäute, die infolge der eben geendigten Unterhaltung sein Gehirn bedrängten.