Master Kitterbells Taufe


Master Kitterbells Taufe

Mr. Nikodemus Dumps oder, wie seine Bekannten ihn zu nennen pflegten, »der lange Dumps«, war ein Hagestolz, sechs Fuß hoch und fünfzig Jahre alt – mürrisch, totengräberisch, wunderlich und boshaft. Er war nur vergnügt, wenn er unglücklich war und fühlte sich stets unglücklich, wenn er die meiste Ursache zur Fröhlichkeit hatte. Sein einziges wahrhaftes Vergnügen bestand darin, jedermann um sich her verdrießlich oder sorgenvoll zu sehen, und erst wenn dies der Fall war, konnte man von ihm sagen, daß er seines Lebens froh wurde. Er war mit einem Amt bei der Bank mit jährlichen fünfhundert Pfund geplagt und mietete eine Wohnung in Pentonville, weil er aus seinen Fenstern die Aussicht auf den ganz nahen Kirchhof hatte. Er kannte jeden Grabstein auf das genaueste, und jedes Leichenbegängnis schien seine lebhafteste Teilnahme zu erregen. Seine Freunde nannten ihn sauertöpfisch; er bestand darauf, er sei nervenschwach. Sie hießen ihn einen Glückspilz: allein er beteuerte, der unglücklichste Mensch von der Welt zu sein. Kalt, wie er war, und unglücklich, wie er sich selbst nannte, war er doch nicht ganz unempfänglich für wärmere Gefühle und Neigungen, Er verehrte das Andenken des berühmten Whist-Schriftstellers Hoyle, da er selbst ein ausgezeichneter und unermüdlicher Whistspieler war; er kicherte vor innerlichem Behagen, wenn er einen verdrießlichen und ungeduldigen Mitspieler hatte. Den König Herodes verehrte er wegen des bethlehemischen Kindermords wie einen Heiligen; denn wenn er irgendein Geschöpf mehr als ein anderes haßte, so war es ein Kind. Übrigens mißfiel ihm freilich alles, und zwar in ziemlich gleichem Maße; vielleicht aber galten Kabrioletts, alten Frauen, Türen, die nicht schließen wollten, Musikdilettanten und Cads (Omnibuskondukteure) seine größten Antipathien. Er schickte dem Verein der Gesellschaft für Unterdrückung des Lasters beträchtliche Beiträge, um das Vergnügen zu haben, harmlose Belustigungen hindern zu helfen, und steuerte sehr reichlich zur Unterstützung zweier reisender Methodistenprediger in der holdseligen Hoffnung bei, daß recht viele durch die Umstände Begünstigte und Glückliche in dieser Welt durch die unterstützten Prediger bekehrt und durch Furcht vor der andern Welt unglücklich werden würden.

Mr. Dumps hatte einen Neffen, der seit einem Jahr verheiratet war und bei seinem Oheim einigermaßen in Gunst stand, weil er einen trefflichen Gegenstand zur Übung des Unheils stiftenden, Verdruß bereitenden Talents seines Onkels abgab. Mr. Charles Kitterbell war ein kleiner, gedrückter Mann mit einem breiten, gutgelaunten Gesicht. Er sah aus wie ein zusammengeschrumpfter Riese mit teilweise wiederhergestelltem Kopf und Antlitz und schielte dermaßen, daß es für jemand, der mit ihm sprach, rein unmöglich war dahinterzukommen, nach welcher Richtung er hinsähe. Seine Blicke schienen an die Wand geheftet, und man geriet vor ihnen außer Fassung; man bemühte sich vergebens, sie zu fesseln oder festzuhalten, und hätte sich vor ihnen verstecken mögen. Es war nur ein Glück, daß sie nicht ansteckten. Außerdem war Mr. Charles Kitterbell der leichtgläubigste und prosaischste Mann, der jemals eine Frau und ein Haus in der Großen Russelstraße, Bedfordsquare, nahm. Onkel Dumps ließ übrigens »Bedfordsquare« immer aus, und sagte dafür schauderhafterweise »Tottenham-Court-Road«.

»Wahrhaftig, Onkel, Sie müssen mir’s versprechen, Gevatter zu stehen«, sagte Mr. Kitterbell, als er sich eines Morgens bei seinem verehrten Verwandten befand.

»Kann’s, kann’s in der Tat nicht«, entgegnete Dumps.

»Aber warum denn nicht? Mary wird Sie für sehr unfreundlich halten. Es ist ja nur eine geringe Mühe.«

»Was die Mühe betrifft«, erwiderte der unglücklichste Mann von der Welt, »so denke ich gar nicht daran; allein meine Nerven sind in einem Zustand, daß ich die Taufhandlung nicht aushalten kann. Du weißt, daß ich nicht gern ausgehe. – Charles, um des Himmels willen, schaukle dich nicht so auf dem Stuhl, ich könnte wahnsinnig dabei werden.«

Mr. Kitterbell hatte sich seit einer Viertelstunde, ohne alle Rücksicht auf seines Onkels Nerven, auf dem Geschäftsstuhl in der Schwebe gehalten, so daß der Stuhl auf einem Bein balancierte.

»Bitte um Verzeihung«, sagte er bestürzt; »aber kommen Sie doch, Onkel! Wenn es ein Knabe ist, so müssen wir zwei Paten haben.«

» Wenn es ein Knabe ist!« sagte Dumps; »warum sagst du mir nicht, ob es ein Knabe oder ein Mädchen ist?«

»Ich würde es Ihnen sehr gern sagen, wenn ich nur könnte; allein das Kind ist ja noch ungeboren.«

»Noch ungeboren!« wiederholte Dumps, und ein Hoffnungsstrahl erhellte sein düsteres Antlitz. »Nun, es kann ein Mädchen werden, und dann bedarfst du meiner Patenschaft nicht; oder es wird ein Knabe, und dann kann er vor der Taufe sterben.«

»Das will ich nicht hoffen«, sagte der harrende junge Ehemann mit sehr langem Gesicht.

»Ich auch nicht«, stimmte ihm Dumps bei, der offenbar anfing, vergnügt zu werden. »Ich auch nicht; allein, in den ersten drei Tagen eines Kindeslebens kommen sehr häufig betrübende Fälle vor; der Kinnbackenkrampf ist sehr gewöhnlich, und gefährliche Darmkatarrhe bleiben fast nie aus.«

»O Himmel, Onkel!« keuchte der kleine Kitterbell.

»Ja, ja; am vorigen Dienstag kam meine Hauswirtin mit einem allerliebsten Knaben nieder; Donnerstag abend hat ihn die Wärterin auf dem Schoße – er ist so gesund und munter wie möglich – plötzlich wird er schwarz im Gesicht – man ruft den Arzt – wendet alle möglichen Mittel an, allein –«

»Entsetzlich!« unterbrach der geängstigte Kitterbell.

»Natürlich starb das Kind, doch es kann sein, daß dein Kind am Leben bleibt; und sollt‘ es ein Knabe sein und bis zur Taufe am Leben bleiben, so werd‘ ich dann freilich wohl Gevatter stehen müssen.«

Dumps hatte böse Vorahnungen und war deshalb offenbar in guter Laune.

»Ich danke Ihnen, Onkel«, sagte sein äußerst unruhig gewordener Neffe und drückte ihm die Hand so herzlich, als wenn ihm der Sonderling einen wesentlichen Dienst geleistet hätte. »Es wird jedoch am besten sein, wenn ich meiner Frau Ihre Andeutungen mitteile.«

»Wenn sie nervenschwach ist, so sag ihr wenigstens von meiner Hauswirtin Schicksal nichts«, erwiderte Dumps, der natürlich die ganze Geschichte ersonnen hatte; »obwohl es vielleicht deine Pflicht als Ehemann wäre, sie jedenfalls auf das Schlimmste vorzubereiten.«

Als Dumps ein paar Tage später beim Frühstück die Zeitung las, fiel ihm plötzlich die Geburtsanzeige eines jungen Kitterbells in das Auge.

»’s ist wirklich ein Knabe geworden!« rief er aus und warf das Zeitungsblatt auf den Tisch, faßte sich jedoch bald wieder, da seine Blicke gleich nachher auf eine lange Liste gestorbener Kinder fielen.

Es vergingen sechs Wochen, und da er keine Einladung von seinem Neffen erhielt, fing er an, sich mit dem Gedanken zu schmeicheln, daß das Kind gestorben wäre. Ein Billett zerstörte jedoch seine angenehmen Hoffnungen.

Onkel!

Sie werden hocherfreut sein, von mir zu hören, daß meine geliebte Mary das Wöchnerinnenzimmer verlassen hat und daß Ihr Großneffe und künftiger Pate vortrefflich gedeiht. Er war anfangs sehr klein, ist aber viel größer geworden, und die Wärterin sagt, daß er mit jedem Tage zunähme. Er schreit ziemlich viel und hat eine sehr sonderbare Farbe, was Mary und mich unruhig genug machte; doch die Wärterin sagt, daß es natürlich sei, und da wir von Dingen dieser Art noch nicht viel wissen und verstehen, so beruhigen wir uns vollkommen bei dem, was die Wärterin sagt. Wir glauben, daß er ein sehr kluges Kind werden wird, und die Wärterin glaubt es ganz gewiß, da er nie einschlafen will. Sie können sich leicht denken, daß wir sehr glücklich sind; wir haben nur etwa über ein wenig Ermüdung zu klagen, da er uns keine Nacht schlafen läßt; doch die Wärterin sagt, wir müßten uns daran gewöhnen, es wäre in den ersten sechs bis acht Monaten immer so. Er ist geimpft worden, allein, der Operateur hat sich etwas ungeschickt gezeigt und mit der Lymphe einige kleine Glasstückchen in den Arm gebracht, woher es vielleicht kommt, daß der Knabe ein wenig widerspenstig ist; zum wenigsten meint dies die Wärterin. Wir denken, ihn Freitag um zwölf Uhr in der St. Georgskirche in der Hartstraße Frederick Charles William taufen zu lassen. Ich bitte, kommen Sie nicht später als ein Viertel vor zwölf Uhr. Wir werden einige Freunde zum Abendessen bei uns haben, an dem Sie natürlich teilnehmen müssen. Ich füge mit Leidwesen hinzu, daß das liebe Kind heute ein wenig unruhig ist, ich fürchte, weil es Fieber hat. Glauben Sie, lieber Onkel, daß ich stets bin

Ihr ergebener Charles Kitterbell

N. S. Wir haben soeben die Unruhe des kleinen Frederick entdeckt. Sie liegt in keinem Fieber, wie ich befürchtete, sondern die Wärterin hat ihm gestern abend zufällig eine Nadel in das Bein gestochen. Wir haben sie herausgenommen, und er ist stiller geworden, obgleich er noch immerfort weint.«

Es ist fast unnötig zu sagen, daß das mitgeteilte interessante Schreiben dem hypochondrischen Dumps wenig zur Freude gereichte. Zurücktreten konnte er nicht wieder; er machte indessen die beste Miene – d. h. eine ungewöhnlich jammervolle – zum bösen Spiele und ließ für den kleinen Kitterbell einen artigen silbernen Becher mit den Buchstaben F.C.W.K. nebst obligaten Verzierungen anfertigen.

Am Montag war schönes, am Dienstag köstliches Wetter, der Mittwoch war beiden genannten Tagen gleich, und der Donnerstag übertraf sie alle; vier schöne Tage hintereinander in London! Die Mietskutscher wurden aufrührerisch, und die dem Fußgänger so dienstwillig aufwartenden Gassenkehrer fingen an, das Dasein einer Vorsehung zu bezweifeln. Der »Morning Herald« zeigte in seinen Spalten an, man habe eine alte Frau in Camden Town sagen hören, daß sich die ältesten Leute keines so beständigen schönen Wetters zu erinnern wüßten, und die Schreiber in Islington mit großen Familien und kleinen Gehältern verabschiedeten ihre schwarzen Gamaschen, verschmähten ihre einst grün gewesenen baumwollenen Regenschirme und stolzierten in weißen Strümpfen und rein gebürstetem Schuhwerk zur Stadt. Dumps sah dem allen mit der Miene tiefster Verachtung zu – sein Triumph stand nahe bevor – er wußte, daß es regnen würde, sobald er ausginge, und wenn das Wetter vier Wochen statt vier Tage schön gewesen wäre; er fühlte sich jammervoll glücklich in der Überzeugung, daß der Freitag ein sehr regnerischer Tag werden würde – und er hatte recht.

»Ich wußt’s vorher«, sagte Dumps, als er sich am Freitagmorgen um halb zwölf Uhr Mansion-House gegenüber umschaute; »ich wußt’s vorher, denn ich bin in im Spiel, und das ist genug.«

In der Tat war das Wetter hinlänglich schlecht, um auch hoffnungslustigere Leute, als Dumps war, zu entmutigen. Es hatte seit acht Uhr ohne Aufhören geregnet, und alle Fußgänger sahen naß und kotbespritzt aus. Alle Arten vergessener oder längst beiseite gestellter Regenschirme waren wieder hervorgesucht, die Gardinen der Kabrioletts sorgfältig verschlossen worden, und die letztern glichen den geheimnisvollsten Bildern in Mrs. Radcliffes Schlössern. Die Omnibuspferde rauchten wie Dampfmaschinen; niemand dachte daran, zeitweiligen Schutz unter Torwegen oder Bogen zu suchen, da das Wetter von jedermann als hoffnungslos erkannt wurde. Alles eilte und drängte triefend und in Schweiß gebadet hastig aneinander vorbei. Dumps stand still; er konnte nicht daran denken, zu gehen, da er sich zur Taufe angekleidet hatte. Nahm er ein Kabriolett, so war er überzeugt, daß er umgeworfen werden würde, und eine Mietskutsche erschien ihm bei seiner Sparsamkeit zu teuer. An der Ecke gegenüber hielt ein Omnibus – der Fall war verzweifelt – Dumps hatte nie gehört, daß ein Omnibus umgeworfen oder daß die Pferde mit einem solchen durchgegangen wären; und warf der Cad ihn um, so konnte er ihn dafür vor Gericht belangen.

»Hallo, Sir!« rief ihm der junge Gentleman zu, der die Würde des Cad bei den »Dorfburschen« – wie das erwähnte Gebäude hieß – bekleidete.

Dumps eilte hinüber.

»Hier, Sir!« rief ihm der Rosselenker des »Hark away« zu, und fuhr gerade vor die Wagentür des Nebenbuhlers; »hier, Sir – der ist voll.«

Dumps stand unschlüssig still, worauf die Dorfburschendirigenten den »Hark away« mit einem Strome von Schimpfwörtern überschütteten. Der Streit wurde jedoch vom »Admiral Napier« auf eine für alle Parteien befriedigende Weise beigelegt, indem der Admiral den langen Dumps um den Leib faßte und ihn mitten in sein Fuhrwerk hineinschleuderte, das eben herangekommen war und dem nur noch der Sechzehnte inwendig fehlte.

»Alles in Ordnung«, sagte der Admiral, und fort rasselte das Gebäude wie eine Feuerspritze im vollen Galopp mit seinem weggekaperten Passagier, der die Stellung eines halbaufgeklappten Stiefelknechts zu behaupten suchte und bei jedem Stoße bald zur einen, bald zur anderen Seite fiel, wie »ein Jack-im-Grün« am Maitag, der der Dame mit dem Kochlöffel hin und her taumelnd nachhüpft.26

»Um des Himmels willen, wo soll ich sitzen?« fragte der Unglückliche einen alten Herrn, dem er soeben zum vierten Male auf den Leib gefallen war.

»Wo Sie belieben, nur nicht auf mir«, erwiderte der alte Herr verdrießlich.

Es gelang Dumps endlich, sich einen Sitzplatz zu erringen zwischen einem Fenster, das sich nicht verschließen lassen wollte, und einem Mann, der den ganzen Morgen ohne Regenschirm umhergewandert war und aussah, als wenn er in einer Wassertonne gelegen hätte – nur noch nasser.

»Schlagen Sie doch die Tür nicht so«, sagte Dumps zu dem Kondukteur, als dieser vier Passagiere hinausgelassen hatte; »meine Nerven halten es unmöglich aus.«

»Sagte da ein Herr was?« entgegnete der Cad, steckte den Kopf in den Wagen und bemühte sich, auszusehen, als ob er nicht verstanden hätte.

»Ich sagte, Sie möchten die Tür nicht so heftig zuschlagen«, wiederholte Dumps mit einem Gesicht, das dem des Treffbuben in Krämpfen glich.

»’s ist ganz besonders mit dieser Tür, Sir; sie schließt nicht ohne Zuschlagen«, erwiderte der Cad, öffnete die Tür, so weit er konnte, und schlug sie zum Beweise seiner Angabe mit dem lautesten Krachen zu.

»Bitte um Vergebung, Sir«, redete ein kleiner, kurzatmiger alter Mann, der ihm gegenüber saß, Dumps an; »bitte um Vergebung; aber haben Sie nicht auch bemerkt, daß von fünf Omnibuspassagieren an einem Regentage immer vier mit großen, baumwollenen Regenschirmen einsteigen, die weder Griffe noch Spitzen haben?«

»Nein, Sir, ich habe die Bemerkung noch nicht gemacht«, entgegnete Dumps; er hörte es zwölf schlagen und schrie, da der Omnibus eben an Drury-Lane vorüberrasselte, wo er hinausgelassen zu werden bestimmt hatte: »Hallo, hallo! – wo ist der Cad?«

Der Cad hörte nicht. Einige mutwillige Passagiere kicherten. Der Omnibus rollte an der St. Giles-Kirche vorüber. Dumps wurde ganz heiser und matt von vergeblichem Rufen.

»Halt!« rief endlich der Cad. »Ich will mich fressen lassen, wenn ich den Herrn nicht vergessen hab’«, der bei Drury-Lane abgesetzt werden wollte. – Machen’s ein bissel hurtig, Sir, wenn’s beliebt!«

Er öffnete die Wagentür und half Dumps so kaltblütig hinaus, als wenn »alles in Ordnung« wäre. Dumps‘ Entrüstung gewann dieses Mal die Oberhand über seinen bittern Gleichmut. »Drury-Lane!« keuchte er mit der Stimme eines Knaben, der zum ersten Male in ein kaltes Bad geht.

»Drury-Lane, Sir? – ja, Sir – an der dritten Ecke rechter Hand, Sir!«

Dumps‘ Zorn beherrschte ihn ganz; er faßte seinen Regenschirm mit festem Griff und ging mit großen Schritten und mit dem hartnäckigen Entschluß davon, seine Fahrt nicht zu bezahlen. Es traf sich so merkwürdig, daß der Cad gerade der entgegengesetzten Meinung war, und der Himmel mag wissen, wozu diese Meinungsverschiedenheit geführt haben würde, wenn sie nicht durch den Kutscher zu einem sehr schicklichen und befriedigenden Ende gebracht worden wäre.

»Hallo!« rief dieses respektable Individuum, auf dem Bocke stehend und sich mit der einen Hand auf das Omnibusdach stützend; »hallo, Tom, sag dem Herrn, wenn er sich betrogen fühlte, wollten wir ihn umsonst nach Edgeware-Road mitnehmen und ihn bei Drury-Lane absetzen, wenn wir zurückkämen. Da kann er nichts gegen haben.«

Es war in der Tat nichts dawider einzuwenden; Dumps zahlte die bestrittenen sechs Pence, stand nach einer Viertelstunde vor seines Neffen Haustür in der Großen Russelstraße und wurde sofort eingelassen. – Im Hause deutete alles darauf hin, daß Vorbereitungen getroffen wurden, abends »einige Freunde« zu empfangen. Das sehr heiß und geschäftig aussehende Hausmädchen führte Dumps in ein vorderes, sehr stattlich möbliertes Besuchszimmer, in dem auf allen Tischen kleine Körbe, Porzellanfiguren, Rosa- und Goldalbums, regenbogenfarbige kleine Bücher und dergleichen Sächelchen zur Schau standen und lagen.

»Ah, Onkel«, rief Kitterbell Dumps entgegen; »wie befinden Sie sich? Liebe Mary – mein Onkel. Ich denke, Sie haben Mary schon gesehen, Sir?«

»Habe schon das Vergnügen gehabt«, erwiderte der lange Dumps, doch so, daß es der Ton seiner Stimme und seine Mienen sehr zweifelhaft machten, ob er jemals in seinem Leben dergleichen empfunden habe

»Gewiß«, sagte Mrs. Kitterbell mit einem schmachtenden Lächeln und ein wenig hustend; »gewiß – hm – jeder Freund meines Charles – hm – und noch weit mehr jeder Anverwandte ist –«

»Ich kenne deine Gesinnung, meine Liebe«, unterbrach sie der kleine Kitterbell, indem er seine Gattin auf das zärtlichste anblickte und dabei aussah, als wenn er nach den Häusern gegenüber schaute; »möge dich der Himmel dafür segnen.«

Er begleitete diese letzteren Worte mit einem so süßen Lächeln und einem so zärtlichen Händedruck, daß Onkel Dumps‘ Galle erregt wurde.

»Jane, sag der Wärterin, daß sie den Kleinen herunterbringen möchte«, befahl Mrs. Kitterbell dem Hausmädchen.

Mrs. Kitterbell war eine große, dünne junge Frau mit sehr hellem Haar und einem auffallend weißen Gesicht – eine der jungen Frauen die, obwohl man schwerlich zu sagen wüßte, warum, stets den Gedanken an kalten Kalbsbraten hervorrufen. Das Hausmädchen ging, und die Wärterin kam, und zwar mit einem sehr, sehr kleinen Bündel auf den Armen, das in einen blauen Mantel mit weißem Pelzbesatz eingehüllt und in dem das Kindlein verborgen war.

»Nun, Onkel«, sagte Kitterbell, indem er mit einer triumphierenden Miene das Gesicht des Kindes enthüllte, »was meinen Sie, wem sieht er ähnlich?«

Mrs. Kitterbell wiederholte kichernd die Frage, nahm ihres Gatten Arm und sah Dumps mit so viel Freundlichkeit, als sie anzunehmen imstande war, in das Gesicht. »Gütiger Himmel, wie klein er ist!« rief der liebenswürdige Oheim aus, mit sehr gut nachgemachter Überraschung zurückschreckend; »in der Tat, ganz merkwürdig klein.«

»Meinen Sie wirklich?« fragte der arme kleine Kitterbell, ein wenig verblüfft. »Er ist jetzt ein Ungeheuer gegen das, was er anfangs war – nicht wahr, Wärterin?«

»’s ist ein Herz«, sagte die Wärterin ausweichend und das Kind an die Brust drückend. Sie hätte freilich nichts dawider gehabt, eine Unwahrheit zu sagen, allein, sie mochte sich nicht um Dumps‘ halbe Krone bringen.

»Aber wem sieht er ähnlich?« fragte der kleine Kitterbell zum zweiten Male.

Dumps sah auf das kleine rosa Bündel hinunter und sann eben nach, wie er die jungen Eheleute am besten ärgern könnte.

»Meinen Sie nicht, daß er mir ähnlich sieht?« fragte sein Neffe mit einer schalkhaften Miene.

» Dir ganz bestimmt nicht«, erwiderte Dumps mit nicht zu mißdeutender nachdrücklicher Betonung. »Nein, dir sieht er nicht im mindesten ähnlich – keine Spur von Ähnlichkeit.«

»Mary?« fragte Kitterbell kleinlaut.

»Auch nicht, Charles; nicht von fern. Ich bin in solchen Dingen natürlich kein kompetenter Richter, allein ich glaube wirklich, er ist einer der kleinen, interessanten Steinfiguren ähnlich, wie man sie bisweilen eine Trompete blasend auf Grabmonumenten sieht.«

Die Wärterin beugte sich über das Kind nieder und unterdrückte nur mit großer Mühe ein lautes Gelächter. Die Eltern sahen fast ebenso jammervoll wie der liebenswürdige Oheim aus.

»Sie werden schon noch besser sagen können, wem er ähnlich sieht«, bemerkte der niedergeschlagene kleine Vater. »Sie sollen ihn heute abend ohne Mantel sehen.«

»Ich danke dir«, sagte Dumps mit Empfindungen, die von allem, was Dankbarkeit heißt, sehr weit entfernt waren.

»Es ist aber Zeit, daß wir aufbrechen, Liebe«, sagte Kitterbell zu seiner Frau. »Onkel, wir treffen den andern Paten und die Patin in der Kirche – Mr. und Mrs. Wilson – ganz allerliebste Leute. Meine liebe Mary, du hast dich doch warm angekleidet?«

Mrs. Kitterbell bejahte.

»Willst du nicht lieber noch einen Schal umbinden?« sagte der besorgte Gatte.

»Es ist nicht nötig, mein süßes Herz«, erwiderte die bezaubernde Mutter, Dumps‘ dargebotenen Arm nehmend.

Sie stiegen in die Mietskutsche, und Dumps unterhielt Mrs. Kitterbell während der Fahrt zur Kirche damit, daß er ihr mit großer Anschaulichkeit weitläufig die Gefahren der Zahnfieber, Masern, Blattern, Brechdurchfälle, Krämpfe und anderer Kinderkrankheiten schilderte. Die etwa fünf Minuten währende Taufe ging vorüber, ohne daß sich etwas Besonderes dabei ereignet hätte. Der Geistliche war zu einem Mittagessen in einer entfernten Vorstadt eingeladen und hatte vorher noch in weniger als einer Stunde zwei Wöchnerinnen einzusegnen, drei Kinder zu taufen und einen Leichensermon zu halten. Die Gevattern sprachen daher in des Täuflings Namen, »zu entsagen dem Teufel und allen seinen Werken«, und der kleine Kitterbell war getauft im Umsehen und ohne Gefährdung, nur fehlte wenig, daß Dumps das unter den Händen des Geistlichen in das Taufbecken hätte fallen lassen. Mit schwerem Herzen und der qualvollen Aussicht auf eine Abendgesellschaft langte Dumps um zwei Uhr in seiner Wohnung an.

Der Abend kam – und auch Dumps‘ Tanzschuhe, schwarze, seidene Strümpfe und weißes Halstuch. Der unglückliche Pate kleidete sich in eines Freundes Kontor an und begab sich von dort zu Fuß – denn hatte zu regnen aufgehört, und das Wetter war erträglich geworden – in einer Stimmung fünfzig Grad unter Null nach der Großen Straße. Er ging langsam seines Weges, sah so bärbeißig aus wie das Gallionsbild eines Kriegsschiffes und entdeckte bei jedem Schritte neue Ursachen des Verdrusses. Er wendete sich eben um eine Ecke, als ein anscheinend betrunkener Mensch gegen ihn anrannte und ihn niedergeworfen haben würde, wenn er nicht hilfreich von einem elegant kleideten jungen Herrn gehalten worden wäre. Der Stoß hatte jedoch seine Nerven so sehr erschüttert und seinen Anzug in eine so schmähliche Unordnung gebracht, daß er kaum aufrecht stehen konnte. Der Herr gab ihm den Arm und geleitete ihn äußerst gefällig bis zum Fernival-Gasthaus. Dumps empfand zum ersten Male in seinem Leben Dankbarkeit und Neigung zur Höflichkeit und schied von dem jungen Mann unter vielen eifrigen Versicherungen, sich ihm höchlich verpflichtet zu fühlen.

»Es gibt doch wenigstens einige Wohlgesinnte in der Welt«, dachte der misanthropische Dumps im Weitergehen.

Als er sich Kitterbells Haus näherte, klopfte dort oben ein Kutscher an, aus dessen Wagen eine alte Dame und ein alter Herr und drei Kopien der alten Dame in rosa Kleidern und Schuhen ausstiegen. »’s ist eine große Gesellschaft«, seufzte der unglückliche Gevatter und wischte sich große Schweißtropfen von der Stirn. Es währte einige Zeit, ehe er sich überwinden konnte, zu klopfen; und als er eingelassen wurde, den geputzten Mietaufwärter und den Hausflur so glänzend erleuchtet sah und das Gesumm vieler Stimmen und die Töne einer Harfe und zweier Violinen sein Ohr trafen, drängte sich ihm sogleich die wehmütige Überzeugung auf, daß seine Vermutungen nur zu wohl begründet wären.

Der kleine Kitterbell schoß unendlich geschäftig aus dem kleinen Hinterstübchen mit einem Korkzieher in der Hand heraus und begrüßte ihn.

»Guter Gott!« rief Dumps aus, als er sich in das Hinterstübchen begab, um seine Schuhe anzuziehen, die er in der Rocktasche mitgebracht hatte, und eine Menge Flaschen und Gläser erblickte; »wie viele Gäste hast du denn oben?«

»O, nicht mehr als fünfunddreißig; und wir werden ein ordentliches warmes Essen haben. Mary hielt es für besser wegen des Redenhaltens und all dem. Aber um des Himmels willen, Onkel, was haben Sie denn? Was haben Sie verloren? Ihre Brieftasche?«

Dumps stand da mit einem Schuh, durchsuchte seine Taschen und schnitt dabei die schrecklichsten Gesichter.

»Nein«, sagte er in Tönen redend, wie Desdemona mit dem Kissen auf dem Munde.

»Ihr Markenkästchen – Ihre Schnupftabaksdose – Ihren Hausschlüssel?« ließ Kitterbell schnell wie Blitze eine weitere Frage auf die andern folgen.

»Nein, nein!« ächzte Dumps, fortwährend seine Taschen durchsuchend.

»Vielleicht – vielleicht den Becher, von dem Sie heute morgen sprachen?«

»Ja, den Becher!« entgegnete Dumps, auf einen Stuhl sinkend.

»Wie konnten Sie aber auch so etwas verlieren?« sagte Kitterbell. »Sind Sie gewiß, daß Sie ihn eingesteckt haben?«

»O weh! jetzt wird mir alles klar!« rief Dumps plötzlich aus. »Ich unglückseliger Mensch – ich bin zur Qual geboren; jetzt ist mir alles klar: es war der elegante, gefällige junge Herr!«

»Mr. Dumps!« schrie mit Stentorstimme der in einen Aufwärter verwandelte Obsthändler, indem er dem ziemlich wieder gefaßten Paten eine halbe Stunde später die Tür des Gesellschaftszimmers öffnete. Aller Augen wendeten sich nach der Tür, und Dumps, der sich so behaglich und an seiner Stelle fühlte wie ein Lachs auf einem Kiesweg, trat ein.

»Freue mich, Sie wiederzusehen«, sagte Mrs. Kitterbell, ohne im mindesten zu ahnen, wie verwirrt und elend der Unglückliche war; »erlauben Sie mir, Sie den Meinigen vorzustellen. Meine Mutter, Mr. Dumps – mein Vater – meine Schwestern.« Dumps ergriff die Hand der Mutter mit so viel Wärme, als wenn die alte Dame seine eigene Mutter gewesen wäre, verbeugte sich vor den jungen Frauenzimmern und gegen einen Herrn hinter ihm, ohne von dem Vater Notiz zu nehmen, der eine Verbeugung nach der andern machte.

»Onkel«, sagte der kleine Kitterbell, nachdem Dumps ein paar Dutzend erlesenen Freunden vorgestellt worden war, »Sie müssen mir vergönnen, daß ich Sie meinem Freunde Danton dort hinten vorstelle. Ein ganz ausgezeichneter Mensch! Ich weiß gewiß, daß er Ihnen gefallen wird – hier, wenn’s beliebt.«

Dumps folgte so langsam wie ein zahmer Bär.

Mr. Danton war ein junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren mit einem beträchtlichen Vorrat von Unverschämtheit und einem sehr kleinen Maß von Verstand und Kenntnissen. Er war besonders bei den jungen Damen von sechzehn bis sechsundzwanzig ausnehmend beliebt, verstand, die Töne des Waldhorns bewundernswürdig nachzuahmen, sang ganz unnachahmlich komische Lieder und konnte seinen Verehrerinnen impertinente Albernheiten und Plattheiten auf die einnehmendste Weise von der Welt sagen. Er hatte, Gott weiß wie, den Ruf erlangt, ein äußerst witziger Kopf zu sein, und natürlich lachten alle, die ihn kannten, sobald er nur den Mund öffnete.

Dumps wurde ihm und er Dumps vorgestellt. Mr. Danton verbeugte sich und drehte ein Damentaschentuch, das er in der Hand hatte, auf eine höchst komische Weise. Jedermann lächelte.

»Sehr warm«, sagte Dumps, der es notwendig erachtete, etwas zu sagen.

»Es war gestern noch wärmer«, bemerkte der witzige Danton, und alle Umstehenden lachten laut.

»Es gewährt mir großes Vergnügen, Ihnen zu Ihrem ersten Auftreten in der Vater- – Gevatterrolle wollte ich sagen – Glück zu wünschen«, fuhr Danton fort.

Die jungen Damen waren in Ekstase, und die Herren wollten sich vor Lachen ausschütten.

Ein allgemeines Bewunderungsgesumm unterbrach das Gespräch. Die Wärterin mit dem Kinde trat herein. Die jungen Damen umringten sie augenblicklich; denn die Mädchen sind in Gesellschaft stets unendlich verliebt in Kinderchen.

»Oh, welch ein liebes Kind!« rief die eine.

»Du süßes Herzchen!« eine zweite.

»Welch ein himmlisches kleines Wesen!« eine dritte im Tone der allerhöchsten Bewunderung und Zärtlichkeit.

»Was für allerliebste kleine Arme« jubelte eine vierte und hielt einen Arm des Kindes empor, der etwa von der Größe und Gestalt eines gerupften Hühnerbeins war.

»Geben Sie ihn mir einmal her, Wärterin«, sagte eine fünfte.

»Kann er schon die Augen öffnen, Wärterin?« fragte eine sechste, die vollkommenste Unschuld spielend.

Mit einem Wort, die unverheirateten Damen erklärten das Kind einstimmig für einen Engel, und die verheirateten gestanden einhellig, daß es das hübscheste sei, das sie je gesehen hätten – ihre eigenen ausgenommen.

Der Tanz wurde wieder begonnen und über Mr. Danton geurteilt, daß er sich selbst übertreffe. Mehrere junge Damen entzückten die Gesellschaft und gewannen sich selbst Bewunderer durch sentimentale Lieder, die sie mit großem Ausdruck sangen. Die jungen Herren »machten sich höchst angenehm«, wie Mrs. Kitterbell sagte; die Mädchen ließen ihre Gelegenheiten nicht unbenutzt vorübergehen, und alles verhieß einen köstlichen und köstlich endenden Abend. Dumps hatte sich jedoch einen Plan – einen kleinen Spaß nach seiner Art ausgedacht und war fast vergnügt. Er spielte einen Rubber und verlor ihn bis auf den letzten Point, was er, wie Mr. Danton sagte, mit Willen getan, indem es sein letzter, sein Ziel-Point, beim Spiel gewesen. Die ganze Gesellschaft lachte. Dumps antwortete durch einen weit besseren Scherz, allein niemand lächelte auch nur, mit Ausnahme des Wirts, der es für seine Pflicht zu halten schien, über alles zu lachen, bis er schwarz im Gesicht war. Nur in einer einzigen Beziehung ging nicht alles, wie es sollte – die Spielleute spielten nicht mit so viel Feuer, wie man es hätte wünschen mögen; indes konnten sie allerdings eine genügende Entschuldigung anführen. Sie hatten nämlich schon den ganzen Tag auf einem Dampfschiff gespielt, das eine muntere Gesellschaft nach Gravesend hin- und zurückgefahren hatte.

Das Souper war ausgesucht. Mrs. Kitterbell hatte vier Zuckertempel auf den Tisch stellen lassen, die sich vortrefflich ausgenommen hätten, wenn sie nicht zusammengeschmolzen wären, ehe sich die Gesellschaft zu Tisch setzte. Ebenso lief das Wasser eines Beckens mit einer allerliebsten Mühle auf das Tischtuch über, statt daß die letztere umlief. Es fehlte nicht an allen möglichen Leckerbissen, nur ein paarmal an reinen Tellern. Mr. Kitterbell rief sich heiser danach, sie kamen dennoch nicht, und die Herren, denen sie fehlten, erklärten, es tue gar nichts, sie wollten ein jeder den Teller einer Dame nehmen. Mrs. Kitterbell belobte sie wegen ihrer Galanterie; der Obsthändler rannte umher, bis ihm seine acht Schillinge sehr sauer verdient vorkamen; die jungen Damen aßen nicht viel, aus Furcht, daß es unromantisch aussehen könnte, und die verheirateten Damen aßen soviel wie möglich, aus Furcht, nicht genug zu bekommen; es wurde viel Wein getrunken, und alle sprachen und lachten nicht wenig.

»Pst, pst!« sagte der kleine Kitterbell aufstehend und mit sehr wichtiger Miene. »Meine Liebe«, rief er seiner Gattin am anderen Ende des Tisches zu, »übernimm es, für Mrs. Marwell und deine Frau Mutter und die übrigen verheirateten Damen zu sorgen; ich bin überzeugt, die Herren werden die jungen Damen bewegen, ihre Gläser zu füllen.«

»Meine Damen und Herren«, begann der lange Dumps mit einer echten Grabstimme und Bußpredigtbetonung, indem er sich wie der Geist im Don Juan erhob, »wollen Sie die Güte haben, Ihre Gläser zu füllen? Ich wünsche sehr, eine Gesundheit auszubringen.«

Es folgte ein tiefes Stillschweigen, die Gläser wurden gefüllt, und man sah nur noch ernsthafte Gesichter.

»Meine Damen und Herren«, fuhr Dumps langsam fort, »ich –«

Hier ahmte Mr. Danton ein paar Takte Waldhornmusik nach, und zwar so durchdringend und natürlich, daß der nervenschwache Dumps wie elektrisiert war und die übrige Gesellschaft ausgelassen lachte.

»Zur Ordnung, zur Ordnung!« rief der kleine Kitterbell, indem er seine Lachlust zu bemeistern suchte.

»Zur Ordnung!« riefen die Herren.

»Danton, seien Sie ruhig«, herrschte ein engerer Bekannter den Frevler an, ohne sein Lachen ganz unterdrücken zu können.

Dumps faßte sich sehr bald wieder, zumal er nur wenig außer Fassung gekommen, denn er war ein ziemlich guter Redner, und hub noch einmal an. »Meine Damen und Herren, ich habe es mir erlaubt, aufzustehen, um Ihnen eine Gesundheit vorzuschlagen, da dergleichen meines Wissens Gebrauch bei Taufschmäusen ist und ich einer der Paten Master Frederick Charles William Kitterbells bin.« (Seine Stimme bebte bei diesen Worten, denn er erinnerte sich des Bechers.) »Ich brauche kaum zu sagen, daß mein Vorschlag dahin geht, auf das Wohlsein und Gedeihen des jungen Herrleins zu trinken, zu dessen Ehren wir hier versammelt sind. (Beifall.) Meine Damen und Herren, wir können unmöglich annehmen, daß seine Eltern, deren aufrichtige Freundinnen und Freunde wir alle sind, ihre Lebensbahn zurücklegen werden, ohne ihre Leidenskraft auf schwere Proben gestellt zu sehen, ohne manch großes Leid, viel herben Kummer, ohne Verluste zu erleiden!«

Hier hielt der arglistige, schalkhafte Dumps inne, zog langsam und bedächtig ein großes, weißes Tuch aus der Tasche, und mehrere Damen folgten seinem Beispiele.

»Daß sie lange damit verschont bleiben mögen, ist mein inbrünstiges Flehen, mein heißester Wunsch.« (Die Großmutter begann hier vernehmlich zu schluchzen.) »Ich hoffe und vertraue, meine Damen und Herren, daß das liebe Kind, dessen Tauffeier uns zusammengeführt hat, seinen liebenden Eltern nicht durch einen frühen Tod entrissen, daß seine jetzt scheinbar gute Gesundheit nicht durch ein langsames Siechtum zerstört werden möge.« (Dumps blickte sardonisch umher, denn er sah, daß er beträchtlichen Eindruck bei den verheirateten Damen hervorgebracht hatte.) »Ich weiß, daß Sie meinen Wunsch teilen, daß es leben möge zur Freude und zum Trost seines Vaters und seiner Mutter.« (Hier rief Mr. Kitterbell: »hört, hört!« und schluchzte gerührt.) »Doch sollte der Knabe nicht so werden, wie wir es von ihm wünschen – sollte er dereinst vergessen, was er seinen zärtlichen Eltern schuldig ist und verdankt – sollten sie so unglücklich sein, an ihm zu erfahren, wie traurig wahr es ist, daß ›ein undankbarer Sohn schlimmer ist als der Zahn einer giftigen Schlange‹–«

Hier stürzte Mrs. Kitterbell mit dem Tuche vor den Augen und von mehreren Damen begleitet hinaus und sank im Vorzimmer in heftigen Krämpfen zu Boden; ihr Gatte war fast in demselben Zustande, und Dumps hatte sich großen Beifall erworben, denn wie es auch sei, man läßt sich gern rühren.

Kaum braucht indes hinzugefügt zu werden, daß Onkel Dumps‘ Rede den Freuden des Abends ein Ende machte. Weinessig, Hirschhorn und kaltes Wasser waren urplötzlich so sehr an der Tagesordnung, wie es kurz zuvor Glühwein und Backwerk gewesen waren. Man brachte Mrs. Kitterbell in ihr Schlafgemach, die Spielleute wurden verabschiedet, aller Scherz wie alles Lachen und Schäkern hörten auf, und die Gesellschaft entfernte sich in aller Stille. Dumps entfernte sich zuerst und ging leichten Schrittes und mit einem (für ihn) fröhlichen – Herzen nach Hause. Seine Hauswirtin will ihn auf eine eigentümliche Weise lachen gehört haben, sobald er seine Tür hinter sich verschlossen hatte; eine Behauptung, die jedoch zu unwahrscheinlich ist, als daß man ihr Glauben schenken könnte.

Kitterbells Familie hat sich seit der Zeit sehr vermehrt; er erfreut sich jetzt zweier Knaben und eines Mädchens und sieht sich, da er seine Kinderzahl binnen kurzem abermals vergrößert zu sehen erwartet, nach einem passenden Taufpaten um. Er ist jedoch entschlossen, ihm zwei Bedingungen zu stellen. Der Taufpate soll sich erstlich feierlich verpflichten, durchaus keine Rede beim Nachtisch zu halten, und zweitens auf keinerlei Weise mit »dem unglücklichsten Manne von der Welt« in Verbindung stehen zu dürfen.

Ende

Die vier Schwestern


Die vier Schwestern

In der Reihe, in der die Häuser der alten Dame und ihres unruhigen Nachbars stehen, wohnt eine größere Anzahl von Originalen als im ganzen übrigen Kirchspiel. Wir wählen davon noch einige zur Betrachtung aus.

Die vier Miss Willis siedelten sich vor dreizehn Jahren bei uns an. Es ist höchst betrüblich, daß das alte Sprichwort: »Zeit und Ebbe und Flut warten auf niemand« gleiche Anwendung auf den schöneren Teil der Schöpfung findet, und gern würden wir es verschweigen, daß die vier Miss Willis sogar vor dreizehn Jahren keineswegs jung genannt werden konnten. Allein, unsere Pflicht als getreuer Kirchspielchronist überwiegt jede andere Rücksicht, und wir können nicht umhin, zu sagen, daß die Autoritäten in Heiratsangelegenheiten vor dreizehn Jahren meinten, daß sich die jüngste Miss Willis in einer sehr prekären Lebensperiode befände, während sie die älteste Schwester als über alle menschliche Hoffnung hinaus gänzlich aufgaben. – Die vier Miss Willis mieteten ein Haus. Es wurde von oben bis unten neu bemalt und tapeziert und überall verziert. Die bei der neuen Ausstattung beschäftigten Handwerker teilten den Dienstmägden in der Reihe vertraulich mit, wie prachtvoll die Miss Willis alles und jedes einrichten ließen; die Dienstmägde teilten alles ihren »Missises« mit, die es ihren Freundinnen wieder erzählten, und im ganzen Kirchspiel ging das unbestimmte Gerücht, daß vier unverheiratete, unermeßlich reiche Damen Nummer 25 auf dem Gardonplatz gemietet hätten.

Endlich zogen die vier Miss Willis ein, und das Besuchmachen nahm seinen Anfang. Das Haus war ein wahres Muster von Sauberkeit und Nettigkeit; die vier Miss Willis waren es gleichfalls. Alles war förmlich, steif und kalt; und förmlich, steif und kalt waren auch die vier Miss Willis. Zu jeder Zeit stand jeder Stuhl an seinem bestimmten Platz; und zu jeder Zeit saß jede Miss Willis auf dem ihrigen. Auch taten alle vier jederzeit pünktlich dasselbe, zu ein und derselben Stunde. Die älteste Miss Willis strickte fast immer, die zweite zeichnete, die beiden jüngsten spielten vierhändige Sonaten auf dem Piano. Sie schienen kein individuelles Dasein zu haben, sondern entschlossen zu sein, vereint das Leben zu überwintern. Sie waren drei hochgewachsene Grazien nebst einer vierten, die drei Schicksalsschwestern mit einer vierten Schwester, die siamesischen Zwillinge mit zwei multipliziert. Die älteste Miss Willis wurde gallenkrank – augenblicklich wurden es auch die andern drei. Die älteste Miss Willis wurde übellaunig und andächtig – sogleich waren auch die drei jüngeren Miss Willis andächtig und übellaunig. Was die älteste tat, taten ihr die jüngeren nach, und was irgend sonst jemand tat, wurde von allen getadelt. So vegetierten sie, in vollkommener Harmonie untereinander lebend und bisweilen, wenn sie in Gesellschaft gingen oder einige Gesellschaft bei sich sahen, die Nachbarn durchhechelnd.

So waren drei Jahre vergangen, als man ein unerwartetes und außerordentliches Phänomen beobachtete. Die Miss Willis zeigten Sommersymptome; das Eis ging allmählich auf, vollkommenes Tauwetter trat ein. War es möglich? – Eine der vier Miss Willis war im Begriff, sich zu verheiraten.

Woher in aller Welt der Zukünftige gekommen war, welche Gefühle und Beweggründe er gehabt haben konnte, oder durch welche Vernunftschlüsse oder Erwägungen die vier Miss Willis sich überzeugt hatten, daß es einem Manne möglich sei, eine von ihnen zu ehelichen, ohne sie alle vier zu heiraten? – Dies sind Fragen, die wir zu beantworten außerstande sind; gewiß aber ist es, daß die Besuche Mr. Robinsons (eines Gentlemans, der eine Anstellung im Staatsdienst mit einem guten Gehalt hatte und außerdem einiges Vermögen besaß) angenommen wurden – daß der besagte Mr. Robinson den vier Miss Willis in gehöriger Form den Hof machte – daß die Nachbarn rasend vor Begierde waren, zu erforschen, welche der vier Miss Willis die Beglückte sei, und daß die Schwierigkeit der Lösung dieses Problems nicht im mindesten dadurch verringert wurde, daß die älteste Miss Willis erklärte: » Wir werden Mr. Robinson heiraten.«

Nichts konnte auffallender und wunderbarer sein. Sie waren so gänzlich eins, daß die Neugierde der ganzen Reihe, und sogar der alten Dame selbst, bis zur Unerträglichkeit stieg. Die Sache wurde in jeder Teegesellschaft und an jedem Spieltisch erörtert. Der alte Herr, die Seidenwurmberühmtheit, sprach entschieden seine Meinung aus, daß Mr. Robinson von orientalischer Herkunft sei und sämtliche Schwestern zu heiraten gedenke, und die ganze Reihe schüttelte ernsthaft und bedenklich die Köpfe und erklärte, daß die Sache äußerst geheimnisvoll sei. Sie hoffte, daß alles einen guten Ausgang nehmen möge, und sagte, wie absonderlich auch der Anschein sei, es sei lieblos, eine Meinung auszusprechen, ehe man hinreichende Gründe dafür hätte; auch seien die Miss Willis vollkommen alt genug, um selbst beraten zu können; jedermann müsse selbst am besten wissen, was er zu tun habe, und was dergleichen mehr war.

Endlich fuhren eines schönen Morgens eine Viertelstunde vor acht Uhr zwei Glaskutschen bei den Miss Willis vor, in deren Wohnung Mr. Robinson zehn Minuten früher in einem Cab (einspännige Droschke) angelangt war. Er trug einen hellblauen Rock und Kerseypantalons, ein weißes Halstuch, Tanzschuhe und Glacéhandschuhe und war äußerst erregt, was man von dem Hausmädchen von Nummer 23 wußte, das bei seiner Ankunft gerade die Treppenstufen gefegt hatte. Aus derselben Quelle floß das rasch umlaufende Gerücht, daß die Köchin, die ihm die Haustür geöffnet hatte, eine ungewöhnlich große und prachtvolle weiße Schleife trage und überhaupt weit geputzter sei, als es die vier Miss Willis ihrer Dienerschaft sonst zu gestatten pflegten. Die Kunde verbreitete sich rasch aus einem Hause in das andere. Es unterlag keinem Zweifel, daß der große Tag endlich gekommen war; die ganze Reihe stellte sich im ersten und zweiten Stockwerk hinter die Jalousien oder Rouleaus an die Fenster und wartete in atemloser Spannung auf die Auflösung des Rätsels.

Endlich tat sich die Haustür auf, und zugleich wurde der Schlag der vordersten Glaskutsche geöffnet. Zwei Herren und zwei Damen – ohne Zweifel Anverwandte – stiegen ein, die erste Kutsche fuhr ab und die zweite vor.

Abermals tat sich die Haustür auf; die Spannung erreichte ihren höchsten Gipfel. Mr. Robinson und die älteste Miss Willis traten aus dem Hause. »Ich dachte es wohl«, sagte die Dame in Nummer 19; »ich hab‘ es ja immer gesagt.« – »Hat man jemals so etwas erlebt!« rief die junge Dame in Nummer 18 der jungen Dame in Nummer 17 zu, die durch einen ähnlichen Ausruf antwortete. »Es ist zu lächerlich!« rief eine Jungfer von ungewissem Alter in Nummer 16 dazwischen. Doch wer beschreibt das Erstaunen der Reihe, als Mr. Robinson sämtlichen Miss Willis, einer nach der andern, in die Kutsche half und sich darauf selbst in einen Winkel hineindrückte, worauf die zweite Glaskutsche rasch der ersten nacheilte, und zwar der Pfarrkirche zu. Wer beschreibt die Verlegenheit und den Schrecken des Geistlichen, als sämtliche Miss Willis am Altar niederknieten und mit hörbaren Stimmen die bei der Hochzeitsliturgie üblichen Antworten aussprachen – oder wer schildert die Verwirrung, als sämtliche vier Miss Willis am Schluß der heiligen Handlung Krämpfe bekamen, und die Kirche von ihrem vereinten Weinen und Wehklagen widerhallte.

Da die vier Schwestern und Mr. Robinson nach diesem denkwürdigen Tag dasselbe Haus bewohnten und da sich die verheiratete Schwester, welche von ihnen es auch sein mochte, niemals ohne die anderen drei außerhalb des Hauses sehen ließ, ist es zweifelhaft genug, ob die Nachbarschaft jemals erfahren haben würde, welche von den Miss Willis Mrs. Robinson sei, wenn nicht ein sehr befriedigender, aber besonderer Umstand der Art eingetreten wäre, wie sie auch in den bestgeregelten Familien vorzukommen pflegen. Drei Quartaltage waren verflossen, und der Reihe ging plötzlich das erwünschte Licht über die wahre Mrs. Robinson, die jüngste Miss Willis, auf. Man sah jeden Morgen zwischen neun und zehn Uhr die Mägde der Reihe in die Wohnung der Misses eilen. Sie brachten die Empfehlung der Herrschaft, die sich erkundigen ließe, wie sich Mrs. Robinson heute befände? Die Antwort lautete stets: »Mrs. Robinson läßt sich gleichfalls empfehlen, befindet sich sehr wohl und durchaus nicht schlimmer als gestern.«

Man hörte das Piano nicht mehr – das Strickzeug war beiseite gelegt – das Zeichnen aufgegeben – und Kleider- und Mützenmachen nach dem denkbar kleinsten Maßstab schien die Lieblingsbeschäftigung der ganzen Familie geworden zu sein. Im Wohnzimmer herrschte nicht mehr die ehemalige unabänderliche strenge Ordnung; der Arzt an der Ecke der Reihe, der eine große Lampe in seinem Fenster mit buntfarbigen Glasscheiben stehen hat, wurde öfters als gewöhnlich nachts herausgeklopft, und einst wurden wir um halb drei Uhr morgens nicht wenig durch eine Kutsche beunruhigt, aus der eine wohlbeleibte alte Frau in Mantel und Nachtmütze herausstieg: eine Frau, die ganz aussah, als wenn sie sehr plötzlich zu einem ganz besonderen Zweck im Schlaf gestört worden sei. Als wir aufstanden, sahen wir, daß der Türklopfer der Miss Willis mit Tuch umwickelt war, und dachten in unserer Unschuld – denn wir sind unverheiratet – »was in aller Welt mag das alles bedeuten?«, bis wir endlich die älteste Miss Willis in eigener Person mit großer Würde auf die nächste Erkundigung antworten hörten: »Meine Empfehlung, und Mrs. Robinson befindet sich so wohl, als sich erwarten laßt, und das kleine Mädchen gedeiht vortrefflich.«

Jetzt war unsere und der ganzen Reihe Neugier befriedigt, und wir wunderten uns, daß es uns bis dahin gar nicht eingefallen war, »was das alles bedeutet hatte«.

Szenen


Szenen

Die Straßen am Morgen

Das Aussehen der Londoner Straßen vor Sonnenaufgang an einem Sommermorgen fällt sogar den wenigen in hohem Maße auf, die, weil sie bei ihren Vergnügungen oder ihren Geschäftsunternehmungen unglücklich waren, sehr wohl damit bekannt sind. Es macht einen ganz besonderen Eindruck, die geräuschlosen Straßen, von denen wir gewohnt sind, daß sie zu anderen Zeiten von einer geschäftigen, wogenden Menschenmenge erfüllt sind, so nüchtern, einsam und verödet und die Häuser so still und dicht verschlossen zu sehen, die bei Tag einen äußerst belebten Anblick darbieten.

Der letzte Zechbruder, der noch im Dunkel seinen Weg nach Hause fand, ist soeben mit schweren Gliedern, von Zeit zu Zeit den Refrain eines Trinkliedes der durchschwärmten Nacht grölend, entlanggetaumelt; der letzte obdachlose Herumstreicher, den Armut und die Polizei in den Straßen gelassen, hat sich erstarrt in einen gepflasterten Winkel gedrückt, um von Speise und Trank und einem wärmenden Kamin oder Bett zu träumen. Die Trunkenbolde, Wüstlinge und Heimatlosen sind verschwunden, die nüchternen und ordentlichen Leute zu ihren Tagesgeschäften noch nicht erwacht, und in den Straßen herrscht die Stille des Todes, der ihnen sogar seine Farbe mitgeteilt zu haben scheint: so kalt und leblos sehen sie in der bleichen grauen Morgendämmerung aus. Die Kutschenstände in den größeren Straßen sind verlassen, die »Nachthäuser« geschlossen, die Tummelplätze der Ausschweifung und des Elends leer. Hier und da sieht man einen Polizeidiener an einer Straßenecke stehen und gedankenlos die verödete Straße hinunterschauen; und dann und wann schleicht ein loses Kätzchen quer hinüber und verliert sich in dem Hofraum seines Herrn, springt zuerst auf die Wassertonne, dann auf das Kehrichtloch und endlich auf die Steinplatten so vorsichtig und listig hinunter, als ob es meinte, sein guter Ruf hinge davon ab, daß seine Galanterie der entschwundenen Nacht unbemerkt bliebe. Hier und da steht ein Schlafzimmerfenster halb offen und deutet auf die Schwüle der Luft und den unruhigen Schlummer so manchen Schläfers hin – und der matte Schimmer eines Nachtlichts hinter den Fenstervorhängen bezeichnet ein Krankenzimmer. Von diesen wenigen Ausnahmen abgesehen, bieten die Straßen kein Zeichen des Lebens, die Häuser keine Spur, daß sie bewohnt sind.

Eine Stunde schleicht hin. Die Kirchtürme und die Dächer der vornehmsten Gebäude werden vom Licht der aufgehenden Sonne schwach gefärbt, und die Straßen beginnen sich fast unmerklich wieder zu beleben. Marktkarren rumpeln langsam daher; der schläfrige Fuhrmann treibt ungeduldig seine müden Pferde an oder bemüht sich vergeblich, den Knaben aufzuwecken, der, auf dem üppigen Lager der Gemüsekörbe ausgestreckt, süß träumend seine lange gehegte Neugier vergißt, die Wunder Londons zu schauen.

Plumpe, schlaftrunkene Geschöpfe von seltsamem Aussehen, die etwa die Mitte halten zwischen Hausknechten und Mietkutschern, fangen an, die Fenstervorsetzer frühöffnender Gasthäuser herunterzunehmen; und kleine hölzerne Tische mit den üblichen Vorkehrungen zu einem Straßenfrühstück erscheinen an den gewohnten Plätzen. Kleine Trupps von Männern und besonders Frauen mit schweren Gemüsekörben auf den Köpfen kommen mühseligen Schritts von Piccadilly herunter auf ihrem Weg nach Covent-Garden und bilden, einer dem anderen folgend, eine lange unregelmäßige Linie von dort bis nach der Knightsbrücke, wo die Straße eine Wendung macht. Hier und da sieht man einen Maurergesellen mit seinem in ein Taschentuch gebundenen Frühstück rasch »in die Arbeit« gehen, und von Zeit zu Zeit eilen Häufchen von drei bis vier, zu einer heimlichen Badepartie ausziehenden Schulknaben vorüber, deren lärmende Fröhlichkeit auffallend absticht von der trübseligen Resignation des kleinen Schornsteinfegerjungen, der sich geduldig auf dem Türtritt niederläßt, um zu warten, bis das Hausmädchen endlich von selbst erwacht, nachdem er geklopft und geklingelt, bis ihn der Arm schmerzte, da eine liebreiche Gesetzgebung ihm untersagt, seine Lunge durch das sonst übliche Rufen zu gefährden.

Der Covent-Garden-Markt und die zu ihm führenden Straßen sind gedrängt voll von Marktfuhrwerken jeder Art und Größe, von dem schwerfälligen Frachtwagen mit seinen vier kräftigen Pferden an bis zum klappernden Obsträderkarren mit seinem schwindsüchtigen Esel. Das Pflaster ist bereits bestreut mit welken Kohlblättern, zerrissenen Heuseilen und mit dem ganzen namenlosen Abfall eines Gemüsemarktes; und das Geräusch, das man vernimmt, ist fast ebenso verschiedenartig – Männer schreien, Karren werden rückwärts geschoben, Pferde wiehern, Knaben balgen sich, Marktweiber schwatzen, hier werden Pasteten angepriesen, dort iahen Esel; und diese und hundert andere Laute bilden ein Getöse, das selbst für Londoner Ohren disharmonisch genug und für die Ohren der Gentlemen vom Lande, die zum ersten Male in den Badeanstalten schlafen, höchst widrig und lästig ist.

Es vergeht abermals eine Stunde, und der Tag nimmt endgültig seinen Anfang. Die Dienstmagd, die unter dem Vorwand, sehr fest zu schlafen, »Missis« Klingeln eine halbe Stunde gänzlich unbeachtet gelassen hat, vernimmt von »Master« (den Missis zu diesem Zweck in seinem Nachtgewand auf den Treppenabsatz geschickt hat), daß es halb sieben sei, worauf sie mit gut erheucheltem Erschrecken plötzlich erwacht, sehr verdrossen hinuntergeht, Licht anzündet und dabei wünscht, daß sich das Prinzip des Selbstentzündens auf die Kohlen und Küchenroste erstrecken möchte. Sobald sie Feuer hat, öffnet sie die Haustür, um die Milch »hereinzunehmen«, und macht durch das wunderbarste Zusammentreffen von der Welt die Entdeckung, daß das Hausmädchen von nebenan soeben gleichfalls die Milch hereingenommen und daß Mr. Todds Geselle gegenüber durch einen nicht minder außerordentlichen Zufall gerade in derselben Minute die Fensterläden seines Herrn öffnet. Die unvermeidliche Folge ist, daß sie mit dem Milchkrug in der Hand zu Betsy Clark tritt, um ihr einen guten Morgen zu wünschen, und daß Mr. Todds Geselle herüberkommt, um beiden Mädchen guten Morgen zu sagen; und da Mr. Todds besagter Geselle fast ebenso gut und bezaubernd aussieht wie der Bäcker selbst, wird die Unterhaltung sofort höchst lebhaft und würde wahrscheinlich noch interessanter werden, wenn nicht Betsy Clarks Missis, die ihr fortwährend nachgeht und nachspäht, zornig an ihr Schlafzimmerfenster klopfte, worauf Mr. Todds Geselle mit erheuchelter Gleichgültigkeit pfeifend, weit schneller zurückkehrt, als er herübergekommen, und die beiden Mädchen wieder in ihre Häuser laufen und die Haustüren mit ausnehmender Behutsamkeit schließen, aber nach einer Minute die Köpfe aus dem Wohnzimmerfenster stecken, um zum Schein nach der vorüberfahrenden Postkutsche zu sehen, in Wahrheit aber, um noch einmal nach Mr. Todds Gesellen hinüberzublicken, der, ein Liebhaber von Postkutschen, noch mehr von Dienstmädchen, zur großen Zufriedenheit aller betreffenden Personen der Kutsche einen kurzen und den Mädchen einen langen Blick zuwirft.

Die Postkutsche selbst fährt weiter nach dem Posthaus, und die Reisenden, die mit der Morgenkutsche abfahren, starren erstaunt die Reisenden an, die mit der Frühpost anlangen, übernächtig und verdrießlich aussehen und offenbar von dem seltsamen, durch das Reisen entstehenden Gefühl erfüllt sind, bei dem uns die Ereignisse von gestern, morgen vorkommen, als wenn sie sich schon vor wenigstens sechs Monaten zugetragen hätten, und das uns den sehr ernsthaften Gedanken aufdrängt, ob sich die Freunde und Anverwandten, von denen wir vor vierzehn Tagen Abschied nahmen, seit der Zeit wohl beträchtlich verändert haben. Auf dem Posthof lebt und webt alles, und die Kutschen, die soeben abgehen sollen, sind von dem gewöhnlichen Haufen von Juden und unbekannten Personen umgeben, die es, der Himmel mag wissen, warum, für rein unmöglich zu halten scheinen, daß jemand in eine Postkutsche einsteigen kann, ohne wenigstens für sechs Pence Apfelsinen, ein Federmesser, ein Notizbuch, einen Kalender vom vergangenen Jahr, einen Bleistiftbehälter, einen Schwamm und einige Karikaturen zu brauchen.

Noch eine halbe Stunde, und die Sonne wirft ihr glänzendes Licht freundlich herunter in die noch immer halbleeren Straßen, und ihre Strahlen haben Kraft genug, um die Trägheit des Lehrlings zu wecken, der eine Minute um die andere sein Amt, den Laden auszukehren und das Trottoir abzuwaschen, unterbricht, um einem andern auf gleiche Weise beschäftigten Lehrling zu sagen, wie heiß es werden wird, oder sich hinzustellen, mit der rechten Hand die Augen zu beschatten, die Linke auf den Besen zu stützen und dem Wunder, dem Walloh, Nimrod oder einem anderen schnellen Wagen nachzusehen, bis er ihm aus dem Blickfeld entschwunden ist, worauf er wieder hineingeht, die Außenpassagiere des Wagens beneidet und an das alte Backsteinhaus »weit unten im Lande« denkt, wo er zur Schule ging, und an das Elend dünner Milch mit Wasser und dicker Brotscheiben mit dünner Butter, das verschwindet vor der süßen Erinnerung an den grünen Anger, auf dem er als Knabe spielte, und den grünen Teich und die Prügel, die er bekam, weil er sich einfallen ließ, da hineinzuplumpsen.

Cabs mit Koffern und Schachteln zwischen den Beinen des beschürzten Kutschers eilen die Straßen hinauf und hinunter nach den Posthäusern oder Dampfbootwerften; die Mietkutscher, die sich auf dem Standplatz befinden, putzen die an ihren Verzierungen schmutzigen Fuhrwerken, wobei sich die Fahrer der Cabs wundern, wie die Leute die »Wilde-Tier-Wagen von Omnibussen ’nem guten Cab mit ’nem Schnelltraber« vorziehen mögen, und die Kutscher nicht begreifen können, wie es nur zugeht, daß noch Leute ihre gesunden Glieder »den gebrechlichen Cabs anvertrauen, indem sie ’ne repetierliche Kutsche mit ’nem Paar Pferde haben können, die mit niemand nicht davonlaufen«: – ein ohne Frage vollkommen begründeter Trost, da man nie von einem Kutschenpferd gehört, das davongelaufen wäre, »ein einziges ausgenommen«, wie der Fahrer, eines Cabs bemerkte, »und das lief rückwärts«.

Die Läden sind jetzt vollkommen geöffnet und die Lehrlinge und Ladendiener emsig beschäftigt, die Fenster für den Tag zu reinigen und auszustaffieren. Die Bäckerläden in der Stadt sind gefüllt mit Dienstleuten und Kindern, die auf das Herausziehen des ersten Gebäcks aus dem Ofen warten – was in den Vorstädten bereits vor einer vollen Stunde stattfand; denn die Schreiberbevölkerung von Somers- und Camden-Town, Islington und Pentonville strömt schon in die City herein oder richtet die Schritte nach Chancery-Lane und den Inns of Court. Leute in den mittleren Jahren, deren Saläre nicht in demselben Verhältnis wie ihre Familien zugenommen haben, eilen vorüber, ohne rechts oder links zu sehen, denken offenbar nur an das Kontor, kennen fast alle Personen, denen sie begegnen oder die sie einholen, vom Aussehen, denn sie haben sie alle Morgen (sonntags ausgenommen) seit zwanzig Jahren gesehen, sprechen aber mit niemandem. Holen sie zufällig einen persönlichen Bekannten ein, so wechseln sie eine eilige Begrüßung mit ihm und gehen an seiner Seite oder vor ihm her weiter, je nachdem, ob er rascher oder langsamer geht. Stillzustehen, zum Händeschütteln oder um des Freundes Arm zu nehmen, dünkt ihnen wie es scheint, in ihrer Salär nicht eingeschlossen und unerlaubt. Kleine Schreiber mit großen Hüten, zu Männern gemacht, noch ehe sie jemals Knaben gewesen waren, eilen paarweise in ihren besten, sorgfältig gebürsteten Röcken und den weißen, reichlich mit Staub und Tinte beschmutzten Beinkleidern vom vorigen Sonntag dahin. Es kostet sie offenbar beträchtliche innere Kämpfe, es sich zu versagen, für einen Teil von dem zum Mittagessen bestimmten Kapital ein paar von den gestrigen, an den Türen des Konditors in staubigen Zinnbüchsen so lockend ausgestellten Törtchen zu erstehen; doch sie erinnern sich ihrer Würde und Wichtigkeit bei einer Einnahme von sieben Schillingen wöchentlich mit der Aussicht einer baldigen Erhöhung auf acht, geben das Beispiel der Selbstbeherrschung, drücken die Hüte ein wenig mehr auf die Seite und sehen allen jungen Putzmacherinnen und Näherinnen, denen sie begegnen, unter die ihrigen. Arme Mädchen! Sie bilden die Klasse, die sich am sauersten mühen muß, am schlechtesten bezahlt und nur zu oft am schlechtesten behandelt wird.

Elf Uhr: und Scharen ganz anderer Leute füllen die Straßen. Die Verkaufsgegenstände hinter den Ladenfenstern sind verlockend angeordnet; die »jungen Leute« mit ihren weißen Halstüchern und in ihren sauberen Röcken sehen aus, als wenn sie kein Fenster putzen könnten, und wenn es um ihr Leben ginge; die Karren sind von Covent- Garden verschwunden; die Fuhrleute und Obsthändler sind in ihre vorstädtischen Bezirke zurückgekehrt; die Schreiber befinden sich in ihren Büros, und Gigs (leichte zweirädrige Wagen), Cabs, Omnibusse und Reitpferde führen ihre Prinzipale derselben Bestimmung zu. Überall in den Straßen ist Gedränge Geputzter und Schäbiger, Reicher und Armer, Fauler und Fleißiger, und die Hitze, das Getümmel und die betriebsame, rührige Tätigkeit des Mittags haben begonnen.

Doch will man die Straßen Londons in ihrem höchsten Glänze erblicken, so muß man sie an einem finstern und trüben Winterabend sehen, wenn sich gerade genug Feuchtigkeit niedersenkt, daß das Pflaster schlüpfrig, aber nicht im mindesten sauberer wird, und wenn der schwere, träge Nebel, der alles umflort, bewirkt, daß die Gaslichter heller strahlen und die glänzend erleuchteten Läden infolge des Kontrastes mit der Dunkelheit umher sich noch prachtvoller als gewöhnlich anschauen lassen. Wer an einem solchen Abend daheim ist, sucht es sich so gemütlich und bequem wie möglich zu machen, und die Leute in den Straßen haben guten Grund, die Glücklichen zu beneiden, die an ihren wärmenden Kaminen sitzen.

In den größeren Straßen besserer Wohnviertel sind die Fenstervorhänge der Wohnzimmer dicht zugezogen, lodern helle Küchenfeuer und schmeicheln Düfte von heißen Gerichten den Geruchsnerven des hungrigen, an den Hausgittern sich mühsam vorüberarbeitenden Wanderers. In den Vorstädten klingelt der Semmelbursche in der kleinen Straße weit langsamer hinunter, als er es gewohnt ist, denn kaum hat Mrs. Macklin in Nr. 4 ihre kleine Haustür geöffnet und aus allen Kräften »Semmeln« gerufen, als auch schon Mrs. Walker in Nr. 5 ihre Fenster geöffnet und denselben Ruf ertönen läßt; und er ist ihren Lippen noch nicht entflohen, als Mrs. Peplow gegenüber Master Peplow losläßt, der mit einer Schnelligkeit, zu der ihn nur die Aussicht auf Semmeln mit Butter antreiben kann, auf die Straße hinunterschießt und den Burschen gewaltsam zurückschleppt, worauf Mrs. Macklin und Mrs. Walker, um dem letzteren einige Schritte zu ersparen und zugleich ein paar freundnachbarliche Worte mit Mrs. Peplow zu wechseln, hinüberlaufen und ihre Semmeln vor Mrs. Peplows Haustür kaufen, wo denn aus Mrs. Walkers freiwilligem Bericht hervorgeht, daß ihr Kessel eben am Sieden sei und das Teegeschirr bereitstehe und daß sie, da es draußen ein so erbärmlicher Abend, beschlossen habe, ein behagliches heißes Schälchen Tee zu trinken – ein Beschluß, der infolge eines merkwürdigen Zusammentreffens von den anderen beiden Damen gleichzeitig gefaßt worden ist. Nach einer Unterhaltung über die Abscheulichkeit des Wetters und die Vorzüge des Tees, nebst einer Abschweifung über die Bosheit der Knaben als Regel und die Liebenswürdigkeit Mr. Peplows als Ausnahme, sieht Mrs. Walker ihren Mann die Straße herunterkommen. Und da der Arme nach seiner großer Wanderung von den Schiffsdocks her seinen Tee sehr notwendig haben muß, läuft sie augenblicklich mit ihren Semmeln in der Hand hinüber. Mrs. Macklin folgt ihrem Beispiel, und alle eilen in ihre kleinen Häuser zurück und schlagen die kleinen Haustüren zu, die an diesem Abend nicht wieder geöffnet werden, ausgenommen um neun Uhr für den »Biermann«, der mit einer Laterne vor seiner Trage anlangt, und während er Mrs. Walker das Anzeigenblatt vom vorigen Tag leiht, erklärt, daß er verdammt sein wolle, wenn er die Kanne ordentlich halten oder gar das Papier fühlen könne, denn es sei einer der kältesten Abende, die er erlebt habe, den ausgenommen, an dem der Mann auf dem Backsteinfeld erfroren sei.

Nach einem Geplauder mit dem Polizeidiener an der Straßenecke über eine wahrscheinliche Wetterveränderung kehrt der Neunuhrbiermann nach dem Hause seines Herrn zurück und beschäftigt sich für den Rest des Abends damit, daß er eifrig das Schenkstübchenfeuer schürt und bescheiden an der Unterhaltung der davor versammelten Gäste teilnimmt.

Die Straßen in der Nähe des Marshgate und Viktoriatheaters haben an einem solchen Abend ein unendlich schmutziges und trostloses Aussehen, mit dem die hier sich Umhertreibenden vollkommen harmonieren. Sogar der kleine Blockzinntempel, in dem gebackene Kartoffeln verkauft werden, mit seinem strahlenden Emblem von farbigen Lampen darüber, sieht weniger prachtvoll als gewöhnlich aus, und was den Nierenpastetenstand betrifft, so ist fast all sein Glanz entschwunden. Das Licht hinter dem Ölpapiertransparent ist wohl fünfzigmal ausgeblasen worden, und der Nierenpastetenverkäufer, der es müde geworden ist, von seinem Standplatz nach dem nächsten Weinkeller hin und her zu laufen, um sich Licht zu holen, hat die Illumination in Verzweiflung aufgegeben, und die einzigen Zeichen seines Standorts sind die hellen Funken, von denen, sooft er seinen tragbaren Ofen öffnet, um einem Kunden eine heiße Pastete zu reichen, ein langer unregelmäßiger Schweif die Straße hinuntergewirbelt wird. Schollen-, Austern- und Obsthändler stehen hoffnungslos in den Straßenrinnen und bemühen sich vergeblich, Kunden anzulocken; und die zerlumpten Knaben, die sich sonst so munter umhertreiben, kauern in kleinen Häufchen unter einem vorgebauten Torweg oder dem Leinenrouleau des Käsehändlers, wo große, flackernde, durch kein Glas geschützte Gaslichter mächtige Haufen von hochroten und blaßgelben Käsen beleuchten, vermischt mit kleinen Fünfpenny-Scheiben grauen Specks und mit Tonnen frischer, nicht eben frisch aussehender Butter.

Die Knaben vertreiben sich hier die Zeit durch eine Unterhaltung über das Schauspiel, das sie bei ihrem letzten Besuch der Viktoria- Galerie zu halbem Preis gesehen haben, bewundern den »furchtbaren Kampf«, der jeden Abend wiederholt werden muß und verbreiten sich über die unnachahmliche Kunst, womit Bill Thompson den Doppelaffen spielt oder den Matrosen-Hornpipe mit seinen mysteriösen Verwicklungen ausführt.

Es ist fast elf Uhr, und der kalte Sprühregen geht in ein ernstliches und ordentliches Gießen über. Der Mann mit den gebackenen Kartoffeln hat sich entfernt – der Nierenpastetenmann ist mit seinem Warenhaus auf dem Arm gleichfalls nach Hause gegangen – der Käsehändler hat sein Rouleau eingezogen – die Knaben haben sich zerstreut. Das fortwährende Klappern von Überschuhen auf dem schlammigen und unebenen Pflaster und das Rauschen von Regenschirmen, während der Wind an den Fensterläden rüttelt, sind lauter Zeugnisse der Unfreundlichkeit des Abends; und der Polizeidiener in seinem dichtzugeknöpften Wachstuchkragen, der den Hut auf dem Kopf festhält und sich umdreht, um sich einigermaßen gegen den an der Straßenecke wider ihn anbrausenden Wind zu schützen, scheint weit entfernt zu sein, sich wegen seiner Aussichten für die Nacht Glück zu wünschen.

Der kleine Kramladen mit der geborstenen Glocke hinter der Tür, deren melancholisches Klingeln so oft ertönte, als ein viertel Pfund Zucker oder ein paar Lot Kaifee begehrt wurden, wird verschlossen. Das Gedränge, das den ganzen Tag auf und nieder wogte, verliert sich rasch, und das Geräusch laut redender und zankender Stimmen, das aus den Gasthäusern hervordringt, unterbricht fast allein noch die einförmige Stille der beginnenden Nacht.

Es waren noch andere Geräusche zu hören gewesen, aber sie sind jetzt verstummt. Dort die unglückliche Frau mit dem Kind auf dem Arm, dessen abgezehrte Glieder sie in die Überbleibsel ihres eigenen dünnen Schals eingehüllt hat, sang ein beliebtes Lied in der Hoffnung, einem mitleidigen Vorübergehenden einige Pence abzuringen. Ein brutales Gelächter über ihre schwache Stimme ist der ganze Gewinn ihrer Mühe. Die Tränen rinnen dicht und rasch über ihre hohlen, bleichen Wangen hinunter, das Kind ist durchkältet und hungrig, und sein leises, halb ersticktes Wimmern verschärft das Leiden seiner gequälten Mutter, die laut ächzend und verzweiflungsvoll auf eine kalte, feuchte Türschwelle niedersinkt.

Singen! Wie wenige von denen, die an einer so mit Jammer Beladenen vorübergehen, denken an die Herzensangst und Pein, die bittere Seelenqual, die allein schon durch die Anstrengung des Singens erzeugt wird. Welch ein grausamer Spott und Hohn, wenn Krankheit, Verlassenheit und Hunger die Worte des munteren Liedes kaum vernehmlich vorbringen, das in deinen fröhlichen Stunden, Gott weiß wie oft, deine Freude noch erhöht hat! Es ist kein Gegenstand zum Lachen. Die schwache, bebende Stimme erzählt eine schaurige Geschichte von Entbehrung und Verkümmerung, und die unglückliche Sängerin des Jubelliedes schweigt vielleicht, nur um zu erfrieren oder Hungers zu sterben.

Ein Uhr! Schauspielbesucher zu Fuß waten durch den Schlamm der Straßen nach Hause, Cabs, Mietkutschen, Equipagen und Theateromnibusse rollen rasch vorüber, Kutschenstandwärter mit schmutzigen, mattbrennenden Laternen in den Händen und großen Messingschildern auf der Brust gehen, nachdem sie sich in den letzten beiden Stunden heiser gerufen und müde gelaufen, in ihre Gasthäuser, um sich bei ihrem beliebten Leibestrost – Pfeifen und Wertmutbier – zu erholen; die Halbpreis-Parterre- und Logenbesucher eilen haufenweise in die Restaurationen, und Koteletts, Nieren, Austern, Doppelbier, Zigarren und Gläser Grog usw. ohne Zahl werden gefordert und gebracht unter einem schlechterdings unbeschreiblichen Lärm und Wirrwarr von Rauchen, Laufen, Messer- und Aufwärtergeklapper.

Die musikalischeren Schauspielbesucher begeben sich in eine »harmonische Versammlung«,

Die ehrgeizige Putzmacherin


Die ehrgeizige Putzmacherin

Miss Emilie Martin war blaß, groß, hager und zweiunddreißig – was mißgünstige Leute häßlich und Polizeiberichte interessant nennen würden. Sie war Putz- und Kleidermacherin, lebte von ihrem Geschäft und hielt sich nicht zu vornehm dafür. Wärst du ein junges Frauenzimmer »bei Herrschaften« oder »in Kondition« gewesen und hättest Miss Martins bedurft, wie denn viele junge Damen in Kondition ihrer bedurften, so würdest du dich etwa abends nach Drummond-Street Nummer siebenundvierzig, George-Street, Euston Square begeben, ein gewaltiges Messingschild mit der Inschrift: »Putz- und Kleidermachergeschäft in allen seinen Zweigen bei Miss Martin« erblickt und mit zwei lauten Schlägen an die Haustür geklopft haben, worauf denn Miss Martin selbst in einem Merinokleid nach der neuesten Mode, mit Ärmelaufschlägen aus feinstem, schwarzem Samt und anderen kleinen Putzsachen der elegantesten Art erschienen sein würde.

Wenn Miss Martin die bei ihr erscheinende junge Dame in Kondition kannte, oder wenn ihr die junge Dame von einer anderen ihr bekannten jungen Dame empfohlen war, so führte sie diese sogleich in ihr Putzzimmer hinauf, plauderte so liebenswürdig und zutraulich, als wenn die junge Dame eine alte, gute Freundin, nicht aber in Geschäften zu ihr gekommen wäre, nahm sodann die Figur und den ganzen Wuchs der jungen Dame in Augenschein, bewunderte sie nicht wenig, und sagte ihr, wie gut ihr ohne allen Zweifel ein unten sehr weites und volles Kleid mit kurzen Ärmeln und angemessenen Falten stehen würde; worauf die junge Dame in Kondition ihre vollkommene Beistimmung zu erkennen gab und sich daneben entrüstet über die Tyrannei ihrer »Missis« aussprach, die keinem jungen Mädchen nachmittags kurze Ärmel und überhaupt nichts Schickes und Modisches – nicht einmal Ohrringe zu tragen erlauben wollte, von den abscheulichen Hauben zu schweigen, worin man sein Haar verstecken müßte.

Nachdem Miss Martin die Litanei angehört hatte, ließ sie gewisse entfernte Andeutungen fallen, wie es Leute gebe, die ihrer Töchter wegen eifersüchtig quälen und die Reize ihrer konditionierenden Hausgenossinnen in den Schatten zurückdrängen müßten, aus Furcht, daß die letzteren sich eher verheirateten, was gar nicht ungewöhnlich sei – zum wenigsten habe sie zwei oder drei junge Damen bei Herrschaften gekannt, die bedeutend besser geheiratet hätten als ihre Herrinnen und noch nicht einmal sehr hübsch gewesen seien; worauf die junge Dame wieder Miss Martin im Vertrauen mitteilte, daß eine ihrer jungen Herrinnen mit einem jungen Manne versprochen und so stolz darauf sei, daß man kaum noch mit ihr auskommen könne, aber gar keine Ursache habe, die Nase deshalb so hoch zu tragen, denn der Bräutigam sei doch weiter nichts als ein Schreiber. Miss Martin und die junge Dame in Kondition drückten sodann ihre Verachtung der Schreiber im allgemeinen und des verlobten Schreibers im besonderen und die bestmögliche Meinung über sich selbst aus, sagten einander auf eine freundschaftliche, aber ganz und gar vornehme Weise gute Nacht, und kehrten, die eine nach ihrem »Orte« und die andere in ihr Geschäftszimmer zurück.

Man weiß nicht, wie lange Miss Emilie Martin ihr Leben so fortgeführt hat, welch eine ausgedehnte Kundschaft sie unter den jungen Damen in Kondition erlangt oder welche Höhe ihre Abzüge von ihrem Lohn am Ende erreicht hätten, wenn nicht unvorhergesehene Ereignisse ihre Gedanken und ihre Tätigkeit vom Putz- und Kleidermachen gänzlich abgelenkt hätten.

Eine ihrer Freundinnen nämlich, die lange mit einem Maler- und Tapezierergehilfen verlobt gewesen war, gab endlich den flehentlichen Bitten ihres Bräutigams nach, den Tag zu bestimmen, der besagten Gehilfen zu einem glücklichen Gatten machen sollte. Sie bestimmte einen Montag dazu, und auch Miss Emilie Martin ward eingeladen, den Hochzeitsschmaus durch ihre Gegenwart zu verschönen. Es war eine reizende Gesellschaft, Somerstown der Ort und ein Wohngemach im Erdgeschoß das Zimmer. Der Maler- und Tapezierergehilfe hatte ein Haus gemietet – nicht etwa eine Etage oder dergleichen Gwöhnlichkeiten, sondern ein Haus – vier schöne Zimmer und eine allerliebste kleine Küche am Ende des Flures – die bequemste Sache von der Welt; denn die Brautjungfern konnten im Gesellschaftszimmer sein und die Gesellschaft empfangen, dann in die kleine Küche laufen und nach dem Pudding und Schweineschinken sehen und im Nu wieder hineinhuschen und mit den Gästen plaudern. Und welch ein Zimmer! Der schönste Kidderminsterteppich – sechs nagelneue, gebeizte Rohrstühle – ein halbes Dutzend große und kleine Gläser auf jedem Schenktisch in den beiden Ecken – ein Bauernmädchen und ein Bauernknabe auf dem Kaminsims – lange weiße Dimityfenstervorhänge – und kurzum alles und jedes so nobel, wie man es sich nur denken kann.

Und dann das Diner: oben und unten eine gekochte Hammelkeule – in der Mitte ein paar Hühner und der Schinken – an den Ecken Porterkrüge – nicht weit davon Pfeffer, Senf und Weinessig – und zu dem allen noch (zum Teil auf dem Fußboden, weil der Tisch so klein) zweierlei Gemüse, Plumpudding, Äpfelpastete, kleine Torten ohne Zahl, Käse, Sellerie, Wasserkresse und was weiter dazu gehört. Was die Gesellschaft anbelangt, so erklärte Miss Emilie Martin selbst bei einer späteren Gelegenheit, daß sie sich die Verwandtschaft des Maler- und Tapezierergehilfen, nach dem zu urteilen, was sie früher davon gehört habe, nicht halb so vornehm gedacht hätte. Sein Vater – welch ein spaßhafter alter Herr! Seine Mutter – welch eine liebe alte Dame! Seine Schwester – welch ein bezauberndes Mädchen! Sein Bruder – welch ein männlich aussehender junger Mann und was er für ein Auge hatte! Allein, die ganze Familie war noch immer nichts im Vergleich mit seinen musikalischen Freunden, Mr. und Mrs. Jennings Rodolph von White Conduit, mit denen der Maler- und Tapezierergehilfe glücklich genug gewesen war, genau bekannt zu werden, indem er beim Dekorieren des dortigen Konzertsaales Beistand geleistet hatte.

Es war himmlisch, ihre Solos zu hören; aber wenn sie das tragische Duett: »Blutiger Mordgesell, hinweg!« miteinander sangen, so war man, wie Miss Emilie Martin hinterher bemerkte, »ganz weg«. Und warum (wie Mr. Jennings Rodolph bemerkte), warum waren sie bei keinem der öffentlichen Theater engagiert? Wenn man ihm sagte, ihre Stimmen seien nicht stark genug, das Haus zu füllen, so war seine einzige Antwort, er wolle jede Wette eingehen, daß er den Russel-Square fülle – womit sich die Gesellschaft, nachdem sie das Duett gehört hatte, vollkommen einverstanden erklärte, und worauf alle sagten, es sei eine schmachvolle Behandlung und Mr. Rodolph eine sehr ernste Miene annahm und fallenließ, daß er sehr wohl wisse, wer seine neidischen Widersacher seien, daß sie sich aber in acht nehmen möchten, wie weit sie gingen; denn wenn sie ihn zu schwer reizten, so habe er den Entschluß noch nicht geradezu aufgegeben, die Sache vor das Parlament zu bringen. Die ganze Gesellschaft kam hiernach darin überein, »daß ihnen vollkommen Recht geschehen und daß es sehr angemessen wäre, wenn an solchen Leuten einmal ein Exempel statuiert würde«. Mr. Jennings Rodolph sagte daher, er wolle es in Überlegung ziehen.

Als die Unterhaltung ihren früheren Ton wieder angenommen hatte, ersuchte Mr. Jennings Rodolph Miss Emilie Martin, die Gesellschaft zu erfreuen – die Gesellschaft vereinigte ihre Bitten mit den seinigen –, und Miss Emilie Martin hustete unschlüssig und zögernd, räusperte sich, erklärte, daß sie vor Angst halb tot sei, weil sie sich vor so großen Kunstrichtern hören lassen solle, und machte endlich den Anfang mit einer Art hellem Gezirpe, das beständig Anspielungen auf einen jungen Gentleman, namens Hen – e – ry, nebst einem jeweiligen Hinblick auf Wahnsinn und beschädigte Herzen enthielt. Mr. Jennings Rodolph unterbrach es durch häufige Ausrufe: »Schön – bezaubernd – herrlich – o köstlich!« usw., und nach deren Schlusse kannte seine und seiner Gattin Bewunderung keine Grenzen.

»Hast du jemals eine so liebliche Stimme gehört?« fragte Mr. Jennings Rodolph Mrs. Jennings Rodolph.

»Nein, in meinem ganzen Leben nicht«, erwiderte sie.

»Glaubst du nicht, daß Miss Martin bei ein wenig Ausbildung der Signora Maljebran sehr ähnlich sein würde?«

»Das habe ich gerade auch gedacht, lieber Mann«, versetzte Mrs. Jennings Rodolph.

Und so vertrieb man sich die Zeit. Die meisten sangen, einer nach dem anderen. Mr. Jennings Rodolph spielte Melodien auf einem Spazierstocke, trat darauf hinter die Tür und gab seine berühmten Nachahmungen von Schauspielern, Tieren, Sägen und anderen Schneideinstrumenten zum besten; Miss Martin sang noch mehrere Arien, jede unter immer größerer Bewunderung, und sogar der spaßhafte alte Herr fing an zu singen. Sein Lied hatte eigentlich sieben Strophen; allein, da er sich nur der ersten entsinnen konnte, so wiederholte er sie siebenmal, augenscheinlich zu seiner eigenen vollkommenen Befriedigung. Sodann stimmte die ganze Gesellschaft das Nationallied mit britischem Unabhängigkeitssinne an – indem alle für sich und ohne Rücksicht auf die anderen sangen –, und endlich brach die Gesellschaft auf, erklärte Mann für Mann, daß sie nie einen so angenehmen Abend erlebt hätte, und Miss Martin beschloß in ihrem Innern, den Rat Mr. Jennings Rodolphs zu befolgen, nämlich sich ohne Aufschub als Sängerin »aufzutun«.

Das »Sichauftun« als Schauspielerin oder Sängerin, oder in der Gesellschaft, oder als Parlamentsredner, oder als Witzbold oder was sonst, ist nun freilich eine sehr schöne Sache, und besonders angenehm für die Person, die es zunächst betrifft, wenn sie es möglich machen kann, sich »mit Glanz aufzutun«, und wenn es geschehen ist, den Glanz zu behaupten, statt mit Schimpf wieder heimgesendet zu werden; allein dieses alles ist unglücklicherweise äußerst schwierig; und diese Entdeckung sollte Miss Emilie Martin sehr bald machen. Es ist merkwürdig – da der Fall ein paar Damen betrifft –, aber tatsächlich, daß Miss Emilie Martins Hauptschwäche Eitelkeit und Mrs. Jennings Rodolphs vornehmster Charakterzug eine Vorliebe für Putz war. Man hörte aus dem zweiten Stockwerk in Drummond-Street Nummer siebenundvierzig, George-Street, Euston-Square, trübseliges Gequieke: Miss Martin übte. Beim Anfang der Season störte halb unterdrücktes Gemurmel die ruhige Würde des Orchesters in White-Conduit; Mrs. Jennings Rodolphs Erscheinung in großer Gala veranlaßte die Störung. Miss Emilie Martin dachte nur an ihr »Auftun« – das Üben war die Folge; Mrs. Jennings Rodolph erteilte ihr bisweilen unentgeltlichen Unterricht – die zur großen Gala gehörigen Putzartikel waren das Ergebnis.

Wochen vergingen; die Season in White-Conduit war zur Hälfte vorüber. Die Putzmacherei war vernachlässigt, das Geschäft in Verfall geraten, sein Nutzen fast unmerklich zusammengeschmolzen. Ein Benefizabend rückte heran, Mrs. Jennings Rodolph gab den dringenden Bitten Miss Emilie Martins nach und stellte sie dem komischen Sänger vor, dessen Benefiz stattfinden sollte. Der komische Sänger war lauter Lächeln und Holdseligkeit – er hatte ein Duett ausdrücklich für den Abend komponiert, und Miss Martin sollte es mit ihm singen. Der Abend kam – und mit ihm erschienen siebenundneunzig große Glas Gin mit Wasser, zweiunddreißig kleine Glas Branntwein mit Wasser, fünfundzwanzig Flaschen Ale und einundvierzig Glühweine; und an einem Seitentisch nicht weit vom Orchester saßen der Maler- und Tapezierergehilfe nebst Frau und einer Anzahl auserwählter Freunde und Freundinnen. Das Konzert nahm seinen Anfang. Sentimentale Arie, gesungen von einem blonden jungen Herrn in einem blauen Leibrock mit Metallknöpfen. (Beifall.) Noch eine Arie, zweifelhafter Natur, gesungen von einem anderen Herrn in einem anderen blauen Leibrock mit noch glänzenderen Knöpfen. (Verstärkter Beifall.) Duett, gesungen von Mr. und Mrs. Jennings Rodolph: »Blutiger Mordgesell, hinweg!« (Großer Beifall.) Solo, Miss Julia Montague (bestimmt nur an diesem Abende): »Ich bin ein Mönch.« (Enthusiasmus.) Komisches Originalduett – Mr. H. Taplin (der komische Sänger) und Miss Martin: »Die Tageszeit.«

»Bravo, bravo – o – o – o!« schrie des Maler- und Tapezierergehilfen Gesellschaft, als Miss Martin vom komischen Sänger mit Grazie vorgeführt würde. »Ins Geschirr, Harry!« riefen die Freunde des komischen Sängers. Der Kapellmeister schlug mit dem Bogen auf das Notenpult. Die Einleitung begann, und bald folgte ihr eine Art von bauchrednerischem Zirpen, das aus Miss Martins tiefstem Innern hervorzutönen schien. »Lauter!« rief ein Gentleman in einem grauen Überrocke; »Fürcht dich nicht, den Dampf loszulassen, altes Mädchen!« ein anderer; »S-s-s-s-s-s!« zischten die fünfundzwanzig Flaschen Ale; »Pfui!« entgegnete die Gesellschaft des Maler- und Tapezierergehilfen; »S-s-s-s-s!« zischten die Flaschen Ale abermals, und sämtliche Gins und die meisten Branntweine sekundierten ihr.

»Hinaus mit den Gänseköpfen!« rief die Gesellschaft des Maler- und Tapezierergehilfen in großer Entrüstung.

»Singen Sie laut«, flüsterte Mrs. Jennings Rodolph.

»Das tu‘ ich ja«, erwiderte Miss Emilie Martin.

»Singen Sie noch lauter«, sagte Mr. Jennings Rodolph.

»Das kann ich nicht«, sagte Miss Emilie Martin.

»Hinaus, hinaus, hinaus!« lärmte der größte Teil des Publikums; »Bravo, bravo!« schrie die Gesellschaft des Maler- und Tapezierergehilfen – aber es half nichts. Miss Emilie Martin zog sich weit unzeremoniöser zurück, als sie erschienen war, und es wollte schlechterdings mit dem »Auftun« nicht gehen. Die gute Laune des Publikums kehrte erst wieder, als Mr. Jennings Rodolph purpurn im Gesicht durch seine halbstündigen Bemühungen geworden war, verschiedene Vierfüßler nachzuahmen, ohne sich hörbar machen zu können; und bis auf diesen Tag ist weder Miss Emilie Martins gute Laune noch die vormalige Blüte ihres Geschäfts zurückgekehrt, noch haben sich die musikalischen Anlagen zeigen wollen, für deren Dasein Mr. Jennings Rodolph einst seine Künstlerehre zum Pfande setzte.

Die Tanzakademie


Die Tanzakademie

Von allen jemals etablierten Tanzakademien war keine in ihrem Stadtteil zu irgendeiner Zeit beliebter als die Signor Billsmethis vom Königstheater, der italienischen Oper. Sie befand sich unweit der volkreichen und aufblühenden Gegend von Grays-Inn-Lane und gehörte keineswegs zu den teueren Tanzakademien – denn, alles gerechnet, sind vier Schillinge und sechs Pence für das Vierteljahr wirklich billig genug. Sie war sehr exklusiv – die Zahl der Zöglinge war streng auf fünfundsiebzig beschränkt, und vierteljährliche Bezahlung im voraus wurde unbedingt gefordert. Es fand in ihr öffentliche und Privatunterweisung statt – sie hatte ein Assemblee- und ein Privatzimmer. Signor Billsmethis Familie wurde stets dem letzteren zu- und beim Privatzimmerpreis in den Kauf gegeben; das will sagen, die Privatschüler tanzten in Signor Billsmethis Wohnzimmer und mit Signor Billsmethis Familie; und waren sie in jenem hinlänglich zugestutzt, so traten sie paarweise in den Assembleesaal ein.

So war die Einrichtung der Tanzakademie Signor Billsmethis beschaffen, als Mr. Augustus Cooper aus der Fettergasse von Holbornhill eine ungestempelte Ankündigung langsamen Schrittes daherkommen sah, die männiglich kund und zu wissen tat, daß Signor Billsmethi vom Königstheater beabsichtige, die Saison mit einem großen Ball zu eröffnen.

Mr. Augustus Cooper war Öl- und Farbenhändler, gerade volljährig geworden, und hatte ein wenig Geld, ein kleines Geschäft und eine kleine Mutter, die ihren Ehegatten und dessen Geschäft bei Lebzeiten des Seligen in Ordnung gehalten, und es sich nach seinem Tode nicht nehmen ließ, ihren Sohn und dessen Geschäft zu leiten. So wurde er fortwährend die sechs Wochentage in dem kleinen Zimmer hinter dem Laden und sonntags in einem kleinen tannenen Kasten ohne Deckel (höflicherweise ein Kirchenstuhl genannt) in der Bethelkapelle eingesperrt gehalten und hatte nicht mehr von der Welt gesehen, als wenn er sein Leben lang ein kleines Kind gewesen und geblieben wäre; wohingegen der junge White, der drei Jahre jüngere Ladendiener gegenüber, längst alles mitmachte, überall glänzte, ins Theater ging, in »harmonischen Gesellschaften« soupierte, ganze Fässer voll Austern aß und ganze Gallonen Doppelbier trank – und sogar ganze Nächte durchschwärmte und morgens so sans façon nach Hause kam, als ob es gar nichts gewesen wäre. Mr. Augustus Cooper setzte daher seinen Sinn darauf, daß er sich’s nicht mehr gefallen lassen wollte, und hatte gerade an diesem Morgen seiner Mutter sehr bestimmt angekündigt, daß er nicht Augustus heißen wolle, wenn er nicht sofort mit einem Hausschlüssel versehen würde. Und als er Holbornhill hinunterschritt und ihm das alles im Kopfe herumging und er darüber nachsann, wie er sich Zutritt zur feinen Gesellschaft verschaffen könne, begegnete seinen Blicken Signor Billsmethis wandelnde Ankündigung, und sogleich erkannte er darin, was er suchte. Die Tanzakademie setzte ihn in den Stand, sich für vier Schillinge und sechs Pence vierteljährlich aus der Zahl von fünfundsiebzig Zöglingen einen auserlesenen Zirkel vornehmer Bekannter zu bilden und zugleich zu seiner und seiner Freunde Bewunderung in Privatgesellschaften einen Hornpipe zu tanzen.

Er brachte demgemäß die ungestempelte Ankündigung – ein lebendiges, aus einem Knaben zwischen zwei Brettern bestehendes Fleisch-Butterbrot – zum Stehen, erbat sich und erhielt von ihr eine sehr kleine Karte mit des Signors Adresse und begab sich stehenden und eilenden Fußes nach des Signors Wohnung – denn wie leicht hätte die Liste der fünfundsiebzig geschlossen sein können, ehe er anlangte. Der Signor war zu Hause, und, was noch erfreulicher war, ein Engländer! Und ein so charmanter, so feiner, höflicher Mann – zumal gegen einen ihm völlig Unbekannten! Mr. Augustus Cooper war außer sich vor Vergnügen. Die Liste war noch nicht geschlossen, aber höchst wunderbarerweise fehlte nur noch eine einzige Unterschrift, die auch nicht mehr gefehlt haben würde, wenn nicht Signor Billsmethi an demselben Morgen eine junge Dame zurückgewiesen hätte, die ihm nicht erlesen genug geschienen.

»Und ich bin äußerst erfreut, Mr. Cooper«, sagte Signor Billsmethi, »daß ich sie nicht zugelassen habe. Ich versichere Sie, Mr. Cooper – und sage dies nicht, um Ihnen zu schmeicheln, denn ich weiß, daß Sie über dergleichen erhaben sind –, daß ich mich unendlich glücklich schätze, einen Gentleman von Ihrem Wesen und Ihren Manieren gewonnen zu haben.«

»Ich freue mich gleichfalls sehr darüber, Sir«, entgegnete Augustus Cooper.

»Und ich hoffe, wir werden noch besser miteinander bekanntwerden, Sir«, sagte Signor Billsmethi.

»Das hoffe ich wahrlich auch, Sir«, erwiderte Augustus Cooper; und als er so sprach, tat sich die Tür auf und hüpfte eine junge Dame mit einer ganzen Wolke von Locken um den Kopf und mit Schuhen herein, die sandalenartig durch rosarote Bänder befestigt waren.

»Lauf doch nicht fort, liebes Kind«, rief Signor Billsmethi; denn die junge Dame hatte, als sie hereinhüpfte, nicht gewußt, daß ein fremder Herr im Zimmer war, und wollte, ganz verschämt und verwirrt, sogleich wieder hinaushüpfen. »Lauf doch nicht fort, liebes Kind – der Herr ist Mr. Cooper – Mr. Cooper aus der Fettergasse. Mr. Cooper, meine Tochter – Miss Billsmethi, Sir, die, wie ich hoffe, noch viele Quadrillen, Menuetts, Reels, Franchisen, Gavotten, Fandangos, Doppel- Hornpipes und Farinagholkajingos mit Ihnen tanzen wird. Sie tanzt alle diese Tänze, Sir, und Sie sollen’s gleichfalls, Sir, ehe Sie ein Vierteljahr älter geworden sind.«

Und bei diesen Worten klopfte Signor Billsmethi Mr. Augustus Cooper so vertraulich auf die Schulter, als wenn er ihn jahrelang gekannt hätte; und Mr. Cooper verbeugte sich vor der jungen Dame, und die junge Dame knickste vor ihm, und Signor Billsmethi sagte, sie machten ein so allerliebstes Paar, als man sich eines zu sehen nur wünschen könnte, worauf die junge Dame ausrief: »O Himmel, Papa!« und so rot wurde, wie Mr. Cooper selbst, so daß beide aussahen, als ständen sie im Schein einer feuerroten Lampe in einem Apothekerladen. Bevor Mr. Cooper sich empfahl, wurde verabredet, daß er an demselben Abend im Kreise der Familie erscheinen – ohne alle Umstände und Komplimente, ganz freundschaftlich sich einstellen – vorliebnehmen – und die ersten Stellungen lernen solle, damit er keine Zeit verliere und als Tänzer beim nächsten Ball in die Reihe mit eintreten könne.

Mr. Augustus Cooper begab sich in einen der wohlfeilen Schuhmacherläden in Holborn, wo Herrentanzschuhe sieben Schillinge und sechs Pence und gewöhnliche starke Mannsschuhe gar nichts kosten, erstand ein Paar von den besten zu sieben Schillingen und sechs Pence, durch die er sowohl sich selbst als seine Mutter in Erstaunen setzte, und eilte zu Signor Billsmethi.

Er fand im Wohnzimmer noch vier andere Privatschüler, zwei Damen und zwei Herren. Und was für allerliebste Leute! Ohne die mindeste Spur von Stolz. Eine der jungen Damen, die die Rolle der Columbine einstudierte, war besonders gesprächig und freundlich, und sie und Miss Billsmethi interessierten sich so sehr für Mr. Augustus Cooper, und scherzten und lächelten, und sahen so bezaubernd aus, daß er sich ganz wie zu Hause fühlte und seine Pas in bewunderungswürdig kurzer Zeit lernte. Nachdem die Übungen eingestellt waren, tanzten Signor Billsmethi und Miss Billsmethi, Master Billsmethi und eine junge Dame, und die beiden Damen und beiden Herren eine Quadrille mit unsäglicher Gewandtheit und Grazie, Signor Billsmethi alle ermunternd, alles ordnend, der behendeste von allen, obwohl er zugleich die Geige spielte; und als alle außer Atem waren, tanzte Master Billsmethi zur ungeteilten Bewunderung der ganzen Gesellschaft einen Hornpipe mit einem Rohr in der Hand und einem Käseteller auf dem Kopfe. Da alle so äußerst vergnügt waren, bestand Signor Billsmethi darauf, daß sie zum Abendessen bleiben müßten, und erbot sich, von Master Billsmethi das Bier und den Rum holen zu lassen. Allein, die beiden Herren beteuerten, dies nimmermehr zulassen zu können, und fingen einen edelmütigen Streit darüber an, wer bezahlen sollte, worauf Mr. Augustus Cooper sich sogleich entschloß, als Vermittler auf zutreten, und erklärte, er wolle es – wenn sie die Güte haben wollten, es ihm zu gestatten. Sie hatten die Güte, und bald brachte Master Billsmethi das Bier in einer Kanne und den Rum in einem Quartertopf. Die Gesellschaft machte sich nunmehr eine lustige Nacht, und Miss Billsmethi drückte Mr. Augustus Coopers Hand unter dem Tisch und Mr. Augustus Cooper erwiderte den Druck und langte um sechs Uhr morgens zu Hause an, wo er von dem Lehrling, nicht ohne heftigen Widerstand von seiner Seite, zu Bett gebracht wurde, nachdem er wiederholt sein unbesiegbares Verlangen ausgesprochen hatte, seine werte Frau Mama aus dem Fenster zu werfen und den Lehrling mit seinem eigenen Halstuch zu erdrosseln.

Wochen waren vergangen, und der Abend des großen Balls rückte heran, auf dem sämtliche fünfundsiebzig Zöglinge zum ersten Male in dieser Saison zugleich erscheinen und an Musik und Beleuchtung etwas haben sollten für ihre vier Schillinge und sechs Pence. Mr. Augustus Cooper schaffte sich zu der Festlichkeit einen neuen Rock an, der ihn zwei Pfund zehn Schillinge kostete. Er sollte sich zum ersten Male öffentlich sehen lassen, und nachdem vierzehn junge Damen ihrer Rolle entsprechend gekleidet einen großen sizilianischen Schaltanz ausgeführt hatten, tanzten er und Miss Billsmethi, mit der er vollkommen vertraut geworden war, die erste Quadrille vor.

Welch ein Abend – welch eine Lust! Die ganze Anordnung war wundervoll. An der Haustür nahm ein Aufwärter die Hüte und Mäntel in Empfang; in einem ausgeräumten Schlafzimmer bereitete Miss Billsmethi Tee und Kaffee für die Herren, die dafür bezahlten, und für die Damen, die von den Herren freigehalten wurden; Glühwein und Limonade wurde für achtzehn Pence die Person herumgereicht, und infolge eines Übereinkommens mit dem Gastwirt an der nächsten Ecke war noch ein Extraaufwärter angenommen worden. Kurzum, die Anordnung war unübertrefflich, nur daß die Gesellschaft noch unübertrefflicher war. Solche Damen! Solche rosaseidenen Strümpfe! Solche künstlichen Blumen! Solch eine Unzahl von Kabrioletts! Eins folgte fortwährend dem andern und setzte ein paar Damen ab, die nicht nur sämtlich einander, sondern obendrein die meisten Herren kannten, was ein unbeschreibliches Leben und eine unendliche Heiterkeit in das Ganze hineinbrachte. Signor Billsmethi, in knappen schwarzen Beinkleidern und einer großen Schleife im Knopfloch, stellte die noch Unbekannten den Damen vor, und die Damen plauderten und lachten – es war zum Entzücken, sie anzusehen.

Was den Schaltanz betrifft, so hatte man nie etwas Ähnliches gesehen, und Mr. Augustus Cooper übertraf sich selbst beim Vortanzen seiner Quadrille. Er verlor zwar dann und wann seine Tänzerin, fuhr in eine andere Abteilung und verharrte mit lobenswerter Beharrlichkeit darin oder hüpfte ohne ersichtlichen Zweck durch die Reihen; allein er bewies doch Scharfsinn genug, sich immer wieder zurechtzufinden, wenn er zurechtgeschoben wurde – mit einem Wort, es ging sehr gut. Als die Quadrille beendet war, traten viele Damen und Herren zu ihm und beglückwünschten ihn und sagten, was auch sehr glaubhaft war, daß sie noch nie von einem Anfänger so etwas gesehen hätten; und Mr. Augustus Cooper war vollkommen zufrieden mit sich selbst und allen übrigen obendrein und hielt mit einer großen Menge von Getränken aller Art zwei bis drei Dutzend intimer, aus dem erwählten Zirkel von fünfundsiebzig Zöglingen auserkorener Freunde frei.

Kam es nun von der Stärke der Getränke, der Schönheit der Damen oder woher sonst: Kurzum, Mr. Augustus Cooper ermunterte eher, als daß er sie zurückwies, die schmeichelhaften Aufmerksamkeiten einer jungen Dame in brauner Gaze über weißem Kaliko, einer jungen Dame, auf die seine Person vom ersten Erblicken an einen starken Eindruck gemacht zu haben schien. Und als dies einige Zeit gedauert, verriet endlich Miss Billsmethi ihre Eifersucht und ihren Zorn darüber, und nannte die junge Dame in brauner Gaze eine »Kreatur«, was die junge Dame in brauner Gaze zu einer Erwiderung bewog, die beleidigende Anspielungen auf die Quartalzahlung von vier Schillingen und sechs Pence und auf einen »Liebhaber« enthielt, den Miss Billsmethi angeblich in ihr Garn zu locken wünschte, eine Anspielung, mit der sich Augustus Cooper, dessen Kopf nicht wenig benommen war, vollkommen einverstanden erklärte.

Miss Billsmethi, auf eine solche Weise verlassen und bloßgestellt, begann augenblicklich mit ihrer ganzen Stimmkraft zu jammern und zu schreien, machte einen erfolglosen Angriff auf die Augen und das Antlitz zuerst der Dame in Gaze und sodann Mr. Augustus Coopers und rief, ganz außer sich, den anderen dreiundsiebzig Zöglingen zu, sie möchten ihr eine Dosis Arsenik schaffen, womit sie sich den Tod geben wolle; und als ihrer Aufforderung keine Folge gegeben wurde, stürzte sie sich abermals auf Mr. Cooper, ihr Schnürband zerriß, und sie wurde hinausgeführt und zu Bett gebracht. Mr. Augustus Cooper, der sich nicht eben durch schnelle Begriffe auszeichnete, war außer sich vor Verwunderung, bis Signor Billsmethi alles auf das befriedigendste erklärte. Er verkündete nämlich den Zöglingen, daß Mr. Augustus Cooper seiner Tochter wiederholte Heiratsanträge gemacht habe und ihr jetzt unverantwortlicherweise untreu geworden sei. Sämtliche Zöglinge legten ihre Entrüstung über Mr. Coopers Benehmen an den Tag; und da mehrere ritterliche Herren Mr. Augustus Cooper ziemlich bedeutsam und dringend fragten, ob er »etwas Angenehmes schmecken«, oder mit anderen Worten, »ob er Prügel haben wollte«, so hielt er es der Klugheit gemäß, sich eiligst zurückzuziehen.

Und das Ende vom Liede war, daß er am folgenden Tage ein Schreiben von einem Advokaten erhielt, daß eine Woche später eine Klage gegen ihn angestellt wurde, und daß Mr. Augustus Cooper, nachdem er, in der Absicht, sich zu ersäufen, zweimal nach der Serpentine gegangen und zweimal, ohne seinen Entschluß ausgeführt zu haben, wieder zurückgekommen war, seine Mutter in das Geheimnis zog, die die Sache mit zwanzig Pfunden beilegte, so daß an Signor Billsmethi zwanzig Pfund, vier Schillinge und sechs Pence gezahlt werden mußten, abgesehen von dem, was das Freihalten und die Tanzschuhe gekostet; und Mr. Augustus Cooper lebte wieder wie zuvor bei seiner Mutter, lebt noch mit ihr bis auf den heutigen Tag, fern von der Welt, die zu sehen er alle Neigung verloren hat, und wird daher diese Erzählung seiner Abenteuer nicht zu Gesicht bekommen und auch nichts daran verlieren.

Die Schäbig-Vornehmen


Die Schäbig-Vornehmen

Es gibt eine gewisse Art von Leuten, die, sonderbar genug, London ausschließlich anzugehören scheinen. Man begegnet ihnen täglich in den Straßen der Hauptstadt, nie aber an irgendeinem anderen Orte. Sie scheinen Erzeugnisse des Bodens zu sein und sind für London so eigentümlich, wie sein Rauch und seine geschwärzten Backsteine. Wir könnten diese Bemerkung durch eine Menge von Beispielen veranschaulichen, wollen aber in dieser Skizze nur von einer der Leutearten, die wir im Sinne haben, reden – von der, die man so angemessen und bezeichnend »schäbig-vornehm« oder »schäbig-elegant« nennt.

Gott weiß, schäbige Leute kann man überall finden, und vornehme sind nicht seltner außerhalb als in London; aber dieses Gemisch aus beiden – diese schäbige Vornehmheit – ist so absolut örtlich wie die Statue von Charing-Cross oder der Brunnen in Aldgate. Auch verdient es bemerkt zu werden, daß nur Männer schäbig-vornehm sind; ein Frauenzimmer ist immer entweder höchst schmutzig und schlampig oder nett und sauber, wenn auch noch so ärmlich gekleidet. Ein sehr dürftiger Mann, der, wie die Phrase lautet, »bessere Tage gesehen hat«, ist eine merkwürdige Mischung aus schlotteriger Unsauberkeit und dem unglücklichen Trachten nach einer gewissen verschlissenen Nettigkeit. Doch wir wollen es versuchen, die Bedeutung, die wir mit dem Ausdruck »schäbig-vornehme Leute« verbinden, genauer dazulegen.

Begegnet ihr einem Manne, der Drury-Lane hinunterschlendert oder mit dem Rücken gegen einen Pfosten in Longacre lehnt und dabei die Hände in die Taschen seiner sehr fettfleckigen, sehr weit auf die Stiefel hinunterfallenden und mit Streifen gezierten Beinkleider gesenkt hat – auch einen braun gewesenen Rock mit Metallknöpfen trägt und einen Hut mit stark gekrümmten Seitenrändern auf die rechte Schläfe gedrückt hat –, bemitleidet ihn nicht: er ist nicht schäbig-elegant. Er treibt sich vorzugsweis‘ gern in den »harmonischen Gesellschaften« eines Gasthauses vierter Klasse oder in den Umgebungen eines Privattheaters umher; hegt einen eingewurzelten Abscheu vor Arbeit jeder Art und steht auf vertrautem Fuße mit mehreren, bei den größeren Theatern beschäftigten Pantomimenakteurs. Seht ihr aber einen Mann von vierzig bis fünfzig Jahren in einem alten schimmeligen Überrock von fadenscheinigem, schwarzem Tuch, das in seiner Abgetragenheit glänzt, als wenn es gewichst wäre, und in Beinkleidern, die teils besseren Aussehens wegen und teils, um die Schuhe an den Fersen festzuhalten, unter den Füßen sorgfältig befestigt sind, eine Nebengasse hinuntereilen und sich dabei so dicht wie möglich an die Gartengitter halten; bemerkt ihr ferner, daß er die Weste unter dem gelblich-weißen Halstuche dicht zugeknöpft hat, um das zerlumpte Weißzeug darunter zu verstecken und daß er ein Paar alte zerrissene Biberhandschuhe trägt, so könnt ihr ihn den schäbig-vornehmen Leuten zuzählen. Ein Blick auf sein verkümmertes Gesicht, worin sich ein niederdrückendes Bewußtsein der Armut ausdrückt, wird euch Herzweh verursachen – stets vorausgesetzt, daß ihr weder Philosoph noch »Staatswirtschaftler« seid.

Einst vermochten wir das Bild eines schäbig-vornehmen Mannes schlechterdings nicht loszuwerden; es stand vor uns Tag und Nacht. Der Mann, von dem Walter Scott in seiner Dämonologie spricht, litt nicht halb soviel von der Phantasiegestalt in schwarzem Samt wie wir von dem Bilde unseres Schäbig-Vornehmen im vormals schwarz gewesenen Rocke. Er erregte zuerst unsere Aufmerksamkeit, als er uns eines Tags und dann öfter im Lesezimmer des Britischen Museums gegenübersaß. Was ihn uns noch bemerklicher machte, war, daß er immer ein paar schäbig-elegante Bücher vor sich hatte – zwei alte eselsohrige Folianten in verschimmelten, wurmstichigen Bänden, die einmal prachtvoll gewesen waren. Er saß jeden Morgen, gerade wenn es zehn schlug, an seiner Stelle, war jeden Nachmittag der letzte im Zimmer, und verließ es mit einer Miene und einem Wesen, worin man deutlich las, daß er nicht wußte, wohin er gehen sollte, um Feuerung und eine Ruhestätte zu finden. Er saß den ganzen Tag da und so dicht wie möglich am Tische, um die fehlenden Knöpfe an seinem Rocke zu verstecken; und seinen abgetragenen Hut legte er immer sorgfältig neben seine Füße, wo er, wie er sich offenbar schmeichelte, der Beobachtung entging. Etwa um zwei Uhr seht ihr ihn eine Semmel verspeisen, die er nicht etwa dreist und vor aller Augen aus der Tasche hervorzieht, gleich einem Manne, der es weiß, daß er nur einen Lunch einnimmt, sondern von der er kleine Stücke in der Tasche abbricht und verstohlen zum Munde führt. Er ist sich nur gar zu wohl bewußt, daß sein ganzes Mittagessen darin besteht.

Als wir den Armen zum ersten Male sahen, hielten wir es für rein unmöglich, daß sein Anzug noch schlechter werden könnte, wir dachten sogar an die Möglichkeit, daß er binnen kurzem in anständigen Kleidern aus einem reputierlichen Trödlerladen erscheinen könnte. Wir hatten uns indes gar sehr geirrt. Er wurde mit jedem Tage noch elegant-schäbiger. Die Knöpfe verschwanden einer nach dem andern von seiner Weste, und er fing an, den Rock zuzuknöpfen, und als sich die Knöpfe von der einen Seite gleichfalls verloren, knöpfte er ihn über die andere Seite zu. Zu Anfang der Woche sah er etwas besser aus als am Ende, weil sein Halstuch dann, wenn auch gelb, doch minder erdfarben war, und nie zeigte er sich bei aller seiner Misere ohne Handschuhe und Sprungriemen an den Beinkleidern. In diesem Zustand verblieb er einige Wochen; endlich verschwand einer seiner Rückenknöpfe und dann er selbst, und wir glaubten, daß er tot sei.

Wir saßen etwa acht Tage nach seinem Verschwinden an unserm gewöhnlichen Tisch, hefteten die Blicke auf seinen leeren Stuhl und verfielen fast unbewußt in ein Nachsinnen über die Gründe, weshalb er sich aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen haben möchte. Hatte er sich erhängt oder ins Wasser gestürzt, war er wirklich tot oder im Schuldgefängnis? Wir sannen hin und her – als er unversehens leibhaftig wieder vor uns stand. Es war eine merkwürdige Verwandlung mit ihm vorgegangen. Er ging mit einer Miene durch das Zimmer, die deutlich verkündigte, daß er sich seines besseren Aussehens vollkommen bewußt war. Es war äußerst sonderbar! Seine Kleider waren dunkel und glänzend schwarz und sahen doch wie dieselben aus – ja sogar die Flicken fehlten nicht, mit denen uns lange Bekanntschaft vertraut gemacht hatte. Auch der Hut – wer hätte ihn mit seiner hohen, etwas spitz zulaufenden Krone verkennen mögen? Er hatte infolge langer Dienste in ein Rotbraun gespielt, war aber jetzt ebenso schwarz wie der Rock.

Plötzlich ging ums ein Licht auf – er hatte alles färben lassen. Die schwarze und blaue Farbe ist aber gar trügerisch; wir haben es an manchem schäbig-eleganten Manne ersehen. Sie verführt die Opfer ihres Betrugs, eine vorübergehende Wichtigkeit anzunehmen, vielleicht ein Paar neue Handschuhe, eine wohlfeile Halsbinde oder andere Toilettenkleinigkeiten zu kaufen; erhebt ihren Mut auf eine Woche, lediglich um ihn nur zu bald, womöglich noch tiefer, wieder niederzudrücken. Es war so im vorliegenden Falle. Die vorübergehende Würde des unglücklichen Mannes nahm in demselben Verhältnis ab, wie die Farbe ausging. Die Knie der Unaussprechlichen, die Ellenbogen des Rockes und die Nähte insgemein wurden bald zum Erschrecken weiß. Der Hut wurde wieder unter den Tisch gelegt, und sein Eigentümer drückte sich so still auf seinen Stuhl wie je. – Eine Woche lang fiel ein unaufhörlicher Sprühregen und Nebel. Als sie zu Ende ging, war die Farbe gänzlich verschwunden, und der schäbig-vornehme Mann machte keinen Versuch mehr, seine äußere Erscheinung zu verbessern.

Es würde nicht leicht sein, einen besonderen Stadtteil als Hauptsammelplatz schäbig-vornehmer Leute zu bezeichnen. Wir haben ihrer viele in der Gegend der Inns of Court23 gesehen. Man sieht sie jeden Morgen zwischen acht und zehn Uhr in Holborn, und wer sich aus Neugier in den Gerichtshof der insolventen Schuldner begibt, wird ihrer dort eine große Menge unter den Zu- und Nichtzuschauern erblicken. Wir gingen nie zufällig auf die Börse, ohne einige schäbig-elegante Leute zu bemerken, und haben oft darüber gegrübelt, was sie dort in aller Welt zu tun haben könnten. Sie sitzen stundenlang da, stützen sich auf große, wassersüchtige, verschlossene Regenschirme oder essen Abernethyzwiebäcke;24 niemand spricht mit ihnen, und sie sprechen gleichfalls mit niemandem. Doch freilich, wir sahen einst ihrer zwei auf der Börse miteinander reden, können aber aus unserer Erfahrung versichern, daß so etwas sehr selten vorkommt und etwa nur durch das Anerbieten einer Prise Schnupftabak oder eine ähnliche Höflichkeit veranlaßt wird.

Es würde ebenso schwer sein, zu sagen, wo sie vornehmlich ihre Wohnungen haben oder womit sie sich in der Regel beschäftigen. Wir verkehrten nur ein einziges Mal mit einem schäbig-vornehmen Manne, einem trunksüchtigen Graveur, der ein dumpfiges Hinterzimmer in einer neuen Reihe, halb Straße, halb Backsteinbrennereifeld, in Camden Town bewohnte. Solch ein schäbig-vornehmer Elegant hat vielleicht gar kein Geschäft, oder ist Korn- oder Kohlen- oder Weinmakler, oder Schuldeneinsammler, oder Brokersgehilfe, oder ein verunglückter Anwalt, ein Schreiber unterster Klasse, oder ein ebenso untergeordneter Korrespondent für eine Zeitung. Wir wissen es nicht, ob unsern Lesern auf ihren Wanderungen diese Leute ebenso oft aufgefallen sind als uns; das aber wissen wir, daß der verarmte, schäbig-elegante Mann (gleichviel, ob er sein Herunterkommen selbst verschuldet hat oder nicht), der seine Dürftigkeit schmerzlich fühlt und sich vergeblich bemüht, sie zu verheimlichen, zu den unglücklichsten Geschöpfen unter der Sonne gehört.

Der Pfarrer – Die alte Dame – Der Kapitän


Der Pfarrer – Die alte Dame – Der Kapitän

Unser Pfarrer ist ein junger Mann von so einnehmendem Äußern und so gewinnendem, bezauberndem Wesen, daß noch kein Monat nach seinem Erscheinen im Kirchspiel vergangen war, als auch schon die Hälfte unserer jungen Damenwelt vor Frömmigkeit melancholisch wurde und die andere Hälfte vor Liebe in Tiefsinn oder Verzweiflung verfiel. Zu keiner anderen Zeit hatte man in unserer Kirche sonntags so viele junge Frauen gesehen, und nie hatten die kleinen runden Engelsgesichter auf Mr. Tomkins Grabmal im Seitengang eine so inbrünstige Andacht geschaut, wie die jungen Kirchgängerinnen jetzt an den Tag legten.

Der Pfarrer war etwa fünfundzwanzig Jahre alt, als er im Kirchspiel erschien, um es in Bewunderung und Erstaunen zu versetzen. Er trug das Haar gescheitelt, einen kostbaren Brillantring am Zeigefinger der linken Hand (die er stets an die linke Wange hielt, wenn er die Gebete las) und hatte eine tiefe, außerordentlich feierliche Grabesstimme. Kluge Mütter machten unzählbare Versuche beim neuen Pfarrer, der mit zahllosen Einladungen bestürmt wurde, die er auch bereitwillig annahm. Hatte sein Wesen auf der Kanzel schon einen günstigen Eindruck gemacht, so wurde dieser durch sein Erscheinen in der Gesellschaft noch zehnfach verstärkt. Die Kirchenstühle in der Nähe der Kanzel und des Altars stiegen im Preis, noch teurer wurden die Sitze im Mittelgang, und kein Zollbreit Raum auf den vordersten Bänken der Emporkirche war weder für Geld noch für gute Worte mehr zu haben. Einige gingen selbst so weit, zu versichern, daß sie die drei Miss Browns, die einen dunklen Kirchenstuhl dicht hinter dem der Kirchenvorsteher innehatten, eines Sonntags auf den freien Plätzen am Abendmahlstisch entdeckt hätten, offenbar um den Pfarrer in die Sakristei vorübergehen zu sehen!

Der Pfarrer fing an, freie Vorträge zu halten, und die Ansteckung ergriff selbst die bedächtigen Väter. Einst stand er in einer Winternacht um halb ein Uhr auf, um das Kind einer Wäscherin zu taufen, und die Dankbarkeit des Kirchspiels kannte keine Grenzen – sogar die Kirchenältesten wurden freigebig gesinnt und setzten es durch, daß das Kirchspiel die Kosten für das Schilderhaus auf Rädern übernahm, das sich der neue Pfarrer hatte bauen lassen, um darin bei nassem Wetter die Begräbnisgebete zu lesen. Er schickte einer armen Frau, die mit vier Kindern niedergekommen war, drei Maß Hafergrütze und ein Viertelpfund Tee – das Kirchspiel war entzückt. Er veranstaltete eine Sammlung für die Wöchnerin – ihr Glück war gemacht. Er redete eine Stunde und fünfundzwanzig Minuten in einer Anti-Sklavereiversammlung – der Enthusiasmus hatte seinen Gipfel erreicht.

Es wurde vorgeschlagen, dem neuen Pfarrer ein Zeichen der Achtung und Dankbarkeit für seine dem Kirchspiel geleisteten unschätzbaren Dienste zu widmen – im Nu war der Beitragsbogen gefüllt, und es wurde gestritten, und Kunstgriffe wurden angewendet, nicht, wie man sich der Beisteuer entziehen könne, sondern wer zuerst unterschreiben solle. Man ließ ein kostbares silbernes Schreibzeug mit einer passenden Inschrift anfertigen; der Pfarrer wurde zu einem öffentlichen Frühstück eingeladen; das Schreibzeug wurde ihm überreicht, und Mr. Gubbins, der Ex-Kirchenvorsteher, hielt eine treffliche Rede dabei, die der Pfarrer in Ausdrücken beantwortete, die allen Anwesenden Tränen entlockten – sogar die Kellner wollten zerschmelzen.

Man hätte meinen sollen, daß der Gegenstand der allgemeinen Bewunderung nunmehr den höchsten Gipfel der Beliebtheit erreicht gehabt hätte. Keineswegs! Der Pfarrer fing an zu husten – eines Morgens vier Hustenanfälle zwischen Litanei und Epistel und fünf beim Nachmittagsgottesdienst. Man machte die Entdeckung, daß er schwindsüchtig war. Welch eine interessante Melancholie!

Die Sympathie und Bekümmernis überstiegen alle Grenzen. Daß ein Mann wie der Pfarrer – solch ein lieber, vortrefflicher Mann – schwindsüchtig sein mußte! Es war zuviel. Geschenke von unbekannten Gebern, bestehend aus eingemachten Früchten und Gebacknem, elastischen Westen, »Seelenwärmern« und Trikotstrümpfen, strömten gleichsam in das Haus des Pfarrers, bis er mit Winterhüllen so vollständig ausgerüstet war, als wenn er im Begriff stände, eine Reise nach dem Nordpol zu unternehmen. Sechsmal an jedem Tag liefen mündliche Bulletins über seinen Gesundheitszustand im Kirchspiel um, und der Pfarrer befand sich im Zenit seiner Popularität.

Doch gerade um diese Zeit ging eine Veränderung in den Gesinnungen des Kirchspiels vor. Durch den Tod eines achtbaren, stillen, alten Mannes wurde die Predigerstelle bei der Kapelle frei. Der Nachfolger war ein blasser, schmächtiger, leichenhaft aussehender Mann mit großen schwarzen Augen und langem, straffem, schwarzem Haar. Er kleidete sich äußerst nachlässig, sein ganzes Wesen war abweisend, und noch abweisender war das, was er predigte. Mit einem Wort, er war in jeder Beziehung das Gegenstück des Pfarrers. Unsere Frauen und Mädchen strömten haufenweise hin, um ihn zu hören, zuerst, weil er so ausnehmend sonderbar aussah, dann, weil sein Gesicht höchst ausdrucksvoll war, hierauf, weil er so vortrefflich predigte, und endlich, weil sie wirklich glaubten, daß in seinem Wesen etwas ganz Unbeschreibliches läge.

Der Pfarrer war ohne Zweifel gerade so, wie er immer gewesen; allein es ließ sich nicht leugnen, daß – daß – kurzum, er war nichts Neues mehr wie der andere Geistliche. Die Unbeständigkeit der Volksgunst ist sprichwörtlich; seine Zuhörer verließen ihn einer nach dem andern. Er hustete, bis er schwarz im Gesicht wurde – es war vergeblich, Teilnahme für ihn zu erwecken. Man kann in unserer Pfarrkirche wieder überall Plätze haben, und die Kapelle soll erweitert werden, denn sie ist jeden Sonntag bis zum Erdrücken gefüllt.

Im ganzen Kirchspiel ist niemand bekannter und geachteter als eine alte Dame, die schon im Kirchspiel gewohnt hat, ehe unser – des Autors – Name in das Taufregister eingetragen wurde. Unser Kirchspiel liegt in einer Vorstadt, und die alte Dame bewohnt ein Haus in einer hübschen, aber noch auf der einen Seite freistehenden Häuserreihe, in der freiesten und angenehmsten Gegend des Kirchspiels. Das Haus ist ihr eigenes und inwendig und auswendig – nur die alte Dame sieht ein wenig älter als vor zehn Jahren aus – vollkommen in dem Zustand, in dem es bei Lebzeiten des alten Herrn war. Das kleine Wohnzimmer ist ein wahres Muster von Stille und Sauberkeit, der Teppich ist mit grauer Leinwand bedeckt, der Spiegel und die Bilderrahmen sind sorgfältig in gelben Musselin eingehüllt, die Tischdecken werden niemals abgehoben, ausgenommen, wenn die Tische gewachst werden, was regelmäßig einen über den andern Morgen nach neun Uhr geschieht, und alles und jedes, vom größten bis zum kleinsten, hat seinen bestimmten Platz, was denn auch natürlich von den Geschenken gilt, die der alten Dame von kleinen Mädchen, deren Eltern in derselben Häuserreihe wohnen, gemacht werden und seit vielen Jahren in ihrem Besitz sind, wie zum Beispiel die beiden altmodischen Uhren (von denen die eine stets eine Viertelstunde zurückbleibt und die andere eine Viertelstunde vorgeht), das kleine Bild der Prinzessin Charlotte und des Prinzen Leopold, wie sie sich in der königlichen Loge des Drury-Lane-Theaters zeigten, usw.

Hier sitzt nun die alte Dame emsig mit Nähereiarbeit beschäftigt – zur Sommerzeit am Fenster, und sieht sie dich die Treppenstufen heraufkommen und gehörst du zu ihren Günstlingen, so eilt sie hinaus, um dir, ehe du klopfst, die Haustür zu öffnen, und nötigt dir, da du vom Gehen in der Hitze ermüdet sein mußt, ein paar Glas Xeres auf, bevor du dich durch Sprechen noch mehr anstrengen darfst. Kommst du abends, so wirst du sie froh und heiter, aber doch ein wenig ernster finden als gewöhnlich. Sie hat auf dem Tisch vor sich die aufgeschlagene Bibel liegen, aus der Sarah, die ebenso sauber gekleidet und ebenso methodisch wie ihre Herrschaft ist, regelmäßig zwei oder drei Kapitel laut vorliest.

Die alte Dame sieht fast gar keine Gesellschaft, mit Ausnahme der bereits erwähnten kleinen Mädchen, von denen jedes seinen bestimmten Tag zum Teetrinken bei ihr hat, den das betreffende Kind als sein größtes Fest erwartet. Sie macht selten weitere Besuche als im zweiten Hause rechts und links, und wenn es der Fall ist, so läuft Sarah voran und klopft mit Macht, damit ihre »Frau« ja nicht vor der Tür zu warten braucht und sich einen Schnupfen holt. Sie ist höchst gewissenhaft darin, jede Einladung pünktlich zu erwidern, und gibt sie eine kleine Teegesellschaft, so putzt sie mit Sarah die Teemaschine, das Porzellanservice und die Päpstin-Johanna-Tafel auf das sorgfältigste, und die Damen werden im höchsten Staat im Besuchszimmer empfangen.

Sie hat nur wenig Verwandte, die in weiter Entfernung, der eine hier, der andere dort im Lande, wohnen und die sie daher selten sieht. Sie hat einen Sohn in Ostindien, den sie jedermann als einen herrlichen, bildschönen jungen Mann schildert – als sprechend ähnlich dem Bild seines geliebten seligen Vaters; doch fügt sie mit traurigem Kopfschütteln hinzu, daß sein Lebenswandel ihr das schwerste Leid im Leben zugefügt und ihr in der Tat das Herz fast gebrochen hätte, daß es jedoch Gott gefallen habe, ihr Kraft zu verleihen, auch das zu tragen, und man möge den Sohn in ihrer Anwesenheit doch ja nicht wieder erwähnen.

Sie hat eine große Menge Hausarme, und kehrt sie sonnabends vom Markt zurück, so findet auf dem Hausflur eine Versammlung von alten Männern und Frauen statt, die auf ihre Wochengabe warten. Ihr Name steht auf allen Beitragslisten für wohltätige Zwecke stets obenan, und ihre Beisteuer für die Winterfeuerungs- und Suppenverteilungsgesellschaft ist immer die reichlichste. Sie unterschrieb zwanzig Pfund für den Bau der Orgel in unserer Pfarrkirche und war am ersten Sonntag, als die Kinder dazu sangen, so überwältigt von ihren Gefühlen, daß sie sich von der Kirchenstuhlschließerin hinausführen lassen mußte.

Ihr Erscheinen in der Kirche ist jeden Sonntag das Signal zu einigem Geräusch im Seitengang, denn sämtliche armen Leute erheben sich und verbeugen sich und knicksen, bis die alte Dame von der Schließerin in ihren Kirchstuhl ehrfurchtsvoll hineingeknickst und die Tür hinter ihr wieder verschlossen ist. Ebenso geht es zu, wenn sie aus der Kirche mit einer Nachbarfamilie nach Hause geht und auf dem ganzen Weg von der Predigt spricht, nachdem sie die Unterredung ohne Ausnahme damit begonnen hat, daß sie den jüngsten Knaben nach dem Texte gefragt.

So verläuft das Leben der alten Dame, nur daß sie alljährlich einen kleinen Ausflug an die Seeküste macht und dort einige Zeit ein stilles Häuschen bewohnt. Ihr Leben ist schon viele Jahre so hingegangen, und sein Lauf muß bald das Ende erreichen, dem sie mit furchtloser Ruhe entgegensieht. Sie hat alles zu hoffen und nichts zu fürchten.

Ganz anders ist einer der nächsten Nachbarn der alten Dame, der sich in unserm Kirchspiel sehr hervorgetan hat. Er ist ein alter Seeoffizier auf Halbsold, und sein ungestümes und rücksichtsloses Benehmen stört die Hausordnung der alten Dame nicht wenig. Er läßt sich’s nicht abgewöhnen, Zigarren auf dem Hof vor dem Hause zu rauchen, und hebt, wenn er etwas dazu trinken will – was keineswegs selten der Fall ist – mit seinem Spazierstock den Türklopfer der alten Dame auf und bittet, ihm ein Glas Bier herauszureichen. Weiter ist er ein Tausendkünstler, oder wie er selbst sagt, »ein echter Robinson Crusoe«, und nichts bereitet ihm größeres Vergnügen, als Experimente mit Dingen zu machen, die der alten Dame gehören.

Eines Morgens stand er beizeiten auf und pflanzte zu ihrem grenzenlosen Erstaunen auf alle Beete ihres Gartens vor dem Hause Ringelblumen in voller Blüte. Sie meinte wirklich, als sie aufgestanden war und aus dem Fenster schaute, die Blumen seien über Nacht wunderbarerweise aus der Erde hervorgeschossen. Ein anderes Mal nahm er ihre acht Tage gehende Uhr, unter dem Vorwand, sie reinigen zu wollen, ganz auseinander und setzte dann das Werk auf eine bis dahin unbekannte Weise so wundervoll wieder zusammen, daß der große Zeiger seitdem nichts getan hat, als um den kleinen in verkehrter Richtung herumzulaufen.

Hierauf kam es ihm in den Sinn, Seidenwürmer zu ziehen, und er brachte sie in kleinen Papiertüten täglich mehrere Male zu der alten Dame, um sie ihr zu zeigen, und verlor fast bei jedem Besuch ein paar von den Tierchen. Die Folge war, daß eines Morgens ein recht tüchtiger Seidenwurm auf der Treppe gefunden wurde. Er kroch hinauf, wahrscheinlich in der Absicht, sieh nach seinen guten Freunden zu erkundigen; denn bei weiterem Nachsuchen wurde die Entdeckung gemacht, daß sich fast in allen Räumen des Hauses bereits einige seiner Geschlechtsgenossen eingebürgert hatten. Die alte Dame reiste in Verzweiflung an die Seeküste, und während ihrer Abwesenheit machte der Kapitän an ihrer messingnen Haustürplatte so erfolgreiche Polierversuche mit ätzenden Sachen, daß er den eingegrabenen Namen fast gänzlich austilgte.

Dies alles ist jedoch noch nichts gegen sein rebellisches, hitzköpfiges Benehmen in öffentlichen Angelegenheiten. Er besucht jede Kirchspielversammlung, tritt beständig gegen die bestehenden Autoritäten und als Ankläger der Ruchlosigkeit der Kirchenvorsteher auf, beginnt Streitigkeiten über gesetzliche Bestimmungen mit dem Kirchspielschreiber, läßt den Steuerboten so oft unverrichtetersache wieder umkehren, bis der Mann erklärt, nicht wieder zu ihm gehen zu wollen, und schickt dann das Geld durch die Post, tadelt jeden Sonntag die Predigt, erklärt laut, daß sich der Organist seines Spiels schämen müsse, und erbietet sich zu jeder Wette, die Psalmen besser singen zu wollen als sämtliche Kinder zusammengenommen – kurzum, er verursacht soviel Unruhe und Aufruhr, wie nur möglich ist. Das Schlimmste aber ist, daß er sich fortwährend bemüht, die alte Dame, weil er eine so große Achtung vor ihr hat, für seine Ansichten zu gewinnen, und deshalb mit seinem Zeitungsblatt in der Hand täglich ihr Wohnzimmer belagert und stundenlang heftig politisiert. Im Grunde seines Herzens ist er allerdings ein menschenfreundlicher, biederer alter Kauz und harmoniert auch mit der alten Dame im ganzen sehr gut, obgleich er sie oft genug ein wenig ärgert, und ist ihr Ärger verraucht, so lacht sie wie alle anderen Leute über seine Extravaganzen.

Ein lustiger Abend


Ein lustiger Abend

Pythias und Damon waren ohne Zweifel sehr wackere Leute auf ihre Art: der erstere wegen seiner ausnehmenden Bereitwilligkeit, persönliche Bürgschaft für einen Freund zu leisten, und der letztere wegen einer gewissen abtrumpfenden, kaum minder merkwürdigen Pünktlichkeit, gerade im letzten und entscheidenden Augenblicke wieder zur Stelle zu sein. Viele ihrer Charaktereigenheiten sind gegenwärtig veraltet. Damons sind in diesen Zeiten, wo sie ihrer Schulden wegen eingesperrt werden, schwer zu finden (die Scheine Damons ausgenommen, die eine halbe Krone kosten); und was die Pythiasse betrifft, so haben die wenigen, die es in diesem entarteten Zeitalter gab, die unglückliche Neigung gehabt, Versteck zu spielen, und zwar gerade in dem Moment, in dem ihr Erscheinen streng klassisch gewesen sein würde. Doch wenn sich in der neueren Zeit zu den Handlungen dieser Heroen keine Parallele findet, so ist es dafür in betreff ihrer Freundschaft der Fall. Wir haben Damon und Pythias auf der einen – Potter und Smithers auf der andern Seite; und da die letzterwähnten Namen das Ohr unserer unerleuchteten Leser mutmaßlich noch nicht erreicht haben, so können wir nichts Besseres tun, als sie mit den Eigentümern bekannt zu machen.

Wohlan denn! Mr. Thomas Potter war ein Kontorschreiber in der City, und Mr. Robert Smithers war ein Dito in ebenderselben; ihr Einkommen war beschränkt, aber ihre Freundschaft unbegrenzt. Sie wohnten in derselben Straße, dinierten jeden Tag in demselben Speisehause und zechten einer in des anderen Gesellschaft jeglichen Abend. Sie waren durch die engsten Bande der Freundschaft und Vertraulichkeit miteinander verbunden oder waren, wie Mr. Thomas Potter empfindsam bemerkte, »Dick-und-Dünn-Gefährten«. In Mr. Smithers‘ Gemütsart lag ein Anflug von Romantik – ein Strahl von Poesie – ein Aufblitzen von Zerrissenheit – eine Art Bewußtsein, er wußte nicht genau wovon, das ihn überkam, er wußte nicht recht eigentlich warum – wodurch ein schöner Gegensatz gebildet wurde zu dem Mr. Potter in einem eminenten Grade auszeichnenden munteren kecken Liebhabertaschendiebereiwesen.

Die Eigentümlichkeit ihrer Charaktere erstreckte sich auch auf ihre Kleidung. Mr. Smithers erschien in der Öffentlichkeit gewöhnlich in Überrock und Schuhen, mit einem losen, schwarzen Halstuch und einem Hut, dessen Rand stark gebogen war – Eigentümlichkeiten, die Mr. Potter durchaus mied; denn es war sein Ehrgeiz, die Elegants geringerer Klasse nachzuahmen, und er war so weit gegangen, Kapital zum Ankauf eines groben, blauen, wasserdichten Leibrocks mit hölzernen Knöpfen anzulegen, zu dem ein blumentopfuntersetzerartiger Hut mit niedriger Krone hinzukam, so daß er im Albion-Hotel und an verschiedenen andern öffentlichen und fashionablen Orten beträchtliche Sensation erregt hatte.

Mr. Potter und Mr. Smithers hatten verabredet, nach dem Empfang ihres Quartalgehaltes sich gemeinschaftlich und in Gesellschaft »einen lustigen Abend zu machen«, oder aber, wie sie sich auch ausdrückten, »den Abend recht kreuzfidel durchzubringen« – eine offenbar falsche Bezeichnung: denn alle Welt weiß, daß sich das Durchbringen nicht auf den Abend, sondern auf alles Geld bezieht, in dessen Besitze der Durchbringende sich eben befindet, wie denn beide Redensarten insofern sehr uneigentliche sind, als ihre Bedeutung dahin geht, daß noch mehrere Stunden der Nacht und des andern Morgens entlehnt und zum besagten Abend hinzugefügt werden sollen.

Der Quartalstag war endlich da – wir sagen endlich, weil Quartalstage so unberechenbar sind wie Kometen, indem sie mit erstaunlicher Raschheit von der Stelle rücken, wenn man viel zu zahlen und merkwürdig langsam, wenn man wenig zu empfangen hat. Mr. Thomas Potter und Mr. Robert Smithers blieben dem gegebenen Worte treu und machten den Anfang mit einem hübschen, reichhaltigen Mittagessen, das aus einem kleinen Aufzuge von vier Koteletts und vier Nieren, die einander folgten, bestand – einen Krug echtes und bestes Doppelbier und einige Brotpolster und Käsekeile in der Nachhut nicht zu vergessen.

Als das Tischtuch abgenommen worden war, befahl Mr. Thomas Potter dem Aufwärter, eine angemessene Quantität seines besten schottischen Whiskys nebst heißem Wasser und Zucker sowie ein paar seiner »leichtesten« Havannas zu bringen, was der Aufwärter tat. Mr. Thomas Potter mischte seinen Grog, zündete seine Zigarre an, und Mr. Robert Smithers tat dasselbe, worauf Mr. Thomas Potter scherzweise vorschlug, zu allererst »auf Abschaffung aller Kontors« zu trinken; auf diese Gesundheit wurde von Mr. Robert Smithers augenblicklich mit enthusiastischem Applaus getrunken. Sodann besprachen sie die Politika, rauchten ihre Zigarren und schlürften ihren Whisky-Grog, bis sie damit zu Ende waren. Sobald Mr. Robert Smithers dies gewahrte, ließ er eine abermalige Portion und frische Zigarren kommen, eine kleine Szene, die sich mehrere Male wiederholte, bis Mr. Robert Smithers endlich die Leichtigkeit der Havannas zu bezweifeln anfing und in hohem Maße das Gefühl hatte, als ob er rückwärts in einer Mietskutsche gefahren wäre.

Was Mr. Thomas Potter anbelangt, so lachte er eine halbe Minute um die andere laut auf, behauptete ohne alle Veranlassung oder Aufforderung in kaum artikulierten Tönen, vollkommen bei seinen fünf Sinnen zu sein, und ließ sich das Abendblatt reichen; ging aber, da er es einigermaßen schwierig fand, Neuigkeiten darin zu entdecken oder sich auch nur zu überzeugen, daß es überhaupt bedruckt war, langsam hinaus, um nach dem Kometen zu sehen, kehrte ganz blaß vom langen Himmelwärtsschauen zurück, bemühte sich, Heiterkeit darüber auszudrücken, daß sich Mr. Smithers vom Schlafe habe bewältigen lassen, legte unter hektischem Kichern den Kopf auf den Arm und schlummerte gleichfalls ein. Als er wieder aufwachte, wurde auch Mr. Smithers wach, und beide erklärten mit großem Ernst, es wäre äußerst unweise gewesen, soviel eingemachte Walnüsse zu Koteletts zu essen, da doch jedermann wisse, daß man davon stets unwirsch und schläfrig werde, und man könnte schlechterdings nicht sagen, wie schädlich sie ihnen hätten werden können, wenn der Whisky und die Zigarren nicht zum Glücke noch alles wieder gutgemacht hätten. Sie tranken daher eine Schale Kaffee, bezahlten ihre Zeche (dreizehn Schillinge mit der Erkenntlichkeit für den Aufwärter) und brachen auf, um in ihrem löblichen Unternehmen weiter voranzuschreiten.

Es war gerade halb neun; sie meinten daher nichts Besseres tun zu können, als zum Halbpreise in das Citytheater zu gehen, und verfuhren ihrer Ansicht gemäß. Mr. Robert Smithers, der, nachdem sie die Rechnung berichtigt hatten, ausnehmend poetisch geworden war, verkürzte unterwegs Mr. Thomas Potter die Zeit sehr angenehm, indem er ihm vertraulich mitteilte, daß er ein inneres Vorgefühl herannahender Auflösung habe, und fügte im Theater den Dekorationen des Hauses eine neue hinzu, indem er den Kopf und beide Arme graziös auf die Logenbrüstung sinken ließ und in dieser Attitüde abermals einschlief.

Dies war das ruhige Benehmen des anspruchslosen Smithers, und also taten sich die glücklichen Wirkungen des schottischen Whiskys und der Havannas bei diesem interessanten jungen Manne kund; Mr. Thomas Potter dagegen, der nicht wenig Wert darauf legte, sich als einen jungen Mann zu zeigen, »der es hinter den Ohren hat« und für einen »lustigen Gesellen« zu gelten, der »alles mitmacht und in Freuden lebt«, benahm sich auf eine ganz andere Weise und begann, sich zunächst sehr laut und endlich für die Langmut des Publikums zu laut zu benehmen. Sogleich bei seinem Eintreten wünschte er sämtlichen Zuschauern sehr herzlich einen guten Abend und fügte herablassend hinzu, sie möchten sich seinetwegen durchaus nicht abhalten lassen, wenn sie etwa ihren Rausch auszuschlafen wünschten. »Gebt doch dem Köter ’nen Knochen, daß er’s Maul hält«, rief ein Gentleman in Hemdärmeln. »Wo hast du dein Quart Branntwein getrunken?« rief ein zweiter, »Knote!« ein dritter, »Bartputzer!« ein vierter, »Werft ihn hinaus!« ein fünfter, während sich zahlreiche andere Stimmen zu dem wohlmeinenden Rate vereinigten, daß sich Mr. Thomas Potter »wieder hinscheren möge, wo er hergekommen sei«. Mr. Thomas Potter hörte all diese Stichelreden mit der vollkommensten Verachtung an, rückte, sooft eine Anspielung auf seine Persönlichkeit gemacht wurde, seinen Hut mit niedrigem Kopf noch etwas mehr auf das linke Ohr, stemmte die Arme in die Seite und drückte dadurch möglichst melodramatisch Herausforderung und Trotzbietung aus.

Die Ouvertüre, zu der dieses alles eine Ad-libitum-Begleitung gebildet hatte, war gespielt worden, das zweite Stück nahm seinen Anfang, und Mr. Thomas Potter, durch Straflosigkeit noch dreister geworden, fuhr fort, sich auf eine höchst unerhörte und außergewöhnliche Weise zu benehmen. Zuerst ahmte er den Triller der Primadonna nach, sodann zischte er mit dem blauen Feuer um die Wette und stellte sich an, als ob er bei Erscheinung des Geistes vor Schrecken Krämpfe bekäme, und schließlich lieferte er nicht nur mit hörbarer Stimme einen fortlaufenden Kommentar zum Bühnendialog, sondern weckte sogar Mr. Robert Smithers auf, der, als er den Freund lärmen hörte und nur eine sehr unbestimmte Vorstellung davon hatte, wo er sich befand oder was von ihm begehrt wurde, um ein gutes Beispiel nachzuahmen, ein so schauderhaftes und endloses Geheul ertönen ließ, wie es nur jemals von einem Theaterpublikum gehört worden war. Es war zuviel. »Hinaus mit den Tumultuanten!« war das allgemeine Geschrei. Man vernahm ein Geräusch wie von scharrenden Füßen und als ob ein paar Leute mit Heftigkeit gegen die Vertäfelung geworfen wurden und ein hastiges Zwiegespräch: »Hinaus – Nein – Sie sollen – Ich will aber nicht – Geben Sie mir Ihre Karte, Sir – Sie sind ein Lump, Sir«, und so fort, worauf ein Beifallssturm die Billigung des Publikums bekundete und Mr. Robert Smithers und Mr. Thomas Potter die Treppe hinunter und in die Straße hinaus mit so erstaunlicher Schnelligkeit flogen, daß sie gänzlich der Mühe überhoben waren, auch nur ein einziges Mal während der ganzen Prozedur die Füße auf den Boden zu setzen.

Mr. Robert Smithers, der keineswegs zum Vogelgeschlecht gehörte und wenigstens bis zum nächsten Quartalstage Fliegens und Mitmachens genug gehabt hatte, begann, sobald er mit dem Freunde die Ecke der Miltonstraße erreicht hatte, sich in entfernten Anspielungen auf die Süßigkeiten des Schlafs zu ergehen und darauf hinzudeuten, wie angemessen es sein dürfte, wenn er und Mr. Thomas Potter nach Islington zurückkehrten und wenn sie den Versuch anstellten, mit ihren Hausschlüsseln die Schlüssellöcher zu finden. Mr. Thomas Potter war jedoch tapferen und entschiedenen Sinnes. Sie hatten einmal beschlossen, sich einen lustigen Abend zu machen, und der Beschluß mußte ausgeführt werden. Mr. Robert Smithers, der zu drei Teilen betäubt und zu einem betrunken war, willigte verzweiflungsvoll ein; sie begaben sich daher in ein Weinhaus, um sich weitere Materialien zu einem lustigen Abend zu verschaffen, und fanden darin eine hübsche Anzahl junger Damen, verschiedene alte Herren und noch mehr trinkende und schwatzende Mietskutscher und Kabriolettführer; und Mr. Thomas Potter sowie Mr. Robert Smithers tranken kleine Gläser Branntwein und große Gläser Sodawasser, bis sie anfingen, von den Dingen im allgemeinen, wie von jeglichem Dinge im besondern nur sehr verwirrte Vorstellungen zu haben –: und als sie sich selbst bewirtet hatten, begannen sie alle anderen Leute zu traktieren, und das Ende der Vergnüglichkeit bestand in einem bunten Gemisch von Köpfen und Fersen, blauen Augen und blauen Uniformen, Straßenschmutz und Gaslichtern, dicken Eichentüren und einem Steinpflaster. Das Weitere von da an war eine »vollkommene Leere«; die Leere wurde am folgenden Morgen mit dem Wörtchen »Polizeiwache« ausgefüllt, sowie die Polizeiwache mit den Herren Smithers und Potter und dem größeren Teile ihrer Gasthausgesellschafter der vorigen Nacht nebst einem verhältnismäßig geringen Teil von Kleidungsstücken aller Art. Und auf der Polizei, zur Entrüstung der Richterbank und zum Erstaunen der Zuhörer, kam es an den Tag, wie ein gewisser Robert Smithers, angestiftet von einem gewissen Thomas Potter und unter dem Beistand »desselben«, in mehreren Straßen und zu verschiedenen Zeiten fünf Männer, vier Knaben und drei Frauen geschlagen und zu Boden geworfen; wie sich »besagter« Thomas Potter verbrecherisch in den Besitz von fünf Türklopfern, zwei Klingelgriffen und einem Frauenhut gesetzt; wie Robert Smithers, des »Besagten« Freund, wenigstens für fünfzig Pfund Flüche – das Stück zu fünf Schillingen gerechnet – ausgestoßen, ganze Straßen voll ruhiger Bürger durch fürchterliches Geschrei und Feuerrufen erschreckt, fünf Polizeidienern die Uniform verdorben und sich noch vieler anderer strafwürdiger Vergehen, zu zahlreich, um sie alle aufzählen zu können, schuldig gemacht habe. Und der Friedensrichter nahm nach einem angemessenen Vorhalt Mr. Thomas Potter und Mr. Robert Smithers jeden um fünf Schillinge in Strafe wegen Trunkenheit, wie der vulgäre Ausdruck des Gesetzes lautet, und um die Kleinigkeit von vierunddreißig Pfunden wegen siebzehn bewiesener Angriffe auf Personen, das Stück zu fünf Schilling, wobei es ihnen überlassen bleiben sollte, sich mit den Anklägern zu vergleichen.

Die Ankläger ließen mit sich reden, die Herren Potter und Smithers lebten indes ein Quartal auf Kredit, so gut sie konnten, und haben es nie wieder unternommen, sich einen lustigen Abend zu machen, obwohl die Ankläger sich sehr bereit erklärten, unter denselben Bedingungen zweimal wöchentlich Angriffe auf ihre Personen zu erdulden.

Ein Weihnachtsschmaus


Ein Weihnachtsschmaus

Weihnacht! – Der muß wahrlich ein Menschenhasser sein, in dessen Brust durch die Wiederkehr des Weihnachtsfestes kein frohes Gefühl, in dessen Seele durch sie keine freundliche Erinnerung geweckt wird. Es gibt Leute, die euch sagen werden, Weihnacht wäre nicht mehr für sie, was es vormals gewesen – bei jedem neuen Christfeste hätten sie sich um eine teure Hoffnung, eine schöne Aussicht ärmer als das Jahr zuvor gefunden, und das neueste erinnere sie nur an ihre verschlimmerte Lage, ihr vermindertes Einkommen – an die Gastereien, zu denen sie einst vorgebliche Freunde geladen und die kalte Begegnung, die ihnen jetzt in ihrem Unglück widerführe. Hinweg mit so trübseligen Gedanken – wiewohl jeder sie in sich hervorrufen kann an jedem Tag im Jahr, der lange genug die Welt gesehen. Erwählt nicht den frohesten der dreihundertundfünfundsechzig zu euren schmerzlichen Rückerinnerungen, sondern rückt euren Stuhl näher an das prasselnde Feuer – füllt die Gläser und stimmt den Rundgesang an – und ist euer Zimmer kleiner, als es vor einem Dutzend Jahren war, und ist euer Glas mit dampfendem Punsch statt mit funkelndem Weine gefüllt, so nehmt die böse Zeit auch für gut, leert es flugs, trällert euer altes Lieblingslied und dankt Gott, daß es nicht noch schlimmer mit euch steht. Schaut nur die fröhlichen Gesichter eurer am Kamin versammelten Kinder an! Vielleicht ist ein kleiner Stuhl leer – fehlt ein liebes, kleines Haupt, dessen Anblick des Vaters Herz erfreute und der Mutter Stolz erweckte. Laßt das Vergangene hinter euch – denkt nicht daran, daß das liebliche Kind, dessen Gestalt jetzt zu Staub zerfällt, noch vor einem kurzen Jahre mit der Blüte der Gesundheit auf den Wangen und mit Augen, strahlend in kindlicher, ahnungsloser Lust, vor euch saß. Gedenkt der Segnungen, deren ihr euch jetzt erfreut – deren viele einem jeglichen zuteil werden – nicht eurer vergangenen trüben Schicksale, deren mancherlei einen jeden treffen. Füllt euer Glas abermals mit fröhlichen Mienen und einem zufriedenen Herzen. Wir bürgen euch mit unserm Leben dafür, euer Weihnachtsfest wird heiter und euer neues Jahr glücklich sein.

Wer wäre unempfindlich gegen die Ergießungen guter und edler Gefühle, jenes Nehmen und Geben von Zärtlichkeit und Liebe, woran diese Zeit des Jahres so reich ist? Eine Familienweihnachtsfeier! Wir kennen nichts Herrlicheres. Schon in dem Namen Weihnacht scheint ein Zauber zu liegen. Kleine Eifersüchteleien und Zerwürfnisse sind vergessen; Mürrische, die sich seit langer Zeit absonderten, werden gesellig; Vater und Sohn oder Bruder und Schwester, die Monate lang mit kalten oder gar abgewendeten Blicken aneinander vorübergingen, schließen einander inbrünstig in die Arme und vergessen bei ihrem gegenwärtigen Frohsinn und Glück die Streitigkeiten, die ihre Einigkeit unterbrach; Herzen, die sich nacheinander sehnten, aber durch falschen Stolz, übertriebene Begriffe von Selbstwürde getrennt waren, werden wiederum vereinigt, und alles atmet Wohlwollen und liebende Zuneigung. O, daß Weihnacht das ganze Jahr hindurch währte, und daß die unsere bessere Natur entstellenden Vorurteile und Leidenschaften zum wenigsten niemals die trennten, denen sie stets fremd bleiben sollten!

Die Weihnachtsfamiliengesellschaft, die wir im Sinne haben, ist mitnichten eine bloße Versammlung von Verwandten, die verabredet wurde vor ein paar Wochen, nur für dieses Jahr, ohne eine Vorläuferin im zu Ende gehenden, oder eine wahrscheinliche Wiederholung im folgenden zu haben; nein, eine jährlich wiederkehrende Vereinigung aller, nur nicht gar zu entfernt wohnender, junger und alter, reicher und armer Familienmitglieder, der sämtliche Kinder zwei Monate vorher in fiebriger Erwartung entgegensehen. Sonst war sie beim Großvater; aber der Großvater und die Großmutter sind zu alt und zu schwach geworden, haben den eigenen Haushalt aufgegeben und ihre Wohnung beim Onkel George genommen. Die Gesellschaft versammelt sich daher stets in Onkel Georges Hause, nur tut die Großmutter unabänderlich das Beste dazu, und der Großvater läßt es sich nicht nehmen, nach dem entfernten Newgatemarkte zu wandern und den Truthahn zu kaufen, den er sich im Triumph nachtragen läßt; und der Träger muß dann stets außer dem bedungenen Lohn sein Gläschen haben, um Tante George »ein fröhliches Weihnachtsfest und ein glückliches Neujahr zuzutrinken«. Die Großmutter ist in den letzten Tagen äußerst verschwiegen und geheimnisvoll, obwohl demungeachtet Gerüchte umlaufen, daß sie für die Mägde neue Hauben mit roten Bändern, für die Kinder Bleistifte, Federn und Bücher eingekauft, und Tante Georges Bestellung beim Zuckerbäcker noch ihre besondere hinzugefügt habe.

Am Heiligen Abend ist die Großmutter ohne Ausnahme in rosiger Laune; und nachdem sie die Kinder den ganzen Tag mit Rosinenauskernen beschäftigt hat, besteht sie regelmäßig darauf, daß Onkel George in die Küche herunterkommt, den Rock auszieht und ein halbes Stündchen den Pudding rührt, was Onkel George zum lärmenden Entzücken der Kinder und der Dienerschaft auch gutmütig tut, und der Abend schließt dann mit einem großartigen Blindekuhspiel, wobei sich der Großpapa absichtlich sehr bald haschen läßt, um Gelegenheit zu erhalten, seine Behendigkeit zu zeigen.

Am folgenden Morgen geht das alte Paar mit so vielen von den Kindern, wie der Kirchenstuhl fassen kann, in großem Staate zur Kirche, während Tante George zu Hause Karaffen abstaubt und Kuchenteller füllt und Onkel George Flaschen in das Speisezimmer trägt und nach Korkziehern ruft und jedermann in den Weg läuft. – Wenn die Kirchgänger zum Lunch zurückkehren, zieht der Großvater einen kleinen Mistelzweig aus der Tasche und treibt die Knaben an, ihre kleinen Bäschen darunter zu küssen – was sowohl den Knaben als dem alten Herrn unsägliches Vergnügen gewährt, aber Großmutters Schicklichkeitsbegriffen einigermaßen zuwider ist. Der Großvater erklärt indes endlich, daß er, als er gerade dreizehn Jahre und drei Monate alt gewesen wäre, die Großmutter auch unter einem Mistelzweig geküßt habe, worauf die Kinder in die Hände klatschen und samt Onkel und Tante George in ein lautes und herzliches Gelächter ausbrechen, und die Großmutter sagt dann schmunzelnd und mit einem sehr gnädigen Lächeln, der Großvater sei immer ein Hans Leichtfuß gewesen, worüber die Kinder abermals herzlich lachen, und der Großvater herzlicher als irgendeins von ihnen.

Doch das alles ist noch nichts gegen die Last, wenn sich die Großmutter in einer hohen Haube und einem schieferfarbenen seidenen Kleid und der Großvater mit einem schöngefalteten Busenstreifen und weißen Halstuch in den Kaminwinkel setzen, und Onkel Georges Kinder und die unzähligen kleinen Vettern und Bäschen vor dem Kamin Platz nehmen und sehnsüchtig der Besucher harren. Endlich fährt eine Mietskutsche vor, und Onkel George sieht durch das Fenster und ruft: »Da ist Jane!« worauf die Kinder aus der Tür und holterpolter die Treppe hinunterstürmen und unter Jubelgeschrei Onkel Robert und Tante Jane, die Wärterin mit dem jüngsten Kind und wer sonst noch mitgekommen, die Treppe hinaufbegleiten. Der Großvater nimmt das Kind auf den Arm und die Großmutter küßt ihre Tochter, und der Tumult hat sich kaum ein wenig gelegt, als abermals Onkel und Tanten mit noch mehr Vetterchen und Bäschen eintreffen; und die Heranwachsenden unter den Vettern charmieren mit den heranwachsenden Basen, und die Kleinen tun es ihnen nach, und man hört nichts als ein verwirrtes Durcheinanderreden, Schwatzen, Lachen und Jubilieren.

Nach einiger Zeit vernimmt man während einer augenblicklichen Pause ein zögerndes, schüchternes Klopfen an der Haustür, und von allen Seiten wird gefragt, wer da sei. Und ein paar Kinder, die am Fenster gestanden, erwidern mit leiser Stimme: »Die arme Tante Margarete«, worauf Tante George hinausgeht, die Ankommende zu empfangen, und die Großmutter sich in die Brust wirft und ziemlich steif zurechtsetzt; denn Margarete heiratete ohne ihre Zustimmung einen armen Mann, und da Armut noch keine genügende Strafe für ihr Vergehen ist, so haben ihre Freundinnen mit ihr gebrochen und ihre nächsten Verwandten den Umgang mit ihr aufgehoben. Doch jetzt ist Weihnacht.

Wie das halbgebildete Eis vor der Morgensonne zerfließt, schmilzt die harte Herzrinde, die im Laufe des Jahres freundlichere und mildere Gefühle nicht durchbrechen ließ, vor der gesegneten Weihnachtsgeisteshelle und Herzenswärme. Es mag leicht geschehen, daß eine Mutter in einem Augenblicke der Entrüstung eine ungehorsame Tochter von sich entfernt; aber ganz etwas anderes ist es, sie zu einer Zeit, wo sich alle Herzen dem Wohlwollen und der Heiterkeit öffnen, von dem Herde zu verbannen, an dem sie so manches Christfest gesessen hat, als stammelndes Kind, als aufblühendes Mädchen und als rosige Jungfrau. Die Miene der Selbstgerechtigkeit und des kalten Verzeihens, die die alte Dame angenommen hat, steht ihr schlecht, und man sieht leicht, daß sie nur erkünstelt ist, indem die Schwester der Mutter die Arme zuführt, die sich bleich und niedergebeugt nähert, nicht infolge ihrer Dürftigkeit, die sie zu ertragen gelernt hat, sondern weil sie das Bewußtsein in sich trägt, unverdiente Härte und Vernachlässigung zu erfahren. Es tritt ein augenblickliches Stillschweigen ein. Sie reißt sich plötzlich von der Schwester los und wirft sich schluchzend an der Mutter Brust. Der Vater ergreift rasch ihres Gatten Hand. Die andern Anverwandten versammeln sich um sie, sprechen freundliche Glückwünsche aus, und Frohsinn, Herzlichkeit und Einigkeit herrschen wieder wie vorhin.

Das Mittagessen, der Christfestschmaus, ist nun gar eine königliche Lustbarkeit geworden! Nichts Störendes kommt vor, alle sind in der besten Laune und bemühen sich, zufrieden und froh zu machen und froh und zufrieden sein. Der Großvater erzählt ausführlich, wie es bei seinem Truthahnkauf zugegangen ist, und schweift zu früheren Truthahneinkäufen an früheren Christfesten ab, und die Großmutter bestätigt ihn in den geringfügigsten Kleinigkeiten. Onkel George erzählt Geschichten, tranchiert Geflügel, trinkt Wein und scherzt mit den Kindern am Nebentisch, blinzelt den Vettern und Basen zu, die scharmieren oder mit sich scharmieren lassen, und erheitert jedermann durch seine gute Laune und Gastlichkeit, und wenn endlich die stramme Köchin mit einem Riesenpudding, in dem ein Stechpalmzweig steckt, hereinwankt, so beginnt ein Lachen, Jubeln und Händeklatschen, das seinesgleichen nur hat, wenn angezündeter Branntwein in die Fleischpastetchen hineingegossen wird. Und dann der Nachtisch, der Wein, und aller Scherz und alle Lust dabei! Was für prachtvolle Reden gehalten werden, und welche Lieder Tante Margaretens Mann singt, der sich als ein so allerliebster Mann zeigt und so aufmerksam gegen die Großmutter ist! Der Großvater singt nicht nur sein jährliches Lied mit beispiellosem Feuer, sondern stimmt, sobald er, dem jährlichen Brauche gemäß, durch ein allgemeines Dakapo beehrt ist, ein ganz neues an, das außer der Großmutter noch niemand gehört hat; und ein junger Tausendsasa von Vetter, der wegen gewisser arger Unterlassungs- und Begehungssünden bei den alten Leuten in einiger Ungnade steht – er versäumt es, sie zu besuchen, und trinkt allen Vorstellungen zum Trotze Burtoner Ale – erregt unauslöschliches Gelächter durch ein so komisches Lied, wie wohl noch nie eins gesungen ist. Und so vergeht der Abend bei fortwährender Herzlichkeit und Heiterkeit und wirkt mehr zur Erweckung verwandtschaftlicher und liebevoller Gefühle und Gesinnungen bei den Versammelten für den Abend, sowie für das ganze kommende Jahr, als alle Predigten, die jemals geschrieben wurden von allen Geistlichen, die jemals gelebt haben.

Das neue Jahr


Das neue Jahr

Nächst Weihnacht ist Neujahr die lustigste Zeit des ganzen Jahres. Es gibt weinerliche Leute, die das neue Jahr mit Wachen und Fasten beginnen, als wenn es ihnen obläge, beim Begräbnis des alten in der Rolle des Hauptleidtragenden zu agieren. Wir können jedoch nicht umhin, es weit schmeichelhafter sowohl für das entschwindende alte als das eben erscheinende neue Jahr zu halten, daß man in fröhlicher Lust den alten Knaben entläßt und das neugeborene Kindlein begrüßt.

Im alten Jahr muß sich doch wohl einiges zugetragen haben, worauf wir mit einem Lächeln heiterer Erinnerung, wo nicht mit Gefühlen innigen Danks zurückblicken können; und jede Rechts- und Billigkeitsregel verpflichtet uns ja, von dem neuen Jahr anzunehmen, daß es gut sein werde, bis es sich des ihm bewiesenen Vertrauens unwürdig gezeigt hat.

Dies ist unsere Ansicht der Sache; und weil wir sie hegen, sitzen wir hier, trotz unserem Respekt vor dem alten Jahr, dessen letzte Augenblicke, indem wir die Feder führen, dahinschwinden: sitzen wir hier am letzten Abend des alten Jahres eintausendachthundertundsechsunddreißig an unserem Kamin und schreiben diese Skizze und schlürfen unseren Grog mit so fröhlicher Miene, als wenn sich gar nichts Außerordentliches, das unseren Gleichmut hätte stören können, zugetragen hätte oder zutragen könnte.

Mietskutschen und Equipagen rasseln in ewiger Folge die Straße hinauf und herunter und tragen ohne Zweifel geputzte Gäste in gefüllte Gesellschaftszimmer; laute und wiederholte Doppelschläge an die Tür des Hauses mit den grünen Jalousien gegenüber verkünden der ganzen Nachbarschaft, daß jedenfalls eine große Gesellschaft in der Straße gegeben wird; und wir sahen durch unser Fenster und obendrein durch den Nebel, bis er so dick wurde, daß wir Licht bringen ließen und unsere Vorhänge zuzogen, Konditorlehrlinge mit grünen Kästen auf den Köpfen und Karren, voll von Geräten für die Abendgesellschaften nach den vielen Häusern eilen, in denen sich Silvestergesellschaften versammelten.

Uns deucht, wir können uns eine solche Gesellschaft so lebhaft vorstellen, als wenn wir, gehörig befrackt und beballschuht, bei Ankündigung unseres Namens an der Besuchszimmertür ständen – etwa in dem Hause mit den grünen Jalousien. Man gibt dort eine Ballgesellschaft, denn als wir heute morgen bei unserem Frühstück saßen, sahen wir, daß im Besuchszimmer der Teppich weggenommen wurde, und, wenn es noch weiteren Beweises bedürfte und wenn wir die Wahrheit sagen müssen, wir sahen erst eben noch eine der jungen Damen nicht weit von einem Schlafzimmerfenster einer anderen das Haar »machen«, und zwar in einem so glänzenden Stil, wie er nur für eine Ballgesellschaft statthaft ist. – Der Herr des Hauses mit den grünen Jalousien ist ein öffentlicher Beamter; wir schließen es aus dem Schnitt seines Rockes, der Schleife seines Halstuchs und der Selbstgenügsamkeit seines Ganges – schon die grünen Jalousien haben ein Somerset-House-Air.22

Horch! Ein Kabriolett! Der Anlangende ist ein jüngerer Attaché aus demselben Büro, ein nicht wenig auf sein Äußeres haltender junger Mann mit einer Neigung zu Schnupfen und Hühneraugen. Er erscheint in tuchbesetzten Stiefeln, bringt die Schuhe in der Rocktasche mit und zieht sie im Hausflur an. Der Aufwärter im letzteren ruft seinen Namen einem zweiten Aufwärter – einem verkleideten Pedell des Büros – in einem blauen Leibrock zu.

Der Aufwärter auf dem ersten Treppenabsatz geht dem jungen Herrn nach dem Besuchszimmer voran, öffnet die Tür und schreit hinein: »Mr. Tupple!« Der Hausherr, der am Kamin politisiert und sich gewärmt hat, tritt ihm entgegen und erkundigt sich nach seinem Befinden. »Meine Liebe, dies ist Mr. Tupple« (die Dame vom Hause knickst verbindlich); »Mr. Tupple, meine älteste Tochter; liebe Julie, Mr. Tupple; Tupple, meine anderen Töchter und mein Sohn«, – und Mr. Tupple reibt sich die Hände sehr stark, verbeugt sich in einem fort links und rechts, bis die ganze Familie vorgestellt ist, läßt sich sodann auf einen Stuhl an der Sofaecke nieder, eröffnet eine Unterhaltung mit den jungen Damen über das Wetter, die Theater, das alte Jahr, die neueste Mordtat, den Luftballon, die Ärmel der Frauenkleider, die Lustbarkeiten der »Season« und eine Menge anderer Gegenstände des Tagesgesprächs. Abermalige Doppelschläge! Welch eine zahlreiche Gesellschaft – welch ein unaufhörliches Unterhaltungsgesumm und Kaffeeschlürfen! Wir sehen Tupple im Geist auf seiner höchsten Glanzstufe. Er hat soeben die Tasse der dicken alten Dame dem Aufwärter gereicht und verliert sich jetzt in dem Haufen der jungen Herren an der Tür, um den andern Aufwärter, ehe er hinausgeht, abzufangen und sich des Semmeltellers für die Tochter der alten Dame zu bemächtigen; und als er mit dem Teller am Sofa vorübergeht, wirft er den jungen Damen einen so herablassenden und vertraulichen Erkennungs- und Gönnerblick zu, als ob er sie von Kindheit an gekannt hätte.

Ein bezaubernder junger Mensch, der Mr. Tupple – ein vollkommener Kavalier – und welch ein herrlicher Gesellschafter! Und was sein Lachen betrifft! – Niemand verstand jemals Papas Scherze nur halb so gut wie Mr. Tupple, der sich bei jedem neuen Witzwort vor Lachen ausschütten wollte. Und welch ein angenehmer Mitspieler er ist! – Spricht während der ganzen Partie, und so romantisch, mit so erstaunlich viel Gefühl, wenn er sich auch anfangs etwas leichtfertig zeigte. Mit einem Worte, ein wahres Herz! Bei den jungen Herren ist er freilich eben nicht beliebt. Sie bespötteln ihn und stellen sich, als ob sie ihn verachteten; aber jedermann weiß, es ist purer Neid, und sie brauchten sich ganz und gar nicht zu bemühen, ihn zu verkleinern, denn die Mutter hat gesagt, er solle künftig zu jeder Mittagsgesellschaft eingeladen werden, schon um die Gäste zwischen den Gängen zu unterhalten und ihre Aufmerksamkeit zu beschäftigen, wenn eine unerwartete Verzögerung in der Küche einträte.

Bei Tisch zeigt sich Mr. Tupple noch mehr zu seinem Vorteil, als er es den ganzen Abend getan hat, und wenn der Hausherr die Gesellschaft bittet, die Gläser zu füllen, um Glück zum neuen Jahre zu trinken, ist Mr. Tupple so unendlich spaßhaft, besteht darauf, daß sämtliche junge Damen wirklich gefüllte Gläser haben müssen, trotz ihrer wiederholten Versicherungen, unmöglich austrinken zu können, bittet endlich um die Erlaubnis, Vaters Worten noch einige wenige hinzufügen zu dürfen, und hält eine so glänzende und poetische Rede über das neue und alte Jahr, wie man sich nur eine denken kann.

Nachdem die Gesundheit getrunken ist und die Damen sich entfernt haben, ersucht Mr. Tupple sämtliche Herren um die Gunst, abermals ihre Gläser zu füllen, denn er hat eine zweite Gesundheit in Vorschlag zu bringen. Die Herren rufen: »Hört, hört!« lassen die Flaschen herumgehen, und sobald der Wirt erklärt hat, daß die Gläser gefüllt seien und daß man auf die Gesundheit warte, erhebt sich Mr. Tupple und erlaubt sich, die Anwesenden daran zu erinnern, wie sehr sie durch die Fülle blendender Eleganz und Schönheit, die das Besuchszimmer an diesem Abend gewährt habe, entzückt, und wie hold umfangen ihre Sinne, wie gefesselt ihre Herzen gewesen durch den zauberischen Verein liebenswürdiger Damen. (Lautes und mehrfaches Hört!) Sosehr er (Tupple) sich indes sonst geneigt fühlen möge, die Abwesenheit der Damen, zu beklagen, so könne er doch nicht umhin, einigen Trost in der Erwägung zu finden, daß es ihm eben durch ihre Nichtanwesenheit möglich werde, eine Gesundheit vorzuschlagen, die er jetzt nur vorschlagen könne – die Gesundheit der Damen (großer Beifall), unter denen die holdseligen Töchter des trefflichen Wirts gleich sehr durch ihre Schönheit wie durch ihre feine Bildung hervorglänzten. Er forderte die Herren auf, ihre Gläser zu Ehren der Damen und auf ein glückliches neues Jahr für sie zu leeren. (Verlängerter Beifall, unter dem man jedoch deutlich hört, wie die Damen über den Köpfen der Herren den spanischen Tanz miteinander üben.)

Das Beifallrufen ist kaum vorüber, als ein junger Herr in einer rosa Unterweste ziemlich unten am Tische äußerst unruhig hin und her zu rücken anfängt und starke Anzeichen eines geheimen Wunsches blicken läßt, seinen Gefühlen durch eine Rede Luft zu machen. Der schlaue Tupple bemerkt es sogleich und beschließt, es dadurch zu verhindern, daß er selbst das Wort abermals nimmt. Er steht daher mit feierlich-wichtiger Miene auf und hofft, daß man ihm erlauben werde, noch eine Gesundheit vorzuschlagen (großer Beifall); ist überzeugt, daß alle von der Gastlichkeit – er könne sagen, der glänzenden Gastlichkeit –, die sie an diesem Abend von ihren ehrenwerten Wirten erfahren hätten, auf das tiefste durchdrungen sind (unbegrenzter Beifall). Obwohl dies die erste Gelegenheit ist, bei der ihm die hohe Freude zuteil geworden sei, an diesem Tische zu sitzen, so hat er doch seinen Freund Dobble schon lange und genau gekannt; er hat in Geschäftsverbindung mit ihm gestanden und wünscht, daß alle Anwesenden Dobble so gut kennen möchten wie er selbst. (Der Wirt hustet.) Er kann die Hand auf das Herz legen und seinen festen Glauben aussprechen, daß es nie und nirgends einen besseren Mann, einen besseren Gatten, einen besseren Vater, einen besseren Bruder, einen besseren Sohn, einen besseren Anverwandten und wohlmeinenderen Freund gegeben habe als Dobble. (Lautes Hört!) Die Anwesenden haben ihn an diesem Abende im friedlichen Schoße seiner Familie gesehen – daß sie ihn doch morgens sehen könnten bei Ausübung der schweren Pflichten seines Amts! – gesammelt beim Zeitungslesen, anspruchslos bei Unterzeichnung seines Namens, würdevoll bei seinen Antworten auf die vielfachen an ihn gerichteten Fragen, ehrerbietig in seinem Benehmen gegen die Vorgesetzten, majestätisch in seiner Haltung gegen die Pedelle. (Hurras.) Wenn er (Tupple) den trefflichen Eigenschaften seines Freundes Dobble die verdiente Würdigung angedeihen lasse, was könne er sagen, wenn er von einer Dame wie Mrs. Dobble zu reden beginne? Sollte es erforderlich sein, daß er sich über die Tugenden und Vorzüge dieser liebenswürdigen Frau verbreite? Nein; er will das Zartgefühl seines Freundes schonen, wenn er ihm die Ehre erlaubt, ihn so zu nennen. Mr. Dobble junior! (Mr. Dobble junior, der gerade den Mund zu einer beträchtlichen Weite ausgedehnt hat, um eine ausgezeichnet schöne Apfelsine hineinzustecken, unterbricht seine Operationen und nimmt die schickliche Miene tiefer Melancholie an.) Er (Tupple) begnügt sich, einfach zu sagen – und ist von der freudigen Zustimmung aller ihn Anhörenden vollkommen überzeugt, daß sein Freund Dobble so hoch über jedem Manne stehe, den er je gekannt, als Mrs. Dobble alle Damen, die er jemals gesehen hätte (ihre Töchter ausgenommen) überrage, und will damit schließen, daß er die Gesundheit vorschlägt: »Die ehrenwerten Wirte, und mögen sie noch viele glückliche und frohe Jahre leben!«

Die Gesundheit wird mit Jubel getrunken – der Wirt dankt – und die ganze Gesellschaft verfügt sich zu den Damen. Junge Herren, die vor dem Abendessen zum Tanzen zu schüchtern waren, finden Zungen und Tänzerinnen; die Musiker verraten durch unzweideutige Symptome, daß sie in das neue Jahr »hinein« getrunken haben, während die Gesellschaft draußen gewesen, und das Tanzen hat seinen Fortgang bis spät in den Neujahrsmorgen hinein.

Wir haben kaum das letzte Wort des letzten Absatzes niedergeschrieben, als der erste Schlag der Mitternachtsstunde von den Kirchen umher ertönt. Es liegt etwas Schaurigfeierliches in dem Klang. Genaugenommen mag er in der Neujahrsnacht nicht herzbewegender sein als in jeder anderen, und die Stunden entfliehen zu anderen Zeiten ebenso rasch, und wir beachten ihre Flüchtigkeit nur wenig. Allein, wir messen unser Leben eben nach Jahren; ernst und feierlich sind darum die Töne, die uns verkünden, daß wir abermals an einer der zwischen uns und dem Grabe errichteten Marken stehen, und ob und wie wir uns seiner auch erwehren möchten, unwiderstehlich drängt sich uns der Gedanke auf, daß wir, wenn die Glocke abermals ein neues Jahr verkündigt, die so oft vernachlässigte Mahnung vielleicht nicht mehr vernehmen, daß vielleicht alle jetzt noch in uns glühenden warmen Gefühle erloschen sind.

Doch es hat zwölf Uhr geschlagen, und die das neue Jahr begrüßenden Glocken klingen lustig zusammen. Hinweg denn mit allen düstern Betrachtungen! Wir waren glücklich und froh im vergangenen und werden froh und glücklich, so es Gott gefällt, auch in diesem Jahre sein. Und da wir allein sind und es weder tanzend noch singend empfangen können – wohlan! das Glas an die Lippen, und: Sei herzlich willkommen, du Jahr Eintausendachthundertsiebenunddreißig! Wenn es unsere Aufgabe wäre, die Gesellschaft zu klassifizieren, so würden wir eine gewisse besondere Art von Leuten sogleich unter den Titel: »Alte Knaben« bringen; und sie würden eine beträchtliche, lange Spalte erfordern. Welcher Ursache das rasche Zunehmen der Alte-Knaben-Bevölkerung zuzuschreiben ist, dies vermögen wir nicht zu sagen. Eine Nachforschung darüber dürfte zu interessanten und merkwürdigen Ergebnissen führen; allein wir haben hier den Raum nicht, sie anzustellen, und begnügen uns daher mit einfacher Angabe der Tatsache, daß sich die Zahl der alten Knaben seit den letzten Jahren allmählich vergrößert hat und in diesem Augenblicke in einem beunruhigenden Maße zunimmt.

Die Sache nur im allgemeinen genommen, möchten wir die alten Knaben in zwei genau unterschiedenen Abteilungen unterbringen – die der munteren und die der gesetzten alten Knaben. Jene sind hanswurstige alte und spielen die jungen Männer, frequentieren bei Tage den Quadranten und Regent-Street und abends die Theater (besonders die unter Damenleitung stehenden) und nehmen die ganze Geckenhaftigkeit und Leichtfertigkeit der jungen Leute an, ohne die Entschuldigung der Jugend und Unerfahrenheit für sich zu haben. Diese, die gesetzten alten Knaben, sind dicke alte Herren, tragen sich reinlich, besuchen jeden Abend zu denselben Stunden dieselben Gasthäuser und rauchen und trinken in derselben Gesellschaft.

Man fand einst alle Abende zwischen halb neun und halb zwölf Uhr eine schöne Sammlung alter Knaben an dem runden Tische in Offleys Restauration. Wir haben sie seit einiger Zeit aus den Augen verloren, aber im »Regenbogen« in der Fleetstraße sieht man noch zwei köstliche Exemplare in voller Blüte, die unabänderlich in dem Verschlag zunächst dem Kamin sitzen und aus so langen Kirschrohren rauchen, daß die Pfeifenköpfe auf dem Boden ruhen. Sie sind stolze, alte Knaben – wohlbeleibt, rotwangig, weißköpfig – fehlen niemals – nehmen stets ihre bestimmten Plätze einander gegenüber ein – schmauchen und trinken tapfer darauflos, ohne das mindeste Unbehagen deswegen zu empfinden – jedermann kennt sie, und von einigen werden sie für unsterblich gehalten.

Mr. John Dounce war ein alter Knabe der letzteren Klasse (der der gesetzten – nicht daß er unsterblich gewesen wäre), ein Handschuhmacher, der sich vom Geschäft zurückgezogen hatte, Witwer mit drei erwachsenen und unverheirateten Töchtern, und wohnte in Cursitor-Street, Chancery-Lane. Er war kurz und dick, hatte ein Vollmondgesicht und einen Bauch, trug einen breitrandigen Hut und einen karierten Rock, und hatte den, alten Knaben überhaupt eigentümlichen, bedächtigen, selbstzufriedenen, wiegenden Gang. Er lebte regelmäßig wie ein Uhrwerk – Frühstück um neun Uhr – Ankleiden und ein wenig Toilette machen – Gang in irgend jemands Kopf (Mohren-, Adler- oder Löwenkopf) – Glas Ale und die Zeitung – Spaziergang mit den Töchtern – Mittagessen um drei Uhr – Glas Grog und Pfeife – Schläfchen – Tee – kleiner Spaziergang – abermaliger Kopfbesuch – vortreffliches Haus! – köstliche Abende und wundervolle Gesellschaft, als: Mr. Harris, der Buchhändler, und Mr. Jennings, der Robenmacher (zwei fidele junge Kerlchen wie er selbst), und Jones, der Advokatenschreiber – ein schnurriger Kauz, der Jones – prachtvoller Gesellschafter – steckt ganz voll von Anekdoten. Und da saßen sie jeden Abend bis genau zehn Minuten vor zwölf Uhr, tranken ihren Branntwein mit Wasser, rauchten ihre Pfeifen, erzählten einander Geschichten und genossen einander mit einer Art absonderlich erbaulicher, feierlicher Vergnüglichkeit.

Bisweilen schlug Jonas einen Halbpreisbesuch in Drury-Lane oder Covent-Garden vor, zwei Akte eines fünfaktigen Schauspiels und eine neue Posse oder ein Ballett zu sehen, und dann gingen alle vier miteinander – ohne sich wie Toren zu übereilen; denn sie tranken erst mit gemächlicher Würde ihre Gläser aus, bestellten Steak und einige Austern auf nachher und begaben sich sodann langsam-feierlich in das Parterre, nachdem sich der Andrang verlaufen hatte, wie es alle vernünftigen Leute tun und auch taten, als Mr. Dounce noch ein junger Mann war, ausgenommen damals, als der berühmte Wunderknabe Mr. Betty auf dem Höhepunkte seiner Popularität stand, wo sich Mr. Dounce, wie er sich auf das genaueste erinnerte, einen freien Tag machte, um elf Uhr vormittags an die Tür des Schauspielhauses ging, mit ein paar Sandwiches in einem Taschentuche und ein paar Tropfen Wein in einem Fläschchen bis sechs Uhr abends wartete und vor Hitze und Ermüdung ohnmächtig wurde, ehe das Schauspiel seinen Anfang nahm, bis er in diesem Zustande aus dem Parterre in eine Loge des ersten Ranges gehoben wurde, mein Bester, und zwar von fünf der berühmtesten Schönheiten jener Zeit, mein Bester, die sich seiner so huldreich annahmen, ihn durch Riechsalze zur Besinnung zurückbrachten und am folgenden Morgen einen sechs Fuß hohen, schwarzen Diener in blau und silberner Livree schickten und ihn grüßen und sich nach seinem Befinden erkundigen ließen, Verehrtester – bei Gott! In den Zwischenakten pflegten die Herren Dounce, Harris und Jennings aufzustehen und im Hause umherzuschauen, und Jones – das Allerweltskerlchen kannte jedermann – zeigte dann den andern die vornehme und berühmte Lady Soundso in der Loge, worauf Mr. Dounce durch sein Haar fuhr, sein Halstuch zurechtzupfte, besagte Lady Soundso durch ein ungeheures Glas beäugelte und bemerkte, daß sie »eine schöne – in der Tat eine sehr schöne Frau sei« – oder »daß sie etwas voller sein könnte«, oder was ihm sein Genius sonst eben eingab. Wenn das Ballett begann, so zeigten sich John Dounce und die anderen alten Knaben ganz ausnehmend begierig, zu sehen, was auf der Bühne vorging, und Jones – ein witziger Bursche, der Jones – flüsterte John Dounce kleine, kritische Bemerkungen ins Ohr, die John Dounce wieder den andern beiden alten Knaben mitteilte, und dann lachten sie alle vier, daß ihnen die Tränen über die Wangen herunterliefen.

War der Vorhang gefallen, so gingen sie miteinander je zwei und zwei zu ihrem Steak und ihren Austern zurück; und wenn sie sich ihr zweites Glas Branntwein mit Wasser bringen ließen, dann erzählte Jones – der in schelmischem Aufziehen seinesgleichen suchte –, wie er eine Dame mit weißen Federn in einer Parterreloge bemerkt, die den ganzen Abend kein Auge von Mr. Dounce abgewendet, und wie er Mr. Dounce in einem Moment, wo er sich unbeachtet gewähnt hätte, der Dame hinwiederum leidenschaftliche Blicke habe zuwerfen sehen. Darüber lachten Mr. Harris und Mr. Jennings ausgelassen, und John Dounce schlug ein noch ausgelasseneres Gelächter auf, erklärte dabei jedoch, daß es freilich eine Zeit gegeben habe, wo er dergleichen wohl getan haben könnte; worauf ihn Jones in die Rippen stieß und ihm sagte, er werde es seinerzeit arg genug getrieben haben, was John Douncce kichernd zugestand. Und nachdem Mr. Harris und Mr. Jennings ebenfalls ihre Ansprüche, es zu ihrer Zeit arg genug getrieben zu haben, geltend gemacht hatten, sagten alle vier einander sehr einträchtig gute Nacht und gingen nach Hause.

Die Schicksalsbeschlüsse und die Wege, auf denen sie herbeigeführt werden, sind geheimnisvoll und unerforschlich. John Dounce hatte dieses Leben länger als zwanzig Jahre geführt, ohne sich nach Veränderung zu sehnen oder an Abwechslung zu denken, als sein ganzes soziales System plötzlich erschüttert und vollkommen über den Haufen geworfen wurde – nicht durch ein Erdbeben oder ein anderes schreckliches Naturereignis, wie der Leser vielleicht zu glauben geneigt sein möchte, sondern durch die einfache Wirkung einer Auster, womit es folgendermaßen zuging.

Mr. John Dounce begab sich, eines Abends aus dem Sir Jemandskopfe nach Hause – nicht betrunken, aber etwas aufgeregt; denn er und die andern alten Knaben hatten Mr. Jennings Geburtstag gefeiert, ein paar Rebhühner und ein paar Extragläser gehabt, und Jones war ungewöhnlich unterhaltend gewesen – als die Blicke John Dounces auf einen neueröffneten, großartigen Austernladen fielen, hinter dessen Fenstern die leckersten Austern in runden Marmorbecken und kleine Austerntönnchen mit Adressen an Lords und Baronets und Obersten und Kapitäne in aller Herren Länder zu schauen waren.

Hinter den Austern im Laden war eine junge Dame von etwa fünfundzwanzig Jahren, ganz in Blau und ganz allein, zu schauen – ein himmlisches Mädchen – welch ein liebliches Gesicht – welch ein bezaubernder Wuchs! Es ist schwer zu sagen, ob Mr. John Dounces rotes, durch das flackernde Gaslicht in dem Ladenfenster erleuchtetes Gesicht die Lachlust der Dame erregte, oder ob eben ihre Lebhaftigkeit zu groß war, um ihr zu erlauben, die gemessene Haltung zu behaupten, die durch die gesellschaftlichen Formen etwas diktatorisch vorgeschrieben werden: Gewiß ist aber, daß die Dame lächelte, die Hand vor den Mund legte, indem sie sich plötzlich bedachte, was sie sich selbst schuldig sei, und sich endlich mit austernartiger Verschämtheit so weit als möglich hinter den Ladentisch zurückzog. Seine alte Art, wonach er es seinerzeit arg genug getrieben hatte, regte sich in John Dounce mächtiger; er zögerte – die blaue Dame machte kein Zeichen; er hustete – allein sie näherte sich nicht. Er ging also hinein.

»Können Sie mir wohl eine Auster öffnen, meine Beste?« sagte Mr. John Dounce.

»Gewiß, Sir«, erwiderte die blaue Dame mit entzückender Scherzhaftigkeit. Und Mr. John Dounce speiste eine Auster, blickte darauf die junge Dame an, aß sodann noch eine Auster, und drückte ferner der jungen Dame die Hand, als sie die dritte öffnete, und so fort, bis er im Umsehen ein Dutzend von denen zu acht Pence genossen hatte.

»Können Sie mir nicht noch ein halbes Dutzend öffnen, meine Beste?« fragte Mr. John Dounce.

»Ich will sehen, was ich für Sie tun kann, Sir«, antwortete die blaue junge Dame sogar noch bezaubernder als vorhin; und Mr. John Dounce aß noch ein halbes Dutzend von denen zu acht Pence und fühlte, daß seine Galanterie mit jeder Minute zunahm.

»Sie würden mir wohl nicht ein Glas Branntwein mit Wasser besorgen können?« sagte er, als er mit den Austern fertig war, in einem Tone, der sein Vertrauen, daß sie es könne, deutlich anzeigte.

»Ich will sehen, Sir«, sagte die junge Dame und sprang aus dem Laden hinaus, lief die Straße hinunter, ihre langen braunen Locken flogen dabei im Winde auf die bezauberndste Weise um ihren Kopf herum, sie kehrte zurück und hüpfte mit einem großen Glase Branntwein-Grog gleich einem Kreisel über die Kohlenluken hinüber. Mr. John Dounce bestand nunmehr darauf, daß sie ihren Anteil von dem Getränke mitgenießen müßte, denn es sei echter Damengrog – heiß, stark und süß in Fülle.

Die junge Dame setzte sich zu Mr. John Dounce in einen kleinen roten Verschlag mit einem grünen Vorhang, schlürfte ein wenig Grog und warf John Dounce einige Blicke zu, wendete darauf das Gesicht ab und ließ verschiedene andere kleine pantomimische Bezauberungen folgen, die Mr. John Dounce stark an die erste Zeit seiner Bewerbung um seine erste Frau erinnerten und im Verein mit dem heißen Grog und den Austern eine zärtlichere Glut in ihm entzündeten, als er sie jemals empfunden hatte. Angetrieben von dieser Glut, forschte er die junge Dame über ihre Herzensverbindungen aus, und die junge Dame stellte es gänzlich in Abrede, dergleichen zu haben – denn sie könne die Männer ganz und gar nicht leiden, da diese so wankelmütig und treulos seien. Mr. John Dounce fragte darauf, ob sie diese Verurteilung auf andere als sehr junge Herren bezogen wissen wollte; die junge Dame wurde purpurrot – oder wendete doch zum wenigsten das Gesicht ab, sagte, daß Mr. John Dounce sie erröten machte, und errötete also – Mr. John Dounce trank lange seinen Branntwein mit Wasser, die junge Dame sagte sehr oft: »O, lassen Sie das«, und John Dounce ging endlich nach Hause und zu Bett, und träumte von seiner ersten und seiner zweiten Frau, von der jungen Dame, Rebhühnern, Austern, Grog und uneigennütziger Liebe.

Am folgenden Morgen war er von dem Extrabranntwein mit Wasser vom vorhergehenden Abend etwas fiebrig und begab sich teils in der Hoffnung, sich durch eine Auster abzukühlen, und teils in der Absicht, zu fragen, ob er der jungen Dame nicht vielleicht etwas schuldig geblieben sei, wiederum nach dem Austernladen. War die junge Dame bei Abend schön gewesen, so war sie bei Tag vollkommen unwiderstehlich, und John Dounce war fortan wie umgewandelt. Er kaufte Busennadeln, steckte einen Ring an den dritten Finger, las Gedichte, verleitete einen wohlfeinen Miniaturmaler dazu, eine schwache Ähnlichkeit mit einem jugendlichen Antlitz zustande zu bringen, mit einem Vorhang zu Häupten, einigen sehr großen Büchern zur Seite und einer Landschaft im Hintergrund (was er sein Porträt nannte), fing an, ein Polterer im Hause zu werden, so daß seine Töchter aus dem Hause gingen, und benahm sich mit einem Wort wie ein alter Türke.

Und was seine Busenfreunde und die anderen alten Knaben im Sir Jemandskopf anbetraf, so zog er sich allmählich von ihnen ganz zurück; denn wenn er sich in ihrem Kreise bisweilen noch blicken ließ, so fragte Jones – ein gemeiner Mensch, der Jones – »wann es sein würde?« und »ob er Hochzeitshandschuhe bekäme?« und was dergleichen verletzender Fragen mehr waren, die von Harris und Jennings obendrein belacht wurden. Er zog sich also, wie gesagt, gänzlich von ihnen zurück und attachierte sich ganz allein an die blaue junge Dame in dem stattlichen Austernladen.

Jetzt kommt aber die Moral der Geschichte – denn sie hat allerdings eine Moral. Nachdem die junge Dame nämlich hinreichenden Nutzen von Mr. John Dounces Annäherung gezogen hatte, erwiderte sie seinen endlichen, förmlichen Antrag nicht nur durch ein bestimmtes Nein, sondern erklärte ganz ausdrücklich (um uns ihrer eigenen, sehr verständlichen Worte zu bedienen), sie möchte um keinen Preis einen alten Geck zum Manne haben. John Dounce, der seine alten Freunde verloren, seine Angehörigen sich entfremdet und sich in aller Welt Augen lächerlich gemacht hatte, machte nach der Reihe einer Schulhalterin, einer Wirtin, einer Tabakshändlerin und einer Haushälterin Heiratsanträge, die sämtlich zurückgewiesen wurden, und fand schließlich Gehör bei seiner Köchin, die er jetzt geehelicht und die ihn unter dem Pantoffel hat – ein trauriges Denkmal altgewordenen Jammers und eine lebendige Warnung für alle heiratslustigen alten Knaben.