Neunundzwanzigstes Kapitel.


Neunundzwanzigstes Kapitel.

Von Nicolaus‘ weiteren Schicksalen und gewissen Spaltungen in der Gesellschaft des Herrn Vincent Crummles.

Herr Vincent Crummles ließ sich durch den unerwarteten Erfolg und den Beifall, den sein Unternehmen in Portsmouth gefunden, veranlassen, seinen Aufenthalt in dieser Stadt um vierzehn Tage über die ursprünglich beabsichtigte Zeit zu verlängern. Nicolaus trat bei dieser Gelegenheit in den verschiedensten Rollen mit ungemindertem Beifall auf und lockte so viele Personen an, die man früher nie im Theater gesehen hatte, daß dem Direktor ein Benefiz als eine vielversprechende Spekulation erschien. Nicolaus willigte in die vorgeschlagenen Bedingungen ein, und das Benefiz fand statt, was ihm nicht weniger als die Summe von zwanzig Pfunden einbrachte.

Sobald er sich so unerwartet reich fühlte, packte er zuerst den Betrag von Johann Browdies freundlichem Darlehen ein und begleitete die Rücksendung mit vielen Dankes- und Achtungsversicherungen, nebst vielen Wünschen für sein eheliches Glück. Dann übermachte er Newman Noggs die Hälfte seiner Einnahme mit der Bitte, sie gelegentlich Käthchen im geheimen einzuhändigen und sie seiner wärmsten und innigsten brüderlichen Liebe zu versichern. Er erwähnte seine theatralische Laufbahn gar nicht, sondern gab Newman bloß die Weisung, daß ein Brief unter der Adresse seines angenommenen Namens und des Postamts Portsmouth ihn unfehlbar treffen würde, und bat dabei seinen treuen Freund, ihm alle Einzelheiten über die Lage seiner Mutter und Schwester zu schreiben und über alle die großartigen Dinge, die Ralph Nickleby seit seiner Entfernung von London für sie getan hatte, Bericht zu erstatten.

»Sie sind niedergeschlagen?« sagte Smike an dem Abend, an dem der Brief abgesandt worden war.

»O nicht doch«, entgegnete Nicolaus mit angenommener Heiterkeit, denn eine Bejahung würde den armen Jungen die ganze Nacht über unglücklich gemacht haben; »ich dachte an meine Schwester, Smike.«

»Schwester?«

»Ja.«

»Ist sie Ihnen ähnlich?« fragte Smike.

»Die Leute sagen es«, versetzte Nicolaus lachend, »freilich aber um ein gut Teil schöner.«

»Dann muß sie sehr schön sein«, entgegnete Smike nach einer Weile Besinnens, währenddem er seine Hände gefaltet und die Augen auf seinen Freund geheftet hatte.

»Einer, der dich nicht so gut kennt wie ich, mein lieber Junge, würde sagen, du wärest ein vollendeter Kavalier«, sagte Nicolaus.

»Ich weiß nicht, was das ist«, versetzte Smike kopfschüttelnd. »Werde ich je Ihre Schwester sehen?«

»Gewiß«, rief Nicolaus. »Wir werden eines Tages alle beisammen sein – wenn wir reich sind, Smike.«

»Wie kommt es, daß Sie, der Sie doch so freundlich und gütig gegen mich sind, niemanden haben, der auch gegen Sie wohlwollend wäre?« fragte Smike. »Ich kann mir das nicht erklären.«

»Ach, das ist eine lange Geschichte«, versetzte Nicolaus, »die du, wie ich fürchte, nicht einmal leicht fassen würdest. Ich habe einen Feind – du weißt, was das ist?«

»O ja, das weiß ich wohl«, entgegnete Smike.

»Nun, diesem hab ich´s zu verdanken«, erwiderte Nicolaus. »Er ist reich und kann nicht so leicht gezüchtigt werden wie dein alter Feind, der Schulmeister Squeers. Er ist mein Onkel, aber ein Schurke, der mich aufs tiefste verletzt hat.«

»Hat er das?« fragte Smike, sich lebhaft vorbeugend. »Wie heißt er? Sagen Sie mir seinen Namen.«

»Ralph – Ralph Nickleby.«

»Ralph Nickleby«, wiederholte Smike. »Ralph. Ich will diesen Namen auswendig lernen.«

Er hatte ihn etwa zwanzigmal vor sich hingemurmelt, als ihn ein lautes Pochen an der Tür in seiner Beschäftigung unterbrach. Ehe er jedoch öffnen konnte, steckte bereits Herr Folair, der Pantomimist, seinen Kopf herein.

Herrn Folairs Kopf war gewöhnlich mit einem runden Hut geziert, der eine ungewöhnlich hohe Krone und schmal aufgeschlagene Krempen hatte. Bei dem gegenwärtigen Anlaß trug er ihn ganz schräg gestellt und den Hinterteil nach vorn gekehrt, weil derselbe am wenigsten abgenützt war. Um den Hals hatte er einen flammroten wollenen Schal gewunden, dessen Zipfel unter dem von oben bis unten zugeknöpften Newmarketrock hervorsahen. In seiner Hand trug er einen sehr schmutzigen Handschuh und einen billigen Kleiderausklopfer mit einem gläsernen Handgriff – kurz, sein ganzes Äußere war ungewöhnlich blank und bekundete eine weit sorgfältigere Aufmerksamkeit auf seine Toilette, als sie sonst bei ihm üblich war.

»Guten Abend, Sir«, sagte Herr Folair, indem er seinen Hut abnahm und mit den Fingern durch das Haar fuhr. »Ich bringe eine Mitteilung – hm!«

»Von wem und weshalb?« fragte Nicolaus. »Sie sind ja diesen Abend ungemein geheimnisvoll.«

»Kalt vielleicht«, entgegnete Herr Folair – »kalt vielleicht. Die Schuld davon trifft meine Stellung, nicht meine Persönlichkeit, Herr Johnson. Meine Stellung fordert dies, da ich ein Freund von beiden Parteien bin, Sir.«

Herr Folair hielt jetzt mit einem sehr ausdrucksvollen Blicke inne, griff in den vorerwähnten Hut, holte ein kleines Stück seltsam gefalteten, weißlich-braunen Papiers heraus, in das der Schonung wegen ein Schreiben eingewickelt war, und händigte das letztere Nicolaus mit dem Ersuchen ein, daß er es lesen möchte.

Nicolaus nahm verwundert das Schreiben hin, erbrach das Siegel mit einem Blick auf Herrn Folair, der, die Augen beharrlich nach der Decke kehrend, dasaß, die Stirne runzelte und den Mund mit großer Würde aufwarf.

Das Billett trug die Adresse: »Herr Johnson, Esquire – Herrn Augustus Folair, Esquire, zur gefälligen Besorgung übertragen«; und Nicolaus‘ Verwunderung war keineswegs gemindert, als er innen die folgenden lakonischen Worte las:

»Herr Lenville vermeldet Herrn Johnson seinen höflichen Gruß und wird es dankbar anerkennen, wenn Herr Johnson ihm wissen lassen will, zu welcher Stunde des kommenden Morgens es ihm bequem sein wird, mit Herrn Lenville im Schauspielhause zusammenzutreffen, um sich von letzterem in Gegenwart der ganzen Gesellschaft die Nase zerschlagen zu lassen.

Herr Lenville ersucht Herrn Johnson, der von ihm etwa zu machenden Bestimmung nachzukommen, da Herr Lenville einige Kollegen eingeladen hat, Zeugen der Zeremonie zu sein, deren Erwartungen er in keinem Fall getäuscht sehen möchte. Portsmouth, Dienstag abend –«

So entrüstet auch Nicolaus über diese Unverschämtheit war, so erschien ihm doch die ganze Aufforderung so ausgesucht abgeschmackt, daß er sich in die Lippen beißen und den Wisch zwei- oder dreimal überlesen mußte, ehe er genug Würde und Ernst zusammenbringen konnte, um den Kartellträger anzureden, der die ganze Zeit über weder die Augen von der Decke verwandte, noch den Ausdruck seines Gesichts auch nur im mindesten veränderte.

»Kennen Sie den Inhalt dieses Schreibens?« fragte endlich Nicolaus.

»Ja«, versetzte Herr Folair, indem er sich eine kurze Weile umsah, aber dann schnell wieder seine Augen nach der Decke richtete.

»Und wie unterstehen Sie sich, den Überbringer zu machen, Sir«, fuhr Nicolaus fort, indem er das Papier in viele kleine Stücke zerriß und die Schnitzel dem Boten ins Gesicht warf. »Fürchteten Sie sich nicht, die Treppe hinuntergeworfen zu werden, Sir?«

Herr Folair wandte seinen Kopf, der nunmehr mit einigen Bruchstücken des Aufforderungsschreibens geziert war, gegen Nicolaus und erwiderte kurz mit derselben unzerstörlichen Würde:

»Nein.«

»Dann«, sagte Nicolaus, indem er Herrn Folair seinen hohen Hut abnahm und gegen die Tür schleuderte, »dann werden Sie guttun, Ihrem Deckel, noch ehe zwölf Sekunden vergehen, zu folgen. Sie könnten sonst auf eine unangenehme Weise enttäuscht werden.«

»Ich sage Ihnen, Johnson«, entgegnete Herr Folair, der plötzlich alle seine Würde aufgab, »ein solches Betragen ist nicht am Orte. Nur keine solche Possen mit eines Gentlemans Garderobe.«

»Verlassen Sie mein Zimmer«, herrschte ihm Nicolaus zu. »Wie konnten Sie sich unterstehen, mir eine solche Botschaft zu überbringen, Sie Halunke!«

»Pah! pah!« sagte Herr Folair, indem er seinen Schal löste und sich allmählich herauswickelte. »So – das ist genug.«

»Genug?« rief Nicolaus, auf ihn zutretend. »Ich frage Sie zum letztenmal, Sir, ob Sie sich packen wollen?«

»Nur Ruhe, ich sage Ihnen«, versetzte Herr Folair, indem er die Hand vorhielt, als wolle er jeden weiteren Wutausbruch abwehren; »es war von keinem Ernst die Rede. Ich brachte den Zettel bloß des Spaßes halber.«

»So werden Sie guttun, bei derartigen Späßen zuvor Ihre Leute genau anzusehen«, entgegnete Nicolaus, »Ihr Witz könnte sonst Ihnen selber eine zerschlagene Nase eintragen. Sollte der Wisch auch nur ein Spaß sein?«

»Nein, nein, das ist gerade das Schöne an der Sache«, antwortete Herr Folair. »Er ist purer, trockener Ernst – auf Ehre.«

Nicolaus konnte sich eines Lächeln ob der sonderbaren Gestalt vor ihm nicht erwehren, die zu allen Zeiten eher Heiterkeit als Unwillen zu erregen imstande war, besonders aber in dem gegenwärtigen Augenblick, wo Herr Folair, mit einem Knie auf dem Boden, seinen alten Hut auf der Hand im Kreise herumtanzen ließ und eine ängstliche Besorgnis zur Schau stellte, ob sich nicht etwa einige Filzfasern abgestoßen hätten, eine Zierde, deren sich übrigens – wie wir kaum anzumerken nötig haben werden – seine Kopfbedeckung seit vielen Monaten nicht mehr zu rühmen hatte.

»Aber jetzt, Sir, werden Sie die Güte haben, mir eine Erklärung zu geben«, sagte Nicolaus, wider Willen lachend.

»Je nun, ich will Ihnen sagen, wie sich die Sache verhält«, entgegnete Herr Folair, indem er sich mit großer Kaltblütigkeit auf einen Stuhl setzte. »Seit Ihrem Eintritt fielen Lenville nur zweite Rollen zu, und statt wie früher jeden Abend eine Rezeption zu haben, benahm sich das Publikum bei seinem Auftreten, als ob er der Niemand wäre.«

»Was verstehen Sie unter dem Ausdruck Rezeption?« fragte Nicolaus.

»Lieber Himmel!« rief Herr Folair, »was sind Sie nicht für ein unschuldiger Schäfer, Johnson. So nennt man das Klatschen des Publikums bei dem ersten Betreten der Bühne. Er mußte Abend für Abend spielen, ohne daß sich eine Hand rührte, während Sie mindestens ihrer zwei, bisweilen auch drei Beifallsszenen erhielten. Endlich ist er darüber ganz verzweifelt, so daß er erst gestern abend halb und halb im Sinne hatte, den Tybalt mit einem wirklichen Schwert zu spielen und Ihnen eins zu versetzen – nicht gefährlich zwar, aber doch so, daß Sie für einen Monat oder zwei fest hätten liegen müssen.«

»Sehr gut ausgedacht«, bemerkte Nicolaus.

»Ja, das war es den Umständen nach in der Tat; denn sein Künstlerruhm stand auf dem Spiel«, sagte Herr Folair mit dem ernsthaftesten Gesicht. »Aber es gebrach ihm an Mut, und so sann er auf ein anderes Mittel, Ihnen beizukommen, wodurch er sich zugleich populär zu machen gedachte – denn das ist die Hauptsache. Ruhm, Berühmtheit ist das höchste Ziel des Schauspielers. Du mein Himmel, wenn er Sie mit scharfer Klinge gekitzelt hätte«, fuhr Herr Folair fort, nachdem er eine Weile innegehalten hatte, um eine Berechnung zu machen, »es wäre ihm – ah, es wäre ihm acht oder zehn Schillinge in der Woche wert gewesen. Die ganze Stadt wäre gekommen, um den Schauspieler zu sehen, der infolge eines Mißgriffs beinahe einen Menschen tötete. Es sollte mich nicht wundernehmen, wenn es ihm ein Engagement in London eingetragen hätte. Sei dem übrigens, wie es sei, er mußte einen andern Weg zur Popularität einschlagen, und da fiel ihm der gegenwärtige ein. Der Gedanke ist in der Tat nicht übel. Hätten Sie sich einschüchtern lassen und ihm Ihre Nase offeriert, so wäre die Geschichte in die Zeitungen gekommen, und hätten Sie einen Frieden mit ihm geschworen, so wäre das gleiche geschehen, da man dann ebensoviel von ihm als von Ihnen gesprochen haben würde. Begreifen Sie?«

»Allerdings«, versetzte Nicolaus; »aber angenommen, ich kehre den Stiel um und zerbläue ihm die Nase – was dann? Kann daraus auch ein Vorteil für ihn erwachsen?«

»Glaube kaum«, entgegnete Herr Folair, sich am Kopfe kratzend, »denn es wäre nichts Romantisches dabei, und er würde dadurch nicht zu seinem Vorteil bekannt. Doch offen gestanden, auf so etwas rechnet er nicht besonders, denn Sie haben sich immer als sanftmütig gezeigt und sind so populär unter den Frauen, daß wir hinter Ihnen nicht viel kriegerischen Sinn vermuteten. Führen Sie aber das im Schilde, so hat er – verlassen Sie sich darauf – ein Mittel, sich leicht aus der Sache zu ziehen.«

»Wirklich?« erwiderte Nicolaus. »Wir wollen´s doch morgen früh versuchen. Inzwischen mögen Sie ihm über unsere Unterredung mitteilen, was Ihnen beliebt. Gute Nacht.«

Da Herr Folair unter seinen Kollegen als schadenfroh bekannt war, der keineswegs seine Schritte ängstlich erwog, wenn es Unheil zu stiften gab, so zweifelte Nicolaus nicht, daß das Ganze eine Aufhetzung von seiten dieses Ehrenmanns wäre und daß dieser seine Sendung hochtrabend genug ausgeführt haben würde, wenn er nicht durch den höchst unerwarteten Empfang, der ihm zuteil wurde, eingeschüchtert worden wäre. Es verlohnte sich jedoch nicht der Mühe, ernsthaft gegen ihn zu verfahren, und Nicolaus entließ daher den Pantomimisten mit einer höflichen Andeutung, daß ihm die nächste derartige Beleidigung einen zerbrochenen Schädel eintragen könnte. Herr Folair nahm die Warnung in ungemein guter Laune hin und entfernte sich, um mit seinem Auftraggeber Rücksprache zu nehmen und diesem von dem Erfolge seiner Bemühungen einen Bericht zu erstatten, wie er ihn zur Durchführung des Scherzes am geeignetsten hielt.

Er hatte ohne Zweifel erzählt, daß Nicolaus in die größte Angst und Furcht geraten sei; denn als dieser des andern Morgens zur gewohnten Stunde ganz ruhig in dem Schauspielhaus erschien, fand er die ganze Gesellschaft augenscheinlich erwartungsvoll versammelt, während Herr Lenville mit dem grimmigsten Thcatergesicht majestätisch auf einem Tisch saß und herausfordernd pfiff.

Die Damen waren auf Nicolaus‘ Seite, während die neidischen Herren für den ausgestochenen Tragöden Partei nahmen; sie bildeten eine kleine Gruppe um den furchtbaren Herrn Lenville, während jene nicht ohne ängstliches Herzklopfen aus einiger Entfernung zusahen. Als Nicolaus haltmachte, um sie zu begrüßen, brach Herr Lenville in ein verächtliches Lachen aus und machte eine allgemeine Bemerkung hinsichtlich der Naturgeschichte der Hasenfüße.

»Ach«, sagte Nicolaus, sich ruhig umsehend, »sind Sie da?«

»Knecht!« versetzte Herr Lenville, indem er mit seinem rechten Arm ausholte und in einem Theaterschritt auf Nicolaus zuging.

Er schien jedoch in diesem Augenblick mit einigem Schrecken wahrzunehmen, Nicolaus sehe doch nicht ganz so furchtsam aus, als er erwartet hatte, weshalb er auch auf einmal so linkisch haltmachte, daß die versammelten Damen in ein schrilles Gelächter ausbrachen.

»Gegenstand meines Grolles und Hasses«, sagte Herr Lenville, »ich verachte dich.«

Nicolaus setzte dieser Komödiantenphrase ein höchst unerwartetes Lachen entgegen, und die Damen, die ihren Günstling ermutigen wollten, lachten noch lauter als vorher, worauf Herr Lenville den Mund zu seinem bittersten Lächeln verzog und seine Meinung dahin abgab, daß sie »Zierpüppchen« wären.

»Aber sie sollen dich nicht schützen«, fuhr der Tragöde fort, indem er Nicolaus Blicke zuwarf, die von seinen Stiefelspitzen begannen und auf dem Scheitel endigten, dann aber bei dem Scheitel wieder anfingen und mit den Stiefelspitzen schlossen – Blicke, die, wie männiglich bekannt, auf der Bühne Herausforderung bedeuten. »Sie sollen dich nicht schützen, Knabe!«

Mit diesen Worten schlug Herr Lenville seine Arme zusammen und gab Nicolaus eines jener Gesichter zum besten, mit denen er im Melodrama die tyrannischen Könige anzusehen pflegte, wenn sie sagten: ›Hinweg mit ihm ins tiefste Gefängnis unter dem Schloßgraben!‹ und die, wenn es von ein wenig Kettengeklirr begleitet wurde, seinerzeit jedesmal die trefflichste Wirkung taten.

Lag es nun an der Abwesenheit der Fesseln oder nicht – jedenfalls war der Eindruck auf Herrn Lenvilles Gegner kein sehr tiefer; denn die heitere Laune, die sich in seinem Antlitze ausdrückte, schien dadurch nur erhöht zu werden. Aber während die Sachen so standen, wurden einige der Herren, die ausdrücklich hergekommen waren, um das Zerschlagen von Nicolaus‘ Nase mit anzusehen, ungeduldig und ließen sich murrend darüber vernehmen, daß die Sache, wenn sie überhaupt vor sich gehen solle, rasch abgemacht werden möchte, und daß Herr Lenville, wenn er keine Lust dazu hätte, besser täte, es gleich zu sagen, damit sie nicht durch vergebliches Harren hingehalten würden. So gedrängt, schlug der Tragöde den Aufschlag seines Rockärmels zurück, um die Operation vorzunehmen, und ging mit pompösen Schritten auf Nicolaus zu, der ihn bis auf die erforderliche Entfernung herankommen ließ und ihn dann mit der größten Ruhe mit einem Streiche zu Boden schlug.

Ehe noch der gefallene Tragöde seinen Kopf von den Brettern erheben konnte, stürzte Madame Lenville (die sich, wie schon früher angedeutet wurde, in anderen Umständen befand) aus der Hinterreihe der Damen hervor und warf sich mit einem durchbohrenden Geschrei über ihren Gatten hin.

»Siehst du dies, Ungeheuer? Siehst du dies?« rief Herr Lenville, indem er sich aufsetzte und auf seine neben ihm hingestreckte Gattin deutete, die ihre Arme um seinen Leib geschlungen hielt.

Nicolaus nickte mit dem Kopfe und sagte: »Leisten Sie Abbitte wegen des unverschämten Schreibens, das Sie mir gestern abend sandten, und vergeuden Sie nicht noch mehr Zeit mit albernen Phrasen.«

»Nie!« rief Herr Lenville.

»Ja – ja – ja –« kreischte seine Gattin. »Um meinetwillen, um meinetwillen, Lenville – unterziehe dich allen diesen eitlen Förmlichkeiten, wenn du mich nicht als eine Leiche zu deinen Füßen sehen willst.«

»Das ist angreifend«, sagte Herr Lenville, indem er mit dem Rücken seiner Hand über die Augen fuhr. »Die Bande der Natur sind stark. Der schwache Gatte und Vater – der zukünftige Vater läßt sich erweichen. Ich leiste Abbitte.«

»De- und wehmütig?« fragte Nicolaus.

»De- und wehmütig«, entgegnete der Tragöde, finster aufblickend. »Aber nur um ihrer zu schonen; denn es wird eine Zeit kommen – –«

»Genug«, sagte Nicolaus. »Ich hoffe, für Madame Lenville wird eine gute kommen, und wenn das der Fall ist und Sie die Freuden eines Vaters fühlen, so können Sie die Erklärung zurücknehmen, wenn Sie den Mut dazu haben. Wir sind jetzt fertig, Sir. Überlegen Sie aber ein andermal besser, wohin Sie Ihre Verärgerung führen kann, und vergessen Sie nicht, ehe Sie zu weit gehen, sich über das Temperament Ihres Gegners Gewißheit zu verschaffen.«

Mit diesen Worten nahm Nicolaus Herrn Lenvilles Eschenstock, der ihm aus der Hand geflogen war, auf, brach ihn entzwei, warf ihm die Stücke vor die Füße und entfernte sich mit einer leichten Verbeugung gegen die Zeugen des Auftritts.

Denselben Abend zollte man Nicolaus die tiefste Ehrerbietung, und die, die am begierigsten darauf gewesen waren, ihm die Nase zerschlagen zu sehen, benutzten jede Gelegenheit, ihn beiseite zu nehmen und ihm mit der größten Teilnahme zu versichern, wie sehr es sie gefreut hätte, daß er diesen Lenville so nach Verdienst heimgeschickt hätte, da er ein ganz unerträglicher Kerl wäre, dem sie alle – gewiß ein höchst merkwürdiges Zusammentreffen – zu verschiedenen Malen schon die verdiente Züchtigung zugedacht hätten, die nur aus Rücksichten des Mitleids unterblieben wäre. In der Tat mußte man aus dem stereotypen Schluß aller dieser Phrasen die Folgerung ziehen, daß es auf der ganzen Erde keine humaneren und mitleidigeren Menschen gäbe als die männlichen Mitglieder von Herrn Crummles´ Truppe.

Nicolaus bewies bei seinem Triumphe, wie überhaupt bei seinen Erfolgen in der kleinen Theaterwelt, die größte Mäßigung und Ruhe. Der aus dem Feld geschlagene Herr Lenville machte zwar noch einen letzten Racheversuch, indem er einen Knaben auf die Galerie schickte, um dort zu pfeifen. Aber dieser fiel als ein Opfer der allgemeinen Entrüstung, denn er wurde ohne weiteres hinausgeworfen und erhielt sein Geld nicht wieder zurück.

»Nun, Smike«, sagte Nicolaus, als er nach dem ersten Stück sich fast ganz zum Nachhausegehen angekleidet hatte: »ist noch immer kein Brief da?«

»Ja«, versetzte Smike, »hier ist einer, den ich von der Post geholt habe.«

»Von Newman Noggs«, sagte Nicolaus, die Schwefelhölzerschrift der Adresse ansehend. »Es ist nicht leicht, diese Züge zu entwirren. Doch – wir wollen sehen, wir wollen sehen.«

Nach halbstündigem Studium gelang es ihm, den Inhalt des Briefes herauszubringen, der übrigens keineswegs imstande war, sein Gemüt zu beruhigen. Newman hatte es auf sich genommen, die zehn Pfund zurückzuschicken, denen er die Bemerkung beifügte, er wisse bestimmt, daß weder Madame Nickleby noch Käthchen für den Augenblick das Geld nötig hätten. Es könne aber in vielleicht kurzer Zeit der Fall eintreten, daß es Nicolaus selber besser zustatten käme. Er ersuchte ihn, sich durch das, was er ihm zu melden hätte, nicht beunruhigen zu lassen – es wäre nichts Schlimmes vorgefallen, und alles befände sich in guter Gesundheit. Aber es käme ihm vor, als könnten sich Dinge ereignen, oder wären vielleicht wirklich schon im Gange, die für Käthchen ihres Bruders Schutz unbedingt nötig machten. Wenn dies jedoch einträfe, meinte Newman, so wolle er Nicolaus das Geeignete unverzüglich melden.

Nicolaus las diese Stelle wieder und wieder, und je mehr er darüber nachdachte, desto mehr ahnte ihm irgendeine Schurkerei von seiten Ralph Nicklebys. Ein- oder zweimal fühlte er sich versucht, auf jede Gefahr hin sofort nach London zu eilen. Aber ein wenig Nachdenken belehrte ihn, daß Newman, wenn ein solcher Schritt nötig wäre, ohne Rückhalt sich darüber ausgesprochen haben würde.

»Jedenfalls sollte ich die Leute hier auf die Möglichkeit meines plötzlichen Austritts vorbereiten«, sagte Nicolaus. »Ich will daher keine Zeit verlieren, es zu tun.«

Sobald ihm dieser Gedanke aufgetaucht war, nahm er seinen Hut und eilte in das Garderobenzimmer.

»Nun, Herr Johnson«, sagte Madame Crummles, die in dem vollen Kostüm einer Königin dasaß und das Wunderkind mit ihren mütterlichen Armen umschloß, »die nächste Woche geht’s nach Ryde, dann nach Winchester, dann nach – –«

»Ich habe einigen Grund, zu fürchten«, fiel Nicolaus ein, »daß meine Laufbahn bei Ihnen geschlossen sein wird, noch ehe Sie Portsmouth verlassen.«

»Geschlossen?« rief Madame Crummles, ihre Hände erstaunt emporhebend.

»Geschlossen?« rief Fräulein Snevellicci, die in ihren Beinkleidern so heftig zitterte, daß sie ihre Hand auf die Schulter der Direktorin legen mußte, um sich zu stützen.

»Er will damit doch nicht sagen, daß er uns zu verlassen gedenkt?« fügte Madame Grudden bei, indem sie sich zu Madame Crummles durchdrängte. »Donnerwetter, was wäre das für ein Unsinn!«

Das Wunderkind, das von gar zarter Natur und sehr reizbarem Wesen war, erhob ein lautes Geschrei, und Fräulein Belvawney vergoß nebst Fräulein Bravassa wirkliche Tränen. Selbst die männlichen Mitglieder der Gesellschaft unterbrachen ihre Unterhaltung und beteten die Worte ›uns verlassen‹ nach, obgleich einige darunter (namentlich die, die den Tag über in ihren Glückwünschen am lautesten gewesen waren) sich gegenseitig zunickten, als täte es ihnen nicht sehr leid, einen so begünstigten Nebenbuhler zu verlieren – eine Ansicht, die in der Tat auch der ehrliche Herr Folair, der bereits als Wilder angekleidet war, ganz offen gegen einen Teufel aussprach, mit dem er sich eben in einen Krug Porter teilte.

Nicolaus erklärte rasch, er fürchte, daß es so kommen könnte, obgleich er sich vorderhand keinesfalls mit Bestimmtheit darüber auszusprechen vermöge. Er entfernte sich dann, sobald er konnte, und ging nach Haus, um Newmans Brief noch einmal durchzubuchstabieren und aufs neue Betrachtungen darüber anzustellen.

Wie geringfügig erschien ihm in jener schlaflosen Nacht alles, was seit so vielen Wochen seine Zeit und seine Gedanken in Anspruch genommen hatte, und wie beharrlich und unablässig vergegenwärtigte sich seiner Einbildungskraft der eine Gedanke, daß Käthchen mitten in Gefahr und Unglück – ach und vergeblich – nach ihm aussähe.

Dreißigstes Kapitel.


Dreißigstes Kapitel.

Festlichkeiten, die Nicolaus zu Ehren veranstaltet werden. Dieser entzieht sich plötzlich der Vincent Crummlesschen Theatergesellschaft.

Herr Vincent Crummles hatte kaum von der öffentlichen Erklärung gehört, die Nicolaus über die Wahrscheinlichkeit seines baldigen Austritts aus der Gesellschaft abgegeben hatte, als er viele Zeichen des Kummers und der Bestürzung an den Tag legte. In dem Übermaß seiner Verzweiflung machte er sogar gewisse unbestimmte Versprechungen wegen einer baldigen Aufbesserung nicht nur der regelmäßigen Gage, sondern auch der schriftstellerischen Nebeneinkünfte. Als er aber fand, daß Nicolaus sich von seinem Vorhaben, die Gesellschaft zu verlassen, nicht abbringen lassen wollte – denn dieser war nun fest entschlossen, auch ohne weitere Nachrichten von Newman auf jede Gefahr hin sich nach London zu begeben und durch persönlichen Augenschein sich über die Lage seiner Schwester Beruhigung zu verschaffen –, so mußte er sich begnügen, auf dessen Zurückkunft zu hoffen, wobei er es jedoch nicht unterließ, schnelle und energische Maßregeln zu treffen, um ihn vor seinem Abgang noch bestmöglich auf die Bühne zu stellen.

»Warten Sie einmal«, sagte Herr Crummles, indem er seine Geächtetenperücke abnahm, um die Lage der Dinge um so ruhiger überschauen zu können – »warten Sie einmal: heute haben wir Mittwoch abend. Das erste Geschäft für morgen soll sein, daß Zettel angeklebt werden, die für diesen Tag Ihr letztes Auftreten ankündigen.«

»Sie können aber nicht wissen, ob ich morgen zum letzten Male auftrete«, versetzte Nicolaus. »Wenn ich nicht abgerufen werde, so sollen Sie durch mich bis zum Ende dieser Woche in keine Angelegenheit geraten.«

»Um so besser«, entgegnete Herr Crummles. Wir können dann aufs allerbestimmteste Ihr letztes Auftreten auf den Donnerstag ankündigen – ein neues Engagement noch für eine einzige Nacht am Freitag – und endlich auf ausdrückliches Verlangen der einflußreichsten Gönner, die bei der letzten Vorstellung keine Sitze mehr erhalten haben, ein allerletztes Auftreten am Samstag. Das muß uns drei ganz anständig gefüllte Häuser bringen.«

»So soll ich also dreimal zum letzen Male auftreten?« fragte Nicolaus lächelnd.

»Ja«, erwiderte der Theaterdirektor, indem er sich verdrießlich am Kopfe kratzte, »es ist das noch zu wenig und verdirbt mir das ganze Konzept, daß wir nicht noch einige ›zum letzten Male‹ zusammenbringen können. Aber da läßt sich nun einmal nichts machen, und durch Schwatzen darüber wird nichts gewonnen. Etwas Neues käme auch sehr gelegen. Glauben Sie wohl, ein komisches Liedchen, auf dem Pony sitzend, singen zu können?«

»Das wird sich in der Tat kaum machen lassen«, versetzte Nicolaus.

»Es hat früher schon Geld eingebracht«, entgegnete Herr Crummles mit einem Blick unangenehmer Enttäuschung. »Was halten Sie von einem brillanten Feuerwerk?«

»Daß es ziemlich kostspielig werden dürfte«, erwiderte Nicolaus trocken.

»Achtzehn Pence würden ausreichen«, sagte Herr Crummles. »Sie stünden auf einer Tribüne mit dem Wunderkind in eleganter Haltung: hinten ein Transparent mit einem ›Lebewohl‹; an den Kulissen neun Leute mit einem bengalischen Licht in jeder Hand – das ganze anderthalb Dutzend müßte auf einmal losgehen – es würde sich von vorn ganz grandios – ergreifend, wahrhaft ergreifend auenehmen.«

Da Nicolaus von der Großartigkeit einer solchen Szene nicht sonderlich überzeugt zu sein schien, sondern im Gegenteil den Vorschlag auf eine höchst unehrerbietige Weise recht herzlich verlachte, so gab ihn Herr Crummles sogleich wieder auf und bemerkte düster, daß sie eben dann den Zettel aufs beste mit Kämpfen und Tänzen ausstatten und sich an das regelmäßige Drama halten müßten.

Um diesen Plan augenblicklich auszuführen, verfügte sich der Theaterdirektor sogleich in ein anstoßendes kleines Ankleidezinnner, wo Madame Crummles eben beschäftigt war, die Gewänder einer Kaiserin aus einem Melodrama gegen den gewöhnlichen Anzug von Frauen des neunzehnten Jahrhunderts zu vertauschen. Mit dieser Dame und der in allen Sätteln gerechten Madame Grudden, die ein wahres Genie zu Abfassung von Theaterprogrammen besaß (denn sie wußte die auf Bewunderung abzielenden Bemerkungen recht gut einzuschalten und kannte aus langjähriger Erfahrung genau, was in fetter Schrift gedruckt werden müsse), wurde nun die Abfassung der Anschlagzettel aufs ernstlichste beraten.

»Ach«, seufzte Nicolaus, sich in dem Stuhl des Souffleurs zurücklehnend, nachdem er Smike die nötigen telegraphischen Zeichen gegeben hatte, der in einem Zwischenspiel als ein magerer Schneider aufgetreten war und als solcher nur einen Rockschoß besaß, in dem sich ein kleines, sehr durchlöchertes Taschentuch befand, eine wollene Nachtmütze auf dem Kopf trug und nebst anderen charakteristischen Merkmalen der Schneider auf den Brettern eine rote Nase hatte. »Ach, ich wünschte, all das wäre vorüber.«

»Vorüber, Herr Johnson?« wiederholte hinter ihm eine weibliche Stimme mit einer Art schmerzlichen Staunens.

»Es klang allerdings etwas ungalant«, versetzte Nicolaus, der, als er sich umsah, in der Sprecherin Fräulein Snevellicci erkannte, »und ich würde nicht so gesprochen haben, wenn ich gewußt hätte, daß ich mich in dem Bereiche Ihres Ohres befände.«

»Was für ein köstlicher Mensch der Herr Dickby ist!« sagte Fräulein Snevellicci, als der Schneider am Ende des Stücks unter großem Beifall auf der andern Seite der Bühne abtrat. (Smikes Theatername war Dickby.)

»Ich will ihm sogleich Ihre Worte hinterbringen, die ihn natürlich ungemein erfreuen müssen«, versetzte Nicolaus.

»O Sie loser Mensch!« entgegnete Fräulein Snevellicci. Aber es kann mir so ziemlich gleichgültig sein, ob er meine Meinung von ihm erfährt, während es in der Tat bei andern Leuten –«

Fräulein Snevellicci hielt hier inne, als erwarte sie eine Frage, die aber nicht erfolgte, weil Nicolaus an weit ernstere Dinge dachte.

»Wie freundlich es von Ihnen ist«, nahm Fräulein Snevellicci nach einer kurzen Pause wieder auf, »dazusitzen und Abend für Abend auf ihn zu warten, so ermattet Sie auch sein mögen. Und was Sie sich Mühe mit ihm geben, und alles mit so viel Freude und Bereitwilligkeit tun, als ob es Ihnen Geld einbrächte.«

»Er verdient alle Freundlichkeit, die ich ihm erweisen kann, und noch viel mehr«, versetzte Nicolaus. »Er ist das dankbarste, redlichste und liebevollste Geschöpf, das je geatmet hat.«

»Und auch das sonderbarste – nicht wahr?« bemerkte Fräulein Snevellicci.

»Das weiß Gott, und möge er denen verzeihen, die ihn dazu gebracht haben!« entgegnete Nicolaus, seinen Kopf schüttelnd.

»Er ist ein verdammt schweigsamer Kunde«, sagte Herr Folair, der ein wenig näher getreten war und sich nun in die Unterhaltung mischte. »Kein Mensch kann etwas aus ihm herausbringen.«

»Und was will man denn aus ihm herausbringen?« fragte Nicolaus jäh und wandte sich nach dem Sprecher um.

»Donnerwetter, wie das gleich sprudelt und kocht, Johnson«, erwiderte Herr Folair, indem er die Ferse seines Tanzschuhes in die Höhe zog. »Ich spreche nur von der natürlichen Neugierde der Leute hier, die auch etwas von seinem Leben erfahren möchten.«

»Der arme Junge! Ich sollte aber meinen, es liege klar auf der Hand, daß er nicht genug Klarheit besitzt, um für Sie oder für jemand anders von besonderem Interesse zu sein«, sagte Nicolaus.

»Freilich«, versetzte der Schauspieler, indem er den Effekt seines Gesichtes in einem Lampenreflektor betrachtete; »aber eben deshalb liegt die ganze Frage um so näher.«

»Welche Frage?« entgegnete Nicolaus.

»Je nun, das wer und was er ist, und wie Sie beide, trotz der großen Verschiedenheit der Charaktere, so enge Freunde geworden sind«, erwiderte Herr Folair, ganz entzückt über die Gelegenheit, jemandem etwas Unangenehmes sagen zu können. »Alle Welt spricht davon.«

»Diese alle Welt besteht übrigens, wie ich mir denke, nur in dem Theatervolk?« sagte Nicolaus verächtlich.

»In Theatervolk und andern Leuten«, versetzte der Schauspieler. »Wissen Sie nicht, daß Lenville sagt –«

»Ich dachte, ich hätte diesen wohl für einige Zeit zum Schweigen gebracht«, fiel Nicolaus rot werdend ein.

»Möglich«, entgegnete der unabweisliche Herr Folair, »und wenn dies der Fall ist, so sagte er es wahrscheinlich vorher. Lenville sagte also, Sie wären ein wahrer Stock von einem Schauspieler, und das ganze Glück, das Sie hier bei dem Publikum gemacht hätten, läge in dem Geheimnis, womit Sie sich umgäben, und das Crummles wegen seines eigenen Vorteils begünstigte. Dabei meint Lenville, es stecke wohl weiter nichts hinter dem Ganzen, als daß Sie irgendwo tief in der Patsche gesessen und wegen irgendeinem Streich davongelaufen wären.«

»Ah!« sagte Nicolaus, ein Lächeln erzwingend.

»Das ist übrigens nur ein Teil von dem, was er sagt«, fügte Herr Folair bei, »und ich teile es Ihnen als Freund beider Teile und im strengsten Vertrauen mit. Sie wissen, daß ich nicht seiner Ansicht bin. Er sagt, er halte Dickby mehr für einen Spitzbuben als für einen Einfaltspinsel, und unser Packesel, der alte Fluggers, erzählt, in der vorletzten Saison, als er im Conventgarden Ausläufer war, sei immer ein Taschendieb um den Fiakerplatz herumgeschlichen, der genau das Gesicht von Dickby gehabt hätte. Er fügte übrigens hinzu, es sei doch vielleicht nicht Dickby gewesen, sondern nur sein Bruder oder ein anderer naher Verwandter.«

»Ah!« rief Nicolaus abermals.

»Ja, so sagen sie«, fuhr Folair in ungetrübter Ruhe fort. »Ich nahm mir vor, es Ihnen zu erzählen, weil Sie eigentlich davon wissen sollten. Ah, da kommt endlich das holdselige Wunderkind. Uff! Du kleiner Wechselbalg, ich wollte, ich hätte dich – ich komme gleich, mein Schätzchen. – Der Affe! Klingeln Sie zum Aufziehen, Madame Grudden, und lassen Sie das Schoßhündchen des Publikums seinen Tanz aufführen.«

Während Folair das, was von den letzteren Anspielungen für das Wunderkind schmeichelhaft war, laut aussprach und den Rest Nicolaus vertraulich »beiseite« zuflüsterte, folgte er dem aufgehenden Vorhang mit den Augen und war mit höhnischem Bick Zeuge des Beifallsturmes vor Fräulein Crummles. Dann trat er ein paar Schritte zurück, um einen bessern Anlauf zu gewinnen, ließ ein einleitendes Geheul erschallen und schoß, mit den Zähnen klappernd und einen blechernen Tomahawk schwingend, als wilder Indianer auf die Bühne.

»Das sind also einige von den Geschichtchen, die über uns erdichtet werden und von Mund zu Mund laufen?« dachte Nicolaus. »Will jemand ein unverzeihliches Verbrechen gegen irgendeine Gesellschaft, mag sie groß oder klein sein, begehen, so braucht er nur Glück zu haben; alles andere wird ihm vergeben, nur nicht dieses.«

»Sie nehmen’s sich doch nicht zu Herzen, was dieser boshafte Mensch sagte?« bemerkte Fräulein Snevellicci in ihren gewinnendsten Tönen.

»Nicht doch«, versetzte Nicolaus. »Wenn ich im Sinn hätte hierzubleiben, so würde ich es vielleicht der Mühe wert halten, die Sache weiter zu verfolgen. Da dies aber nicht der Fall ist, so mögen sie sich meinetwegen heiser schwatzen. Doch da kommt der, den ein Teil Ihres Wohlwollens trifft«, fügte Nicolaus bei, als Smike näher trat; »und so wollen wir Ihnen denn miteinander gute Nacht sagen.«

»Nein, nein, Sie dürfen mir nicht so kommen«, entgegnete Fräulein Snevellicci. »Sie müssen mich nach Haus begleiten und meine Mutter besuchen, die erst heute in Portsmouth ankam und vor Begierde stirbt, Sie kennenzulernen. »Liebe Led, helfen Sie mir Herrn Johnson überreden.«

»O gewiß«, erwiderte Fräulein Ledrook mit großer Lebhaftigkeit; »wenn Sie ihn nicht überreden können –«

Fräulein Ledrook sagte nichts weiter, gab aber durch eine geschickte Pantomime zu verstehen, daß ihn wohl niemand zu überreden vermöchte, wenn es Fräulein Snevellicci nicht gelänge.

»Herr und Madame Lillyvick haben sich in unserem Hause einquartiert und teilen für den Augenblick unser Zimmer«, sagte Fräulein Snevellicci. »Wird nicht vielleicht dies Sie bestimmen?«

»Was kann es eines weiteren Bestimmungsgrundes nach Ihrer Einladung bedürfen?« versetzte Nicolaus.

»O, das find ich auch!« entgegnete Fräulein Snevellicci.

Und Fräulein Ledrook meinte: »Hab ich’s nicht gesagt?« worauf Fräulein Snevellicci sagte, Fräulein Ledrook wäre ein loses Ding; und Fräulein Ledrook versicherte, Fräulein Snevellicci brauche nicht so rot zu werden; und Fräulein Snevellicci gab Fräulein Ledrook einen Klaps, und Fräulein Ledrook klapste Fräulein Snevellicci wieder.

»Kommen Sie, Herr Johnson«, sagte Fräulein Ledrook, »es ist hohe Zeit zum Nachhausegehen, sonst meint die arme Madame Snevellicci, Sie seien mit ihrer Tochter davongelaufen, und da würden wir nur zu trösten haben.«

»Liebe Led, wie können Sie nur so sprechen«, verwies ihr Fräulein Snevellicci.

Fräulein Ledrook erwiderte nichts, sondern nahm Smikes Arm und überließ es Nicolaus und ihrer Freundin, nach Gefallen zu folgen. Es gefiel ihnen jedoch, oder vielmehr es gefiel Nicolaus, dem es unter obwaltenden Umständen nicht besonders um ein trauliches Beisammensein zu tun war, ihr auf dem Fuße nachzukommen.

Es fehlte, als sie die Straße erreichten, nicht an Unterhaltungsstoff; denn es fand sich, daß Fräulein Snevellicci ein kleines Körbchen und Fräulein Ledrook eine kleine Schachtel nach Hause zu tragen hatten, in denen sie jeden Abend den kleineren Toilettenbedarf mit sich zu führen pflegten. Nicolaus wollte es sich nun nicht nehmen lassen, das Körbchen zu tragen, und Fräulein Snevellicci bestand darauf, es selber zu tun, was zu einem Kampf Veranlassung gab, in dem Nicolaus sich des Körbchens und der Schachtel zugleich bemächtigte. Dann sagte Nicolaus, er möchte doch wissen, was in dem Körbchen wäre, und versuchte es, hineinzusehen, worauf Fräulein Snevellicci schrie und die Erklärung abgab, daß sie, wenn sie denken müßte, er hätte etwas gesehen, gewiß in Ohnmacht sinken würde. Er machte nun einen ähnlichen Versuch mit der Schachtel, was dieselben Demonstrationen von Fräulein Ledrook zur Folge hatte. Dann beteuerten beide Damen, daß sie keinen Schritt von der Stelle gehen würden, bis Nicolaus versprochen hätte, nicht mehr hineinzusehen. Endlich gelobte Nicolaus, keine fernere Neugierde zu verraten, und sie gingen weiter, wobei beide Damen sehr viel kicherten und erklärten, sie hätten all ihrer Lebtage keinen so gottlosen Menschen gesehen – nein, in ihrem Leben nie!

Indem sie sich den Weg mit derartigen Scherzen kürzten, erreichten sie bald das Haus des Schneiders, wo sich nun eine recht hübsche kleine Gesellschaft zusammengefunden hatte; denn außer Herrn und Frau Lillyvick war nicht nur Fräulein Snevelliccis Mutter, sondern auch ihr Vater zugegen. Und was für ein ungemein schöner Mann war nicht dieser Vater? Er hatte eine Habichtsnase, eine weiße Stirne, krauses schwarzes Haar, hohe Backenknochen und im ganzen ein hübsches Gesicht, das nur – vielleicht vom Trinken – etwas kupfern angelaufen war. Er hatte eine sehr breite Brust und trug einen dicht zugeknöpften, fadenscheinigen blauen Rock mit vergoldeten Knöpfen. Sobald er Nicolaus in das Zimmer treten sah, steckte er die beiden Vorderfinger seiner rechten Hand zwischen die beiden mittleren Knöpfe, indem er zugleich den andern Arm anmutig in die Seite stemmte, als wolle er sagen: »Nun, hier bin ich, junger Mensch; was ist dein Begehr?«

Dies war das Äußere und die Haltung von Fräulein Snevelliccis Papa, der, seit er die zehnjährigen Teufelchen in den Weihnachtspantomimen gespielt hatte, der Kunst lebte. Er konnte ein wenig singen, ein wenig tanzen, ein wenig fechten, ein wenig spielen und von allem ein wenig, aber nicht viel. Er war bald beim Ballett, bald als Chorist, und überhaupt bei jedem Theater in London engagiert gewesen und wurde seiner Figur wegen für die Rollen militärischer Besuche und stummer Edelleute ausgewählt. Er war immer schmuck gekleidet und nahm sich besonders gut aus, wenn er Arm in Arm mit einer hübschen Dame in kurzem Röckchen ging, was er mit so viel Würde tat, daß ihm das Publikum im Parterre immer »Bravo« zurief, weil es ihn für etwas Besonderes hielt. Dies war Fräulein Snevelliccis Papa, dem einige neidische Personen nachsagten, er prügle hin und wieder Fräulein Snevelliccis Mama, die noch immer eine Tänzerin von ziemlich niedlicher Figur war und noch einige Reste eines früher schönen Gesichts zeigte. Sie saß jetzt da, wie sie tanzte, nämlich im Hintergrunde, da sie etwas zu alt für den vollen Glanz der Lampen des Proszeniums geworden war.

Diesen guten Leutchen wurde Nicolaus mit großer Förmlichkeit vorgestellt. Als die Zeremonie vorüber war, sagte Fräulein Snevelliccis Papa (der bedeutend nach Grog roch), er wäre ganz entzückt, die Bekanntschaft eines so ungemein talentvollen jungen Mannes zu machen, und bemerkte dabei noch weiter, daß ihm noch kein Künstler vorgekommen sei, der so rasch sein Glück gemacht hätte – nein, keiner – seit dem ersten Auftreten seines Freundes, des Herrn Glavormelly auf dem Coburg-Theater.

»Sie haben ihn wohl gesehen, Sir?« fragte Fräulein Snevelliccis Papa.

»Nein, ich kann mich dessen nicht rühmen«, versetzte Nicolaus.

»Wie – meinen Freund Glavormelly nicht gesehen, Sir?« rief Fräulein Snevelliccis Papa. »Dann haben Sie noch nie einen Schauspieler gesehen. Wenn er noch am Leben wäre – –«

»Ach, er ist also tot?« fiel Nicolaus ein.

»Ja«, antwortete Herr Snevellicci; »aber er ist zur Schande seines Zeitalters nicht in der Westminsterabtei. Er war ein – – Nun, gleichgültig! Er ist hingegangen nach dem Lande, aus dem kein Wanderer wiederkehrt. Ich hoffe, daß dort sein Wert mehr Anerkennung finden wird.«

Bei diesen Worten rieb Fräulein Snevelliccis Papa die Spitze seiner Nase mit einem sehr gelben seidenen Taschentuch und gab dadurch der Gesellschaft zu verstehen, daß ihn diese Rückerinnerungen überwältigten.

»Nun, Herr Lillyvick«, sagte Nicolaus, »wie geht es Ihnen?«

»Ganz gut«, erwiderte der Steuereinnehmer. »Verlassen Sie sich darauf, es geht nichts über den Ehestand.«

»Was Sie sagen!« entgegnete Nicolaus lachend.

»Nichts, gar nichts, Sir«, bekräftigte Herr Lillyvick. »Was meinen Sie?« flüsterte der Steuereinnehmer Nicolaus ins Ohr, indem er ihn beiseite nahm. »Wie kommt Ihnen diesen Abend ihr Aussehen vor?«

»So schön wie immer«, erwiderte Nicolaus mit einem Blick nach dem vormaligen Fräulein Petowker.

»Es liegt etwas in ihrem Wesen, Sir«, flüsterte der Steuereinnehmer fort, »das ich nie bei einem andern Frauenzimmer sah. Sehen Sie nur jetzt, wie sie dahinschwebt, um den Kessel auf das Feuer zu setzen. Ist nicht ein wahrer Zauber darin, Sir?«

»Sie sind ein glücklicher Mann«, sagte Nicolaus.

»Hahaha!« lachte der Steuereinnehmer. »Meinen Sie wirklich? Kann sein, kann sein! Ich sage Ihnen, ich hätte es nicht besser treffen können, wenn ich ein junger Mann gewesen wäre – meinen Sie nicht auch? Sie selbst hätten keinen besseren Treffer machen können. Oder hätten Sie – wie? – hätten Sie?«

Unter diesen und vielen ähnlichen Fragen stieß Herr Lillyvick fortwährend seinen Ellbogen in Nicolaus‘ Seite und kicherte, bis sein Gesicht unter der Bemühung, sein Vergnügen nicht laut werden zu lassen, ganz rot wurde.

Mittlerweile war durch die vereinten Bemühungen aller Damen das Tischtuch auf zwei aneinandergerückte Tische gelegt worden, von denen der eine hoch und schmal, der andere niedrig und breit war. Am oberen Ende standen Austern, unten Würste, in der Mitte eine Lichtputze und überall, wo es anging, Teller mit gebratenen Kartoffeln. Man hatte aus dem Schlafzimmer zwei weitere Stühle herbeigebracht. Fräulein Snevellicci saß oben an der Tafel, Herr Lillyvick unten, und Nicolaus hatte nicht nur die Ehre, neben Fräulein Snevellicci zu sitzen, sondern erhielt auch noch Fräulein Snevelliccis Mama auf die rechte Seite und Fräulein Snevelliccis Papa zum Visavis. Mit einem Wort, er war der Held des Festes, und als die Tafel aufgeräumt war und warmes Getränk herumgereicht wurde, stand Herr Snevellicci auf und hielt auf die Gesundheit des abreisenden Künstlers eine so rührende Rede, daß Fräulein Snevellicci weinte und sich nach ihrem Schlafgemach zurückziehen mußte.

»Pst! Lassen Sie sich nicht stören!« sagte Fräulein Ledrook, als sie aus dem Schlafzimmer herausblickte. »Sagen Sie ihr, wenn sie wieder zurückkommt, sie möchte sich nicht so sehr angreifen.«

Fräulein Ledrook stattete, ehe sie die Tür wieder schloß, ihre Worte mit so viel geheimnisvollem Nicken und Winken aus, daß auf einmal ein tiefes Schweigen eintrat, währenddem Fräulein Snevelliccis Papa sich sehr breit machte, der Reihe nach jedermann, insbesondere aber Nicolaus, mit vollen Blicken von oben her maß und ohne Unterlaß sein Glas leerte und wieder füllte, bis die Damen in einer Gruppe, in deren Mitte sich Fräulein Snevellicci befand, wieder zurückkehrten.

»Sie brauchen sich nicht im mindesten zu beunruhigen, Herr Snevellicci«, sagte Madame Lillyvick. »Sie ist nur etwas schwach und angegriffen und war es schon den ganzen Tag über.«

»Ach – so; ist’s weiter nichts?« entgegnete Herr Snevellicci.

»Nein, weiter nichts. Machen Sie nur kein Wesen davon«, riefen die Damen untereinander.

Das war nun freilich keine Antwort für Herrn Snevellicci, der seine ganze Bedeutung als Mann und Vater fühlte; und so griff er sich denn die unglückliche Madame Snevellicci heraus und fragte sie, was zum Teufel das heißen wolle, daß sie so mit ihm spreche.

»Ach Gott, mein Lieber – –« entgegnete Madame Snevellicci.

»Nenne mich nicht deinen Lieben, wenn ich bitten darf«, versetzte Herr Snevellicci.

»Bitte, Papa, nicht so«, fiel Fräulein Snevellicci ein.

»Was nicht so, mein Kind?«

»Reden Sie nicht in dieser Weise.«

»Warum nicht?« sagte Herr Snevellicci. »Du nimmst hoffentlich nicht an, daß hier jemand ist, der mir verbieten kann zu reden, wie mir beliebt?«

»Das hat ja niemand im Sinn, Papa«, versetzte die Tochter.

Und niemand würde es vermögen, wenn man es auch im Sinn hätte«, entgegnete Herr Snevellicci. »Ich brauche mich meiner selbst nicht zu schämen. Ich heiße Snevellicci und bin Bogenstraße im ›Breiten Hof‹ zu finden, wenn ich mich in der Stadt aufhalte. Bin ich nicht zu Hause, so kann man mich im Theater erfragen. Gott verdamme mich, ich denke, man kennt mich dort! Die meisten Leute haben mein Porträt an dem Tabaksladen um die Ecke gesehen. Auch in den Zeitungen hat man von mir gelesen – oder etwa nicht? – Nicht sprechen sollen! Ich will dir was sagen: wenn ich ausfindig machte, daß ein Mann mit den Gefühlen meiner Tochter sein Spiel getrieben hätte, so würde ich nicht sprechen; aber er sollte mir aufsehen, ohne daß ein Wort von meinen Lippen käme – das ist so meine Weise.«

So sprechend schlug Herr Snevellicci dreimal mit der geballten Faust in die Fläche seiner linken Hand, knuffte eine »Nase« mit den Knöcheln der Vorderfinger seiner rechten Hand und schluckte ein weiteres Glas voll auf einen Zug hinunter.

»Das ist so meine Weise«, wiederholte Herr Snevellicci.

Die meisten öffentlichen Persönlichkeiten haben ihre Mängel: und die Wahrheit ist, daß Herr Snevellicci ein wenig dem Trunk ergeben war, oder wenn wir die ganze Wahrheit zugestehen wollen, daß er fast nie nüchtern wurde. Er kannte in seinem Zechersystem drei bestimmte Grade der Betrunkenheit – den würdevollen, den streitsüchtigen und den zärtlichen. Wenn er auftreten mußte, so ging er nie über den würdevollen hinaus. In Privatgesellschaften pflegte er jedoch alle drei, und zwar mit einer solchen Raschheit des Übergangs durchzumachen, daß die, die nicht die Ehre seiner näheren Bekanntschaft hatten, ganz verblüfft darüber wurden.

Herr Snevellicci hatte kaum noch ein weiteres Glas hinuntergeschluckt, als er in glücklicher Vergessenheit der eben zur Schau gestellten Kampflust allen Anwesenden zulächelte und in liebenswürdiger Aufregung einen Toast »auf die süßen Herzen der Damen« ausbrachte.

»Ich liebe sie«, sagte Herr Snevellicci, indem er sich an dem Tische umsah. »Ich liebe sie samt und sonders.«

»Nicht samt und sonders«, entgegnete Herr Lillyvick mild.

»Ja, samt und sonders«, wiederholte Herr Snevellicci.

»Da wären ja auch die verheirateten Damen mit eingeschlossen?« versetzte Herr Lillyvick.

»Ich liebe auch diese, Sir«, erwiderte Herr Snevellicci.

Der Steuereinnehmer sah auf die ihn umgebenden Gesichter mit einem Blicke würdevoller Verwunderung, der zu sagen schien, »das ist mir ein sauberes Früchtchen.« Er war auch augenscheinlich ein wenig überrascht, daß Madame Lillyvick keine Zeichen von Entsetzen und Entrüstung an den Tag legte.

»Eine Hand wäscht die andere«, fuhr Herr Snevellicci fort. »Ich liebe sie und sie lieben mich.«

Und als ob durch diese Äußerung der Sittlichkeit nicht genug Hohn gesprochen wäre – was tat Herr Snevellicci? Er blinzelte – blinzelte offen und ohne Hehl; blinzelte mit seinem rechten Auge – Madame Henriette Lillyvick zu!

Der Steuereinnehmer fiel im Übermaß seines Entsetzens auf seinem Stuhle zurück. Wenn ihr jemand als Henriette Petowker zugeblinzelt hätte, so wäre es schon im höchsten Grade unanständig gewesen! Aber als Madame Lillyvick – der Gedanke trieb ihm den kalten Schweiß auf die Stirn, und während er darüber nachsann, ob es wirklich auch möglich sei und er nicht bloß träume, wiederholte Herr Snevellicci sein Blinzeln, trank Madame Lillyvick mit allerlei Gesten zu und sandte – wirklich, er sandte sogar ein Kußhändchcn nach ihr hinüber. Herr Lillyvick verließ seinen Stuhl, ging geradezu nach dem andern Ende der Tafel und fiel augenblicklich – fallen im buchstäblichen Sinn genommen – über ihn her. Herr Lillyvick war keine leichte Last, und wenn er also über Snevellicci herfiel, so mußte Herr Snevellicci unter den Tisch fallen. Herr Lillyvick folgte ihm, und die Damen kreischten laut auf.

»Was haben die zwei miteinander? Sind sie toll?« rief Nicolaus, indem er unter den Tisch griff, den Steuereinnehmer mit kräftiger Faust hervorzog und denselben wie einen Strohmann in einen Stuhl warf. »Was soll das bedeuten? Was hatten Sie vor? Was ist über Sie gekommen?«

Während sich Nicolaus mit dem Steuereinnehmer zu schaffen machte, leistete Smike Herrn Snevellicci den gleichen Liebesdienst, der jetzt seinen Gegner mit dem leeren Blicke der Trunkenheit anstierte.

»Sehen Sie dorthin, Sir«, versetzte Herr Lillyvick, indem er auf seine erstaunte Gattin zeigte. »Da ist Reinheit und Anmut vereinigt; und ihre Gefühle sind beleidigt – tief verwundet worden.«

»Um Gottes willen, was schwatzt er für Unsinn!« rief Madame Lillyvick auf Nicolaus‘ fragenden Blick. »Niemand hat etwas zu mir gesagt.«

»Gesagt, Henrietta?« rief der Steuereinnehmer. »Habe ich nicht selbst mit angesehen, wie er dir –«

Herr Lillyvick konnte es nicht über sich gewinnen, das Wort auszusprechen, sondern äffte das Blinzeln des andern nach.

»Nun«, entgegnete Madame Lillyvick heftig, »glaubst du, niemand dürfe mich ansehen? Wenn das Brauch wäre, so möchte der Henker verheiratet sein!«

»Du fühltest dich also nicht gekränkt?« rief der Steuereinnehmer.

»Gekränkt?« wiederholte Madame Lillyvick mit einem Ton der Verachtung. »Du solltest die ganze Gesellschaft auf den Knien um Verzeihung bitten.«

»Um Verzeihung bitten, meine Liebe?« entgegnete der verblüffte Steuereinnehmer.

»Ja, und mich zuerst«, versetzte Madame Lillyvick. »Glaubst du, ich wisse nicht selbst am besten, was sich schickt, und was sich nicht schickt?«

»Ganz natürlich«, riefen alle Damen. »Meinen Sie, wir würden nicht die ersten sein, die sprächen, wenn etwas Auffallendes vorkäme?«

»Und glauben Sie etwa, daß den Damen kein Urteil zusteht, Sir?« fragte Fräulein Snevelliccis Papa, indem er seinen Kragen in die Höhe zog und etwas von Schädelzertrümmern sprach, wenn ihn nicht die Rücksicht auf das Alter seines Gegners zurückhielte. Herr Snevellicci faßte hierauf Herrn Lillyvick einige Augenblicke fest und strenge ins Auge, stand dann ganz bedächtig vom Stuhle auf und küßte die Damen der Reihe nach, wobei er mit Madame Lillyvick den Anfang machte.

Der unglückliche Steuereinnehmer warf seiner Gattin einen kläglichen Blick zu, als wolle er sich überzeugen, ob auch nur noch ein Zug von Fräulein Petowker in Madame Lillyvick übriggeblieben sei. Als er aber – leider nur zu deutlich – das Gegenteil fand, so bat er die ganze Gesellschaft demütig um Verzeihung und setzte sich – niedergeschlagen, entmutigt und entzaubert, so daß er trotz seiner Selbstsucht und Eigenliebe ein würdiger Gegenstand des Erbarmens war.

Fräulein Snevelliccis Papa schwebte ob diesem Triumph und dem augenfälligen Belege seines Glückes bei den Damen ganz in höheren Gefilden und ließ seiner Munterkeit so weit den Zügel, daß man es fast Ausgelassenheit hätte nennen können. Er gab dann mehr als ein beträchtlich langes Lied zum besten und ergötzte in den Pausen den geselligen Zirkel mit Reminiszenzen an verschiedene herrliche Frauen, die im Verdacht gestanden hätten, in ihn verliebt zu sein. Auf die Namen einiger von ihnen brachte er Toaste aus und verfehlte dabei nicht anzumerken, daß er, wenn er in früheren Jahren seinen Vorteil besser verstanden hätte, gegenwärtig mit vieren fahren könnte. Diese Erinnerungen schienen jedoch in Madame Snevelliccis Brust keine besonders schmerzlichen Gefühle zu erwecken, denn sie war zu sehr beschäftigt, Nicolaus die mannigfaltigen Vorzüge und Verdienste ihrer Tochter auseinanderzusetzen.

Auch die junge Dame selbst verfehlte nicht, allen ihren Zauber spielen zu lassen. Aber so sehr dieser durch Fräulein Ledrooks kleine Künste gehoben war, so vermochte er doch Nicolaus‘ Aufmerksamkeit nicht zu vermehren, da dieser junge Mann das Bild von Fräulein Squeers noch zu lebhaft im Gedächtnis hatte, um sich neuen Lockungen hinzugeben, weshalb er auch sein Benehmen so sorgfältig bewachte, daß ihn, als er sich entfernt hatte, die Damen einstimmig für ein wahres Ungeheuer von Fühllosigkeit erklärten.

Am andern Tage wurden die Theaterzettel pflichtschuldig ausgehängt, und das Publikum erfuhr durch Buchstaben, die in allen Farben des Regenbogens und in jeder nur denkbaren Rückgratsverkrümmung prangten, Herr Johnson werde die Ehre haben, diesen Abend zum letztenmal aufzutreten, weshalb man bitte, die Plätze zeitig zu bestellen, da ein ungeheurer Zudrang zu erwarten stehe. Es ist gewiß ein merkwürdiger Umstand in den Chroniken des Theaterwesens, der aber längst durch Erfahrung über allen Zweifel erhaben ist, daß man sich vergeblich bemühen wird, Leute zum Besuch eines Schauspielhauses zu veranlassen, wenn man ihnen nicht den Glauben beibringen kann, daß sie keinen Platz finden würden.

Als Nicolaus am Abend die Bühne betrat, wußte er sich die ungewöhnliche Verstörung und Aufregung, die sich in den Gesichtern aller Gesellschaftsmitglieder spiegelten, nicht recht zu deuten. Er blieb aber nicht lange über die Ursache im Zweifel, denn ehe er noch Zeit hatte, darüber Nachfrage anzustellen, trat Herr Crummles auf ihn zu und teilte ihm ziemlich erhitzt mit, daß ein Londoner Theaterdirektor in einer der Logen säße.

»Sicherlich wegen des Wunderkindes, Sir«, sagte Crummles, indem er Nicolaus nach der kleinen Öffnung in dem Vorhang hinzog, damit er sich den Londoner Theaterdirektor betrachte. »Ich zweifle nicht im geringsten, daß ihn der Ruf des Wunderkindes hergelockt hat. Dort ist er – der Mann in dem Überrock und ohne Hemdkragen. Er muß ihr zehn Pfund wöchentlich zahlen, Johnson. Ich lasse sie um keinen Heller weniger auf den Londoner Brettern auftreten. Auch gebe ich sie nicht her, wenn nicht meine Frau zu gleicher Zeit engagiert wird – zwanzig Pfund wöchentlich für beide; oder ich will Ihnen was sagen, ich gebe mich und die zwei Jungen in den Kauf, wenn er für die ganze Familie dreißig zahlt. Ehrlicher kann man gewiß nicht zu Werke gehen. Er muß uns alle nehmen, denn keines geht ohne das andere. Viele Londoner machen’s so, und es entspricht immer ihrem Zweck. Dreißig Pfund wöchentlich, Johnson – es ist ein Spottgeld, Johnson, ein Spottgeld.«

Nicolaus pflichtete bei, und Herr Vincent Crummles eilte, nachdem er sich durch mehrere tüchtige Prisen gestärkt hatte, hinweg, um Madame Crummles zu sagen, daß er über die einzigen annehmbaren Bedingungen mit sich eins geworden wäre und den festen Entschluß gefaßt hätte, um keinen Heller davon abzuweichen.

Als alles angekleidet war und der Vorhang aufgezogen wurde, steigerte sich die durch die Anwesenheit des Londoner Theaterdirektors veranlaßte Aufregung tausendfältig. Jedes Mitglied der Gesellschaft war fest überzeugt, der besagte Herr wäre ausdrücklich hierhergekommen, um sein eigenes Spiel anzusehen, weshalb sich auch alle in der höchsten Spannung befanden. Einige von denen, die in der ersten Szene nichts zu tun hatten, eilten zwischen die Kulissen und reckten ihre Hälse, um den gefeierten Mann zu sehen, und andere stahlen sich in die zwei kleinen Schauspielerlogen über dem Eingang, um von da aus den Londoner Direktor zu mustern.

Einmal bemerkte man, daß der Londoner Direktor lächelte – er lächelte über den komischen Landmann, der tat, als ob er Schmeißfliegen fange, während Madame Crummles eben eine Glanzszene hatte. »Sehr gut, Bursche«, sagte Herr Crummles, indem er dem komischen Landmann, als er abtrat, die Faust nachschüttelte, »künftigen Sonntag kannst du dich um ein anderes Engagement umsehen.«

In der gleichen Weise sah jeder auf der Bühne kein Auditorium, sondern nur eine Person – den Londoner Theaterdirektor, für den alle ausschließlich spielten. Als Herr Lenville in einem plötzlichen Ausbruch der Wut den Kaiser einen Elenden nannte, dann aber in seinen Handschuh biß und sagte: »Ich muß mich verstellen«, so hielt er, statt, wie sonst in solchen Fällen üblich ist, finster zur Erde zu sehen und auf sein Stichwort zu warten, den Blick unverwandt auf den Londoner Direktor geheftet. Als Fräulein Bravassa in ihrem Liedchen ihren Geliebten ansang, der wie gewöhnlich bereit stand, um ihr zwischen den Versen die Hände zu schütteln, sahen sie sich nicht gegenseitig an, sondern blickten einzig und allein nach dem Londoner Direktor. Herr Crummles starb und richtete noch im Sterben seine Augen nach ihm, und als die Leibwache kam, um den in einem harten Todeskampf Verschiedenen hinauszutragen, bemerkte man, wie er aufs neue die Augen öffnete und nach dem Londoner Direktor schielte. Endlich entdeckte man, daß der Londoner Direktor eingeschlafen war. Als er dann bald nachher wieder aufwachte und das Theater verließ, fiel der ganze Schwarm über den unglücklichen komischen Landmann her und erklärte, daß seine Buffonerie einzig und allein schuld daran wäre. Herr Crummles behauptete, daß er lange Zeit damit Geduld gehabt hätte, nun aber sie nicht mehr länger ertragen könnte; es würde daher ihm, dem Direktor, sehr angenehm sein, wenn er sich nach einem andern Engagement umsehe.

All das gewährte Nikolaus viel Belustigung, und er freute sich aufrichtig, daß der große Mann von hinnen ging, noch ehe er selbst aufzutreten hatte. Er spielte seine Rollen in den zwei letzten Stücken so rasch wie möglich, und nachdem er mit unbegrenztem Wohlwollen und unerhörtem Beifall seinen Abschied gefeiert hatte – so sagten wenigstens die Zettel für den andern Tag, die schon ein paar Stunden vor dem Spiel gedruckt worden waren –, nahm er Smikes Arm und ging nach Hause, um sich schlafen zu legen.

Mit der Post des nächsten Morgens traf ein sehr verkleckster, sehr kurzer, sehr schmutziger, sehr kleiner und sehr geheimnisvoller Brief von Newman Noggs ein, der Nicolaus zu einer unverzüglichen Rückkehr nach London aufforderte. Er solle keine Zeit verlieren, hieß es darin, und womöglich noch am selben Abend in London anlangen.

»Das soll geschehen«, sagte Nicolaus. »Der Himmel weiß, ich bin in der besten Absicht und sehr gegen meinen eigenen Willen hiergeblieben, vielleicht habe ich aber doch zu lange gezögert. Was mag sich wohl zugetragen haben? Smike, guter Junge, da – nimm meinen Geldbeutel. Packe unsere Sachen ein und bezahle unsere kleinen Schulden. Beeile dich, daß wir die Morgenpost noch benutzen können. Ich will nur Crummles meine Abreise anzeigen und werde im Augenblick wieder hier sein.«

Er nahm nun seinen Hut und eilte nach Herrn Crummles‘ Wohnung, wo er die Klingel so kräftig handhabte, daß er diesen Herrn, der noch im Bett lag, aufweckte und Herrn Bulph, den Lotsen, so erschreckte, daß ihm beinahe seine Morgenpfeife aus dem Mund gefallen wäre.

Die Tür wurde geöffnet, und Nicolaus eilte ohne besondere Förmlichkeit die Treppe hinauf. Er trat rasch in das Wohnzimmer des ersten Stocks, wo die beiden jüngeren Herren Crummles aus der Sofabettstelle gesprungen waren und nun in aller Eile ihre Kleider anzogen, weil sie wähnten, es sei mitten in der Nacht, und das nächste Haus stehe in Feuer.

Ehe ihnen Nicolaus ihren Irrtum aufklären konnte, kam der Theaterdirektor im Flanellschlafrock und in der Nachtmütze herunter; und der junge Mann setzte ihm nun die Umstände, die eine schleunige Reise nach London nötig machten, in Kürze auseinander.

»Und somit Gott befohlen«, sagte Nicolaus; »leben Sie wohl! leben Sie wohl!«

Er war bereits schon wieder zur Hälfte die Treppe hinunter, ehe sich Herr Crummles von seiner Überraschung so weit erholt hatte, um etwas hinsichtlich der Theaterzettel hervorzustottern.

»Ich kann’s nicht ändern«, entgegnete Nicolaus. »Setzen Sie das, was ich für diese Woche zu fordern habe, dagegen, oder wenn Sie das nicht entschädigen sollte, so sagen Sie ohne Umschweife, was Sie verlangen. Geschwind! Geschwind!«

»Wir wollen da gegenseitig unsere Rechnungen streichen«, versetzte Crummles. »Aber könnten wir nicht wenigstens noch ein einziges zum letzenmal haben?«

»Jede Stunde – jede Minute ist mir unersetzlich«, erwiderte Nicolaus ungeduldig.

»Wollen Sie nicht auch noch Madame Crummles Lebewohl sagen?« sagte Herr Crummles, indem er ihm nach der Tür hinunter folgte.

»Ich dürfte nicht länger verweilen, und wenn ich dadurch mein Leben um zwei Jahrzehnte verlängern könnte«, antwortete Nicolaus. »Da, nehmen Sie meine Hand und zugleich meinen herzlichsten Dank. O, daß ich meine Zeit hier so lange mit Faseleien vergeudete!«

Er begleitete diese Worte mit einem ungeduldigen Stampfen auf den Boden. Dann entriß er sich gewaltsam den Armen des Direktors, stürzte in großer Eile auf die Straße hinunter und war in einem Augenblick verschwunden.

»Lieber Himmel«, sagte Herr Crummles, indem er spähend nach der Stelle sah, an der Nicolaus eben unsichtbar geworden war, »was müßte es nicht Geld eintragen, wenn er sich so auf der Bühne benähme! Hätte er nur noch diese Szene mit mir gemacht, wo er mir sonst schon von so gutem Nutzen gewesen ist. Aber er weiß nicht, was ihm gut ist. Er ist ein Hans Obenhinaus; aber so sind junge Leute – immer voreilig, schrecklich voreilig.«

Da Herr Crummles einmal im Moralisieren war, so würde er wohl leicht noch einige Minuten fortgefahren haben, wenn nicht seine Hand mechanisch nach der Westentasche gegriffen hätte, wo er seinen Schnupftabak gewöhnlich aufzubewahren pflegte. Die gänzliche Abwesenheit einer Tasche an der gewohnten Stelle rief ihm jedoch ins Gedächtnis, daß er keine Weste anhatte, und das führte ihn zu einer weiteren Betrachtung seines äußerst knappen Anzugs. Er schloß daher plötzlich die Tür und verfügte sich in großer Eile wieder die Treppe hinauf.

Smike hatte sich in Nicolaus‘ Abwesenheit nach Kräften beeilt, und durch seine Beihilfe war alles bald zur Abreise bereit. Sie erlaubten sich kaum, ein mageres Frühstück zu sich zu nehmen, und in weniger als einer halben Stunde befanden sie sich ganz atemlos vor Eile in dem Postbureau. Sie hatten nur noch einige Minuten übrig, die Nicolaus, nachdem er die Plätze bezahlt hatte, dazu benutzte, um in einem benachbarten Kleidergeschäft für Smike einen Überrock zu kaufen; er wäre zwar für einen stämmigen Pächter groß genug gewesen, aber der Kleiderhändler versicherte – und das war keine Lüge –, daß er ganz außerordentlich passe, und Nicolaus würde ihn in seiner Ungeduld gekauft haben, wenn er auch noch mal so groß gewesen wäre.

Als sie wieder zu der Postkutsche zurückkamen, die nun bereits auf der Straße und zum Aufbruche bereitstand, war Nicolaus nicht wenig überrascht, als er sich plötzlich so dicht und ungestüm umarmt fühlte, daß er mit den Füßen fast in der Luft baumelte. Auch wurde seine Verwunderung nicht im geringsten gemindert, als er Herrn Crummles ausrufen hörte: »Er ist’s – mein Freund! mein Freund!«

»Um Gottes willen«, rief Nicolaus, indem er sich in den Armen des Theaterdirektors sträubte, »was wandelt Sie an?«

Herr Crummles nahm auf diese Frage keine Rücksicht, sondern drückte ihn abermals an seine Brust und rief:

»Lebe wohl, mein edler, mein löwenherziger Junge!«

Die Sache verhielt sich nämlich so: Herr Crummles, der keine Gelegenheit unbenutzt vorbeigehen ließ, sein mimisches Talent zu entfalten, war ausdrücklich in der Absicht hergekommen, sich von Nicolaus öffentlich zu verabschieden, und um die Szene noch imponierender zu machen, entwickelte er nun zu Nicolaus‘ größtem Verdruß eine Reihe von Bühnenumarmungen, die bekanntermaßen darin bestehen, daß der oder die Umarmende das Kinn auf die Schulter des Gegenstandes ihrer Neigung legt und über diese wegsieht. Herr Crummles tat das im höchsten melodramatischen Stile und ließ dabei die beweglichsten Abschiedsphrasen entströmen, an die er sich aus seinem Komödienvorrat erinnern konnte. Aber das war noch nicht alles, denn der ältere Sohn des Herrn Crummles machte eine ähnliche Zeremonie mit Smike durch, während Herr Percy Crummles in einem aus einer Trödelbude gekauften Lakaienmantel, den er theatralisch über seine linke Schulter geworfen hatte, danebenstand, ganz in der Haltung eines Dieners der Gerechtigkeit, der bereit ist, die beiden Opfer nach dem Schafott zu führen.

Die Zuschauer lachten herzlich, und da es das Geratenste war, zum bösen Spiele eine gute Miene zu machen, so lachte Nicolaus mit, sobald er sich Herrn Crummles‘ Krallen entrissen hatte. Er kam dann dem erstaunten Smike zu Hilfe, kletterte mit diesem auf das Kutschendach, küßte die Hand zu Ehren der abwesenden Madame Crummles, und also fuhren sie von dannen.

Neunzehntes Kapitel.


Neunzehntes Kapitel.

Beschreibung eines Diners bei Herrn Ralph Nickleby, und der Art, wie sich die Gesellschaft vor, bei und nach diesem Diner unterhielt.

Die Galle und die Erbitterung der würdigen Mamsell Knag erlitten während des Restes der Woche keine Milderung, sondern mehrten sich vielmehr von Stunde zu Stunde. Auch der ehrenwerte Zorn der jungen Damen steigerte sich oder schien sich doch im gleichen Verhältnisse mit der Entrüstung der alten Jungfrau zu steigern, und beides erreichte jedesmal eine besondere Höhe, wenn Mamsell Nickleby die Treppe hinaufgerufen wurde, woraus sich entnehmen läßt, daß das Los des armen Mädchens keineswegs das glücklichste oder beneidenswerteste war. Sie begrüßte die Ankunft des Sonnabends wie ein Gefangener die wenigen köstlichen Stunden, wann er der langsam ertötenden Qual seines Kerkers entronnen ist, und fühlte, daß der armselige Lohn für die Arbeit der ersten Woche schwer und teuer verdient war, und wenn er auch das Dreifache betragen hätte.

Als Käthchen ihre Mutter wie gewöhnlich an der Straßenecke aufsuchte, war sie nicht wenig überrascht, diese im Gespräch mit Herrn Ralph Nickleby anzutreffen. Aber ihr Erstaunen sollte noch ebensosehr durch den Gegenstand ihrer Unterhaltung, wie durch das geschmeidigere und achtungsvollere Benehmen des Herrn Nickleby verdoppelt werden.

»Ah, meine Liebe, wir sprechen eben von dir«, rief ihr Ralph entgegen.

»Wirklich?« versetzte Käthchen, unwillkürlich vor dem kalten, stechenden Blicke ihres Onkels zurückbebend.

»Ja, ja«, entgegnete Ralph, »ich wollte bei dir vorkommen, ehe du noch Madame Mantalinis Haus verließest; aber ich sprach mit deiner Mutter über Familienangelegenheiten, und da glitt die Zeit so rasch dahin –«

»Ach, war dies wirklich der Fall?« fiel Madame Nickleby ein, ohne den Sarkasmus zu fühlen, womit Ralph diese letzlere Bemerkung betont hatte. »Auf mein Wort, ich hätte es nicht für möglich gehalten, daß eine solche – – liebes Käthchen, du sollst morgen um halb sieben Uhr bei deinem Onkel speisen.«

Überglücklich, diese außerordentliche Neuigkeit zuerst verkündigt zu haben, nickte und lächelte Madame Nickleby zu wiederholten Malen, um die ganze Bedeutsamkeit derselben dem verwunderten Käthchen recht nahe ans Herz zu legen, und schweifte dann unter einem spitzen Winkel auf die für diese Einladung erforderlichen Vorbereitungen ab.

»Laß einmal sehen«, sagte die gute Dame. »Dein schwarzseidenes Gewand wird dich gut genug kleiden, meine Liebe; dann die hübsche kleine Schärpe, ein einfaches Band im Haar und ein Paar schwarzseidene Strümpfe – – ach du mein Himmel«, rief Madame Nickleby, wieder unter einem andern Winkel abspringend, »wenn ich nur meine unglückseligen Amethysten noch hätte! Du erinnerst dich ihrer noch, liebes Käthchen – wie sie funkelten, weißt du? – Aber dein Vater, dein armer, lieber Vater – ach, nie ist etwas so grausam hingeopfert worden als diese Edelsteine – nein, gewiß nie!«

Von diesem schmerzlichen Gedanken überwältigt, schüttelte Madame Nickleby traurig den Kopf und fuhr mit dem Taschentuch nach den Augen.

»Gewiß, Mama, ich bedarf ihrer nicht«, versetzte Käthchen. »Vergessen Sie, daß wir jemals welche hatten.«

»Ach Gott, liebes Käthchen«, entgegnete Frau Nickleby unzufrieden, »du sprichst wie ein Kind. – Vierundzwanzig silberne Teelöffel, Schwager, zwei Saucieren, vier Salzfäßchen, alle Amethysten – Halsband, Busennadel und Ohrringe – alles zu gleicher Zeit fort; und ich sagte fast auf meinen Knien zu der armen, guten Seele: Warum tust du denn nichts, Nicolaus? Warum unternimmst du nichts dagegen? Gewiß, wer damals um mich war, wird mir die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß ich das nicht nur ein einziges Mal, sondern fünfzigmal des Tags zu ihm sagte. Ist’s nicht so, liebes Käthchen? Habe ich je eine Gelegenheit unbenutzt gelassen, es deinem armen Vater ans Herz zu legen?«

»Nein, nein, Mama, gewiß keine«, erwiderte Käthchen.

Auch wir müssen dies Madame Nickleby bezeugen und lassen nebenbei allen verheirateten Damen insgesamt die Gerechtigkeit widerfahren, daß sie nur selten eine Gelegenheit nicht benützen, wo es sich um ähnliche goldene Regeln handelt. Es ist dabei nur schade, daß sie gewöhnlich etwas undeutlich und unbestimmt an den Mann gebracht werden.

»Ach«, sagte Madame Nickleby in großer Aufregung, »wenn er nur gleich anfangs meinen Rat befolgt hätte! Doch ich habe wenigstens stets meine Pflicht wahrgenommen, und das gereicht mir einigermaßen zum Trost.«

Bei dieser Selbstberuhigung angelangt, seufzte Madame Nickleby, rieb die Hände, blickte gen Himmel und nahm schließlich eine demütig gefaßte Miene an, um damit anzudeuten, sie sei eine verfolgte Heilige, wolle aber ihre Zuhörer nicht mit der Erwähnung dieses Umstandes belästigen, da er ja jedermann in die Augen fallen mußte.

»Nun«, sagte Ralph mit einem Lächeln, das, wie alle anderen Ausdrücke seiner Empfindungen, mehr hinter seinem Gesichte zu lauern, als frei sich auf diesem zu entfalten schien – »um auf den Punkt, von dem wir abschweiften, zurückzukommen, so habe ich auf morgen eine kleine Gesellschaft von – von – Herren, mit denen ich gegenwärtig in Geschäftsverbindung stehe, zu Gast gebeten, und deine Mutter versprach mir, daß du das Amt der Hausdame übernehmen würdest. Ich bin an solche Partien nicht besonders gewöhnt, aber die morgige ist eine Geschäftssache, und derartige Torheiten sind bisweilen von Wichtigkeit. Du willigst doch ein, mir eine Gefälligkeit zu erweisen?«

»Einwilligen?« rief Madame Nickleby. »Mein liebes Käthchen, warum –«

»Bitte«, fiel Ralph ein, indem er ihr zu schweigen winkte: »ich spreche mit meiner Nichte.«

»Ich tue es natürlich mit Vergnügen, Onkel«, versetzte Käthchen, »aber ich fürchte, Sie werden mich sehr ungeschickt und verlegen finden.«

»Nicht doch«, entgegnete Ralph. »Du kannst, wenn du willst, in einer Mietkutsche kommen – ich zahle sie. Gute Nacht – und – und – Gott befohlen!«

Der Segenswunsch schien in Herrn Ralph Nicklebys Kehle steckenbleiben zu wollen, als sei er dieser Passage nicht gewohnt und könne den Weg nicht ausfinden. Demungeachtet fand er sich endlich, obgleich ungeschickt genug, zurecht, und nachdem sich der Ehrenmann dieses entledigt hatte, schüttelte er seinen zwei Verwandten die Hände und eilte von hinnen.

»Was für ein ausgeprägtes Gesicht dein Onkel hat«, sagte Frau Nickleby, etwas verdutzt über Ralphs Blicke beim Abschied. »Ich kann bei ihm auch nicht die mindeste Ähnlichkeit mit seinem armen Bruder entdecken.«

»Mama«, erwiderte Käthchen verweisend, »wie mögen Sie nur an so etwas denken?«

»Nein«, entgegnete Madame Nickleby nachsinnend, »ähnlich sieht er ihm nicht, aber es ist doch ein sehr ehrliches Gesicht.«

Die würdige Dame entlud sich dieser Bemerkung mit einer so wichtigen Betonung, als ob solche sie nicht wenig Scharfsinn und Spähergeist gekostet hätte; und in der Tat, die Entdeckung hätte es auch wohl verdient, den außerordentlichsten unseres Jahrhunderts beigezählt zu werden. Käthchen sah hastig auf, ließ aber ebenso rasch ihre Augen wieder sinken.

»Um Gottes willen, was ist denn über dich gekommen, meine Liebe?« sagte Madame Nickleby, als sie schweigend eine Strecke weitergegangen waren.

»Ich habe bloß über etwas nachgedacht«, entgegnete Käthchen.

»Nachgedacht?« wiederholte Frau Nickleby. »Nun ja, wir haben in der Tat Ursache genug nachzudenken. Dein Onkel hat eine große Zuneigung zu dir gefaßt, das ist offenbar: und ich kann nur sagen, daß es mich wundernehmen wird, wenn dir daraus nicht irgendein außerordentliches Glück erwächst.«

Madame Nickleby erging sich hierauf in allerhand Anekdötchen von jungen Damen, denen wunderliche Onkel Tausendpfund-Noten in ihre Strickbeutel gesteckt, und von jungen Damen, die zufällig liebenswürdige Herren von ungeheurem Reichtum in den Häusern ihrer Onkels getroffen und diese nach kurzen, aber glühenden Werbungen geheiratet hatten. Käthchen aber, die im Anfang gleichgültig und nachher mit Vergnügen zuhörte, fühlte allmählich auf ihrem Spaziergange einiges von dem phantastischen Wesen ihrer Mutter in dem eigenen Herzen erwachen, so daß sie anfing, einer glänzenderen Zukunft und schöneren Tagen, die für sie noch aufdämmern könnten, entgegenzusehen. So ist die Hoffnung – eine wahre Himmelsgabe für den leidenden Sterblichen, gleich dem luftigen Äther alles durchdringend. Gutes und Böses – allgemein wie der Tod und ansteckender als die Pest.

Die matte Wintersonne – und Wintersonnen sind wahrlich in der City sehr matt –- hätte wohl heller erglänzen mögen, als sie durch die trüben Fenster des großen alten Hauses schien und Zeuge des ungewöhnlichen Anblicks war, den eines der halbmöblierten Zimmer darbot. In einem düsteren Winkel, wo vordem viele Jahre lang ein stiller, staubiger Warenhaufen lag, der, einer Kolonie von Mäusen Schutz verleihend, düster und leblos den Raum des getäfelten Zimmers beengte und nur, wenn schwere Wagen durch die Straßen rollten, durcheinander schütterte und bebte, so daß die hellen Augen seiner kleinen Bewohner vor Furcht noch heller leuchteten und die erschreckten Tierchen mit aufmerksamem Ohr und klopfendem Herzen regungslos blieben, bis der Lärm vorüber war – in diesem düsteren Winkel lag Käthchens kleiner Schmuck für den Tag aufs sorgfältigste ausgebreitet. Jeder einzelne Putzartikel hatte etwas von jener eigentümlichen und unbeschreiblichen Anmut, die Kleidungsstücke – sei es durch Ideenverbindung, oder weil man sich die Besitzerin darin denkt – in den Augen derer haben, die in ihnen eine schmucke Gestalt kennen oder doch durch ihre Phantasie die leeren Gewänder mit einer solchen ausfüllen. An der Stelle eines vermoderten Warenballens lag das schwarze seidene Kleid, das an sich schon einen allerliebsten Anblick bot. Die kleinen Schuhe mit den zarten Abdrücken der Zehen standen auf derselben Stelle, wo einige alte Eisengewichte Eindrücke in den Dielen zurückgelassen hatten. Ein Haufen groben, mißfarbigen Leders hatte unfreiwillig denselben kleinen schwarzseidenen Strümpfen Platz gemacht, die der Gegenstand von Madame Nicklebys besonderer Sorgfalt gewesen waren. Ratten und Mäuse, nebst ähnlicher kleiner Brut, waren schon längst verhungert oder nach besseren Quartieren ausgewandert, und an ihrer Statt erblickte man Handschuhe, Bänder, Schärpen, Haarnadeln und noch viele andere kleine Erfindungen, die in ihrer Weise ebenso scharfsinnig im Quälen der Menschen sind wie Ratten und Mäuse.

Zwischen alledem bewegte sich Käthchen hin und her, die ungewohnteste, aber keineswegs die am mindesten schöne Zierde des düstern alten Gebäudes.

In guter – oder in schlimmer Zeit, wie es dem Leser beliebt, denn Madame Nicklebys Ungeduld überflügelte die Glocken der Turmuhren bei weitem, und Käthchen hatte bereits anderthalb volle Stunden, ehe es nötig war, nur an den Beginn der Toilette zu denken, ihre letzte Haarnadel festgesteckt – in guter oder in schlimmer Zeit also war die Dame vollständig aufgeputzt. Als nun endlich die zum Aufbrechen bestimmte Stunde erschien, wurde der Milchmann beauftragt, von dem nächsten Standorte eine Mietdroschke zu holen. Käthchen stieg, nachdem sie ihrer Mutter zu wiederholten Malen Lebewohl gesagt und ihr viele freundliche Grüße an Fräulein La Creevy, die zum Tee erwartet wurde, aufgetragen hatte, in die Kutsche und fuhr ganz stattlich von hinnen, wenn man anders in einem Mietwagen stattlich fahren kann. Und die Kutsche und der Kutscher und die Pferde rasselten und quenkelten und peitschten und fluchten und stolperten, bis sie Golden Square erreichten.

Der Kutscher pochte mit einem wuchtigen Doppelschlag an die Tür, die sich, noch ehe er ganz damit zustande gekommen war, so rasch öffnete, als ob jemand mit der Hand auf der Klinke dahinter gestanden hätte. Käthchen, die keine ungewöhnlichere Erscheinung als Newman Noggs mit einem reinen Hemde erwartet hatte, war nicht wenig erstaunt, in dem Manne, der die Tür öffnete, einen Bedienten in schöner Livree zu finden, wie sie denn auch noch zwei oder drei andere in der Hausflur stehen sah. Im Hause konnte man sich indessen nicht geirrt haben, denn Ralphs Name stand an der Tür; und so nahm sie den mit Borten geschmückten Rockärmel, der ihr geboten wurde, an, trat in das Haus und folgte ihrem Führer die Treppe hinauf nach einem hintenhinausgehenden Gesellschaftszimmer, wo sie allein gelassen wurde.

Hatte sie schon die Erscheinung des Dieners überrascht, so konnte sie jetzt über den Reichtum und den Glanz der Einrichtung gar nicht zu sich selber kommen. Die weichsten und elegantesten Teppiche, die ausgesuchtesten Gemälde, die köstlichsten Spiegel und die reichsten Schmuckstücke, deren verschwenderische Pracht die Augen blendete und verwirrte, traten allenthalben ihren Blicken entgegen. Selbst das Stiegenhaus fast bis zur Hausflurtür hinunter war mit schonen und prachtvollen Gegenständen überfüllt, als ob das Haus bis an den Rand voll von Reichtum wäre und bei dem geringsten Zuwachs nach der Straße zu überfließen müßte.

Bald darauf hörte sie eine Reihe von lauten Doppelschlägen an der Haustüre und nach jedem Pochen eine neue Stimme in dem nächsten Zimmer. Die des Herrn Ralph Nickleby war im Anfang leicht zu erkennen; allmählich erstickte sie aber in dem allgemeinen Gesumme der Unterhaltung, und Käthchen konnte nun weiter nichts unterscheiden, als daß einige Herren mit nicht sehr musikalischen Stimmen da waren, die sehr laut sprachen, alle Augenblicke hellauf lachten und mehr schworen, als ihr wahrscheinlich nötig dünkte. Doch das war Geschmackssache.

Endlich ging die Tür auf, und Ralph selbst, nicht wie gewöhnlich in Stiefeln, sondern gar anständig in schwarzseidenen Strümpfen und Schuhen, zeigte sein listiges Gesicht.

»Ich konnte dich nicht früher begrüßen, meine Liebe«, sagte er leise, indem er zugleich auf das nächste Zimmer deutete, »denn ich mußte die da drinnen empfangen. Nun – kann ich dich jetzt vorstellen?«

»Aber lieber Onkel«, sagte Käthchen etwas betreten, wie es wohl auch Leuten gehen mag, die mehr an Gesellschaften gewöhnt sind, wenn sie in ein mit lauter Fremden angefülltes Zimmer treten sollen und vorher Zeit gehabt haben, darüber nachzudenken; »sind auch Damen da?«

»Nein«, versetzte Ralph abgebrochen; »ich kenne keine Damen.«

»Muß ich jetzt gleich hineingehen?« fragte Käthchen, sich ein wenig zurückziehend.

»Wie dir beliebt«, antwortete Ralph mit einem Achselzucken. »Die Gäste sind beisammen, und das Essen wird gleich angehen.«

Käthchen hätte wohl gerne um ein paar Minuten Verzug gebeten; sie bedachte aber, daß ihr Onkel vielleicht die Bezahlung der Kutschenmiete für eine Art Verpflichtung betrachte und dafür von ihrer Seite Pünktlichkeit fordere, und so nahm sie seinen Arm an und ließ sich fortführen.

Als sie eintraten, standen sieben oder acht Herren um das Feuer. Da diese jedoch sehr laut miteinander sprachen, so gewahrten sie die Eingetretenen nicht früher, als bis Herr Ralph Nickleby den einen am Rockärmel berührte und mit rauher und nachdrücklicher Stimme, als wolle er die allgemeine Aufmerksamkeit erregen, begann:

»Lord Friedrich Verisopht – meine Nichte, Fräulein Nickleby.«

Die Gruppe trat überrascht auseinander, und der angeredete Herr, der sich rasch umwandte, zeigte einen Anzug von dem allermodernsten Zuschnitt, einen dito Backen- und Schnurrbart, einen Kopf voll Haare und ein junges Gesicht.

»Ha!« sagte der Herr. »Wa-as – der – Teufel!«

Unter diesen abgebrochenen Ausrufungen heftete er seine Lorgnette vor das Auge und starrte Fräulein Nickleby in großer Überraschung an.

»Meine Nichte, Mylord«, sagte Ralph.

»Wirklich? – täuschen mich meine Ohren nicht, und ist es kein W–a–chsbild?« entgegnete Seine Herrlichkeit. »Wie geht es Ihnen? Ich schätze mich außerordentlich glücklich.«

Und dann drehte sich Seine Herrlichkeit gegen einen andern höchst modernen Herrn, der etwas älter, etwas stämmiger, etwas röter im Gesicht und etwas ausgekochter war, und sagte ihm laut ins Ohr, das Mädchen wäre ›verteufelt hübsch‹.

»Stellen Sie mich vor, Nickleby«, sagte dieser Herr, der mit dem Rücken gegen den Kamin lehnte und beide Ellenbogen auf das Gesimse stützte.

»Sir Mulberry Hawk«, sagte Ralph.

»Der bekannteste Gentleman in der ganzen Sta–adt, Fräulein Nickleby«, fügte Lord Verisopht bei.

»Vergessen Sie mich nicht, Nickleby«, rief ein Herr mit einem scharfen Gesichtszug, der auf einem niedrigen Stuhl mit hoher Lehne saß und eine Zeitung las.

»Herr Pyke«, sagte Ralph.

»Mich auch nicht, Nickleby«, rief ein anderer geschniegelter Herr mit einem roten Gesicht, der an Sir Mulberry Hawks Seite stand.

»Herr Pluck«, sagte Ralph.

Dann wandte er sich gegen einen Herrn mit einem Storchhals und den Beinen eben keines besonderen Tieres und stellte ihn als den ehrenwerten Herrn Snobb, – wie auch einen an dem Tisch sitzenden Mann in weißen Haaren als den Obersten Chowser vor. Der Oberst war im Gespräch mit irgend jemand, der nur eine Zugabe zu sein schien und daher nicht vorgestellt wurde.

Schon jetzt fielen unserem Käthchen zwei Umstände ungemein auf, und das Blut schoß ihr dabei glühend nach dem Gesicht: einmal die unbekümmerte Verachtung, womit die Gäste augenscheinlich ihren Onkel behandelten, und dann die leichtfertige Unverschämtheit ihres Benehmens gegen sie selbst. Auch ließ sich leicht voraussehen, daß die erstere höchstwahrscheinlich noch zu einer Verschlimmerung des zweiten führte. Und hier hatte Herr Ralph Nickleby die Rechnung ohne den Wirt gemacht! denn mag ein Mädchen von nur einiger Erziehung auch frisch vom Lande weggekommen und mit dem konventionellen Benehmen durchaus unbekannt sein, so ist doch die größte Wahrscheinlichkeit vorhanden, daß ihr angeborenes Schicklichkeitsgefühl sie über das, was sich im Leben ziemt, ebensogut belehrt, als ob sie ein ganzes Dutzend Saisons in London mitgemacht hätte – ja vielleicht noch besser: denn man hat Beispiele, daß ein derartiges Gefühl durch die angedeutete Verbesserungslaufbahn ziemlich abgestumpft wurde.

Als Ralph die Zeremonie der Einführung beendigt hatte, führte er seine errötende Nichte zu einem Platz, indem er zugleich einen schlauen Blick um sich warf, als wolle er sich überzeugen, welchen Eindruck ihre unerwartete Erscheinung gemacht hatte.

»Ein unverhoffter Zeitvertreib, Nickleby«, sagte Lord Verisopht und nahm die Lorgnette von seinem rechten Auge, wo sie bis jetzt Käthchen gegenüber ihre Pflicht getan, um sie an das linke bringen und Ralph betrachten zu können.

»Er hatte die Absicht, Sie zu überraschen, Lord Friedrich«, entgegnete Herr Pluck.

»Keine üble Idee«, meinte Seine Herrlichkeit, »die sogar eine Beifügung von noch weiteren dritthalb Prozenten rechtfertigen würde.«

»Nickleby«, sagte Sir Mulberry Hawk mit dicker, heiserer Stimme, »benutzen Sie den Wink, schlagen Sie dieses Geständnis des edlen Lords zu den andern fünfundzwanzig, oder wieviel es ausmachen mag, und geben Sie mir die Hälfte für meinen Rat.«

Sir Mulberry verzierte seine Worte mit einem heiseren Lachen und schloß diese mit einem scherzhaften Fluch über Herrn Nicklebys Gliedmaßen, worüber die Herren Pyke und Pluck sich fast totlachen wollten.

Diese Herren hatten sich von ihrer Heiterkeit noch nicht ganz erholt, als gemeldet wurde, daß aufgetragen sei, worauf sie durch eine ähnliche Scherzrede aufs neue in einen Lachkrumpf gerieten. Dann schoß Sir Mulberry Hawk im Übermaß seiner guten Laune gewandt an Lord Friedrich Verisopht, der eben Käthchen die Treppe hinunterführen wollte, vorbei und legte ihren Arm in den seinigen.

»Nein, zum Teufel, Verisopht«, sagte Sir Mulberry, »ich lobe mir ein ehrliches Spiel. Fräulein Nickleby und ich haben die Sache schon vor zehn Minuten mit den Augen abgemacht.«

»Ha! ha! ha!« lachte der ehrenwerte Herr Snobb, »sehr gut, sehr gut.«

Sir Mulberry Hawk, der durch diesen Beifall noch witziger wurde, schielte schalkhaft nach seinen Freunden und führte Käthchen mit einem so vertraulichen Wesen die Stiege hinunter, daß in dem edlen Herzen des Mädchens ein Abscheu und eine Entrüstung aufflammten, die sie fast nicht zu unterdrücken vermochte. Die Gewalt dieser Gefühle wurde auch nicht im mindesten gedämpft, als man ihr einen Platz oben an der Tafel zwischen Sir Mulberry Hawk und Lord Verisopht anwies.

»Ah, Sie haben auch den Weg in unsere Nachbarschaft gefunden«, sagte Sir Mulberry, als sich Seine Herrlichkeit niederließ.

»Natürlich«, versetzte Lord Friedrich, seine Augen auf Fräulein Nickleby heftend, »wie mögen Sie nur fra–a–gen?«

»Nun so beschäftigen Sie sich recht hübsch mit Ihrem Teller«, entgegnete Sir Mulberry, »und kümmern Sie sich nicht um Fräulein Nickleby und mich: denn ich versichere Sie, wir werden zur Unterhaltung der Gesellschaft sehr wenig beitragen.«

»Da müssen Sie sich ins Mittel legen, Nickleby«, rief Lord Verisopht.

»Worum handelt sich’s, Mylord?« fragte Ralph, der am untern Ende der Tafel zwischen den Herren Pyke und Pluck saß.

»Dieser Kerl, der Hawk, will ein Monopol auf Ihre Nichte geltend machen«, versetzte Lord Verisopht.

»Er nimmt einen erträglichen Anteil von allem, worauf Sie selbst Anspruch machen, Mylord«, entgegnete Ralph mit einem höhnischen Zucken der Lippen.

»Beim Henker, das tut er«, rief der junge Herr; »der Teufel soll mich holen, wenn ich weiß, welcher von uns beiden Herr in meinem Hause ist.«

»Ich weiß es wohl«, brummte Ralph vor sich hin.

»Nun, ich denke, ich schüttle ihn seinerzeit ab, und vermache ihm einen Schilling«, sagte der junge Edelmann scherzend.

»Nein, nein, mein Goldmännchen«, sagte Sir Mulberry. »Wenn Sie zu dem Schilling kommen – dem letzten, meine ich – will ich Sie geschwind genug abschütteln; aber bis dahin werde ich nicht von Ihnen lassen – nehmen Sie mein Wort darauf.«

Diese Scherzrede, die jedoch nur Sir Mulberrys wahre Gesinnung aussprach, wurde mit allgemeinem Brüllen aufgenommen, aus dem man aber das Gelächter der Herren Pyke und Pluck, die augenscheinlich Sir Mulberrys besondere Verehrer waren, deutlich unterscheiden konnte. In der Tat war auch leicht zu bemerken, daß die Mehrzahl der Gesellschaft den unglücklichen jungen Lord, der zwar schwach und einfältig, aber offenbar der am wenigsten Lasterhafte unter dieser Horde war, so viel wie möglich auszubeuten suchte.

Sir Mulberry Hawk war berühmt wegen seiner bewunderungswürdigen Geschicklichkeit, unter Beihilfe seiner Kreaturen reiche junge Herren zugrunde zu richten – ein sehr anständiges und ehrenwertes Gewerbe, in dem er unbezweifelt den ersten Rang einnahm. Mit der ganzen Kühnheit und Originalität eines Genies hatte er eine den früheren Methoden ganz entgegengesetzte, vollkommen neue Verfahrungsweise ausgesonnen; denn er pflegte diejenigen, über die er das Übergewicht gewonnen, eher zu zügeln als sie ihren eigenen Wegen zu überlassen, wie er es denn auch liebte, seinen Witz offen und ohne Rückhalt an ihnen auszuüben. Er hatte sie daher in doppeltem Sinne zu Narren; denn während er sie mit ungemeiner Fertigkeit rupfte, nötigte er sie auch, zur Belustigung der Gesellschaft zu dienen.

Das Mahl war hinsichtlich des Glanzes und der Rundung seiner Anordnung so ausgezeichnet wie die Gemächer, und die Gesellschaft ermangelte nicht, ihm volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, wobei namentlich die Herren Pyke und Pluck etwas Ausgezeichnetes leisteten. Diese beiden Ehrenmänner nämlich aßen von jeder Schüssel und tranken aus jeder Flasche mit einer Fähigkeit und Ausdauer, die wirklich Erstaunen erregte. Sie blieben aber trotz ihrer großen Anstrengung merkwürdig frisch: denn sogar in dem Dessert richteten sie Verheerungen an, als ob sie seit dem Frühstück nichts Namhaftes zu sich genommen hätten.

»Nun«, sagte Lord Friedrich, als er noch an seinem ersten Glas schlürfte, »wenn das ein Diskontodiner ist, so weiß ich weiter nichts zu sagen, als daß mich der Teufel holen soll, wenn ich es nicht für etwas Herrliches halte, jeden Ta–a–g zu diskontieren.«

»Sie werden seinerzeit vollauf davon bekommen«, entgegnete Sir Mulberry Hawk; »Nickleby wird’s Ihnen schon anschreiben.«

»Was sagen Sie dazu?« fragte der junge Herr. »Werde ich ein guter Kunde sein?«

»Das hängt ganz von den Umständen ab, Mylord«, erwiderte Ralph.

»Nämlich von Eurer Herrlichkeit Umständen«, bemerkte Oberst Chowser von der Miliz – »und von den Wettrennplätzen.«

Der brave Oberst warf einen Blick auf die Herren Pyke und Pluck, als erwarte er von ihnen, daß sie seinen Witz belachen sollten. Da aber diese würdigen Männer nur die Verpflichtung hatten, für Sir Mulberry Hawk zu lachen, so blieben sie, zu des Obersten großem Mißvergnügen, so ernst wie ein paar Leichenbitter. Um seine Niederlage noch zu vergrößern, betrachtete Sir Mulberry, der solche Versuche für einen Eingriff in die ihm ausschließlich zustehenden Rechte hielt, den Übertreter fest durch seine Lorgnette, als sei er höchlich erstaunt über diese Anmaßung, und ließ seinen Unwillen durch eine Äußerung über ›höllische Freiheit‹ laut werden. Dies faßte Lord Friedrich für einen Wink auf, sich gleichfalls seiner Lorgnette zu bedienen und den Gegenstand des Tadels zu beäugeln, als sei er irgendein außerordentliches, wildes Tier, das man zum erstenmal zur Schau stellte. Natürlich folgten Herr Pyke und Herr Pluck Sir Mulberry Hawks Beispiel, und so sah sich der arme Oberst, um seine Verwirrung zu verbergen, in die Notwendigkeit versetzt, sein Glas Portwein vor das rechte Auge zu halten und zu tun, als prüfe er dessen Farbe mit dem angelegentlichsten Interesse.

Diese ganze Zeit über saß Käthchen so stumm wie möglich da und wagte es kaum, ihre Augen zu erheben, damit sie nicht dem bewundernden Blicke des Lord Friedrich Verisopht oder – was sie noch mehr in Verlegenheit setzte, dem kühnen seines Freundes Sir Mulberry begegneten. Der letztere Herr war verbindlich genug, die allgemeine Aufmerksamkeit auf sie zu lenken.

»Hier ist Fräulein Nickleby«, bemerkte Sir Mulberry, »und wundert sich, warum, zum Henker, ihr niemand den Hof macht.«

»O gewiß nicht«, versetzte Käthchen hastig aufblickend, »ich – –« dann hielt sie plötzlich inne, denn sie fühlte, es wäre besser gewesen, wenn sie gar nicht gesprochen hätte.

»Ich wette fünfzig Pfund gegen jeden«, sagte Sir Mulberry, »daß Fräulein Nickleby mir nicht ins Gesicht sehen und behaupten kann, sie hätte nicht diesen Gedanken gehegt.«

»Es gilt«, rief der hochadlige Gimpel. »Innerhalb zehn Minuten.«

»Gilt!« entgegnete Sir Mulberry.

Das Geld wurde von beiden Seiten aufgezählt, und der ehrenwerte Herr Snobb für das doppelte Amt erkoren, die Summe in Verwahrung zu nehmen und die Zeit abzumessen.

»Ich bitte«, sagte Käthchcn, die sich während dieser Einleitung in der größten Verwirrung befand, »ich bitte, mich nicht zum Gegenstand einer Wette zu machen. Onkel, ich kann in der Tat nicht – –«

»Warum nicht, meine Liebe«, versetzte Ralph, in dessen schnarrender Stimme sich übrigens eine ungewöhnliche Heiserkeit kundgab, als ob er nur ungern so spräche und es lieber gesehen hätte, wenn diese Wette unterblieben wäre. »Es liegt nichts Verfängliches darin und ist in einem Augenblick geschehen. Wenn die Herren darauf bestehen – –«

»Ich bestehe nicht darauf«, entgegnete Sir Mulberry mit einem lauten Lachen. »Das heißt, ich bestehe keineswegs darauf, daß es Fräulein Nickleby in Abrede zieht, denn wenn sie es tut, so verliere ich. Aber es würde mir eine Freude machen, ihre schönen Augen zu sehen, zumal sie diese Gunst nur diesem Mahagonitisch zugedacht zu haben scheint.«

»Ja, da« tut sie – und es ist zu a–a–arg von Ihnen, Fräulein Nickleby«, sagte der junge Lord.

»Ganz grausam«, meinte Herr Pyke.

»Schrecklich grausam«, beteuerte Herr Pluck.

»Ich mache mir nichts daraus, wenn ich verliere«, erklärte Sir Mulberry, »denn ein einziger richtiger Blick aus Fräulein Nicklebys Augen ist doppelt so viel wert.«

»Mehr«, sagte Herr Pyke.

»Weit mehr«, bekräftigte Herr Pluck.

»Wie steht’s mit dem Feind, Snobb?« fragte Herr Mulberry Hawk.

»Fünf Minuten vorbei.«

»Bravo!«

»Möchten Sie nicht zu meinen Gunsten einen Versuch ma–a–achen, Fräulein Nickleby?« fragte Lord Friedrich nach einer kurzen Pause.

»Bemühen Sie sich nicht mit solchen vorlauten Fragen, mein Bester«, sagte Sir Mulberry. »Fräulein Nickleby und ich verstehen uns gegenseitig. Sie erklärt sich für mich und zeigt dadurch ihren Geschmack. Sie dürfen sich keine Hoffnung machen, mein Guter. Wie steht’s, Snobb?«

»Acht Minuten vorbei.«

»Halten Sie das Geld bereit«, entgegnete Sir Mulberry, »Sie werden es bald aushändigen müssen.«

»Ha! ha! ha!« lachte Herr Pyke.

Herr Pluck, der immer den Nachtreter machte und seinen Freund womöglich zu überbieten suchte, brüllte laut auf.

Das arme Mädchen, das vor Verwirrung kaum wußte, was sie tat, hatte sich vorgenommen, ganz ruhig zu bleiben. Da sie aber fürchtete, hierdurch den Anschein zu erhalten, als unterstütze sie Sir Mulberrys Prahlerei, die er in so roher und gemeiner Weise ausgesprochen hatte, so erhob sie ihre Augen und sah ihm ins Gesicht. In seinem Blick lag aber etwas so Gehässiges, Unverschämtes und Zurückstoßendes, daß sie – unfähig, auch nur eine Silbe hervorzustammeln – aufstand und aus dem Zimmer eilte. Sie drängte ihre Tränen mit Gewalt zurück, bis sie sich allein in dem obern Zimmer befand, und ließ ihnen dann freien Jauf.

»Vortrefflich!« rief Sir Mulberry Hawk, indem er die Einlagen zu sich steckte. »Das Mädel hat Temperament – wir müssen auf ihre Gesundheit trinken!«

Es ist unnötig zu sagen, daß Pyke und Kompanie auf diesen Vorschlag mit großer Wärme eingingen, und daß die Gesundheit unter manchen kleinen Anspielungen von seiten der genannten Firma auf die Vollständigkeit von Sir Mulberrys Eroberung getrunken wurde. Ralph, der die Hauptpersonen des vorhergehenden Auftritts, während sie die Aufmerksamkeit aller andern Gäste auf sich zogen, mit den Augen eines Wolfes beobachtet hatte, schien nach der Entfernung seiner Nichte freier zu atmen. Er lehnte sich, während die Gläser rascher kreisten, in seinem Stuhl zurück und sah, je mehr die Gäste durch den Wein erhitzt wurden, von einem Sprecher auf den andern, und zwar mit Blicken, die bis in ihr Innerstes zu dringen und einen leidigen Zeitvertreib darin zu finden schienen, jeden müßigen Gedanken desselben zu zergliedern.

Inzwischen hatte sich Käthchen, die ganz sich selbst überlassen war, wieder einigermaßen gefaßt. Sie erfuhr durch ein Dienstmädchen, daß ihr Onkel sie noch zu sehen wünschte, ehe sie das Haus verließe, und vernahm dabei auch die beruhigende Kunde, daß die Herren ihren Tee bei Tisch trinken würden. Die Hoffnung, nicht mehr mit ihnen in Berührung zu kommen, trug viel dazu bei, ihr aufgeregtes Gemüt zu besänftigen, und so sammelte sie sich endlich so weit, um ein Buch nehmen und lesen zu können.

Hin und wieder fuhr sie jedoch zusammen, wenn ein plötzliches Öffnen der Tür des Speisesaals das wilde Toben der Zecher hörbar werden ließ, und mehr als einmal sprang sie in Todesängsten auf, wenn ein eingebildeter Fußtritt auf der Treppe die Furcht in ihr rege machte, irgendein betrunkenes Glied der Gesellschaft möchte sich zu ihr verirren. Es fiel jedoch nichts vor, was ihre Besorgnis verwirklicht hätte, und sie bemühte sich, ihre Aufmerksamkeit ganz dem Buche zuzuwenden, an dem sie nachgerade so viel Interesse fand, daß sie, ohne der Zeit oder des Orts zu achten, einige Kapitel durchlas, als sie auf einmal ob dem Laut ihres Namens aufschrak, der dicht neben ihr von einer männlichen Stimme ausgesprochen wurde.

Das Buch entfiel ihrer Hand; denn gerade neben ihr dehnte sich Sir Mulberry Hawk auf einer Ottomane, augenscheinlich durch den Wein noch verschlimmert; denn ein schuftiges Herz zeigt nicht einmal in der Stunde einer derartigen Begeisterung eine gute Seite.

»Welch ein entzückendes Studium!« sagte der würdige Ritter. »War es Ihnen ernst damit, oder wollen Sie nur Ihre Augenwimpern zeigen?«

Käthchen biß sich in die Lippe und blickte, ohne zu antworten, ängstlich nach der Tür.

»Ich habe Sie schon fünf Minuten lang bewundert«, fuhr Sir Mulberry fort. »Bei meiner Seele, Sie sind vollendet schön. Warum mußte ich auch sprechen und ein so anmutiges Bildchen zerstören?«

»Haben Sie die Güte, mich mit Ihren Worten zu verschonen, Sir«, versetzte Käthchen.

»Ach, sprechen Sie nicht so«, entgegnete Sir Mulberry, indem er seinen Chapeau claque zusammenschlug, den Ellenbogen darauf stützte und noch näher an die junge Dame rückte. »Bei meinem Leben, Sie dürfen nicht so sprechen. Es ist teuflisch, daß Sie den Sklaven, der zu Ihren Füßen bittet, so hart behandeln; ja das ist es, bei meiner Seele.«

»Ich möchte Ihnen begreiflich machen, Sir«, sagte Käthchen mit unwillkürlichem Beben, obgleich sie in höchster Entrüstung sprach, »daß Ihr Benehmen mich beleidigt und kränkt. Wenn Sie nur noch einen Funken von Ehre in sich fühlen, so werden Sie mich auf der Stelle verlassen.«

»Ei, warum wollen Sie denn stets noch diesen Schein übermäßiger Strenge beibehalten, mein Schätzchen?« versetzte Sir Mulberry. »Seien Sie mehr Natur, liebes Fräulein – mehr Natur.«

Käthchen sprang hastig auf; aber als sie sich erhob, faßte sie Sir Mulberry beim Kleide und hielt sie zurück.

»Lassen Sie mich los, Sir«, rief sie, und ihr Herz schwoll vor Zorn. »Hören Sie? Augenblicklich – auf der Stelle!«

»Setzen Sie sich – setzen Sie sich«, entgegnete Sir Mulberry: »ich muß etwas mit Ihnen sprechen.«

»Ob Sie mich loslassen wollen, Sir! Augenblicklich – augenblicklich!« rief Käthchen.

»Nicht um eine Welt«, versetzte Sir Mulberry.

Mit diesen Worten beugte er sich über sie, um sie auf ihren Sitz zurückzudrängen, aber die junge Dame machte eine gewaltsame Anstrengung, sich loszureißen, wodurch er das Gleichgewicht verlor und der Länge nach zu Boden stürzte. Käthchen wollte eben aus dem Zimmer eilen, als ihr Herr Ralph Nickleby an der Tür in den Weg trat.

»Was gibt’s da?« fragte Ralph.

»Nichts weiter, Sir«, erwiderte Käthchen in heftiger Aufregung, »als daß ich unter dem Dach, wo ich als hilfloses Mädchen und als das Kind Ihres verstorbenen Bruders hätte Schutz finden sollen, Beleidigungen ausgesetzt gewesen bin, ob denen Sie zurückbeben sollten, wenn Sie meiner nur ansichtig werden. Lassen Sie mich hinaus.«

Ralph bebte zurück, als das entrüstete Mädchen das flammende Auge auf ihn heftete, ohne jedoch ihrem Verlangen zu willfahren: denn er führte sie nach einem entfernt stehenden Sitz, näherte sich dann Sir Mulberry Hawk, der inzwischen wieder aufgestanden war, und deutete nach der Tür.

»Ihr Weg geht da hinaus, Sir«, sagte Ralph mit einer erstickten Stimme, die sogar einem Teufel Ehre gemacht haben würde.

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte sein Freund trotzig.

Die angeschwollenen Adern traten auf Ralphs gefurchter Stirne wie straffe Sehnen hervor, und die Muskeln seines Mundes zuckten wie in unerträglichem Schmerze; aber er lächelte verächtlich und wies abermals nach der Tür.

»Wissen Sie, wer ich bin. Sie Narrenhauskandidat?« sagte Sir Mulberry.

»Ja!« sagte Ralph.

Der fashionable Taugenichts erbebte einen Augenblick unter dem festen Blick des alten Sünders und ging, vor sich hinbrummend, nach der Tür.

»Ah, Sie wollten den Lord – nicht wahr?« sagte er, indem er plötzlich an der Tür haltmachte und sich wieder gegen Ralph wandte, als ob ihm auf einmal ein neues Licht aufgegangen wäre. »Zum Teufel – und ich war im Weg – ist’s so?«

Ralph lächelte wieder, gab aber keine Antwort.

»Wer hat ihn zuerst zu Ihnen gebracht«, fuhr Sir Mulberry fort, »und wie wäre es Ihnen je möglich geworden, ihn ohne mich zu umgarnen?«

»Das Garn ist groß und ziemlich voll«, entgegnete Ralph. »Nehmt Euch in acht, daß niemand in den Maschen erwürgt wird.«

»Sie wären fähig, Ihr eigen Fleisch und Blut für Geld zu verkaufen und sich selbst noch obendrein, wenn der Kontrakt mit dem Teufel nicht bereits abgeschlossen wäre«, erwiderte der andere. »Sie wollen mir etwa gar weismachen, Ihre hübsche Nichte sei nicht als Köder für den betrunkenen Laffen da drunten hergeschafft worden?«

Obgleich dieses hastige Zwiegespräch von beiden Seiten mit gedämpfter Stimme geführt wurde, so sah sich doch Ralph schnell um, um sich zu überzeugen, ob Käthchen ihren Platz nicht so weit gewechselt hätte, daß sie dies hätte hören können. Sein Gegner nahm den Vorteil, der sich ihm hieraus ergab, wahr und verfolgte ihn weiter.

»Wollen Sie mir wirklich weismachen, daß dies nicht der Fall ist?« fragte er wieder. »Haben Sie im Sinn zu behaupten, daß Sie, wenn er statt meiner den Weg hierher gefunden hätte, nicht ein bißchen blinder, tauber oder etwas weniger patzig gewesen wären, als es der Fall war? Beantworten Sie mir das, Nickleby?«

»Ich sage Ihnen bloß«, versetzte Ralph, »wenn ich sie wegen einer Geschäftssache hierher brachte –«

»Ja, ja, das ist der richtige Ausdruck«, fiel Sir Mulberry mit Lachen ein; »nun werden Sie wieder ganz Ralph Nickleby.«

»– wegen einer Geschäftssache hierher brachte«, fuhr Ralph langsam und fest, wie ein Mann, der seine Worte abgemessen hat, fort, »weil ich glaubte, sie möchte auf den einfältigen jungen Menschen, den Sie in Ihren Händen haben und zu ruinieren im Begriff sind, einigen Eindruck machen, so wußte ich – denn ich kenne ihn –, daß es lange dauern würde, bis er die Gefühle des Mädchens verletzte, und daß er, wenn er auch durch sein läppisches, hohlköpfiges Wesen Anstoß erregte, bei ein klein wenig Routine von ihrer Seite das Geschlecht und die Sittsamkeit sogar an der Nichte seines Wucherers achten müßte. Aber wenn ich ihn auch durch diesen Kunstgriff auf eine sanftere Weise anlocken wollte, so fiel es mir doch keinen Augenblick ein, das Mädchen der Zügellosigkeit und Roheit eines so alten Wüstlings, wie Sie es sind, auszusetzen. Und nun verstehen wir uns.«

»Zumal, weil nichts dabei zu gewinnen war – he?« höhnte Sir Mulberry.

»Ganz richtig«, sagte Ralph.

Er hatte sich abgewandt und diese letzte Antwort über seine Schulter gesprochen. Bei dieser Gelegenheit begegneten sich jedoch die Augen der beiden Ehrenmänner mit einem Ausdruck, als ob jeder fühlte, daß er seine Schuftigkeit nicht vor dem andern verbergen könne. Sir Mulberry zuckte die Achseln und ging hinaus.

Sein Freund schloß die Tür und blickte unruhig nach dem Platz, wo sich seine Nichte noch immer in der Stellung, in der er sie verlassen hatte, befand. Sie hatte den Kopf auf ein Polster des Sofas niedersinken lassen, ihr Gesicht in den Händen verborgen und schien noch immer im Übermaß des Schmerzes und der Scham zu weinen.

Ralph wäre wohl in das Haus eines in Armut versunkenen Schuldners gegangen und hätte ihn ohne Bedenken dem Gerichtsdiener überantwortet, selbst wenn dieser an dem Sterbebett seines Kindes geweint hätte; denn so etwas lag ganz in dem gewöhnlichen Gang des Geschäftslebens, und der Mann hätte gegen das einzige Sittengesetz der Geldseelen gesündigt. Aber hier war ein junges Mädchen, das kein anderes Unrecht begangen, als daß es lebendig in die Welt gekommen war, das sich geduldig allen seinen Wünschen gefügt und das sich ihm zu Gefallen harten Prüfungen unterzogen hatte – vor allem aber, das ihm kein Geld schuldig war – und er fühlte sich verlegen und unbehaglich.

Ralph nahm einen Stuhl in einiger Entfernung, dann einen näher stehenden, rückte diesen noch näher, und immer näher, bis er sich endlich auf das gleiche Sofa setzte, und legte dann seine Hand auf Käthchens Arm.

»Ruhig, meine Liebe«, sagte er, als sie den Arm zurückzog und von neuem zu schluchzen begann, »ruhig, ruhig! Kümmre dich nicht darum; denke nicht mehr daran.«

»Ach, um Gottes willen, lassen Sie mich heimgehen«, rief Käthchen, »lassen Sie mich dieses Haus verlassen und heimgehen.«

»Ja, ja, das sollst du«, versetzte Ralph; »aber du mußt zuerst deine Augen trocknen und dich sammeln. Komm, laß dir den Kopf aufrichten. So – so!«

»Ach Onkel«, rief das arme Mädchen, die Hände zusammenschlagend; »was habe ich getan – was habe ich getan – daß Sie mich diesem aussetzen konnten? Ja, wenn ich Sie in Gedanken, Worten oder Tal gekränkt hätte, so wäre es schon die größte Grausamkeit gegen mich und eine Verhöhnung gegen das Andenken eines Verstorbenen gewesen, den Sie in früheren Zeiten geliebt haben müssen; aber –«

»Höre mich nur einen Augenblick an«, unterbrach sie Ralph, der ob dem Ungestüm ihrer Aufregung ernstlich beunruhigt war. »Ich wußte nicht, daß es so kommen würde; ich konnte es unmöglich voraussehen. Aber ich tat alles, was ich konnte. – Komm, wir wollen ein wenig auf und ab gehen; die abgeschlossene Luft und die Hitze dieser Lampen haben dich unwohl gemacht. Es wird dir gleich besser werden, wenn du dir nur ein wenig Bewegung machst.«

»Ich will alles tun«, versetzte Käthchen, »wenn Sie mich nur nach Haus lassen.«

»Ja, ja, ich will es«, entgegnete Ralph, »aber du mußt vorher wieder wie sonst aussehen, sonst erschreckst du deine Mutter. Überhaupt niemand braucht von dem Vorgefallenen etwas zu wissen als ich und du. Nun, wir wollen jetzt in dieser Richtung gehen. So! du siehst schon wieder besser aus.«

Unter solchen Ermutigungen führte Ralph Nickleby seine Nichte am Arm im Zimmer auf und ab. Aber er hätte in die Erde sinken mögen, wenn er ihrem Auge begegnete, und unter ihrer Berührung überlief ein Zittern seine Glieder.

Als er es für ratsam hielt, sie gehen zu lassen, half er ihr in derselben Weise die Treppe hinunter, nachdem er ihr vorher – wahrscheinlich zum erstenmal in seinem Leben – das Halstuch umgeworfen und ähnliche kleine Dienste geleistet hatte. Er begleitete sie auch über die Hausflur und Türtreppen und ließ sie nicht eher los, als bis er sie in dem Wagen hatte.

Als der Kutschenschlag ungestüm zugeschlagen wurde, fiel ein Kamm aus Käthchens Haaren gerade vor des Onkels Füßen nieder; und wie er ihn aufhob und zurückgab, fiel das Licht einer nahe hängenden Lampe auf ihr Gesicht. Die losgewordene Haarlocke, die in leichten Ringeln um ihre Stirne flog, die Spuren der kaum getrockneten Tränen, die geröteten Wangen, der kummervolle Blick – alles das weckte eine Reihe schlummernder Empfindungen in der Brust des alten Mannes. Das Gesicht seines toten Bruders schien vor ihn hinzutreten, gerade so, wie es aussah, wenn es irgendein kindischer Schmerz trübte, und jeder, auch der kleinste Zug, blitzte mit einer Bestimmtheit, wie von gestern, in seiner Seele auf.

Ralph Nickleby, der gegen alle Gesetze des Bluts und der Verwandtschaft gewappnet und gegen die ergreifendsten Szenen von Kummer und Unglück gestählt war – dieser eherne Mann wankte bei diesem Anblick zurück und taumelte in sein Haus wie ein Mensch, der eine Erscheinung aus einer andern Welt jenseits des Grabes gesehen.

Zwanzigstes Kapitel.


Zwanzigstes Kapitel.

worin Nicolaus endlich mit seinem Onkel zusammenkommt und ihm mit vieler Offenheit die Meinung sagt. Sein Entschluß.

Montag morgens früh – dem Tag nach dem im vorigen Kapitel beschriebenen Diner – eilte das kleine Fräulein La Creevy durch verschiedene Straßen im Westend der Stadt, mit der wichtigen Botschaft beauftragt, Madame Mantalini zu melden, daß Käthchen zu unwohl sei, um an diesem Tage ihrem Geschäft nachzukommen, daß sie jedoch hoffe, sich am nächsten Morgen wieder einfinden zu können. Während aber Fräulein La Creevy so dahintrippelte und in ihrem Geiste verschiedene zierliche Formen und Wendungen des Gesichtsausdrucks erwog, um sich die besten auszuwählen und ihren Auftrag darin abzustatten, dachte sie auch ziemlich viel über die wahrscheinlichen Ursachen des Unwohlseins ihrer jungen Freundin nach.

»Ich weiß nicht, was ich daraus machen soll«, sagte Fräulein La Creevy. »Ihre Augen waren gestern offenbar sehr rot. Sie sagte, sie hätte Kopfweh, aber Kopfweh macht keine rote Augen. Sie muß geweint haben.«

Bei diesem Schlusse angelangt, den sie sich übrigens schon den Abend vorher gebildet hatte, erwog sie weiter – und in der Tat, sie hatte es fast die ganze Nacht hindurch getan –, welches neue Unglück ihre Freundin möglicherweise könnte getroffen haben.

»Ich kann mir gar nichts vorstellen«, sagte die kleine Porträtmalerin; »nicht das mindeste, es müßte denn das Benehmen jenes alten Bären sein. Grob gegen sie – denke ich? Der garstige Flegel!«

Durch diese Feststellung ihrer Meinung, obgleich sie nur in die Winde ging, erleichtert, eilte Fräulein La Creevy in Madame Mantalinis Haus. Auf die Mitteilung, daß die Inhaberin des Geschäfts noch nicht aufgestanden sei, wünschte sie ihre Stellvertreterin zu sprechen, worauf Mamsell Knag erschien.

»Wenn es von mir abhinge«, sagte Mamsell Knag, als die Botschaft unter manchen Redensarten vermittelt war, »so könnte sich Mamsell Nickleby das Wiederkommen für immer ersparen.«

»Ha, wirklich, Mamsell?« entgegnete Fräulein La Creevy höchlich beleidigt. »Nun, es ist gut, daß Sie nicht die Inhaberin des Geschäfts sind; und so hat Ihre Ansicht nicht viel zu bedeuten.«

»Sehr gut, Madame«, versetzte Mamsell Knag. »Haben Sie sonst noch etwas zu befehlen?«

»Nein, Mamsell«, sagte Fräulein La Creevy.

»Dann guten Morgen, Madame«, entgegnete Mamsell Knag.

»Auch Ihnen guten Morgen und schönen Dank für Ihre außerordentliche Artigkeit und Ihr gebildetes Benehmen«, erwiderte Fräulein La Creevy.

Nach dieser Besprechung, während der beide Damen gezittert hatten und bewunderungswürdig höflich gewesen waren – gewisse Zeichen, daß nur sehr wenig fehlte, in einen heftigen Streit auszubrechen – stürmte Fräulein La Creevy aus dem Zimmer auf die Straße.

»Ich möchte nur wissen, wer die ist«, sagte die kleine Malerin. »Es verlohnt sich der Mühe, das Persönchen kennenzulernen! Ich wollte nur, ich könnte sie malen, um ihr ihr Recht zukommen zu lassen.«

Sehr befriedigt, etwas sehr Bissiges auf Mamsell Knags Kosten gesagt zu haben, brach Fräulein La Creevy in ein lustiges Lachen aus und langte in ungemein guter Laune zu Hause bei ihrem Frühstück an.

Hier sprach sich einer der Vorteile aus, den man einem langen Alleinleben verdankt. Das kleine, geschäftige, rührige, heitere Geschöpf hatte sich ganz in sich selbst hineingelebt, sprach mit sich selbst, machte sich selbst zu ihrer Vertrauten, teilte sich selbst die beißendsten Bemerkungen über Leute mit, die sie beleidigt hatten, gefiel sich selbst und tat niemandem etwas zuleide. Wenn sie jemandem Arges nachsagte, so litt doch kein Ruf darunter, und wenn sie ein klein bißchen Rache übte, so spürte keine lebende Seele auch nur das mindeste davon. Sie war eine von den vielen, die ihrer beschränkten Mittel wegen keine Verbindungen nach ihrem Geschmack anknüpfen können und doch auch nicht geneigt sind, sich Gesellschaften, die ihnen zugänglich sind, anzuschließen, wodurch London für sie eine so vollständige Öde wird wie die Ebenen von Syrien. Die bescheidene Künstlerin hatte ihren Weg viele Jahre einsam gemacht, ohne Freunde zu besitzen, bis das eigentümliche Mißgeschick der Familie Nickleby ihre Aufmerksamkeit erregte, obgleich sie von den freundschaftlichsten Gefühlen gegen alle Welt überströmte. Es gibt viele warme Herzen, die gleich dem des armen Fräuleins La Creevy in der Einsamkeit begraben liegen.

Doch das nur nebenbei. Sie ging zu ihrem Frühstück nach Haus und hatte sich kaum des Duftes ihrer ersten Tasse erfreut, als das Dienstmädchen einen Herrn ankündigte und Fräulein La Creevy wegen des noch auf dem Tische stehenden Teezeugs in eine unsägliche Verwirrung brachte; denn die Künstlerin dachte nicht anders, als daß der Besuch, ganz entzückt von ihrem Haustürrahmen, gekommen sei, um sich malen zu lassen.

»Da – nimm dies hinweg! – lauf damit ins Schlafzimmer oder sonstwohin«, sagte Fräulein La Creevy. »Mein Gott, daß ich gerade diesen Morgen so spät frühstücken muß, während ich doch seit drei Wochen jedesmal schon um halb neun fix und fertig war, ohne daß sich eine Seele zeigte.«

»Lassen Sie sich durch mich nicht stören«, sagte eine Stimme, die Fräulein La Creevy kannte. »Ich hieß das Mädchen meinen Namen verschweigen, weil ich Sie zu überraschen wünschte.«

»Herr Nicolaus!« rief Fräulein La Creevy, erstaunt aufspringend.

»Ich sehe, Sie haben mich nicht vergessen«, versetzte Nicolaus, indem er ihr die Hand bot.

»Nun, ich denke, ich würde Sie sogar erkannt haben, wenn ich Ihnen auf der Straße begegnet wäre«, sagte Fräulein La Creevy lächelnd. »Hanna, noch eine Tasse! Aber eines muß ich Ihnen sagen, junger Herr, bemühen Sie sich nicht, die Verwegenheit zu wiederholen, deren Sie sich an dem Morgen vor Ihrer Abreise schuldig gemacht haben.«

»Würden Sie denn so gar böse darüber werden?« fragte Nicolaus.

»Ob ich es würde?« entgegnete Fräulein La Creevy. »Sie sollten´s nur einmal versuchen.«

Nicolaus nahm mit gebührender Galanterie Fräulein La Creevy sogleich beim Worte. Die Dame stieß einen leisen Schrei aus und schlug ihn ins Gesicht, aber aufrichtig gesagt, der Streich war kein sehr harter.

»Ich habe nie einen so verwegenen Menschen gesehen«, rief Fräulein Creevy.

»Sie sagten mir, ich solle es versuchen«, erwiderte Nicolaus.

»Wohl, aber ich meinte das ironisch«, sagte Fräulein La Creevy.

»O, das ist was anderes«, entgegnete Nicolaus. »Sie hätten mir das vorher sagen sollen.«

»Natürlich – als ob Sie das nicht selbst gewußt hätten!« versetzte Fräulein La Creevy. »Doch wenn ich Sie recht ansehe – Sie kommen mir magerer vor als bei unserem letzten Zusammentreffen. Auch ist Ihr Gesicht blaß und eingefallen. Warum haben Sie Yorkshire verlassen?«

Sie hielt hier inne; in ihrem veränderten Ton und Benehmen sprach sich aber so viel Herz aus, daß Nicolaus ganz gerührt wurde.

»Ich muß wohl etwas verändert aussehen«, sagte er nach einem kurzen Schweigen; »denn ich habe, seit ich London verließ, manche Leiden sowohl des Körpers als der Seele durchgemacht. Auch bin ich von Armut und Mangel nicht verschont geblieben.«

»Gott im Himmel!« rief Fräulein La Creevy, »was Sie da sagen!«

»Es braucht Sie übrigens nicht zu beunruhigen«, fuhr Nicolaus heiterer fort, »denn ich komme nicht hierher, um mein Schicksal zu beklagen, sondern aus einem ganz anderen Grunde. Ich möchte nämlich Angesicht gegen Angesicht vor meinen Onkel treten, und das ist das erste, was ich Ihnen mitteilen will.«

»Dann kann ich Ihnen nur sagen«, fiel Fräulein La Creevy ein, »daß ich Ihren Geschmack nicht beneide. Es würde mich vierzehn Tage in üble Stimmung versetzen, wenn ich nur mit seinen Stiefeln in demselben Zimmer sein müßte.«

»Was das anbelangt, so waltet in der Hauptsache keine besondere Meinungsverschiedenheit ob«, sagte Nicolaus. »Sie müssen aber wissen, daß ich ihm entgegenzutreten wünsche, um mich zu rechtfertigen und ihm seine Doppelzüngigkeit und Bosheit an den Kopf zu werfen.«

»Das ist etwas anderes«, versetzte Fräulein La Creevy. »Verzeih mir’s Gott, aber ich würde mir nicht die Augen darüber ausweinen, wenn er daran erstickte. Was weiter?«

»Ich habe deshalb diesen Morgen bei ihm vorgesprochen«, fuhr Nicolaus fort. »Er kam letzten Sonnabend in die Stadt zurück, was ich übrigens erst gestern nacht spät erfuhr.«

»Haben Sie ihn gesehen?« fragte Fräulein La Creevy.

»Nein«, antwortete Nicolaus, »er war ausgegangen.«

»Ach«, entgegnete Fräulein La Creevy, »wahrscheinlich zu einem Liebeswerk?«

»Den Mitteilungen eines Freundes zufolge, der sein Treiben kennt«, fuhr Nicolaus fort, »habe ich Grund zu glauben, daß er heute meine Mutter und Schwester zu besuchen gedenkt, um ihnen das, was mir begegnet ist, in seiner Weise zu erzählen. Dort will ich ihn treffen.«

»Schön«, rief Fräulein La Creevy, ihre Hände reibend; »und doch weiß ich nicht« – fügte sie bei – »man möchte es wohl überlegen – wegen der Rücksichten auf andere.«

»Ich habe diese Rücksichten erwogen«, entgegnete Nicolaus; »da es sich aber um meine Ehre handelt, so soll mich nichts abschrecken.«

»Sie müssen das freilich am besten wissen«, versetzte Fräulein La Creevy.

»Ich hoffe, hier den geeigneten Weg einzuschlagen«, erwiderte Nicolaus. »Jedenfalls muß ich Sie aber bitten, meine Mutter und meine Schwester auf meine Ankunft vorzubereiten. Sie wähnen mich in weiter Ferne, und wenn ich so ganz unerwartet eintrete, könnte es sie erschrecken. Wenn Sie soviel Zeit erübrigen können, um ihnen zu sagen, daß Sie mich gesehen hätten, und daß ich in einer Viertelstunde bei ihnen sein würde, so werden Sie mir einen großen Dienst leisten.«

»Ich wollte, ich könnte Ihnen oder den Ihren einen größeren Dienst leisten«, sagte Fräulein La Creevy; »aber es trifft sich so selten, daß der, der kann, auch will, und der, der will, auch kann.«

Fräulein La Creevy beendete ihr Frühstück unter fortwährendem Geplauder in großer Eile. Dann schaffte sie ihr Teegeschirr auf die Seite, versteckte den Schlüssel, setzte ihren Hut auf, nahm Nicolaus‘ Arm und trat sofort den Weg nach der City an. Nicolaus verließ sie in der Nähe der Wohnung seiner Mutter und versprach, spätestens in einer Viertelstunde nachzukommen.

Newman Noggs war der Meinung gewesen, Ralph Nickleby würde zuerst nach einem andern Teil der Stadt einen Geschäftsgang machen. Zufälligerweise hatte sich jedoch dieser Ehrenmann, da es seinen Absichten entsprach, die Schändlichkeiten, deren sich Nicolaus schuldig gemacht, so schnell als möglich aufzudecken, unmittelbar zu seiner Schwägerin begeben. Fräulein La Creevy traf daher, als sie von einem Mädchen, das das Haus scheuerte, in das Zimmer gewiesen wurde, Frau Nickleby und Käthchen in Tränen, da Ralph eben mit den Mitteilungen über die nichtswürdige Aufführung seines Neffen zum Schlusse kam. Käthchen winkte ihr dazubleiben, und Fräulein La Creevy nahm schweigend einen Stuhl.

»Aha, der Ehrenmann ist bereits hier«, dachte die kleine Dame.

»Nun, dann mag er sich selbst ankündigen. Wir wollen sehen, was das für eine Wirkung auf sie übt.«

»Das ist ein feines Benehmen«, sagte Ralph, indem er Fräulein Squeers‘ Brief zusammenlegte – »ein sehr feines Benehmen. Ich empfehle ihn – ganz gegen meine Überzeugung; denn ich sah voraus, daß er nicht gut tun würde – an einen Mann, bei dem er, wenn er sich ordentlich aufführte, jahrelang ein behagliches Auskommen gehabt hätte. Was ist das Resultat? Er benimmt sich auf eine Weise, wofür er vielleicht in dem Gerichtshofe zu Old Bailey die Hand emporhalten muß3

»Ich kann das nimmermehr glauben«, sagte Käthchen unwillig, »nun und nimmermehr. Es ist ein nichtswürdiges Komplott, das das Gepräge der Lüge an der Stirne trägt.«

»Meine Liebe«, entgegnete Ralph, »du tust dem würdigen Mann Unrecht. Hier ist von keiner Erdichtung die Rede. Der Schulmeister ist überfallen worden, dein Bruder nirgends zu finden, und der fragliche Junge ist mit ihm gegangen – vergleiche dir diese Umstände.«

»Es ist unmöglich«, erwiderte Käthchen. »Nicolaus! – und noch obendrein ein Dieb! Mama, wie können Sie nur ruhig hier sitzen und solche Erzählungen anhören?«

Die arme Frau Nickleby, die sich nie durch den Besitz einer besonders klaren Fassungskraft ausgezeichnet hatte und durch den kürzlichen Wechsel ihres Geschicks ganz und gar verwirrt war, wußte bei dieser Aufforderung nichts weiter zu entgegnen, als daß sie hinter einem großen Taschentuche hervorrief, sie würde das nie geglaubt haben, indem sie dabei gar scharfsinnig ihre Zuhörer annehmen ließ, daß sie es jetzt wirklich glaubte.

»Wenn er mir in den Weg käme, so würde ich es für meine Pflicht, für meine heilige Pflicht halten, ihn den Händen der Gerechtigkeit zu überliefern, da ich als Geschäftsmann und als Mann, der in der Öffentlichkeit steht, nicht anders handeln könnte. Und doch« – fuhr er mit einer schärferen Betonung und einem verstohlenen, aber festen Blick auf Käthchen fort, »und doch möchte ich es wieder nicht tun, um die Gefühle seiner – seiner Schwester zu schonen. Und natürlich auch seiner Mutter«, fügte er bei, als ob ihm das erst nachher eingefallen wäre, wiewohl mit weit geringerem Nachdruck.

Käthchen begriff recht wohl, daß ihr dies nur als ein weiterer Wink geboten wurde, über die Ereignisse des letzten Abends das strengste Stillschweigen zu beobachten. Sie blickte daher, als Ralph zu sprechen aufgehört hatte, unwillkürlich nach ihm hin; aber er hatte seine Augen abgewendet und schien für den Augenblick sich ihrer Anwesenheit gar nicht mehr bewußt zu sein.

»Alles« – fuhr Ralph nach einer langen Pause fort, die nur durch Madame Nicklebys Schluchzen unterbrochen wurde – »alles vereinigt sich, die Glaubwürdigkeit dieses Briefes zu bekunden, sofern auch nur der mindeste Grund vorhanden wäre, diese zu beanstanden. Läuft ein unschuldiger Mensch vor ehrlichen Leuten davon, um sich wie ein dem Gesetze Verfallener in Schlupfwinkel zu verstecken? Wiegelt ein Unschuldiger namenlose Landstreicher auf, um mit ihnen müßiggängerisch durch das Land zu ziehen? Überfall, Aufwiegelung, Diebstahl – wie nennt man das?«

»Eine Lüge!« rief eine zornige Stimme, während die Tür aufflog und Nicolaus mitten ins Zimmer stürmte.

In dem ersten Augenblick der Überraschung und vielleicht auch des Schreckens fuhr Ralph von seinem Stuhle auf und prallte ob dieser unerwarteten Erscheinung, seiner gewohnten Besonnenheit ganz vergessend, einige Schritte zurück. Im nächsten Augenblick stand er jedoch fest und unbeweglich mit verschlungenen Armen da und betrachtete seinen Neffen mit einem Blicke voll des tödlichsten Hasses, während Käthchen und Fräulein La Creevy sich zwischen die beiden warfen, um irgendeiner persönlichen Gewalttätigkeit vorzubeugen, die von Nicolaus‘ wilder Aufregung zu befürchten stand.

»Lieber Nicolaus«, rief die Schwester, sich an ihn klammernd, »sei ruhig! Bedenke –«

»Bedenken, Käthchen?« entgegnete Nicolaus, indem er in der Aufwallung seines Zorns ihre Hand so fest drückte, daß sie fast vor Schmerz aufschrie. »Wenn ich alles bedenke und mir alles, was vorgegangen ist, ins Gedächtnis zurückrufe, so müßte ich von Stein sein, um ihm gegenüber ruhig bleiben zu können.«

»Oder von Erz«, entgegnete Ralph mit Kälte, »Fleisch und Blut hat freilich nicht Frechheit genug, den Blick eines ehrlichen Mannes auszuhalten.«

»Ach Gott im Himmel«, rief Frau Nickleby, »daß die Dinge doch so weit kommen mußten!«

»Wer spricht hier in einem Tone, als ob ich ein Verbrechen begangen und Schande auf die Meinigen gebracht hätte?« grollte Nicolaus, wild umherblickend.

»Deine Mutter, junger Herr!« versetzte Ralph, indem er auf Frau Nickleby deutete.

»In deren Ohren Sie Gift gegossen haben«, fuhr Nicolaus fort. »Ja, Sie – Sie, der Sie unter dem Vorwand, ihren Dank zu verdienen, jede Schmähung und Entehrung auf mein Haupt gehäuft haben! Sie, der Sie mich nach einem Höllennest geschickt haben, wo die niedrigste Grausamkeit, wie sie nur Ihrer selbst würdig ist, in der schwelgerischsten Üppigkeit wuchert – wo namenloses Elend schon die Kinder zu Greisen stempelt und jeder Funke des Guten schon im Keime erstickt wird! Ich rufe den Himmel zum Zeugen auf«, fuhr er mit leuchtenden Blicken fort, »daß ich all das mit eigenen Augen angesehen habe, und daß dieser Mensch darum weiß!«

»Widerlege diese Verleumdungen«, sagte Käthchen, »aber tue es mit mehr Ruhe, damit deine Feinde keinen Vorteil über dich gewinnen. Sage uns, was du getan hast, und beweise ihre Lügenhaftigkeit.«

»Und wessen klagt man mich – oder wessen klagt er mich an?« fragte Nicolaus.

»Erstlich hast du deinen Prinzipal überfallen und in einer Weise mißhandelt, daß nur wenig daran fehlte, um dich als Mörder in die Hände des Richters zu liefern«, fiel Ralph ein. »Ich rede geradeheraus, junger Mensch, du magst toben, wie du willst.«

»Ich legte mich ins Mittel«, sagte Nicolaus, »um ein elendig, unglückliches Geschöpf gegen die niederträchtigste Grausamkeit zu schützen. Dabei erteilte ich einem Nichtswürdigen eine Züchtigung, die er nicht so leicht vergessen wird, obgleich sie lange nicht so war, wie er sie von mir verdiente. Erneuerte sich dieser Auftritt in meiner Gegenwart, so würde ich um kein Haar anders handeln; es müßte denn sein, daß ich kräftiger zuschlüge und ihn in einer Weise zeichnete, daß er die Brandmale mit ins Grab nähme, und wenn er auch noch so lange lebte.«

»Hören Sie?« sagte Ralph zu Frau Nickleby. »Das ist seine Reue!«

»Ach du mein Gott!« rief Frau Nickleby; »wahrlich, ich weiß nicht, was ich denken soll.«

»Ich bitte, Mama, sprechen Sie jetzt noch nicht«, fiel Käthchen ein. »Lieber Nicolaus, ich sage es dir nur, damit du weißt, wie weit ihre Verworfenheit geht, aber sie beschuldigen dich des – ein Ring wird vermißt, und sie erfrechen sich zu sagen, daß – –«

»Das Weibsbild«, entgegnete Nicolaus stolz, »die Frau des Kerls, von dem diese Anklagen herrühren, ließ – wie ich vermute – denselben Morgen, als ich das Haus verließ, einen wertlosen Ring zwischen einige meiner Kleider fallen. Wenigstens weiß ich, daß sie in der Kammer war, wo sie lagen, und daß sie daselbst ein unglückliches Kind mißhandelte. Ich fand den Ring, als ich unterwegs mein Bündel öffnete, und sandte ihn sogleich durch die Post zurück; sie müssen ihn daher bereits lange wiederhaben.«

»Ich wußte es ja, ich wußte es ja«, sagte Käthchen mit einem Blicke auf ihren Onkel. »Aber was ist’s mit dem Jungen, den du mit fortgenommen haben sollst?«

»Der Junge – ein hilfloses Geschöpf, das durch die roheste und unnatürlichste Behandlung blödsinnig geworden ist – befindet sich bei mir«, versetzte Nicolaus.

»Sie hören?« bemerkte Ralph abermals gegen die Mutter. »Alles ist sogar durch sein eigenes Geständnis erwiesen. Wirst du den Jungen wieder zurückgeben?«

»Gewiß nicht«, entgegnete Nicolaus.

»So? – nicht?« höhnte Ralph.

»Nein«, erwiderte Nicolaus mit Nachdruck, »wenigstens nicht dem Menschen, bei dem ich ihn fand. Ich wünschte den zu kennen, dem er das Leben verdankt, damit ich ihm wenigstens ein Gefühl der Scham abringen könnte, wenn er auch für jedes Gefühl der Natur erstorben ist.«

»Wirklich? Nun wohlan denn, ist es dem jungen Herrn gefällig, ein paar Wörtchen von mir anzuhören?«

»Sie können sprechen, wann und wie es Ihnen beliebt«, versetzte Nicolaus, seine Schwester umarmend. »Ich kümmere mich wenig um Ihre Worte oder Drohungen.«

»Schön gesagt, mein junger Herr«, erwiderte Ralph; »aber vielleicht kümmern sich andere darum und halten es möglicherweise für der Mühe wert, auf meine Worte zu hören und sie zu erwägen. Ich will mich an deine Mutter wenden, die die Welt kennt.«

»Ach, hätte ich sie doch nie kennengelernt«, schluchzte Frau Nickleby.

Die gute Dame hatte freilich nicht besonders nötig, sich diesen Umstand sehr zu Herzen zu nehmen, da der Umfang ihrer Weltkenntnis im glimpflichsten Falle ein höchst zweifelhafter war; und so schien auch Ralph zu denken, denn er lächelte bei seinen Worten, sah dann abwechselnd sie und Nicolaus mit festen Blicken an und fuhr folgendermaßen fort:

»Ich will dessen, was ich für Sie, Madame, tat oder zu tun gedachte, mit keiner Silbe erwähnen. Ich gab kein Versprechen und überlasse das daher Ihrem eigenen Urteil. Auch habe ich nicht im Sinne zu drohen, sagte aber, daß dieser starrköpfige, eigensinnige und liederliche Bursche keinen Pfennig von meinem Geld, keine Krume von meinem Brot und keinen Finger von meiner Hand erhalten soll, und könnte ich ihn damit von dem höchsten Galgen in ganz Europa retten. Ich will ihn nie wieder sehen – nie wieder seinen Namen hören. Er hat keinen Beistand von mir zu hoffen, und ebensowenig die, die ihm Beistand leisten. Er weiß recht gut, was aus seinem Benehmen für Sie erwachsen muß, aber er kommt in seiner selbstsüchtigen Trägheit zurück, um Ihre Not zu vermehren und den kümmerlichen Verdienst seiner Schwester aufzehren zu helfen. Ich bedaure, meine Hand zurückziehen zu müssen, besonders um Käthchens willen, aber ich will diesem Ausbund von Gemeinheit und Niedrigkeit nicht noch Vorschub leisten, und da ich Ihnen nicht zumuten kann, ihn aufzugeben, so wird das mein letzter Besuch sein.«

Hätte Ralph nicht gewußt, wie sehr es in seiner Macht stand, die, die er haßte, zu verwunden, so würden ihn seine Blicke auf Nicolaus von dem vollen Nachdruck seiner Worte überzeugt haben. Der junge Mann war sich durchaus keines Vergehens bewußt; trotzdem aber schnitt ihm jede versteckte Beschuldigung, jeder wohlberechnete Sarkasmus tief in die Seele, so daß Ralph, als er Nicolaus‘ blasses Gesicht und seine bebenden Lippen bemerkte, sich vor Freude selbst hätte umarmen mögen, weil es ihm gelungen war, durch seine Hohnreden das glühende Herz des Jünglings aufs tiefste zu verletzen.

»Ich kann’s nicht ändern«, rief Frau Nickleby. »Ich weiß, Sie sind sehr gütig gegen uns gewesen und hatten auch für meine arme Tochter noch viel Gutes im Sinne. Ich bin davon vollkommen überzeugt und weiß Ihre Güte zu schätzen, daß Sie diese voll der wohlwollendsten Absichten in Ihr Haus kommen ließen. Natürlich würde auch die Ausführung Ihres Entwurfs sie und mich ungemein glücklich gemacht haben; aber, Herr Schwager, Sie wissen, ich kann meinen eigenen Sohn nicht verstoßen, selbst wenn er alles das, wovon Sie sprachen, getan hat – es ist unmöglich, ich kann es nicht tun; und so müssen wir eben das Schlimmste über uns ergehen lassen, mein liebes Käthchen – ich werde es wohl ertragen können.«

Unter diesen und einer ganzen Kette anderer unzusammenhängender Wehklagen, die gewiß keine andere sterbliche Macht als die der Witwe Nickleby aneinanderzureihen imstande gewesen wäre, rang diese Dame ihre Hände und ließ ihre Tränen reichlicher strömen.

»Warum sagen Sie, ›wenn Nicolaus alles das, wovon gesprochen wurde, getan‹, Mama?« fragte Käthchen mit edlem Unwillen. »Sie wissen ja, daß dies nicht der Fall ist.«

»Ich weiß nicht, was ich denken soll, meine Liebe, so oder so«, sagte Frau Nickleby. »Nicolaus ist so heftig, und dein Onkel spricht mit so viel Ruhe, daß ich nur auf ihn, nicht aber auf Nicolaus hören kann. Doch es ist gleichgültig – wir wollen nicht mehr davon reden. Wir können ja in das Armenhaus, in das Arbeitshaus oder in das Magdalenenspital gehen; und je bälder wir es tun, desto besser wird es sein.«

Nach dieser seltsamen Zusammenstellung von wohltätigen Instituten ließ Frau Nickleby aufs neue ihren Tränen den Lauf.

»Bleiben Sie noch«, sagte Nicolaus, als Ralph nach der Tür ging. »Sie brauchen diesen Ort nicht zu verlassen, Sir: denn er soll in einer Minute von mir gesäubert sein, und es wird lange – sehr lange dauern, ehe ich dieses Haus wieder betrete.«

»Nicolaus, lieber Bruder!« rief Käthchen, indem sie sich an den Hals ihres Bruders warf und ihn mit ihren Armen umschlang, »sprich nicht so, wenn du mir nicht das Herz brechen willst. Mama, reden Sie doch mit ihm. Laß dir ihre Worte nicht zu Herzen gehen, Nicolaus: sie meint es nicht so – du solltest sie besser kennen. Onkel! – oder wer da ist, um Gottes willen, redet ihm zu.«

»Ich hatte nie die Absicht, Käthchen« – sagte Nicolaus – »ich hatte nie die Absicht, bei euch zu bleiben. Ich weiß, du denkst besser von mir, als daß du dies von mir vermuten könntest. Ich kehre vielleicht dieser Stadt ein paar Stunden früher, als ich dachte, den Rücken – aber was will das heißen? Wir werden auch getrennt einander nicht vergessen, und es kommen wohl noch bessere Tage, wo uns nichts mehr scheiden soll. Benimm dich mit Würde, Käthchen«, flüsterte er ihr zu, »und mach‘ mich nicht zu einem Weib, während er zusieht.«

»Nein, ich will das nicht«, entgegnete Käthchen lebhaft: »aber du sollst uns nicht verlassen. Oh, erinnere dich der glücklichen Tage, die wir miteinander verlebten, ehe dieses herbe Mißgeschick über uns kam. Denke an das Glück der Heimat und an die schweren Prüfungsstunden, die jetzt über uns ergehen. Wir haben in den Demütigungen und Kränkungen, denen die Armut ausgesetzt ist, keinen Beschützer, und du kannst nicht fort wollen, damit wir ihnen allein und ganz und gar hilflos preisgegeben seien.«

»Ihr werdet Hilfe finden, wenn ich fort bin«, entgegnete Nicolaus hastig. »Ich kann euch keinen Beistand, keinen Schutz gewähren, sondern nur euren Kummer, euren Mangel und eure Leiden vermehren. Die Mutter sieht das ein, und ihre Zärtlichkeit und Besorgtheit für dich zeigt mir den Weg, den ich zu wählen habe. So mögen denn alle guten Engel dich bewahren, Käthchen, bis ich dich in eine Heimat führen kann, wo uns das Glück, das uns jetzt versagt ist, wieder auflebt und die Prüfungsstunden der Gegenwart nur als etwas Gewesenes erscheinen. Halte mich nicht länger zurück, sondern laß mich ohne Zögern fort. So! liebes – liebes Mädchen.«

Die Hand, die ihn zurückhielt, erschlaffte, und Käthchen wurde in seinen Armen ohnmächtig. Nicolaus beugte sich einige Augenblicke über sie hin, ließ sie sanft auf einen Stuhl nieder und empfahl sie der Sorge ihrer wackeren Freundin.

» Ihr Mitleid brauche ich nicht anzuflehen«, sagte er, ihre Hand drückend, »denn ich kenne Ihr Herz. Sie werden ihr immer eine wohlwollende Freundin sein.«

Er trat nun auf Ralph zu, der noch immer regungslos in derselben Stellung dastand, die er die ganze Zeit über beobachtet hatte, und sprach mit so leiser Stimme, daß es nur von ihnen beiden gehört werden konnte, die folgenden Worte:

»Was Sie auch für Schritte tun mögen, Sir, ich werde strenge Abrechnung mit Ihnen darüber halten. Ich überlasse Ihnen Ihrem Wunsche gemäß die Meinigen. Aber früher oder später werde ich die Rechnung abschließen, und wehe Ihnen, wenn jenen ein Leid geschehen ist.«

Keine Muskelbewegung in Ralphs Gesicht kündigte an, daß er auch nur ein Wort von dieser Abschiedsanrede hörte. Nicolaus hatte übrigens kaum ausgesprochen, als er schon entschwunden war, ehe sich noch Frau Nickleby entschließen konnte, ihren Sohn, im Notfalle mit Gewalt, zurückzuhalten.

Als er mit einer Hast, die mit der Schnelligkeit der ihn bedrängenden Gedanken gleichen Schritt zu halten schien, durch die Straßen hin nach seiner armseligen Wohnung eilte, stiegen viele Zweifel und Bedenklichkeiten in seiner Seele auf und veranlaßten ihn beinahe, wieder umzukehren. Doch was konnten sie dadurch gewinnen? Angenommen auch, daß er Ralph Nickleby Trotz bot und vielleicht glücklich genug war, irgendeine kleine Anstellung zu erhalten, so konnte doch sein Aufenthalt bei ihnen ihre gegenwärtige Lage nur verschlimmern und ihre Aussichten für die Zukunft vernichten; denn seine Mutter hatte von einigen neuen Beweisen seines Wohlwollens gegen Käthchen gesprochen, die diese nicht in Abrede gestellt hatte. »Nein«, dachte Nicolaus, »es ist besser so, wie es ist.«

Aber ehe er noch fünfhundert Schritte gegangen war, tauchten wieder andere Gefühle in ihm auf. Er zögerte aufs neue, drückte den Hut in seine Augen und gab den trüben Betrachtungen Raum, die ihn mit aller Macht bestürmten. Sich keines Vergehens bewußt zu sein und doch so ganz allein in der Welt zu stehen; getrennt zu sein von den einzigen Personen, die er liebte, und umherirren zu müssen wie ein Verbrecher, da er doch sechs Monate vorher sich in der behaglichsten Lage befunden hatte und von seiner Familie als die schönste Hoffnung betrachtet wurde – es war in der Tat ein hartes – ein unverdient hartes Los. Doch lag ein Trost in diesem letztern; und in der Seele des armen Nicolaus wurde es abwechselnd heller oder trüber, je nachdem der Umschwung seiner Gedanken Licht- oder Schattenseiten berührte.

Unter diesem Wechsel zwischen Hoffnung und Furcht, wie ihn wohl jeder, sogar in Stunden gewöhnlicher Prüfung erfahren haben mag, erreichte Nicolaus endlich seine ärmliche Stube, wo er – nicht länger gehoben durch die Aufregung, die bisher seine Lebensgeister angespornt hatte, sondern ganz niedergedrückt durch die Erschlaffung, die sie zurückgelassen, – sich auf sein Lager warf, sein Gesicht der Wand zukehrte und den lang erstickten Gefühlen freien Spielraum gab.

Er hatte niemanden eintreten hören und gewahrte auch Smikes Anwesenheit nicht eher, bis er, bei einem zufälligen Aufrichten seines Kopfes, diesen am oberen Ende des Zimmers stehen und mit achtsamem Auge nach ihm hinblicken sah. Smike wandte sich ab, als er bemerkte, daß er beobachtet wurde, und stellte sich an, als sei er emsig mit den sparsamen Vorbereitungen zu ihrem Abendessen beschäftigt.

»Nun Smike«, sagte Nicolaus so heiter, wie es ihm möglich war, »laß hören, welche neuen Bekanntschaften du den Tag über gemacht oder welche Wunderdinge du in dem Bereich dieser und der nächsten Straße aufgefunden hast.«

»Nein«, versetzte Smike mit einem traurigen Kopfschütteln, »ich muß jetzt von etwas anderem sprechen.«

»Wie dir beliebt«, entgegnete Nicolaus gutgelaunt.

»Nun denn«, erwiderte Smike; »ich weiß, Sie sind unglücklich und haben sich große Ungelegenheiten zugezogen, weil Sie mich mit sich gehen ließen. Ich hätte das wissen und zurückbleiben sollen – auch würde ich es in der Tat nicht getan haben, wenn ich daran gedacht hätte. Sie – Sie sind nicht reich, haben nicht einmal genug für sich selber, und ich sollte nicht hier sein. Sie werden«, fuhr er fort, indem er schüchtern Nicolaus‘ Hand faßte, »Sie werden mit jedem Tage magerer, Ihre Wangen erbleichen und Ihre Augen sinken immer tiefer ein. Ich kann Sie in der Tat nicht mehr so ansehen, wenn ich dabei bedenke, welche Last ich für Sie bin. Ich versuchte es, Sie heimlich zu verlassen, aber der Gedanke an Ihr freundliches Gesicht hielt mich zurück; ich konnte nicht fort, ohne mich von Ihnen zu verabschieden.«

Der arme Bursche konnte nicht weiter sprechen; seine Augen füllten sich mit Tränen, und die Stimme versagte ihm.

»Von einem Abschied und einer Trennung zwischen uns beiden soll nie die Rede sein«, sagte Nicolaus, indem er Smike freundlich am Arme faßte, »denn bei dir finde ich noch meinen einzigen Trost und meine einzige Stütze. Ich möchte dich jetzt um alle Schätze der Welt nicht verlieren. Der Gedanke an dich hat mich heute in allem, was ich erduldete, aufrecht erhalten und wird es wohl noch oft tun. Gib mir deine Hand. Mein Herz ist an das deinige gefesselt. Wir wollen miteinander die Stadt verlassen, noch ehe die Woche zu Ende ist. Was macht es, wenn mich Armut packt; du wirst mir sie erleichtern, und wir tragen sie dann eben gemeinschaftlich.«

Einundzwanzigstes Kapitel.


Einundzwanzigstes Kapitel.

Madame Mantalini gerät in eine schwierige Stellung, worüber Fräulein Nickleby die ihre ganz und gar verliert.

Der überstandene Gemütssturm machte es Käthchen Nickleby drei Tage lang unmöglich, ihre Geschäfte in dem Hause der Putzmacherin wieder aufzunehmen, und am vierten verfügte sie sich wieder zur gewohnten Stunde mit widerstrebenden Schritten nach dem Tempel der Mode, wo Madame Mantalini eine unumschränkte Herrschaft übte.

Mamsell Knags feindselige Gesinnung hatte in der Zwischenzeit nichts von ihrem Gift verloren; denn die jungen Damen vermieden gewissenhaft jede Gemeinschaft mit ihrer so schwer beschuldigten Mitarbeiterin. Als die musterhafte alte Jungfer einige Minuten nachher anlangte, gab sie sich keine Mühe, das Mißvergnügen zu verhehlen, womit sie Käthchens Wiederkehr betrachtete.

»In der Tat«, sagte Mamsell Knag, als sich die Trabanten um sie scharten, um ihr den Hut und das Halstuch abzunehmen, »ich hätte gedacht, gewisse Leute hätten Verstand genug, um überhaupt wegzubleiben, wenn sie wissen, wie sehr ihre Gegenwart rechtlich gesinnten Personen zur Last fällt. Aber es ist eine seltsame Welt; oh, es ist eine seltsame Welt!«

Nachdem Mamsell Knag diese Bemerkung über die Welt in einem Tone ausgesprochen hatte, wie ihn überhaupt Leute, die sich in übler Laune befinden, in ihren Bemerkungen anzubringen pflegen – das heißt: in einer Weise, als ob sie derselben ganz und gar nicht angehörten, schloß sie mit einem schweren Seufzer, wodurch sie gar demütig ihr Mitleid mit der Verderbtheit des menschlichen Geschlechts kundgeben zu wollen schien.

Die Arbeiterinnen säumten nicht, das Echo zu diesem Seufzer zu bilden, und Mamsell Knag schickte sich augenscheinlich an, ihnen noch einige weitere moralische Betrachtungen zum besten zu geben, als Madame Mantalini Käthchen durch das Sprachrohr aufforderte, die Stiegen hinaufzukommen und im Ankleidezimmer behilflich zu sein – eine Auszeichnung, die Mamsell Knag veranlaßte, den Kopf in die Höhe zu werfen und sich so stark in die Lippen zu beißen, daß der Fluß ihrer Rede auf eine Weile vollständig eingefror.

»Nun, mein liebes Kind«, begann Madame Mantalini, als Käthchen sich vorstellte, »sind Sie wieder ganz wohl?«

»Viel besser, Madame«, antwortete Käthchen; »ich danke Ihnen.«

»Ich wünschte, ich könnte von mir das gleiche sagen«, bemerkte Madame Mantalini, indem sie sich anscheinend sehr erschöpft niederließ.

»Sind Sie krank?« fragte Käthchen. »Das täte mir ungemein leid.«

»Nicht gerade krank, aber bekümmert, mein Kind – sehr bekümmert«, entgegnete Madame.

»Da bedaure ich Sie um so mehr«, versetzte Käthchen mit Zartheit; »denn die Leiden des Körpers lassen sich leichter tragen, als die der Seele.«

»Ja, und noch leichter ist es, davon zu sprechen, als sich dem einen oder dem andern zu unterziehen«, erwiderte Madame, indem sie sich empfindlich die Nase rieb. »Doch – gehen Sie an Ihre Arbeit und bringen Sie die Sachen hier in Ordnung.«

Während Käthchen verwundert nachsann, was wohl diese Symptome einer ungewöhnlichen Stimmung zu bedeuten hätten, steckte Herr Mantalini die Spitzen seines Backenbartes und allmählich seinen Kopf durch die halboffene Tür und rief mit sentimentaler Stimme:

»Ist mein Leben und meine Seele hier?«

»Nein«, versetzte seine Gattin.

»Wie kann sie so sprechen, wenn sie im Vorderzimmer wie eine kleine Rose in einem verteufelten Blumentopf blüht?« entgegnete Mantalini. »Darf ihr Püppchen hereinkommen und sprechen?«

»Unter keinen Umständen«, erwiderte Madame. »Du weißt, daß ich dich hier durchaus nicht brauchen kann. Geh nur wieder fort.«

Aber das Püppchen, vielleicht durch den milden Ton dieser Erwiderung ermutigt, wagte sich aufzulehnen, stahl sich auf den Zehenspitzen ins Zimmer und warf Madame Mantalini im Nähertreten Kußhändchen zu.

»Warum will sie sich ungebärdig stellen und ihr hübsches Gesicht in häßliche Falten verziehen?« sagte Mantalini, indem er seine Linke um die Taille seines Lebens und seiner Seele schlang und sie mit seiner Rechten an sich zog.

»Ach, du bist unausstehlich«, versetzte seine Gattin.

»Wie – ich? – unausstehlich?« rief Mantalini. »Possen, Possen, das kann nicht sein. Kein lebendes Mädchen könnte mir so etwas ins Gesicht sagen – ja, geradezu ins Gesicht sagen.«

Herr Mantalini streichelte bei diesen Worten sein Kinn und betrachtete sich voll Selbstgefälligkeit in einem Wandspiegel.

»Eine solche, alles Maß überschreitende Verschwendung«, haderte Madame mit leiser Stimme.

»Alles nur in der Freude, ein so liebenswürdiges Wesen, eine solche kleine Venus, eine solche verteufelt bezaubernde, behexende, hinreißende kleine Venus gewonnen zu haben«, sagte Mantalini.

»Sieh nur, in welche Lage du mich versetzt hast,« entgegnete Madame.

»Meinem Herzchen kann und soll kein Leid widerfahren«, entgegnete Herr Mantalini. »Es ist alles vorüber und das Ganze erledigt. Geld wird bald da sein, und wenn es nicht geschwind genug eingeht, so muß der alte Nickleby wieder dran glauben, oder ich schneide ihm den Hals ab, wenn er es wagt, meine kleine –«

»Pst«, fiel Madame ein, »siehst du nicht?«

Herr Mantalini, der im Eifer, sich mit seiner Frau zu versöhnen, bisher Fräulein Nickleby übersehen oder sich vielleicht auch nur so gestellt hatte, nahm den Wink auf, legte den Finger an seine Lippen und dämpfte seine Stimme noch mehr. Sie flüsterten lange miteinander, und Madame Mantalini schien mehr als einmal auf gewisse Schulden anzuspielen, die er vor ihrer Heirat eingegangen war, an die unerwarteten Geldauslagen zur Begleichung der erwähnten Schulden zu erinnern, und außerdem auf einige liebenswürdige Schwächen von seiten ihres Herrn Gemahls, als da sind: Spiel, Verschwendung, Müßiggang, Liebhaberei für Pferde und dergleichen hinzudeuten – Anklagen, die Herr Mantalini je nach deren Wichtigkeit durch einen oder mehrere Küsse beschwichtigte; und das Ende von allem war, daß Madame Mantalini von ihrem Gatten ganz entzückt wurde und mit ihm die Stiege hinauf zum Frühstück ging.

Käthchen beschäftigte sich mit ihrer Aufgabe und ordnete schweigend die verschiedenen Putzartikel mit allem ihr zu Gebote stehenden Geschmack, als sie plötzlich durch die Stimme eines fremden Mannes in Schrecken gesetzt wurde. Dieser steigerte sich noch, als sie beim Umsehen wahrnahm, daß sich ein weißer Hut, ein rotes Halstuch, ein breites, rundes Gesicht, ein großer Kopf und ein Teil eines grünen Rockes im Zimmer befand.

»Erschrecken Sie nicht, Fräulein«, sagte der Eigentümer dieser Sonderbarkeit. »Nicht wahr, hier ist das Modegeschäft?«

»Ja«, antwortete Käthchen sehr bestürzt. »Was ist Ihr Wunsch?«

Der Fremde antwortete nicht, sondern blickte erst zurück, als ob er irgendeiner noch nicht sichtbaren Person winke, und trat dann sehr bedächtig ins Zimmer, wobei ihm ein kleiner Mann in einem braunen, sehr abgetragenen Rock folgte, der eine ganze Atmosphäre von Landmannsknaster- und frischem Zwiebelduft mit sich brachte. Die Kleider dieses Herrn hingen voll Flaum, und seine Schuhe, Strümpfe und Beinkleider waren bis zu den unteren Knöpfen seines Fracks mit Kot bespritzt, der sich allerwenigstens von vierzehn Tagen her datieren mußte, da bereits so lange schön Wetter war.

Käthchens erster Gedanke war, daß diese einladenden Personen in der Absicht gekommen waren, um sich widerrechtlicher Weise in den Besitz ein oder des andern tragbaren Artikels, der ihnen gerade einleuchtete, zu setzen. Sie hielt es auch nicht der Mühe für wert, ihre Sorgen zu verhehlen, und machte eine Bewegung nach der Tür.

»Warten Sie noch ein Augenblickchen«, sagte der Mann in dem grünen Rock, indem er sachte die Tür schloß und sich mit dem Rücken gegen diese stellte. »Es ist freilich ein unangenehmes Geschäft – aber wo ist Mosjö?«

»Nach was – fragten Sie?« entgegnete Käthchen zitternd: denn sie dachte, dieses Mosjö möchte ein Kunstausdruck der Spitzbuben für Uhr oder Geld sein.

»Herr Montilinie«, antwortete der Mann. »Was ist mit ihm? Ist er zu Hause?«

»Er ist eine Treppe weiter oben, glaube ich«, versetzte Käthchen, durch diese Frage etwas beruhigt. »Wünschen Sie ihn zu sprechen?«

»Das muß es gerade nicht sein«, entgegnete der Fremde, »wenn er uns einen Gefallen damit zu tun meint. Sie können ihm aber diese Karte geben und ihm sagen, wenn er mich zu sprechen wünsche und sich eine Unannehmlichkeit ersparen wolle, so sei ich hier; weiter ist nichts nötig.«

Mit diesen Worten überreichte er Käthchen eine dicke viereckige Karte und bemerkte dann gegen seinen Freund in ziemlich plumper Weise, »daß die Zimmer eine schöne Höhe hätten«, worin ihm der Freund beipflichtete und erläuternd hinzusetzte, »daß ein kleiner Junge darin zum Manne aufwachsen könnte, ohne je mit dem Kopf an die Decke zu stoßen.«

Käthchen zog die Klingel, um Madame Mantalini herbeizurufen, warf dann einen Blick auf die Karte und sah darauf den Namen ›Scaley‹ nebst einigen andern Andeutungen, die sie noch nicht durchgelesen hatte, als Herr Scaley selbst ihre Aufmerksamkeit auf sich zog, indem er auf einen der Toilettenspiegel losging und mit seinem Stock ganz kaltblütig auf dessen Mitte loshämmerte, als ob er von Gußeisen gewesen wäre.

»Das ist gutes Glas, Tix«, sagte Herr Scaley zu seinem Freunde.

»Hm«, versetzte Herr Tix, indem er mit seiner schmierigen Pfote ein Stück blauen Seidenzeugs anfühlte und den Abdruck seiner Finger darauf zurückließ, »und dieser Artikel hat auch das seine gekostet.«

Von dem Seidenzeug verpflanzte Herr Tix seine Bewunderung auf einige elegante Putzartikel, während Herr Scaley ganz gemächlich sein Halstuch vor dem Spiegel zurechtrückte. Er war noch ganz in dieses Geschäft vertieft, als Madame Mantalini ins Zimmer trat und ihn durch einen Ausruf des Erstaunens aus seiner Anschauung weckte.

»Ah, ist das die Frau?« fragte Scaley.

»Es ist Madame Mantalini«, sagte Käthchen.

»Nun«, sagte Herr Scaley, indem er ein kleines Dokument aus seiner Tasche holte und es mit ungemeiner Bedachtsamkeit entfaltete, »ich habe da einen Pfändungsbefehl, und wenn es nicht genehm ist zu bezahlen, so wollen wir mit Ihrer Erlaubnis das Haus durchgehen und eine Pfand-Inventur aufnehmen.«

Die arme Madame Mantalini schlug entsetzt ihre Hände zusammen, klingelte dann ihrem Mann und fiel endlich ohnmächtig in einen Stuhl. Die beiden Amtspersonen ließen sich jedoch durch dieses Ereignis nicht im mindesten anfechten: denn Herr Scaley lehnte sich über ein Gestell, an dem ein schönes Damenkleid hing, über das seine Schultern fast ebensoweit hervorragten, als es bei den Schultern der Dame der Fall gewesen sein würde, für die der Anzug bestimmt war. Dann schob er seinen Hut auf die eine Seite und kratzte sich ganz unbekümmert den Kopf, während sein Freund, Herr Tix, die Gelegenheit wahrnahm, sich, ehe er in das eigentliche Geschäft einging, einen vorläufigen Überblick über das Zimmer zu verschaffen, und deshalb, sein Inventarbuch unter dem Arm und den Hut in der Hand, im Geist jeden Gegenstand, der in seinem Gesichtskreise lag, taxierte.

Dies war der Stand der Dinge, als Herr Mantalini hereinstürzte. Da jedoch dieser vortreffliche Herr in den Tagen seines Junggesellenlebens sehr oft in Verkehr mit Herrn Scaleys Genossenschaft gekommen war und außerdem durch das jetzige Auftreten derselben nicht im mindesten überrascht wurde, so zuckte er bloß die Achseln, steckte seine Hände bis auf den Boden seiner Taschen, zog die Augenbrauen in die Höhe, pfiff einen oder zwei Takte, ließ einen oder zwei Flüche vernehmen, streckte sich auf einen Stuhl und machte mit vielem Anstand und großer Fassung die beste Miene zu der Sache.

»Was beträgt die verteufelte Totalsumme?« war seine erste Frage.

»Fünfzehnhundertsiebenundzwanzig Pfund, vier Schillinge, neun Pence und einen halben Penny«, antwortete Herr Scaley, ohne ein Glied zu rühren.

»Hole der Teufel den halben Penny«, sagte Herr Mantalini ungeduldig.

»Habe nichts dagegen, wenn Sie so wünschen«, entgegnete Herr Scaley; »meinetwegen auch die neun Pence.«

»Uns ist es gleichgültig, wenn auch die fünfzehnhundertsiebenundzwanzig Pfund desselben Weges fahren.«

»Kümmert uns keinen Pfifferling«, sagte Scaley.

»Nun«, fuhr derselbe Herr nach einer Pause fort, »was soll geschehen – etwas? Ist es nur ein kleiner Ausfall oder ein totaler Durchfall? Wie – gar eine Auflösung der ganzen Konkursmasse? – Sehr gut. Nun denn, Herr Tom Tix, dann müssen Euer Wohlgeboren Ihren Engel von Frau und Ihre ganze liebenswürdige Familie benachrichtigen, daß Sie die nächsten drei Nächte nicht nach Hause kommen können, weil Sie so lange hierbleiben müssen. Wozu regt sich denn die Frau so gewaltig auf?« fuhr Herr Scaley fort, als er Madame Mantalini schluchzen hörte. »Ich wette, über die Hälfte von dem, was hier ist, steht doch noch im Buch, und welcher Trost muß das für ihre Gefühle sein.«

Mit diesen Bemerkungen, die ebenso spaßhaft klangen, wie sie ungemein viel Trost für Madame Mantalinis Lage enthielten, schickte sich Herr Scaley an, das Inventar aufzunehmen. Bei diesem peinlichen Geschäft sah er sich durch den ungewöhnlichen Takt und die vieljährige Erfahrung des Herrn Tix unterstützt.

»Meine Glückseligkeitsbecherversüßerin«, sagte Herr Mantalini, indem er sich mit reuiger Miene seiner Gattin näherte, »willst du mich zwei Minuten anhören?«

»Oh, ich will nichts von dir hören«, versetzte seine Gattin. »Es ist genug, daß du mich zugrunde gerichtet hast.«

Herr Mantalini, der ohne Zweifel seine Rolle vorher wohl überlegt hatte, vernahm kaum diese Worte, die im Ton des Schmerzes und der Strenge ausgesprochen wurden, als er um etliche Schritte zurückprallte, den Ausdruck der höchsten Verzweiflung annahm und ungestüm aus dem Zimmer stürzte. Bald nachher hörte man ihn die Tür des Besuchszimmers im zweiten Stock mit großer Heftigkeit zuschlagen.

«Mamsell Nickleby!« rief Madame Mantalini, als dieser Ton ihr Ohr traf, »eilen Sie um Gottes willen, er will sich das Leben nehmen. Ich bin unfreundlich gegen ihn gewesen, und das kann er von mir nicht vertragen. Alfred! o mein lieber Alfred!«

Mit solchen Ausrufen eilte sie die Treppe hinauf, und Käthchen folgte in einiger Unruhe, obgleich sie die Besorgnisse der zärtlichen Gattin nicht ganz teilte. Die Zimmertür flog rasch auf, und vor ihnen stand Herr Mantalini, der seinen Hemdkragen ganz symmetrisch zurückgeschlagen hatte und ein Tischmesser auf einem Streichriemen schärfte.

»Ah«, rief Herr Mantalini, »unterbrochen!« und blitzschnell wanderte das Tischmesser in Herrn Mantalinis Schlafrocktasche, während Herrn Mantalinis Augen rasch umherrollten, und Haare und Backenbart ihm in großer Verwirrung um den Kopf flogen.

»Alfred!« rief Madame Mantalini, indem sie ihn mit ihren Armen umschlang; »ich habe es nicht so bös gemeint – ich habe es nicht so bös gemeint!«

»Zugrunde gerichtet!« rief Herr Mantalini. »Ich habe Verderben über das beste und reinste Wesen gebracht, das je einen verteufelten Vagabunden beglückte! Zum Teufel – laß mich gehen!«

Auf dieser Glanzhöhe seines Rasens griff Herr Mantalini wieder nach seinem Messer, wurde aber von den Händen seiner Gattin zurückgehalten. Darauf versuchte er es, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen – nahm sich aber jedenfalls dabei sehr in acht, wenigstens sechs Fuß von ihr entfernt zu bleiben.

»Fasse dich, mein Engel«, sagte Madame. »Wir können dieses Unglück niemandem zur Last legen; wenigsten« bin ich ebensogut schuld daran wie du, aber es wird schon wieder besser kommen. Beruhige dich, Alfred – beruhige dich.«

Herr Mantalini hielt es nicht für passend, sich sogleich wieder zu beruhigen, sondern nachdem er mehrere Male nach Gift gerufen und das Ansinnen gestellt hatte, irgendein Herr oder eine Dame möchte ihm das Gehirn aus dem Kopf schlagen, gewannen sanftere Gefühle bei ihm die Oberhand, und er begann auf eine ergreifende Weise zu weinen. In dieser besänftigten Gemütsstimmung hatte er nichts dagegen, daß ihm das Messer genommen wurde – was ihm, die Wahrheit zu gestehen, zu einem ungemeinen Trost gereichte, da ein Tischmesser ein unbequemer und gefährlicher Artikel für eine linnene Schlafrocktasche ist –, und endlich ließ er sich von seiner zärtlichen Gattin fortführen.

Nach zwei oder drei Stunden wurde den jungen Damen die Mitteilung gemacht, daß sie ihrer Dienste bis auf weiteres enthoben seien, und zwei Tage später erschien der Name Mantalini auf der Liste derer, die Bankerott machten. Fräulein Nickleby erhielt noch außerdem an demselben Morgen ein Schreiben, daß das Geschäft in Zukunft unter dem Namen der Mamsell Knag fortbetrieben würde, übrigens ihre Dienste nicht weiter vonnöten wären.

Frau Nickleby hatte dies kaum erfahren, als die gute Dame sogleich erklärte, sie hätte etwas der Art längst vorausgesehen, wobei sie verschiedene unbekannte Anlässe namhaft machte, bei denen sie gleichfalls ganz richtig prophezeit hatte.

»Und ich sage es noch einmal«, ging Frau Nickleby in ihrem Redefluß weiter – wir haben aber kaum nötig, zu bemerken, daß sie etwas der Art nie vorher gesagt hatte – »ich sage es noch einmal, Käthchen, daß das Geschäft einer Putz- und Kleidermacherin das allerletzte ist, zu dem du dich hättest verwenden lassen sollen. Ich will dir keinen Vorwurf machen, meine Liebe, aber ich muß es wiederholen, daß ich, wenn du deine Mutter um Rat gefragt hättest –«

»Gut, gut, Mama«, sagte Käthchen sanft; »aber was raten Sie mir setzt?«

»Raten?« rief Madame Nickleby. »Ist es nicht augenfällig, meine Liebe, daß von allen Beschäftigungen der Welt die eines Gesellschaftsfräuleins bei einer liebenswürdigen Dame gerade diejenige ist, für die du dich vermöge deiner Erziehung, deiner Manieren, deines Äußeren und alles Sonstigen am allerbesten eignest? Hast du deinen armen seligen Vater nie von der jungen Dame sprechen hören – einer Tochter der alten Dame, die in dem Hause, wo er einst als Junggeselle seinen Mittagstisch hatte, das Essen reichte? – Ach wie heißt sie doch? Ich weiß, ihr Name fängt mit einem B an und endigte mit einem ag – oder hieß sie vielleicht Waters? – Nein, dann kann’s doch nicht gewesen sein; aber wie sie auch geheißen haben mochte – weißt du nicht, daß diese junge Dame als Gesellschafterin zu einer verheirateten Dame kam, die bald nachher starb, und daß sie dann den Witwer heiratete und einen der schönsten kleinen Knaben bekam, den je eine Hebamme auf den Armen hatte – und alles dies in dem Zeitraum von nur achtzehn Monaten?«

Käthchen begriff leicht, daß dieser Strom von belegenden Rückerinnerungen durch irgendeine wirkliche oder eingebildete Aussicht veranlaßt wurde, die ihre Mutter betreffs einer solchen Laufbahn sich zusammenphantasiert hatte. Sie wartete daher geduldig, bis alle Remiscenzen und Histörchen – zur Sache gehörig oder nicht – erschöpft waren, und wagte dann endlich die Frage, ob der Mutter vielleicht etwas Derartiges zu Ohren gekommen sei. Die Wahrheit stellte sich nun heraus. Madame Nickleby hatte an demselben Morgen das gestrige Blatt einer sehr ehrenwerten Zeitung in die Hände bekommen, in dem durch ein im reinsten und grammatikalisch richtigsten Englisch geschriebenes Inserat angezeigt wurde, daß eine verheiratete Dame eine gebildete junge Person zur Gesellschafterin suche, und daß die Adresse der besagten Dame in einer gewissen Leihbibliothek im Westend der Stadt zu erfragen sei.

»Und ich sage dir«, rief Madame Nickleby, indem sie die Zeitung im Triumph niederlegte, »daß es wohl der Mühe wert ist, den Versuch zu machen, wenn dein Onkel nichts dagegen einzuwenden hat.«

Käthchen hatte infolge der herben Erfahrungen, die sie bereits gemacht, zu viel Herzeleid und kümmerte sich in der Tat auch vorderhand zu wenig um das, was ihr das Schicksal vorbehalten haben mochte, um sich einen Einwand zu erlauben. Herr Ralph Nickleby hatte gleichfalls nichts dagegen, sondern ließ im Gegenteil dieser Absicht seinen unverhohlenen Beifall zuteil werden. Auch schien ihm, wie sich aus seinem Benehmen zeigte, Madame Mantalinis plötzlicher Bankerott nicht besonders unerwartet gekommen zu sein – was freilich sonderbar hätte zugehen müssen, da hauptsächlich er es gewesen war, der diesen herbeigeführt hatte. Die Adresse wurde daher ohne Zeitverlust erfragt, und Fräulein Nickleby machte sich mit ihrer Mutter noch denselben Vormittag auf den Weg, um Madame Wititterly, Cadoganplatz, Sloanestraße aufzusuchen.

Cadoganplatz ist das einzige leichte Band zwischen zwei großen Extremen, das Mittelglied zwischen dem aristokratischen Boden von Bel-Grave-Square und dem plebejischen von Chelsea. Er ist in der Sloanestraße, ohne jedoch derselben anzugehören. Die Bewohner von Cadoganplatz blicken auf die der Sloanestraße herunter und halten Brompton für gewöhnlich. Sie wollen fashionable sein und können nicht begreifen, wie man New Road kennen kann. Sie stehen zwar nicht auf gleicher Höhe mit Bel-Grave-Square und Grosvenor Place, aber es besteht doch ein Verhältnis zu jenen, ungefähr wie das unehelicher Kinder großer Herren, die sich mit ihren Verwandten brüsten, obgleich sie von denselben nicht anerkannt werden. Die Bewohner von Cadogan Place geben sich so gut wie möglich das Ansehen von Leuten des höchsten Ranges, obgleich sie in der Tat nur der mittleren Klasse angehören. Sie bilden gleichsam den Transformator, der den Bewohnern der jenseitigen Bezirke den elektrischen Schlag des Geburts- und Rangstolzes mitteilt, den sie allerdings nicht selber besitzen, aber doch von einer naheliegenden Hauptquelle ableiten – oder mit andern Worten, sie gleichen dem Band, das die siamesischen Zwillinge vereinigt und das etwas von dem Leben und der Wesenheit zweier verschiedenen Körper enthält, ohne dem einen oder dem andern wirklich anzugehören.

Auf diesem neutralen Gebiet wohnte Madame Wititterly, und an Madame Wititterlys Tür klopfte Käthchen Nickleby mit zitternder Hand. Die Tür wurde von einem stämmigen Diener geöffnet, dessen Kopf mit Mehl, Kreide oder etwas Ähnlichem, denn es sah nicht wie echter Puder aus – bestreut war. Er nahm Käthchen die Karte ab und gab sie einem kleinen Boy, der in der Tat so klein war, daß sein Rock die Anzahl kleiner Knöpfe, die unerläßlich zu dem Anzug eines kleinen Boy gehören, in der gewöhnlichen Ordnung nicht fassen konnte, weshalb sie auch zu vier nebeneinander gesetzt worden waren. Dieses Herrchen trug die Karte auf einem Präsentierteller die Treppe hinauf, und Käthchen nebst ihrer Mutter wurden bis zu seiner Rückkehr in ein Speisezimmer gewiesen, das so schmutzig, schäbig und unbehaglich aussah, daß es eher für alles andere, als für Essen und Trinken zu passen schien.

Dem gewöhnlichen Lauf der Dinge zufolge und nach allem, was man als glaubwürdige Berichte über das Treiben der vornehmen Gesellschaft in Büchern findet, hätte Madame Wititterly im Boudoir sitzen sollen. Mochte indessen vielleicht Herr Wititterly sich gerade dort den Bart abnehmen, oder sonst eine Ursache vorhanden sein – wir wissen nur so viel gewiß, daß Madame Wititterly sich ihrem Besuchszimmer Audienz gab, wo sich alles Vornehme und Notwendige vorfand, mit Einschluß rosenroter Fenstervorhänge und dergleichen Möbelüberzüge, um ein zartes Rot auf Madame Wititterlys Antlitz zu gießen, eines kleinen Hundes, um zu Madame Wititterlys Belustigung Fremden nach den Beinen zu schnappen, und des vorerwähnten Boy, um zu Madame Wititterlys Erfrischung Schokolade zu präsentieren.

Die Dame hatte ein süßlich schmachtendes, ansprechend blasses Gesicht; auch war ihr ganzes Äußere wie ihre Einrichtung und alles im Hause – verblichen. Sie lehnte sich in einer so unstudierten Haltung auf ihrem Sofa zurück, daß man sie für eine Tänzerin hätte halten können, die für die erste Szene eines Balletts gekleidet ist und nur noch auf das Aufziehen des Vorhangs wartet.

»Stühle!«

Der Boy stellte die Stühle bereit.

»Verlasse das Zimmer, Alphons!«

Der Boy trat ab. Wenn es aber je einen Alphons gab, dem der Grobmichel ins Gesicht geschrieben war, so war es dieser Knabe.

»Ich wagte es, bei Ihnen vorzusprechen, Madame«, sagte Käthchen nach einer kurzen, beengenden Pause, »da ich Ihre Anzeige gelesen.«

»Ja«, versetzte Madame Wititterly. »Einer meiner Leute setzte es in die Zeitung. Ja.«

»Ich dachte«, fuhr Käthchen bescheiden fort, »Sie würden mir, wofern Sie nicht bereits eine Wahl getroffen, verzeihen, wenn ich Sie mit einer Bewerbung um die angezeigte Stelle behellige.«

»Ja«, entgegnete Madame Wititterly abermals in gedehnter Weise.

»Wenn Sie bereits versehen sind – –«

»O mein Gott, nein«, fiel die Dame ein. »Ich bin nicht so leicht zufriedengestellt. Ich weiß in der Tat nicht, was ich sagen soll. Sie sind früher nie Gesellschafterin gewesen – oder?«

Madame Nickleby, die begierig die Gelegenheit wahrgenommen hatte, riß gewandt die Rede an sich, ehe noch Käthchen antworten konnte.

»Nicht bei Fremden, Madame«, sagte die Dame, »aber sie ist seit Jahren meine Gesellschafterin gewesen. Ich bin ihre Mutter, Madame.«

»Ah«, sagte Madame Wititterly, »ich begreife.«

»Ich versichere Sie, Madame«, versetzte Frau Nickleby, »ich hätte es früher nicht für möglich gehalten, daß ich meine Tochter in die Welt hinausschicken müßte, denn ihr armer Vater war ein unabhängiger Mann und würde es auch noch im gegenwärtigen Augenblick sein, hätte er nur bei Zeiten auf meine beharrlichen Bitten – –«

»Liebe Mama«, bat Käthchen leise.

»Liebes Käthchen, wenn du mich aussprechen lassen willst«, entgegnete Madame Nickleby, »so werde ich mir die Freiheit nehmen, dieser Dame auseinanderzusetzen –«

»Ich meine, es ist unnötig, Mama.«

Und ungeachtet alles Stirnrunzelns und Winkens, womit Madame Nickleby andeutete, sie habe im Sinne, etwas zu sagen, was die Sache mit einem Male abmachen würde, beharrte Käthchen durch einen ausdrucksvollen Blick auf ihrer Ansicht, so daß Madame Nickleby nicht vermochte, die begonnene Tirade fortzusetzen.

»Was haben Sie gelernt?« fragte Madame Wititterly, die Augen zudrückend.

Käthchen zählte errötend ihre Hauptfähigkeiten auf, und Madame Nickleby rechnete ihr eine nach der andern an den Fingern nach, da sie bereits, ehe sie diesen Gang angetreten, alles gehörig zusammengestellt hatte. Glücklicherweise stimmten beide Berechnungen miteinander überein, und so hatte Madame Nickleby keinen Anlaß, das Wort an sich zu reißen.

»Ist Ihr Charakter umgänglich?« fragte Madame Wititterly, indem sie die Augen für einen Augenblick öffnete und dann wieder schloß.

»Ich hoffe es«, versetzte Käthchen.

»Sind Sie auch mit guten Empfehlungen versehen?«

Käthchen bejahte diese Frage und legte die Karte ihres Onkels auf den Tisch.

»Haben Sie die Güte, Ihren Stuhl ein wenig näher zu rücken, damit ich Sie ansehen kann«, sagte Madame Wititterly. »Ich bin sehr sehr kurzsichtig und kann daher Ihre Züge nicht ganz unterscheiden.«

Käthchen entsprach dieser Aufforderung nicht ohne einige Verlegenheit, und Madame Wititterly musterte mit mattem Blick ihr Gesicht mehrere Minuten lang.

»Ihr Äußeres gefällt mir«, sprach die Dame, indem sie eine kleine Klingel zog. »Alphons, ersuche deinen Vorgesetzten, hierherzukommen.«

Der Boy entfernte sich mit dieser Botschaft, und nach einer kurzen Pause, in der von beiden Seiten nicht ein Wort gesprochen wurde, trat ein wichtigtuender Herr von ungefähr achtunddreißig Jahren mit ziemlich plebejischen Zügen und lichten Haaren durch die Tür, der sich eine Weile über Madame Wititterly beugte und sich flüsternd mit ihr unterhielt.

»Ah – so!« sagte er, indem er sich umwandte, »das ist eine höchst wichtige Angelegenheit. Madame Wititterly ist von sehr reizbarem Wesen, sehr zart, sehr schwächlich, eine Treibhauspflanze, ein exotisches Gewächs.«

»Ach, lieber Heinrich!« fiel Madame Wititterly ein.

»Du bist’s, meine Liebe – du weißt, daß du es bist. Ein Hauch –« sagte Herr Wititterly, indem er sich anstellte, als blase er eine Feder weg – »puh! und du bist nicht mehr.«

»Deine Seele ist zu groß für deinen Körper«, fuhr Herr Wititterly fort. »Dein hoher Geist reibt dich auf. Du weißt, es gibt keinen Arzt, der nicht stolz darauf wäre, zu dir gerufen zu werden. Wie lautet ihre einstimmige Erklärung? ›Mein lieber Doktor‹, sagte ich in diesem Zimmer zu Sir Tumley Snuffim bei seinem letzten Besuch, ›mein lieber Doktor, was fehlt meiner Frau? Sagen Sie mir alles, ich kann es wohl ertragen. Sind es die Nerven?‹ ›Mein lieber Freund‹, sagte er, ›Sie dürfen stolz sein auf Ihre Gemahlin. Halten Sie sie hoch in Ehren: sie ist eine Zierde für die fashionable Welt und für Sie. Ihre ganze Krankheit liegt in ihrem hohen Geist. Er schwillt, dehnt sich aus, erweitert sich – das Blut entzündet sich, die Pulse fliegen rascher, die Erregung steigert sich‹ – puh.«

Herr Wititterly hatte in dem Feuer seiner Beschreibung mit seiner rechten Hand in der Luft herumgefuchtelt und war dabei Frau Nicklebys Hut um weniger als einen Zoll nahe gekommen; er hielt daher hastig inne und blies dann seine Nase so gewaltig auf, als wirke in seinem Innern eine mächtige Maschinerie.

»Du machst mich immer schwächer, als ich bin, Heinrich«, hauchte Madame Wititterly.

»Das tu‘ ich nicht, Julia – nein, gewiß nicht«, entgegnete Herr Wititterly. »Die Gesellschaft, in der du dich bewegst und deiner Stellung, deiner Familie und deiner hohen Gaben willen notwendig bewegen mußt, ist ein unablässiger Strudel und Wirbel der furchtbarsten Aufregung. Ich will nicht leben, wenn ich je die Nacht vergesse, in der du auf dem Wahlballe zu Exeter mit dem Neffen des Baronets tanztest. Es war schrecklich!«

»Ich habe für solche Triumphe immer hintendrein zu leiden«, sagte Madame Wititterly.

»Und gerade deshalb«, erwiderte ihr Gatte, »mußt du eine Gesellschafterin haben, in der du Sanftmut und Zartheit, die höchste Sympathie und die schönste Seelenruhe findest.«

Hier brachen beide, Herr und Madame Wititterly, die dies mehr für die Nicklebys als unter sich gesprochen hatten, ab und blickten auf die beiden Zuhörerinnen mit einem Gesichtsausdruck, der zu fragen schien, wie ihnen das alles imponiere.

»Madame Wititterly«, sprach der Gatte zu Frau Nickleby, »wird von den glänzendsten Gesellschaften, den brillantesten Zirkeln begehrt und gefeiert. Sie wird aufgeregt durch die Oper, das Schauspiel, die schönen Künste, die – die – die –«

»Den Adel, mein Lieber«, fiel Madame Wititterly ein.

»Natürlich, den Adel«, sagte Herr Wititterly, »und das Militär. Sie ist eine ungemein tiefe Denkerin und lebt in einer ungeheuren Mannigfaltigkeit von Ansichten über die allermannigfaltigsten Gegenstände. Wenn gewisse Leute im öffentlichen Leben Madame Wititterlys wahre Meinung über sie kennen würden, so würden sie wahrscheinlich ihre Köpfe nicht so hoch tragen, wie sie es tun.«

»Pst, Heinrich«, sagte die Dame, »das ist nicht in der Ordnung.«

»Ich erwähne ja keine Namen, Julia«, versetzte Herr Wititterly, »und so kann sich niemand gekränkt fühlen. Ich berühre den Umstand auch nur, um zu zeigen, daß du keine gewöhnliche Frau bist, daß eine beharrliche Reibung ohne Unterlaß zwischen deiner Seele und deinem Körper vorgeht, und daß du deshalb die allerzarteste Behandlung nötig hast. Aber jetzt wünsche ich eine ruhige und leidenschaftslose Schilderung der Eigenschaften, durch die sich dieses junge Mädchen für die Stelle befähigt.«

Infolge dieser Aufforderung wurden die Eigenschaften Käthchens abermals durchgegangen, wobei jedoch Herrn Wititterlys Zwischenfragen manche Unterbrechung veranlaßten. Endlich kam man zu dem Beschluß, daß man Erkundigungen einziehen und den Endbescheid Fräulein Nickleby innerhalb zweier Tage unter der Adresse ihres Onkels zugehen lassen wolle. Nach diesen Verhandlungen begleitete sie der Boy bis zu dem Treppenfenstcr, wo durch den dicken Diener eine Ablösung stattfand, so daß Mutter und Tochter in dieser Weise wohlbehalten auf die Straße gelangten.

»Das sind augenscheinlich sehr vornehme Personen«, sagte Frau Nickleby, als sie den Arm ihrer Tochter nahm. »Was nicht Madame Wititterly für eine vortreffliche Dame ist.«

»Meinen Sie, Mama?« war Käthchens ganze Antwort.

»Wie sollte ich nicht, liebes Käthchen«, erwiderte die Mutter. »Sie ist ja so blaß und sieht ganz erschöpft aus. Ich will hoffen, daß sie sich nicht ganz verzehrt, aber ich fürchte sehr für ihr Leben.«

Diese Gedanken führten die tiefblickende Dame zu der Berechnung von Madame Wititterlys mutmaßlicher Lebensdauer, wobei sie es nicht unterließ, die hohe Wahrscheinlichkeit abzuwägen, daß der trostlose Witwer ihrer Tochter die Hand bieten würde. Noch ehe die gute Frau zu Haus anlangte, hatte sie Madame Wititterlys Seele von allen Beengungen des Körpers befreit, Käthchen mit großem Glanz nach St. Georgs Hannover Squar verheiratet und nur noch die minder wichtige Frage unentschieden gelassen, ob eine prachtvolle Mahagonibettstelle für sie selbst in dem zwei Treppen hohen Hinterzimmer nach Cadogan Place hinaus oder in einem andern Zimmer des dritten Stockes aufgeschlagen werden sollte. Sie konnte jedoch nicht mit sich ins reine kommen, was von beiden das Vorteilhaftere sein dürfte. Deshalb schloß sie ihr Bedenken damit ab, daß sie die Entscheidung darüber ihrem Schwiegersohn überlassen wollte.

Die Nachforschungen wurden angestellt, und die Antwort fiel – gerade nicht zu Käthchens besonderer Freude – günstig aus. Nach dem Ablauf einer Woche übersiedelte Fräulein Nickleby mit aller ihrer beweglichen Habe in Madame Wititterlys Wohnung, wo wir sie vorderhand lassen wollen.

Zweiundzwanzigstes Kapitel.


Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Nicolaus begibt sich in Smikes Begleitung auf den Weg, um sein Glück zu suchen, und macht bei dieser Gelegenheit eine interessante Bekanntschaft in der Person des Herrn Vincent Crummles.

Nicolaus‘ ganzes Vermögen bestand, nach Bezahlung der Haus- und Möbelmiete, in wenig mehr als zwanzig Schillingen; und doch begrüßte er den Morgen, an dem er London verlassen wollte, mit leichtem Herzen. Er verließ sein Bett mit jener Schwungkraft des Geistes, die zum Glück nur das Erbteil der Jugend ist, da sonst die Welt nie mit alten Leuten bevölkert sein würde.

Es war ein kalter, dunstiger Morgen in den ersten Tagen des Frühlings. Nur wenige leichte Schatten glitten in den Straßen hin und her. Zuweilen zeigten sich in dem dicken Nebel die schwerfälligen Umrisse einer heimkehrenden Mietkutsche, die langsam näherzog, vorbeirasselte, die dünne Reifrinde von ihrer Decke abschüttelte und sich bald wieder in der Wolke verlor. Bisweilen hörte man den Tritt eines mit hinten niedergetretenen Schuhen versehenen Fußes und den frostigen Ruf eines armen Schornsteinfegers, der mit klappernden Zähnen an sein frühes Tagewerk ging; den schweren Stiefel des Nachtwächters, der langsam auf- und abschritt und die trägen Stunden verwünschte, die noch zwischen ihm und seinem Schlafe lagen; das Rollen schwerer Frachtfuhrwerke und das Klappern der leichteren Wagen, die Käufer und Verkäufer nach den verschiedenen Märkten brachten; das vergebliche Klopfen an den Türen fester Schläfer – kurz, alle diese Töne schlugen von Zeit zu Zeit ans Ohr; aber sie schienen durch den Nebel gedämpft zu werden, so daß sie dem Gehör eben so unbestimmt vorkamen, wie die Gegenstände selbst dem Auge. Die dunstige Atmosphäre wurde immer dichter, je weiter der Tag vorrückte; und die, die den Mut hatten, aufzustehen und durch ihr Gardinenfenster in die düstere Straße hinauszublicken, blickten wieder zurück, schlüpften in ihr Bett und kauerten sich zusammen, um weiterzuschlafen.

Noch ehe diese Anzeichen des erwachenden Morgens in dem geschäftigen London allgemeiner wurden, hatte Nicolaus ohne Begleitung seinen Weg nach der City eingeschlagen und stand unter den Fenstern der Wohnung seiner Mutter. Sie sah öde und düster aus, aber in ihrem Innern war Licht und Leben für ihn; denn in ihren alten Wänden befand sich wenigstens ein Herz, das bei Kränkung oder Schmach das Blut ebenso rasch durch die Adern jagte, wie es das seinige tat.

Er ging über die Straße hinüber und erhob seine Augen zu dem Fenster des Zimmers, wo, wie er wußte, seine Schwester schlief. Es war geschlossen und dunkel. »Armes Mädchen«, dachte Nicolaus, »du ahnst nicht, wer hier außen weilt!«

Er sah abermals hin und fühlte sich einen Augenblick fast gekränkt, daß Käthchen nicht auf war, um ihm ein Wort des Abschieds zuzurufen. »Mein Gott«, dachte er dann, sich plötzlich wieder verbessernd, »was für ein Kind ich doch bin!«

»Es ist besser so, wie es ist«, sagte sich Nicolaus, nachdem er etlichemal vor dem Haus auf und ab gegangen war. »Als ich mich früher von ihnen trennte und tausendmal hätte Lebewohl sagen können, wenn ich gewollt hätte, suchte ich ihnen den Schmerz des Abschieds zu ersparen – und warum nicht auch jetzt?«

Jetzt kam es ihm auf einmal vor, als bewege sich der Vorhang, und er suchte sich einen Augenblick zu überreden, daß Käthchen am Fenster wäre. Infolge eines jener seltsamen Widersprüche der Gefühle, die uns allen eigen sind, trat er unwillkürlich unter einen Torweg zurück, damit sie ihn nicht sehen möchte. Er lächelte über seine Schwäche, empfahl seine Lieben dem Schutz Gottes und entfernte sich mit leichten Schritten.

Als er seine alte Wohnung erreichte, traf er den ängstlich harrenden Smike und Newman Noggs, der das Einkommen eines Tages auf eine Kanne Rum und Milch verwendet hatte, um die Wanderer für ihren Weg zu stärken. Smike nahm das Gepäck auf die Schulter, und so gingen sie weiter, von Noggs begleitet, der darauf bestand, so lange mit ihnen zu gehen, bis der Tag angebrochen wäre.

»Welchen Weg?« fragte Newman nachdenkend.

»Zuerst nach Kingston«, versetzte Nicolaus.

»Und wohin dann?« fragte Newman. »Warum sollten Sie mir´s nicht sagen?«

»Weil ich es selber kaum weiß, mein Freund«, entgegnete Nicolaus, die Hand auf Newmans Schulter legend; »und wenn ich es auch wüßte, so habe ich doch vorderhand weder Plan noch Aussicht und mag vielleicht meinen Aufenthalt schon hundertmal gewechselt haben, ehe mich eine Nachricht von Ihnen erreichen kann.«

»Ich fürchte, Sie haben einen tief überlegten Entwurf in Ihrem Kopfe«, sagte Newman kopfschüttelnd.

»In der Tat, so tief«, erwiderte sein junger Freund, »daß ich selber keinen Boden darin finden kann. Ich verspreche Ihnen jedoch zu schreiben, sobald ich zu einem Entschluß gekommen bin.«

»Sie wollen es aber nicht vergessen?« fragte Newman.

»Wenigstens ist es nicht sehr wahrscheinlich«, versetzte Nicolaus.

»Ich habe nicht so viele Freunde, daß mich ihre Zahl verwirren und ich des besten darunter vergessen könnte.«

In solchen Gesprächen gingen sie ein paar Stunden miteinander fort, und sie würden es wohl ebenso viele Tage getan haben, wenn sich nicht Nicolaus auf einen Stein am Wege niedergesetzt und aufs bestimmteste erklärt hätte, daß er sich nicht eher von der Stelle bewegen würde, bis Newman Noggs den Heimweg angetreten hätte. Nachdem Newman zuerst nur noch um eine halbe Meile und dann um eine Viertelmeile vergeblich gebettelt hatte, mußte er sich endlich darein fügen, den Rückweg nach Golden Square wieder anzutreten, was er denn auch nach manchem herzlichen und zärtlichen Lebewohl und unter vielem Zurückblicken und Winken mit dem Hute tat, selbst als die beiden Wanderer durch die Entfernung bis auf ein paar Punkte zusammengeschmolzen waren.

»Nun höre, Smike«, sagte Nicolaus, während sie rüstig vorwärts trabten; »wir gehen nach Portsmouth.«

Smike nickte mit dem Kopf und lächelte, ohne eine weitere Regung auszudrücken, denn es war ihm ganz gleichgültig, ob es nach Portsmouth oder Port-Royal ging, wenn sie nur beisammen blieben.

»Ich verstehe mich zwar nicht sonderlich auf solche Dinge«, nahm Nicolaus wieder auf; »aber Portsmouth ist ein Seehafen, und wenn sich nicht irgend etwas anderes finden läßt, so bekommen wir vielleicht ein Unterkommen an dem Bord eines Schiffes. Ich bin jung und tätig und kann mich in jeder Hinsicht nützlich machen. Dasselbe ist bei dir der Fall.«

»Ich hoffe so«, versetzte Smike. »Während meines Aufenthaltes in – Sie wissen wohl, wo ich meine?«

»Ja, ich weiß es«, entgegnete Nicolaus. »Du brauchst den Ort nicht zu nennen.«

»Nun, während meines Aufenthaltes daselbst«, entgegnete Smike, und seine Augen leuchteten bei der Aussicht, von seiner Geschicklichkeit Gebrauch machen zu können, »habe ich die Kuh gemolken und machte den Pferdeknecht so gut wie einer.«

»Ach«, sagte Nicolaus ernst, »ich fürchte, man hält gewöhnlich nicht viel Tiere der Art an Bord eines Schiffes, und dann, wenn sich daselbst auch hin und wieder Pferde finden, so nimmt man’s nicht so genau mit dem Putzen. Doch du kannst ja etwas anderes lernen. Wo der Mensch will, findet er wohl einen Weg.«

»Und am Willen soll’s bei mir gewiß nicht fehlen«, erwiderte Smike freudestrahlend.

»Das weiß Gott«, versetzte Nicolaus, »und wenn es bei dir nicht gehen sollte, so werde doch ich, und sollte es auch sauer hergehen, für uns beide genug tun können.«

»Machen wir heute den ganzen Weg?« fragte Smike nach einer langen Pause.

»Das würde doch eine zu große Aufgabe selbst für deine willigen Beine sein«, antwortete Nicolaus mit einem gutmütigen Lächeln.

»Godalming ist – soviel ich in einer Karte, die ich borgte, fand – etliche dreißig Meilen von London entfernt, und ich habe im Sinne, dort zu übernachten. Morgen geht’s dann wieder weiter, denn wir sind nicht reich genug, um unnötigerweise zu zögern. Komm, gib das Bündel her, ich will dich ablösen.«

»Nein – nein«, entgegnete Smike, um einige Schritte zurückweichend. »Verlangen Sie nicht von mir, daß ich es Ihnen geben soll.«

»Warum nicht?« fragte Nicolaus.

»Lassen Sie mich wenigstens etwas für Sie tun«, erwiderte Smike. »Sie wollen mich nie dienen lassen, wie ich eigentlich sollte: aber Sie wissen eben nicht, wie ich Tag und Nacht darauf sinne, Ihnen zu Gefallen zu leben.«

»Ach du närrischer Mensch, ich weiß das freilich und sehe es, denn ich müßte sonst blind und gefühllos sein«, sagte Nicolaus. »Aber das bringt mich eben darauf, dir, weil wir allein sind, eine Frage vorzulegen«, fügte er bei, indem er ihm fest ins Gesicht sah. »Hast du ein gutes Gedächtnis?«

»Ich weiß nicht«, versetzte Smike, traurig den Kopf schüttelnd. »Ich glaube, ich hatte einmal eines, jetzt ist es aber fort – ganz fort.«

»Warum glaubst du, daß du einmal eines hattest?« fragte Nicolaus, indem er sich rasch gegen Smike umwandte, als wolle er durch diese Frage den Tatbestand erproben.

»Als ich noch ein Kind war, konnte ich mich an alles erinnern«, sagte Smike: »aber das ist schon sehr – sehr lange her, oder es scheint mir wenigstens so. Ich war immer verwirrt und schwindlig an dem Ort, den ich mit Ihnen verließ, und konnte mich nie auf etwas besinnen, bisweilen nicht einmal verstehen, was man zu mir sagte. Ich – lassen Sie mich sehen – lassen Sie mich sehen.«

»Wie – träumst du?« fragte Nicolaus, den Arm seines Begleiters berührend.

»Nein«, versetzte Smike mit einem leeren Stieren. »Ich dachte nur, wie – –« Er schauderte unwillkürlich, als er sprach.

»Denke nicht mehr an jenen Ort; es ist jetzt alles vorüber«, entgegnete Nicolaus, indem er sein Auge voll auf das seines Gefährten heftete, der in jenes nichtssagende Stieren verfallen wollte, das ihm sonst gewöhnlich und sogar auch in neuerer Zeit nicht selten war. »Was wolltest du von dem ersten Tage sagen, nachdem du zu Yorkshire angelangt warest?«

»Wie?« rief der Junge.

»Ich meine von der Zeit, ehe du dein Gedächtnis zu verlieren anfingst«, erwiderte Nicolaus ruhig. »War das Wetter warm oder kalt?«

»Naß«, versetzte Smike, »sehr naß. Ich sagte immer, wenn es recht stark regnete, es regne wie an dem Abend meiner Ankunft; und dann umringten sie mich und lachten mich aus, wenn sie sahen, daß ich über den schweren Regen weinen mußte. Sie sagten, es wäre kindisch, aber das ließ mich nur noch mehr dran denken. Bisweilen überlief es mich kalt, denn ich konnte mich sehen, wie ich damals war, als ich durch dieselbe Tür hereinkam.«

»Wie du damals warst?« wiederholte Nicolaus mit angenommener Gleichgültigkeit, »und wie warst du denn?«

»Ein so kleines Geschöpf«, entgegnete Smike, »daß man nur bei der Erinnerung daran Mitleid und Erbarmen mit mir hätte haben sollen.«

»Du kamst doch nicht allein hin?« sagte Nicolaus.

»Nein«, erwiderte Smike, »o nein.«

»Wer war bei dir?«

»Ein Mann – ein finsterer, abgelebter Mann; ich hörte das in der Schule sagen, und ich erinnerte mich sonst auch dessen. Ich war froh, als er mich verließ, denn ich fürchtete mich vor ihm. Aber sie haben mich noch mehr fürchten gemacht und mich noch härter behandelt.«

»Sieh mich einmal an«, sagte Nicolaus, der seine ganze Aufmerksamkeit auf eines zusammenzudrängen wünschte. »So; wende dich nicht ab. Erinnerst du dich keiner Frau, keines liebevollen weiblichen Wesens, das ehedem deiner wartete, deine Lippen küßte und dich ihr Kind nannte?«

»Nein«, antwortete das arme Geschöpf kopfschüttelnd; »nein, nie.«

»Auch nicht eines andern Hauses als dessen in Yorkshire?«

»Nein«, erwiderte Smike mit einem Blick voll Trauer; »aber eines Zimmers – ich erinnere mich, daß ich in einem Zimmer schlief, in einem großen, einsamen Zimmer, hoch oben in einem Haus, und in der Decke war eine Falltür. Ich habe oft das Kissen über meinen Kopf gezogen, um sie nicht zu sehen, denn ich war ein kleines Kind und fürchtete mich vor ihr, wenn ich des Nachts allein war; auch hätte ich immer gar zu gerne wissen mögen, was auf der andern Seite wäre. Dann stand eine Uhr – eine alte Wanduhr in einer Ecke; ich kann mich dessen noch gut entsinnen. Das Zimmer ist mir nie aus dem Gedächtnis gekommen; denn wenn ich schreckliche Träume habe, so tritt es genau so, wie es war, wieder vor meine Seele. Ich sehe Dinge und Leute darin, die ich damals nie gesehen hatte, aber das Zimmer ist ganz, wie es damals war; dieses ändert sich nicht.«

»Willst du mich jetzt das Bündel nehmen lassen?« fragte Nicolaus, schnell den Gegenstand des Gesprächs abbrechend.

»Nein, nein«, antwortete Smike. »Lassen Sie uns weitergehen.«

Er beschleunigte bei diesen Worten seine Schritte, wie es schien, in der Meinung, sie hätten das ganze Gespräch über stillgestanden. Nicolaus betrachtete ihn aufmerksam und prägte jedes Wort dieser Unterhaltung mit unauslöschlichen Zügen seinem Gedächtnis ein.

Inzwischen war es fast Mittag geworden, und obgleich noch ein dichter Nebel die Stadt, die sie eben verlassen hatten, umhüllte, als ob der Atem ihrer geschäftigen Bewohner über dem Schatten ihres Gewinnes schwebe und hier eine größere Anziehung finde als in den ruhigen, höherliegenden Regionen, so war es draußen auf dem Lande doch schön und hell. Hin und wieder trafen sie in einer Niederung auf Stellen, wo die Sonne den Nebel noch nicht hatte verscheuchen können; doch kamen sie bald über diese weg, und als sie die jenseitigen Berge hinanstiegen, war es gar lieblich, in das Tal zu blicken und zu sehen, wie die trägen Massen sich schwerfällig vor dem belebenden Einfluß des Tages hinschoben. Eine schöne, heitere Sonne bestrahlte die grünen Weideplätze und verlieh dem Wasser ein sommerliches Glitzern, während sie die Wanderer die ganze belebende Frische dieser frühen Jahreszeit genießen ließ. Der Boden unter ihren Füßen schien elastisch zu sein; die Schafglöckchen tönten wie Musik in ihren Ohren; und erheitert durch die Bewegung, wie auch von Hoffnung gehoben, schritten sie mit Löwenkraft weiter.

Der Tag rückte weiter vor. All diese glänzenden Farben wurden matter und nahmen ruhigere Töne an, wie junge Hoffnungen durch die Zeit gemildert werden oder jugendliche Gesichter allmählich in die ruhige Heiterkeit des Alters übergehen. Aber sie waren kaum weniger schön in ihrem langsamen Erbleichen als in ihrem frischen Glanze, denn die Natur gibt jeder Tages- und Jahreszeit bestimmte eigentümliche Schönheiten, und von dem Morgen bis zur Nacht, von der Wiege bis zum Grabe findet ohne Unterlaß ein so sanfter und leichter Wechsel statt, daß wir dessen Fortschreiten kaum gewahren können.

Sie kamen endlich nach Godalming, wo sie um ein paar schlechte Lagerstätten handelten und herrlich schliefen. Am Morgen machten sie sich zeitig, obgleich nicht gerade mit der Sonne, auf den Weg, allerdings nicht ganz so frisch wie gestern, aber doch voll mutiger Hoffnung und heitern Sinnes.

Sie hatten an diesem Tage einen mühevolleren Marsch zu machen als an dem vorigen, denn es gab lange und ermüdende Berge zu ersteigen; und bekanntlich geht es auf Reisen wie im Leben um vieles leichter bergab als bergan. Trotzdem aber schritten sie mit unverdrossener Beharrlichkeit weiter; und noch kein Berg hat den Gipfel himmelan gestreckt, ohne daß er nicht zuletzt noch der Beharrlichkeit überwindbar gewesen wäre.

Sie kamen an dem Rande von »des Teufels Punschbowle« vorbei, und Smike horchte begierig auf, als Nicolaus die Inschrift auf dem Stein las, der an jener wilden Stelle aufgerichtet ist und von einem schauderhaften, hinterlistigen Morde erzählt, der nächtlicherweile daselbst begangen wurde. Das Gras, auf dem sie standen, war mit Blut gefärbt gewesen, und das Blut des Ermordeten tropfenweise in die Höhle geronnen, die dem Orte den Namen gibt. »Des Teufels Punschbowle«, dachte Nicolaus, als er in den tiefen Schlund hinunterschaute, »hat nie eine passendere Flüssigkeit aufgenommen als diese.«

Sie gingen mutig weiter und kamen endlich in eine weite und geräumige Hochebene, die, mit vielen kleinen Hügeln wechselnd, der Oberfläche einen heitern grünen Anblick gab. Hier stieg fast senkrecht eine Anhöhe gen Himmel, daß sie fast nur den Schafen und Ziegen, die an den Seiten derselben Futter suchten, zugänglich war. Dort stand ein mächtiger, grüner Erdhügel, der sich so leicht emporhob und so sanft mit der Ebene wieder verschmolz, daß sich die Grenzen kaum bestimmen ließen. Hügel, einer höher als der andere, und Wellenlinien, zierlich und unförmlich, glatt und zerrissen, anmutig und wild, nachlässig Seite an Seite liegend, begrenzten die Aussicht nach jeder Richtung. Währenddessen flog nicht selten, ehe man sich’s versah, eine Schar schwarzer Krähen mit ihrem unangenehmen Geschrei von dem Boden auf und umkreiste die nächsten Berge; als wüßte sie nicht, wohin sie sich wenden sollte. Dann ließ sie sich mit Windeseile plötzlich in irgendeine Talöffnung herab.

Allmählich wurde die Aussicht nach beiden Seiten beengter, und nachdem sie eine Weile der reichen und herrlichen Szenerie beraubt gewesen, kamen sie mit einemmal wieder in offenes Land. Das Bewußtsein, daß sie sich dem Ort ihrer Bestimmung immer mehr näherten, ermutigte sie auf ihrem Wege. Aber der Marsch war beschwerlich gewesen; sie hatten sich unterwegs aufgehalten, und Smike war müde. Es dunkelte bereits, als sie in den Pfad nach einem Wirtshaus, das noch zwölf Meilen vor Portsmouth am Wege liegt, einbogen.

»Zwölf Meilen«, sagte Nicolaus, indem er sich mit beiden Händen auf seinen Stock stützte und Smike zweifelnd ansah.

»Zwölf starke Meilen«, wiederholte der Wirt.

»Ist der Weg gut?« fragte Nicolaus.

»Sehr schlecht«, antwortete der Wirt. Als Wirt konnte er natürlich nicht anders sagen.

»Ich möchte wohl noch weiter«, sagte Nicolaus zögernd; »aber ich weiß nicht, was ich tun soll.«

»Ich will Sie zwar nicht bestimmen«, entgegnete der Wirt, »aber an Ihrer Stelle ginge ich nicht weiter.«

»Wirklich?« fragte Nicolaus in derselben Ungewißheit.

»Nein, zumal nicht, wenn ich wüßte, daß ich an einem Orte gut aufgehoben wäre.«

Mit diesen Worten schob der Wirt seine Schürze beiseite, steckte die Hände in seine Taschen, trat ein paar Schritte vor das Haus hinaus und blickte, anscheinend mit großer Gleichgültigkeit, die dunkle Straße hinunter.

Ein Blick auf die Jammermiene des abgematteten Smike bestimmte Nicolaus, und so entschloß er sich ohne weiteres zu bleiben, wo er war.

Der Wirt führte sie in die Küche, und da sich dort ein tüchtiges Feuer befand, so bemerkte er, daß es sehr kalt wäre, wie er denn auch ohne Zweifel bei einem schwachen oder gar keinem Feuer sich über zu große Wärme beschwert haben würde.

»Was können Sie uns zum Abendessen geben?« war Nicolaus‘ erste Frage.

»Was ist Ihnen gefällig?« lautete des Wirts Erwiderung.

Nicolaus verlangte kalten Braten, aber der war nicht da – gebackene Eier, es gab auch keine Eier – Hammelrippchen, die waren auf drei Meilen nicht zu finden, obgleich man in der letzten Woche mehr hatte, als man zu verwenden wußte, und auch übermorgen die schwere Menge davon haben würde.

»Je nun, so muß ich’s eben ganz Ihnen überlassen«, sagte Nicolaus, »wie ich es gleich anfangs willens war, wenn Sie mich nicht nach meinem Belieben gefragt hätten.«

»Ei, dann will ich Ihnen was sagen«, entgegnete der Wirt. »In dem Gastzimmer ist ein Herr, der bis neun Uhr einen warmen Beefsteakpudding und Kartoffeln befohlen hat. Er wird nicht alles allein aufessen können, und ich zweifle nicht, daß er Sie, wenn ich ihm das Ansinnen stelle, an seinem Mahl teilnehmen lassen wird. Ich will die Sache sofort ins reine bringen.«

»Nein, nein«, erwiderte Nicolaus, ihn zurückhaltend, »ich wünsche das nicht. Ich – wenigstens – ach, warum sollte ich’s nicht aussprechen – Sie sehen, ich reise auf eine sehr bescheidene Weise und habe meinen Weg zu Fuß hierher gemacht. Es ist daher wohl mehr als wahrscheinlich, daß der Herr keinen Geschmack an meiner Gesellschaft findet, und obgleich ich vom Staub bedeckt bin, so bin ich doch zu stolz, um mich der seinigen aufzudrängen.«

»Aber lieber Himmel«, sagte der Wirt, »es ist ja nur der Herr Crummles: der nimmt’s nicht so genau.«

»Wirklich?« fragte Nicolaus, auf dessen Geschmacksorgane – aufrichtig gestanden – die Aussicht auf einen saftigen Pudding einigen Eindruck machte.

»Nicht im geringsten«, versetzte der Wirt. »Soweit ich ihn kenne, wird ihm Ihre Gesellschaft angenehm sein. Doch wir werden bald sehen – haben Sie nur eine Minute Geduld.«

Der Wirt eilte, ohne weitere Erlaubnis abzuwarten, in das Gastzimmer, und Nicolaus versuchte es nicht, ihn zurückzuhalten, denn er überlegte weislich, daß unter obwaltenden Umstanden ein Abendessen von zu großer Wichtigkeit wäre, um damit zu scherzen. Der Wirt kehrte auch bald in großer Aufregung wieder zurück.

»Alles in Richtigkeit«, sagte er leise. »Ich wußte es ja. Aber Sie werden drinnen auch etwas Sehenswertes finden. Donnerhagel, wie die aneinander sind!«

Nicolaus konnte nicht mehr fragen, was diese Schlußbemerkung, die in ganz entzücktem Tone ausgesprochen wurde, bedeute, denn der Wirt hatte bereits die Tür des Zimmers aufgerissen, worauf denn die beiden Reisenden – Smike mit dem Bündel auf dem Rücken, den er mit einer Sorgfalt bewahrte, als wäre er ein Beutel mit Gold gewesen – unverzüglich eintraten.

Nicolaus hatte sich auf etwas Seltsame« gefaßt gemacht, keineswegs aber auf etwas so gar Seltsames, wie es hier seinen Augen begegnete. An dem oberen Ende des Zimmers befanden sich zwei Knaben, von denen der eine sehr lang und der andere sehr kurz war, beide in Matrosentracht – wenigstens in einer theatralischen, mit Gürteln, Schnallen, Schließern und Pistolen. Diese fochten mit zwei kurzen Korbsäbeln, wie man sie gewöhnlich bei kleinen Theatern antrifft, einen schrecklichen Kampf – wie es die Komödienzettel nennen – miteinander aus. Der kurze Knabe hatte einen großen Vorteil über den langen gewonnen, der sich in einer gefährlichen Klemme befand, und als Zuschauer lehnte ein großer, schwerfälliger Mann an einer Tischecke, der die Streiter nachdrücklich aufforderte, noch mehr Feuer aus ihren Schwertern zu schlagen; es könne ihnen dann bei der nächsten Vorstellung an einem wütenden Beifall nicht fehlen.

»Herr Vincent Crummles«, sagte der Wirt mit sehr unterwürfiger Miene, »das ist der junge Herr.«

Herr Vincent Crummles begrüßte Nicolaus mit einer Verneigung des Kopfes, die zwischen dem herablassenden Empfang eines römischen Kaisers und dem vertraulichen Nicken eines Zechgenossen die Mitte hielt, und hieß dann den Wirt die Tür schließen und das Zimmer verlassen.

»Das ist eine schöne Nummer«, sagte Herr Crummles, indem er Nicolaus winkte, stehenzubleiben, damit der Kampf nicht gestört würde. »Der Kleine hat ihn; wenn der Große sich nicht in drei Sekunden unterwirft, so ist er ein toter Mann. Macht das noch einmal, Jungen.«

Die beiden Kämpen fingen von vorne an und klopften aufeinander los, daß die Funken stoben – zur großen Zufriedenheit des Herrn Crummles, der dies augenscheinlich als Hauptsache betrachtete. Der Kampf begann mit ungefähr zweihundert Hieben, die der kurze Matrose mit dem langen wechselte, ohne daß dadurch ein besonderes Resultat erzielt wurde, bis der kurze Matrose auf ein Knie niederstürzte. Dieser machte sich jedoch nichts daraus, sondern arbeitete sich mit Beihilfe seiner linken Hand auf dem Knie weiter und focht ganz verzweifelt fort, bis ihm der lange Matrose das Schwert aus der Hand schlug. Man hätte vermuten sollen, daß jetzt der kurze Matrose, so in die letzte Enge getrieben, um Gnade gebeten hätte. Aber statt dessen zog er schnell eine große Pistole aus seinem Gürtel und zielte mit ihr nach dem Gesicht des langen Matrosen, so daß dieser ob einem so unerwarteten Manöver zurückschrak und dem Kurzen Zeit ließ, sein Schwert wieder aufzunehmen und von neuem anzufangen.

Dann ging es wieder an ein Klopfen, bei dem von beiden Seiten ganz absonderliche Hiebe geführt wurden, indem die Kämpfer die Schwerter bald in die linke Hand nahmen, bald unter den Beinen oder über den Achseln weg ihre Schläge austeilten, und als der kurze Matrose einen gewaltigen Streich nach den Beinen des langen führte, der im Falle des Nichtausweichens beide rund abgehauen haben würde, hüpfte der Lange über das Schwert des Kurzen weg, worauf denn der Lange, um die Sache ins Gleichgewicht zu bringen, einen ähnlichen Hieb führte und den Kurzen über die Klinge springen ließ.

Darauf machten sie noch verschiedene Finten, wobei sie gelegentlich bei den fehlenden Hosenträgern ihre abgeglittenen Hosen in die Höhe zogen, bis endlich der Kurze, der augenscheinlich der Heldendarsteller war, weil er sich immer im Vorteil befand, einen gewaltigen Ausfall machte, sich über den Langen herwarf und ihn nach einigem fruchtlosen Widerstande zu Boden brachte, worauf dann der Lange unter großen Qualen den Geist aufgab, nachdem ihm der Kurze den Fuß auf die Brust gesetzt und ihn mit dem Schwert durchbohrt hatte.

»Da wird das Publikum nach Wiederholung brüllen, Jungens, wenn ihr euch rechte Mühe gebt«, sagte Herr Crummles. »Doch laßt jetzt eure Blasbälge verschnaufen und wechselt eure Kleider.«

Nach dieser den Fechtern erteilten Weisung begrüßte er Nicolaus, der jetzt erst bemerkte, daß Herrn Crummles‘ Gesicht ganz in gleichem Verhältnis mit seinem Körper war. Der Mann hatte eine sehr dicke Unterlippe, eine heisere Stimme, wie es bei Leuten der Fall ist, die viel zu schreien pflegen, und schwarzes, fast kahl abgeschorenes Haar, um sich – wie sich nachher herausstellte – um so leichter Charakterperücken jeder Form und Art anpassen zu können.

»Wie gefällt Ihnen das, Sir?« fragte Herr Crummles.

»Es war in der Tat sehr gut – vortrefflich«, antwortete Nicolaus.

»Ich denke, Jungens wie diese werden Sie nicht oft zu sehen bekommen«, sagte Herr Crummles.

Nicolaus stimmte bei, bemerkte aber, »daß, wenn sie nur mehr gleich wären –«

»Gleich?« rief Herr Crummles.

»Ich meine hinsichtlich der Größe«, fügte Nicolaus erklärend bei.

»Größe?« wiederholte Herr Crummles. »Ei, das ist ja gerade die Hauptsache des Kampfes, daß sie um einen oder zwei Fuß verschieden sind. Wie kann man auf den Beifall des Publikums zählen, wenn nicht ein Kleiner gegen einen Großen kämpft? Man müßte andernfalls wenigstens fünf gegen einen stellen, und dazu haben wir nicht Leute genug in unserer Gesellschaft.

»Das wird mir klar, und ich bitte daher um Verzeihung«, versetzte Nicolaus. »Ich muß gestehen, daß ich hieran nicht dachte.«

»Es ist die Hauptsache«, entgegnete Herr Crummles. »Ich gebe übermorgen in Portsmouth eine Vorstellung. Wenn Sie dahin reisen, so besuchen Sie das Theater und Sie werden sehen, wie es anspricht.

Nicolaus versprach, es zu tun, wenn er könnte, rückte dann seinen Stuhl an das Feuer und begann mit dem Direktor ein Gespräch. Dieser war äußerst redselig und mitteilsam, vielleicht ebensosehr infolge seines Temperaments als infolge des Grogs, dem er kräftig zusprach, oder des Schnupftabaks, den er in starken Portionen aus einem Papiertütchen, das er in der Westentasche aufbewahrte, seiner Nase zuführte. Er besprach seine Angelegenheiten ohne Rückhalt und erging sich ein langes und breites über die Vorzüge seiner Gesellschaft und die Talente seiner Familie, von der die beiden Kämpfer einen achtbaren Teil ausmachten. Allem Anschein nach sollten sich die Herren und Damen des Trupps morgen in Portsmouth zusammenfinden, wohin sich auch der Vater mit seinen Söhnen auf dem Wege befand. Die Gesellschaft hatte keinen dauernden Aufenthalt, sondern gehörte in die Klasse der fahrenden Kunstgenossenschaft und kam eben von Guildford, wo sie durch ihr Debut einen rasenden Beifall geerntet hatte.

»Sie gehen desselben Wegs?« fragte der Direktor.

»J–a«, versetzte Nicolaus verlegen.

»Sind Sie in der Stadt bekannt?« fragte der Bühnenkünstler weiter, der auf dasselbe Vertrauen Anspruch zu machen schien, das er selbst an den Tag gelegt hatte.

»Nein«, entgegnete Nicolaus.

»Nie dort gewesen?«

»Nie.«

Herr Vincent Crummles ließ ein trockenes Hüsteln vernehmen, als wolle er damit sagen, »wenn du verschlossen sein willst, so sei’s«, und holte so viele Prisen aus seinem Tütchen, eine nach der andern, daß sich Nicolaus eigentlich wundern mußte, wo all der Schnupftabak hinkam.

Während dieser Beschäftigung sah Herr Crummles von Zeit zu Zeit mit großem Interesse auf Smike, der ihm gleich vornweg ungemein aufgefallen zu sein schien. Dieser war eingeschlafen und nickte in seinem Stuhl.

»Entschuldigen Sie meine Bemerkung«, sagte der Direktor leise, indem er sich gegen Nicolaus beugte, »aber betrachten Sie nur, was Ihr Freund da für ein Kapitalgesicht hat.«

»Der arme Junge!« entgegnete Nicolaus mit einem halben Lächeln; »ich wollte, es wäre etwas voller, und nicht so abgemagert.«

»Voller?« rief der Direktor fast mit einem Ausdruck des Entsetzens. »Es wäre dann für immer verdorben.« –

»Meinen Sie?«

»Freilich, Sir«, sagte der Direktor, indem er mit Nachdruck auf sein Knie schlug. »So, wie er jetzt ist, unwattiert und kaum mit einer Spur von Schminke auf dem Gesicht, wäre er ein Darsteller für die Hungerleiderrollen, wie man nie einen auf der Bühne gesehen hat. Wenn er mit einem leichten Anflug von Not auf der Spitze seiner Nase als Apotheker in ›Romeo und Julie‹ nur den Kopf aus der Ladentür steckte, so dürfte er versichert sein, dreimal gerufen zu werden.«

»Ach, Sie betrachten ihn von dem Standpunkt des Schauspielers,« sagte Nicolaus lachend.

»Und zwar mit allem Recht«, erwiderte der Direktor. »Ich habe, seit ich Künstler bin, nie einen jungen Burschen gesehen, der so ganz für diese Rolle geschaffen wäre, und ich habe doch die schweren Kinderrollen gespielt, als ich kaum achtzehn Monate alt war.«

Die Erscheinung des Beefsteakpuddings, mit dem zugleich auch die Jungen Crummels eintraten, gab der Unterhaltung eine andere Wendung und unterbrach sie für eine Weile ganz und gar. Die beiden jungen Herren handhabten ihre Messer und Gabeln mit kaum geringerer Geschicklichkeit als ihre Schwerter, und da die ganze Gesellschaft ziemlich gleich hungrig war, so nahm man sich keine Zeit zum Sprechen, bis das Abendessen aufgeräumt war.

Die Herren Crummles Söhne hatten nicht sobald den letzten verfügbaren Bissen hinuntergeschluckt, als sie durch ein wiederholtes, halbunterdrücktes Gähnen und Recken ihrer Glieder ihren Wunsch zu erkennen gaben, sich zur Ruhe zu begeben, den Smike sogar früher schon auf eine noch augenfälligere Weise an den Tag gelegt hatte, da er einige Male sogar mit dem Bissen im Mund eingenickt war. Nicolaus machte daher den Vorschlag, sogleich aufzubrechen. Aber der Schauspieldirektor wollte hiervon durchaus nichts hören und beteuerte, er lasse sich das Vergnügen, seinen neuen Bekannten zu einer Bowle Punsch einzuladen, gar nicht nehmen und würde eine Ablehnung als ein sehr unfreundliches Betragen betrachten.

»Lassen wir die Jungen gehen«, sagte Herr Vincent Crummles, »und bleiben wir noch ein wenig behaglich beim Feuer sitzen.«

Nicolaus war viel zu aufgeregt, um besondere Neigung zum Schlafen zu empfinden, und nahm daher die Einladung nach einigem Zögern an. Als er den jungen Crummles‘ die Hand gedrückt und der Schauspieldirektor Smike ungemein wohlwollend gute Nacht gesagt hatte, setzten sich beide am Feuer einander gegenüber, um gemeinschaftlich die Bowle zu leeren, die bald nachher erschien, so hübsch dampfend, daß es eine Freude war, es nur mit anzusehen, indem sie zugleich die lieblichsten und einladendsten Düfte entsandte.

Aber ungeachtet des Punsches und des Schauspieldirektors, der eine Menge Geschichtchen erzählte und erstaunlich viel Tabak sowohl durch seine Pfeife als auch durch seine Nase konsumierte, war Nicolaus zerstreut und niedergeschlagen. Seine Gedanken weilten in seiner Heimat, und wenn sie auf seine gegenwärtige Lage zurückkamen, so umhüllte ihn die Unsicherheit seiner Zukunft mit einem Düster, das er trotz aller seiner Anstrengungen nicht zu verscheuchen vermochte. Sein Geist stieß sich an allem; und obgleich er die Stimme des Schauspieldirektors hörte, so war er doch taub für den Inhalt seiner Worte, so daß Nicolaus, als Herr Vincent Crummles die Geschichte irgendeines langen Abenteuers mit einem lauten Lachen und der Frage geschlossen hatte, was sein Begleiter unter denselben Umständen getan haben würde, sich gezwungen sah zu bekennen, daß er von dem Gesprochenen auch nicht das mindeste vernommen hätte und daher für seine Zerstreutheit um Entschuldigung bitten müsse.

»Ei, ich habe es wohl bemerkt«, sagte Herr Crummles. »Ihr Geist ist unruhig. Wo fehlt es Ihnen?«

Nicolaus konnte nicht anders, als über das Unverhohlene dieser Frage zu lächeln, hielt es aber nicht der Mühe wert, ihr auszuweichen, und gestand daher seine Sorgen ein, es möchte ihm mit der Erreichung des Zieles, das ihn nach diesem Landesteil gebracht hatte, nicht gelingen.

»Und was ist Ihr Ziel?« fragte der Theaterdirektor.

»Eine Beschäftigung, die mir und meinem armen Reisegefährten die gewöhnlichen Bedürfnisse des Lebens schafft«, antwortete Nicolaus. »So ist der Stand meiner Verhältnisse, den Sie vermutlich schon lange erraten haben, weshalb ich mich auch nicht zu scheuen brauche, Ihnen diesen unverhohlen mitzuteilen.«

»Welche Beschäftigung könnten Sie in Portsmouth besser als an einem andern Ort finden?« fragte Herr Vincent Crummles, indem er das Siegelwachs an dem Saftsack seiner Pfeife gegen das Licht hielt und es mit seinem kleinen Finger auseinanderdrückte.

»Ich denke, es laufen viele Schiffe im Hafen ein und aus«, entgegnete Nicolaus. »Ich will auf dem einen oder dem andern ein Unterkommen suchen. Jedenfalls hat man doch da sein Essen und Trinken.«

»O ja, Pökelfleisch und jungen Rum, Erbsenpudding und Zwieback«, versetzte der Direktor, indem er ruhig einen Fidibus ans Licht hielt.

»Man kann’s noch schlechter haben als so«, meinte Nicolaus, »und ich glaube, ich werde es so gut aushalten können, wie so viele andere in meinem Alter, die es gleichfalls nicht gewöhnt waren.«

»Wenn Sie auf einem Schiff unterkommen wollen, so müssen Sie auch brauchbar sein«, sagte der Bühnenkünstler; »aber dies ist kaum bei Ihnen der Fall.«

»Warum nicht?«

»Weil es keinen Schiffer oder Bootsmann gibt, der Sie nur des Salzes zur Suppe wert halten wird, wenn ihm geübte Hände zu Gebot stehen, und deren gibt es in Portsmouth so viele wie Austerschalen in den Straßen.«

»Wie soll ich das nehmen?« fragte Nicolaus, durch diese Voraussagung und besonders durch den zuversichtlichen Ton, womit sie gesprochen wurde, erschreckt. »Der Mensch kommt nicht als Matrose auf die Welt, und ich denke, er muß sich dazu heranbilden?«

Herr Vincent Crummles nickte mit dem Kopf und fügte hinzu:

»Allerdings, aber das tut man nicht mehr in Ihrem Alter, und so ein junger Herr weiß sich schon von vornherein nicht dareinzufinden.«

Es trat eine Pause ein. Nicolaus‘ Gesicht verlängerte sich, und er blickte betrübt ins Feuer.

»Fällt Ihnen kein anderer Stand, kein anderes Gewerbe ein, das ein junger Mann von Ihrer Gestalt und Gewandtheit sich leicht zu eigen machen und bei dem er noch obendrein sich ein bißchen in der Welt umsehen könnte?« fragte der Direktor.

»Nein«, antwortete Nicolaus kopfschüttelnd.

»Nicht? – Dann will ich Ihnen eine Laufbahn nennen«, sagte Herr Crummles, indem er seine Pfeife ins Feuer warf und seine Stimme erhob – »die Bretter.«

»Die Bretter?« rief Nicolaus fast ebenso laut.

»Die Schauspielkunst«, fiel Herr Vincent Crummles fort. »Ich bin Schauspieler, meine Frau ist Schauspielerin, meine Kinder sind Schauspieler. Ich hatte einen Hund, der von der Zitze weg die Kunst trieb und auf der Bühne starb. Auch mein Pferd, das unsere Theaterrequisiten führt, läßt sich auf den Brettern brauchen und tritt in ›Timur dem Tataren‹ auf. Ich will Sie und Ihren Freund unterbringen. Sagen Sie ja. Ich brauche gerade etwas Neues.«

»Aber ich verstehe mich nicht darauf«, versetzte Nicolaus, dem dieser plötzliche Vorschlag fast den Atem benommen hatte. »Ich bin nie, außer vielleicht auf der Schule, in einer Rolle aufgetreten.«

»Ihr Gang und Ihre Haltung qualifizieren Sie für das edlere Lustspiel. In Ihrem Auge liegt der jugendliche Held des Trauerspiels, und Ihr Lachen eignet sich ganz für die Posse«, entgegnete Herr Vincent Crummles. »Es wird bei Ihnen so gut gehen, als ob Sie von Geburt her an nichts anderes als an die Lampen gedacht hätten.«

Nicolaus dachte an das kleine Sümmchen kleiner Münze, das in seiner Tasche bleiben mochte, wenn er die Wirtsrechnung bezahlt hatte, war aber immer noch unschlüssig.

»Sie können uns auf hunderterlei Weise nützlich werden«, sagte Herr Crummles. »Bedenken Sie nur, welche Kapitaltheaterzettel für die Straßenecken ein Mann von Ihrer Erziehung schreiben könnte.«

»Nun, diesem Zweige wäre ich allenfalls gewachsen«, meinte Nicolaus.

»Ohne Zweifel«, versetzte Herr Crummles; »›weitere Einzelheiten siehe die kleinen Handzettel‹ – wir können in jeden von ihnen einen halben Band bringen. Auch Stücke – ei, Sie könnten uns für den Notfall ein Stück schreiben, in dem sich die ganze Kraft der Gesellschaft entfalten könnte.«

»Dessen bin ich doch nicht so ganz sicher«, entgegnete Nicolaus, »obschon ich glaube, hin und wieder etwas zusammenbringen zu können, das für Sie paßte.«

»Wir wollen ehestens ein neues Revuestück auf die Bühne bringen«, erwiderte der Theaterdirektor. »Lassen Sie sehen – ganz besondere Einrichtungen –- neue prachtvolle Dekoration – Sie müssen es einrichten, daß ein wirklicher Brunnen und zwei Waschzuber darin vorkommen.«

»In dem Stück?« fragte Nicolaus.

»Freilich«, antwortete der Künstler. »Ich kaufte sie vor ein paar Tagen wohlfeil in einer Versteigerung, und sie werden einen bewunderungswürdigen Effekt machen. So machen sie’s in London. Man kauft sich Kostüme, Dekorationen und läßt sich ein Stück dazu schreiben. Die meisten Theater halten sich zu diesem Zweck einen Schriftsteller.«

»Wirklich?« rief Nicolaus.

»Natürlich«, sagte Herr Crummles; »so was kommt alle Tage vor. Und wie gut muß sich’s nicht auf den Zetteln machen, wenn man in abgesonderten Zeilen und mit fußlangen Buchstaben liest – › laufender Brunnen – wirkliche Waschzuber‹ – das muß ziehen. Sind Sie nicht vielleicht auch ein Stück von einem Künstler, Zeichner, Maler oder so etwas?«

»Kann mich dessen nicht rühmen«, antwortete Nicolaus.

»Schade!« erwiderte der Direktor. »In diesem Falle hätten wir einen großen Holzschnitt an den Straßenecken ankleben können, der die ganze letzte Szene samt dem Hintergrund, Brunnen und Waschzuber in der Mitte dargestellt hätte. Je nun – so müssen wir eben darauf verzichten.«

»Und was erhalte ich für all das?« fragte Nicolaus nach einem kurzen Nachsinnen. »Kann ich davon leben?«

»Davon leben?« rief der Mime – »wie ein Fürst! Mit Ihrer Gage, der Ihres Freundes und dem Honorar für Ihre schriftstellerischen Bemühungen können Sie’s – hm! – auf ein Pfund wöchentlich bringen.«

»Sie scherzen.«

»Gewiß nicht; und wenn wir starken Zulauf haben, so trägt’s Ihnen vielleicht fast das Doppelte ein.«

Nicolaus zuckte die Achseln, aber seine einzige Aussicht war die drückendste Not, und wenn er auch für seine Person sich mutig jedem Mangel zu unterziehen vermochte, so mußte er doch Rücksicht auf Smike nehmen; denn wozu hatte er dieses hilflose Geschöpf den Händen seiner Quälgeister entrissen, wenn er ihm kein besseres Los zu bereiten vermochte, als sein früheres war? Solange er sich mit dem Mann, der ihn so übel behandelt und die tiefste Erbitterung in ihm geweckt hatte, in derselben Stadt befand, konnten ihm siebzig Meilen allerdings als etwas Unbedeutendes vorkommen, aber jetzt glaubte er weit genug entfernt zu sein. Konnten denn nicht in der Zeit, die er außer Landes zubrachte, seine Mutter oder Käthchen sterben?

Ohne sich länger zu besinnen, erklärte er sich gegen Herrn Vincent Crummles bereit und bekräftigte den Vertrag durch einen Handschlag.

Dreiundzwanzigstes Kapitel.


Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Handelt von der Gesellschaft des Herrn Vincent Crummles, wie auch von dessen häuslichen und Theaterangelegenheiten.

Da Herr Crummles ein seltsames vierbeiniges Tier im Wirtshausstall stehen hatte, das er einen Pony nannte, und ein Fuhrwerk von unbekannter Bauart besaß, dem er den Namen eines vierräderigen Phaethons4 gab, so setzte Nicolaus seine Reise am nächsten Morgen mit größerer Bequemlichkeit fort, als er erwartet hatte. Er und der Schauspieldirektor nahmen den Vordersitz ein, während die jungen Herren Crummles und Smike hinten auf einem geflochtenen Weidenkorb Platz fanden, der, durch starkes Wachstuch geschützt, die Schwerter, Pistolen, Perücken, Matrosenkleider und andere Theaterrequisiten barg.

Der Pony ließ sich auf dem Wege Zeit und zeigte hin und wieder – vielleicht infolge seiner Bildung für das Theater – eine sehr lebhafte Neigung, sich niederzulegen. Herr Crummles hielt ihn jedoch durch Zerren an den Zügeln und wiederholte Anwendung der Peitsche so ziemlich aufrecht, und wenn diese Mittel fehlschlugen und das Tier nicht mehr weiter wollte, so half man dadurch nach, daß der ältere von Herr Crummles‘ Söhnen ausstieg und seinen Kunstgenossen mit Fußstößen ermunterte. Durch derartige Mittel ließ er sich denn bewegen, von Zeit zu Zeit weiterzurücken, und die Gesellschaft kam in dieser Weise – wie Herr Crummles meinte – zur Zufriedenheit aller Beteiligten sehr behaglich vorwärts.

»Der Pony ist im Grunde ein gutes Tier«, sagte Herr Crummles zu Nicolaus.

Was es damit auch für eine Bewandtnis haben mochte – aus dem Äußern des Tieres ließ sich wenigstens keine solche Folgerung ziehen, denn sein Fell war so zottig und unansehnlich, wie man nur eins zu Gesicht bekommen kann. Nicolaus bemerkte daher nur, daß er dies wohl für möglich halte.

»Seine Kreuz- und Querzüge sind gar nicht zu zählen«, fuhr Herr Crummles fort, indem er ihm um alter Bekanntschaft willen einen Peitschenhieb nach dem Auge versetzte, »und er gehört ganz und gar zur Gesellschaft. Schon seine Mutter war beim Theater.«

»Was Sie sagen?« versetzte Nicolaus.

»Sie speiste vierzehn Jahre lang im Zirkus Apfelpasteten«, fuhr der Direktor fort, »feuerte Pistolen ab und ging mit einer Schlafmütze zu Bett. Mit einem Wort, sie hatte das Fach der niedern Komik. Sein Vater war ein Tänzer.«

»Leistete er viel in dieser Kunst?«

»Nicht sonderlich«, entgegnete der Mime. »Er war ein ziemlich gewöhnlicher Pony, was daher rührte, daß er ursprünglich ein Mietgaul war und nie seine früheren Gewohnheiten ganz ablegen konnte. Im Melodrama ließ er sich jedoch brav an, obgleich er sich dabei etwas gar zu breit machte. Als die Mutter starb, übernahm er das Portweinfach.«

»Das Portweinfach?« rief Nicolaus.

»Er trank nämlich Portwein mit dem Hanswurst«, erklärte der Theaterdirektor, »aber er war zu gierig, so daß er eines Abends das Glas zerbiß und an den Scherben, die er verschluckte, erstickte. Er hatte also bloß seiner Gemeinheit den Tod zu danken.«

Der Abkömmling dieses unglücklichen Tieres nahm, je weiter er kam, Herrn Crummles‘ Aufmerksamkeit immer mehr in Anspruch, so daß diesem Herrn wenig Zeit zur Unterhaltung blieb. Nicolaus konnte daher in Muße seinen Gedanken nachhängen, bis sie an der Zugbrücke von Portsmouth anlangten, wo Herr Crummles haltmachte.

»Wir wollen hier aussteigen«, sagte der Theaterdirektor. »Die Jungen können den Pony nach dem Stall und das Gepäck auf mein Zimmer bringen. Sie werden gut tun, das Ihrige vorderhand auch dahin schaffen zu lassen.«

Nicolaus dankte Herrn Vincent Crummles für dieses gefällige Anerbieten, sprang aus dem Phaethon, half Smike herunter und begleitete den Schauspieldirektor durch die hohe Straße nach dem Theater, obgleich es ihm bei der Aussicht, so schnell in einen ihm ganz neuen Wirkungskreis eingeführt zu werden, nicht wenig bangte.

Sie kamen an vielen Zetteln vorbei, die an den Straßenecken und Fensterläden angeklebt waren und die Namen von Herrn Vincent Crummles, Madame Vincent Crummles, Herrn Crummles, Herrn P. Crummles und Demoiselle Crummles in ungemein großen Buchstaben zur Schau stellten, während die andern Namen nur sehr klein gedruckt waren. Endlich kamen sie zu einem Hause und tasteten sich durch eine Flur, wo es stark nach Orangenschalen, Lampenöl und Sägespänen roch, nach einer Treppe, die sie hinanstiegen, bis sie endlich, nachdem sie sich durch ein kleines Labyrinth von Kulissen und Farbtöpfen gewunden hatten, auf der Bühne des Schauspielhauses zu Portsmouth wieder zum Vorschein kamen.

»Da wären wir endlich«, sagte Herr Crummles.

Es war nicht sehr hell; indes sah Nicolaus, daß er sich dicht neben dem Souffleursitz zwischen nackten Wänden, staubigen Kulissen, verschimmelten Wolken, grobgepinselten Hintergründen und auf schmutzigen Brettern befand. Er blickte umher. Decke, Parterre, Logen, Galerie, Orchester, Zurüstungen und Dekorationen jeder Art – alles sah roh, kalt, düster und erbärmlich aus.

»Ist das ein Theater?« flüsterte Smike verwundert. »Ich glaubte, da sei alles Pracht und Herrlichkeit.«

»So ist es allerdings«, versetzte Nicolaus, kaum weniger überrascht, »aber nicht bei Tage, Smike – nicht bei Tage.«

Der Theaterdirektor hinderte ihn an einer genaueren Musterung des Gebäudes, indem er ihn an die andere Seite des Proszeniums rief, wo an einem kleinen länglichen Mahagonitisch mit schadhaften Beinen eine beleibte, stattliche Frau von ungefähr fünfundvierzig in einem beschmutzten seidenen Mantel saß. Sie hielt den Hut an den Bändern in der Hand und hatte das Haar, das sie in reicher Fülle besaß, in zwei breiten Flechten über die Schläfen gelegt.

»Herr Johnson«, sagte der Direktor (denn Nicolaus hatte den Namen, den ihm Newman Noggs bei Madame Kenwigs gegeben, beibehalten); »ich habe die Ehre, Ihnen Madame Vincent Crummles vorzustellen.«

»Ich bin sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Sir«, sagte Madame Vincent Crummles mit einer Grabesstimme, »um so mehr, als ich so glücklich bin, in Ihnen ein so vielversprechendes Mitglied unserer Gesellschaft zu begrüßen.«

Die Dame drückte bei diesen Worten dem neuen Schauspieler die Hand. Er sah zwar, daß sie ziemlich groß war, hätte aber trotzdem keinen so gar ehernen Druck erwartet, als es der war, womit sie ihn beehrte.

»Und dies«, fuhr die Dame fort, indem sie mit tragischem Anstand und der vollen Würde einer Schauspieldirektorin auf Smike zuging – »und dies ist der andere? Sie sind gleichfalls willkommen, Sir.«

»Ich denke, der wird sich machen, meine Liebe?« sagte der Direktor, indem er seine Nase mit Schnupftabak vollstopfte.

»Vortrefflich«, erwiderte die Dame. »In der Tat, eine sehr wertvolle Erwerbung.«

Als Madame Vincent Crummles nach dem Tisch zurückschritt, hüpfte aus einem verborgenen Eingang ein kleines Mädchen in einem schmutzigen, weißen Kleidchen mit bis an die Knie reichendem Besatz, kurzen Höschen, Sandalenschuhen, weißem Umhang, rosa Gazehut, grünem Schleier und Lockenwickeln auf die Bühne. Es machte eine Pirouette5, sprang zweimal in die Höhe, machte wieder eine Pirouette, blickte dann nach der entgegengesetzten Kulisse, stürzte laut aufschreiend bis auf etwa sechs Zoll nach den Lampen des Proszeniums und nahm eine wunderschöne Stellung des Entsetzens ein, als plötzlich ein schäbiger Herr in einem Paar alter, gelber Pantoffeln hereinschlürfte, mit den Zähnen knirschte und wild mit einem Spazierstock in der Luft herumfuchtelte.

»Sie proben den Indianer und die Jungfrau«, erklärte Madame Crummles.

»Richtig, das kleine Zwischenballett«, sagte der Direktor: »Sehr gut – nur fortgemacht. Ein wenig aus dem Weg, wenn’s gefällig ist, Herr Johnson. Das wird ziehen. Weiter!«

Der Direktor schlug zum Zeichen, daß fortgefahren werden solle, in die Hände, und der Indianer, der mit jedem Augenblick wilder wurde, eilte dem Mädchen nach. Die Jungfrau aber entschlüpfte ihm mit sechs Wirbeln, die damit schlossen, daß sie nach dem letzten ganz auf den Zehenspitzen stehenblieb. Das schien einigen Eindruck auf den Indianer zu machen; denn nachdem er noch etwas mehr Wildheit gezeigt und die Jungfrau noch etliche Male von einer Ecke in die andere getrieben hatte, fing er an sich zu besänftigen und stieß sich öfters mit den Fingern seiner rechten Hand ins Gesicht, um damit anzudeuten, daß er von der Schönheit der Jungfrau ganz entzückt sei. Dieser Leidenschaft sich hingebend, begann er, sich mehrere Stöße auf die Brust zu versetzen und durch noch andere Zeichen bemerklich zu machen, daß er sterblich in sie verliebt sei – allerdings eine etwas prosaische Liebeserklärung, die wahrscheinlich der Grund war, daß die Jungfrau einschlief. Wie dem aber auch sein mochte, jedenfalls verfiel sie augenblicklich auf einer schrägen Bank in einen tiefen Schlaf, und der Wilde, der es bemerkte, hielt die linke Hand an sein linkes Ohr, indem er zugleich seitwärts mit dem Kopf nickte, um allen, die sich dafür interessierten, anzudeuten, daß sie wirklich schlafe und sich nicht bloß so stelle.

So sich selbst überlassen, begann der Wilde ganz allein einen Tanz, und in dem Augenblick, als dieser endete, erwachte die Jungfrau, rieb sich die Augen aus, stand von der Bank auf und tanzte gleichfalls ein Solo – aber ein Solo, dem der Wilde die ganze Zeit über in einer förmlichen Verzückung zusah. Als sie endete, pflückte er von einem nahen Baum irgendeine botanische Kuriosität, die einem kleinen eingesalzten Kohlkopf ähnlich sah, und bot sie der Jungfrau dar, die das Geschenk anfangs nicht nehmen wollte, sich aber endlich doch erweichen ließ, als der Wilde Tränen vergoß. Dann sprang der Wilde vor Freude in die Höhe, worauf die Jungfrau gleichfalls ob dem süßen Duft des eingesalzten Kohlkopfs einen entzückenden Luftsprung machte. Dann führten der Wilde und die Jungfrau einen rasenden Tanz miteinander auf, bis sich endlich der Wilde auf ein Knie niederließ und die Jungfrau sich mit einem Bein auf dessen anderes Knie stellte, womit das Ballet schloß und die Zuschauer in einem Zustand angenehmer Ungewißheit ließ, ob die Jungfrau endlich den Wilden heiraten oder zu den Ihrigen zurückkehren würde.

»In der Tat, recht gut«, sagte Herr Crummles; »Bravo!«

»Bravo!« rief Nicolaus, der entschlossen war, alles im besten Lichte zu betrachten. »Herrlich!«

»Dies, Sir«, sagte Herr Vincent Crummles, indem er das Mädchen vorstellte, »dies ist das Wunderkind – Demoiselle Ninetta Crummles.«

»Ihre Tochter?« fragte Nicolaus.

»Meine Tochter – ja, meine Tochter«, versetzte Herr Vincent Crummles; »der Abgott jedes Ortes, wo wir spielen. Wir haben Glückwünschungsschreiben über dieses Mädchen von dem Adel und der Honoratiorenschaft fast aller Städte in England.«

»Das nimmt mich nicht Wunder«, sagte Nicolaus. »Sie muß ein geborenes Genie sein.«

»O ein –!«

Herr Crummles hielt inne; denn welche Sprache wäre auch reich genug, um die Vorzüge des Wunderkindes nach Würden zu schildern.

»Ich will Ihnen was sagen, Sir«, fuhr der Direktor fort. »Man kann sich von dem Talent dieses Kindes keine Vorstellung machen. Es muß gesehen werden, Sir – gesehen – wenn man es nur einigermaßen würdigen will. So! du kannst jetzt zu deiner Mutter gehen, meine Liebe.«

»Darf ich fragen, wie alt sie ist?« entgegnete Nicolaus.

»Warum nicht, Sir«, versetzte Herr Crummles mit einem festen Blicke nach dem Gesicht des Fragers, wie wohl manche Leute zu tun pflegen, wenn sie zweifeln, ob man ihren Worten auch unbedingten Glauben schenken wird. »Sie ist zehn Jahre alt, Sir.«

»Nicht älter?«

»Keinen Tag.«

»Mein Himmel«, sagte Nicolaus, »das ist wirklich außerordentlich.«

Das war es auch in der Tat, denn obgleich das Wunderkind klein war, so hatte es doch verhältnismäßig ein altes Gesicht und mußte, wenn auch nicht seit Menschengedenken, doch seit guten fünf Jahren sich dieses Alters erfreut haben. Man hatte sie aber nie früh ins Bett gehen, hatte sie vielmehr von Kindheit an nach Belieben Branntwein trinken lassen, um ihr Wachstum zu verhindern, und wahrscheinlich hatte das Wunderkind einem solchen Erziehungssystem dieses neue Wunder zu verdanken.

Unter dieser kurzen Zwiesprache trat der Herr, der den Indianer gespielt und nunmehr seine Stiefel wieder angezogen hatte, während er die Pantoffeln in den Händen hielt, auf einige Schritte heran, als wünsche er an der Unterhaltung teilzunehmen, und da er die Gelegenheit für passend hielt, so brachte er sein Sprüchlein an.

»Das ist Talent, Sir«, sagte der Wilde, indem er der Demoiselle Crummles zunickte.

Nicolaus stimmte bei.

»Ach«, sagte der Schauspieler, indem er die Zähne aufeinandersetzte und den Atem in einem zischenden Ton durchziehen ließ, »wenn sie nur nicht in der Provinz wäre?«

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte der Direktor.

»Sie ist zu gut für die Provinzbühnen«, versetzte der andere mit Wärme, »und sollte nirgends als in einem der großen Theater in London auftreten. Ja, ich kann Ihnen unverhohlen sagen, daß sie längst dort wäre, wenn nicht von einer gewissen Seite her – Sie wissen schon, was ich meine, Herr Crummles – Neid und Eifersucht ihre Federn spielen ließen. Wollen Sie mich vielleicht dem Herrn hier vorstellen, Herr Crummles?«

»Herr Folair«, sagte der Direktor, den Genannten also vorführend.

»Schätze mich glücklich, Sie kennenzulernen, Sir.« Herr Folair berührte daher den Rand seines Hutes mit dem Zeigefinger, worauf sich beide die Hände schüttelten. »Ein neuangeworbener Künstler, wie ich höre, Sir.«

»Ich mache keinen Anspruch auf diesen Ehrentitel«, versetzte Nicolaus.

»Haben Sie je einen solchen Zieraffen gesehen«, flüsterte der Schauspieler, Nicolaus beiseite ziehend, als sich Crummles entfernte, um mit seiner Frau zu sprechen.

»Was für einen?«

Herr Folair schnitt eine Grimasse, die er seinem Pantomimen- Wörterbuch entnommen haben mochte, und deutete über seine Schulter.

»Sie meinen doch nicht das Wunderkind?«

»Och, dies Fratzenkind«, entgegnete Herr Folair. »Jedes Mädchen aus einer Armenschule mit ganz gewöhnlichen Anlagen würde es besser machen. Sie kann ihrem Glückstern danken, daß sie die Tochter eines Direktors ist.«

»Das scheint Ihnen nahezugehen«, bemerkte Nicolaus mit einem Lächeln.

»Ja, beim Kuckuck, und ich habe auch Ursache dazu«, erwiderte Folair, indem er Nicolaus‘ Arm nahm und mit ihm auf der Bühne hin und her ging. »Muß es einem nicht die Galle aufregen, wenn man sieht, daß man dieser kleinen Krabbe jeden Abend die besten Rollen zuteilt und durch diese Aufdringlichkeit die Zuschauer verscheucht, während man auf brauchbare Leute keine Rücksicht nimmt? Ist es nicht entsetzlich, mit ansehen zu müssen, wie die verwünschte Affenliebe des Direktors ihn sogar gegen seinen eigenen Vorteil blind macht? Ich weiß, daß im letzten Monat zu Southampton eines Abends fünfzehn Schillinge und sechs Pence in die Kasse flossen, bloß um mich den Hochländertanz tanzen zu sehen – und was geschah? Ich durfte seitdem nie mehr damit auftreten – nicht ein einziges Mal – während das Wunderkind alle Abende unter ihrem künstlichen Blumenschmuck weg fünf Personen und ein Kind in dem Parterre und zwei Jungen auf der Galerie angrinst.«

»Wenn ich aus dem, was ich von Ihnen gesehen habe, schließen darf«, sagte Nicolaus, »so müssen Sie ein sehr wertvolles Glied der Gesellschaft sein.«

»Ach«, versetzte Folair, indem er seine Pantoffeln zusammenschlug, um den Staub herauszuklopfen, »ich kann meine Stelle ziemlich gut ausfüllen – vielleicht besser als irgendeiner in meinem Fach – aber bei Rollen, wie man sie hier erhält, hat man Blei statt Kreide an den Füßen und tanzt in Fesseln, ohne daß man den Ruhm davon hat. – Nun, wie geht’s, alter Knabe?«

Der Herr, an den diese letzeren Worte gerichtet wurden, war ein gelbbräunlicher Mann mit langem, dickem, schwarzem Haar, deutlichen Spuren eines steifen Bartes (obgleich er rasiert war) und einem Backenbart von derselben tiefen Farbe. Er schien nicht über dreißig alt zu sein, obgleich ihn viele auf den ersten Anblick für älter gehalten haben würden, und war infolge der Anwendung der Schminke äußerst blaß. Er trug ein gewürfeltes Hemd, einen alten grünen Rock mit neuen vergoldeten Knöpfen, ein Halstuch mit breiten rot und grünen Streifen und weite Beinkleider. Außerdem führte er einen gewöhnlichen Spazierstock, augenscheinlich mehr des Prunkes als des Nutzens wegen, da er ihn mit dem gekrümmten Ende nach unten hin und her schwang, wenn er ihn nicht etwa für einige Augenblicke erhob, eine Fechterstellung annahm und einige Stöße nach den Kulissen – oder sonst einem – belebten oder unbelebten – Gegenstand führte, der ihm für den Augenblick als ein geeignetes Ziel erschien.

»Nun, Thomas«, sagte dieser Herr, einen Stoß nach seinem Freunde führend, der ihn jedoch geschickt mit seinen Pantoffeln auffing, »was gibt’s Neues?«

»Einen neuen Kollegen, das ist alles«, versetzte Herr Folair mit einem Blicke auf Nicolaus.

»Aber so stell‘ uns doch vor, bitte«, sagte der andere Herr, indem er Herrn Folair vorwurfsvoll auf die Krone des Hutes klopfte.

»Dies ist Herr Lenville, unser erster tragischer Held, Herr Johnson«, sagte der Tänzer.

»Ausgenommen, wenn es der alten Kanone einfällt, ihn selbst zu spielen, hättest du beifügen können, Thomas«, bemerkte Herr Lenville. »Sie wissen wohl, wer die alte Kanone ist, Sir?«

»In der Tat, nein«, entgegnete Nicolaus.

»Wir nennen Crummles so, weil sein Spiel ziemlich ins Schwerfällige und Donnernde fällt«, erwiderte Herr Lenoille. »Doch ich darf mich hier nicht mit Scherzen aufhalten; denn ich habe da eine Rolle von zwölf Blättern erhalten, die bis morgen abend einstudiert sein muß, und ich habe bis jetzt noch nicht Zeit gehabt, sie nur anzusehen. Es ist mein Trost, daß ich verteufelt schnell lerne.«

Herr Lenville zog mit diesen Worten ein schmieriges, zerknülltes Manuskript aus der Rocktasche, gab seinem Freund noch einen Stoß, ging dann memorierend auf und ab und begleitete sein Studium mit Gestikulationen, wie sie ihm gut deuchten und es der Text zu fordern schien.

Die Gesellschaft hatte sich inzwischen vollständig zusammengefunden; denn außer Herrn Lenville und seinem Freunde Thomas war noch ein schmächtiger junger Herr mit schwachen Augen zugegen, der die blöden Liebhaber spielte und Tenor sang. Er war Arm in Arm mit dem komischen Bauern erschienen – einem Mann mit aufgestülpter Nase, großem Munde, breitem Gesicht und glotzenden Augen. Ein berauschter ältlicher Herr von äußerster Schäbigkeit, der die ruhigen und tugendhaften Alten spielte, suchte sich bei dem Wunderkinde angenehm zu machen. Ein anderer ältlicher Herr, um eine Spur achtbarer als der vorige, der die Rolle der reizbaren Alten hatte – jener schnurrigen Käuze, die Neffen in der Armee haben, unaufhörlich mit dicken Stöcken umherlaufen und sie zu Heiraten mit reichen Erbinnen zwingen wollen – machte vorzugsweise der Madame Crummles den Hof. Außerdem war noch eine vagabundenmäßig aussehende Person in einem großen Mantel zugegen, die vorn auf der Bühne auf und ab schritt, mit einem spanischen Röhrchen in der Luft herumfuchtelte und in halblautem Ton zur Unterhaltung eines dabei gedachten Publikums mit großer Lebhaftigkeit seine Rolle herunterorgelte. Er war nicht mehr ganz so jung, wie er gewesen war, als er seine Laufbahn begonnen haben mochte, denn er stand bereits dem Herbste seines Lebens nah; aber doch lag in seinem Benehmen etwas gezwungen Vornehmes, was auf das Fach der eisenfressenden Helden hindeutete. Dann war auch noch eine kleine Gruppe von drei oder vier jungen Männern mit eingefallenen Wangen und buschigen Augenbrauen zugegen, die sich in einer Ecke miteinander unterhielten; sie schienen jedoch von untergeordneter Bedeutung zu sein und lachten und schwatzten miteinander, ohne irgendeine besondere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Die Damen hatten sich in einem kleinen Kreis um den bereits erwähnten schadhaften Tisch versammelt. Demoiselle Snevellicci, die in allem tonangebend war – von der Chortänzerin an bis zur Lady Macbeth – und zu ihrem Benefiz stets dieselbe Rolle in blauseidenen Kniehosen spielte, ließ ihre Blicke aus dem Hintergrund ihres kohlenkübelartigen Strohhutes nach Nicolaus schießen, während sie tat, als achte sie aufmerksam auf die Erzählung einer sehr ergötzlichen Geschichte ihrer Freundin, der Demoiselle Ledrook, die ihre Arbeit mitgebracht hatte und auf die möglichst natürliche Weise eine Halskrause vollendete. Dann sah man Demoiselle Belvawny, die selten etwas anderes als stumme Rollen spielte und gewöhnlich als Page in weißseidenen Höschen auftrat, um mit einem übergeschlagenen Beine dazustehen und das Publikum zu betrachten, oder in der erhabenen Tragödie Herrn Crummles‘ Gefolgsmann zu machen. Sie wickelte eben die Locken der schönen Demoiselle Bravassa, die einmal von einem Kupferstecherlehrling in einem Charakterkostüm porträtiert worden war – ein Umstand, dem man es zuschreiben mußte, daß sie jedesmal an dem Tag ihres jährlichen Benefizes die Abdrücke ihres Ebenbilds in Pastetenbäckerbuden, Spezereiläden, Leihbibliotheken und an der Theaterkasse zum Verkauf aushängen konnte. Auch war Madame Lenville zugegen, die einen sehr zerknüllten Hut und Schleier trug und augenscheinlich in einem Zustande war, in den sie sich wünschen mußte, wenn sie Herrn Lenville wahrhaft liebte. Neben ihr stand Demoiselle Gazingi, die eine imitierte Hermelinboa lose um den Hals geschlungen hatte und sich den Spaß machte, mit den Enden derselben Herrn Crummles junior auf den Kopf zu schlagen. Endlich bemerkte man noch Madame Grudden in einem braunen, mit Pelz verbrämten Tuchkleid und einem Biberhut. Sie pflegte Madame Crummles in allen ihren häuslichen Geschäften Hilfe zu leisten. Sie war es, die an der Kasse saß, die Damen ankleidete, das Haus kehrte, soufflierte, wenn in der letzten Szene alles auf der Bühne war, die im Falle der Not alle Rollen spielte, ohne je eine zu lernen, und auf den Theaterzetteln unter jedem Namen aufgeführt wurde, von dem Herr Crummles glaubte, daß er sich gedruckt gut ausnehmen würde.

Herr Folair war so freundlich gewesen, Nicolaus diese Einzelheiten mitzuteilen, und verließ ihn dann, um sich unter seine Kameraden zu mischen. Das Geschäft der gegenseitigen Vorstellung wurde durch Herrn Crummles beendet, der den neuen Schauspieler als ein wahres Wunder von Gelehrsamkeit und Genie charakterisierte.

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte Fräulein Snevellicci, während sie sich an Nicolaus heranpirschte; »aber spielten Sie nicht schon in Canterbury?«

»Nie«, versetzte Nicolaus.

»Ich erinnere mich, in Canterbury einen Herrn getroffen zu haben«, entgegnete Fräulein Snevellicci, »freilich nur für einige Augenblicke; denn ich verließ die Gesellschaft, als er eintrat – der Ihnen so ähnlich sah, daß ich fast darauf hätte schwören wollen, Sie wären derselbe.«

»Ich sehe Sie heute zum erstenmal«, erwiderte Nicolaus mit gebührender Höflichkeit; »denn wenn ich Ihnen schon früher begegnet wäre, so hätte ich Sie unmöglich vergessen können.«

»Aber, aber – Sie sind ein Schmeichler«, versetzte Fräulein Snevellicci mit einer huldreichen Verbeugung. »Freilich, bei näherer Betrachtung finde ich jetzt, daß der Herr in Canterbury andere Augen hatte als Sie. Sie halten mich vielleicht für recht albern, daß ich von solchen Dingen Notiz nehme – nicht wahr?«

»Nicht im geringsten«, sagte Nicolaus, »es kann für mich nur schmeichelhaft sein, wenn Sie in irgendeiner Weise von mir Notiz nehmen wollen.«

»Ach, was sind die Männer doch für eitle Geschöpfe!« rief Fräulein Snevellicci. Sie wurde hierauf ganz bezaubernd verlegen, holte ihr Taschentuch aus ihrer Handtasche von verschossenem rotem Seidenzeug mit einem Messingschloß und sagte zu Demoiselle Ledrook: »Meine liebe Led!«

»Nun, was gibt’s?« sagte Demoiselle Ledrook.

»Er ist nicht der nämliche.«

»Welcher nämliche?«

»Der von Canterbury – Sie wissen schon, wen ich meine. Kommen Sie her, ich muß Ihnen etwas sagen.«

Da aber Fräulein Ledrook nicht zu Fräulein Snevellicci kommen wollte, so sah sich Fräulein Snevellicci genötigt, zu Fräulein Ledrook zu gehen, was sie dann in einem ganz bezaubernden Trippeln tat. Es war augenscheinlich, daß Fräulein Ledrook Fräulein Snevellicci wegen Nicolaus neckte; denn nach einigem scherzhaften Flüstern schlug Fräulein Snevellicci Fräulein Ledrook heftig auf die Hand und trat in einem Zustand der liebenswürdigsten Verwirrung zurück.

»Meine Damen und Herren«, sagte Herr Vincent Crummles, der inzwischen mit Schreiben beschäftigt gewesen war: »morgen um zehn Uhr ist die Probe des ›Tödlichen Kampfes‹, bei der alles zugegen sein muß. Der Gang des Stückes ist einstudiert, und wir werden nur noch dieser einzigen Probe bedürfen. Also um zehn Uhr, wenn’s gefällig ist.«

»Punkt zehn Uhr«, wiederholte Madame Grudden, umherblickend.

»Am Montag morgen ist Leseprobe von einem neuen Stück«, fuhr Herr Crummles fort. »Der Titel desselben ist noch nicht bekannt, doch wird jeder darin eine dankbare Rolle erhalten. Herr Johnson wird dafür besorgt sein.«

»Wie?« sagte Nicolaus auffahrend. »Ich – –«

»Am Montag morgen«, wiederholte Herr Crummles mit größerem Nachdruck, um die Gegenrede des unglücklichen Herrn Johnson zu ersticken. »Ich habe die Ehre, meine Damen und Herren –«

Die Damen und Herren bedurften keiner zweiten Aufforderung, sich zu entfernen, und in ein paar Minuten war die Bühne bis auf die Familie Crummles, Nicolaus und Smike geräumt.

»Ich versichere Sie«, sagte Nicolaus, den Direktor beiseite nehmend, »ich glaube nicht, daß ich bis Montag fertig sein kann.«

»Aber sicher!« versetzte Herr Crummles.

»Es ist in der Tat eine reine Unmöglichkeit«, fuhr Nicolaus fort. »Mein Erfindungstalent ist an solche Aufgaben noch nicht gewöhnt, und ich würde jedenfalls nur etwas – –«

»Erfindungstalent? Was zum Teufel hat das mit der Sache zu schaffen?« rief der Direktor hastig.

»Alles, mein lieber Herr.«

»Nichts, mein lieber Herr«, erwiderte der Theaterdirektor mit augenscheinlicher Ungeduld. »Verstehen Sie Französisch?«

»Ja.«

»Schön«, sagte der Direktor, indem er eine Tischschublade herauszog und eine Papierrolle hervorlangte, die er Nicolaus einhändigte. »Da, übertragen Sie dies ins Englische und setzen Sie Ihren Namen unter den Titel. Hol mich der Teufel«, fuhr Herr Crummles gereizt fort, »wenn ich nicht schon oft den Wunsch äußerte, es möchten alle in meiner Gesellschaft Französisch können. Ich ließe dann das Original auswendig lernen und englisch spielen; dann blieben Mühe und Geld erspart.«

Nicolaus lächelte und steckte das Heft in die Tasche.

»Wie gedenken Sie’s mit Ihrer Wohnung zu halten?« fragte Herr Crummles.

Nicolaus konnte den Gedanken nicht unterdrücken, daß es ihm für die erste Woche ungemein gelegen kommen würde, seine Bettstelle in dem Parterre aufzuschlagen; er bemerkte aber nur, daß er hieran noch gar nicht gedacht hätte.

»So kommen Sie mit in mein Quartier«, entgegnete Herr Crummles. »Meine Knaben sollen nach Tisch mit Ihnen gehen und Ihnen ein passendes Quartier zeigen.«

Das Anerbieten ließ sich nicht zurückweisen. Nicolaus und Herr Crummles gaben jeder der Madame Crummles einen Arm und verfügten sich in stattlichem Aufzuge auf die Straße. Smike, die Knaben und das Wunderkind gingen auf einem näheren Weg nach Hause, und Madame Grudden blieb zurück, um in der Billettloge ein kaltes Frühstück auf irische Art und eine Flasche Porter zu sich zu nehmen.

Madame Crummles schritt über das Pflaster, als ginge sie mit dem beruhigenden Bewußtsein der Unschuld und dem Heldenmut, den nur die Tugend einzuhauchen vermag, geradewegs nach dem Schaffot. Herr Crummles seinerseits hatte den Blick und die Haltung eines unbarmherzigen Despoten angenommen. Nur wenn sie hin und wieder die Aufmerksamkeit eines Spaziergängers auf sich zogen, vielleicht von Zeit zu Zeit die Namen »Herr und Madame Crummles« flüstern hörten oder einen Jungen umkehren und ihnen ins Gesicht stieren sahen – milderte sich der strenge Ausdruck ihrer Züge; denn dann fühlten sie es ganz, was es heiße, populär zu sein.

Herr Crummles wohnte in der St.-Thomas-Straße in dem Hause eines Lotsen, namens Bulph, der aus Kurzweil seine Türen und Fensterrahmen bootgrün angestrichen hatte und auf dem Kamingesims seines Wohnzimmers den Finger eines ertrunkenen Mannes nebst anderen See- und Naturmerkwürdigkeiten aufbewahrte. Er hielt auch viel auf eine messingne Türklingel, eine Messingplatte und einen Klingelgriff aus demselben Metall, was alles stets in blankem Zustande sein mußte; und im Hofe hinter dem Hause hatte er einen Mastbaum mit einem Fähnchen an der Spitze aufgepflanzt.

»Sie sind willkommen«, sagte Herr Crummles zu Nicolaus, als der Zug in dem mit Bogenfenstern versehenen Vorderzimmer des ersten Stockes angekommen war.

Nicolaus verbeugte sich verbindlich und war augenscheinlich sehr erfreut, den Tisch gedeckt zu sehen.

»Wir haben nur eine Hammelkeule mit Zwiebelsoße«, sagte Madame Crummles mit derselben Leichenhausstimme. »Wenn Sie damit vorliebnehmen wollen, so sind Sie eingeladen.«

»Sie sind sehr gütig«, versetzte Nicolaus; »ich werde Ihrer Gastfreundschaft alle Ehre antun.«

»Vincent«, fragte Madame Crummles, »wieviel Uhr ist’s?«

»Fünf Minuten über Essenszeit«, entgegnete Herr Crummles.

Madame Crummles zog die Klingel. »Die Keule und die Zwiebelsoße sollen aufgetragen werden!«

Die Magd, die Herrn Bulphs Mietern aufwartete, verschwand und kam bald wieder mit dem Festmahle zurück. Nicolaus saß an dem runden Tisch, dem Wunderkinde gegenüber, und Smike speiste mit den jungen Crummles abseits.

»Gibt es hier viele Theaterfreunde?« fragte Nicolaus.

»Nein«, versetzte Herr Crummles, den Kopf schüttelnd: »im Gegenteil.«

»Ich bemitleide die Porthsmouther«, bemerkte Madame Crummles.

»Ich gleichfalls«, sagte Nicolaus, »wenn sie keinen Sinn für ein gut geleitetes Theater haben.«

»Den haben sie freilich nicht, Sir«, entgegnete Crummles. »Im vorigen Jahr gab meine Tochter bei Gelegenheit ihres Benefizes ihre drei beliebtesten Rollen und trat auch in dem ›Feestachelschwein‹ auf, das durch sie zuerst aufgeführt wurde, aber das ganze Haus warf nicht mehr als vier Pfund zwölf Schillinge ab.«

»Ist’s möglich?« rief Nicolaus.

»Und davon mußte man noch für zwei Pfund kreditieren, Papa«, sagte das Wunderkind.

»Ja, zwei Pfund davon gingen auf Kredit«, wiederholte Crummles. »Sogar meine Frau hat schon vor einer bloßen Handvoll Leute spielen müssen.«

»Aber es waren dann Zuschauer, die ein Interesse an der Kunst hatten, Vincent«, sagte die Frau des Direktors.

»Das ist bei den meisten Zuschauern der Fall, wenn gut – wirklich gut gespielt wird; und das ist das Wesentliche«, erwiderte Herr Crummles mit Nachdruck.

»Geben Sie Unterricht in der Deklamation, Madame?« fragte Nicolaus.

»Allerdings«, antwortete Madame Crummles.

»Hier wird in dieser Hinsicht nicht viel zu machen sein?«

»Hin und wieder doch«, sagte Madame Crummles. »Ich habe der Tochter eines Schiffsmaklers Unterricht erteilt. Es stellte sich aber später heraus, daß sie wahnsinnig war, als sie das erstemal zu mir kam. Es war gewiß etwas höchst Außerordentliches, daß sie unter solchen Umständen überhaupt Lust hatte, sich unterrichten zu lassen.«

Nicolaus fühlte das Außerordentliche nicht ganz und hielt es daher für das beste, zu schweigen.

»Lassen Sie mal sehen«, sagte der Theaterdirektor, der nach dem Essen eine Weile nachgedacht hatte; »wie wär’s, wenn Sie eine artige kleine Rolle mit dem Wunderkind einübten?«

»Sie sind sehr gütig«, versetzte Nicolau« hastig; »aber ich meine, es dürfte besser sein, wenn ich zum erstenmal mit jemandem von meiner Größe aufträte, im Falle ich mich ungeschickt benehmen sollte. Ich würde mich vielleicht sicherer fühlen.«

»Sie haben recht«, entgegnete der Direktor. »Sie werden sich jedoch schon mit der Zeit so weit entwickeln, daß Sie mit dem Wunderkinde auftreten können.«

»Ich hoffe es«, erwiderte Nicolaus.

Seine Hoffnung bestand aber eher darin, recht lange nicht mit dieser Auszeichnung beehrt zu werden.

»So will ich Ihnen sagen, was wir tun wollen«, fuhr Herr Crummles fort; »wenn Sie das Stück geschrieben haben, so studieren Sie den Romeo ein. – Übrigens, vergessen Sie mir den Brunnen und die Waschzuber nicht. – Demoiselle Snevellicci spielt die Julia und die alte Grudden die Amme – ja, so wird’s gehen. Auch der Räuber; – wenn Sie an dem Räuber sind, können Sie auch den Cassio und Jeremias Dittler lernen. Sie werden leicht damit fertig; denn eine Rolle unterstützt die andere. Ich habe die Rollen hier, Stichwörter und alles.«

Mit diesen hingeworfenen allgemeinen Andeutungen übergab Herr Crummles Nicolaus‘ widerstrebenden Händen einen Haufen kleiner Bücher; dann beauftragte er seinen ältesten Sohn, den Gast zu begleiten und ihm zu zeigen, wo Wohnungen zu haben wären, worauf sie sich gegenseitig die Hand schüttelten und gute Nacht sagten.

Portsmouth hat keinen Mangel an bequem möblierten Zimmern; auch ist es nicht schwer, solche aufzufinden, die sich auch mit sehr mageren Einkünften bestreiten lassen; aber die ersteren waren zu gut und die letzteren zu schlecht, und so zogen sie aus vielen Häusern unverrichteter Dinge wieder ab, bis endlich Nicolaus ernstlich sich zu sorgen anfing, er werde sich doch noch ein Nachtquartier in dem Theater erbitten müssen.

Endlich trafen sie doch ein paar Zimmerchen, drei Treppen, oder vielmehr zwei Treppen und eine Leiter hoch, bei einem Tabakshändler auf dem Common Hard, einer schmutzigen Straße, die nach dem Schiffsholm führte.

Nicolaus mietete sich ein und fühlte sich ungemein glücklich, daß man ihm keine wöchentliche Vorausbezahlung abverlangte.

»So, du kannst jetzt unsere Sachen niederlegen, Smike«, sagte Nicolaus, nachdem er den jungen Crummles die Stiege hinunterbegleitet hatte. »Wir sind in wunderliche Verhältnisse geraten, und Gott allein weiß, zu welchem Ende sie führen werden; aber ich bin müde von den Ereignissen der letzten drei Tage und will das Nachdenken darüber auf morgen versparen – wenn ich kann.«

Vierundzwanzigstes Kapitel.


Vierundzwanzigstes Kapitel.

Von Demoiselle Snevelliccis großem Benefiz und Nicolaus‘ erstem Auftreten auf der Bühne.

Nicolaus war am Morgen zeitig aufgestanden. Er hatte aber kaum begonnen, sich anzukleiden, als er Tritte auf der Treppe vernahm und bald darauf auch durch die Stimmen des Pantomimisten, Herrn Folair, und des tragischen Helden, Herrn Lenville, begrüßt wurde.

»Zu Hause? zu Hause?« rief Herr Folair.

»Hollaho! Ist er drinnen?« tönte Herrn Lenvilles Baßstimme.

»Hol‘ der Henker die Kerle!« dachte Nicolaus. »Die wollen wahrscheinlich ein Frühstück. – Haben Sie nur einen Augenblick Geduld, ich werde sogleich die Tür öffnen.«

Die Herren baten ihn, sich nicht zu übereilen; und um sich inzwischen die Zeit zu vertreiben, hielten sie auf dem sehr engen Flur zum nicht geringen Verdruß der um einen Stock weiter unten wohnenden Mieter mit ihren Spazierstöcken eine Fechtübung.

»Wollen Sie jetzt hereinkommen«, sagte Nicolaus, als er seine Toilette beendigt hatte. »Um Himmels willen – aber machen Sie außen keinen solchen Lärm.«

»Ein ungemein behagliches Nestchen«, sagte Herr Lenville, ins Zimmer tretend, nachdem er vorher seinen Hut abgenommen hatte, um durchkommen zu können, »verdammt nett.«

»Für einen Mann, der in derartigen Dingen etwas eigen ist, dürfte es nur ein bißchen gar zu behaglich sein«, entgegnete Nicolaus; »denn obgleich es unbezweifelt sehr bequem ist, etwas, das man braucht, von der Decke, dem Boden oder den Wänden ablangen zu können, ohne den Stuhl zu rücken, so sind doch diese Vorteile nur in einem Zimmer von dem allerbeschränktesten Umfange möglich.«

»Es ist nichts weniger als zu klein für einen einzelnen Mann«, erwiderte Herr Lenville. »Das erinnert mich indessen an meine Frau, Herr Johnson; ich hoffe, sie wird eine hübsche Rolle in Ihrem Stück bekommen?«

»Ich überflog gestern nacht das Französische«, sagte Nicolaus; »ich denke, es wird sich gut machen.«

»Was gedenken Sie für mich zu tun, Kamerad?« fragte Herr Lenville, indem er mit seinem Spazierstock in dem spärlichen Feuer umherstocherte und denselben nachher an seinen Rockschößen abwischte. »Gibt es etwas Wildes und Tobendes darin?«

»Sie werfen Weib und Kinder zum Hause hinaus«, antwortete Nicolaus, »und erstechen in einem Anfall von Wut und Eifersucht Ihren ältesten Sohn.«

»Habe ich wirklich etwas der Art?« rief Herr Lenville. »Nun, das lasse ich mir gefallen.«

»Dann«, fuhr Nicolaus fort, »kriegen Sie Gewissensbisse bis zum letzten Akt und kommen zu dem Entschluß, sich das Leben zu nehmen. Wenn Sie aber die Pistole vor die Stirne halten, schlägt eine Glocke – zehn.«

»Ich merke«, rief Herr Lenville. »Sehr gut.«

»Sie halten inne«, sprach Nicolaus weiter. »Sie erinnern sich, in Ihrer Kindheit einmal eine Glocke zehn schlagen gehört zu haben. Die Pistole entsinkt Ihrer Hand – Sie sind überwältigt – Sie brechen in Tränen aus und werden ein tugend- und musterhafter Charakter für Ihr ganzes übriges Leben.«

»Fabelhaft!« rief Herr Lenville. »Das ist ein sicherer Trumpf – ein sicherer Trumpf. Wenn der Vorhang bei einer so natürlichen Rührung sinkt, so kann der Erfolg nur ein Triumph sein.«

»Gibt’s auch was Gutes für mich?« fragte Herr Folair besorgt.

»Lassen Sie sehen«, sagte Nicolaus. »Sie spielen den treuergebenen Diener und werden mit Weib und Kind zum Fenster hinausgeworfen.«

»Immer gepaart mit diesem höllischen Wunderkinde«, seufzte Herr Folair. »Wahrscheinlich beziehen wir dann ein armseliges Quartier, wo ich keinen Lohn nehme und mit sentimentalen Phrasen um mich werfe?«

»Richtig«, versetzte Nicolaus, »das ist der Gang des Stücks.«

»Ich muß einen Tanz dabei haben«, entgegnete Herr Folair. »Jedenfalls werden Sie einen für das Wunderkind einlegen müssen. Es geht dann in einem hin, wenn Sie ihn zu einem Tanz zu zweien machen.«

»Nichts ist leichter als das«, meinte Herr Lenville, als er die verlegene Miene des angehenden dramatischen Dichters bemerkte.

»Auf Ehre, ich sehe nicht, wie sich’s tun läßt«, erwiderte Nicolaus.

»Aber das springt ja in die Augen«, erklärte Herr Lenville. »Tausend Element, wenn Sie das nicht einsehen, so sind Sie blind. Sie bringen die unglückselige Dame, das kleine Kind und den treuen Diener in ihre armselige Wohnung, nicht wahr? – Nun schauen Sie einmal. Die unglückliche Dame sinkt in einen Stuhl und begräbt ihr Gesicht in ihr Schnupftuch. – ›Warum weinst du, Mama?‹ sagt das Kind. ›Weine nicht, Mama, oder du machst mich auch weinen.‹ – ›Und mich‹, sagt der treue Diener, der dabei seine Augen mit dem Rockärmel reibt. – ›Was können wir tun, um dich zu ermuntern, Mama?‹ sagt das kleine Kind. – ›Ach ja, was können wir tun?‹ sagt der treue Diener. – ›O Pierre‹, sagt die Dame, ›!ch wollte, ich könnte diese schmerzlichen Gedanken abschütteln.‹ – ›Versuchen Sie es, versuchen Sie es‹, sagt der treue Diener; ›geben Sie sich Mühe und erheitern Sie sich, Madame.‹ – ›Ich will lernen, meine Leiden mit Standhaftigkeit zu ertragen‹, sagt die Dame. ›Erinnerst du dich noch des Tanzes, mein ehrlicher Freund, den du in glücklicheren Tagen mit diesem süßen Engel aufführtest? Er hat damals nie verfehlt, mein Gemüt zu beruhigen. O laß mich ihn noch einmal sehen, ehe ich sterbe.‹ – Da haben wir’s – Stichwort für das Orchester, ›ehe ich sterbe‹ – und dann geht´s drauf und los! So ist’s ganz wunderschön – nicht wahr, Thomas?«

»Ja, ja«, erwiderte Herr Folair; »die unglückliche Dame, von alten Erinnerungen überwältigt, fällt am Ende des Tanzes in Ohnmacht, und Sie schließen die Szene mit einer schönen Gruppierung.«

Nicolaus nahm sich diese und andere Lehren, die das Ergebnis einer langjährigen Erfahrung der beiden Schauspieler waren, zu Herzen, gab ihnen ein so gutes Frühstück, wie es in seinen Kräften stand, und machte sich, sobald er sie endlich losgeworden war, an seine Arbeit, die er zu seinem größten Vergnügen weit leichter fand, als er anfangs gedacht hatte. Er war den ganzen Tag über

ungemein fleißig und verließ sein Zimmer erst gegen Abend, um nach dem Schauspielhaus zu gehen, wo sich Smike bereits früher eingefunden hatte und eben im Begriff war, mit einem anderen Herrn die Vorbereitungen zu einem allgemeinen Auftritt einzuleiten.

Die Personen waren hier durchgängig so verändert, daß er sie kaum mehr kannte. Falsches Haar, falsche Waden, falsche Farben, falsche Muskeln – sie waren ganz neue Wesen geworden. Herr Lenville erschien als ein jugendlicher Krieger von ausgezeichneter Schönheit, Herr Crummles, der sein breites Gesicht durch eine verfilzte Masse schwarzer Haare beschattete, als ein hochländischer Geächteter voll majestätischer Haltung, der eine der alten Herren als ein Gefängniswärter und der andere als ein ehrwürdiger Patriarch. Der komische Bauer war ein tapferer Degen mit einer Beimischung von Humor, die beiden jungen Crummles in Purpur geborene Prinzen und der blöde Liebhaber ein verzagender Gefangener. Für den dritten Akt war ein grandioses Bankett vorbereitet, das aus zwei Pappendeckelschüsseln, einem Zwiebackteller, einer Schuhputzflasche und einem Essigkrug bestand – kurz, alle Zurüstungen trugen das Gepräge des höchsten Prunkes.

Nicolaus stand mit dem Rücken gegen den Vorhang gekehrt und betrachtete die Dekorationen der ersten Szene, in denen sich hauptsächlich ein gotischer Bogengang auszeichnete, der ungefähr zwei Fuß niedriger als Herr Crummles war und den ebengenannten Herrn bei seinem ersten Auftreten durchlassen sollte, oder horchte auf ein paar Leute, die eben auf der Galerie Nüsse knackten. Er machte sich eben seine Gedanken, ob diese wohl das ganze Auditorium bildeten, als der Direktor auf ihn zukam und ihn vertraulich anredete.

»Sind Sie schon unten gewesen?« fragte Herr Crummles.

»Nein, noch nicht«, antwortete Nicolaus. »Ich habe es erst im Sinne, wenn das Spiel beginnt.«

»Wir haben schon eine recht hübsche Einnahme gehabt«, sagte Herr Crummles. »Vier Vordersitze im Parkett und die ganze Seitenloge.«

»Wirklich?« versetzte Nicolaus. »Vermutlich eine Familie.«

»Ja«, entgegnete Crummles. »Es ist rührend mit anzusehen – sechs Kinder, die nur kommen, wenn das Wunderkind spielt.«

Es möchte wohl schwer gewesen sein, das Theater an einem Abend zu besuchen, wo das Wunderkind nicht spielte, da es bei jeder Vorstellung wenigstens in einer, nicht selten aber auch in zwei oder drei Rollen auftrat. Aber Nicolaus, der die Gefühle eines Vaters zu würdigen wußte, enthielt sich, auf diesen nichts besagenden Umstand hinzudeuten, und ließ daher Herrn Crummles fortsprechen.

»Also sechs; Papa und Mama acht, Tante neun, Gouvernante zehn, Großvater und Großmutter zwölf. Dann ist noch der Diener da, der mit einem Korb Orangen und einem Krug Brotwasser außen steht und durch eine kleine Glasscheibe in der Logentür umsonst zusieht – alles das für den Spottpreis einer Guinee. Sie gewinnen dadurch, daß sie eine Loge nehmen.«

»Es nimmt mich wunder, daß Sie für dieses Geld so viele zulassen«, bemerkte Nicolaus.

»Ist nicht zu ändern«, versetzte Herr Crummles. »Auf dem Lande sind sie das so gewöhnt. Wenn sechs Kinder da sind, so kommen auch sechs Erwachsene mit, um sie auf den Schoß zu nehmen. Eine Familienloge enthält immer die doppelte Personenzahl. – Klingeln Sie dem Orchester, Grudden.«

Diese zu allem brauchbare Dame tat, wie ihr geheißen war, und gleich darauf hörte man drei Geigen stimmen. Das hielt so lange an, wie mutmaßlich die Geduld des Publikums dauerte, worauf dann wieder zum Zeichen, daß die Musik ernstlich anfangen solle, geklingelt wurde, und das Orchester begann nun einige Volksweisen mit unfreiwilligen Variationen zu spielen.

War Nicolaus schon über den Wechsel, der mit den männlichen Schauspielern vorgegangen, verwundert, so schien ihm die Umwandlung der Damen noch viel außerordentlicher. Aus einem behaglichen Winkel der Direktorloge sah er Demoiselle Snevellicci in der ganzen Glorie eines weißen, mit einem Goldsaum versehenen Musselinkleids, Madame Crummles in der vollen Majestät der Gattin eines Geächteten, Demoiselle Bravassa mit aller Süßigkeit einer Busenfreundin der Demoiselle Snevellicci und Demoiselle Belvawney in den weiten seidenen Höschen eines Pagen, der überall seine Pflicht tut und schwört, in dem Dienste von jedermann zu leben und zu sterben. Er konnte bei dem Anblick aller dieser Herrlichkeiten seine Bewunderung nicht zurückhalten, sondern bezeugte diese durch lebhaftes Beifallsklatschen und eine möglichst gespannte Aufmerksamkeit auf alles, was auf der Bühne vorging. Das Stück war höchst interessant. Es gehörte keiner besondern Zeit, keinem besondern Volke, keinem besondern Lande an und war vielleicht deshalb nur um so ergötzlicher, da niemand auch nur die entfernteste Ahnung davon haben konnte, wie es enden würde. – Ein Geächteter hatte irgendwo etwas glücklich durchgeführt und kam unter Jubel und Geigenschall triumphierend in seine Heimat zurück, um seine Gattin, eine Dame von männlicher Seele, zu begrüßen, die viel von den Gebeinen ihres Vaters sprach, die noch unbeerdigt zu sein schienen, obgleich sich nicht ausfindig machen ließ, ob dieser wichtige Umstand auf einem seltsamen Geschmack des alten Herrn selbst oder auf einer unverzeihlichen Nachlässigkeit von seiten seiner Verwandten beruhte. Das Weib des Geächteten kam auf irgendeine Weise mit einem Patriarchen in Verbindung, der in einem fernen Schlosse lebte, und dieser Patriarch war der Vater mehrerer in dem Stücke vorkommenden Personen, obgleich er nicht genau wußte, welcher. Er geriet in Ungewißheit darüber, ob er die rechten oder die unrechten im Schlosse aufgezogen hätte, und da er deshalb sehr unruhig wurde und sich eher zu der letzteren Ansicht hinneigte, so suchte er den Sturm seiner Seele durch ein Bankett zu beschwichtigen, bei welcher Feierlichkeit jemand in einem Mantel rief: »Nimm dich in acht!« Kein Mensch – das Publikum ausgenommen – wußte, daß dieser jemand der Geächtete selbst war, der sich aus unerklärlichen Gründen, vielleicht mit einer Absicht auf die silbernen Löffel, gleichfalls eingefunden hatte. Eine angenehme kleine Überraschung gaben gewisse Liebeshändel zwischen dem verzagenden Gefangenen und Fräulein Snevellicci, dem humoristischen Degen und Fräulein Bravassa. Herr Lenville spielte mehrere höchst tragische Szenen im Dunkeln, bei Gelegenheit von gurgelschneiderischen Unternehmungen, die aber alle durch die Gewandtheit und den Mut des humoristischen Degens, der das ganze Stück über den Horcher gespielt hatte, und durch die Unerschrockenheit der Demoiselle Snevellicci, die sich in Hosen mit einem Körbchen voll Erfrischungen und einer Blendlaterne nach dem Gefängnisse ihres Geliebten begab, vereitelt wurden.

Endlich kam es heraus, daß der Patriarch der Mann war, der die Gebeine von dem Schwiegervater des Geächteten so geringschätzig behandelt hatte. Darum erschien die Gattin des Geächteten auf dem Schlosse des Patriarchen, um ihn zu töten. Sie gelangte daselbst in ein finsteres Gemach, wo nach langem Herumtappen im Finstern jedermann jemandem faßte und noch außerdem für jemanden hielt, wodurch eine große Verwirrung mit einigem Pistolenschießen, Umbringen und schließlichem Fackeltanz herbeigeführt wurde. Dann kam der Patriarch zum Vorschein und erklärte mit einem gar klugen Gesichte, daß er jetzt alles hinsichtlich seiner Kinder wisse und ihnen alles sagen wolle, wenn sie mit ihm hineingingen. Er bemerkte dabei zugleich, daß es keine geschicktere Gelegenheit geben könne, die jungen Leute zu vermählen, als die gegenwärtige. Deshalb legte er ihre Hände ineinander unter voller Beistimmung des unermüdlichen Pagen, der die einzige weitere am Leben gebliebene Person war und nun mit seiner Mütze nach den Wolken, mit der Rechten aber nach der Erde deutete, um den Segen des Himmels dadurch herabzuflehen und dem Vorhang den Wink zu geben, daß er sich niedersenken möchte, was denn auch dieser unter allgemeinem Beifall tat.

»Was sagen Sie dazu?« fragte Herr Crummles, als Nicolaus wieder auf die Bühne kam.

Herr Crummles war sehr rot und erhitzt, denn ein Geächteter muß ganz verzweifelt schreien.

»In der Tat ein außerordentliches Stück«, versetzte Nicolaus. »Namentlich war Fräulein Snevellicci ungemein gut.«

»Das Mädchen ist ein Genie«, sagte Herr Crummles, »ein wahres Genie. Übrigens, ich habe im Sinne, Ihr Stück zu ihrem Benefiz auf die Bühne zu bringen. Bei einem solchen Anlaß muß es notwendig ziehen; und selbst für den Fall, daß es nicht ganz so ausfällt, wie wir erwarten, so begreifen Sie leicht, daß das Risiko auf ihrer Seite und nicht auf der unsrigen ist.«

»Auf der Ihrigen, wollen Sie sagen«, entgegnete Nicolaus.

»Sagte ich nicht auf der meinigen?« erwiderte Herr Crummles. »Nächsten Montag über acht Tage. Was sagen Sie dazu? Sie sind dann damit fertig und haben gewiß auch lange vorher die Liebhaberrolle einstudiert.«

»Von einem ›lange vorher‹ wird wohl keine Rede sein«, sagte Nicolaus; »aber um diese Zeit denke ich gesattelt zu sein.«

»Gut also«, versetzte Herr Crummles, »wir können die Sache als abgemacht betrachten. Aber nun muß ich Sie noch etwas anderes fragen. Bei solchen Gelegenheiten muß ein bißchen – wie soll ich es nur nennen – ein bißchen Werben stattfinden.«

»Bei den Gönnern, denke ich?« sagte Nicolaus.

»Freilich, bei den Gönnern. Die Sache ist nämlich die: die Snevellicci hat hier schon so viele Benefize gehabt, daß es eines besonderen Lockmittels bedarf. Sie hatte ein Benefiz, als ihre Stiefmutter starb, und ein zweites nach dem Tode ihres Onkels. Ich und meine Frau haben Benefize gehabt an dem Jahrestag der Geburt des Wunderkindes, an dem unserer Verehelichung und bei andern derartigen Anlässen, so daß es in der Tat etwas schwer hält, ein gut begründetes Benefiz zusammenzubringen. Wollen Sie nicht dem armen Mädchen Beistand leisten, Herr Johnson?« fügte Herr Crummles bei, indem er sich auf eine Trommel niederließ und, während er seine Nase mit einer Prise Schnupftabak füllte, Nicolaus fest ins Auge faßte.

»Wie soll ich das verstehen?« versetzte Nicolaus.

»Glauben Sie nicht, morgen früh ein halbes Stündchen erübrigen zu können, um mit ihr einige der angesehensten Personen dieser Stadt zu besuchen?« flüsterte der Theaterdirektor in einem überredenden Tone.

»Bewahre«, entgegnete Nicolaus mit der Miene des lebhaftesten Widerwillens; »dazu habe ich keine Lust.«

»Das Kind geht auch mit«, sagte Herr Crummles. »Ich gab auf der Stelle die Erlaubnis dazu. Es liegt durchaus nichts Ungebührliches darin; denn Demoiselle Snevellicci ist eine äußerst achtbare Dame. Es würde ihr einen wesentlichen Dienst leisten; – der Herr von London – Verfasser des neuen Stücks, der selbst in demselben spielt – erstes Auftreten auf den Brettern – es müßte das Haus füllen, Herr Johnson.«

»Ich möchte nicht gerne jemandem eine Aussicht verkümmern, am allerwenigsten einer Dame«, erwiderte Nicolaus; »aber in der Tat, ich muß es entschieden ablehnen, an dem Werbegang teilzunehmen.«

»Was sagt Herr Johnson dazu, Vincent?« fragte eine Stimme dicht neben Nicolaus, und als er sich umsah, bemerkte er Madame Crummles und Fräulein Snevellicci unmittelbar hinter sich stehen.

»Er weigert sich, meine Liebe«, antwortete Herr Crummles mit einem Blick auf Nicolaus.

»Er weigert sich?« rief Madame Crummles – »nicht möglich!«

»Ach, ich hoffe nicht«, sagte Fräulein Snevellicci. »Gewiß, Sie sind nicht so grausam. Du mein Himmel! Nur so etwas denken zu müssen, nachdem man so zuversichtlich darauf gehofft hat.«

»Herr Johnson wird nicht darauf bestehen, meine Liebe«, sagte Madame Crummles. »Wir denken besser von ihm und sind überzeugt, daß Ritterlichkeit, Menschenfreundlichkeit und alle besseren Gefühle seines Wesens sich vereinigen werden, um ihn für die Sache zu gewinnen.«

»Um so mehr, da sogar der Direktor sein Wort einlegt«, fügte Herr Crummles lächelnd bei.

»Und die Gattin eines Direktors«, sagte Madame Crummles in ihrem gewohnten Tragödientone. »Kommen Sie, kommen Sie; ich weiß gewiß, daß Sie sich erweichen lassen.«

»Ich bin nicht stark genug«, sagte Nicolaus, der sich durch so viele Aufforderungen rühren ließ, »einer Bitte zu widerstehen, solange nicht etwas entschieden Unrechtes von mir verlangt wird; und außer einem kleinen Gefühl von Stolz wüßte ich nicht, was mich in dem gegenwärtigen Falle hindern könnte. Ich kenne hier niemanden und bin selbst auch unbekannt. So sei’s denn. Ich gebe nach.«

Fräulein Snevellicci errötete einmal über das andere und konnte ihres Dankes gar kein Ende finden, mit welch letzterer Ware auch Herr und Madame Crummles keineswegs geizten. Es wurde die Übereinkunft getroffen, daß Nicolaus am nächsten Morgen um elf Uhr Demoiselle Snevellicci abholen sollte, und bald darauf trennte sich die Gesellschaft – er, um nach Hause zu gehen und an seinem Drama zu arbeiten, Fräulein Snevellicci, um sich für das Nachspiel anzukleiden, und der uneigennützige Theaterdirektor nebst Gattin, um den wahrscheinlichen Gewinn des besprochenen Benefizes zu berechnen, von dessen Ertrag ihnen kontraktmäßig zwei Drittel zufallen sollten.

Des andern Morgens erschien Nicolaus zur bestimmten Stunde bei Fräulein Snevellicci, die in dem Hause eines Schneiders in der Lombardstraße wohnte. Die Hausflur durchdrang ein starker Bügeleisengeruch, und die Tochter des Schneiders, die die Tür öffnete, erschien in jener Unordnung und Aufgeregtheit, die gewöhnlich die periodischen Hauswäschen begleiten.

»Wohnt hier Fräulein Snevellicci?« fragte Nicolaus, als die Tür geöffnet war.

Die Schneiderstochter bejahte.

»Wollen Sie wohl die Güte haben, ihr zu sagen, daß Herr Johnson hier sei?« fuhr Nicolaus fort.

»Ah, belieben Sie nur die Stiege heraufzukommen«, versetzte die Schneiderstochter.

Nicolaus folgte der jungen Dame und wurde in ein kleines Zimmer des ersten Stocks geführt, das mit einem Nebenstübchen in Verbindung stand, in dem, wie er aus einem gewissen gedämpften Klirren der Tassen entnahm, Fräulein Snevellicci ihr Frühstück im Bett einnahm.

»Sie möchten sich gefälligst ein wenig gedulden«, sagte die Schneiderstochter nach einer kurzen Abwesenheit, währenddem das Klirren in dem Nebenstübchen nachgelassen und einem Flüstern Platz gemacht hatte.

Mit diesen Worten machte sie die Fensterläden auf, und als sie dadurch Herrn Johnsons Aufmerksamkeit von dem Fenster weg nach der Straße abgeleitet zu haben glaubte, nahm sie einige am Kamin aufgehängte Gegenstände weg, die eine große Ähnlichkeit mit Strümpfen und dergleichen hatten, und schoß damit hinaus.

Da sich außerhalb des Fensters nicht viel Anziehendes bot, so blickte Nikolaus mit mehr Neugierde im Zimmer umher, als er diesem vielleicht sonst geschenkt haben würde. Auf dem Sofa lagen eine alte Gitarre, mehrere abgegriffene Musikstücke und eine Partie zerstreuter Haarwickeln, nebst einigen wirr übereinander liegenden Theaterzetteln, und einem Paar beschmutzter weißer Atlasschuhe mit großen blauen Rosetten. Über einer Stuhllehne hing ein halbfertiges Musselinschürzchen mit kleinen, von roten Bändern gesäumten Seitentaschen, wie es allenfalls ein Kammerkätzchen auf dem Theater und eben deshalb keine andere ehrliche Frauenzimmerseele zu tragen pflegt. In einer Ecke stand das winzige Paar Stulpenstiefel, in dem Fräulein Snevellicci den kleinen Jockey spielte, und gleich nebenan befand sich, auf einem Stuhl zusammengeschlagen, ein kleines Päckchen, das eine verdächtige Ähnlichkeit mit den zu den Stiefeln gehörigen Hosen trug.

Aber der ansprechendste Gegenstand war wohl ein Album, das zwischen einigen wirr umherliegenden Theaterschriften aufgeschlagen lag, und in dem sich verschiedene kritische Notizen über Demoiselle Snevelliccis Spiel – Auszüge aus verschiedenen Provinzzeitungen – befanden, unter denen man auch einen poetischen Erguß lesen konnte, der folgermaßen begann:

»Sing, Liebesgott, und sag, in welcher Not
Der Himmel uns die Snevellicci bot,
So hochbegabt, um uns mit ihren Tränen
Und ihrem heitern Aug das Leben zu verschönern.«

Außer diesem hohen dichterischen Schwung las man auch unzählige schmeichelhafte Anspielungen aus Zeitungen, z. B.: ›Wir entnehmen aus einer Ankündigung auf einer andern Seite der heutigen Nummer unseres Blattes, daß die bezaubernde und hochbegabte Demoiselle Snevellicci künftigen Dienstag eine Benefizvorstellung gibt, für welche Gelegenheit sie eine Speisekarte ausgelegt hat, die sogar imstande wäre, Heiterkeit in der Brust des Menschenhassers zu entzünden. In der Überzeugung, daß unsere Mitbürger den Sinn für die gehörige Würdigung hoher Vorzüge und persönlichen Wertes, durch den sie sich seit langen Jahren so vorteilhaft auszeichneten, nicht verloren haben, glauben wir, ihr versprechen zu dürfen, daß diese bezaubernde Schauspielerin von einem vollen Hause begrüßt werden wird.‹ – ›An die Korrespondenten. J. S. ist irrig berichtet, wenn er glaubt, daß die hochbegabte und schöne Demoiselle Snevellicci, die jeden Abend in unserem hübschen und bequemen kleinen Theater aller Herzen gewinnt, nicht dieselbe Dame sei, der der junge Edelmann von unermeßlichem Vermögen, der etwa hundert Meilen von der guten Stadt York wohnt, einen Heiratsantrag gemacht hat. Wir wissen es aus der zuverlässigsten Quelle, daß Fräulein Snevellicci wirklich die in jenes geheimnisvolle und romantische Abenteuer verwickelte Dame ist, deren Benehmen bei diesem Anlasse ihrem Kopf und Herzen nicht weniger Ehre machte, als ihre Bühnentriumphe die sprechendsten Belege für ihr hohes Talent sind. Eine ganze Sammlung derartiger Artikel, nebst langen Zetteln von Benefizvorstellungen, die immer mit der in sehr großen Buchstaben gedruckten Aufforderung ›man komme früh‹ schlossen, bildeten den Hauptinhalt von Demoiselle Snevelliccis Album.

Nicolaus hatte einen großen Teil dieser aufgeklebten Papierabschnitte durchgelesen. Er hatte sich eben in einen umständlichen und trauervollen Bericht über ein Ereignis vertieft, wonach Fräulein Snevellicci auf einer Orangenschale, die ein Ungeheuer in Menschengestalt – so sagte die Zeitung – auf die Bühne von Winchester geworfen hatte, ausglitt und den Fuß verrenkte. Da trippelte diese junge Dame selbst mit ihrem Kohlenkübelhut auf dem Kopf und vollständig zum Ausgehen angekleidet in das Zimmer. Sie bat tausendmal um Verzeihung, daß sie ihren verehrten Freund so lange über die bestimmte Zeit hingehalten hätte.

»Aber die gute Led«, fuhr Fräulein Snevellicci fort, »mit der ich zusammen wohne, wurde in der letzten Nacht so krank, daß ich glaubte, sie würde in meinen Armen den Geist aufgeben.«

»Ich könnte sie um dieses Los fast beneiden«, versetzte Nicolaus, »obschon es mir um der Dame willen leid tut.«

»Ah, wie Sie zu schmeicheln wissen«, sagte Fräulein Snevellicci, indem sie in süßer Verwirrung ihren Handschuh zuknöpfte.

»Wenn es Schmeichelei ist, Ihre Reize und Ihre sonstigen hohen Vorzüge zu bewundern«, entgegnete Nicolaus, seine Hand auf das Album legend, »so haben Sie hier noch bessere Proben davon.«

»Ach, Sie entsetzlicher Mensch – so etwas zu lesen! Ich kann Ihnen in der Tat vor Scham nicht mehr ins Gesicht sehen«, entgegnete Fräulein Snevellicci, indem sie das Album nahm und in einen Schrank schloß. »Die unachtsame Led! Wie konnte sie nur so etwas tun?«

»Ich dachte, Sie seien so gütig gewesen, es hier zu lassen, damit ich es lese«, sagte Nicolaus.

Und in der Tat, dies schien sehr möglich.

»Um keinen Preis hätte ich es Sie sehen lassen!« versetzte Fräulein Snevellicci. »Ich könnte mich zu Tod ärgern; aber sie ist zu unbekümmert – man kann ihr nichts anvertrauen.«

Das Gespräch wurde hier durch das Eintreten des Wunderkindes unterbrochen, das bis zu diesem Augenblick gar rücksichtsvoll in dem Nebenzimmer geblieben war und sich nun ungemein graziös mit einem sehr kleinen, grünen, breitgefransten Sonnenschirm ohne Handgriff präsentierte. Nach einigen weiteren Worten traten sie ihren Gang an.

Das Wunderkind erwies sich als eine sehr lästige Begleitung; denn zuerst gingen ihr die Bänder ihres rechten und dann ihres linken Schuhes auf, und als diese Unfälle gutgemacht waren, zeigte sich’s, daß das eine Bein der weißen Höschen länger als das andere war; dann fiel der grüne Sonnenschirm in einen eisernen Abtropftrog und konnte nur mit vieler Mühe wieder aufgefischt werden. Da sie die Tochter des Direktors war, so durfte man natürlich nicht mit ihr zanken, weshalb Nicolaus alles in bestmöglicher Laune hinnahm und – Fräulen Snevellicci mit dem einen, das lästige Wunderkind mit dem andern Arme führend – weiter ging.

Das erste Haus, zu dem sie ihre Schritte lenkten, lag auf einer vornehm aussehenden Terrasse. Auf Fräulein Snevelliccis bescheidenes Anklopfen öffnete ein Laufbube, der auf die Frage der Schauspielerin, ob Madame Curdle zu Hause sei, die Augen weit aufriß, den Mund bis an die Ohren verzog und die Antwort gab, daß er es nicht wisse, aber nachsehen wolle. Er führte sie dann in ein Zimmer, wo er sie warten ließ, bis zwei weibliche Dienstboten unter irgendeinem scheinbaren Vorwande die Schauspieler beaugenscheinigt hatten. Erst nachdem in der Hausflur eine Weile geflüstert und gekichert worden war, ging der Junge die Treppe hinauf, um Demoiselle Snevellicci anzumelden.

Madame Curdle galt unter denen, die sich auf derartige Sachen verstanden, als eine Dame, die in Literatur- und Theaterangelegenheiten ganz den Londoner Geschmack besaß. Herr Curdle hatte eine Abhandlung von vierundsechzig Seiten Großoktav über den Charakter des seligen Mannes der Amme in ›Romeo und Julia‹ geschrieben, in der er die Frage erörterte, ob er zu seinen Lebzeiten wirklich ein ›lustiger Mann‹ gewesen, oder ob ihm seine Witwe nur aus zärtlicher Parteilichkeit dieses Prädikat beigelegt hätte. Ebenso war auch von ihm der Beweis geliefert worden, daß jedes von Shakespeares Stücken durch eine veränderte Interpunktion zu einem ganz andern gemacht werden würde und einen durchaus verschiedenen Sinn erhielte. Es ist daher unnötig, zu sagen, daß er ein großer Kritiker und ein sehr tiefer, höchst origineller Denker war.

»Ach, Fräulein Snevellicci«, sagte Madame Curdle, als sie ins Empfangszimmer trat; »wie geht es Ihnen?«

Fräulein Snevellicci machte einen anmutigen Knix und hoffte, daß sich Madame Curdle wohlbefände; desgleichen Herr Curdle, der in diesem Augenblick in das Zimmer trat. Madame Curdle war in einen Frisiermantel gekleidet und hatte ein kleines Häubchen ganz oben auf ihrem Kopf sitzen. Herr Curdle trug einen weiten Schlafrock und hielt seinen rechten Zeigefinger an die Stirn, etwa wie man’s auf Sternes Porträt6 sehen kann, mit dem er, wie ihm einer oder der andere einmal gesagt hatte, eine sprechende Ähnlichkeit hatte.

»Ich wagte es, bei Ihnen vorzusprechen, um mir Ihren Namen für mein Benefiz zu erbitten, Madame«, sagte Fräulein Snevellicci, Papiere zum Vorschein bringend.

»Ah, ich weiß in der Tat nicht, was ich sagen soll«, versetzte Madame Curdle. »Die Glanzperiode des Theaters ist dahin – nehmen Sie doch Platz, Fräulein Snevellicci; mit dem Drama ist’s vorbei, vollkommen vorbei!«

»Als eine schöne Verkörperung der Phantasiegebilde des Dichters, als eine Verwirklichung des menschlichen Geistes, die unsere träumerischen Augenblicke mit strahlendem Lichte vergoldet und dem geistigen Auge eine neue zauberhafte Welt auftut – von diesem Standpunkte aus betrachtet, ist es mit dem Drama vorbei – vollkommen vorbei«, sagte Herr Curdle.

»Wer unter den jetzigen Lebenden ist imstande, uns alle jene wechselnden und vielfachen Farben vorzuführen, in denen uns Hamlets Charakter erscheint?« rief Madame Curdle.

»Ja wer – auf der Bühne nämlich –«, sagte Herr Curdle, der in dem letzteren Beisatz einen Vorbehalt zu seinen eigenen Gunsten aussprach. »Hamlet? – Ach, lächerlich! Mit Hamlet ist’s vorbei – vollkommen vorbei.«

Ganz ergriffen durch diese schmerzlichen Betrachtungen, seufzten Herr und Madame Curdle und saßen eine Weile da, ohne zu sprechen. Endlich wandte sich die Dame an Fräulein Snevellicci und fragte, auf welches Stück ihre Wahl gefallen wäre.

»Auf ein ganz neues«, antwortete Fräulein Snevellicci. »Herr Johnson hier ist der Verfasser desselben und erweist mir die Ehre selbst mitzuspielen. Es ist sein erstes Auftreten.«

»Ich hoffe. Sie haben die Einheiten bewahrt7, Sir?« fragte Herr Curdle.

»Das Original ist französisch«, erwiderte Nicolaus. »Es ist reich an Handlung, der Dialog lebendig, die Charaktere scharf gezeichnet –«

»Nützt alle« nichts ohne strenge Berücksichtigung der Einheiten, Sir«, versetzte Herr Curdle. »Die Einheiten des Dramas sind die Hauptsache.«

»Darf ich fragen«, entgegnete Nicolaus, der zwischen der Achtung, die er beobachten zu müssen glaubte, und zwischen dem Hange, eine Lächerlichkeit zu verfolgen, schwankte – »darf ich fragen, was Sie unter den Einheiten verstehen?«

Herr Curdle hustete und überlegte.

»Die Einheiten, Sir«, sagte er endlich, »sind eine Vollständigkeit, eine Art allgemeinen Zusammenklangs hinsichtlich des Ortes und der Zeit – ein gewisses generelles Vereinigtsein, wenn ich mich eines so kräftigen Ausdrucks bedienen darf. Dies betrachte ich als die dramatischen Einheiten, soweit ich ihnen meine Aufmerksamkeit zuwenden konnte, und gewiß – ich habe viel über den Gegenstand gelesen und nachgedacht. Wenn ich die Darstellungen dieses Kindes durchgehe«, fuhr Herr Curdle gegen das Wunderkind fort, »so finde ich eine Einheit des Gefühls, einen Umfang, einen Wechsel des Kolorits, eine Wärme der Farben, einen Ton, eine Harmonie, eine Glut, eine künstlerische Entwicklung origineller Auffassungen, nach denen ich mich vergebens unter älteren Schauspielern umsehe. Ich weiß nicht, ob ich mich Ihnen begreiflich gemacht habe?«

»Vollkommen«, versetzte Nicolaus.

»Nun gut«, sagte Herr Curdle, sein Halstuch zurechtzupfend; »das ist meine Definition der dramatischen Einheiten.«

Madame Curdle hatte dieser lichtvollen Entwicklung mit großem Wohlgefallen zugehört und fragte dann, was Herr Curdle von der Subskription dächte.

»Ich weiß nicht, meine Liebe – auf Ehre, ich weiß nicht«, sagte Herr Curdle. »Wenn wir es tun, so geschieht es natürlich unter dem Vorbehalt, daß man unser Erscheinen nicht als eine Bürgschaft für die gute Darstellung nimmt. Die Welt muß erfahren, daß wir besagter Darstellung durch unsere Namen keine garantierende Empfehlung erteilen wollen, sondern daß diese Auszeichnung nur auf Rechnung der Person der Demoiselle Snevellicci kommt. Unter dieser Voraussetzung betrachte ich es sozusagen als eine Pflicht, daß wir einer gesunkenen Bühne unseren Schutz zuteil werden lassen, wäre es auch nur um der Ideenverbindungen willen, die sich daran ketten. Können Sie zwei Schillinge und sechs Pence auf eine halbe Krone herausgeben, Fräulein Snevellicci?« fragte Herr Curdle, indem er vier Stücke von dieser Geldsorte durch die Finger laufen ließ.

Fräulein Snevellicci suchte in allen Ecken ihres rosa Strickbeutels nach, aber da war nichts zu finden. Nicolaus murmelte einen Scherz über die leeren Taschen der Schriftsteller und hielt es für das beste, die Förmlichkeit des Umhertastens in den seinigen ganz zu unterlassen.

»Warten Sie«, sagte Herr Curdle; »zweimal vier ist acht; vier Schillinge für ein Logenbillett, Fräulein Snevellicci, ist ungemein teuer für den gegenwärtigen Zustand des Dramas. Drei halbe Kronen sind sieben Schillinge und sechs Pence. Ich denke, wir werden uns wegen sechs Pence nicht veruneinigen – was meinen Sie, Fräulein Snevellicci?«

Das arme Fräulein Snevellicci nahm die drei halben Kronen mit vielem Lächeln und Knixen, und Madame Curdle gab noch einige nachträgliche Anweisungen hinsichtlich des Aufbewahrens ihrer Plätze, des Ausstäubens der Sitze und zweier sauberer Theaterzettel, die sie gleich aus der Druckerei haben wollte, worauf sie zum Zeichen, daß die Audienz geschlossen sei, die Klingel zog.

»Abgeschmacktes Volk!« sagte Jucolaus, als sie die Straße erreicht hatten.

»Glauben Sie mir«, versetzte Fräulein Snevellicci, seinen Arm nehmend, »ich darf mich sehr glücklich schätzen, daß Sie nicht alles schuldig geblieben sind und nur sechs Pence abgezogen haben. Geben Sie acht, wenn Ihr Stück Beifall erhält, so muß alle Welt hören, daß man Sie immer begünstigt habe: Fallen Sie aber durch, so hat man das schon von Anfang an vorausgesehen.«

In dem nächsten Haus, das sie besuchten, blühte ihnen ein glorreicher Empfang; denn hier wohnten die sechs Kinder, die von den öffentlichen Leistungen des Wunderkindes so ganz und gar hingerissen waren, und die jetzt, als man sie um der besagten jungen Dame willen aus der Kinderstube heruntergerufen hatte, ihr mit den Fingern nach den Augen griffen, sie auf die Zehen traten und ihr noch viele andere kleine Aufmerksamkeiten bewiesen, die diesem Lebensalter eigentümlich sind.

»Ich werde zuverlässig Herrn Borum bereden, eine ganze Loge zu nehmen«, sagte die Dame des Hauses nach einem ungemein huldreichen Empfange. »Ich will aber nur zwei von den Kindern mitnehmen, die übrigen Plätze aber mit Herren besetzen – Bewunderern von Ihnen, Fräulein Snevellicci. August, du Galgenstrick, laß doch das kleine Mädchen gehen!«

Die Schlußworte galten einem jungen Herrchen, das das Wunderkind von hinten kniff, augenscheinlich in der Absicht, sich zu überzeugen, ob es ein wirkliches Mädchen oder eine Puppe wäre.

»Sie sind wahrscheinlich sehr ermüdet«, sagte die Mama zu Fräulein Snevellicci; »Ich kann Sie daher unmöglich gehen lassen, ohne daß Sie vorher ein Glas Wein annehmen. Pfui, Charlotte, schäme dich doch! Mamsell Lane, ich muß bitten, daß Sie auf die Kinder besser achthaben.«

Mamsell Lane war die Gouvernante, und die an sie gerichtete Aufforderung war durch das zwanglose Benehmen des jüngsten Fräuleins Borum nötig geworden, das dem Wunderkinde den kleinen grünen Sonnenschirm weggemaust hatte und ihn eben fortschleppte, während die bestürzte Eigentümerin trostlos nachsah.

»Ach, wo haben Sie auch nur Ihr Spiel gelernt?« fuhr die gutmütige Frau Borum gegen Fräulein Snevellicci fort. »Ich kann gar nicht begreifen – Emma, laß doch diese Grimmassen –, wie man in dem einen Augenblick lachen und dem andern weinen kann; und das alles so natürlich! –«

»Ich fühle mich ungemein glücklich, aus Ihrem Munde ein so günstiges Urteil zu vernehmen«, sagte Fräulein Snevellicci. »Ich bin ganz entzückt, mich Ihres Beifalls zu erfreuen.«

»Ja, ja, wem sollten Sie nicht gefallen?« rief Madame Borum. »Ich würde zweimal wöchentlich ins Theater gehen, wenn ich könnte, denn ich bin ganz darin vernarrt. Sie werden nur bisweilen gar zu rührend. Sie versetzen mich in einen Zustand, daß ich laut aufschluchzen muß! Barmherziger Himmel, Mamsell Lane, wie können Sie nur zusehen, wenn die Rangen das arme Kind so quälen.«

Das Wunderkind war wirklich auf gutem Wege, in Stücke zerrissen zu werden; denn zwei kräftige kleine Jungen hatten sich ihrer Hände bemächtigt und zogen sie, um ihre Stärke zu versuchen, nach verschiedenen Richtungen. Mamsell Lane waren übrigens die erwachsenen Schauspieler viel zu wichtig, als daß sie auf solche Kleinigkeiten hätte achten können, weshalb sie erst infolge dieser Aufforderung dem kleinen Mädchen zu Hilfe kam. Man erquickte es nun mit einem Glas Wein, und bald nachher entfernte es sich mit seinen Begleitern, ohne einen ernsteren Schaden genommen zu haben, als daß sein rosa Gazehut plattgedrückt und das weiße Kleid nebst den Höschen ziemlich zerknüllt worden war.

Es war in der Tat ein Morgen der Prüfung; denn noch viele andere Häuser mußten besucht werden, und jedermann wollte etwas anderes. Einige wünschten Trauerspiele, andere Lustspiele, die einen machten Einwürfe gegen den Tanz, die andern wollten fast nichts als Tänze. Einige meinten, der komische Sänger wäre entschieden schlecht, andere hofften, er würde mehr zu tun bekommen, als gewöhnlich der Fall wäre. Einige wollten nicht versprechen zu kommen, weil andere nicht hatten versprechen wollen zu kommen, und wieder andere Leute wollten nicht kommen, weil andere kamen. Fräulein Snevellicci mußte in dem einen Haus versichern, daß sie etwas weggelassen, in dem andern, daß sie etwas beifügen wolle, und verpflichtete sich zu einem Theaterzettel, der, wenn er auch sonst kein anderes Verdienst hätte, wenigstens umfassend genug wäre (er enthielt nämlich unter andern Kleinigkeiten vier Stücke: einige Arien, ein paar Zweikämpfe und mehrere Tänze), und dann kehrten sie völlig erschöpft von der Anstrengung des Tages nach Hause zurück.

Nicolaus beendigte sein Stück, von dem sogleich eine Leseprobe gehalten wurde, und machte sich dann an seine eigene Rolle, die er mit großem Fleiße einstudierte und nach dem Urteil der ganzen Gesellschaft ganz vortrefflich spielte. Endlich erschien der große Tag. Die Ausrufer wurden am Morgen herumgeschickt, um die Unterhaltung des Abends in allen Straßen bei dem Klang der Schelle zu verkündigen. Besondere Zettel von drei Fuß Länge und neun Zoll Breite wurden in allen Richtungen ausgeteilt, in die Hausflure geworfen, unter die Türklopfer gesteckt, in allen Läden aufgelegt und auch an den Wänden der Häuser angeklebt, obgleich hier der Erfolg nicht vollkommen entsprach; denn wegen Krankheit des regelmäßigen Zettelanklebers hatte eine nicht wissenschaftlich gebildete Person dieses Amt übernommen und einen Teil in die Quere und den Rest verkehrt aufgepappt.

Um halb sechs Uhr strömten vier Leute nach der Galerietür: um dreiviertel auf sechs waren es wenigstens ein Dutzend; um sechs Uhr waren die Fußstöße gegen die Tür fürchterlich: und als der ältere Herr Crummles endlich öffnete, sah er sich genötigt, hinter die Tür zu treten, um sein Leben zu retten. In den ersten zehn Minuten waren schon fünfzehn Schillinge in die Kasse geflossen.

Hinter den Kulissen herrschte dieselbe ungewohnte Aufregung. Fräulein Snevellicci war so in Schweiß gebadet, daß die Schminke kaum auf ihrem Gesicht halten wollte. Madame Crummles fühlte sich so angegriffen, daß sie sich kaum auf ihre Rolle besinnen konnte. Fräulein Bravassas Haare gingen vor Hitze und Angst aus den Locken, der Direktor selbst aber sah fleißig durch das Loch im Vorhang und eilte hin und wieder zurück, um anzukünden, daß wieder ein Neuer in dem Parterre angekommen wäre.

Endlich schwieg das Orchester, und der Vorhang ging in die Höhe. Die erste Szene, in der nichts Besonderes vorfiel, lief ruhig genug ab, aber als in der zweiten Demoiselle Snevellicci von dem Wunderkinde begleitet auftrat – welch ein donnernder Beifallslärm! Die Leute in der Borumloge standen wie ein Mann auf, winkten mit ihren Hüten und Taschentüchern und brüllten ihre Bravos. Madame Borum und die Gouvernante warfen Kränze auf die Bühne, von denen einige die Lampen umwarfen und einer die Schläfen eines dicken Herrn im Parterre kränzte, der vor lauter Aufmerksamkeit, die er dem Stücke schenkte, dieser Ehre gar nicht einmal gewahr wurde. Der Schneider und seine Familie trampelten gegen das Getäfel der oberen Logen, daß es beinahe in Trümmer ging: der Ingwerbierjunge blieb ganz bezaubert in der Mitte des Hauses stehen, und ein junger Offizier, der als ein Anbeter der Demoiselle Snevellicci galt, drückte sein Monokel ins Auge, vielleicht um eine Träne zu verbergen. Fräulein Snevellicci knixte immer tiefer, und immer lauter und stürmischer wurde der Applaus. Er erreichte endlich seine höchste Höhe, als das Wunderkind einen der rauchenden Kränze aufhob und ihn von der Seite über Fräulein Snevelliccis Auge hielt, worauf das Stück seinen Fortgang nahm.

Aber als Nicolaus mit Madame Crummles seine Glanzszene aufführte – welch ein Klatschen ging da nicht los! Als ihn Madame Crummles (die seine unwürdige Mutter war) mit Hohnlachen einen anmaßenden Knaben nannte, und er ihr kühn Trotz bot – welch ein wütender Applaus! Als er mit dem andern Herrn wegen der jungen Dame Händel bekam und, ein Kästchen mit Pistolen hervorholend, erklärte, daß er sich, wenn er ein Mann von Ehre wäre, mit ihm in diesem Zimmer schießen müßte, bis das Mobilar mit dem Blut des einen, wenn nicht beider, bespritzt sei – zu welch einstimmigem Jubelruf vereinigten sich da nicht die Logen, Parterre und Galerie! Als er seiner Mutter allerlei Ehrentitel gab, weil sie das Vermögen der jungen Dame nicht herausgeben wollte, worauf sie endlich nachgab und dadurch auch ihn weicher stimmte, so daß er auf ein Knie niedersank und um ihren Segen flehte, wie weinten und schluchzten nicht da die Damen des Auditoriums alle zusammen! Als er hinter dem Vorhang versteckt war und der verruchte Verwandte mit einem scharfen Schwerte nach allen Richtungen, nur nicht nach der, wo man deutlich seine Beine sehen konnte, hinstieß, – welch ein Angstruf tönte dabei nicht durch das ganze Haus! Seine Miene, seine Haltung, sein Gang, sein Blick und alles, was er sagte oder tat, wurde gepriesen. Sooft er sprach, erscholl Beifallsrauschen durch den Raum. Und als endlich in der Brunnen- und Waschzuberszene Madame Grudden das bengalische Feuer anzündete und alle bei der Szene nicht beteiligten Mitglieder der Gesellschaft hereinkamen, um in verschiedenen Richtungen niederzustürzen – nicht weil solcherlei etwas mit der Entwickelung zu tun hatte, sondern bloß um mit einem Tableau zu enden –- so machte sich das Auditorium, das inzwischen beträchtlich angewachsen war, durch einen so tobenden, wiehernden und stampfenden Jubel Luft, wie er in Jahr und Tag in diesen Mauern nicht gehört worden war.

Mit einem Wort: das Glück sowohl des neuen Stückes wie des neuen Schauspielers war gemacht, und als Fräulein Snevellicci am Schlusse der Vorstellung herausgerufen wurde, präsentierte sie sich an Nicolaus‘ Arm, der an ihrem Beifall teilnahm.

Fünfundzwanzigstes Kapitel.


Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Handelt von einer jungen Dame aus London, die sich der Gesellschaft anschließt, und einem ältlichen Bewunderer derselben, der ihrem Schlepptau folgt; nebst einer rührenden Zeremonie, die nach ihrer Ankunft stattfindet.

Da das neue Stück entschieden Furore gemacht hatte, so sollte es bis auf weitere Ankündigung jeden Vorstellungsabend gegeben werden. Auch wurden die Abende, an denen das Theater geschlossen blieb, von drei auf zwei in der Woche herabgesetzt. Dies waren jedoch nicht die einzigen Beweise des außerordentlichen Glücks, das das Stück gemacht hatte, denn an dem nächsten Sonnabend war die unermüdliche Madame Grudden so gefällig, Nicolaus nicht weniger als dreißig Schillinge einzuhändigen; und außer dieser materiellen Belohnung erfreute er sich auch sonst noch hoher Ehren und Auszeichnungen, indem ihm z. B. Herr Curdle einen Abdruck seiner Abhandlung über den »seligen Mann« nebst einer eigenhändigen Widmung auf dem Deckblatt – an sich schon ein unbezahlbarer Schatz – nebst einem Schreiben zuschickte, das große Lobeserhebungen und die unverlangte Versicherung enthielt, Herr Curdle würde sich glücklich schätzen, ihm während seines Aufenthalts in der Stadt jeden Morgen vor dem Frühstück drei Stunden lang den Shakespeare vorzulesen.

»Ich habe wieder was Neues, Johnson«, sagte Herr Crummles eines Morgens mit vor Freude leuchtenden Augen.

»Und das wäre?« versetzte Nicolaus. »Vielleicht den Pony?«

»Nein, nein, wir kommen erst an den Pony, wenn alles andere fehlschlägt«, sagte Crummles. »Überhaupt glaube ich nicht, daß wir in dieser Saison den Pony brauchen werden. Nein, nein, der Pony ist’s nicht.«

»Haben Sie vielleicht ein Wunderkind in Knabengestalt aufgefunden?« riet Nicolaus.

»Es gibt nur ein Wunderkind, Sir, und das ist ein Mädchen«, entgegnete der Direktor mit Nachdruck.

»Sehr wahr«, erwiderte Nicolaus; »ich bitte um Verzeihung. Ich gestehe übrigens, daß es jetzt mit meinem Raten zu Ende ist.«

»Was sagen Sie zu einer jungen Dame aus London?« fragte Herr Crummles; »einer Demoiselle so und so von dem königlichen Drurylane-Theater?«

»Das würde sich allerdings auf den Theaterzetteln recht gut ausnehmen«, antwortete Nicolaus.

»Sie haben recht«, sagte Herr Crummles, »und wenn Sie gesagt hätten, sie würde sich auch auf der Bühne gut ausnehmen, so wäre es auch nicht weit fehlgeschossen. Sehen Sie einmal her! Was halten Sie davon?«

Mit dieser Frage rollte Herr Crummles einen blauen und einen gelben Anschlagzettel auf, deren jeder oben in ungeheuren Buchstaben die Aufschrift trug: »Erste Gastrolle der unvergleichlichen Demoiselle Petowker von dem königlichen Drurylane-Theater!«

»Mein Gott!« rief Nicolaus, »diese Dame kenne ich.«

»Dann kennen Sie so viel Talent, wie je in dem Leibe eines jungen Frauenzimmers eingeschlossen war«, entgegnete Herr Crummles, indem er die Zettel wieder zusammenpackte; »das heißt: Talent von einer gewissen Art – von einer gewissen Art.«

»›Die Bluttrinkerin‹«, fügte Herr Crummles mit einem prophetischen Seufzer bei, »›die Bluttrinkerin‹ wird mit diesem Mädchen sterben. Auch ist sie von allen, die mir zu Gesichte kamen, die einzige Fee, die wie eine echte Fee auf einem Beine stehen und auf dem andern Knie das Tamburin schlagen kann.«

»Wir erwarten sie heute«, versetzte Herr Crummles. »Sie ist elne alte Freundin von meiner Frau. Madame Crummles erkannte ihr Talent und sah voraus, was kommen mußte. Was sie kann, hat sie fast alles von meiner Frau gelernt. Madame Crummles war die ursprüngliche Bluttrinkerin.«

»Was Sie sagen!«

»Ja, aber sie mußte es aufgeben.«

»Behagte es ihr nicht mehr?« fragte Nicolaus lächelnd.

»Nicht so sehr ihr, aber dem Publikum«, antwortete Herr Crummles. »Niemand konnte es dabei aushalten; es war zu schrecklich. Sie wissen noch nicht ganz, was Madame Crummles zu leisten imstande ist.«

Nicolaus wagte zu bemerken, er meine doch, es zu wissen.

»Nein, nein, das ist rein unmöglich«, sagte Herr Crummles. »Ich selbst kenne sie noch nicht ganz genau, wie auch die Welt sie erst zu schätzen wissen wird, wenn sie tot ist. Mit jedem Jahre ihres Lebens gibt diese außerordentliche Frau neue Proben ihres Talents. Sehen Sie sie an – Mutter von sechs Kindern – drei von ihnen noch am Leben und alle auf den Brettern.«

»Außerordentlich!« rief Nicolaus.

»Ja, in der Tat außerordentlich«, versetzte Herr Crummles mit einem ernsten Kopfschütteln, indem er selbstgefällig eine Prise nahm. »Ich gebe Ihnen mein Künstlerwort, daß ich bis zu ihrem letzten Benefiz nicht einmal wußte, daß sie tanzen konnte. Sie spielte damals die Julia und die Helene Mac Gregor und tanzte zwischen beiden Stücken den Schwungseilhornpipe. Als ich die wundervolle Frau zum ersten Male sah, Johnson«, fuhr Herr Crummles etwas nähertretend fort, indem er den Ton zutraulicher Freundschaft annahm, – »als ich sie zum ersten Male sah, stand sie, umgeben von blendendem Feuerwerk, mit dem Kopfe auf einem Speerschaft.«

»Sie machen mich staunen«, sagte Nicolaus.

» Sie machte mich staunen!« entgegnete Herr Crummles mit einem sehr ernsten Gesicht. »Eine solche Anmut mit so viel Würde gepaart. Ich betete sie an – von diesem Augenblick.«

Die Ankunft der hochbegabten Dame, der diese Bemerkungen galten, machte den Lobeserhebungen des Schauspieldirektors ein jähes Ende. Fast unmittelbar darauf trat Herr Percy Crummles mit einem an seine gnädige Frau Mama adressierten Briefe ein, der durch die Post angekommen war. Bei dem ersten Blick auf die Überschrift rief Madame Crummles: »Ha, von Henriette Petowker!« und war augenblicklich in den Inhalt des Schreibens vertieft.

»Ist es – –« fragte der Schauspieldirektor zögernd.

»Ja, ja, es ist alles in Ordnung«, versetzte Madame Crummles, der Frage vorgreifend. »Wie trefflich für sie – in der Tat!«

»Ich denke, es ist das Beste, was mir je vorgekommen ist«, erwiderte Herr Crummles.

Und dann brachen Herr Crummles, Madame Crummles und Herr Percy in ein gewaltiges Gelächter aus.

Nicolaus überließ es ihnen, unter sich lustig zu sein, und ging nach seiner Wohnung, nicht wenig verwundert, welches mit dem Namen Petowker verknüpfte Geheimnis wohl diese Heiterkeit hervorgerufen haben mochte. Zugleich dachte er auch an die große Überraschung, die diese Dame an den Tag legen würde, wenn sie ihn selbst in den Reihen einer Kunst finden würde, der sie zu einer so schönen und leuchtenden Zierde gereichte.

In der letzteren Hinsicht hatte er sich jedoch geirrt; denn – sei es, daß Herr Vincent Crummles den Weg gebahnt, oder daß Fräulein Petowker besondere Gründe hatte, ihn sogar mit mehr als gewöhnlicher Zuvorkommenheit zu behandeln – ihre Begegnung auf dem Theater des andern Tages glich mehr der zweier Freunde, die sich von Jugend auf liebten, als einem Wiedersehen zwischen einer Dame und einem Herrn, die sich nur ein halbdutzendmal und dann auch nur zufällig gesehen hatten. Ja, Fräulein Petowker flüsterte ihm sogar zu, daß sie in ihren Gesprächen mit der Familie des Direktors kein Wörtchen von den Kenwigsen habe fallen lassen. Sie hätte im Gegenteil versichert, daß sie Herrn Johnson in den ersten und vornehmsten Gesellschaftskreisen begegnet wäre. Als aber Nicolaus bei dieser Eröffnung sein Staunen nicht verbergen konnte, fügte sie mit einem holden Blicke bei, daß sie jetzt Anspruch auf seine Freundschaft hätte und diese vielleicht in kurzem auf die Probe stellen würde.

Nicolaus hatte noch an demselben Abend die Ehre, mit Fräulein Petowker in einem kleinen Stücke aufzutreten, und es konnte ihm nicht entgehen, daß der Beifall, der ihr zuteil wurde, hauptsächlich einem ungemein beharrlichen Regenschirm in den oberen Logen zuzuschreiben war. Er bemerkte auch, daß die bezaubernde Darstellerin manchen holden Blick nach der Richtung, woher diese Töne kamen, schießen ließ, und daß dann jedesmal der Regenschirm aufs neue losbrach. Einmal kam es ihm vor, als ob ein eigentümlich geformter Hut in jener Ecke ihm nicht ganz unbekannt wäre. Da er jedoch von seiner Rolle zu sehr in Anspruch genommen war, schenkte er diesem Umstand keine große Aufmerksamkeit, wie er denn auch das Ganze, als er zu Hause anlangte, wieder völlig vergessen hatte.

Er saß eben mit Smike beim Nachtessen, als jemand von den Hausleuten an der Tür pochte und einen Herrn anmeldete, der unten wäre und Herrn Johnson zu sprechen wünschte.

»Je nun, da kann ich weiter nichts sagen, als daß er heraufkommen soll«, versetzte Nicolaus. »Wahrscheinlich ein hungriger Kollege, Smike.«

Smike betrachtete den kalten Braten, berechnete schweigend, wieviel wohl für das Mittagessen des nächsten Tages übrigbleiben dürfte, und legte ein Stückchen, das er für sich selbst abgeschnitten hatte, wieder zurück, damit die Eingriffe des Gastes in ihren Wirkungen weniger verheerend sein möchten.

»Es ist niemand, der früher hier war«, sagte Nicolaus, »denn er stolpert auf jeder Treppe. Herein, herein! – Im Namen aller Wunder – Herr Lillyvick!«

Es war in der Tat der Einnehmer der Wassersteuer, der Nicolaus mit festem Blicke und unbeweglichen Zügen ansah, ihm mit feierlicher Wichtigkeit die Hand reichte und sich in dem Kaminwinkel niederließ.

»Wann sind Sie angekommen?« fragte Nicolaus.

»Diesen Morgen, Sir«, versetzte Herr Lillyvick.

»Ah, ich sehe; dann waren Sie diesen Abend im Theater und es war Ihr Regen – –«

»Dieser Regenschirm«, sagte Herr Lillyvick, indem er einen plumpen, grünbaumwollenen Schirm mit umgedrückter Zwinge hervorzog. »Wie gefiel Ihnen Fräulein Petowkers Spiel?«

»Soweit ich es von der Bühne aus betrachten konnte, recht nett«, versetzte Nicolaus.

»Nett?« rief der Steuereinnehmer. »Ich sage Ihnen, Sir, es war entzückend.«

Herr Lillyvick beugte sich vor, um das »Entzückend« mit um so größerem Nachdruck auszusprechen, richtete sich dann wieder empor und gab einiges Stirnrunzeln und Kopfnicken zum besten.

»Ich sage entzückend«, wiederholte Herr Lillyvick, »hinreißend, zauberhaft, gewaltig.«

Und abermals bog sich Herr Lillyvick zurück, aufs neue nickend und die Stirne runzelnd.

»Ah«, entgegnete Nicolaus, ein wenig überrascht bei diesen Symptomen einer ekstatischen Bewunderung. »Ja – sie ist eine begabte Dame.«

»Eine Göttin«, erwiderte Herr Lillyvick, indem er seinen Steuereinnehmer-Doppelschlag mit dem vorerwähnten Regenschirm auf dem Boden ausführte.

»Ich habe seinerzeit göttliche Schauspielerinnen gekannt, Sir – ich hatte die Wassersteuer einzusammeln – wenigstens mußte ich sie einfordern – und zwar sehr oft einfordern – in dem Hause einer göttlichen Schauspielerin, die vier Jahre lang in meinem Viertel wohnte; aber nie – nein, nie, Sir – habe ich unter allen göttlichen Wesen, Schauspielerin oder nicht, ein göttlicheres gesehen, als Henriette Petowker.«

Nicolaus hatte Mühe, ein Lächeln zu unterdrücken, weshalb er es auch nicht einmal wagte, zu sprechen, sondern nur im Einklang mit Herrn Lillyvicks Nicken gleichfalls nickte und stumm blieb.

»Ich möchte wohl ein Wörtchen unter vier Augen mit Ihnen sprechen«, sagte Herr Lillyvick.

Nicolaus warf willfahrend Smike einen Blick zu, der den Wink verstand und sich entfernte.

»Es ist etwas Erbärmliches um einen Hagestolz, Sir«, sagte Herr Lillyvick.

»Meinen Sie?« versetzte Nicolaus.

»Ja«, entgegnete der Steuereinnehmer. »Ich habe an sechzig Jahre in der Welt gelebt und sollte mich daher wohl auf die Sache verstehen.«

»Das solltest du freilich«, dachte Nicolaus, »aber ob du’s tust, ist eine andere Frage.«

»Wenn sich ein Hagestolz zufällig ein bißchen Geld erspart hat«, fuhr Herr Lillyvick fort, »so sehen Schwestern und Brüder, Neffen und Nichten auf das Geld und nicht auf ihn. Ja, sie wünschen ihm, selbst wenn er ein öffentlicher Charakter und somit das Haupt der Familie, oder gewissermaßen der Stamm ist, an den alle anderen kleineren Zweige sich anschmiegen, ohne Unterlaß den Tod und werden niedergeschlagen, sooft sie ihn bei guter Gesundheit sehen, weil es ihnen um nichts zu tun ist, als um in den Besitz seines kleinen Eigentums zu kommen. Verstanden?«

»O ja«, versetzte Nicolaus, »Sie haben ohne Zweifel vollkommen recht.«

»Der Hauptbeweggrund, warum man unverehelicht bleibt«, nahm Herr Lillyvick wieder auf, »ist der Kostenpunkt. Das ist’s, was mich immer abgehalten hat; sonst – ach du mein Himmel!« sagte Herr Lillyvick, mit den Fingern schnippend, – »sonst hätte ich wohl fünfzig Frauen haben können.«

»Schöne Frauen?« fragte Nicolaus.

»Schöne Frauen«, antwortete der Steuereinnehmer. »Freilich nicht so schön, wie Henriette Petowker; denn sie hat nicht ihresgleichen, aber ich versichere Ihnen – immerhin Frauen, wie sie einem nicht alle Tage in den Weg kommen. Setzen wir nun den Fall, der Mann kann in seiner Frau, statt mit seiner Frau Vermögen bekommen – wie?«

»Ei, dann ist er ein glücklicher Mann«, versetzte Nicolaus.

»Das ist’s, was ich sage«, entgegnete der Steuereinnehmer, indem er Nicolaus wohlwollend mit seinem Regenschirm auf die Schulter klopfte, »genau, was ich sage. Henriette Petowker, die hochbegabte Henriette Petowker hat einen Schatz in sich selbst, und ich bin im Begriff – –«

»Sie zu Madame Lillyvick zu machen?« ergänzte Nicolaus.

»Nein, Sir, sie soll nicht Madame Lillyvick werden«, erwiderte der Steuereinnehmer. »Schauspielerinnen, Sir, behalten stets ihre Familiennamen bei; das ist so gewöhnlich. – Aber ich bin im Begriff sie zu heiraten; ja, und zwar schon übermorgen.«

»Ich gratuliere Ihnen, Sir«, sagte Nicolaus.

»Ich danke, Sir«, versetzte der Steuereinnehmer, seine Weste zuknöpfend. »Ich ziehe dann natürlich ihre Gage ein und hoffe, daß es am Ende sich fast ebenso preiswert fügt, zwei Personen zu erhalten als eine – das ist auch wieder ein Trost.«

»Sie werden doch in einem solchen Augenblicke keines Trostes bedürfen?« bemerkte Nicolaus.

»Nein«, entgegnete Lillyvick mit einem ängstlichen Kopfschütteln: »natürlich nicht.«

»Aber warum kommen Sie beide hierher, wenn es Ihre Absicht ist, sich zu heiraten, Herr Lillyvick?« fragte Nicolaus.

»Das ist’s eben, weshalb ich zu Ihnen komme«, antwortete der Einnehmer der Wassersteuer. »Die Sache verhält sich nämlich so: wir haben es für das beste gehalten, unsere Verbindung vor der Familie geheimzuhalten.«

»Familie?« rief Nicolaus. »Vor was für einer Familie?«

»Je nun – vor den Kenwigsen«, versetzte Herr Lillyvick. »Wenn meine Nichte und die Kinder nur ein Wörtchen davon vor meiner Abreise erfahren hätten, so hätten sie zu meinen Füßen Krämpfe gekriegt und nicht mehr von mir abgelassen, bis ich ihnen eidlich versichert hätte, nie zu heiraten – oder sie hätten mich für mondsüchtig erklären lassen oder sonst etwas Schreckliches vorgenommen«, sagte der Steuereinnehmer, indem er in der Glut seines Temperamentes am ganzen Leibe bebte.

»Ich zweifle allerdings nicht, daß sie eifersüchtig gewesen sein würden«, sagte Nicolaus.

»Um dem vorzubeugen«, erwiderte Herr Lillyvick, »haben wir die Verabredung getroffen, daß Henriette Petowker unter dem Vorwande eines Engagements zu ihren Freunden, den Crummles‘, sich begeben sollte. Ich selber reiste tags zuvor nach Guilford, um sie daselbst zu erwarten, und so kamen wir gestern miteinander hier an. Nun fürchten wir aber, Sie möchten Herrn Noggs schreiben und ihm etwas von unseren Angelegenheiten mitteilen, und so hielten wir es für das beste. Sie in unser Geheimnis einzuweihen. Wir gehen von Crummles‘ Wohnung aus zur Kirche und werden uns freuen, wenn Sie uns entweder vor der Trauung oder zum Frühstück die Ehre Ihres Besuches schenken wollen. Es wird nicht hoch hergehen«, fügte der Steuereinnehmer, der ängstlich jedes Mißverständnis über diesen Punkt vermeiden wollte, bei – »eben Semmeln und Kaffee, vielleicht mit einer Seegarneele oder etwas der Art, um sich einen guten Geschmack zu verschaffen.«

»Ja, ja, ich verstehe«, sagte Nicolaus. »Ich leiste Ihrer Einladung mit dem größten Vergnügen Folge. Wo wohnt Fräulein Petowker – bei Madame Crummles?«

»Nein«, versetzte der Steuereinnehmer, »es paßte dort gerade nicht, sie unterzubringen, und so wohnt sie jetzt bei einer Bekannten und noch einer andern jungen Dame, die beide zum Theater gehören.«

»Fräulein Snevellicci, denke ich«, sagte Nicolaus.

»Ja, so klingt der Name.«

»Vermutlich werden das die Brautjungfern sein?« entgegnete Nicolaus.

»Ach«, erwiderte der Steuereinnehmer mit einer Jammermiene, »sie wollen vier Brautjungfern haben. Ich fürchte, sie werden es gar zu theatralisch machen.«

»O nicht doch, nicht im geringsten«, versetzte Nicolaus mit einem verunglückten Versuch, ein Lachen in ein Husten umzuwandeln. »Wer mögen wohl die vier sein? Natürlich Fräulein Snevellicci – Fräulein Ledrook.«

»Das – das Wunderkind«, stöhnte der Steuereinnehmer.

»Ha! ha! ha!« brach Nicolaus los, fügte aber schnell bei: »ich bitte um Verzeihung, ich weiß selbst nicht, weshalb ich lachte. – Ja, das wird ganz hübsch werden. Das Wunderkind – wer sonst noch?«

»Irgendein anderes junges Frauenzimmer«, versetzte der Steuereinnehmer aufstehend, »eine Freundin von Henriette Petowker. Sie werden doch aber das, was ich Ihnen mitteile, für sich behalten – nicht wahr?«

»Sie können sich getrost auf mich verlassen«, entgegnete Nicolaus. »Darf ich Ihnen nichts anbieten?«

»Nein«, erwiderte der Steuereinnehmer, »ich habe keinen Appetit. Ich sollte meinen, daß es etwas sehr Angenehmes um das Leben im Ehestand ist – wie?«

»Ich bezweifle es nicht im geringsten«, antwortete Nicolaus.

»Ja«, sagte der Steuereinnehmer, »gewiß. O ja, kein Zweifel. Gute Nacht.«

Mit diesen Worten wandte sich Herr Lillyvick, der diese ganze Zeit über das seltsamste Gemisch von Hast und Bedenklichkeit, Vertrauen und Zweifel, Verliebtheit und Argwohn, Gemeinheit und Hochmut an den Tag gelegt hatte, nach der Tür und überließ es nun Nicolaus, sich seiner Lachlust hinzugeben, solange es ihm behagte.

Wir wollen uns nicht mit Untersuchungen aufhalten, ob der nächste Tag Nicolaus aus der gewöhnlichen Anzahl von Stunden zu bestehen schien, sondern bemerken nur, daß unser Freund den mehr unmittelbar bei der bevorstehenden Zeremonie beteiligten Personen in großer Eile entwich: wie denn auch Fräulein Petowker, als sie den darauffolgenden Morgen in Fräulein Snevelliccis Kammer erwachte, die Erklärung abgab, nichts könne sie bereden, daß dies wirklich der Tag wäre, der Zeuge einer so wichtigen Veränderung in ihren häuslichen Verhältnissen sein sollte.

»Ich kann’s nicht glauben«, sagte Fräulein Petowker: »in der Tat, ich kann’s unmöglich glauben. Was nützt all dieses Reden; ich kann mich nimmermehr entschließen, mich einer solchen Prüfung zu unterziehen.«

Fräulein Snevellicci und Fräulein Ledrook wußten recht genau, daß der Entschluß ihrer guten Freundin schon seit drei oder vier Jahren feststand, diese verzweifelte Prüfung getrosten Mutes einzugehen, wenn sie nur einen annehmbaren Herrn, der den gleichen Versuch machen wollte, auffinden konnte. Sie begannen daher, ihr Trost und Festigkeit zu predigen und ihr begreiflich zu machen, wie stolz sie sich fühlen dürfe, daß es in ihrer Macht liege, einem verdienstvollen Manne zum dauernden Segen zu werden, und wie notwendig es für das Wohl der Menschheit im allgemeinen sei, daß das zarte Geschlecht bei solchen Anlässen Seelenstärke und Ergebung beweise. Zwar sei nach ihrer Überzeugung das wahre Glück nur in dem ehelosen Leben zu finden, das sie nie gern und in keinem Fall aus irgendeiner weltlichen Rücksicht aufgeben würden. – Trotzdem aber hofften sie, wenn sie je in solche Lage kämen, ihre Pflicht, Gott sei Dank, zu gut zu kennen, um sich allzusehr zu grämen. Sie lebten der Überzeugung, daß sie sich mit Demut und unterwürfigem Sinn dem Schicksal unterwerfen könnten, das ihnen die Vorsehung offenbar nur in der Absicht zuweisen würde, das Glück und das Wohl eines Mitmenschen zu begründen.

»Ich könnte es wohl auch nicht anders als schmerzlich empfinden«, sagte Fräulein Snevellicci, »alte Verbindungen abzubrechen, aber ich würde mich fügen, meine Liebe – in der Tat, ich würde mich fügen.«

»Ich gleichfalls«, erklärte Fräulein Ledrook, »ja, ich würde das Joch eher suchen als meiden. Ich habe vordem schon manches Herz gebrochen, aber ich beklage es jetzt schmerzlich: denn schuld an einem solchen Tod zu sein, ist ein ewiger Wurm für das Gewissen.«

»Ja, so ist es«, bekräftigte Fräulein Snevellicci. »Aber jetzt, liebe Led, müssen wir sie zustutzen, sonst kommen wir in der Tat zu spät.«

Diese tröstlichen Gründe, und vielleicht auch die Furcht, zu spät zu kommen, hielten die Braut während der Förmlichkeit des Ankleidens aufrecht; dann aber mußten starker Tee und Rum abwechselnd angewandt werden, um ihre schwachen Glieder so weit zu kräftigen, daß sie stetigen Schrittes einhergehen konnte.

»Wie fühlst du dich jetzt, meine Liebe?« fragte Fräulein Snevellicci.

»Ach Lillyvick«, rief die Braut, »wenn du wüßtest, was ich um deinetwillen leide!«

»Er weiß es natürlich und wird es nie vergessen«, versetzte Fräulein Ledrook.

»Glauben Sie?« rief Fräulein Petowker mit einem Pathos, das allein schon ihr Talent für die Bühne bekundet haben würde.

»O glauben Sie wirklich, daß Lillyvick es nie – nie vergessen wird?«

Wir können nicht vermuten, womit dieser Gefühlsausdruck geendet haben würde, wenn nicht Fräulein Snevellicci in diesem Augenblick die Ankunft der Kutsche verkündigt hätte, was die Braut so verblüffte, daß sie verschiedene beunruhigende Symptome, die stark im Anzuge waren, abschüttelte, an den Spiegel eilte, um ihren Anzug zu mustern, und ganz ruhig erklärte, daß sie zu dem Opfer bereit sei.

Sie wurde demgemäß in die Kutsche gehoben, wo sie durch fortwährendes Riechen an Salmiakriechfläschchen und wiederholte Schlucke von Likör und anderen kräftigen Mitteln vor Ohnmächten geschützt wurde, bis man das Haus des Theaterdirektors erreichte. Die zwei jungen Crummles‘ standen schon mit weißen Kokarden und in den gewähltesten und farbenfunkelndsten Westen aus der Theatergarderobe an der Tür, um sie zu empfangen. Durch die vereinzelten Bemühungen dieser Herren, der Brautjungfern und des Kutschers wurde Fräulein Petowker endlich in einem Zustand völliger Erschöpfung nach dem ersten Stock gebracht, wo sie, sobald sie des jugendlichen Bräutigams ansichtig wurde, mit vielem Anstand in Ohnmacht sank.

»Henriette Petowker«, rief der Steuereinnehmer, »ermuntern Sie sich, meine Liebe.«

Fräulein Petowker ergriff des Steuereinnehmers Hand, aber die innere Bewegung erstickte ihre Worte.

»Ist denn mein Anblick so schrecklich?« rief der Steuereinnehmer.

»Ach nein, nein, nein!« rief die Braut; »aber alle Freunde – die teuren Freunde – meiner Jugendjahre – alle verlassen zu müssen – es ist ein herber Augenblick!«

Nach diesem Schmerzergusse begann Fräulein Petowker die teuren Freunde ihrer Jugend aufzuzählen, wobei sie die unter ihnen, die zugegen waren, aufforderte, näher zu treten und sie zu umarmen. Als das geschehen war, fiel ihr ein, Madame Crummles sei ihr mehr als eine Mutter, Herr Crummles mehr als ein Vater und die jungen Crummles‘ nebst Fräulein Ninetta Crummles mehr als Brüder und Schwestern gewesen. Diese verschiedenen Erinnerungen, die jedesmal eine Reihe von Umarmungen zur Folge hatten, nahmen eine schöne Zeit hinweg, so daß man sich genötigt sah, dem Kutscher die allergrößte Eile anzuempfehlen, damit man nicht zu spät in die Kirche käme.

Der Zug bestand aus zwei Wagen. In dem ersten saßen Fräulein Bravassa, die vierte Brautjungfer, Madame Crummles, der Steuereinnehmer und Herr Folair, der bei dieser Gelegenheit zum Führer des Bräutigams erwählt worden war. In dem andern befanden sich die Braut, Herr Crummles, Fräulein Snevellicci, Fräulein Ledrook und das Wunderkind. Die Kostüme konnten prachtvoll genannt werden. Die Brautjungfern waren über und über mit künstlichen Blumen bedeckt, und das Wunderkind verschwand beinahe ganz in einer tragbaren Laube, in die man es gesteckt hatte. Die romantische Ledrook trug an ihrer Brust das Miniaturbild eines unbekannten Offiziers, das sie nicht lange vorher – eine wertvolle Erwerbung – auf einer Versteigerung erstanden hatte. Die anderen Damen entfalteten prachtvolle Garnituren imitierter Juwelen, die sich von echten kaum unterscheiden ließen, Madame Crummles aber trug eine ernste und düstere Majestät zur Schau, die die Bewunderung aller Zuschauer auf sich zog.

Am auffallendsten und eindrucksvollsten machte sich jedoch die Erscheinung des Herrn Crummles, der den Brautvater vorstellte und infolge eines originellen und glücklichen Gedankens sich für diese Rolle durch eine Theaterperücke, wie man sie auf alten Münzen sieht, einen schnupftabakfarbigen Anzug nach dem Schnitt des vorigen Jahrhunderts, grauseidene Strümpfe und Schnallenschuhe zustutzte. Um seinem angenommenen Charakter noch mehr Ehre zu machen, hatte er sich entschlossen, den Tiefgerührten zu spielen, weshalb denn auch, als er in die Kirche trat, das Schluchzen des zärtlichen Vaters so herzzerreißend wurde, daß ihm der Küster den Rat gab, er möchte sich in die Sakristei zurückziehen und vor dem Beginn der Feierlichkeit durch ein Glas Wasser stärken.

Der Gang durch die Kirche war wunderschön. Die Braut und vier Brautjungfern bildeten eine zum voraus einstudierte Gruppe. Der Steuereinnehmer ging vor seinem Führer her, der zur unbeschreiblichen Belustigung einiger Theaterfreunde, die von der Empore aus zusahen, den Gang und die Gebärden des Bräutigams nachäffte. Diesem folgte in wankender und unsicherer Haltung Herr Crummles, und Madame Crummles beobachtete ihren gewohnten Theatergang, in dem stets ein Schritt mit einer Pause abwechselte. Mit einem Wort, die Prozession war das Vollkommenste, was je ein Menschenauge gesehen hatte. Die Trauung ging ungemein rasch vonstatten; und nachdem sich alle Anwesenden in das Kirchenregister eingeschrieben hatten (zu welchem Zwecke Herr Crummles, als die Reihe an ihn kam, sorgfältig eine ungeheure Brille abwischte und auf die Nase setzte), kehrten sie in ungemein heiterer Stimmung zum Frühstück zurück. Hier fanden sie auch Nicolaus, der ihrer Ankunft harrte.

»Wohlan jetzt«, sagte Crummles, der Madame Grudden in den Vorbereitungen, die übrigens in einem großartigeren Maßstabe, als dem Steuereinnehmer gutdünken mochte, ausgeführt worden waren, Beistand geleistet hatte, »zum Frühstück! zum Frühstück!«

Es bedurfte keiner zweiten Einladung. Die Gesellschaft drückte sich an dem Tisch, so gut es gehen wollte, zusammen und griff ohne weitere Umstände zu. Fräulein Petowker wurde jedesmal bis über die Ohren rot, wenn sie jemand ansah, und aß sehr viel, wenn sie niemand ansah. Herr Lillyvick aber ging mit dem besonnenen Entschluß ans Werk, da alle diese guten Happen doch aus seinem Beutel bezahlt werden müßten, den Crummles‘ so wenig wie möglich übrig zu lassen.

»Das war sehr bald abgetan, Sir – haben Sie’s nicht auch so gefunden?« fragte Herr Folair den Steuereinnehmer, sich nach dem genannten Herrn über den Tisch beugend.

»Was war abgetan, Sir?« entgegnete Herr Lillyvick.

»Das Zusammenknüpfen – das Angebundenwerden an eine Frau«, versetzte Herr Folair. »Es hat nicht lange gedauert – oder?«

»Nein, Sir«, erwiderte Herr Lillyvick errötend, »es dauerte nicht lange. Und was weiter, Sir?«

»Ach nichts«, sagte der Schauspieler. »Man braucht nicht lange, um sich zu hängen – so oder so. Hab ich nicht recht? Ha, ha, ha!«

Herr Lillyvick legte Messer und Gabel nieder und sah sich mit entrüsteter Verwunderung an dem Tische um.

»Sich zu hängen?« wiederholte Herr Lillyvick.

Ein tiefes Schweigen herrschte in der ganzen Gesellschaft; denn Herrn Lillyvicks würdevolle Miene ging über alle Beschreibung.

»Sich zu hängen?« rief Herr Lillyvick abermals. »Will man in dieser Gesellschaft einen Vergleich zwischen Heiraten und Hängen ziehen?«

»In beiden handelt sich’s bekanntlich um den Knoten«, bemerkte Herr Folair etwas verblüfft.

»Um einen Knoten, Sir?« entgegnete Herr Lillyvick. »Wagt es jemand, in meiner Gegenwart von einem Knoten und Henriette Pe – –«

»Lillyvick«, verbesserte Herr Crummles.

»– und Henriette Lillyvick in einem Atem zu sprechen?« fuhr der Steuereinnehmer fort. »Müssen wir in diesem Hause in Gegenwart von Herrn und Madame Crummles, die eine talentvolle und tugendhafte Familie zu Segnungen des Himmels, zu Wunderkindern und zu Gott weiß was erzogen haben, von Knoten sprechen hören?«

»Folair«, sagte Herr Crummles, der infolge dieser Anspielung auf ihn und sein Ehegemahl die Angelegenheit als einen Ehrenpunkt nehmen zu müssen glaubte, »Sie setzen mich in Erstaunen.«

»Wüßte nicht, inwiefern«, versetzte der unglückliche Witzmacher. »Was hab‘ ich denn verbrochen?«

»Verbrochen, Sir?« rief Herr Lillyvick. »Sie haben einen Streich geführt auf das ganze Gebäude der menschlichen Gesellschaft.«

»Und auf die edelsten und zartesten Gefühle«, fügte Crummles bei, die Rolle des Brautvaters wieder aufnehmend.

»Und die höchsten und achtbarsten geselligen Bande«, erklärte der Steuereinnehmer. »Knoten! Als ob man gefangen und an den Füßen gebunden in den Stand der heiligen Ehe träte und nicht aus freiem Willen und hohem Selbstbewußtsein die feierliche Handlung beginge!«

»Eine derartige Deutung kam mir nicht entfernt in den Sinn«, entgegnete der Schauspieler; »doch da Sie die Sache empfindlich nehmen, so erkläre ich, daß mir meine Bemerkung leid tut. Mehr kann ich nicht sagen.«

»Sie muß Ihnen auch leid tun«, erwiderte Herr Lillyvick, »und es freut mich, zu hören, daß Sie wenigstens noch so viel Ehrgefühl im Leibe haben.«

Da der Streit durch diese Erklärung abgetan zu sein schien, hielt es Madame Lillyvick, weil jetzt die Aufmerksamkeit der Gesellschaft nicht länger zerstreut war, für passend, in Tränen auszubrechen und den Beistand aller vier Brautjungfern in Anspruch zu nehmen, der auch, jedoch nicht ohne einige Verwirrung, geleistet wurde; denn das Zimmer war klein und das Tafeltuch lang, und so wurde bei der ersten Bewegung ein Eßservice über den Tisch hinuntergefegt. Ungeachtet dieses Unfalls wies jedoch Madame Lillyvick jeden Trost zurück, bis endlich die kriegführenden Parteien ihr versprochen hatten, den Streit nicht weiterzuführen, wozu sie sich denn nach reichlich bekundetem Widerstreben bewegen ließen. Aber von dieser Zeit an saß Herr Folair in verdrießlichem Schweigen da, indem er sich damit begnügte, wenn etwas danach gesprochen wurde, Nicolaus ins Bein zu kneifen, um dadurch seine Verachtung gegen den Sprecher sowohl, als gegen die ausgesprochenen Gefühle kundzutun.

Es wurde nun eine Reihe von Reden gehalten, eine von Nicolaus, eine von Crummles und eine von dem Steuereinnehmer; zwei von den jungen Herrn Crummles‘, um für sich selbst ihren Dank abzustatten, und eine von dem Wunderkind im Namen der Brautjungfern, wobei Madame Crummles Tränen vergoß. Dann ging es an ein Singen, Fräulein Ledrook und Fräulein Bravassa ließen sich hören, und wahrscheinlich wäre die Reihe auch noch an andere gekommen, wenn nicht der Mietkutscher, der das glückliche Paar nach Ryde bringen sollte, wo es das Dampfboot besteigen wollte, die Erklärung abgegeben hätte, daß er, wenn seine Passagiere nicht auf der Stelle kämen, achtzehn Pence über das Bedungene fordern würde.

Diese verzweifelte Drohung sprengte die Gesellschaft auseinander. Nach einem überaus pathetischen Abschied reiste Herr Lillyvick mit seiner höchst liebenswürdigen Braut nach Ryde ab, wo sie die nächsten zwei Tage in tiefster Zurückgezogenheit zubringen wollten. Das Wunderkind begleitete sie; denn Herr Lillyvick hatte sie deshalb ausdrücklich zur Reisebrautjungfer erkoren, weil die Inhaber des Dampfbootes durch ihre Kleinheit getäuscht werden sollten und dann nur den halben Passagierpreis berechnen konnten. Da an diesem Abend kein Theater war, so erklärte Herr Crummles, daß man bis zum letzten Tropfen beisammenbleiben sollte. Aber Nicolaus, der des andern Abends zum erstenmal den Romeo spielen sollte, benutzte eine gelegentliche kleine Aufregung, die durch unerwartet deutliche Symptome von Trunkenheit in dem Benehmen der Madame Grudden veranlaßt wurde, und schlich sich fort.

Nicolaus wurde zu diesem Ausrücken nicht bloß durch seine eigene Neigung, sondern auch durch seine Besorgnisse wegen Smike veranlaßt, der in der Rolle des Apothekers auftreten sollte und von derselben bis jetzt noch nichts als den allgemeinen Begriff hatte in den Kopf bringen können, daß er sehr hungrig wäre. Das hatte er – vielleicht infolge alter Erinnerungen – sehr bald kapiert. »Ich weiß nicht, was da zu tun ist, Smike«, sagte Nicolaus, das Buch niederlegend. »Ich fürchte, du kannst deine Rolle nicht lernen, armer Kerl.«

»Das würde mir keine Mühe machen«, sagte Smike kopfschüttelnd. »Ich denke, wenn Sie – aber das würde Ihnen zu viele Mühe verursachen.«

»Was meinst du?« fragte Nicolaus. »Um mich darfst du unbesorgt sein.«

»Ich denke«, entgegnete Smike, »wenn Sie mir’s einigemal in kurzen Sätzen vorsagen wollten, so würde ich wohl imstande sein, es zu behalten.«

»Meinst du?« erwiderte Nicolaus. »Wohlan, wir wollen sehen, wer zuerst müde wird. Ich gewiß nicht, Smike. Beginnen wir also. ›Wer ruft so laut?‹«

»›Wer ruft so laut?‹« sagte Smike.

»›Wer ruft so laut?‹« wiederholte Nicolaus.

»›Wer ruft so laut?‹« schrie Smike.

So fuhren sie fort, sich gegenseitig zu fragen, wer so laut rufe; und als sich Smike dieses gemerkt hatte, ging Nicolaus zu einem weiteren Satz und dann zu zweien und endlich zu dreien auf einmal über, bis gegen Mitternacht der arme Smike zu seiner unaussprechlichen Freude fand, daß er wirklich etwas von seiner Rolle gelernt hätte.

Am andern Morgen früh ging das Examen aufs neue an, und Smike, der durch die bereits gemachten Fortschritte zuversichtlicher wurde, lernte schneller und besser. Sobald er die Worte ordentlich eingelernt hatte, zeigte ihm Nicolaus, wie er seine beiden Hände auf den Magen halten und denselben hin und wieder reiben müsse. Damit sollte er der bei dem Theatervolk üblichen pantomimischen Andeutung, daß man essen möchte, nachkommen. Nach der Morgenprobe gingen sie wieder ans Werk und fuhren fort, bis es Zeit war, abends im Theater zu erscheinen, indem sie ihre Studien nur durch ein eilig eingenommenes Mittagessen unterbrachen.

Nie hatte ein Lehrer einen aufmerksameren, bescheideneren und lernbegierigeren Schüler, aber auch nie ein Schüler einen geduldigeren, unermüdlicheren, umsichtigeren und wohlwollenderen Lehrer.

Sogar als sie schon angekleidet waren, und sooft Romeo nicht in der Szene zu erscheinen hatte, setzte Nicolaus seinen Unterricht fort. Er führte zu einem günstigen Erfolge. Romeo wurde mit dem lebhaftesten Beifall aufgenommen und Smike einstimmig, sowohl von dem Publikum wie von den Schauspielern, für den König aller Apotheker erklärt.

Siebzehntes Kapitel.


Siebzehntes Kapitel.

Käthchen Nicklebys weitere Schicksale.

Mit schwerem Herzen und vielen trüben Vorahnungen, die sie trotz aller Mühe nicht zu verbannen vermochte, verließ Käthchen Nickleby um dreiviertel auf acht Uhr des Morgens, der zu ihrem Eintritt in Madame Mantalinis Geschäft bestimmt war, die City und suchte allein mitten durch das Geräusch und die Geschäftigkeit der Straßen ihren Weg nach dem Westen Londons.

In dieser frühen Stunde sieht man viele dahinsiechende Mädchen durch die Straßen ihrem Geschäft nacheilen, das, wie das jenes armen Wurmes, darin besteht, mit unermüdlicher Emsigkeit den Schmuck zu schaffen, der die Üppigen und Gedankenlosen bedeckt. Auf diesem hastigen Gange nach dem Schauplatze ihrer täglichen Mühe fangen sie fast verstohlen den einzigen Atemzug gesunder Luft und den einzigen Sonnenblick auf, die ihr einförmiges Dasein während der langen Kette von Stunden, die einen Arbeitstag ausmachen, erheitern. Als sich Käthchen dem fashionableren Teil der Stadt näherte, bemerkte sie im Vorbeigehen manche Geschöpfe dieser Klasse, die, wie sie selbst, einer mühevollen Beschäftigung entgegeneilten, und erkannte aus ihrem ungesunden Aussehen und ihrem matten Gang nur zu deutlich, daß ihre Besorgnisse nicht ganz grundlos wären.

Sie langte bei Madame Mantalinis Hause einige Minuten vor der bestimmten Stunde an und ging einige Male, in der Hoffnung, ein anderes Frauenzimmer möchte kommen und ihr dadurch die Verlegenheit ersparen, ihr Anliegen dem Diener vortragen zu müssen, vor demselben auf und ab. Endlich aber wagte sie es, furchtsam an die Tür zu klopfen; sie wurde nach einigem Zögern durch den Diener geöffnet, der eben erst auf der Stiege sein gestreiftes Wams angezogen hatte und jetzt im Begriff war, eine Schürze vorzubinden.

»Ist Madame Mantalini zu Hause?« stotterte Käthchen.

»Sie geht zu dieser Stunde selten aus, mein Fräulein«, versetzte der Diener mit einem Ton, der das ›mein Fräulein‹ sogar noch beleidigender machte, als wenn er ›mein Schatz‹ gesagt hätte.

»Kann ich sie sprechen?« fragte Käthchen.

»Wie?« entgegnete der Mann, die Tür in der Hand haltend, indem er die Fragerin mit einem unverschämten Grinsen anstierte; »Es ist nicht daran zu denken.«

»Ich komme aber auf ihr eigenes Geheiß«, sagte Käthchen: »ich bin – ich soll – hier Beschäftigung finden.«

»Ah, da hätten Sie die Klingel für die Arbeiterinnen ziehen sollen«, versetzte der Diener, indem er den Griff derselben neben der Tür berührte. »Doch, wir wollen sehen – wenn ich nicht irre, Fräulein Nickleby?«

»Ja«, erwiderte Käthchen.

»Wollen Sie dann nur gefälligst die Stiege hinaufgehen«, sagte der Diener. »Madame Mantalini wünscht Sie zu sehen – hier hinauf – nehmen Sie die Sachen auf dem Boden in acht.«

Mit diesen Worten der Warnung, nicht über ein buntes Gewirre von Pastetenbrettern, Lampen, Flaschengestellen und umgeworfenen Stühlen, das alles in der Halle umherlag und auf ein Gelage der letzten Nacht hindeutete, zu stolpern, ging der Diener nach dem zweiten Stock voran und führte Käthchen in ein Hinterzimmer, das durch Flügeltüren mit dem Gemach, in dem sie die Modehändlerin zum erstenmal gesehen hatte, in Verbindung stand.

»Wenn Sie sich hier einen Augenblick gedulden wollen, so werde ich ihr sogleich Ihre Anwesenheit melden«, sagte der Diener.

Nach diesem mit der freundlichsten Miene gegebenen Versprechen entfernte er sich und ließ Käthchen allein.

Das Gemach enthielt nicht viel, woran man sich hätte unterhalten können. Das Hervorragendste war ein in Öl gemaltes Brustbild des Herrn Mantalini, den der Künstler dargestellt hatte, wie er sich ungezwungen am Kopf kratzte, um einen Diamantring, ein Geschenk der Madame Mantalini vor der Hochzeit, auf die vorteilhafteste Weise ins Auge fallen zu lassen. Im nächsten Zimmer hörte man jedoch einige Stimmen; und da die Unterhaltung ziemlich laut und die Wand dünn war, so entdeckte Käthchen im Augenblick, daß sie Herrn und Frau Mantalini gehörten.

»Wenn du so gehässig und abscheulich eifersüchtig sein willst, meine Seele, so wirst du dich selber sehr elend – schrecklich elend – verteufelt elend machen.«

Nach diesem ließ sich ein Ton vernehmen, als ob Herr Mantalini Kaffee schlürfe.

»Ach, ich bin schon elend«, erwiderte Madame Mantalini, augenscheinlich sehr übel gelaunt.

»Dann bist du eine undankbare, abscheuliche, verteufelt böse, kleine Zauberin«, entgegnete Herr Mantalini.

»Das bin ich nicht«, entgegnete Madame Mantalini schluchzend.

»Bringe dich nicht selbst in üble Laune«, sagte Herr Mantalini, ein Ei aufschlagend. »Du hast ein so schönes, bezauberndes, verteufeltes Gesichtchen, aber du solltest keinem Unmut darauf Raum geben, denn er beraubt es seiner Liebenswürdigkeit und macht es finster und widerwärtig, wie das eines schrecklichen, abscheulichen, verteufelten Kobolds.«

»Auf diese Weise wirst du mich nimmermehr beschwatzen«, versetzte Madame Mantalini schmollend.

»Je nun, so geht’s vielleicht auf eine lindere, oder meinetwegen auch auf gar keine«, entgegnete Herr Mantalini, mit dem Eilöffel nach seinem Munde fahrend.

»Diese leichten Reden –« sagte Frau Mantalini.

»Nicht so leicht, wenn man ein so verteufeltes Ei ißt«, erwiderte Herr Mantalini; »denn das Dotter läuft einem die Weste hinunter, und Eidotter paßt nicht gut mit einer Weste zusammen, es müßte denn eine verteufelte gelbe sein.«

»Du hast bei ihr die ganze Nacht den Schmetterling gemacht«, sprach Madame Mantalini, die augenscheinlich die Unterhaltung nach dem Punkte zurückzuführen wünschte, von dem sie abgeschweift war.

»Nein, nein, mein Leben.«

»Ja, sage ich«, versetzte Madame; »ich habe dich die ganze Zeit über im Auge gehabt.«

»Ach, dieses himmlische, allerliebste Auge – es war also die ganze Zeit auf mich gerichtet?« rief Mantalini in einer Art schläfrigen Entzückens: »ei der Teufel!«

»Und ich sage dir noch einmal«, nahm Madame wieder auf, »daß du mit niemandem als mit deiner Frau walzen sollst. Ich lasse mir’s nicht gefallen, Mantalini, und würde lieber Gift nehmen.«

»Ach was, sie wird kein Gift nehmen und schreckliche Schmerzen ausstehen«, sagte Mantalini, der, dem veränderten Ton seiner Stimme nach zu schließen, seinen Stuhl dem seiner Gattin genähert hatte, »sie wird kein Gift nehmen, weil sie einen verteufelt schönen Mann hat, der zwei Gräfinnen hätte heiraten können und eine Witwe –«

»Zwei Gräfinnen?« fiel Madame Mantalini ein: »du sagtest mir früher nur von einer.«

»Zwei«, beteuerte Mantalini, »zwei verteufelt schöne Damen, wirkliche Gräfinnen und unermeßlich reich, hol mich der Teufel.«

»Und warum tatest du’s nicht?« fragte Madame neckend.

»Warum ich’s nicht tat?« entgegnete ihr Gatte. »Hatte ich nicht in einem Morgenkonzert die verteufeltste kleine Zauberin aus der ganzen Welt gesehen? Und da diese kleine Zauberin gegenwärtig meine Frau ist, können da nicht alle Gräfinnen und Witwen in England zum –«

Herr Mantalini beendigte seinen Satz nicht, sondern gab Madame Mantalini einen sehr lauten Kuß, der von Madame Mantalini erwidert wurde; dann schienen noch mehrere Küsse von Zeit zu Zeit das Geschäft des Frühstücks zu unterbrechen.

»Und wie sieht es in der Kasse aus, du Juwel meines Daseins?« fragte Mantalini, als er mit diesen Liebkosungen zu Ende gekommen war. »Über wieviel können wir verfügen?«

»Nur über sehr wenig«, versetzte Madame.

»So müssen wir mehr beschaffen«, entgegnete Mantalini. »Der alte Nickleby muß uns wieder einen Vorschuß zahlen, daß wir uns durchschlagen können.«

»Du kannst aber doch im gegenwärtigen Augenblick nicht das Geld nötig haben?« fragte Madame einschmeichelnd.

»Mein Leben und meine Seele«, erwiderte ihr Gatte, »bei Scrubbs steht ein Pferd zum Verkauf, und es wäre Sünde und Schande, wenn man dieses hinausließe – man hat’s umsonst, Wonne meiner Augen.«

»Umsonst?« rief Madame. »Das freut mich.«

»Ein wahres Nichts«, versetzte Mantalini. »Für hundert Guineen kann man’s haben; Mähne, Hals, Schwanz, alles von der verteufeltsten Schönheit. Ich will darauf im Park gerade vor dem Wagen der verschmähten Gräfinnen herreiten. Die verteufelte alte Witwe wird vor Schmerz und Wut in Ohnmacht fallen, und die beiden anderen werden sagen: »Er ist verheiratet, er ist unsern Liebesnetzen entwischt – ein verteufeltes Ding, jetzt ist alles aus.« Sie werden sich gegenseitig teufelmäßig hassen und dich tot und begraben wünschen. Ha! ha! zum Teufel!«

Madame Mantalinis Klugheit, wenn sie überhaupt welche besaß, war nicht gegen diese Bilder ihres Triumphs gewaffnet. Sie klimperte ein wenig mit den Schlüsseln und erklärte, daß sie nachsehen wolle, was sich in ihrem Pult befände. Zu diesem Zweck öffnete sie die Flügeltür und trat in das Zimmer, wo Käthchen saß.

»Du lieber Himmel«, rief Madame Mantalini, überrascht zurückprallend: »wie kamen Sie hierher, mein Kind?«

»Kind?« rief Mantalini hereineilend. »Wie kam es – eh! oh – zum Teufel, wie geht es Ihnen?«

»Ich warte hier schon einige Zeit, Madame«, erklärte Käthchen gegen Madame Mantalini. »Vermutlich hat der Diener vergessen, Ihnen zu sagen, daß ich hier bin.«

»Du mußt wirklich diesem Burschen einmal etwas am Zeuge flicken«, sagte Madame zu ihrem Gatten.

»Ich will ihm seine verteufelte Nase aus dem Gesicht reißen, weil er so ein schönes Wesen hier ganz allein läßt«, sagte der Gatte.

»Mantalini«, rief Madame, »du vergissest dich.«

»Ich vergesse dich nicht, meine Seele, und kann und werde dich nie vergessen«, versetzte Mantalini, die Hand seiner Gattin küssend, indem er zugleich heimlich Fräulein Nickleby, die sich jedoch verächtlich abwandte, ein Gesicht zuschnitt.

Durch diese Schmeichelei beschwichtigt, nahm Madame Mantalini einige Papiere aus ihrem Schreibpult und händigte sie ihrem Gatten ein, der sie mit großem Vergnügen hinnahm. Sie forderte dann Käthchen auf, ihr zu folgen, und nach einigen vergeblichen Versuchen von seiten des Herrn Mantalini, die Aufmerksamkeit der jungen Dame auf sich zu ziehen, entfernten sie sich und ließen den würdigen Mann allein, der der vollen Länge nach auf dem Sofa ausgestreckt und die Füße nach oben gekehrt ein Zeitungsblatt in der Hand hielt.

Madame Mantalini führte Käthchen eine Stiegenflucht hinunter und über einen Gang nach einem großen Hinterzimmer, wo eine Anzahl junger Frauenzimmer mit Nähen, Zuschneiden, Ausputzen, Verändern und noch verschiedenen anderen Verrichtungen beschäftigt waren, die übrigens nur denen bekannt sind, die sich auf die Kunst des Putz- und Kleidermachens verstehen. Es war ein enges Zimmer, in das das Licht durch eine Öffnung in der Decke hereinfiel, und so düster und abgeschlossen, wie ein Zimmer nur sein kann.

Madame Mantalini rief laut nach Mamsell Knag, worauf sich sogleich ein kleines, geschäftiges, wichtigtuendes, überladen gekleidetes Frauenzimmer vorstellte, während alle anwesenden Mädchen einen Augenblick in ihren Beschäftigungen innehielten, sich gegenseitig kritische Bemerkungen über den Schnitt und Stoff von Käthchens Anzug zuflüsterten und auch ihr ganzes Äußere mit demselben guten Ton musterten, wie es die allerbeste Gesellschaft in einem gedrängt vollen Ballsaale tun würde.

»Mamsell Knag, das ist die junge Person, von der ich mit Ihnen gesprochen habe«, begann Madame Mantalini.

Mamsell Knag erwiderte diese Vorstellung durch ein achtungsvolles Lächeln, was sie gegen Käthchen gar geschickt in ein herablassendes umzuwandeln wußte, und erklärte dann, daß man zwar mit jungen Leuten, die an das Geschäft nicht gewöhnt wären, viele Mühe hätte; sie sei indes überzeugt, daß die junge Person ihr Bestes tun würde, wie sie denn in dieser Überzeugung bereits schon jetzt Interesse für Käthchen empfände.

»Ich denke, es wird vorderhand am besten sein, wenn Mamsell Nickleby mit Ihnen in das Ankleidezimmer geht und den Damen die Sachen anpassen hilft«, sagte Madame Mantalini. »Sie wird sich jetzt noch in keiner andern Weise nützlich machen können, und ihr Äußeres –«

»Paßt ganz zu dem meinigen, Madame Mantalini«, fiel Mamsell Knag ein. »Es ließ sich freilich erwarten, daß Ihnen dieser Punkt ins Auge fiel; denn Sie haben in allen derartigen Dingen so viel Geschmack, daß ich in der Tat den jungen Damen oft sage, ich könne gar nicht begreifen, wie, wann und wo es Ihnen nur möglich geworden sei, all das zu lernen, was Sie wissen. Hm – Mamsell Nickleby und ich sind ein ganz geeignetes Paar, Madame Mantalini, nur ist mein Teint ein wenig dunkler als der ihre, und – hm – ich glaube, mein Fuß wird ein wenig kleiner sein. Gewiß, Mamsell Nickleby wird mir nicht übelnehmen, daß ich so spreche, wenn sie hört, daß unsere Familie immer um ihrer kleinen Füße willen berühmt war, – seit – hm – seit, glaube ich, unsere Familie überhaupt Füße besaß. Ich hatte einmal einen Onkel, Madame Mantalini, der in Cheltenham wohnte und eine sehr ausgedehnte Tabaksfabrik besaß; – hm – dieser hatte so kleine Füße, nicht größer als die, die man gewöhnlich an hölzernen Beinen anbringt – Füße mit so schönem Ebenmaß, Madame Mantalini, wie Sie sich’s nur denken können.«

»Sie mögen wohl einige Ähnlichkeit mit den Klumpfüßen gehabt haben, Mamsell Knag«, sagte Madame.

»Ach, herrlich, herrlich, das sieht Ihnen ganz gleich«, entgegnete Mamsell Knag, »ha! ha! ha! Klumpfüße – in der Tat sehr gut! Wie oft äußerte ich gegen die jungen Damen, das muß ich gestehen, und ich kümmere mich nicht darum, wer es hört, ›von allem treffenden Witze‹ –hm – ›von dem ich je gehört habe‹, und ich habe viel gehört; denn als mein Bruder noch lebte (ich führte seine Wirtschaft, Mamsell Nickleby), hatten wir jede Woche zwei oder drei junge Männer beim Abendessen, die wegen ihres Witzes in hohem Ruf standen, Madame Mantalini – ›von allem treffenden Witz‹, sage ich den jungen Damen, ›von dem ich je gehört habe, ist der von Madame Mantalini der pikanteste‹ – hm! Er ist so edel, so sarkastisch und doch so gutmütig, daß es mir, wie ich erst diesen Morgen noch gegen Mamsell Simmonds behauptete, ein wahres Rätsel ist, wie, wann oder durch was für Mittel Sie dazu gekommen sind.«

Hier hielt Mamsell Knag inne, um Atem zu schöpfen, und während dieser Pause wollen wir bemerken, nicht daß sie wunderbar geschwätzig und wunderbar unterwürfig gegen Madame Mantalini war, – denn dies sind Tatsachen, die keines weiteren Kommentars bedürfen, – sondern daß es ihre Gewohnheit war, hin und wieder in den Strom ihrer Rede ein lautes, schrilles und helles ›Hm!‹ einzuflechten, dessen Sinn von ihren Bekannten auf eine verschiedene Weise gedeutet wurde. Einige hielten dafür, daß Mamsell Knag sich gern in Übertreibungen ergehe und diese kleine Silbe mit einlaufen lasse, wenn sie im Begriff sei, einen neuen in diese Klasse gehörenden Einfall in ihrem Gehirn auszuprägen, während andere der Ansicht waren, daß sie diese hinwerfe, um, wenn es ihr an einem Worte gebreche, Zeit zu gewinnen und doch dabei zu verhindern, daß ihr jemand in die Rede falle. Wir müssen ferner darauf aufmerksam machen, daß Mamsell Knag noch immer für jung gelten wollte, obgleich sie schon ziemlich hoch in Jahren stand, und daß man sie um ihrer Schwäche und Eitelkeit willen zu den Personen zählen konnte, die am besten durch den Ausdruck geschildert werden, man könne ihnen trauen, so weit man sie sehe, aber nicht weiter.

»Sie werden Sorge dafür tragen, daß Mamsell Nickleby ihre Stunden und das Weitere kennenlernt«, sagte Madame Mantalini, »ich überlasse sie daher jetzt Ihrer Obhut. Sie werden meine Anweisungen nicht vergessen, Mamsell Knag?«

Mamsell Knag entgegnete natürlich, daß es eine moralische Unmöglichkeit wäre, etwas zu vergessen, was Madame Mantalini befohlen hatte, worauf denn diese Dame nach einem allgemeinen guten Morgen gegen die Arbeiterinnen von dannen segelte.

»Eine bezaubernde Dame, – nicht wahr, Mamsell Nickleby?« fragte Mamsell Knag, sich die Hände reibend.

«Ich habe noch sehr wenig von ihr gesehen«, antwortete Käthchen, »und kann mir daher kaum ein Urteil erlauben.«

»Haben Sie schon Herrn Mantalini gesehen?« fragte Mamsell Knag.

»Ja, ich bin ihm schon zweimal begegnet.«

»Ist er nicht ein ganz charmanter Mann?«

»Er ist mir durchaus nicht so vorgekommen«, versetzte Käthchen.

»Nicht?« rief Mamsell Knag, ihre Hände zusammenschlagend. »Ei, barmherziger Himmel, wie sieht es mit Ihrem Geschmack aus! So ein schöner, schlanker, glänzender, vornehm aussehender Herr mit solchen Haaren, solchem Backenbart und – hm – nein, Sie setzen mich in Erstaunen!«

»Ich will wohl glauben, daß ich recht töricht bin, aber da meine Ansicht weder für ihn, noch für jemand anders einen besondern Wert hat, so bedaure ich nicht, sie gewonnen zu haben, wie ich auch nicht glaube, daß ich sie so schnell ändern werde.«

»Aber halten Sie ihn nicht für einen sehr hübschen Mann?« fragte eine der jungen Damen.

»Das mag wohl sein; jedenfalls maße ich mir nicht an, das Gegenteil zu behaupten«, antwortete Käthchen.

»Und hält sehr schöne Pferde – ist’s nicht so?« fragte eine andre.

»Ich will das nicht in Abrede ziehen, da ich sie nie gesehen habe«, antwortete Käthchen.

»Sie nie gesehen?« fiel Mamsell Knag ein. »O dann finde ich’s wohl begreiflich, denn wie könnten Sie ein richtiges Urteil über einen Herrn fällen – hm – wenn Sie ihn nicht gesehen haben, wie sich seine ganze Figur macht.«

Es lag so viel von der Welt – sogar von der kleinen Welt des Landmädchens – in diesem Einfall der alten Putzmacherin, daß Käthchen, die der Unterhaltung gerne eine andere Richtung gegeben hätte, sich keine weitere Bemerkung erlaubte und Mamsell Knag im vollen Besitze des Sieges ließ.

Nach einem kurzen Schweigen, währenddessen die Mädchen Käthchens Äußeres einer genaueren Beaugenscheinigung würdigten und ihre Ansichten darüber sich gegenseitig mitteilten, erbot sich eine davon, ihr das Halstuch abzunehmen, und fragte, als das Anerbieten angenommen wurde, ob sie sich in ihrer schwarzen Tracht nicht sehr unbehaglich fühle.

»Ach freilich«, versetzte Käthchen mit einem bittern Seufzer.

»So staubig und heiß«, bemerkte dieselbe Sprecherin, indem sie ihr das Kleid zurechtrückte.

Käthchen hätte sagen können, daß Schwarz die kälteste Tracht sei, die der Mensch anlegen kann, daß es nicht allein die Brust, die sie bedeckt, durcheist, sondern auch ihren Einfluß auf die Sommerfreunde ausdehnt, indem sie die Quellen ihres Wohlwollens und ihrer Teilnahme erstarren und die Knospen der Versprechungen, die sonst so reichlich wucherten, ersterben macht und nichts zurückläßt als nackte, kranke Herzen. Es gibt wenige, die, wenn sie einen Freund oder Verwandten verloren haben, an dem ihre einzige Lebenshoffnung hing, nicht den erkältenden Einfluß ihres schwarzen Gewandes bitter empfunden hätten. Auch auf Käthchen hatte er schwer gelastet, und da sie ihn auch in dem gegenwärtigen Augenblick fühlte, so konnte sie ihre Tränen nicht zurückhalten.

»Ach, es tut mir außerordentlich leid, Sie durch meine Unbedachtsamkeit verletzt zu haben«, sagte die Putzmachermamsell. »Sie trauern um irgendeinen nahen Verwandten?«

»Um meinen Vater«, antwortete Kätchen weinend.

»Um wen, Mamsell Simmonds?« fragte Mamsell Knags mit vernehmlicher Stimme.

»Um ihren Vater«, entgegnete die andere leise.

»Ihren Vater – wie?« fuhr Mamsell Knag in demselben Tone fort. »Ah, wahrscheinlich eine lange Krankheit, Mamsell Simmonds.«

»Pst – bitte«, erwiderte das Mädchen; »ich weiß es nicht.«

»Unser Unglück überfiel uns sehr unverhofft«, sagte Käthchen sich abwendend, »sonst wäre ich vielleicht zu einer Zeit, wie diese, imstande, es besser zu ertragen.«

Das Arbeiterinnenpersonal war, der unabänderlichen Gewohnheit zufolge, wenn irgendeine neue ›junge Person‹ ins Geschäft trat, nicht wenig neugierig gewesen, das Wer, Was und Warum von Käthchen zu erfahren. Aber obgleich das Äußere und die Gemütserregung des jungen Mädchens diesen Wunsch nur vermehren konnte, so reichte doch die Überzeugung, daß es sie schmerzen würde, wenn man sie darnach fragte, zu, diesen zu unterdrücken, weshalb denn auch Mamsell Knag den Versuch, weitere Kundschaft einzuziehen, vorderhand als hoffnungslos aufgab und – obgleich ungern – ihre Gehilfinnen an die Arbeit gehen ließ.

Die Mädchen arbeiteten in stummer Emsigkeit bis halb zwei Uhr fort, um welche Zeit eine gebratene Hammelkeule mit Kartoffeln in der Küche aufgetragen wurde. Als die Mahlzeit vorüber war und sich die jungen Damen der weiteren Erholung des Händewaschens erfreut hatten, ging es wieder ans Geschäft, das schweigend fortgesetzt wurde, bis der Lärm von Wagen, die durch die Straßen rasselten, und laute Doppelschläge an den Türen das Zeichen gaben, daß das Tagewerk der beglückteren Mitglieder der menschlichen Gesellschaft seinen Anfang nehme.

Einer dieser Doppelschläge an Madame Mantalinis Tür verkündigte die Equipage irgendeiner großen Dame – oder besser, einer reichen, denn hin und wieder ist ein gar mächtiger Abstand zwischen Reichtum und Größe – die mit ihrer Tochter gekommen war, um einige Gesellschaftskostüme, die schon seit langer Zeit in Arbeit waren, anzuprobieren. Käthchen wurde beauftragt, nebst Mamsell Knag – natürlich unter dem Vortritt der Madame Mantalini – die Dame zu empfangen.

Käthchens Rolle bei diesem Prunkaufzug war bescheiden genug, da sich ihre ganze Obliegenheit darauf beschränkte, einige Modekostümstücke zu halten, bis Mamsell Knag bereit war, sie anzuprobieren, und hin und wieder eine Schleife zu knüpfen oder eine Hafte einzuhaken. Man hätte daher glauben sollen, daß diese untergeordnete Stellung sie der Anmaßung oder den Ausbrüchen übler Laune hätte entheben können. Zufälligerweise war aber die reiche Dame und ihre reiche Tochter an diesem Tage gar nicht guter Stimmung, und so fiel auch für das arme Mädchen ihr Anteil an Scheltworten ab. Sie war tölpisch – ihre Hände kalt – schmutzig – rauh; – kurz, sie konnte nichts recht machen. Man wunderte sich, wie Madame Mantalini solche Leute um sich dulden könne, verlangte, wenn man das nächste Mal wieder herkäme, ein anderes junges Frauenzimmer zu sehen usw.

Ein so alltägliches Ereignis würde kaum der Erwähnung wert sein, wenn wir seiner nicht um der Folgen willen, die es auf das arme Mädchen hervorbrachte, erwähnen müßten. Als die Damen fort waren, vergoß Käthchcn bittere Tränen und fühlte zum ersten Male das Demütigende ihrer Stellung. Ihr Mut war zwar allerdings schon bei der Aussicht auf Dienstbarkeit und schwere Arbeit sehr zusammengesunken. Aber sie hatte nichts Herabwürdigendes in dem Gedanken, um Brot zu arbeiten, gefühlt, bis sie sich dem Übermut und dem rohesten Stolz ausgesetzt sah. Eine philosophische Weltanschauung würde sie zwar gelehrt haben, daß das Erniedrigende eines solchen Benehmens auf seiten derer sei, die so tief gesunken waren, um ohne alle Ursache ihrer Leidenschaftlichkeit die Zügel schießen zu lassen. Sie war jedoch zu jung, um hierin einen Trost zu finden, und ihr Ehrgefühl fühlte sich gekränkt. Hat nicht vielleicht die Klage, daß gewöhnliche Leute gern über ihren Stand hinauswollen, oft ihren Grund nur in dem Umstand, daß nicht gewöhnliche Leute unter den ihrigen heruntersinken?

Unter solchen Auftritten und Beschäftigungen rückte die Feierabendstunde heran, und Käthchen enteilte, ermattet und entmutigt von den Vorgängen des Tages, dem engen Raum des Arbeitszimmers, um ihrer Mutter an der Straßenecke zu begegnen und nach Haus zu gehen – ein schmerzlicher Abendgang, denn sie mußte ihre wahren Empfindungen verbergen und sich stellen, als teile sie alle die glutvollen Träume ihrer Begleiterin.

»Ach du meine Güte, Käthchen«, sagte Frau Nickleby, »ich habe den ganzen Tag darüber nachgedacht, was es für eine köstliche Sache sein würde, wenn Madame Mantalini mit dir in Kompanie träte – und wie leicht wäre dies nicht möglich? Die Schwägerin eines Vetters deines armen lieben Vaters – ein Fräulein Browndock – trat in Kompanie mit einer Dame, die ein Erziehungsinstitut in Hammersmith hatte, und machte in ganz kurzer Zeit ihr Glück. Ich weiß nicht mehr so genau, ob diese Miß Browndock dieselbe war, die zehntausend Pfund in der Lotterie gewann; aber ich glaube beinahe so; nein, ich kann mich jetzt wieder ganz genau entsinnen – ich weiß ganz bestimmt, daß sie es war. ›Mantalini und Nickleby‹, wie gut das klingen würde! Und wenn Nicolaus nur ein wenig Glück hat, so kann er noch als Doktor Nickleby, Vorstand der Westminsterschule, mit dir in derselben Straße wohnen.«

»Der liebe Nicolaus!« rief Käthchen, indem sie den Brief ihres Bruders, den er zuletzt von Dotheboys Hall geschrieben hatte, aus dem Strickbeutel nahm. »Wie glücklich können wir sogar in all unserem Mißgeschick sein, Mama, da wir hören, daß es ihm gut geht, und aus seinem Brief entnehmen, daß er heiter ist. Ach, wie tröstet es mich bei allem, was über uns verhängt sein mag, wenn ich denke, daß er vergnügt und glücklich ist.«

Armes Käthchen, sie dachte wenig daran, wie schwach dieser Trost war und wie bald sie enttäuscht werden sollte.