Neunundzwanzigstes Kapitel.

Von Nicolaus‘ weiteren Schicksalen und gewissen Spaltungen in der Gesellschaft des Herrn Vincent Crummles.

Herr Vincent Crummles ließ sich durch den unerwarteten Erfolg und den Beifall, den sein Unternehmen in Portsmouth gefunden, veranlassen, seinen Aufenthalt in dieser Stadt um vierzehn Tage über die ursprünglich beabsichtigte Zeit zu verlängern. Nicolaus trat bei dieser Gelegenheit in den verschiedensten Rollen mit ungemindertem Beifall auf und lockte so viele Personen an, die man früher nie im Theater gesehen hatte, daß dem Direktor ein Benefiz als eine vielversprechende Spekulation erschien. Nicolaus willigte in die vorgeschlagenen Bedingungen ein, und das Benefiz fand statt, was ihm nicht weniger als die Summe von zwanzig Pfunden einbrachte.

Sobald er sich so unerwartet reich fühlte, packte er zuerst den Betrag von Johann Browdies freundlichem Darlehen ein und begleitete die Rücksendung mit vielen Dankes- und Achtungsversicherungen, nebst vielen Wünschen für sein eheliches Glück. Dann übermachte er Newman Noggs die Hälfte seiner Einnahme mit der Bitte, sie gelegentlich Käthchen im geheimen einzuhändigen und sie seiner wärmsten und innigsten brüderlichen Liebe zu versichern. Er erwähnte seine theatralische Laufbahn gar nicht, sondern gab Newman bloß die Weisung, daß ein Brief unter der Adresse seines angenommenen Namens und des Postamts Portsmouth ihn unfehlbar treffen würde, und bat dabei seinen treuen Freund, ihm alle Einzelheiten über die Lage seiner Mutter und Schwester zu schreiben und über alle die großartigen Dinge, die Ralph Nickleby seit seiner Entfernung von London für sie getan hatte, Bericht zu erstatten.

»Sie sind niedergeschlagen?« sagte Smike an dem Abend, an dem der Brief abgesandt worden war.

»O nicht doch«, entgegnete Nicolaus mit angenommener Heiterkeit, denn eine Bejahung würde den armen Jungen die ganze Nacht über unglücklich gemacht haben; »ich dachte an meine Schwester, Smike.«

»Schwester?«

»Ja.«

»Ist sie Ihnen ähnlich?« fragte Smike.

»Die Leute sagen es«, versetzte Nicolaus lachend, »freilich aber um ein gut Teil schöner.«

»Dann muß sie sehr schön sein«, entgegnete Smike nach einer Weile Besinnens, währenddem er seine Hände gefaltet und die Augen auf seinen Freund geheftet hatte.

»Einer, der dich nicht so gut kennt wie ich, mein lieber Junge, würde sagen, du wärest ein vollendeter Kavalier«, sagte Nicolaus.

»Ich weiß nicht, was das ist«, versetzte Smike kopfschüttelnd. »Werde ich je Ihre Schwester sehen?«

»Gewiß«, rief Nicolaus. »Wir werden eines Tages alle beisammen sein – wenn wir reich sind, Smike.«

»Wie kommt es, daß Sie, der Sie doch so freundlich und gütig gegen mich sind, niemanden haben, der auch gegen Sie wohlwollend wäre?« fragte Smike. »Ich kann mir das nicht erklären.«

»Ach, das ist eine lange Geschichte«, versetzte Nicolaus, »die du, wie ich fürchte, nicht einmal leicht fassen würdest. Ich habe einen Feind – du weißt, was das ist?«

»O ja, das weiß ich wohl«, entgegnete Smike.

»Nun, diesem hab ich´s zu verdanken«, erwiderte Nicolaus. »Er ist reich und kann nicht so leicht gezüchtigt werden wie dein alter Feind, der Schulmeister Squeers. Er ist mein Onkel, aber ein Schurke, der mich aufs tiefste verletzt hat.«

»Hat er das?« fragte Smike, sich lebhaft vorbeugend. »Wie heißt er? Sagen Sie mir seinen Namen.«

»Ralph – Ralph Nickleby.«

»Ralph Nickleby«, wiederholte Smike. »Ralph. Ich will diesen Namen auswendig lernen.«

Er hatte ihn etwa zwanzigmal vor sich hingemurmelt, als ihn ein lautes Pochen an der Tür in seiner Beschäftigung unterbrach. Ehe er jedoch öffnen konnte, steckte bereits Herr Folair, der Pantomimist, seinen Kopf herein.

Herrn Folairs Kopf war gewöhnlich mit einem runden Hut geziert, der eine ungewöhnlich hohe Krone und schmal aufgeschlagene Krempen hatte. Bei dem gegenwärtigen Anlaß trug er ihn ganz schräg gestellt und den Hinterteil nach vorn gekehrt, weil derselbe am wenigsten abgenützt war. Um den Hals hatte er einen flammroten wollenen Schal gewunden, dessen Zipfel unter dem von oben bis unten zugeknöpften Newmarketrock hervorsahen. In seiner Hand trug er einen sehr schmutzigen Handschuh und einen billigen Kleiderausklopfer mit einem gläsernen Handgriff – kurz, sein ganzes Äußere war ungewöhnlich blank und bekundete eine weit sorgfältigere Aufmerksamkeit auf seine Toilette, als sie sonst bei ihm üblich war.

»Guten Abend, Sir«, sagte Herr Folair, indem er seinen Hut abnahm und mit den Fingern durch das Haar fuhr. »Ich bringe eine Mitteilung – hm!«

»Von wem und weshalb?« fragte Nicolaus. »Sie sind ja diesen Abend ungemein geheimnisvoll.«

»Kalt vielleicht«, entgegnete Herr Folair – »kalt vielleicht. Die Schuld davon trifft meine Stellung, nicht meine Persönlichkeit, Herr Johnson. Meine Stellung fordert dies, da ich ein Freund von beiden Parteien bin, Sir.«

Herr Folair hielt jetzt mit einem sehr ausdrucksvollen Blicke inne, griff in den vorerwähnten Hut, holte ein kleines Stück seltsam gefalteten, weißlich-braunen Papiers heraus, in das der Schonung wegen ein Schreiben eingewickelt war, und händigte das letztere Nicolaus mit dem Ersuchen ein, daß er es lesen möchte.

Nicolaus nahm verwundert das Schreiben hin, erbrach das Siegel mit einem Blick auf Herrn Folair, der, die Augen beharrlich nach der Decke kehrend, dasaß, die Stirne runzelte und den Mund mit großer Würde aufwarf.

Das Billett trug die Adresse: »Herr Johnson, Esquire – Herrn Augustus Folair, Esquire, zur gefälligen Besorgung übertragen«; und Nicolaus‘ Verwunderung war keineswegs gemindert, als er innen die folgenden lakonischen Worte las:

»Herr Lenville vermeldet Herrn Johnson seinen höflichen Gruß und wird es dankbar anerkennen, wenn Herr Johnson ihm wissen lassen will, zu welcher Stunde des kommenden Morgens es ihm bequem sein wird, mit Herrn Lenville im Schauspielhause zusammenzutreffen, um sich von letzterem in Gegenwart der ganzen Gesellschaft die Nase zerschlagen zu lassen.

Herr Lenville ersucht Herrn Johnson, der von ihm etwa zu machenden Bestimmung nachzukommen, da Herr Lenville einige Kollegen eingeladen hat, Zeugen der Zeremonie zu sein, deren Erwartungen er in keinem Fall getäuscht sehen möchte. Portsmouth, Dienstag abend –«

So entrüstet auch Nicolaus über diese Unverschämtheit war, so erschien ihm doch die ganze Aufforderung so ausgesucht abgeschmackt, daß er sich in die Lippen beißen und den Wisch zwei- oder dreimal überlesen mußte, ehe er genug Würde und Ernst zusammenbringen konnte, um den Kartellträger anzureden, der die ganze Zeit über weder die Augen von der Decke verwandte, noch den Ausdruck seines Gesichts auch nur im mindesten veränderte.

»Kennen Sie den Inhalt dieses Schreibens?« fragte endlich Nicolaus.

»Ja«, versetzte Herr Folair, indem er sich eine kurze Weile umsah, aber dann schnell wieder seine Augen nach der Decke richtete.

»Und wie unterstehen Sie sich, den Überbringer zu machen, Sir«, fuhr Nicolaus fort, indem er das Papier in viele kleine Stücke zerriß und die Schnitzel dem Boten ins Gesicht warf. »Fürchteten Sie sich nicht, die Treppe hinuntergeworfen zu werden, Sir?«

Herr Folair wandte seinen Kopf, der nunmehr mit einigen Bruchstücken des Aufforderungsschreibens geziert war, gegen Nicolaus und erwiderte kurz mit derselben unzerstörlichen Würde:

»Nein.«

»Dann«, sagte Nicolaus, indem er Herrn Folair seinen hohen Hut abnahm und gegen die Tür schleuderte, »dann werden Sie guttun, Ihrem Deckel, noch ehe zwölf Sekunden vergehen, zu folgen. Sie könnten sonst auf eine unangenehme Weise enttäuscht werden.«

»Ich sage Ihnen, Johnson«, entgegnete Herr Folair, der plötzlich alle seine Würde aufgab, »ein solches Betragen ist nicht am Orte. Nur keine solche Possen mit eines Gentlemans Garderobe.«

»Verlassen Sie mein Zimmer«, herrschte ihm Nicolaus zu. »Wie konnten Sie sich unterstehen, mir eine solche Botschaft zu überbringen, Sie Halunke!«

»Pah! pah!« sagte Herr Folair, indem er seinen Schal löste und sich allmählich herauswickelte. »So – das ist genug.«

»Genug?« rief Nicolaus, auf ihn zutretend. »Ich frage Sie zum letztenmal, Sir, ob Sie sich packen wollen?«

»Nur Ruhe, ich sage Ihnen«, versetzte Herr Folair, indem er die Hand vorhielt, als wolle er jeden weiteren Wutausbruch abwehren; »es war von keinem Ernst die Rede. Ich brachte den Zettel bloß des Spaßes halber.«

»So werden Sie guttun, bei derartigen Späßen zuvor Ihre Leute genau anzusehen«, entgegnete Nicolaus, »Ihr Witz könnte sonst Ihnen selber eine zerschlagene Nase eintragen. Sollte der Wisch auch nur ein Spaß sein?«

»Nein, nein, das ist gerade das Schöne an der Sache«, antwortete Herr Folair. »Er ist purer, trockener Ernst – auf Ehre.«

Nicolaus konnte sich eines Lächeln ob der sonderbaren Gestalt vor ihm nicht erwehren, die zu allen Zeiten eher Heiterkeit als Unwillen zu erregen imstande war, besonders aber in dem gegenwärtigen Augenblick, wo Herr Folair, mit einem Knie auf dem Boden, seinen alten Hut auf der Hand im Kreise herumtanzen ließ und eine ängstliche Besorgnis zur Schau stellte, ob sich nicht etwa einige Filzfasern abgestoßen hätten, eine Zierde, deren sich übrigens – wie wir kaum anzumerken nötig haben werden – seine Kopfbedeckung seit vielen Monaten nicht mehr zu rühmen hatte.

»Aber jetzt, Sir, werden Sie die Güte haben, mir eine Erklärung zu geben«, sagte Nicolaus, wider Willen lachend.

»Je nun, ich will Ihnen sagen, wie sich die Sache verhält«, entgegnete Herr Folair, indem er sich mit großer Kaltblütigkeit auf einen Stuhl setzte. »Seit Ihrem Eintritt fielen Lenville nur zweite Rollen zu, und statt wie früher jeden Abend eine Rezeption zu haben, benahm sich das Publikum bei seinem Auftreten, als ob er der Niemand wäre.«

»Was verstehen Sie unter dem Ausdruck Rezeption?« fragte Nicolaus.

»Lieber Himmel!« rief Herr Folair, »was sind Sie nicht für ein unschuldiger Schäfer, Johnson. So nennt man das Klatschen des Publikums bei dem ersten Betreten der Bühne. Er mußte Abend für Abend spielen, ohne daß sich eine Hand rührte, während Sie mindestens ihrer zwei, bisweilen auch drei Beifallsszenen erhielten. Endlich ist er darüber ganz verzweifelt, so daß er erst gestern abend halb und halb im Sinne hatte, den Tybalt mit einem wirklichen Schwert zu spielen und Ihnen eins zu versetzen – nicht gefährlich zwar, aber doch so, daß Sie für einen Monat oder zwei fest hätten liegen müssen.«

»Sehr gut ausgedacht«, bemerkte Nicolaus.

»Ja, das war es den Umständen nach in der Tat; denn sein Künstlerruhm stand auf dem Spiel«, sagte Herr Folair mit dem ernsthaftesten Gesicht. »Aber es gebrach ihm an Mut, und so sann er auf ein anderes Mittel, Ihnen beizukommen, wodurch er sich zugleich populär zu machen gedachte – denn das ist die Hauptsache. Ruhm, Berühmtheit ist das höchste Ziel des Schauspielers. Du mein Himmel, wenn er Sie mit scharfer Klinge gekitzelt hätte«, fuhr Herr Folair fort, nachdem er eine Weile innegehalten hatte, um eine Berechnung zu machen, »es wäre ihm – ah, es wäre ihm acht oder zehn Schillinge in der Woche wert gewesen. Die ganze Stadt wäre gekommen, um den Schauspieler zu sehen, der infolge eines Mißgriffs beinahe einen Menschen tötete. Es sollte mich nicht wundernehmen, wenn es ihm ein Engagement in London eingetragen hätte. Sei dem übrigens, wie es sei, er mußte einen andern Weg zur Popularität einschlagen, und da fiel ihm der gegenwärtige ein. Der Gedanke ist in der Tat nicht übel. Hätten Sie sich einschüchtern lassen und ihm Ihre Nase offeriert, so wäre die Geschichte in die Zeitungen gekommen, und hätten Sie einen Frieden mit ihm geschworen, so wäre das gleiche geschehen, da man dann ebensoviel von ihm als von Ihnen gesprochen haben würde. Begreifen Sie?«

»Allerdings«, versetzte Nicolaus; »aber angenommen, ich kehre den Stiel um und zerbläue ihm die Nase – was dann? Kann daraus auch ein Vorteil für ihn erwachsen?«

»Glaube kaum«, entgegnete Herr Folair, sich am Kopfe kratzend, »denn es wäre nichts Romantisches dabei, und er würde dadurch nicht zu seinem Vorteil bekannt. Doch offen gestanden, auf so etwas rechnet er nicht besonders, denn Sie haben sich immer als sanftmütig gezeigt und sind so populär unter den Frauen, daß wir hinter Ihnen nicht viel kriegerischen Sinn vermuteten. Führen Sie aber das im Schilde, so hat er – verlassen Sie sich darauf – ein Mittel, sich leicht aus der Sache zu ziehen.«

»Wirklich?« erwiderte Nicolaus. »Wir wollen´s doch morgen früh versuchen. Inzwischen mögen Sie ihm über unsere Unterredung mitteilen, was Ihnen beliebt. Gute Nacht.«

Da Herr Folair unter seinen Kollegen als schadenfroh bekannt war, der keineswegs seine Schritte ängstlich erwog, wenn es Unheil zu stiften gab, so zweifelte Nicolaus nicht, daß das Ganze eine Aufhetzung von seiten dieses Ehrenmanns wäre und daß dieser seine Sendung hochtrabend genug ausgeführt haben würde, wenn er nicht durch den höchst unerwarteten Empfang, der ihm zuteil wurde, eingeschüchtert worden wäre. Es verlohnte sich jedoch nicht der Mühe, ernsthaft gegen ihn zu verfahren, und Nicolaus entließ daher den Pantomimisten mit einer höflichen Andeutung, daß ihm die nächste derartige Beleidigung einen zerbrochenen Schädel eintragen könnte. Herr Folair nahm die Warnung in ungemein guter Laune hin und entfernte sich, um mit seinem Auftraggeber Rücksprache zu nehmen und diesem von dem Erfolge seiner Bemühungen einen Bericht zu erstatten, wie er ihn zur Durchführung des Scherzes am geeignetsten hielt.

Er hatte ohne Zweifel erzählt, daß Nicolaus in die größte Angst und Furcht geraten sei; denn als dieser des andern Morgens zur gewohnten Stunde ganz ruhig in dem Schauspielhaus erschien, fand er die ganze Gesellschaft augenscheinlich erwartungsvoll versammelt, während Herr Lenville mit dem grimmigsten Thcatergesicht majestätisch auf einem Tisch saß und herausfordernd pfiff.

Die Damen waren auf Nicolaus‘ Seite, während die neidischen Herren für den ausgestochenen Tragöden Partei nahmen; sie bildeten eine kleine Gruppe um den furchtbaren Herrn Lenville, während jene nicht ohne ängstliches Herzklopfen aus einiger Entfernung zusahen. Als Nicolaus haltmachte, um sie zu begrüßen, brach Herr Lenville in ein verächtliches Lachen aus und machte eine allgemeine Bemerkung hinsichtlich der Naturgeschichte der Hasenfüße.

»Ach«, sagte Nicolaus, sich ruhig umsehend, »sind Sie da?«

»Knecht!« versetzte Herr Lenville, indem er mit seinem rechten Arm ausholte und in einem Theaterschritt auf Nicolaus zuging.

Er schien jedoch in diesem Augenblick mit einigem Schrecken wahrzunehmen, Nicolaus sehe doch nicht ganz so furchtsam aus, als er erwartet hatte, weshalb er auch auf einmal so linkisch haltmachte, daß die versammelten Damen in ein schrilles Gelächter ausbrachen.

»Gegenstand meines Grolles und Hasses«, sagte Herr Lenville, »ich verachte dich.«

Nicolaus setzte dieser Komödiantenphrase ein höchst unerwartetes Lachen entgegen, und die Damen, die ihren Günstling ermutigen wollten, lachten noch lauter als vorher, worauf Herr Lenville den Mund zu seinem bittersten Lächeln verzog und seine Meinung dahin abgab, daß sie »Zierpüppchen« wären.

»Aber sie sollen dich nicht schützen«, fuhr der Tragöde fort, indem er Nicolaus Blicke zuwarf, die von seinen Stiefelspitzen begannen und auf dem Scheitel endigten, dann aber bei dem Scheitel wieder anfingen und mit den Stiefelspitzen schlossen – Blicke, die, wie männiglich bekannt, auf der Bühne Herausforderung bedeuten. »Sie sollen dich nicht schützen, Knabe!«

Mit diesen Worten schlug Herr Lenville seine Arme zusammen und gab Nicolaus eines jener Gesichter zum besten, mit denen er im Melodrama die tyrannischen Könige anzusehen pflegte, wenn sie sagten: ›Hinweg mit ihm ins tiefste Gefängnis unter dem Schloßgraben!‹ und die, wenn es von ein wenig Kettengeklirr begleitet wurde, seinerzeit jedesmal die trefflichste Wirkung taten.

Lag es nun an der Abwesenheit der Fesseln oder nicht – jedenfalls war der Eindruck auf Herrn Lenvilles Gegner kein sehr tiefer; denn die heitere Laune, die sich in seinem Antlitze ausdrückte, schien dadurch nur erhöht zu werden. Aber während die Sachen so standen, wurden einige der Herren, die ausdrücklich hergekommen waren, um das Zerschlagen von Nicolaus‘ Nase mit anzusehen, ungeduldig und ließen sich murrend darüber vernehmen, daß die Sache, wenn sie überhaupt vor sich gehen solle, rasch abgemacht werden möchte, und daß Herr Lenville, wenn er keine Lust dazu hätte, besser täte, es gleich zu sagen, damit sie nicht durch vergebliches Harren hingehalten würden. So gedrängt, schlug der Tragöde den Aufschlag seines Rockärmels zurück, um die Operation vorzunehmen, und ging mit pompösen Schritten auf Nicolaus zu, der ihn bis auf die erforderliche Entfernung herankommen ließ und ihn dann mit der größten Ruhe mit einem Streiche zu Boden schlug.

Ehe noch der gefallene Tragöde seinen Kopf von den Brettern erheben konnte, stürzte Madame Lenville (die sich, wie schon früher angedeutet wurde, in anderen Umständen befand) aus der Hinterreihe der Damen hervor und warf sich mit einem durchbohrenden Geschrei über ihren Gatten hin.

»Siehst du dies, Ungeheuer? Siehst du dies?« rief Herr Lenville, indem er sich aufsetzte und auf seine neben ihm hingestreckte Gattin deutete, die ihre Arme um seinen Leib geschlungen hielt.

Nicolaus nickte mit dem Kopfe und sagte: »Leisten Sie Abbitte wegen des unverschämten Schreibens, das Sie mir gestern abend sandten, und vergeuden Sie nicht noch mehr Zeit mit albernen Phrasen.«

»Nie!« rief Herr Lenville.

»Ja – ja – ja –« kreischte seine Gattin. »Um meinetwillen, um meinetwillen, Lenville – unterziehe dich allen diesen eitlen Förmlichkeiten, wenn du mich nicht als eine Leiche zu deinen Füßen sehen willst.«

»Das ist angreifend«, sagte Herr Lenville, indem er mit dem Rücken seiner Hand über die Augen fuhr. »Die Bande der Natur sind stark. Der schwache Gatte und Vater – der zukünftige Vater läßt sich erweichen. Ich leiste Abbitte.«

»De- und wehmütig?« fragte Nicolaus.

»De- und wehmütig«, entgegnete der Tragöde, finster aufblickend. »Aber nur um ihrer zu schonen; denn es wird eine Zeit kommen – –«

»Genug«, sagte Nicolaus. »Ich hoffe, für Madame Lenville wird eine gute kommen, und wenn das der Fall ist und Sie die Freuden eines Vaters fühlen, so können Sie die Erklärung zurücknehmen, wenn Sie den Mut dazu haben. Wir sind jetzt fertig, Sir. Überlegen Sie aber ein andermal besser, wohin Sie Ihre Verärgerung führen kann, und vergessen Sie nicht, ehe Sie zu weit gehen, sich über das Temperament Ihres Gegners Gewißheit zu verschaffen.«

Mit diesen Worten nahm Nicolaus Herrn Lenvilles Eschenstock, der ihm aus der Hand geflogen war, auf, brach ihn entzwei, warf ihm die Stücke vor die Füße und entfernte sich mit einer leichten Verbeugung gegen die Zeugen des Auftritts.

Denselben Abend zollte man Nicolaus die tiefste Ehrerbietung, und die, die am begierigsten darauf gewesen waren, ihm die Nase zerschlagen zu sehen, benutzten jede Gelegenheit, ihn beiseite zu nehmen und ihm mit der größten Teilnahme zu versichern, wie sehr es sie gefreut hätte, daß er diesen Lenville so nach Verdienst heimgeschickt hätte, da er ein ganz unerträglicher Kerl wäre, dem sie alle – gewiß ein höchst merkwürdiges Zusammentreffen – zu verschiedenen Malen schon die verdiente Züchtigung zugedacht hätten, die nur aus Rücksichten des Mitleids unterblieben wäre. In der Tat mußte man aus dem stereotypen Schluß aller dieser Phrasen die Folgerung ziehen, daß es auf der ganzen Erde keine humaneren und mitleidigeren Menschen gäbe als die männlichen Mitglieder von Herrn Crummles´ Truppe.

Nicolaus bewies bei seinem Triumphe, wie überhaupt bei seinen Erfolgen in der kleinen Theaterwelt, die größte Mäßigung und Ruhe. Der aus dem Feld geschlagene Herr Lenville machte zwar noch einen letzten Racheversuch, indem er einen Knaben auf die Galerie schickte, um dort zu pfeifen. Aber dieser fiel als ein Opfer der allgemeinen Entrüstung, denn er wurde ohne weiteres hinausgeworfen und erhielt sein Geld nicht wieder zurück.

»Nun, Smike«, sagte Nicolaus, als er nach dem ersten Stück sich fast ganz zum Nachhausegehen angekleidet hatte: »ist noch immer kein Brief da?«

»Ja«, versetzte Smike, »hier ist einer, den ich von der Post geholt habe.«

»Von Newman Noggs«, sagte Nicolaus, die Schwefelhölzerschrift der Adresse ansehend. »Es ist nicht leicht, diese Züge zu entwirren. Doch – wir wollen sehen, wir wollen sehen.«

Nach halbstündigem Studium gelang es ihm, den Inhalt des Briefes herauszubringen, der übrigens keineswegs imstande war, sein Gemüt zu beruhigen. Newman hatte es auf sich genommen, die zehn Pfund zurückzuschicken, denen er die Bemerkung beifügte, er wisse bestimmt, daß weder Madame Nickleby noch Käthchen für den Augenblick das Geld nötig hätten. Es könne aber in vielleicht kurzer Zeit der Fall eintreten, daß es Nicolaus selber besser zustatten käme. Er ersuchte ihn, sich durch das, was er ihm zu melden hätte, nicht beunruhigen zu lassen – es wäre nichts Schlimmes vorgefallen, und alles befände sich in guter Gesundheit. Aber es käme ihm vor, als könnten sich Dinge ereignen, oder wären vielleicht wirklich schon im Gange, die für Käthchen ihres Bruders Schutz unbedingt nötig machten. Wenn dies jedoch einträfe, meinte Newman, so wolle er Nicolaus das Geeignete unverzüglich melden.

Nicolaus las diese Stelle wieder und wieder, und je mehr er darüber nachdachte, desto mehr ahnte ihm irgendeine Schurkerei von seiten Ralph Nicklebys. Ein- oder zweimal fühlte er sich versucht, auf jede Gefahr hin sofort nach London zu eilen. Aber ein wenig Nachdenken belehrte ihn, daß Newman, wenn ein solcher Schritt nötig wäre, ohne Rückhalt sich darüber ausgesprochen haben würde.

»Jedenfalls sollte ich die Leute hier auf die Möglichkeit meines plötzlichen Austritts vorbereiten«, sagte Nicolaus. »Ich will daher keine Zeit verlieren, es zu tun.«

Sobald ihm dieser Gedanke aufgetaucht war, nahm er seinen Hut und eilte in das Garderobenzimmer.

»Nun, Herr Johnson«, sagte Madame Crummles, die in dem vollen Kostüm einer Königin dasaß und das Wunderkind mit ihren mütterlichen Armen umschloß, »die nächste Woche geht’s nach Ryde, dann nach Winchester, dann nach – –«

»Ich habe einigen Grund, zu fürchten«, fiel Nicolaus ein, »daß meine Laufbahn bei Ihnen geschlossen sein wird, noch ehe Sie Portsmouth verlassen.«

»Geschlossen?« rief Madame Crummles, ihre Hände erstaunt emporhebend.

»Geschlossen?« rief Fräulein Snevellicci, die in ihren Beinkleidern so heftig zitterte, daß sie ihre Hand auf die Schulter der Direktorin legen mußte, um sich zu stützen.

»Er will damit doch nicht sagen, daß er uns zu verlassen gedenkt?« fügte Madame Grudden bei, indem sie sich zu Madame Crummles durchdrängte. »Donnerwetter, was wäre das für ein Unsinn!«

Das Wunderkind, das von gar zarter Natur und sehr reizbarem Wesen war, erhob ein lautes Geschrei, und Fräulein Belvawney vergoß nebst Fräulein Bravassa wirkliche Tränen. Selbst die männlichen Mitglieder der Gesellschaft unterbrachen ihre Unterhaltung und beteten die Worte ›uns verlassen‹ nach, obgleich einige darunter (namentlich die, die den Tag über in ihren Glückwünschen am lautesten gewesen waren) sich gegenseitig zunickten, als täte es ihnen nicht sehr leid, einen so begünstigten Nebenbuhler zu verlieren – eine Ansicht, die in der Tat auch der ehrliche Herr Folair, der bereits als Wilder angekleidet war, ganz offen gegen einen Teufel aussprach, mit dem er sich eben in einen Krug Porter teilte.

Nicolaus erklärte rasch, er fürchte, daß es so kommen könnte, obgleich er sich vorderhand keinesfalls mit Bestimmtheit darüber auszusprechen vermöge. Er entfernte sich dann, sobald er konnte, und ging nach Haus, um Newmans Brief noch einmal durchzubuchstabieren und aufs neue Betrachtungen darüber anzustellen.

Wie geringfügig erschien ihm in jener schlaflosen Nacht alles, was seit so vielen Wochen seine Zeit und seine Gedanken in Anspruch genommen hatte, und wie beharrlich und unablässig vergegenwärtigte sich seiner Einbildungskraft der eine Gedanke, daß Käthchen mitten in Gefahr und Unglück – ach und vergeblich – nach ihm aussähe.