Nach einer Viertelstunde wurde der König ruhig. Sein Kopf versank tief in den kostbaren Spitzen des Pfühls, seine Arme sanken schlaff hernieder, aus seiner Brust stiegen, kaum noch vernehmlich, die letzten Seufzer seines Grimms; dann schloß er die Augen und schlief ein. Er hatte einen an abwechslungsvollen Vergnügungen reichen Tag hinter sich, und all die Szenen, die er erschaut, zogen jetzt vor seinem träumenden Gemüt vorüber und vermischten sich zu einem tollen, phantastischen Tanze. Inmitten dieser verworrenen Visionen zeigte sich plötzlich die Gestalt eines Mannes, der vom Himmel herabzuschweben schien. Er legte die Hand aus den Mund und neigte sich über das Bett. Und diese Traumgestalt glich ihm selbst so völlig, daß er sein eigenes Bild zu sehen vermeinte. Dann war es, als wenn der Fußboden sich bewegte, das Bett geriet in eine schaukelnde Bewegung und begann zu versinken. Eine kalte, feuchte Luft war um ihn her; an Stelle der golddurchwirkten Tapeten, der brokatnen Vorhänge, zeigten sich jetzt graue, triefende Mauern. Es wurde immer finsterer, und mit einem Male hörte die Bewegung auf.

»Das ist ein schrecklicher Traum,« murmelte Ludwig XIV. »Aber es ist doch nur ein Traum.« – »So erwachen Sie!« sprach eine finstere Stimme, bei deren Klang Ludwig heftig erschrak und erkannte, daß er die Augen schon auf hatte. Rechts und links von sich sah er zwei vermummte Männer, bewaffnet und in weite Mäntel gehüllt. Einer trug eine Blendlaterne, deren rötlicher Schein unheimlich an den finstern Mauern auf und nieder zuckte.

Der König sprang von dem Bett auf und richtete sich vor dem Manne empor, der die Lampe hielt. »Was bedeutet dieses Possenspiel?« rief er. – »Es ist kein Possenspiel« antwortete der Maskierte in dumpfem Tone. – Der König wendete sich an den andern Mann und sprach: »Wenn das eine der Überraschungen des Herrn Fouquet ist, so sagen Sie ihm, ich finde sie ungeziemend und wünsche sie nicht fortgesetzt zu sehen.« – Der zweite Mann, von hünenhaftem Wuchs und gewaltigem Umfange, antwortete gar nichts. – »Nochmals, was wollen Sie mit mir machen?« rief der König außer sich. »Wo bin ich hier?« – »Sehen Sie sich um,« antwortete der Mann, der die Lampe trug. – Aber Ludwig sah noch immer nur feuchte Mauern, auf denen hier und da die silbernen Schleimspuren von Schnecken glitzerten.

»Ein Kerker!« murmelte Ludwig. – »Nein, nur ein unterirdischer Raum,« antwortete der Mann. »Folgen Sie uns.« – »Ich rühre mich nicht von der Stelle,« sagte der König. – »Wenn Sie rebellisch sind, junger Freund,« sagte jetzt der Riese mit dröhnendem Baß, »dann packe ich Sie und wickle Sie in einen Mantel wie einen gestohlenen Schinken, verstanden?« – Dabei legte er auf die Schulter des Königs eine so schwere Faust, daß die Majestät fast in die Knie gesunken wäre. Ludwig erkannte, daß er wehrlos sei und sich in den Willen dieses gewalttätigen Menschen fügen müsse. Er schüttelte den Kopf.

»Ich scheine da in die Hände zweier Mörder gefallen zu sein,« sprach er. »Vorwärts!« – Sie durchschritten nun einen langen Korridor, der viele Windungen machte und unzählige versteckte Türen und Treppenstufen hatte. Alle Schlösser öffnete der Mann mit der Lampe, der einen großen Schlüsselbund am Gürtel trug. Bei einer letzten Tür gab der riesenhafte Mann Ludwig einen Stoß in den Rücken und schob ihn so ins Freie hinaus.

»Wagen Sie es, mich zu schlagen?« murmelte Ludwig. »Was tun Sie mit dem König von Frankreich?« – »Vergessen Sie diesen Titel!« sagte der Mann mit der Lampe. – »Man sollte Sie aufs Rad flechten,« brummte der Hüne, »weil Sie die Frechheit haben, sich König zu nennen, aber Ludwig XIV. ist barmherzig.« – Der Monarch begriff nicht. Doch im nächsten Moment hatten die beiden ihn in eine Kutsche gesetzt, der Mann mit der Lampe stieg zu ihm, der Riese kletterte auf den Bock, und der Wagen fuhr davon. Nach einer Weile machte man halt und spannte neue Pferde ein. Dann ging es weiter, und als der König nach einigen Stunden zum Fenster hinausspähte, sah er, daß der Tag graute und die Kutsche in Paris einfuhr. Gleich darauf wurde ein großes Tor passiert, in dem Ludwig zu seinem Schrecken das Hauptportal der Bastille erkannte. Sein Begleiter sprach an allen Posten und Barrieren nur die Worte: »Im Namen des Königs!« und nach einer Weile hielt der Wagen an, und die Stentorstimme des Mannes auf dem Bock rief: »Weckt den Gouverneur!«

Baisemeaux erschien im Nachtgewande an der Schwelle seiner Tür. »Was gibt es denn?« rief er, »und wen bringt man mir da?« – Der Mann mit der Lampe öffnete den Kutschenschlag und sprach ein paar Worte mit dem auf dem Bocke. Der stieg herab, nahm ein Gewehr zur Hand, das er unterm Mantel trug, und richtete die Mündung, den Hahn spannend, auf die Brust des Gefangenen. – »Sobald er nur ein Wort spricht,« sagte der Mann mit der Lampe ganz laut, »schießen Sie.« – »Gut,« sagte der andere, ohne sich zu bedenken.

Darauf schritt der Mann mit der Lampe zu dem Gouverneur. »Herr d’Herblay!« rief dieser. – »Still!« unterbrach Aramis ihn. »Gehen wir auf Ihr Zimmer!« – »O, mein Gott!« flüsterte Baisemeaux, »was führt Sie denn zu dieser Stunde hierher?« – »Ein Irrtum, lieber Baisemeaux,« antwortete der Bischof. »Sie scheinen neulich, was jenen Freilassungsbefehl für Marchiali betrifft, recht gehabt zu haben.« – »Was? Ich habe doch gleich daran gezweifelt, nur daß Sie mich dann gezwungen haben, Marchiali doch ziehen zu lassen!« rief Baisemeaux. – »Gezwungen?« erwiderte Aramis. »O, welches häßliche Wort gebrauchen Sie da, lieber Freund? Bewogen, wollen wir sagen. Ich habe Sie bewogen, Marchiali trotzdem freizugeben. Nun, es war ein Irrtum. Man hat ihn im Ministerium eingesehen, und ich bringe Ihnen nun einen Freilassungsbefehl für den armen Kerl, den Seldon. Hier, lesen Sie selbst!«

»Meiner Treu,« rief der Gouverneur. »Das ist derselbe Befehl, den ich damals gesehen habe. Ich erkenne ihn an diesem Tintenklecks wieder. Und was ist mit Marchiali?« – »Den bringe ich zurück.« – »Das genügt mir aber nicht,« versetzte der Gouverneur. »Ich muß zu seiner Wiederaufnahme auch einen Befehl haben.« – »Schwatzen Sie keinen Unsinn!« entgegnete Aramis. »Sie haben ja gar keinen Befehl erhalten, ihn freizulassen.« – »Aber erlauben Sie!« rief Baissemeaux und nahm aus seinem Schreibtisch die damals von Aramis untergeschobene, auf Marchiali lautende Order. D’Herblay ergriff das Papier, zerriß es und verbrannte die Fetzen an der Lampe. »So, nun haben Sie keinen Befehl mehr. Höchst einfach!« setzte er hinzu. »Ich bringe Marchiali wieder, und alles ist so, als wäre er überhaupt nie hinausgekommen. Sie geben mir jenen Seldon, und die ganze Geschichte ist abgetan.«

»Aber weshalb soll denn Marchiali wieder her?« fragte Baisemeaux, der nichts von dem allen begriff. – Aramis näherte die Lippen seinem Ohre und antwortete: »Sie wissen ja von jener großen Aehnlichkeit. Nun, sobald Marchiali frei war, rühmte er sich dieser Aehnlichkeit und behauptete ganz keck, er sei der König von Frankreich. Er kleidete sich genau so wie der König und ging tatsächlich mit dem Gedanken um, Ludwig XIV. vom Throne zu verdrängen.« – »Der Unglückselige!« rief der Gouverneur. – »Und deshalb bringe ich ihn wieder,« fuhr Aramis fort. »Er darf mit niemand zusammenkommen und muß ganz abgesondert gehalten werden. Sein Wahnwitz ist dem König zu Ohren gekommen, und es steht jetzt – merken Sie sich das wohl, lieber Baisemeaux – die Todesstrafe darauf, jemand anders als mich und den König selbst zu ihm zu lassen. Bringen Sie ihn alsbald in seine Zelle zurück.«

Baisemeaux ließ die Trommel rühren und die Wache ins Gewehr treten. Dann übernahm er den Gefangnen, dem Porthos noch immer das Gewehr vor die Brust hielt. – »Ja, er ist es, der Unglückliche!« murmelte Baisemeaux, als er ihn erblickte.

So wurde Ludwig XIV. nach dem nördlichen Turm gebracht, in jene Zelle, die sein bedauernswerter Zwillingsbruder bis dahin innegehabt hatte. Er trat in den Kerker, ohne ein Wort zu sprechen. Er stand da, totenbleich, wie betäubt, und sah regungslos zu, wie die schwere Tür zugeschlossen wurde. Aramis schärfte dem Gouverneur noch einmal die Verhaltungsmaßregeln ein, dann wendete er sich an Porthos: »Auf, Freund, zurück nach Vaux!«

»Man fühlt sich leicht wie eine Feder,« antwortete Porthos, »wenn man seinem König wacker gedient und durch diesen Dienst obendrein noch das Vaterland gerettet hat.« – Die Kutsche rollte über die Zugbrücke, die hinter ihnen wieder in die Höhe stieg.

Der junge König sah sich um. Ja, es war kein Zweifel, er befand sich in der Bastille – in jenem Gefängnis, das während seiner Regierung zu einer unheimlichen Bedeutung gelangte, zu einem Massengrabe für die Menschen wurde, in welchem sie lautlos und spurlos verschwanden. Doch was bedeutete das? Er war entthront, gefangengesetzt – er, der gestern noch allmächtige König von Frankreich! War es denn möglich? Oder war das alles vielleicht doch ein Traum, ein Alpdruck nach einer allzureichen Mahlzeit?

Als er sich diese Frage vorlegte, schlug ein Geräusch an sein Ohr, und er wandte den Kopf. Da sah er am Kamin eine große Ratte, die den Rest einer Brotrinde benagte und den neuen Gast mit ihren kleinen Augen neugierig anguckte. Der Ekel stieg dem König zum Halse empor, er stieß einen Schrei aus und wich zur Tür zurück. Er wußte nun, es war kein Traum, es war furchtbare, krasse Wirklichkeit. Das widerliche Tier, der Genosse der Eingekerkerten, der Schmarotzer der Gefängnisse, war der lebende Beweis dafür.

»Gefangen!« rief er aus. »Ich bin gefangen!« – Er sah sich um, ob nicht irgendwo eine Klingel wäre. – »Es gibt keine Klingeln in der Bastille, ich weiß es wohl,« sprach er vor sich hin. »Aber wie ist das gekommen? Durch ein Komplott des Herrn Fouquet, und sein Agent war jener d’Herblay, den er mir vorstellte. Ich habe diesen Menschen unter seiner Maske erkannt. Colbert hat recht gehabt! Doch was will Fouquet? Will er an meiner Stelle König werden? Das ist unmöglich! Doch wer weiß? Vielleicht handelt mein Bruder, der Herzog von Orléans, ebenso gegen mich, wie der alte Herzog von Orléans sein Leben lang gegen meinen Vater gehandelt hat? Aber meine Mutter? Aber die Lavallière? O, man wird sie der Herzogin auf Gnade und Ungnade ausliefern! Das arme Kind, man wird sie ins Gefängnis sperren wie mich. Wir sind auf immer getrennt!«

Bei dem Gedanken an die Geliebte weinte er. Dann fuhr er grimmig empor. »Es ist ein Gouverneur hier,« dachte er. »Ich will mit ihm sprechen.« – Er rief, doch niemand antwortete ihm. Er packte einen Stuhl und schlug damit gegen die Tür. Ein dumpfer Widerhall durchklang die Gewölbe und Korridore. Aber keine menschliche Stimme war zu hören. Das war für den König ein neuer Beweis, wie gering man ihn in der Bastille achtete. Er begann zu schreien, so laut er konnte. Und er, der an augenblicklichen Gehorsam auf den leisesten Wink gewöhnt war, fürchtete wahnsinnig zu werden angesichts dieser Ohnmacht. Er zertrümmerte den Stuhl und hämmerte mit den Beinen so lange und so heftig gegen die Tür, daß ihm der Schweiß von der Stirn rann. Das Getöse war furchtbar und andauernd. Ringsum wurden undeutliche Stimmen laut.

Ludwig XIV. lauschte. Ein Schauer ergriff ihn. Das waren die Stimmen der Gefangenen, die einst seine Opfer, jetzt seine Gefährten waren. Diese Stimmen klangen wie Seufzer durch die dicken Zellendecken und die undurchdringlichen Mauern. Sie schimpften nun über den Mann, der solchen Lärm machte. Nachdem der König so vielen die Freiheit geraubt, kam er zu ihnen, um ihnen auch noch den Schlaf zu rauben.

Ludwig XIV. verdoppelte seine Kräfte; er wollte um jeden Preis Aufklärung haben oder ein Ende dieses Zustandes herbeiführen. Nach Verlauf einer Stunde geschah von außen ein heftiger Schlag gegen seine Tür. »Was fällt Euch ein, so zu toben?« rief jemand. »Seid Ihr etwa verrückt geworden? Haltet gefälligst Ruhe!« – »Sind Sie der Gouverneur?« fragte der König. – »Es geht Sie gar nichts an, wer ich bin,« war die Antwort. »Sie haben sich ruhig zu verhalten, verstanden!« – Der König hörte, wie der Mann sich entfernte. Aufs neue geriet Ludwig XIV. in Raserei, sprang jetzt zum Fenster und zertrümmerte die Scheibe, so daß die Splitter klirrend auf das Pflaster des Hofes fielen. – »Gouverneur!« brüllte er. »Gouverneur!«

Alles blieb still. Das eiserne Gitter widerstand seinen Fäusten, die Mauern waren so dick, daß er sich mit einem Stoß den Kopf daran hätte zerschlagen können – die Stuhlbeine waren ganz zerkleinert. Da lehnte er sich an die Wand und gab es auf zu schreien und zu toben. Seine Kräfte waren erschöpft, seine Kleider zerschlitzt, seine Manschetten beschmutzt. – »Man wird mir wie allen Gefangenen zu essen bringen,« murmelte er. »Dann werde ich jemand sehen, mit dem ich reden kann.« – Er sann nach, zu welcher Stunde in der Bastille die erste Mahlzeit angesetzt sei, und mußte zugeben, daß er es nicht wisse. Er hatte 25 Jahre lang als König glücklich gelebt und nie an die Leiden der Unglücklichen gedacht, die sein Machtwort der Freiheit beraubt hatte. Dieser Gedanke war für ihn ein Dolchstoß, tief und grausam. Er sagte sich, Gott bestrafe ihn jetzt, und diese Strafe treffe ihn verdientermaßen.

Das Geräusch hinter seiner Tür ließ sich wieder vernehmen. Ludwig sprang vor, um jedem, der einträte, entgegenzustürzen; doch bezwang er sich, nahm eine ruhige und edle Haltung an und wartete. Es war nur ein Schließer, der eine Mahlzeit brachte. Der König betrachtete voll Unruhe diesen Mann, der sich mit einem fast gutmütigen Lächeln umsah. – »Da habt Ihr nun Euern Stuhl zerbrochen,« sagte er. »Ihr seid von Sinnen.« – »Mann,« versetzte Ludwig XIV., »kennst du den König?« – »Nein, wir bekommen ihn hier nie zu sehen,« antwortete der Schließer und schüttelte ernst den Kopf. – »Laß den Gouverneur zu mir kommen,« rief Ludwig in dem gebieterischen Ton, der ihm zur zweiten Natur geworden war.

»Mein Junge,« sprach der Schließer, »Ihr waret sonst immer sehr manierlich. Die Tollheit hat Euch borstig gemacht. Wir halten’s Euch zugute, aber treibt es nicht zu arg. Solcher Lärm, wie Ihr diese Nacht gemacht habt, wird mit finsterm Kerker bestraft. Tut es nicht wieder, so will ich es diesmal nicht dem Gouverneur melden!« – »Ich will mit dem Gouverneur sprechen!« sagte der König. – »Wie Ihr mit den Augen rollt!« rief der Schließer. »Wohl, da lasse ich Euch heute kein Messer hier. Eßt mit den Fingern.« – Darauf ging er hinaus und schloß die Tür zu. Der König schleuderte voll Wut die Schüssel und Teller gegen die Wand und zum Fenster hinaus. Doch alles blieb still.

Und nun war er kein König, kein Edelmann, ja kein Mensch mehr! Er war ein irrsinniges Geschöpf, das sich die Nägel an dem Holz der Tür, an den Steinfliesen des Bodens zerkratzte und so fürchterlich schrie, daß die Bastille in ihren Grundfesten erbebte.

Herr von Baisemeaux kümmerte sich nicht darum. Er wünschte nur eins: der tolle Marchiali triebe seinen Wahnsinn soweit, sich am Gitter des Fensters aufzuhängen, und er legte sich alles Ernstes die Frage vor, ob es nicht das beste sei, ihn in der Stille aus dem Wege zu räumen.