Achtundzwanzigstes Kapitel.

Käthchen Nickleby, durch Sir Mulberry Hawks Verfolgung und die verschiedenen Schwierigkeiten und Unfälle, die sie umgeben, zur Verzweiflung gebracht, sucht, als letztes Mittel, den Schutz ihres Onkels nach.

Der andere Morgen brachte, wie es gewöhnlich zu gehen pflegt, Überlegung. Aber ganz verschieden war der Gang der Gedanken bei den verschiedenen Personen, die den Abend vorher durch die gewandte Tätigkeit der Herren Pyke und Pluck so unerwartet zusammengeführt worden waren.

Die Betrachtungen Sir Mulberry Hawks – wenn sich anders die Gedanken eines systematischen, berechnenden Lüstlings so nennen lassen, dessen Freuden und Leiden, Schmerzen und Vergnügungen sämtlich selbstsüchtig sind, und der von seinen geistigen Fähigkeiten kaum etwas anderes behalten zu haben scheint, als das Vermögen, sich zu erniedrigen und die menschliche Natur zu schänden – die Betrachtungen Sir Mulberry Hawks wandten sich Käthchen Nickleby zu und bestanden – kurz zusammengefaßt – darin, daß das Mädchen unbestritten schön sei, daß ihre Sprödigkeit durch einen Mann von seiner Gewandtheit und Erfahrung sich leicht besiegen lassen müsse, und daß der Sieg über ein solches Mädchen nicht verfehlen könne, den Ruf, dessen er sich in der Welt erfreute, durch neuen Glanz zu erhöhen. Damit jedoch diese letztere Erwägung – für Sir Mulberry keineswegs eine geringfügige oder untergeordnete – nicht allzu befremdlich in den Ohren der Leser klinge, möchten wir daran erinnern, daß die meisten Menschen in ihrer eigenen Welt leben, und daß ihr Ehrgeiz nur von diesem beschränkten Zirkel Auszeichnung und Beifall erwartet. Sir Mulberrys Welt war mit Wüstlingen bevölkert, und demgemäß handelte er.

Wir sehen Handlungen der Ungerechtigkeit, der Unterdrückung, der Tyrannei und der maßlosesten Scheinheiligkeit um uns vorgehen, und man pflegt nicht zu unterlassen, verwundert und erstaunt in die Welt hineinzuschreien, daß die Täter solcher Handlungen der öffentlichen Meinung so ganz und gar Hohn sprächen. Aber man tut ihnen Unrecht, wenn man ihnen allein die Schuld zur Last legt, denn derartige Dinge könnten nicht stattfinden und die große Welt in starres Erstaunen versetzen, wenn sie nicht dabei den Beifall ihrer eigenen kleinen Welt für sich hätten.

Madame Nicklebys Erwägungen waren von der stolzesten und selbstgefälligsten Art, weshalb sie sich auch unter dem Einflusse der lieblichen Trugbilder, die sie umgaben, sogleich niedersetzte und einen langen Brief an Käthchen abfaßte, in dem sie ihre volle Billigung über die vortreffliche Wahl ihrer Tochter ausdrückte und Sir Mulberry bis in den Himmel erhob. Sie fügte diesen Lobsprüchen noch die beruhigende Versicherung bei, daß sie keinen andern Schwiegersohn gewählt haben würde, wenn ihr auch das Aussuchen unter der ganzen Männerwelt freigestanden hätte. Hierauf erteilte die gute Dame – nach der vorläufigen Bemerkung, daß sie gewiß nicht solange in der Welt gelebt haben könne, ohne erfahren zu haben, wie es in derselben zuginge – eine große Menge schlauer Lehren über Käthchens Benehmen gegen ihren Freier, deren Weisheit sie durch eigene Erfahrung erprobt hatte. Vor allem aber empfahl sie eine strenge jungfräuliche Zurückhaltung, da sie nicht nur an sich selbst sehr löblich wäre, sondern auch wesentlich dazu diente, die Glut eines Liebhabers zu kräftigen und zu vermehren. »Und in meinem ganzen Leben war ich nie entzückter, meine Liebe«, fügte Madame Nickleby bei, »als gestern abend, weil ich bemerkte, daß dein eigenes richtiges Gefühl dir bereits ein gleiches gesagt hat.« Zu diesem Gefühlserguß fügte sie noch wiederholt hinzu, wie sehr sie erfreut darüber sei, daß ihre Tochter einen so großen Teil ihrer eigenen Klugheit und ihres richtigen Taktes geerbt hätte und deren volles Maß sie ihr seinerzeit hinterlassen zu können hoffte, wenn Käthchen nach Kräften mitwirkte. Also schloß Madame Nickleby ihren sehr langen und ziemlich unleserlichen Brief.

Das arme Käthchen war dem Wahnsinn nahe, als die Mutter ihr auf vier eng übers Kreuz geschriebenen Seiten zu einer Sache Glück wünschte, ob der sie die ganze Nacht kein Auge schließen konnte, sondern voller Tränen in ihrem Kämmerlein gewacht hatte. Noch schmerzlicher und drückender empfand sie die Notwendigkeit, sich Madame Wititterly angenehm zu machen, die nach der Aufregung des letzten Abends äußerst herabgestimmt war und daher von ihrer Gesellschafterin (denn wofür anders gab sie Kost und Lohn?) die heiterste Stimmung verlangte.

Was Herrn Wititterly betraf, so ging er den ganzen Tag bebend von Entzücken umher, daß ihm ein Lord die Hand gedrückt und daß er diesen wirklich eingeladen hatte, ihn in seinem eigenen Zirkel zu besuchen. Der Lord selbst, der von keiner allzu reichlichen Denkkraft geplagt war, labte sich an einer Unterhaltung mit den Herren Pyke und Pluck, die ihren Witz durch lebhaften Genuß verschiedener köstlicher Herzstärkungen auf seine Kosten schärften.

Es war vier Uhr nachmittags – das heißt des gewöhnlichen Nachmittags der Sonne und der Uhr – und Madame Wititterly ruhte wie gewöhnlich auf dem Sofa ihres Besuchzimmers, während ihr Käthchen einen neuen Roman in drei Bänden, betitelt: »Die Lady Flabella«, vorlas, den Alphons der Zweifelhafte am Morgen aus der Leihbibliothek geholt hatte. Der Roman war wirklich wunderbar geeignet für eine Dame, die an Madame Wititterlys Krankheit litt, da er vom Anfang bis zum Ende nicht eine einzige Zeile enthielt, die auch nur in der entferntesten Beziehung die mindeste Spur einer Aufregung bei irgendeinem lebenden Wesen hätte hervorbringen können.

Käthchen las:

»›Cherizette‹, sagte Lady Flabella, mit den mäuschengleichen Füßchen in die blauen Seidenschuhchen schlüpfend, jene Schuhchen, die sozusagen den halb ernst-, halb scherzhaften Wortwechsel zwischen ihr und dem jugendlichen Obersten Befillaire letzten Abend im › Salon de dance‹ des Herzogs von Mincefenille veranlaßt hatten. › Cherizette, donnez moi de l’eau-de-cologne, s’il vous plaît, mon enfant!

Merci – ich danke‹, sagte Lady Flabella, als die lebhafte, aber warm ergebene Cherizette Lady Flabellas Mouchoir mit der duftenden Essenz benetzt hatte. Das Mouchoir war mit reichen Spitzen besetzt und in den vier Ecken mit der Flabellakrone und dem prächtigen Wappen dieser altadligen Familie in reicher Stickerei geschmückt; › Merci – das wird mir wohl bekommen.‹

In diesem Augenblick, wahrend Lady Flabella noch ihr Mouchoir an die herrliche, gedankenvoll geformte Nase hielt und den köstlichen Wohlgeruch einatmete, öffnete sich die Tür des Boudoirs (künstlich verhüllt durch reiche Damastvorhänge von der Farbe des italienischen Himmels), und mit lautlosen Schritten traten zwei Kammerdiener, in prachtvolle pfirsichblütrote und mit Gold verbrämte Livreen gekleidet, in das Zimmer. Hinter ihnen ein Page in bas de soie – seidenen Strümpfen – der sich, während die beiden in einiger Entfernung die anmutigsten Verbeugungen machten, seiner liebenswürdigen Gebieterin näherte, auf ein Knie niedersank und ihr auf einem prachtvoll getriebenen, goldenen Präsentierteller ein parfümiertes Billett überreichte.

Die Dame Flabella riß mit einer Aufregung, die sie nicht zu unterdrücken vermochte, hastig die Enveloppe ab und erbrach das duftende Siegel. Ja, es war von Befillaire – dem jugendlichen, dem schlanken, dem schmachtenden – von ihrem Befillaire.«

»Ach, entzückend!« fiel Käthchens Gebieterin ein, die bisweilen die Kritikerin spielte; »in der Tat sehr poetisch. Lesen Sie diese Schilderung noch einmal, Mamsell Nickleby.«

Käthchen gehorchte.

»In der Tat, recht süß!« sagte Madame Wititterly mit einem Seufzer. »So wollustatmend, so weich – nicht wahr?«

»Ja, es kommt mir ungemein weich vor«, versetzte Käthchen schüchtern.

»Schließen Sie das Buch, Mamsell Nickleby«, sagte Madame Wititterly. »Ich kann heute nichts mehr hören: denn ich möchte nicht gerne den Eindruck dieser Schilderung verwischen. Schließen Sie das Buch.«

Käthchen gehorchte mit Freuden. Madame Wititterly aber brachte mit matter Hand ihre Lorgnette vor das Auge und bemerkte, daß sie blaß aussähe.

»Vielleicht von dem Schrecken – der Lärm, die Verwirrung des gestrigen Abends«, versetzte Käthchen.

»Wie sonderbar!« rief Madame Wititterly mit einem Blick der Überraschung.

Und in der Tat, bei genauerer Überlegung mußte es sehr sonderbar erscheinen, daß irgend etwas einen beunruhigenden Eindruck auf eine Gesellschafterin machen konnte. Das Explodieren einer Dampfmaschine oder die Zerstörung irgendeiner anderen sinnreichen Maschine wäre nichts dagegen gewesen.

»Wie machten Sie die Bekanntschaft des Lord Friedrich und der andern angenehmen Herren, Kind?« fragte Madame Wititterly, Käthchen fortwährend durch ihre Lorgnette beäugelnd.

»Ich traf sie im Hause meines Onkels«, antwortete Käthchcn verlegen; denn sie fühlte, daß sie tief errötete, wie sie denn überhaupt unfähig war, ihrem Blut zu wehren, nach ihrem Antlitz zu strömen, sooft sie an jenen Mann dachte.

»Datiert sich diese Bekanntschaft schon von lange?«

»Nein, nicht von lange«, entgegnete Käthchen.

»Ich war sehr erfreut, daß uns die achtbare Frau, Ihre Mutter, Gelegenheit gab, sie kennenzulernen«, sagte Madame Wititterly in ziemlich herablassendem Tone. »Übrigens ist es ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß einige unserer Freunde auf dem Punkte waren, sie bei uns einzuführen.«

Das wurde gesagt, damit Käthchen sich nicht zu viel auf die Ehre zugute täte, vier Personen von Stande – denn Pyke und Pluck wurden den angenehmen Herren beigezählt – gekannt zu haben, die Madame Wititterly nicht kannte. Da aber Käthchen in keiner Weise einen Wert auf die Tatsache legte, so ging die beabsichtigte Wirkung natürlich ganz verloren.

»Sie haben um die Erlaubnis gebeten, mich besuchen zu dürfen«, sagte Madame Wititterly, »und es versteht sich von selber, daß ich diese nicht versagte.«

»Erwarten Sie heute ihren Besuch?« wagte Käthchen zu fragen.

Madame Wititterlys Antwort verlor sich unter dröhnendem Klopfen an die Haustür, und ehe dieses noch verklungen war, fuhr eine schöne Equipage vor, aus der Sir Mulberry Hawk und sein Freund Lord Verisopht heraussprangen.

»Da sind sie«, sagte Käthchen aufstehend und forteilend.

»Mamsell Nickleby!« lief Madame Wititterly, ganz erstarrt ob dem Unterfangen ihrer Gesellschafterin, das Zimmer verlassen zu wollen, ohne zuerst Erlaubnis nachgesucht und erhalten zu haben; »Sie werden das Zimmer nicht verlassen.«

»Sie sind sehr gütig«, versetzte Käthchen, »aber –«

»Um des Himmels willen, bringen Sie mich nicht in Wallung, indem Sie mich so viel sprechen lassen«, entgegnete Madame Wititterly scharf. »Mein Gott, Mamsell Nickleby, ich bitte –«

Käthchen versicherte vergeblich, daß sie unwohl wäre; denn die Fußtritte der Besuchenden, wer sie auch sein mochten, ließen sich schon auf der obersten Treppe vernehmen. Sie setzte sich wieder, und kaum war das geschehen, als der zweifelhafte Boy in das Zimmer stürzte und Herrn Pyke, Herrn Pluck, Lord Friedrich Verisopht und Sir Mulberry Hawk – alle zumal – ankündigte.

»Wie höchst sonderbar es auf der Welt zugeht«, sagte Herr Pluck, nachdem er die beiden Damen mit der größten Herzlichkeit begrüßt hatte; »in der Tat, höchst sonderbar. Als Lord Friedrich und Sir Mulberry anfuhren, pochten Pyke und ich eben an der Tür.«

»Wir pochten eben«, pflichtete Pyke bei.

»Da Sie einmal hier sind, so ist es gleichgültig, wie Sie kamen«, versetzte Madame Wititterly, die, da sie dreieinhalb Jahr auf demselben Sofa gelegen, ziemlich viele anmutige Körperhaltungen eingelernt hatte und nun die imposanteste von diesen annahm, um die Besuchenden in Staunen zu versetzen. »Gewiß, ich bin ganz entzückt, Sie bei mir zu sehen.«

»Und was macht Fräulein Nickleby?« sagte Sir Mulberry Hawk mit leiser Stimme zu Käthchen, jedoch nicht so leise, daß seine Worte nicht Madame Wititterlys Ohren erreicht hätten.

»Ach, sie beklagt sich über Unwohlsein infolge des Schreckens der gestrigen Nacht«, antwortete die Dame. »Ich wundere mich übrigens nicht darüber; denn meine Nerven sind ganz zerrissen.«

»Und doch sehen Sie«, bemerkte Sir Mulberry, sich umwendend – »und doch sehen Sie –«

»Unvergleichlich aus«, fiel Herr Pyke, seinem Gönner zu Hilfe kommend, ein; und Herr Pluck sagte natürlich dasselbe.

»Ich fürchte, Sir Mulberry ist ein Schmeichler, Mylord«, sagte Madame Wititterly, sich an Verisopht wendend, der schweigend an seinem Stockknopf sog und Käthchen anstierte.

»O, teufelmäßig«, versetzte Verisopht.

Und nach dieser geistreichen Erwiderung nahm er seine frühere Beschäftigung wieder auf.

»Fräulein Nickleby ist darum nicht weniger interessant geworden«, sagte Sir Mulberry, indem er sie mit dreisten Blicken musterte. »Sie war immer schön, aber bei meiner Seele, Madame, es scheint, Sie haben ihr außerdem noch etwas von Ihrem eigenen guten Aussehen mitgeteilt.«

Der Glut nach zu schließen, die bei diesen Worten das Antlitz des armen Mädchens übergoß, hätte Madame Wititterly mit einigem Schein von Grund annehmen mögen, daß sich etwas von der künstlichen Blume ihrer eigenen Wangen in Käthchens Zügen widerstrahle. Madame Wititterly mußte nun – freilich nicht in der gnädigsten Weise – zugestehen, daß Käthchen hübsch aussähe. Auch fing sie an zu glauben, daß Sir Mulberry nicht ganz der angenehme Mann wäre, für den sie ihn anfangs gehalten; denn obgleich der gewandteste Schmeichler der ergötzlichste Gesellschafter ist, wenn man ihn ganz für sich behalten kann, so wird doch sein Geschmack sehr zweifelhaft, wenn er sich unterfängt, anderen Leuten Artigkeiten zu sagen.

»Pyke«, begann der achtsame Herr Pluck, als er die Wirkung gewahrte, die Käthchens Lob hervorgebracht hatte.

»Wie beliebt, Pluck«, versetzte Pyke.

»Gibt es nicht jemanden«, fragte Herr Pluck geheimnisvoll; »eine Dame, die Sie kennen – an die Madame Wititterlys Profil erinnert?«

»Erinnert?« erwiderte Pyke. »Ei freilich.«

»Was meinen Sie?« sagte Pluck in derselben geheimnisvollen Weise. »Die Herzogin von B…?«

»Die Gräfin von B…«, versetzte Pyke mit einem leichten Zucken der Mundwinkel. »Die schöne Schwester ist die Gräfin, nicht die Herzogin.«

»Richtig«, entgegnete Pluck, »die Gräfin von B…. Ist die Ähnlichkeit nicht wundervoll?«

»Zum Sprechen«, erwiderte Herr Pyke.

Wie nun jetzt? Madame Wititterly war durch das Zeugnis zweier wahrheitsliebender und kompetenter Beurteiler für das leibhaftige Ebenbild einer Gräfin erklärt! So geht es, wenn man mit guter Gesellschaft verkehrt. Sie hätte sich zwanzig Jahre unter ordinären Leuten herumtreiben können, ohne je etwas von dieser Tatsache zu erfahren. Wie wäre es auch möglich gewesen – denn was wissen die von Gräfinnen?

Nachdem die beiden Herren aus der Gier, womit dieser kleine Köder verschluckt wurde, den Umfang von Madame Wititterlys Hunger nach Schmeichelei erprobt hatten, fuhren sie fort, diese Ware in den allerkräftigsten Dosen auszuteilen, wodurch sie Sir Mulberry Hawk Gelegenheit verschafften, Fräulein Nickleby mit Fragen und Bemerkungen zu quälen, auf die sie notwendig etwas erwidern mußte. Lord Verisopht erfreute sich inzwischen unbelästigt des vollen Wohlgeschmacks seines goldenen Stockknopfes – ein Genuß, der wohl bis zum Schluß dieses Besuchs nicht unterbrochen worden wäre, wenn nicht durch Herrn Wititterlys Nachhausekommen die Unterhaltung auf das Lieblingsthema dieses würdigen Mannes übergeleitet worden wäre.

»Mylord«, sagte Herr Wititterly, »ich fühle mich hochgeehrt – bin ganz entzückt – stolz. Bitte, Mylord, nehmen Sie wieder Platz. Ich bin stolz – in der Tat ungemein stolz auf diese Gnade.«

Madame Wititterly hatte keinen kleinen Ärger über die Worte ihres Gemahls. Obgleich sie nämlich vor Stolz und Hochmut fast bersten wollte, so wäre es ihr doch lieber gewesen, wenn sie ihre vornehmen Gäste hätte können glauben machen, daß ihr Besuch ein ganz gewöhnliches Ereignis wäre, und daß sie jeden Tag der Woche Lords und Baronets bei sich empfange. Aber Herrn Wititterlys Gefühle gingen einen zu erhabenen Schwung, um sich unterdrücken zu lassen.

»Ja gewiß, wir fühlen uns hochgeehrt«, sagte Herr Wititterly. »Julia, mein Herz, du wirst morgen dafür zu leiden haben.«

»Zu leiden?« rief Lord Verisopht.

»Die Reaktion, Mylord, die Reaktion«, erwiderte Herr Wititterly. »Diese gewaltsame Anspannung des ganzen Nervensystems, Mylord –was kann die Folge sein? Ein Sinken, eine Abspannung, eine Erschlaffung, eine Herunterstimmung, eine Schwäche. Mylord, wenn der Arzt Sir Tumley Snuffim dieses zarte Wesen in dem gegenwärtigen Augenblick sehen könnte, er würde kein – kein – nicht so viel für ihr Leben geben.«

Um diese Bemerkung näher zu erläutern, nahm Herr Wititterly eine Prise Schnupftabak aus seiner Dose und warf sie leicht in die Luft, um damit die Vergänglichkeit sinnbildlich anzudeuten.

»Nicht so viel«, sagte Herr Wititterly, indem er sich mit einem ernsten Gesicht umsah; »nicht eine Prise Tabak würde Sir Tumley Snuffim für Madame Wititterlys Dasein geben.«

Herr Wititterly sagte das mit einer Art von besonnener Begeisterung, als ob es keine kleine Auszeichnung für einen Mann sei, eine Gattin zu besitzen, die sich in einem so verzweifelten Zustande befand. Madame Wititterly aber seufzte und sah aus, als fühle sie die Ehre, die sie ihrem Gemahle damit machte, recht wohl, obschon sie entschlossen sei, sich dieser so wenig als möglich zu überheben.

»Madame Wititterly« – sagte der Gatte – »ist Sir Tumley Snuffims Lieblingspatientin. Ich glaube, wohl behaupten zu dürfen, daß Madame Wititterly die erste war, die die neue Arznei einnahm, von der man glaubt, sie hätte eine ganze Familie in den Kensingtonkiesgruben getötet. Ich glaube, sie war’s. Wenn ich im Irrtum bin, liebe Julia, so wirst du mich verbessern.«

»Ja, ich glaube, daß ich die erste war«, sagte Madame Wititterly mit schwacher Stimme.

Da es zweifelhaft erscheinen mochte, ob Sir Mulbcrry sich gut in diese Unterhaltung finden könne, so warf sich der unermüdliche Herr Pyke selbst in die Bresche und fragte, um doch wenigstens etwas dazu zu sagen, ob denn die eben erwähnte Arznei gut zu nehmen wäre.

»Nein, Sir – nicht im geringsten. Sie hatte nicht einmal diese Empfehlung«, antwortete Herr Wititterly.

»Madame Wititterly ist eine wahre Märtyrerin«, bemerkte Pyke mit einer höflichen Verbeugung.

»Ich glaube das selber auch«, versetzte Madame Wititterly lächelnd.

»Und ich gleichfalls, meine liebe Julia«, entgegnete der Gatte in einem Ton, der anzudeuten schien, daß er zwar nicht eitel sei, aber doch auf seinen Vorrechten bestehen wolle. »Wenn mir jemand, Mylord«, fügte Herr Wititterly mit einer Wendung gegen Seine Herrlichkeit bei, »wenn mir jemand einen größeren Märtyrer als Madame Wititterly zeigen will, so kann ich weiter nichts sagen, als daß es mich freuen würde, diesen Märtyrer, sei er nun ein männlicher oder ein weiblicher, zu sehen – das ist alles, Mylord.«

Pyke und Pluck bemerkten hierauf sogleich, daß man nicht mehr von ihm verlangen könne. Da aber der Besuch bereits schon ziemlich lange gedauert hatte, so gehorchten sie Sir Mulberrys Wink und standen auf, um sich zu entfernen. Das brachte auch Sir Mulberry selbst und Lord Verisopht auf die Beine. Man tauschte viele Freundfchaftsbeteuerungen aus und sprach von dem Vergnügen, das man sich unausbleiblich von einer so angenehmen Bekanntschaft versprach. Endlich entfernte sich der Besuch unter der erneuerten Versicherung, daß sich das Haus der Wititterlys zu jeder Tageszeit sehr geehrt fühlen würde, so unschätzbare Gäste unter seinem Dach zu empfangen.

Daß sie zu jeder Tageszeit kamen – daß sie das eine Mal in Herrn Wititterlys Hause dinierten, das andere Mal soupierten, dann wieder dinierten, kurz, beständig ab- und zugingen – daß gemeinschaftliche Vergnügungausflüge und zufällige Begegnungen an öffentlichen Orten stattfanden – daß bei all diesen Anlässen Fräulein Nickleby den beharrlichen Verfolgungen Sir Mulberrys ausgesetzt war, der seine Ehre sogar bei seinen Helfershelfern gefährdet glaubte, wenn es ihm nicht gelänge, den Stolz des Mädchens kirre zu machen – daß sie nur dann Ruhe hatte, wenn sie sich in ihrem einsamen Kämmerlein über die Prüfungen des Tages ausweinen konnte – all das waren Folgen, die notwendig aus Sir Mulberrys wohlüberlegten Plänen und einer geschickten Ausführung derselben durch seine Handlanger, die Herren Pyke und Pluck, entstehen mußten.

So ging es vierzehn Tage lang fort. Wir brauchen aber kaum zu bemerken, daß jeder, der nicht an der höchsten Beschränktheit und Geistesarmut litt, bei der ersten Begegnung erkennen mußte, wie wenig Lord Verisopht und Sir Mulberry Hawk, obgleich beide dem höheren Adel angehörten, an gute Gesellschaft gewöhnt waren, und wie wenig ihr Benehmen, ihre Bildung und ihre Unterhaltung in Gesellschaft von Namen zu glänzen vermochten. Aber für Madame Wititterly waren die beiden Titel vollkommen hinreichend. Die Roheit galt als Humor, die Gemeinheit milderte sich zur bezauberndsten Originalität, und die Unverschämtheit wurde als unbefangener Freimut betrachtet, den nur solche sich anzueignen vermögen, die das Glück gehabt haben, sich in höheren Kreisen zu bewegen.

Wenn sich die Gebieterin die Aufführung ihrer neuen Freunde in dieser Weise deutete, was durfte dann wohl eine Gesellschafterin gegen diese einwenden? Wenn die seinen jungen Herrchen sogar der Dame des Hauses gegenüber sich alles Zwanges begaben, um wie viel rückhaltsloser mußte dann nicht ihr Benehmen gegen eine bezahlte Dienerin sein! Aber das war noch nicht das Schlimmste. Als Sir Mulberry Hawk seine Maske immer mehr und mehr ablegte und Käthchen seine ausschließliche Aufmerksamkeit zuwendete, fing Madame Wititterly an, auf die überlegenen Reize ihres Dienstboten eifersüchtig zu werden. Wenn dieses Gefühl zu einer Verbannung aus dem Besuchszimmer, sobald derartige Gesellschaft zugegen war, geführt haben würde, so hätte sich Käthchen dazu nur Glück wünschen können. Aber unglücklicherweise besaß sie jene angeborene Anmut, jenen wahren Adel des Benehmens und jene tausend namenlosen Vorzüge, die dem Weibe den schönsten Reiz geben: und da diese allenthalben Anerkennung finden, so mußte dies um so mehr in einem Hause der Fall sein, wo die Gebieterin nur eine belebte Puppe war. Für Käthchen folgte daraus ein zweifaches Leiden, einmal daß sie ein unentbehrliches Gesellschaftsglied war, wenn Sir Mulberry und seine Freunde das Haus mit einem Besuch beehrten, und dann, daß sie aus demselben Grund alle üblen Launen der Dame Wititterly zu tragen hatte, sobald die feine Gesellschaft fort war. Sie fühlte sich daher ganz und gar unglücklich.

Madame Wititterly hatte hinsichtlich des Sir Mulberry die Maske nie abgeworfen, sondern jedesmal ein Übermaß ihrer üblen Laune, wie Damen bisweilen zu tun pflegen, einer nervösen Verstimmtheit zugeschrieben. Als aber endlich der schreckliche Gedanke in ihrem Geist zu dämmern und allmählich zur Gewißheit zu werden begann, daß Lord Verisopht gleichfalls in Käthchen verliebt sei, und sie nur eine ganz untergeordnete Rolle spiele, so überkam sie auf einmal ein solches Übermaß von zartem Anstandsgefühl und hoher tugendhafter Entrüstung, daß sie es für ihre Pflicht betrachtete, als eine verheiratete Frau und als ein sittlich reines Glied der Gesellschaft »der jungen Person« die Sache ohne Zögerung vorzuhalten.

Demgemäß nahm Madame Wititterly des andern Morgens während einer Pause im Romanlesen die Gelegenheit wahr.

»Mamsell Nickleby«, sagte Madame Wititterly, »ich muß ein ganz ernstes Wörtchen mit Ihnen reden. Es tut mir leid, dazu genötigt zu sein – in der Tat sehr leid; aber Sie lasÿsen mir keine andere Wahl, Mamsell Nickleby.«

Hier warf Madame Wititterly ihren Kopf in die Höhe – nicht leidenschaftlich, sondern nur tugendhaft – und bemerkte mit einigem Anschein von Aufregung, daß sie eine Rückkehr ihres Herzklopfens befürchte.

»Ihr Benehmen, Mamsell Nickleby«, nahm die Dame wieder auf, »ist sehr weit entfernt, sich meines Beifalls zu erfreuen – ja, sehr weit. Ich bin auf Ihre Wolfahrt ängstlich bedacht, aber verlassen Sie sich darauf, Mamsell Nickleby, daß Sie Ihr Glück selbst verscherzen, wenn Sie so fortfahren.«

»Madame!« rief Käthchen stolz.

»Regen Sie mich nicht auf, indem Sie in diesem Tone mit mir sprechen, Mamsell Nickleby«, sagte Madame Wititterly, »oder Sie werden mich zwingen, die Klingel zu ziehen.«

Käthchen blickte ihre Gebieterin an und schwieg.

»Glauben Sie ja nicht, Mamsell Nickleby«, fuhr Madame Wititterly fort, »daß Sie mich durch derartige Blicke verhindern werden, das auszusprechen, was ich für eine heilige Pflicht halte. Sie brauchen mich nicht so anzusehen –« fügte sie mit einem plötzlichen Hohnausbruch bei – »ich bin nicht Sir Mulberry, nicht Lord Friedrich Verisopht, Fräulein, und ebensowenig Herr Pyke oder Herr Pluck.«

Käthchen sah sie wieder an, aber weniger fest als früher. Dann stützte sie ihren Ellbogen auf den Tisch und bedeckte mit der Hand ihre Augen.

»Wenn etwas Derartiges zur Zeit meiner Jugend vorgefallen wäre«, sagte Madame Wititterly – wir bemerken nebenbei, daß darüber eine ziemliche Frist hingeschwunden sein mochte –, »so würde es in der Tat kein Mensch geglaubt haben.«

»Ach, es wird auch kein Mensch glauben, zu welchen Leiden ich verdammt zu sein scheine, wenn er es nicht mit mir fühlen kann!« flüsterte Käthchen.

»Sprechen Sie mir nicht von ›verdammt zu sein scheinen‹ und ›leiden‹, Mamsell Nickleby, wenn ich bitten darf«, sagte Madame Wititterly mit einer Schrillheit des Tones, die bei einer so gebrechlichen Dame wirklich ungemein überraschen mußte. »Ich will keine Erwiderung, Mamsell Nickleby. Ich bin an Erwiderungen nicht gewöhnt und werde sie auch keinen Augenblick dulden. – Hören Sie?« fügte sie bei, indem sie etwas inkonsequent dennoch eine Erwiderung zu erwarten schien.

»Ich höre es allerdings, Madame«, versetzte Käthchen, »und zwar mit einer Überraschung, die ich nicht auszudrücken vermag.«

»Ich habe Sie immer als eine für Ihre Stellung besonders wohlanständige junge Person betrachtet«, entgegnete Madame Wititterly; »und da Sie gesund aussehen, ordentlich in Ihrer Kleidung sind und dergleichen, so habe ich ein Interesse an Ihnen genommen und tue es auch noch, da ich dieses für eine Art von Pflicht halte, die ich der achtbaren alten Frau, Ihrer Mutter, schuldig bin. Aber eben deshalb, Mamsell Nickleby, muß ich Ihnen ein für allemal sagen und Sie bitten, daß Sie sich meine Worte zu Herzen nehmen. Ich verlange durchaus, daß Sie Ihr dreistes Benehmen gegen die Herren, die dieses Haus besuchen, ändern. Es ist in der Tat nicht passend« – fuhr Madame Wititterly fort, indem sie während dieser Worte ihre keuschen Augen schloß – »es ist unschicklich, äußerst unschicklich!«

»Ach!« rief Käthchen, indem sie ihre Augen gen Himmel richtete und die Hände zusammenschlug, »muß auch diese grausame Prüfung noch über mich kommen? Ist es nicht genug, daß ich Tag und Nacht gelitten und geduldet habe, und daß ich mich fast selber verachten mußte aus Scham, mit solchen Leuten in Berührung gebracht worden zu sein! Muß auch diese ungerechte und ganz grundlose Beschuldigung auf mein Haupt fallen?«

»Wollen Sie sich erinnern, Mamsell Nickleby«, sagte Madame Wititterly, »daß Sie mich geradezu einer Unwahrheit beschuldigen, wenn Sie sich Ausdrücke wie ›ungerecht‹ und ›grundlos‹ – erlauben.«

»Das ist auch meine Absicht«, versetzte Käthchen mit edlem Unwillen. »Es ist mir gleichgültig, ob Sie aus eigenem Antrieb oder aus Veranlassung anderer mir einen solchen Vorwurf machen – jedenfalls ist er so niederträchtig wie böswillig unwahr. Ist’s möglich«, rief Käthchen, »daß eine meines eigenen Geschlechts zusehen und nicht bemerken konnte, welchen Jammer mir diese Menschen bereiteten? Ist es möglich, daß Sie, Madame, anwesend sein konnten, ohne die beleidigende Dreistigkeit, die aus jedem ihrer Blicke sprach, zu gewahren? Konnte es Ihnen entgehen, daß diese Wüstlinge, die alle Achtung gegen Sie, gegen ihre eigene Ehre und gegen alles Schicklichkeitsgefühl beiseite setzten, bei ihrem Eindringen in Ihr Haus nur einen bestimmten Zweck hatten, der darin besteht, ihre Absichten gegen ein freund- und hilfloses Mädchen auszuführen, das, sogar ohne dieses demütigende Geständnis, Beistand und Teilnahme von einer so viel älteren Frau hätte sollen erwarten dürfen? Nein – nein, ich kann es nicht glauben, daß Sie von all dem nichts bemerkten!«

Wenn das arme Käthchen nur die mindeste Menschenkenntnis besessen hätte, so würde sie es doch gewiß, trotz der Aufregung, in die sie gesetzt worden war, nicht gewagt haben, so unüberlegte Äußerungen fallen zu lassen. Der Erfolg war auch genau so, wie ihn jeder von mehr Weltkenntnis voraussehen konnte. Madame Wititterly hatte den Angriff auf ihre Wahrheitsliebe mit musterhafter Ruhe hingenommen und Käthchens Schilderung ihrer eigenen Leiden mit dem größten Heldenmut mit angehört. Als aber Käthchen auf die geringe Achtung hindeutete, mit der sie von den Herren behandelt wurde, zeigten sich bereits Symptome heftiger Erregung, und als diesem Schlage gar eine Hinweisung auf ihr höheres Alter folgte, so fiel sie unter jämmerlichem Kreischen auf das Sofa zurück.

»Was gibt’s?« rief Herr Wititterly, ins Zimmer stürzend. »Himmel – was sehe ich! Julia! Julia! Blicke auf, mein Herz – blicke auf!«

Da aber Julia durchaus nicht aufblicken wollte und nur um so lauter schrie, so zog Herr Wititterly die Klingel und tanzte wie wahnsinnig um das Sofa herum, auf dem Madame Wititterly lag, wobei er ohne Unterlaß nach Sir Tumley Snuffim rief und fortwährend nach einer Erklärung des Auftritts fragte.

»Lauf zu Sir Tumley!« rief Herr Wititterly dem Boy mit drohend geschwungenen Fäusten zu.

»Ich wußte es wohl, Mamsell Nickleby«, fuhr er mit melancholisch-triumphierender Miene fort, daß diese Gesellschaft zu viel für sie sein würde. Da ist alles Geist und Leben, jedes Wort, das gesprochen wird.«

Mit dieser Versicherung nahm Herr Wititterly seine hingestreckte Gattin auf und schleppte sie nach ihrem Bett.

Käthchen wartete, bis Sir Tumley Snuffim seinen Besuch gemacht und den Bericht erstattet hatte, daß Madame Wititterly durch die Dazwischenkunft einer gnädigen Vorsehung – Sir Tumleys eigene Worte – in Schlaf verfallen sei. Sie kleidete sich dann hastig zum Ausgehen an, versprach in ein paar Stunden zurückzukommen und eilte dem Hause ihres Onkels zu.

Ralph Nickleby hatte einen guten – einen ganz glücklichen Tag gehabt. Er ging in seinem kleinen Hinterzimmer mit auf dem Rücken zusammengeschlagenen Armen auf und ab und berechnete im Kopf all die Summen, die er aus dem Geschäfte des Morgens ergaunert hatte oder zu ergaunern hoffte. Sein Mund verzog sich dabei zu einem harten, strengen Lächeln, und das Eherne der Linien desselben wie auch der verschmitzte Blick seines ruhigen, stechenden Auges schienen anzudeuten, daß er es nicht an Pfiffen und Schlichen fehlen zu lassen gedächte, wenn dadurch der Gewinn vergrößert werden könnte.

»Sehr gut!« dachte Ralph, ohne Zweifel in Beziehung auf irgendeinen Vorfall des Tages. »Er bietet dem Wucherer Trotz – wirklich? Nun wir werden ja sehen. Ehrlichkeit ist die beste Klugheit‘ – meinst du? Auch das können wir probieren.«

Er hielt eine Weile inne und setzte dann seinen Spaziergang wieder fort.

»Er begnügt sich«, setzte Ralph sein Selbstgespräch fort, indem er den Mund zu einem milderen Lächeln verzog, »seinen anerkannt ehrenwerten Charakter gegen die Macht des Geldes ankämpfen zu lassen – der Treber, wie er es nennt. Ha! ha! Was für ein Dummkopf muß der Kerl sein – Treber – gar Treber! – Wer ist da?«

»Ich«, versetzte Newman Noggs hereinsehend. »Ihre Nichte.«

»Was ist mit ihr?« fragte Ralph scharf.

»Sie ist hier.«

»Hier?«

Newman winkte mit dem Kopf gegen sein kleines Gemach, um dadurch anzudeuten, daß sie dort harre.

»Was will sie?« fragte Ralph.

»Weiß nicht«, entgegnete Newman. »Soll ich fragen?« fügte er rasch bei.

»Nein«, erwiderte Ralph. »Führen Sie sie her – doch halt!«

Er stellte hastig eine mit einem Vorlegschloß versehene Geldkasse, die auf dem Tische stand, beiseite, und legte statt ihrer einen leeren Geldbeutel hin.

»So«, sagte Ralph; »jetzt kann sie hereinkommen.«

Newman schnitt eine grinsende Fratze ob dieses Manövers, winkte der Dame hereinzutreten, stellte ihr einen Sitz hin und hinkte langsam hinaus, indem er Ralph über die Achseln verstohlen einen Nick zuwarf.

»Nun«, begann Ralph in ziemlich rauhem Ton, obgleich in seinem Benehmen mehr Freundlichkeit lag, als er gegen sonst jemanden an den Tag gelegt haben würde: »nun, meine – Liebe. Was gibt’s?«

Käthchen schlug ihre in Tränen schwimmenden Augen auf und gab sich alle Mühe, ihre Erregung niederzukämpfen und zu sprechen – aber umsonst. Sie ließ ihren Kopf sinken und schwieg. Sie hatte ihr Gesicht mit den Händen bedeckt, aber Ralph konnte sehen, daß sie weinte.

»Ich kann den Grund erraten«, dachte Ralph, nachdem er sie eine Weile schweigend angeblickt hatte: »ja, ich kann – ich kann den Grund erraten. Je nun« – meinte er dann weiter, denn der Anblick des Kummers seiner schönen Nichte hatte ihn ganz aus der Fassung gebracht –, »was hats viel zu sagen? Ein paar Tränen – und außerdem ist’s eine herrliche Lehre für sie – eine herrliche Lehre.«

»Was führt dich zu mir?« fragte Ralph, indem er ihr gegenüber einen Stuhl hinstellte und sich niederließ.

Er fuhr jedoch etwas zurück ob der plötzlichen Festigkeit, mit der Käthchen aufsah und ihm antwortete.

»Was mich zu Ihnen führt, Sir«, sagte sie, »ist von der Art, daß es Ihnen das Blut in die Wangen jagen und Ihr Gesicht glühen machen muß, wenn Sie es hören, wie es auch die gleiche Wirkung auf mich übt, wenn ich es erzähle. Ich bin mißhandelt worden; meine Gefühle wurden verletzt, gekränkt, unheilbar verwundet – und zwar durch Ihre Freunde.«

»Freunde?« rief Ralph mit Nachdruck. »Ich habe keine Freunde, Mädchen.«

»Nun denn – durch die Männer, die ich hier sah«, entgegnete Käthchen rasch. »Wenn es nicht Ihre Freunde waren und Sie diese kannten – ach, um so mehr Schande für Sie, Onkel, daß Sie mich in ihre Gesellschaft brachten. Wäre ich dem, was mir hier widerfuhr, durch irgendein übel angebrachtes Vertrauen oder eine unvollkommene Kenntnis Ihrer Gäste ausgesetzt worden, so würden Sie sich kaum zu entschuldigen vermögen. Wenn Sie es aber taten, während Sie den Charakter dieser Menschen kannten – wie ich jetzt glauben muß –, so war es eine Unmenschlichkeit und Niederträchtigkeit, die nicht ihresgleichen hat.«

Ralph rückte bei dieser unverhohlenen Sprache in höchstem Erstaunen seinen Stuhl etwas zurück und betrachtete Käthchen mit strengem Blick. Sie begegnete aber demselben mit Stolz und Festigkeit, und obgleich ihr Antlitz äußerst blaß war, so erschien es doch in seiner Aufregung edler und schöner als je.

»Es ist etwas von dem Blut des Knaben in dir, wie ich bemerke«, sagte Ralph in seinem rauhesten Ton, da ihn etwas in ihrem blitzenden Auge an sein letztes Zusammentreffen mit Nicolaus erinnerte.

»Ich hoffe es«, versetzte Käthchen, »und darf stolz darauf sein. Ich bin jung, Onkel, und die Not und der Kummer meiner Lage haben es niedergehalten. Aber heute hat es allen Zwang durchbrochen, und – mag kommen, was da will – ich werde, so wahr ich das Kind Ihres Bruders bin, diese Kränkungen nicht länger ertragen.«

»Welche Kränkungen, Mädchen?« fragte Ralph mit Schärfe.

»Rufen Sie sich das, was hier an dieser Stelle vorging, ins Gedächtnis und fragen Sie sich selbst«, sagte Käthchen hoch errötend. »Onkel, Sie müssen – und ich bin überzeugt, daß Sie es werden –, Sie müssen mich von dem schändlichen und entehrenden Umgang befreien, dem ich bis jetzt ausgesetzt war. – Es ist nicht meine Absicht«, fuhr Käthchen fort, indem sie auf den Alten zueilte und ihre Hand auf seine Schulter legte, »es ist nicht meine Absicht, leidenschaftlich und heftig zu sein, und ich bitte um Verzeihung, wenn es den Anschein hatte, lieber Onkel. Aber Sie wissen in der Tat nicht, was ich erduldet habe. Sie kennen das Herz eines jungen Mädchens nicht – und ich kann dies auch unmöglich von Ihnen verlangen; aber ich bin überzeugt, daß Sie mir helfen werden, wenn ich Ihnen sage, daß ich elend bin und daß mein Herz bricht. Ja, gewiß – gewiß, Sie werden mir helfen.«

Ralph sah sie einen Augenblick an, wandte dann den Kopf seitwärts und stampfte heftig mit dem Fuß auf den Boden.

»Ich habe von einem Tag auf den andern gehofft«, sagte Käthchen, indem sie sich über ihn hinbeugte und ihre kleine Hand schüchtern in die seine legte, »diese Verfolgung würde ein Ende nehmen. Ein Tag verstrich um den andern, und ich mußte sogar heiter scheinen, trotz der tiefen Wunde in meinem Herzen. Ich hatte niemanden, bei dem ich mir Rat holen oder Schutz suchen konnte. Die Mutter hält diese Menschen für achtbar, reich und angesehen; und wie kann ich – wie kann ich sie enttäuschen – da sie sich in diesem Wahn so glücklich fühlt – das einzige Glück, das sie hat? Die Dame, in deren Haus Sie mich untergebracht haben, ist keine Frau, der ich eine Angelegenheit von so zarter Natur anvertrauen könnte, und ich komme daher zu Ihnen, dem einzigen Freund, der mir nahe ist – fast dem einzigen Freund, den ich überhaupt besitze –, um Ihre Hilfe, Ihren Beistand zu erflehen.«

»Und wie könnte ich dir beistehen, Kind?« versetzte Ralph, indem er von seinem Stuhle aufstand und wieder im Zimmer auf und ab ging.

»Ich weiß. Sie haben Einfluß bei einem dieser Männer«, entgegnete Käthchen mit Nachdruck. »Würde nicht ein Wort aus Ihrem Munde sie veranlassen, von ihrem unmännlichen Benehmen abzustehen?«

»Nein«, erwiderte Ralph, indem er sich plötzlich umwandte – »wenigstens das – ich kann nicht über die Sache mit ihm sprechen, selbst wenn sich ein Erfolg davon versprechen ließe.«

»Sie können nicht?«

»Nein«, sagte Ralph, der mit einem Male regungslos stillstand und seine Hände hinter dem Rücken noch dichter zusammenklammerte, »ich kann es nicht.«

Käthchen trat ein paar Schritte zurück und sah ihn an, als zweifle sie, ob sie recht gehört hätte.

»Wir stehen in Geschäftsverbindung«, sagte Ralph, indem er sich abwechselnd auf den Zehen und den Fersen wiegte und seiner Nichte kaltblütig ins Gesicht sah – »ja in Geschäftsverbindung, und ich darf es nicht wagen, sie zu beleidigen. Was ist’s denn auch im Grunde? Wir alle haben unsere Nöte, und das ist eine von den deinigen. Manche Mädchen würden stolz sein, solche Kavaliere zu ihren Füßen liegen zu sehen.«

»Stolz?« rief Käthchen.

»Ich sage nicht«, versetzte Ralph, indem er seinen Zeigefinger erhob, »daß du nicht recht daran tust, sie zÿu verachten. Nein, du zeigst hierin nur dein richtiges Urteil, und in der Tat, ich wußte es voraus, daß du so handeln würdest. Was willst du nun weiter, da deine Stellung in jeder Hinsicht eine behagliche ist? Wie magst du von Leiden sprechen? Wenn dieser junge Lord dir überall nachläuft und dir seine läppischen Albernheiten ins Ohr flüstert – was macht es? Wenn’s auch eine unehrenhafte Leidenschaft ist – nun so sei’s drum – er wird es bald satt haben. Es kommt ihm irgend etwas Neues in dn Wurf, und du bist erlöst. Inzwischen –«

»Inzwischen« – fiel Käthchen mit einem Stolz und mit einer Entrüstung ein, wie sie für ihre Lage paßten – »soll ich die Verachtung meines eigenen Geschlechtes auf mich häufen und das Spielzeug des andern sein – mit Recht verdammt von allen züchtigen Frauen, verachtet von allen ehrenhaften Männern, gesunken in meiner eigenen Achtung und erniedrigt vor jedem Auge, das auf mich blickt. Nein, ich ertrage es nicht länger, und wenn ich mir die Finger bis auf die Knochen abarbeiten und mich den rauhesten und schwersten Arbeiten unterziehen müßte. Mißverstehen Sie mich nicht! Ich will Ihrer Empfehlung keine Unehre machen und in dem Hause bleiben, in dem Sie mich untergebracht haben, bis ich durch die Bedingungen meines Vertrages berechtigt bin, es zu verlassen. Aber merken Sie sich’s, daß ich diese Männer nie wiedersehen werde. Wenn ich das Haus verlasse, so werde ich mich vor jenen Elenden und vor Ihnen verbergen, und ich hoffe dann, indem ich meine Mutter durch harte Händearbeit ernähre, wenigstens im Frieden leben zu können; denn gewiß – Gott wird mich nicht verlassen.«

Mit diesen Worten winkte sie mit der Hand, eilte aus dem Zimmer und ließ Ralph Nickleby regungslos wie eine Steinfigur stehen.

Die Überraschung, womit Käthchen, als sie die Zimmertür schloß, dicht hinter dieser Newman Noggs wie eine Vogelscheuche im Winterquartier kerzengerade in einer kleinen Mauervertiefung stehen sah, hätte ihr fast einen Schrei erpreßt. Aber Newman legte den Finger auf seine Lippen, und so behielt sie Geistesgegenwart genug, an sich zu halten.

»Nicht doch«, sagte Newman, als er aus seinem Winkel hervorschlüpfte und sie über die Hausflur hingeleitete, »Sie müssen nicht weinen – Sie müssen nicht weinen.«

Wir müssen nebenbei bemerken, daß zwei große Tränen in Newmans Wimpern hingen, als er so sprach.

»Ich sehe, wie die Sachen stehen«, fuhr der arme Noggs fort, indem er etwas aus der Tasche zog, was einem alten Wischlappen glich, und damit Käthchens Auge so sanft, als ob sie ein Kind wäre, abtrocknete. »Sie lassen Ihren Tränen jetzt den Lauf. Nun, nun, das ist schon gut und gefällt mir, aber Sie taten recht, vor ihm sich zusammenzunehmen. Ja, ja! Hahaha! Ach ja. Armes Kind! Ach ja. Armes Kind!«

Unter diesen unzusammenhängenden Ausrufen wischte Newman seine eigenen Augen mit dem vorerwähnten Wischlappen und hinkte nach der Haustür, um das Mädchen hinauszulassen.

»Weinen Sie nicht mehr«, sagte Ncwman, »ich werde Sie bald besuchen. Hahaha! Und auch ein anderer soll es tun. Ja, ja! Haha!«

»Gott behüte Sie«, entgegnete Käthchen hinauseilend: »Gott behüte Sie.«

»Sie gleichfalls«, versetzte Noggs, indem er die Tür wieder ein wenig öffnete, um ihr nachrufen zu können: »Hahaha! Hohoho!«

Und Newman Noggs öffnete die Tür abermals, um ihr freudig zuzuwinken und zu lachen; dann schloß er sie, um traurig den Kopf zu schütteln und zu weinen. Ralph blieb in derselben Stellung, bis er die Tür ins Schloß fallen hörte, dann zuckte er die Achseln, ging einigemal im Zimmer hin und her – zuerst rasch, aber allmählich langsamer, je ruhiger er wurde, und setzte sich endlich an seinem Pult nieder.

Es gehört unter die Rätsel der menschlichen Natur, deren man wohl gewahrt, ohne sie jedoch lösen zu können: – obgleich Ralph in jenem Augenblick wegen seines Betragens gegen das unschuldige, aufrichtige Mädchen keine Gewissensbisse fühlte, und obgleich seine zügellosen Kumpane genau das getan, was er erwartet, gewünscht und seinen Zwecken förderlich erachtet hatte, so haßte er sie doch um ihres Betragens willen aus dem Grunde seiner Seele. »Wartet nur«, sagte Ralph, indem er finster zürnend umherblickte und die geballte Hand schüttelte, als die Gesichter der beiden Wüstlinge vor seinem geistigen Auge auftauchten; »ihr sollt mir dafür bezahlen. Oh, ihr sollt mir dafür bezahlen!«

Während der Wucherer sich bei seinen Büchern und Papieren Trost holen wollte, ging vor der Tür seines Bureaus ein Auftritt vor, der ihn nicht wenig überrascht haben würde, wenn er irgendwie hätte Kunde davon erhalten können.

Newman Noggs war die einzige handelnde Person. Er stand in einiger Entfernung von der Tür, der er das Gesicht zukehrte, hatte die Ärmel seines Rockes über die Handgelenke zurückgeschlagen und war eben beschäftigt, die kräftigsten und kunstgerechtesten Hiebe in die leere Luft zu führen.

Bei dem ersten Anblicke hätte das bloß als eine kluge Vorsichtsmaßregel eines zu einer sitzenden Lebensweise bestimmten Mannes erscheinen mögen, der die Absicht hatte, die Brust zu erweitern und seine Armmuskeln zu kräftigen. Aber die lebhafte Freude, die sich in Newman Noggs‘ von Schweiß triefendem Gesicht spiegelte, der wunderbare Nachdruck, womit er seine Schläge fortwährend gegen eine bestimmte Stelle ungefähr fünf Fuß über dem Boden führte, und die unermüdliche Ausdauer, in der er sich abarbeitete, würde einem aufmerksamen Beobachter hinreichend erklärt haben, daß er im Geiste den Körper seines Chefs, des Herrn Ralph Nickleby, windelweich prügelte.