Zweites Kapitel
Von Herrn Ralph Nickleby, seinen Geschäften und Unternehmungen; desgleichen von einer großen Aktiengesellschaft, die für das ganze Land von höchster Bedeutung ist.
Herr Ralph Nickleby war, im eigentlichen Sinne des Wortes, weder Kaufmann, noch Bankier, noch Notar, und man hätte ihn überhaupt nicht leicht irgendeinem bestimmten Gewerbe zuteilen können. Demungeachtet aber ließ sich aus dem Umstande, daß er in einem geräumigen Hause in Golden Square wohnte, das nebst einer Messingplatte an der Haustür eine zweite viel kleinere an dem Türpfosten linker Hand hatte, die sich an dem Messingmodell einer Kinderhand befand und die Aufschrift »Bureau« trug, entnehmen, daß Herr Ralph Nickleby irgendein Geschäft betrieb oder zu betreiben schien. Dies ging auch noch zum Überfluß aus der weiteren Tatsache hervor, daß zwischen halb zehn und fünf Uhr täglich ein Mann mit einem aschfahlen Gesicht und in einem rostbraunen Anzug zugegen war, der in einem speisekammerähnlichen Gemache am Ende der Hausflur auf einem ungewöhnlich harten Stuhl saß und stets eine Feder hinter dem Ohr hatte, wenn er auf den Ruf der Klingel die Haustür öffnete.
Golden Square ist ziemlich abgelegen; es hat seine Zeit durchlebt und gehört nunmehr unter die herabgekommenen Plätze, so daß nur wenige Geschäftsleute dort ihren Aufenthalt wählen. Die Wohnungen werden meistens vermietet, und die ersten und zweiten Stockwerke gewöhnlich bereits möbliert an ledige Herren abgegeben, die zugleich auch im Hause einen Kosttisch finden. Es ist der vorzugsweise Zufluchtsort der Fremden. Die sonnverbrannten Männergestalten mit großen Ringen, schweren Uhrketten und buschigen Backenbärten, die sich zwischen vier und fünf des Nachmittags unter der Säulenhalle des Opernhauses und um Herrn Seguins Bureau versammeln, sobald er es geöffnet hat, um die Logenbillets auszugeben – all diese leben in Golden Square oder in dessen Nähe. Einige Violinisten und ein Trompeter von der Opernbande haben hier ihren Wohnsitz aufgeschlagen. In den Kosthäusern wird musiziert, und die Töne der Klaviere und Harfen schwimmen in den Abendstunden um das Haupt der trauernden Statue, des Schutzgeistes eines kleinen wirren Buschwerks in dem Mittelpunkt des Platzes. In Sommernächten kann man aus den offenen Fenstern Gruppen von dunklen schnurrbärtigen Gesichtern sehen, die schreckliche Rauchwolken von sich blasen. Die Töne rauher, im Singen sich übender Stimmen unterbrechen die Stille des Abends, und der Rauch aller Sorten von Tabak durchduftet die Luft. Schnupftabak und Zigarren, Flöten, Violinen oder Violoncellos streiten hier miteinander ohne Unterlaß um die Oberherrschaft. Es ist das Reich des Rauches und der Töne. Herumziehende Musikantenbanden fühlen sich in Golden Square wieder neu belebt und erbeben unwillkürlich, wenn sie ihre Stimmen an diesem Ort laut werden lassen.
Dem Anscheine nach eignet sich ein derartiger Platz nicht besonders für einen Geschäftsmann. Aber Herr Ralph Nickleby wohnte bereits seit vielen Jahren hier, ohne daß man je eine Beschwerde von ihm vernommen hätte. Er kannte niemanden in der ganzen Umgebung und niemand kannte ihn, obgleich er in dem Rufe eines unermeßlich reichen Mannes stand. Die Handwerker oder Kaufleute hielten ihn für eine Art von Rechtsgelehrten, und die andern Nachbarn meinten, er wäre ein Generalagent oder so etwas; alle diese Vermutungen waren aber so genau und richtig, wie Mutmaßungen über anderer Leute Angelegenheiten gewöhnlich sind oder zu sein pflegen.
Herr Ralph Nickleby saß eines Morgens, vollständig zum Ausgehen angekleidet, in seinem Bureau. Er trug einen flaschengrünen Umhang über einem blauen Frack, eine weiße Weste, graumelierte Hosen und darüberhergezogene Wellingtonstiefeln. Der Zipfel eines schmalgefältelten Busenstreifs kämpfte sich, als ob er sich mit Gewalt sehen lassen wolle, zwischen dem Kinn und dem obersten Knopfe seines Umhangs hervor, während das besagte Überwämschen nicht weit genug herunterging, um eine lange, aus einer Reihe von einfachen goldenen Ringen bestehende Uhrkette zu verbergen. Diese nahm in dem Griffe einer goldenen Repetieruhr in Herrn Nicklebys Tasche ihren Ursprung und endete in zwei Schlüssel, von denen der eine zu der Uhr selbst und der andere zu irgendeinem Patentvorlegeschloß gehörte. Er trug etwas Puder in den Haaren, als wünsche er, sich dadurch ein wohlwollendes Aussehen zu geben. Wenn dies aber wirklich seine Absicht war, so hätte er wohl auch sein Gesicht pudern müssen, denn in jeder Falte desselben, nicht minder wie in seinen kalten, unsteten Augen lag etwas, was die im Innern hausende Arglist gegen den Willen des Mannes kundgab. Sei dem jedoch, wie ihm wolle – er saß einmal da, und in der Einsamkeit, in der er sich befand, brachten weder Puder noch Falten noch die Augen auch nur den mindesten guten oder schlimmen Eindruck auf irgend jemand hervor, weshalb auch alles dieses vor der Hand von keinem Belange für uns ist.
Herr Nickleby schlug ein auf seinem Pulte liegendes Kontobuch zu, warf sich in seinem Stuhle zurück und blickte mit zerstreuter Miene durch die glanzlosen Fensterscheiben. Einige Häuser in London haben einen trübseligen kleinen Raum hinter sich, der gewöhnlich durch vier hohe, weißgetünchte Mauern umschlossen ist, von denen die Schornsteine zürnend herabblicken. Auf diesem Erdfleckchen welkt alle Jahre ein verkümmerter Baum, der im Spätherbst, wenn andere Bäume ihre Blätter verlieren, tut, als ob er etwas Laub hervorbringen wolle, gar bald aber wieder von seiner Anstrengung abläßt und bis zum nächsten Sommer ausgedörrt dasteht, wo er dann den gleichen Prozeß wiederholt und vielleicht, wenn das Wetter besonders günstig ist, irgendeinen rheumatischen Sperling in Versuchung führt, auf seinen Zweigen zu zirpen. Man nennt diese dunkeln Höfe bisweilen »Gärten«; doch darf man nicht glauben, daß sie jemals angebaut werden, da sie allem Anschein nach nichts weiter als ein unbenutztes Land mit der verwitterten Vegetation des ursprünglichen Tonbodens sind. Niemand denkt daran, an solchen verödeten Plätzen spazierenzugehen oder sie in irgendeiner Weise zu benutzen. Der Mieter wirft vielleicht gleich bei seinem Einzuge – dann aber nimmer – einige Packkörbe, ein halb Dutzend zerbrochener Gläser und ähnlichen Schutt hinein, und da bleibt alles, bis wieder ausgezogen wird, liegen, um unter dem spärlichen Buchsbaum, dem verkümmerten Immergrün und den zerbrochenen Blumentöpfen im Schmutz und Kot nach Belieben zu modern.
Nach einem derartigen Raum blickte Herr Ralph Nickleby, als er, die Hände in die Taschen gesteckt, durch das Fenster sah. Er hatte seine Augen auf eine krumme Tanne geheftet, die irgendein früherer Hausbewohner in eine ehedem grüne Kufe gepflanzt und vor Jahren dagelassen hatte, wo sie nach und nach vom Moder aufgezehrt wurde. Der Anblick hatte gerade nichts Einladendes; aber Herr Nickleby war ganz in düstere Gedanken verloren und betrachtete daher diesen Gegenstand mit weit größerer Aufmerksamkeit, als er solche bei klarerem Bewußtsein vielleicht der seltensten ausländischen Pflanze geschenkt haben würde. Endlich wanderten seine Augen zu einem kleinen schmutzigen Fenster linker Hand, durch das das Gesicht des Schreibers undeutlich sichtbar war; und da dieser Ehrenmann gerade aufblickte, so winkte er diesem, hereinzutreten.
Der Aufforderung entsprechend, erhob sich der Schreiber von dem hohen Stuhle, der von dem ewigen Auf- und Abrutschen wie poliert aussah, und zeigte sich in Herrn Nicklebys Zimmer. Er war ein großer Mann in mittleren Jahren mit einem Paar Glotzaugen, von denen das eine unbeweglich war, einer Karfunkelnase, einem leichenfahlen Gesichte und einem Anzug, der aufs äußerste abgetragen, um ein namhaftes zu knapp und kurz, und mit so wenigen Knöpfen versehen war, daß man sich wohl höchlich verwundern durfte, wie es der Eigentümer anfing, um ihn überhaupt auf dem Leibe zu behalten.
»War das halb ein Uhr, Noggs?« fragte Herr Nickleby mit einer scharfen und unangenehmen Stimme.
»Nicht mehr als fünfundzwanzig Minuten nach der –« Noggs wollte beifügen, nach der Wirtshausuhr; er besann sich jedoch noch und ergänzte den Schluß seiner Rede – »nach der Sonnenzeit.«
»Meine Uhr ist stehengeblieben«, sagte Herr Nickleby, »ohne daß ich mir denken könnte, warum.«
»Nicht aufgezogen«, meinte Noggs.
»Nein, das ist nicht der Fall«, versetzte Herr Nickleby.
»Dann vielleicht zu stark aufgezogen«, entgegnete Noggs.
»Kann auch nicht wohl sein«, entgegnete Herr Nickleby.
»Muß sein«, erwiderte Noggs.
»Nun, meinetwegen«, sagte Herr Nickleby, die Repetieruhr wieder in seine Tasche steckend. »Vielleicht ist’s so.«
Noggs gab einen eigentümlich grunzenden Laut von sich, wie er gewöhnlich am Schlusse eines jeden Wortwechsels mit seinem Herrn zu tun pflegte, um dadurch anzudeuten, daß das Recht auf seiner eigenen Seite sei, und versank darauf, da er selten sprach, ohne daß er angeredet wurde, in ein grämliches Schweigen, wobei er sich langsam die Hände rieb, an den Fingern knackte und sie in allen möglichen Richtungen verdrehte. Der Umstand, daß er diese Manipulationen bei jeder Gelegenheit anbrachte, und daß er dem gesunden Auge denselben starren und ungewöhnlichen Ausdruck zu geben wußte, den das andere besaß, wodurch es unmöglich wurde, zu ermitteln, nach was er sehe, war eine von den zahlreichen Eigentümlichkeiten des Herrn Noggs, der jedem, selbst dem gleichgültigsten Beobachter auf den ersten Blick auffallen mußte.
»Ich will jetzt nach der London Taverne gehen«, sagte Herr Nickleby.
»Öffentliche Versammlung?« fragte Noggs.
Herr Nickleby nickte bejahend und versetzte:
»Ich erwarte einen Brief von meinem Sachwalter wegen Ruddles Pfandverschreibung. Wenn das Schreiben überhaupt eintrifft, so muß es um zwei Uhr hier sein. Ich werde um diese Zeit die City verlassen und auf der linken Seite des Wegs nach Charing-Croß gehen. Wenn also Briefe anlangen, so werden Sie mir dieselben entgegenbringen.«
Noggs nickte, und während er nickte, wurde die Klingel des Bureaus gezogen. Der Herr blickte von seinen Papieren auf, und der Schreiber blieb unbeweglich stehen.
»Man hat geläutet«, sagte Noggs, als halte er es für nötig, seinen Gebieter darauf aufmerksam zu machen. »Zu Hause?«
»Ja.«
»Für jedermann?«
»Ja.«
»Für den Steuereinnehmer?«
»Nein. Er soll ein andermal wiederkommen.«
Noggs ließ sein gewohntes Grunzen vernehmen, was so viel als »ich dacht‘ es ja« sagen sollte, und ging, da das Läuten wiederholt wurde, nach der Tür. Er kehrte übrigens schnell wieder mit einem blassen Herrn, namens Bonney, zurück, der eine sehr schmale weiße Halsbinde ganz nachlässig umgeknöpft trug, mit verwirrten Haaren und ungestümer Hast ins Zimmer trat, und überhaupt aussah, als wäre er in der Nacht aus den Federn geklopft worden, ohne daß er sich zum Ankleiden hätte Zeit nehmen können.
»Mein lieber Nickleby«, sagte der Herr, seinen weißen Hut abnehmend, der mit Papieren so vollgepfropft war, daß er kaum auf dem Kopfe festsitzen konnte – »es ist kein Augenblick zu verlieren; ich habe einen Wagen vor der Türe. Sir Matthäus Pupker übernimmt den Vorsitz, und auf drei Parlamentsmitglieder können wir mit Bestimmtheit rechnen. Ich habe selbst zwei von ihnen wohlbehalten aus dem Bett gebracht, und der dritte, der die ganze Nacht durch bei Crockfords am Spieltische gesessen, ist eben nach Hause gegangen, um seine Wäsche zu wechseln und einige Flaschen Sodawasser zu sich zu nehmen; er wird jedoch bestimmt zur rechten Zeit dort eintreffen, um vor der Versammlung seine Rede zu halten. Die durchwachte Nacht hat ihn zwar in einen etwas aufgeregten Zustand versetzt, aber das hat nichts zu sagen; seine Worte werden dadurch nur um so mehr an Nachdruck gewinnen.«
»Es scheint, man kann sich etwas Nettes von der Sache versprechen«, versetzte Herr Ralph Nickleby, dessen bedächtiges Benehmen in einem scharfen Gegensatz zu der Lebhaftigkeit des andern Geschäftmannes stand.
»Etwas Nettes?« wiederholte Herr Bonney. »Es ist die schönste Idee, die je in eines Menschen Gehirn entsprang. Vereinigte, verbesserte, hauptstädtische, warme Semmel- und Kuchenbäckerei- und pünktliche Ablieferungsgesellschaft. Kapital fünf Millionen in fünfmal hunderttausend Aktien zu je zehn Pfund. Ha, schon der Name wird machen, daß die Aktien in zehn Tagen mit Agio verkauft werden.«
»Und wenn’s so weit ist?« entgegnete Herr Ralph Nickleby lächelnd.
»Wenn’s so weit ist, so wissen Sie so gut wie irgendeine andere lebende Seele, was man damit anzufangen hat, und wie man sich in Zeiten ganz ruhig aus der Sache ziehen kann«, versetzte Herr Bonney, indem er dem Kapitalisten vertraulich auf die Schulter klopfte. »Übrigens, Sie haben da einen gar seltsamen Menschen zum Schreiber.«
»Hm, es ist ein armer Teufel«, sagte Ralph, seine Handschuhe anziehend; »und doch hat Newman Noggs seinerzeit sich Pferde und Jagdhunde gehalten.«
»Ach was!« versetzte der andere gleichgültig.
»Ja«, fuhr Ralph fort, »und zwar vor noch nicht langer Zeit; aber er brachte sein Geld durch, legte es aufs Geratewohl an, borgte auf Zinsen und wurde, mit einem Worte, aus einem vollständigen Narren in kurzer Zeit zu einem Bettler. Er ergab sich dem Trinken, wurde von einem Schlagfluß gerührt und kam dann zu mir, um ein Pfund zu borgen, weil ich zur Zeit, als er noch in besseren Verhältnissen war –«
»Ah, Sie standen damals mit ihm in Geschäftsverbindung?« entgegnete Herr Bonney mit einem bedeutungsvollen Blicke.
»Ganz richtig«, entgegnete Ralph, »Sie werden begreifen, daß ich ihm nichts leihen konnte.«
»Ganz natürlich!«
»Aber ich bedurfte gerade eines Schreibers und Dieners, der die Tür öffnete usw., weshalb ich ihn aus Barmherzigkeit aufnahm, und so ist er denn seitdem hier geblieben. Ich glaube zwar, daß es in seinem Kopf nicht ganz richtig ist«, fügte Herr Nickleby mit einem Blicke affektierten Mitleids bei – »aber er ist mir nützlich genug, der arme Bursche; ich kann ihn zur Not schon brauchen.«
Der weichherzige Mann unterließ es jedoch, hinzuzusetzen, daß der gänzlich verarmte Newman Noggs ihm fast für einen geringeren Lohn diente, als man gewöhnlich einem dreizehnjährigen Knaben zahlt; und in gleicher Weise fand er es nicht für passend, in seiner kurzen Geschichtserzählung des Umstandes zu erwähnen, daß die außerordentliche Schweigsamkeit des Dieners ihn zu einer besonders wertvollen Person an einem Ort machte, wo so viele Geschäfte abgetan wurden, von denen Ralph wünschen mußte, daß diese außer dem Hause nicht zur Sprache kämen. Der andere Herr war jedoch augenscheinlich sehr beeilt, und so verfügten sich denn beide mit einer Hast nach einer Mietdroschke, daß es Herr Nickleby ganz vergaß, solche unwesentlichen Dinge zu erwähnen.
Als sie in der Bischoftorstraße anlangten, trafen sie auf ein sehr rühriges Treiben. Es war ein sehr windiger Tag, und ein halb Dutzend Männer durchzogen mit ungeheuren Papierbogen die Straße, auf denen mit riesigen Buchstaben die Ankündigung zu lesen war, daß Punkt ein Uhr eine öffentliche Versammlung stattfinden würde, um die Zweckmäßigkeit einer Petition an das Parlament hinsichtlich der Vereinigten, verbesserten, hauptstädtischen, warmen Semmel- und Kuchenbäckerei- und pünktlichen Ablieferungsgesellschaft zu beraten, deren Kapital aus fünf Millionen in fünfmal hunderttausend Aktien zu je zehn Pfund bestände. Die genannten Zahlen waren gebührend in gewaltigen schwarzen Ziffern auf den Plakaten gemalt. Herr Bonney brach sich unter den tiefen Bücklingen der Aufwärter, die ihm die Treppe hinauf Platz machten, mit dem Ellenbogen Bahn und gelangte mit Herrn Nickleby in eine Reihe von Gemächern hinter dem großen öffentlichen Vorplatz, In dem zweiten derselben befand sich ein geschäftsmäßig aussehender Tisch, um den mehrere geschäftsmäßig aussehende Personen versammelt waren.
»Hört!« rief ein Herr mit einem doppelten Kinn, als sich Herr Bonney vorstellte – »einen Stuhl, meine Herren, einen Stuhl!«
Die neuen Ankömmlinge wurden mit allgemeinem Beifall aufgenommen. Herr Bonney trat rasch an das Ende des Tisches, nahm seinen Hut ab, strich mit den Fingern durch das Haar und schlug mit einem kleinen Hammer kräftig auf den Tisch, worauf mehrere Herren »Hört!« riefen und sich gegenseitig leicht zunickten, als wollten sie ihre Bewunderung über dieses geistreiche Benehmen ausdrücken. In demselben Augenblicke riß ein Aufwärter in fieberhafter Aufregung geräuschvoll die Tür auf, stürzte in das Gemach und schrie: »Sir Matthäus Pupker!«
Das Komitee stand auf und klatschte vor Freude in die Hände; und während man noch klatschte, trat Sir Matthäus Pupker ein, begleitet von zwei leibhaftigen Parlamentsmitgliedern, einem irischen und einem schottischen. Alle drei lächelten, verbeugten sich und benahmen sich so liebenswürdig, daß es als ein wahres Wunder hätte erscheinen müssen, wenn irgendwer den Mut gehabt hätte, gegen sie zu stimmen. Besonders war Sir Matthäus Pupker, der auf dem Scheitel seines kleinen runden Kopfes eine Flachsperücke trug, von einer solchen Verbeugungswut befallen, daß die Perücke jeden Augenblick herunterzufliegen drohte. Als sich diese Symptome einigermaßen gelegt hatten, drängten sich die Herren, die mit Sir Matthäus Pupker und den beiden Parlamentsmitgliedern näher vertraut waren, in drei kleine Gruppen um sie her, während die, die sich einer solchen Ehre nicht zu erfreuen hatten, sich sehnsüchtig heranmachten und lächelnd die Hände rieben, in der verzweifelten Hoffnung, etwas anbringen zu können, was die Aufmerksamkeit auf sie lenken möchte. Inzwischen teilten Sir Matthäus Pupker und die beiden andern Parlamentsmitglieder den sie umgebenden Kreisen die Auffassungen mit, die die Regierung hinsichtlich der Aufnahme der Bill hege, berichteten ausführlich, was ihnen die Minister, als sie das letztemal bei denselben gespeist, zugeflüstert, und welche bedeutungsvollen Winke sie dabei hätten fallen lassen. Aus all diesen Vorgängen könnten sie nur die Folgerung ziehen, daß, wenn sich die Regierung irgendeinen Gegenstand vorzugsweise zu Herzen nähme, dieser kein anderer sei, als das Gedeihen der Vereinigten, verbesserten, hauptstädtischen, warmen Semmel- und Kuchenbäckerei- und pünktlichen Ablieferungsgesellschaft.
In der Zwischenzeit, während die Verhandlungsvorbereitungen getroffen und die Ordnung, in der die Sprecher auftreten sollten, festgesetzt wurde, betrachtete das Publikum in dem weiten Raume abwechselnd die leere Tribüne und die Damen auf der Musikantengalerie. Da jedoch der größere Teil der Anwesenden sich schon einige Stunden vorher in dieser erbaulichen Weise unterhalten hatte, und da selbst die angenehmste Zerstreuung, wenn sie allzu lange währt, endlich ermüdet, so begannen einige entschlossene Geister den Boden mit ihren Stiefelabsätzen zu bearbeiten und ihre Unzufriedenheit durch verschiedene Rufe an den Tag zu legen. Diese Musik rührte von denen her, die am längsten da waren und daher der Tribüne am nächsten und dem um der Ordnung willen aufgestellten Polizeipersonal am fernsten standen. Da nun das letztere nicht im Sinn hatte, sich durch das Gedränge durchzukämpfen, trotzdem aber den lobenswerten Wunsch hegte, etwas zu tun, um den Tumult zu beschwichtigen, so begann es sofort allmählich das ruhige, in der Nähe der Tür stehende Volk an den Kragen und Rockschößen zu zerren und gelegentlich einige Hiebe und Stöße mit den Amtsstöcken auszuteilen, ganz in der sinnreichen Weise des Meister Polichinell, dessen glänzendes Beispiel bei diesem Zweig der exekutiven Gewalt, sowohl hinsichtlich der Waffengattung, als der Art ihrer Anwendung, so häufig Nachahmung findet.
Es war bereits zu einigen sehr lebhaften Scharmützeln gekommen, als plötzlich ein lauter Ruf die Aufmerksamkeit selbst der kriegführenden Parteien auf sich zog. Jetzt trat durch eine Nebentür eine lange Reihe von Herren mit unbedeckten Häuptern auf die Tribüne, die mit rückwärts gewandten Blicken laute Freudenrufe ausstießen. Die Ursache davon erklärte sich bald in der Erscheinung des Sir Matthäus Pupker und der beiden andern Parlamentsmitglieder, die unter einem betäubenden Geschrei vortraten und sich gegenseitig durch stumme Winke zu verstehen gaben, daß sie in ihrer ganzen öffentlichen Laufbahn nie einen so glorreichen Augenblick wie den gegenwärtigen erlebt hätten.
Endlich ließ der Lärm nach, wiederholte sich aber aufs neue für die Dauer von fünf Minuten bei der Ankündigung, daß Sir Matthäus Pupker zum Präsidenten gewählt sei. Als sich der Tumult abermals beschwichtigt hatte, schickte sich Sir Matthäus Pupker an zu sagen, welche Gefühle ihn bei dieser feierlichen Gelegenheit durchdrängen, was der gegenwärtige Augenblick in den Augen der Welt sein würde, wie groß die Einsicht seiner Mitbürger vor ihm und der Reichtum und die Achtbarkeit seiner ehrenwerten Freunde hinter ihm sein müßten; und endlich, welchen wichtigen Einfluß auf den Wohlstand, das Glück, die Bequemlichkeit, die Freiheit und sogar auf die ganze Existenz eines freien und großen Volkes ein Institut üben könne, wie das der Vereinigten, verbesserten, hauptstädtischen, warmen Semmel- und Kuchenbäckerei- und pünktlichen Ablieferungsgesellschaft.
Nun trat Herr Bonney vor, um die erste Entscheidung zu beantragen. Er fuhr mit der Rechten durch sein Haar, pflanzte seine Linke gar zierlich gegen seine Rippen, vertraute seinen Hut der Sorgfalt des Herrn mit dem doppelten Kinn, der außerdem auch noch die Weinflaschen für die Redner bereit hielt, und erklärte, daß er den ersten Antrag vorzulesen gedenke – »daß nämlich diese Versammlung nur mit Besorgnis und Unruhe auf den gegenwärtigen Stand des Semmelhandels in der Hauptstadt und deren Nachbarschaft blicken könne; daß die Semmeljungen, wie sie gegenwärtig wären, das Vertrauen des Publikums ganz und gar nicht verdienten, und daß das ganze Semmelsystem ebenso benachteiligend für die Gesundheit und Sittlichkeit des Volkes, wie verderblich für die höchsten Interessen einer großen Handelsstadt wären.« Die Rede des ehrenwerten Herrn lockte Tränen aus den Augen der Damen und weckte bei allen Anwesenden die lebhaftesten Empfindungen. Er hatte die Wohnungen der Armen in den verschiedenen Distrikten Londons besucht und auch nicht die mindesten Semmelspuren daselbst aufgefunden, wodurch er sich zu der Annahme berechtigt glaubte, daß manche dieser dürftigen Personen jahraus, jahrein keine Semmel zu kosten bekämen. Er hatte bemerkt, daß unter den Semmelverkäufern Trunkliebe und Ausschweifungen aller Art herrschten, was er der entsittlichenden Natur ihres Geschäftes in dem gegenwärtigen Betrieb desselben zuschrieb. Er hatte die gleichen Laster unter der ärmeren Klasse des Volkes, die doch auch an der Semmelkonsumtion teilnehmen sollte, entdeckt und glaubte den Grund in der Verzweiflung zu finden, die diese Leute antrieb, ein falsches Reizmittel in berauschenden Getränken zu suchen, weil sie nicht in der Lage wären, sich ein so ungemein kräftigendes Nahrungsmittel wie die Semmel zu verschaffen.
Er wollte es auf sich nehmen, vor einem Komitee des Unterhauses zu beweisen, daß eine geheime Verbindung bestehe, um den Preis der Semmeln stets recht hoch zu halten und um deren Austrägern ein Monopol zu verschaffen. Er erklärte sich bereit, dieses durch die eigenen Worte der Verkäufer vor den Schranken dieses Hauses zu beweisen. Er wollte auch dartun, daß diese Menschen sich gegenseitig durch geheime Worte und Zeichen als »Snooks«, »Walker«, »Ferguson«, »Ist Murphy fertig« und dergleichen in ein Einvernehmen setzten. Die Gesellschaft beabsichtige nun, diesem betrübenden Zustand der Dinge abzuhelfen, indem sie erstlich beantrage, daß aller und jeder Privatsemmelverkauf bei schwerer Strafe verboten werde, und zweitens, daß sie selbst das Publikum ausschließlich mit dieser Ware versehe, und zwar so, daß auch die Armen in ihren eigenen Häusern mit Semmeln von vorzüglicher Güte zu herabgesetzten Preisen bedient werden könnten.
Der patriotische Präsident dieser Versammlung, Sir Matthäus Pupker, habe über diesen Gegenstand bereits eine Bill vor das Parlament gebracht, zu deren Unterstützung die gegenwärtige Versammlung beantragt worden sei. Wer diese Bill unterstütze, würde unsterblichen Ruhm und Glanz über England bringen unter dem Namen der Vereinigten, verbesserten, hauptstädtischen, warmen Semmel- und Kuchenbäckerei- und pünktlichen Ablieferungsgesellschaft mit einem Kapital von fünf Millionen in fünfmal hunderttausend Aktien zu je zehn Pfund.
Herr Ralph Nickleby unterstützte diesen Antrag, und ein anderer Herr machte den Vorschlag, daß in dem Aufsatze des Herrn Bonney, wo immer das Wort Semmeln vorkäme, auch die Kuchen beigefügt werden sollten, was auch siegreich durchging. Nur ein Mann im Gedränge rief »nein«, wurde aber dafür auf der Stelle festgenommen und ohne weiteres fortgeschafft.
Der zweite Vorschlag, der die Zweckmäßigkeit einer unmittelbaren Ausrottung aller Semmel- und Kuchenverkäufer – mochten sie nun Männer oder Weiber, Knaben oder Erwachsene, Glockenmänner oder mit keinen Schellen versehene Leute sein – behandelte, wurde durch einen weinerlichen Herrn in halb geistlichem Habit vorgebracht, der mit einem so ergreifenden Pathos sprach, daß er augenblicklich den ersten Sprecher rein ausstach. Man hätte eine Stecknadel – doch, was sage ich, eine Stecknadel! nein, man hätte eine Feder fallen hören können, als er die Grausamkeit schilderte, mit der die Semmeljungen von ihren Herren behandelt würden und die, wie er weislich hervorhob, an sich schon ein hinreichender Grund wäre, um die beantragte, in ihrem Werte nicht genug zu schätzende Gesellschaft zu bilden. Er sagte, die unglücklichen Jungen würden jede Nacht, selbst in der rauhesten Jahreszeit, auf die nassen Straßen hinausgestoßen, um stundenlang ohne Obdach, Nahrung oder warme Bekleidung durch Finsternis und Regen, Hagel und Schnee umherzuwandern, und machte das Publikum insbesondere darauf aufmerksam, daß man die Knaben, völlig verwahrlost, nur ihren eigenen kümmerlichen Hilfsquellen überlasse, während man doch die Semmeln in warme Tücher einschlage. (Schändlich!) Der ehrwürdige Herr erzählte einen Fall von einem Semmeljungen, der diesem unmenschlichen und barbarischen System nicht weniger als fünf Jahre ausgesetzt war und endlich das Opfer einer Erkältung wurde, unter der er immer weiter herunterkam, bis er endlich in einen Schweiß verfiel und wieder genas. Diesen Vorfall konnte er als Augenzeuge bekräftigen. Er hatte aber auch von einem andern viel herzzerreißenderen und schrecklicheren gehört, dessen Wahrheit zu bezweifeln er keinen Grund finden konnte. Er hatte sich von einem verwaisten Semmelknaben erzählen lassen, der durch einen Mietwagen überfahren wurde, sich in dem Krankenhaus den Fuß unter dem Knie abnehmen lassen mußte und im gegenwärtigen Augenblick noch sein Geschäft auf Krücken fortsetzte. O Quell der Gerechtigkeit! sollen diese Abscheulichkeiten nie aufhören?
Dies war der rührendste Teil der Verhandlung, der seine Wirkung auf das Mitgefühl der Versammlung nicht verfehlte. Die Männer riefen Beifall, und die Damen weinten in ihre Taschentücher, bis sie ganz naß, und schwenkten sie so lange, bis sie wieder trocken waren. Die Aufregung war außerordentlich, und Herr Nickleby flüsterte seinem Freunde zu, daß die Aktien bereits jetzt schon fünfundzwanzig Prozent über dem Nennwert anzuschlagen wären.
Der Antrag ging natürlich mit lautem Beifall durch, und jeder bekundete seine Zustimmung mit beiden Händen. Man würde in der Begeisterung sogar beide Beine in die Höhe gestreckt haben, wenn es sich füglich hätte ausführen lassen. Es ging nun an das förmliche Verlesen der Petition, in der – wie bei allen Petitionen – vorkam, daß die Bittsteller sehr untertänig und die Empfänger derselben sehr ehrenwert wären, und daß es sich bei der Frage um das allgemeine Beste handle, weshalb der Antrag alsbald, zum unvergänglichen Ruhme der höchst ehrenwerten und ruhmwürdigen versammelten Unterhaus-Abgeordneten des englischen Parlaments, in Gesetzeskraft treten müsse.
Dann trat der Herr auf, der die ganze Nacht über im Spielhause gesessen und daher etwas verstörten Blicks war, erklärte seinen Mitbürgern, was für eine Prachtrede er zugunsten der Petition zu halten gedächte, wenn sie im Parlament zur Sprache käme, und setzte ihnen auseinander, mit welchem verzweifelten Hohn er die Unterhaus-Abgeordneten behandeln wolle, wenn es ihnen einfallen sollte, den Antrag zu verwerfen. Er drückte sofort sein Bedauern aus, daß seine ehrenwerten Freunde nicht eine Klausel beigefügt hätten, die es allen Klassen der bürgerlichen Gesellschaft zur zwingenden Aufgabe mache, Semmeln und Kuchen zu kaufen; denn er sei kein Freund von halben Maßregeln und ziehe es vor, allenthalben geradedurch unmittelbar aufs Ziel loszugehen; er behalte sich jedoch vor, dem Komitee hierüber seine Vorschläge zu machen. Der ehrenwerte Herr wurde, nachdem er diese Absicht kundgegeben, scherzhaft; und da Patentstiefel, zitronenfarbige, ziegenlederne Handschuhe und ein Pelzkragen einen Spaß wesentlich unterstützen, so erfolgte ungemeines Lachen und lebhafte Heiterkeit, wobei die Taschentücher der Damen auf eine so glänzende Weise mitwirkten, daß der vorhergehende Sprecher mit seiner empfindsamen Rede ganz in den Schatten zu stehen kam.
Als die Petition nach einem abermaligen Verlesen eben förmlich angenommen werden sollte, trat das irische Parlamentsmitglied, ein junger Mann von feurigem Temperament, mit einer Rede auf, wie sie nur ein irisches Parlamentsmitglied halten kann; denn sie war ganz Poesie und schoß in einem solchen Glutstrom dahin, daß man sich schon erwärmt fühlte, wenn man nur den Sprecher ansah. Im Verlauf derselben sagte er, daß er die Ausdehnung dieser großen Wohltat auch auf sein Geburtsland beantragen wolle, für das er, wie bei allen andern, so auch bei dem Semmelgesetz Rechtsgleichheit beanspruche. Auch hoffe er noch den Tag zu erleben, wo Kuchen in Irlands armseligsten Hütten gebacken würden und das Geläut der Semmelglocke dessen reiche, grüne Täler durchtöne.
Nach ihm kam das schottische Parlamentsmitglied mit verschiedenen erfreulichen Hindeutungen auf den wahrscheinlichen Belauf des Gewinns, was die gute Laune, die der dichterische Schwung des Irländers geweckt hatte, nur noch mehr erhöhte. Mit einem Wort, alle diese Reden zusammengenommen bewirkten gerade das, was sie erzielen sollten, und brachten den Zuhörern die Überzeugung bei, daß keine Spekulation so vielverheißend und zu gleicher Zeit so preiswürdig sei als die der Vereinigten, verbesserten, hauptstädtischen, warmen Semmel- und Kuchenbäckerei- und pünktlichen Ablieferungs-Gesellschaft.
So wurde denn die Petition zugunsten der Bill einstimmig angenommen, und die Versammlung ging unter Beifallrufen auseinander. Herr Nickleby und die andern Direktoren verfügten sich nach einem Speisehause, wo sie das gewöhnliche Halbzweiuhrmahl einnahmen, und brachten, da die Gesellschaft erst im Entstehen war, nur je drei Guineen für ihre eigenen Bemühungen bei dieser Sache in Anrechnung.