8. Kapitel. General Monk

Es ist bisher noch stets der Verlauf einer jeden Revolution gewesen, daß die bis zur Erreichung des hauptsächlichen Zwecks einigen bürgerlichen Parteien sich später entzweien. So war es bei der großen französischen Revolution, so war es auch schon bei jener englischen, durch die König Karl erst seinen Thron und dann den Kopf verlor. Nachdem der gewaltige Oliver Cromwell gestorben war, nachdem sein Sohn das Protektorat niedergelegt hatte, tat sich eine Menge von Mißvergnügten zusammen, denen die Beschlüsse des Parlaments nicht mehr behagten und die eine andere Regierungsform verlangten. An die Spitze dieser Elemente trat der General Lambert, während die Parlamentspartei den General Monk, einen geborenen Schotten, zum Oberhaupt erkor. Von vornherein war dessen Partei im Uebergewicht; man redete Lambert nach, er trachte danach, eine Militärrepublik zu gründen, mit sich selbst am Ruder; dagegen war man fest überzeugt, daß Monk, ohne jedes persönliche Nebeninteresse, nur auf die Stärkung des bürgerlichen Parlaments bedacht sei. Die Sympathien der Mehrzahl der Bevölkerung lagen daher auf Monks Seite. Die Verhältnisse hatten sich bis zur Feindseligkeit zwischen beiden Lagern zugespitzt, und Lambert und Monk standen ein jeder an der Spitze einer Armee bereit, sich in offenem Kampfe zu messen. Das war in der Gegend von Newcastle, und die alte Abtei dieses Namens lag gerade zwischen den Quartieren der feindlichen Heere.

In Monks Lager herrschte Hungersnot. Der General saß eines Abends, gegen zehn Uhr, in seinem Zelt und kaute Tabak, um den knurrenden Magen zu beruhigen, da eilten mit Freudengeschrei mehrere Soldaten herbei, und ein Offizier trat, ohne sich melden zu lassen, ein und rief: »General! Sie werden heute zu Abend speisen.« – »Das habe ich bereits getan,« antwortete Monk gelassen. »Eben hielt ich mein Verdauungsstündchen. Was führt Euch her?« – »Wir haben eine Fischerbarke abgefangen, die mit einer Ladung Fische an den Strand geworfen wurde.« – »Daran tatet ihr nicht wohl, Kinder,« versetzte der General. »Ihr hättet den Fang Lamberts Leuten lassen sollen. Wenn sie heute abend nichts zu essen haben, werden sie keine Lust verspüren, sich morgen mit uns zu schlagen, wozu sie nach einem guten Abendessen sicher Mut gehabt hätten. Doch was sind das für Fischer?«

»Sie kommen aus der Picardie.« – »Sprechen sie Englisch?« – »Der Kapitän versteht ein paar Brocken davon.« – »Führt sie her! Und – wie viele sind es? Was für ein Schiff haben sie?« – »Es sind ihrer elf. Ihr Fahrzeug ist eine Barke holländischen Typs.« – »Gut, ich will sie sehen.«

Der Offizier führte den Kapitän der Fischer herein, einen Mann von etwa 55 Jahren, aber noch sehr rüstig und jugendlich. Unter der tief in die Stirn gezogenen Mütze blitzten ein paar pfiffige Augen. Er hatte den eigentümlich unsichern Gang der Seeleute an sich, die nur auf den schwankenden Brettern eines Schiffes fest aufzutreten vermögen. Monk musterte den Mann mit durchdringendem Blick. Der Fischer antwortete darauf mit einem dummdreisten Lächeln, wie es den französischen Bauern eigen ist.

»Du sprichst Englisch?« fragte Monk. – »Sehr schlecht,« antwortete jener in südfranzösischem Akzent. »Wir Seeleute schnappen ja von allen Sprachen etwas auf.« – »Du scheinst mehr um Gascogne herum als in der Picardie zu Hause zu sein,« meinte Monk lächelnd. – »Von Geburt bin ich aus Südfrankreich,« war die Antwort, »aber seit langen Jahren fische ich in den nördlichen Gegenden. Habe heute einen guten Fang gemacht. Einen Stör von 30 Pfund, an die 100 Schleien und zahllose Weißfische.« – »Schön, den Fang kaufe ich dir ab. Aber warum bietest du ihn hier aus?« – »Herr, der Fischer stößt das Boot ins Meer, aber Himmel und Wind tun das Uebrige. Ich wollte nicht hier landen.«

»Wenn du von dort drüben kommst,« fuhr Monk fort, mit einer Handbewegung nach der Richtung, wo jenseits der See die holländische Küste lag, »hast du da vielleicht etwas von Karl II. gehört, dem verstoßenen König von England?« – »Ei freilich, Mylord,« antwortete der Fischer mit täppischer Offenherzigkeit, »als wir nämlich bei Ostende nach Makrelen fischten, sahen wir aus einem am Strande gelegenen Häuschen einen Mann kommen, der zum Gestade schritt. Im Näherkommen erkannten wir in ihm Karl II. Er sah sehr traurig aus. Ich glaube, die Luft in Holland ist ihm nicht dienlich. Er guckte starr nach hier hinüber. Ich denke mir, er hat Heimweh – möchte halt gern wieder hier sein. Sie wissen ja, Wilhelm II. von Nassau, der Statthalter von Holland, wäre ihn auch am liebsten los. Er darf ihm wegen der Freundschaft mit England und Frankreich kaum noch Hilfe leisten.« – »Du scheinst in der Politik gut Bescheid zu wissen,« sagte Monk. – »Wir Seeleute beobachten doch täglich Wasser und Luft, die beiden veränderlichsten Dinge auf der Welt, und seitdem wir gelernt haben, in beidem trotz aller Unbeständigkeit mit Sicherheit zu lesen, irren wir uns auch in andern Dingen nur selten.«

»Du hast also eine gute Ladung an Bord?« fragte der General. »Wie teuer verkaufst du sie?« – »Ich kann doch keinen Preis machen, Mylord, kraft dem Faustrecht gehören die Fische Ihnen.« – »Ich will kaufen und nicht rauben,« antwortete der Feldherr. »Ich zahle den üblichen Preis. Geh mit dem Offizier dort, er wird dir das Geld geben. Und höre noch eins! Wenn du zu deinem Schiffe zurückkehrst, so geh nicht durch das Moor. Dort stehen ein paar Posten von mir, die Euch anhalten würden. Wenn sie Euch nun das Geld nähmen, so würdest du bei dir zu Hause erzählen, General Monk hätte zwei Hände, eine schottische und eine englische, und mit der schottischen nähme er wieder zurück, was er mit der englischen gegeben.« – »Können Mylord mir einen Zimmermann mitgeben?« fragte der Fischer. »Ihre Soldaten haben mein Boot demoliert und wir haben nun zwei Schuh Wasser drin.« – »Das soll geschehen,« sprach Monk und wendete sich an seinen Adjutanten. »Digby, sorgen Sie dafür, daß der Mann mit seinen Leuten in der Nähe seines Boots in einem Zelte schlafen kann, damit sie nicht des Nachts im Wasser zu liegen brauchen. Schicken Sie ihnen ein paar Arbeiter. Was gibt es, Spithead?« fragte er einen Sergeanten, der eintrat.

»Ein französischer Edelmann bittet um Einlaß,« war die Antwort. – »Wer ist das?« fragte Monk, während der Fischer die Ohren spitzte. – »Er hat mir seinen Namen genannt, aber diese französischen Worte sind nichts für meine englische Kehle,« antwortete der Sergeant.

»Hm, du kannst ihn hereinlassen.« – »Sollen ihm die Augen verbunden werden?« – »Warum? Er kann getrost sehen, daß ich hier 11 000 tapfere Soldaten um mich habe.« Dann wendete er sich an den Fischer. »Auf Wiedersehen, braver Kerl. Mein Adjutant wird dich führen.« – »Schönen Dank, Mylord,« antwortete der Mann und ging hinaus.

Draußen begegnete er der Wache, die den französischen Edelmann herbeiführte. Der fremde Kavalier saß zu Pferde und blickte schnurstracks vor sich hin. Er beachtete infolgedessen den Fischer gar nicht, während dieser sich dicht an das Pferd herandrängte und beim Scheine eines Wachtfeuers einen raschen Blick auf das Gesicht des Reiters warf. Er stutzte und blieb vor Verblüffung stehen, dann aber faßte er sich rasch, denn er durfte sich nichts merken lassen. »Ich muß mich wohl auch verguckt haben,« brummte er vor sich hin. »Es ist ja ganz unmöglich. Es ist ja undenkbar.«

Der französische Edelmann trat in das Zelt und fand eine freundlichere Aufnahme, als er von Seiten eines so argwöhnischen Mannes wie Monk erwartet hatte. Ruhig, wenn auch scharf, musterte der General seinen Besuch und gab ihm dann einen Wink, sein Anliegen vorzutragen. – »Ich bin Graf de la Fère,« begann Athos mit einer Verbeugung. – »Entschuldigen Sie,« sagte Monk, nachsinnend, »ich höre diesen Namen zum erstenmale. Sind Sie vom Hofe?« – »Nein, ich lebe als Privatmann, bin aber durch Karl I. Ritter des Hosenbandordens und durch Anna von Oesterreich Ritter des Heiligen-Geist-Ordens.« – »Bei welchem Anlaß wurden Sie dekoriert?« – »Für Dienste, die ich den Majestäten leistete.« – »Und was wünschen Sie jetzt von mir?«

Das Gespräch wurde in englischer Sprache geführt, die ja Athos noch von den vielen in England verlebten Jahren her vollständig beherrschte.

»Mylord,« antwortete er aufs Monks letzte Frage, »ich habe im Jahre 1648 in Newcastle gewohnt, und zwar gerade in den Gärten, die jetzt von den Soldaten Eurer Herrlichkeit besetzt sind. Damals stand ich im Dienste Karls I. und mußte, nachdem er gefallen war, flüchten. Ich besaß eine große Summe Geldes, die ich in der damaligen Zeit nicht mit auf die Reise nehmen wollte. Deshalb vergrub ich es im Keller jenes Turmes, den Sie dort hinten im Mondschein emporragen sehen. Jetzt bin ich gekommen, es mir zu holen, und bitte Eure Herrlichkeit um Erlaubnis, mein Eigentum in Sicherheit zu bringen, ehe es vielleicht durch die bevorstehende Schlacht zwischen Ihnen und General Lambert gefährdet wird oder gar in die Hände der Soldaten fällt.«

Monk war ein feiner Menschenkenner; dennoch wußte er jetzt nicht, ob er diese Mitteilung des Fremden einer edeln Offenherzigkeit zuschreiben oder eine ihm gestellte Falle darin vermuten solle. »Ist denn die Summe so bedeutend, Herr Graf,« fragte er, »daß es sich der Mühe lohnt? Und glauben Sie wirklich, das Geld sei noch vorhanden? Nach so langer Zeit?« – »Es handelt sich um eine Million.« – Monk stutzte und sah Athos scharf an. Das erschien ihm denn doch ganz unglaublich. – »Hm,« sagte er, »und Sie wollen das Geld heute noch haben? Warum wendeten Sie sich nicht an General Lambert? Er steht ebenso nahe bei der Abtei, wie ich selbst.« – »Ich folge in derlei Dingen stets meinem Gefühl,« antwortete der Franzose. »Zu General Lambert habe ich nicht so großes Vertrauen, wie zu Ihnen. Was die Frage anbetrifft, ob das Geld auch noch da sei, so unterliegt das für mich gar keinem Zweifel. Der Versteck war gut gewählt, war niemand als mir bekannt, und ich werde die Stelle ohne Schwierigkeit wiederfinden.«

»Ich werde Ihnen sehr gern behilflich sein,« antwortete Monk, »ja, ich will Sie sogar begleiten. Das ist ja auch notwendig, weil die Posten Sie sonst nicht so weit vorlassen würden. Wir können gleich gehen. Sollen wir Leute mitnehmen?« – »Das ist nicht nötig. Zwei Männer und ein Pferd genügen, die beiden Fässer mit Gold auf das Schiff zu bringen, das am Strande auf mich wartet.« – »Er sieht nicht aus wie ein Meuchelmörder,« dachte Monk bei sich, »und dennoch hat er es drauf abgesehen, mit mir an einem einsamen Fleck allein zu sein. Nun, ich will’s drauf ankommen lassen.« Und laut setzte er hinzu: »Es muß doch aber jedenfalls gegraben werden, wollen Sie das selbst machen?« – »Es braucht nicht gegraben zu werden,« antwortete Athos. »Der Schatz liegt in einer Gruft, die mittels eines Steins verschlossen ist. Der Stein ist an einem eisernen Ringe in die Höhe zu heben. Eine kleine Treppe von vier Stufen befindet sich darunter, und an ihrem Grunde liegen, von einer Schicht Gips bedeckt, die beiden Fässer. Sie sehen, ich mache in dieser Angelegenheit gar kein Geheimnis vor Ihnen.«

Monk antwortete nicht. Er war im höchsten Maße erstaunt. Entweder besaß der Fremde eine außergewöhnlich vollendete Verstellungskunst und spielte seine Rolle als Kundschafter meisterhaft, oder aber er war von größter Vertrauensseligkeit, daß er sich als Besitzer von einer Million mitten in ein Kriegslager hineinwagte, wo Raub und Faustrecht galten. – »Ich begleite Sie,« sagte der General, »das Abenteuer erscheint mir so seltsam, daß ich selbst die Fackel halten will.« – Als er dies sagte, schnallte Athos sein Schwert ab und legte es auf den Tisch. Er öffnete sein Wams, wie um sein Schnupftuch herauszunehmen, und zeigte dabei dem scharf beobachtenden General, daß er auch auf der Brust keinerlei Waffen trug. – »Sonderbar,« dachte dieser bei sich. »Er ist tatsächlich ganz unbewaffnet. Also muß er in der Abtei einen Hinterhalt gelegt haben.« – Darauf drehte er sich zu seinem Adjutanten herum und sagte: »Es soll mich niemand begleiten. Ich gehe allein.«

6. Kapitel. Rudolfs und Athos‘ Tod

Während alle diese Ereignisse die einst unzertrennlichen vier Musketiere auseinanderbrachten, weilte Athos, Rudolfs und Grimauds beraubt, allein in Blois, und die Einsamkeit rieb seine Kräfte auf und machte ihn in kurzer Zeit zum Greise. Schmerzen und Beschwerden, die er früher nie gekannt, stellten sich nun plötzlich ein, Schwermut, Gram und Verzweiflung überkamen ihn immer unwiderstehlicher. Der Graf de la Fère, der Mann des Krieges, war bei allem Ungemach, das er erlitten, bei allen Gefahren, die er bestanden, bis in sein 62. Lebensjahr hinein ein Jüngling geblieben. Als er seinen Sohn verloren, war er in acht Tagen ein alter Mann geworden.

Noch immer schön, obwohl gebeugt, noch immer edel, obwohl tieftraurig, sanftmütig und wankend unter seinen erbleichenden Haaren, schritt er allein, ein Bild der Verlassenheit, im Park seiner Besitzung auf und ab. Er bestieg kein Pferd mehr, er nahm keinen Degen mehr zur Hand, er ritt nicht mehr auf die Jagd – er machte nur noch täglich einen kurzen Spaziergang, sonst saß er still und regungslos in seinem Stuhle oder lag wohl gar im Bett. Seine Diener erschraken, wenn sie ihn so teilnahmlos sahen; sie fürchteten alles Ernstes für seinen Verstand, und als er gar anfing, tagsüber mitten über seinen Träumereien einzuschlafen, da holten sie einen Arzt. Der aber konnte nicht helfen; er erfuhr nicht einmal die Ursache dieser Umwandlung des Grafen.

»Herr,« sprach der wackere Mann schließlich, um einen letzten Versuch zu machen, den Kranken zum Reden zu bringen, »Sie sind ein guter Christ. Würden Sie sich das Leben nehmen?« – »Niemals, Doktor,« antwortete Athos. – »Nun denn, Sie tun es, wenn Sie in diesem Zustande bleiben,« sagte der Doktor, »das ist Selbstmord. Also werden Sie gesund.« – »Ich bin ja gar nicht krank,« entgegnete de la Fère. »Ich habe mich nie so wohl gefühlt, ich liebe den Himmel, die Sonne und meine Blumen wie nie zuvor.«

»Aber Sie nähren einen verborgenen Gram!« – »Verborgen? Nicht doch! Mein Sohn ist in der Ferne, das ist mein Kummer, daraus mache ich gar kein Hehl.«

»Aber Ihr Sohn lebt, ist rüstig und hat eine glänzende Zukunft vor sich,« rief der Arzt. »Leben Sie für ihn!« – »O, seien Sie unbesorgt, solange Rudolf noch nicht tot ist, werde ich am Leben bleiben.« – »Wie meinen Sie das?« – »Ganz einfach. Ich lasse das Leben sozusagen in der Schwebe, Doktor. Verlangen Sie doch von einer Lampe nicht, daß sie brenne, wenn kein Funke an den Docht gelegt wird. Verlangen Sie nicht von mir, daß ich ein Leben voll Licht und Geräusch führe, solange mein Sohn fort ist. Ich vegetiere, ich halte mich bereit, ich warte. Ich bin wie ein Soldat, der auf seine Einschiffung wartet; er gehört noch nicht dem Fahrzeug an, das ihn aufs Meer tragen soll, doch auch nicht mehr ganz der Erde, von der er scheiden soll. Sein Gepäck ist bereit – er schaut nach dem fernen Horizont und wartet. So steht es mit mir. Sobald der Ruf erschallt, breche ich auf. Von wannen wird dieser Ruf ausgehen? Vom Leben oder vom Tode?«

Der Doktor kannte diese feste, eiserne Seele, und da er wußte, daß Arzeneien ein Unding wären, so ging er fort, nachdem er der Dienerschaft empfohlen hatte, ihren Herrn keinen Augenblick allein zu lassen. In der Nacht nach dem Besuch des Doktors träumte Athos von Rudolf: Der junge Mann kleidete sich in seinem Zelt an, um auf eine Expedition zu gehen, mit der Herr von Beaufort ihn betraut hatte. Er war traurig und schnallte sich langsam das Schwert um. – »Was hast du?« fragte ihn sein Vater zärtlich. – »Ich bin betrübt, daß Porthos gestorben ist,« antwortete Rudolf. »Das schmerzt mich hier ebenso tief, wie es Sie dort schmerzt.« – Athos erwachte; der Tag brach an, und man meldete ihm alsbald, ein Brief aus Spanien sei angekommen. – Er erkannte die Schrift d’Herblays. »Aramis schreibt mir,« sagte er, öffnete den Umschlag und las.

»Porthos ist tot!« rief er nach den ersten Zeilen. »O, Rudolf, daran erkenne ich, du hältst dein Versprechen, du gibst mir Nachricht!« – Und von kaltem Schweiß übergossen, sank er ohnmächtig auf sein Bett.

Als er zu sich kam, schämte er sich fast, daß ein solches Traumgesicht ihn so erschüttert habe. Er vollendete die Lesung des Briefes, der ihm von den Vorgängen auf Belle-Ile Kunde gab, und beschloß, nach Pierrefonds zu reisen und dann mit d’Artagnan nach der Insel zu fahren, wo er die Stelle besichtigen wollte, an welcher der treue, gute Porthos den Tod gefunden. Aber kaum hatten seine Diener ihn angekleidet, froh, ihn zu einer Reise entschlossen zu sehen, kaum war das Pferd gesattelt, so fühlte Athos sich plötzlich wieder von Schwäche befallen und vermochte keinen Schritt zu tun. Man brachte ihn auf eine Bank, wo er sich niederließ, den Kopf in beide Hände nahm und eine ganze Stunde in einem halb bewußtlosen Zustande verharrte. Als er aufstehen konnte, nahm er Suppe und Wein zu sich. Er stieg dann wirklich mühsam in den Sattel und ritt fort.

Nach hundert Schritten begann er heftig zu zittern. »Halten wir an, gnädiger Herr,« sagte der Diener, der ihn begleitete, »Sie werden blaß.« – »Das soll mich nicht hindern, den einmal eingeschlagenen Weg fortzusetzen,« antwortete Athos und ließ dem Pferd den Zügel. – Aber nach wenigen Schritten schon blieb das Tier ein zweitesmal stehen, anscheinend von selbst und gegen den Willen seines Herrn. – »Ein Etwas will, daß ich nicht weiterreite,« sprach Athos. »Schnell – alle Kräfte verlassen mich – hilf mir herab, sonst falle ich aus dem Sattel.« Der Bediente fing den Herabsinkenden in den Armen auf. Da sie noch nicht weit vom Hause entfernt waren, konnte er die andern Diener herbeirufen, und man führte nun den Grafen in sein Zimmer zurück, wo er sich sofort wohler fühlte. Dennoch kam er auf seinen Entschluß zurück und ließ sich das Pferd wieder vorführen. Als er die Hand an den Zaum legte, bäumte sich das Tier, riß sich los und lief ein Stück weit weg. Athos schüttelte den Kopf. – »Ich soll daheim bleiben,« sagte er, »das ist klar. Also fügen wir uns.«

Er kehrte ins Haus zurück und legte sich zu Bett. Er schlummerte ein, aber der Schlaf war nicht erquickend. Der Tag verging; Athos hatte bestimmt Nachrichten aus Afrika erwartet, aber es kam kein Brief an. Wenn der Kurier nicht infolge einer geringen Verspätung über Nacht anlangte, dann mußte der Graf, da Depeschen aus Afrika nur alle acht Tage befördert wurden, eine neue Woche qualvoller Ungewißheit erdulden. Während er dies bedachte, schlief er ein, und mitten in die Gefilde von Afrika ward er im Geist geführt. Er sah den trocknen Wüstensand zu seinen Füßen, er fühlte die brennende Sonne des Südens auf seiner Haut, und heißer Wind blies gegen seine glühende Stirn an.

Auf dem dürren Gelände lag eine kleine Ortschaft, aus der dichter Rauch aufwirbelte, Flammen schossen gen Himmel, ein roter Wirbel umhüllte alles. Gräßliches Geschrei zerriß die Luft. Balken stürzten, Steine prasselten hernieder. Aber obwohl ein schreckliches Gewirr von Stimmen erscholl, sah man doch kein menschliches Antlitz. Aus der Ferne klangen Kanonenschüsse herüber, Musketensalven knatterten, das Meer brüllte, Getier flüchtete in langen Sätzen über den Boden – und doch sah man keinen Soldaten mit Lunte oder Flinte, keinen Hirten jener Tiere, keinen Bewohner der Gegend.

Die Nacht brach herein – ein sternenheller Himmel stand über der Szene der Verwüstung, tiefes Schweigen lag über der Landschaft. Der Mond ging auf, und in seinem bleichen Lichte sah Athos nun Leichen ringsum am Boden liegen. Angst und Schrecken ergriffen ihn, als er die Uniformen französischer Soldaten erkannte und die Musketen erblickte, mit dem Zeichen der Lilie am Schaft. Und im Traum schritt Athos von einer Leiche zur andern und neigte sich über alle diese toten Gesichter herab, und diejenigen, die nach unten gekehrt waren, drehte er herum. Den er suchte, fand er nicht.

Während sein Auge nach allen Seiten umherirrte, sah er plötzlich eine weiße Gestalt erscheinen, die ein zerbrochnes Schwert in der Hand hatte und langsam, mit herabhängenden Armen, mit starrem Blick herankam. Da erkannte er Rudolf. Athos wollte schreien, aber die Kehle war ihm zugeschnürt. Die Erscheinung winkte ihm auch zu schweigen, indem sie einen Finger auf den Mund legte. Dann wich sie zurück, und Athos, wie gebannt, folgte ihr. Rudolf schien den Boden nicht zu berühren; mühelos schwebte er dahin, während die Füße des Grafen von Gestrüpp und dornigem Gesträuch zerrissen wurden. Erschöpft hielt er inne, doch Rudolf winkte noch immer. So folgte er ihm abermals, bis er den Gipfel eines Hügels erstiegen hatte. Von der höchsten Kuppe hob sich die weiße, lichte Gestalt Rudolfs im Schimmer des Mondes duftig ab. Athos streckte die Hände aus – da hob die Erscheinung sich von der Erde auf und begann zum Himmel emporzuschweben.

Athos stieß einen Schrei aus und erwachte. Im selben Augenblick wurde an die Tür geklopft. Der Graf richtete sich auf und rief: »Ein Kurier aus Afrika, nicht wahr?« – »Nein, gnädiger Herr!« antwortete eine Stimme, bei deren Klang Athos zu Tode erschrak.

»Grimaud!« stöhnte er. – Und der Schweiß rann ihm über die abgezehrten Wangen herab. – Grimaud erschien auf der Schwelle, doch nicht mehr der Grimaud von früher, ja nicht einmal der, der mit Rudolf zusammen das Schiff betreten hatte. Ein bleicher, hagerer Greis mit weißem Haar, der sich an den Türpfosten lehnte, um nicht umzufallen. Diese beiden Männer, die so viele Jahre gemeinsam verlebt, so vieles zusammen getragen hatten, diese zwei Freunde, die dem Herzen nach einer so edel waren wie der andere, wenn auch durch Geburt und Vermögen ungleich – diese beiden verstummten jetzt, als sie einander erblickten. An der Veränderung, die mit ihnen vorgegangen, erkannten sie, was geschehen war. In demselben Tone, in dem Athos im Traum zu Rudolf gesprochen, wandte er sich nun an Grimaud: »Rudolf ist tot, nicht wahr?« – Hinter Grimaud standen zitternd die Diener, sie hörten die furchtbare Frage ihres Herrn; man hätte glauben mögen, in dem tiefen Schweigen, das auf einen Augenblick herrschte, alle Herzen schlagen zu hören.

»Ja!« antwortete Grimaud. – Athos hob die Augen zu Rudolfs Bilde empor, das über seinem Bette hing – und die Wirklichkeit verlor sich für ihn. Dieses Bild wurde in seinen Augen eins mit jener weißen Gestalt in der Wüste. Er lächelte, er sah Rudolf vor sich durch die Luft gen Himmel schweben, wie eben noch im Traum. Die Hände über der Brust gefaltet, den Blick auf das Bild geheftet, ging Athos, geführt von der reinen, keuschen Seele seines Sohnes, ins Paradies ein. Leise, so daß man ihn kaum verstand, murmelte er die Worte: »Hier bin ich.« Dann sank er zurück. Liebreich war der Tod diesem Gerechten gegenübergetreten: Er hatte ihm Krämpfe und Zuckungen erspart, er ließ ihn hinübergehen mit dem Lächeln eines Mannes, der eine süße Melodie hört. Die Ruhe seiner Züge, der Friede seines Antlitzes, seiner ganzen Haltung ließen seine Dienerschaft lange daran zweifeln, ob er auch wirklich gestorben sei.

Alle entfernten sich – nur Grimaud blieb, und man ließ ihn auch dort, denn man fürchtete, er würde beim ersten Schritt aus dem Zimmer hinaus tot umfallen. Der Alte kauerte sich vor dem Bette seines toten Herrn nieder und saß dort regungslos – er hätte nicht sagen können, wie lange. Da erklang eine Stimme, vibrierend wie Stahl. »Athos! Athos!« – Grimaud erhob sich und ging dem Manne entgegen, der mit kriegerischem Schritt herangestürmt kam. »Herr d’Artagnan!« rief er.

»Wo ist Athos?« rief der Musketier. – Grimaud nahm ihn bei der Hand und führte ihn stumm ans Bett, von dessen weißem Tuch schon die fahle Farbe des Leichnams abstach.

D’Artagnan schrie nicht auf – er röchelte nur dumpf. Er preßte die Fäuste auf die Brust und senkte tief das Haupt. Dann kniete er nieder und legte das Ohr auf das Gewand des Toten. Kein Laut – kein Atemzug! – Grimaud setzte sich ans Fußende und drückte die Lippen auf das Laken, das über den starren Füßen seines Gebieters lag. Der in Tränen zerfließende, in stummem Schmerz hingesunkene Greis bot das rührendste Schauspiel dar, das d’Artagnan je in seinem vielbewegten Leben gesehen hatte.

Der Musketier küßte Athos auf die Stirn und drückte ihm mit zitternden Fingern die Augen zu. Dann setzte er sich ans Kopfende, ohne Scheu vor diesem Toten, der zu Lebzeiten dreißig Jahre lang liebreich und wohlwollend gegen ihn gewesen war. Er versenkte sich in die Erinnerungen, die das edle Antlitz des Grafen in ihm wachrief, von denen die einen freundlich waren wie das Lächeln des Toten, die andern starr, finster und düster, wie der Tod selbst.

Da stand er auf – mit einem Male übermannte ihn der Schmerz, er brach in herzzerreißendes Schluchzen aus und stürzte hinaus, die Faust gegen die Lippen pressend, um das Weinen zu unterdrücken. Nach einer Weile ging er wieder hinauf und rief Grimaud an, der regungslos an derselben Stelle geblieben war. Der treue Mensch kam heran und folgte d’Artagnan.

»Grimaud«, sprach der Musketier, den Greis bei den Händen nehmend, »ich fand den Vater tot – nun sage mir, wie der Sohn starb.«

Grimaud nahm einen Brief aus der Tasche, der an Athos gerichtet war. D’Artagnan kannte die Schrift des Herzogs von Beaufort, erbrach das Siegel und las im ersten Schein des dämmernden Tages, was der Herzog in seiner steifen, unbeholfenen Schülerschrift an Athos schrieb. – »Lieber Graf! Inmitten eines großen Triumphes trifft uns ein großes Unglück: der König hat einen seiner tapfersten Offiziere verloren, ich einen Freund, Sie einen Sohn. Herr von Bragelonne hat einen glorreichen Tod gefunden. Empfangen Sie meinen traurigen Gruß, lieber Graf! Der Himmel verhängt über uns die Prüfungen je nach der Größe unseres Herzens. Die Prüfung, die jetzt Ihnen zuteil wird, ist sehr schwer, aber nicht über Ihre Kraft. – Ihr Freund Herzog von Beaufort.«

An diesen Brief schloß sich ein vom Sekretär des Prinzen geschriebener Bericht: eine rührende, getreue Schilderung der Episode, die den Faden zwischen zwei Herzen zerschnitt. Gewöhnt an Schlachten und Kriegsgeschichten, gefeit gegen wehmütige Vorfälle, erschauerte d’Artagnan dennoch, als er nun vom Tode Rudolfs las, vom Tode des geliebten Kindes, das auch er wie einen Sohn gehalten hatte:

»Am frühen Morgen erging der Befehl zum Angriff. Die Soldaten der Normandie und der Picardie besetzten die Stellung an den grauen Felsen, an deren Abhängen sich die Bastionen von Gigelli erheben. Die Artillerie eröffnete die Schlacht; die Lanzenknechte gingen mit erhobenen Piken vor, die Musketiere hatten die Gewehre im Arm. Der Prinz folgte mit einer starken Reserve den Vorrückenden.

Neben ihm ritten die ältesten Kapitäne und die Adjutanten.

Herr von Bragelonne erhielt den Befehl, an der Seite Seiner Hoheit zu bleiben.

Die feindlichen Kanonen hatten sich nach einigen mißlungenen Schüssen besser gerichtet, und ein paar Kugeln trafen jetzt Leute aus der Umgebung des Prinzen. Die Regimenter rückten gegen die Wälle vor und erlitten einen übeln Empfang. Der Ansturm geriet ins Stocken, zumal unsere Artillerie die Truppe mangelhaft unterstützte. Sie mußte von unten nach oben schießen, was für die Tragweite wie für die Treffsicherheit ungünstig war. Der Prinz sah dies und befahl den in der kleinen Bucht ankernden Fregatten, von dort aus ein regelmäßiges Feuer gegen die Festung zu eröffnen. Diesen Befehl zu überbringen, erbot sich Herr von Bragelonne; allein Monseigneur weigerte sich, ihm den Auftrag zu erteilen. Der Sergeant, der abgeschickt wurde, war glücklich bis an das Gestade des Meers gelangt, als zwei Schüsse aus langen Büchsen vom Feinde abgegeben wurden und ihn niederstreckten.

Der Prinz sprach darauf zu Herrn von Bragelonne: ›Sie sehen, ich erhalte Ihnen das Leben. Sagen Sie das später dem Grafen de la Fère, er wird mir Dank wissen.‹

Der junge Mann lächelte traurig und antwortete: ›Allerdings, Hoheit. Ohne Ihr Wohlwollen läge ich jetzt dort, wo der Sergeant liegt – doch wohl ihm! er hat Ruhe.‹ – ›Bei Gott!‹ rief der Prinz, ›man möchte glauben, der Mund wässere Ihnen; aber bei der Seele Heinrichs IV., ich habe Ihrem Vater versprochen, Sie lebendig zurückzubringen, und so Gott es zuläßt, will ich mein Wort halten.‹ Herr von Bragelonne errötete und erwiderte: ›Verzeihung, Hoheit, ich habe stets gern jede Gelegenheit ergriffen, mich auszuzeichnen, und es ist süß, das Lob seines Generals zu erringen, zumal wenn dieser General der Herzog von Beaufort ist.‹

Inzwischen hatte der Kommandant der Flotte erkannt, worum es sich handle und eröffnete das Feuer von selbst. Die Araber, nun von zwei Seiten beschossen, erhoben ein furchtbares Geschrei, ihre Häuser stürzten ein, Brand und Tod griffen um sich. Da warfen sie sich im Galopp unserer Infanterie entgegen, die mit gefällten Lanzen diesen Angriff abwies. Zurückgeworfen, sprengten sie auf den Generalstab ein, der in diesem Augenblick ganz ohne Deckung war. Die Gefahr war groß; Monseigneur zog den Degen; die Offiziere seines Gefolges begannen den Kampf.

Nun konnte Herr von Bragelonne das Verlangen sättigen, das ihn von Anbeginn dieses Feldzugs erfüllte. Er focht an der Seite des Prinzen und tötete im Handumdrehen drei Araber. Mit furchtbarem Ungestüm stürzte er sich auf die Feinde; es schien, als wollte er sich im Waffengetümmel, im blutigen Gemetzel berauschen. Man schlug die Angreifer zurück, und Monseigneur rief Herrn von Bragelonne zu einzuhalten. Er mußte das hören, denn wir alle hörten es. Er hielt jedoch nicht inne, sondern verfolgte den Feind und sprengte gegen die Verschanzungen. Wir wunderten uns über diesen Ungehorsam, und Monseigneur rief mit erhobener Stimme: ›Zurück, Herr von Bragelonne! Wo wollen Sie hin? Zurück, ich befehle es Ihnen!‹

Aber Herr von Bragelonne ritt weiter auf die Palisaden los. – ›Halt! Halt im Namen Ihres Vaters!‹ rief der Prinz, so laut er konnte. – Bragelonne wandte nur den Kopf nach uns um und zeigte uns ein von Schmerz verzerrtes Gesicht, allein er ritt weiter. Da begriffen wir, er war nicht mehr Herr seines Pferdes – das Tier ging mit ihm durch.

›Musketiere!‹ schrie der Herzog, ›schießt auf sein Pferd! Hundert Pistolen dem, der es trifft!‹ – Aber niemand wagte es; denn es war sehr schwer, das Pferd zu treffen und den Reiter nicht zu verwunden. Da trat ein Soldat vor, ein sehr geschickter Schütze, legte an, schoß und traf das Tier in das Kreuz, denn wir sahen die weiße Decke sich vom Blute röten. Aber es stürzte nicht, es raste nur um so wilder weiter. Man schrie ihm zu, er solle sich vom Sattel werfen. Er war nun schon auf Pistolenschußweite bis an den feindlichen Wall herangekommen; eine Salve krachte auch schon und umhüllte ihn mit einer Wolke von Rauch. Als der Dampf sich zerteilte, sahen wir ihn zu Fuße, sein Pferd lag am Boden. Die Araber forderten ihn auf, sich zu ergeben. Er aber schüttelte den Kopf und schritt ruhig weiter auf die Palisaden zu. Das war sehr unbesonnen, aber die ganze Armee wußte ihm Dank, daß er nicht einen Schritt zurückwich, obwohl er den Tod vor Augen hatte. Als er so weiterschritt, klatschten ihm die Regimenter Beifall.

Eine zweite Salve zerriß die Luft; der Vicomte von Bragelonne verschwand abermals im Pulverrauch. Doch als diesmal der Qualm verflogen war, sahen wir ihn nicht mehr auf den Füßen; er lag im Grase, und die Araber stürzten aus den Verschanzungen hervor, um zu ihm zu eilen und ihm den Kopf abzuschneiden, wie es die Ungläubigen mit den Leichen machen.

Da rief der Herzog: ›Grenadiere, Lanzenknechte, laßt euch diesen edeln Toten nicht rauben!‹ Und er lief selbst mit geschwungenem Degen auf die Feinde los. Die Soldaten eilten ihm nach, und ein furchtbarer Kampf entspann sich um den Leichnam des Herrn von Bragelonne. Die Araber verloren 160 Mann, wir 50, aber wir trugen den Toten mit uns fort. Und der Erfolg, den wir in diesem Kampf errungen, war entscheidend, denn die Regimenter gingen nicht wieder zurück, sondern drangen noch weiter vor und stürmten die Palisaden. Um drei Uhr hörte der Feuerwechsel auf, das Handgemenge begann und währte zwei Stunden. Um fünf Uhr aber waren wir Herren an allen Punkten, der Feind ergriff auf der ganzen Linie den Rückzug, und auf der höchsten Stelle des Berges wehte das Banner der Lilie.

Nun konnten wir erst Herrn von Bragelonne betrachten; er hatte acht Schußwunden, allein er atmete noch. Der Herzog ließ sofort seine Aerzte kommen und versprach jedem tausend Louisd’ors, wenn sie ihn retteten. Sie sondierten die Wunden. Dabei schlug Herr von Bragelonne noch einmal die Augen auf und sah die Aerzte mit starren Blicken an. Und nun schien er ganz bei Bewußtsein und zu hören, wie die Aerzte zu Monseigneur sagten: Drei Wunden seien allerdings tödlich, da aber der Kranke eine kräftige Natur habe und die Barmherzigkeit Gottes unendlich sei, so bestehe noch Hoffnung, daß der Totgeglaubte am Leben erhalten würde. Aber man dürfe ihn nicht einmal mit den Fingern anrühren; schon daran könne er sterben.

Der Herzog rief erfreut: ›O, Bragelonne, wir werden dich retten!‹ – Ein düsteres Lächeln huschte über die Lippen des Verwundeten. – Eines Abends nun, als man glaubte, der Kranke sei aus dem Schlummer erwacht, trat einer der Lazarettgehilfen in das Zelt und kam mit lautem Geschrei herausgestürzt. Wir eilten herzu, der Prinz mit uns, und wir sahen Herrn von Bragelonne auf der Erde liegen, in einer Blutlache schwimmend. Er bewegte sich nicht mehr. Man hob ihn auf und fand in seiner rechten Hand eine blonde Haarlocke.«

An diesen Bericht schlossen sich mehrere Mitteilungen über den Verlauf der Expedition und die Unterwerfung der Araber. D’Artagnan las das nicht mehr. Für ihn hatte der Brief nach der Schilderung von Rudolfs Tode kein Interesse mehr. »Unglückliches Kind!« stöhnte er. »Ein Selbstmord!« Und indem er zu den Fenstern hinaufsah, hinter denen Athos den ewigen Schlaf hielt, sagte er: »Sie haben einander Wort gehalten. Sie sind im Tode vereint.«

Am folgenden Tage kamen die Landleute und die Edelherren der Umgebung an, um an der Leichenfeier teilzunehmen. D’Artagnan schloß sich ein – er wollte mit niemand sprechen. Der sonst so unbeugsame Geist war durch diese zwei Todesfälle niedergeschmettert. Er schrieb an den König und bat um Verlängerung des Urlaubs. Nur von Grimaud ließ er sich bedienen, sonst durfte niemand zu ihm.

Der treue Alte trat ein und winkte dem Chevalier, ihm zu folgen. Er führte ihn in das Zimmer des Grafen und deutete auf das leere Bett, dann schritt er mit ihm zum Salon, wo der Landessitte gemäß der Tote aufgebahrt worden war. Doch d’Artagnan blieb betroffen stehen, denn er erblickte zwei Särge, und in dem einen sah er Athos, in dem andern Rudolf von Bragelonne liegen.

»Rudolf war hier!« rief der Gaskogner. »Und das hast du mir nicht gesagt, Grimaud!« – Der Alte schüttelte den Kopf, hob sacht das Laken und zeigte d’Artagnan die Wunden, aus denen das Leben des Jünglings entflohen war.

Der Kapitän wandte sich schluchzend ab. Und da Grimaud nichts weiter sagte, so fragte er auch nicht. Später dachte er daran, daß der Sekretär Beauforts noch vieles geschrieben, was er nicht mehr gelesen hatte. Er nahm den Bericht noch einmal zur Hand und las nun alles bis zu Ende. Da stand im letzten Abschnitt folgendes:

»Der Herzog hat Bragelonnes Leiche nach arabischer Weise einbalsamieren lassen und ein Schiff beordert, das den Sarg unter Obhut des treuen Dieners, der dem jungen Manne gefolgt war, auf der Stelle nach Frankreich bringt.«

»Nun, so werde ich auch dir die letzte Ehre erweisen können, armer Junge,« sprach d’Artagnan zu sich. »Ich alter nichtsnutziger Mann werde den Staub auf deine Stirn streuen, die ich vor zwei Monaten noch geküßt habe. Gott hat es so gewollt. Du selbst hast es gewollt. Ich habe kein Recht zu weinen. Du hast dir den Tod gewählt, weil du ihn dem Leben vorzogst.«

Eine große Menge Volkes, Landleute, Edelherren und Bürger nahmen an dem Begräbnis teil. Die kleine Kapelle, die Athos zu seiner letzten Ruhestätte bestimmt hatte, lag im äußersten Teil des Parks, von Pappeln und Maulbeerbäumen, Flieder und Weißdorn umstanden. Bienen umschwärmten das blühende, und duftende Gesträuch, Finken und Rotkehlchen sangen in den Zweigen ihre lieblichen Melodien.

Schweigsam bewegte sich der Leichenzug nach dieser Stätte, und als man die Särge hinabgesenkt in die ehrwürdige alte Gruft, als man den Toten das letzte Lebewohl zugerufen, zerstreute sich die Menge, tiefergriffen, und leise sprachen die Leute untereinander von den Tugenden des Vaters, von den Hoffnungen des Sohnes und von seinem traurigen Ende. Der Klang des Glöckleins, das der Ministrant läutete, verlor sich in der Ferne.

D’Artagnan blieb allein zurück. Er lehnte an einem Baum und starrte nach der kleinen Kapelle hin, die so viel Teures in sich schloß. Da sah er eine Frauengestalt am Boden knien. Sie preßte weiße Hände mit schlanken Fingern vor das Gesicht. D’Artagnan trat geräuschlos näher, um diese Betende nicht zu stören und gleichwohl zu erkennen, wer sie sei. Da er jenseits des Parkzauns jetzt eine Kalesche mit Kutscher und Dienern halten sah, deren Anfahrt er in seiner Träumerei nicht gehört hatte, erriet er, daß es eine Dame von Stand sei. Sie betete inbrünstig, und d’Artagnan hörte ein paarmal von ihren Lippen leise, doch eindringlich das Wort: »Verzeih! verzeih!«

Er wollte hinzutreten, um sie anzusprechen und ihrer Trauer zu entreißen, da sah sie auf, und er erkannte Luise von Lavallière. Sie hob ihr von Tränen überflutetes Gesicht zu ihm empor und nannte ihn beim Namen. – »Sie hier?« sprach der Kapitän dumpf. »Ich hätte lieber ihn und Sie mit Blumen geschmückt im Hause des Grafen de la Fère gesehen. Die beiden da hätten weniger Tränen vergossen – auch Sie und ich.«

»Mein Herr!« schluchzte sie. – »Denn Sie, nur Sie,« fuhr der Unerbittliche fort, »haben diese beiden Männer unter die Erde gebracht.«

»O, schonen Sie meiner!« rief sie. – »Fern sei es von mir, eine Frau zu beleidigen oder sie für nichts zum Weinen zu bringen, aber es muß gesagt werden,« setzte er hinzu, »für den Mörder ist kein Platz am Grabe seiner Opfer.« – Sie wollte antworten. – »Was ich Ihnen da sage,« sprach er hart, »das würde ich dem König selbst sagen.« – Sie faltete die Hände und antwortete: »Ich weiß, ich habe Herrn von Bragelonne in den Tod getrieben. Gestern erfuhr man es bei Hofe. Ich bin die vierzig Meilen hergeeilt, um den Grafen um Verzeihung anzuflehen, da ich ihn noch am Leben glaubte, um auf Rudolfs Grabe Gott zu bitten, daß er mir alles Ungemach schicken möge, das ich verdiene. Und nun muß ich sehen, daß der Tod des Sohnes auch den Tod des Vaters nach sich gezogen hat, daß ich mir somit zwei Verbrechen vorzuwerfen habe und doppelter Strafe verfallen bin!«

»Soll ich Ihnen wiedersagen, Fräulein, was Herr von Bragelonne mir in Antibes sagte, als er schon ans Sterben dachte?« sagte der Musketier. »Stolz und Koketterie haben sie schlecht gemacht, ich verzeihe ihr, während ich sie verachte. Wenn sie aus Liebe fiel, so vergebe ich ihr mit der Beteuerung, keiner hat sie je so geliebt wie ich!«

»Sie wissen, ich wollte mich einmal schon aus Liebe ins Kloster zurückziehen,« erwiderte sie. »Sie wissen, was ich damals gelitten habe; heute aber leide ich noch viel mehr, denn damals hoffte und wünschte ich immer noch. Heute aber habe ich nichts mehr zu hoffen und zu wünschen. Mit diesem Toten sinken alle meine Freuden ins Grab. Vor Gewissensbissen getraue ich mich nicht mehr zu lieben, und ich fühle es, der, den ich liebe, wird mich – o, es ist gerechte Vergeltung – alle Martern empfinden zu lassen, die ich dem andern bereitet habe. O, klagen Sie mich nicht an, Herr d’Artagnan, ich beschwöre Sie! Ich bin ein vom Stamme gerissener Zweig – ich habe keinen Halt mehr auf dieser Welt. Ich liebe noch immer bis zur Raserei, und so gottlos bin ich in dieser Liebe, daß ich sie noch jetzt auf dem Grabe dieses Toten bekenne. Diese Liebe ist für mich wie eine Religion. Nur noch kurze Zeit wird mein Glück währen, vielleicht besteht es schon heute nicht mehr. Sie werden mich bald verlassen, bestraft sehen, wie Sie es nicht schlimmer wünschen können. Vielleicht ist dieser Doppelmord schon jetzt gesühnt.«

Ein königlicher Offizier, in welchem d’Artagnan von Saint-Aignan erkannte, kam zu Pferde, hielt jenseits des Zaunes an und erklärte, er sei beauftragt. Fräulein von Lavallière zum König zurückzuholen, der vor Ungeduld und Eifersucht außer sich sei. Luise entließ ihn mit einer Handbewegung, und er ritt zu dem Kutscher.

»Sie sehen, Fräulein,« sprach d’Artagnan, den Saint-Aignan nicht bemerkt hatte, da er von dem dichten Laub eines Strauchs verdeckt war, »Sie sehen, noch währt Ihr Glück.«

»Sie werden es eines Tages bereuen,« antwortete die Lavalliere, »daß Sie so schlecht über mich dachten. Sie werden mich so viel leiden sehen, daß Sie der erste sein werden, mich zu bemitleiden.« Darauf kniete sie abermals nieder, faltete die Hände und sprach: »Zum letzten Male, verzeihe mir, Rudolf, mein Bräutigam! Ich habe unsere Bande zerrissen. Wir beide müssen daran vor Schmerz sterben. Du bist vorangegangen, ich fürchte mich nicht, dir zu folgen. Sieh, ich bin nicht feige gewesen, ich habe schon Mut genug gezeigt, indem ich hierher kam, dir dieses letzte Lebewohl zuzurufen. Gott ist mein Zeuge, Rudolf, ich hätte mein Leben hingegeben, das deine zu erkaufen. Meine Liebe aber konnte ich dir nicht geben. Nochmals: vergib mir!«

Sie pflückte einen Zweig, steckte ihn in die Erde, wischte die Tränen aus den Augen und ging zu ihrem Wagen. D’Artagnan sah Kutsche, Diener und Reiter verschwinden, kreuzte die Arme über der Brust und sprach vor sich hin: »Wann wird die Reihe an mich kommen? Was bleibt dem Menschen, wenn Jugend, Liebe, Ruhm, Freundschaft, Kraft und Reichtum dahin sind? Der Felsen, unter dem Porthos schläft, der alles das besaß, was ich eben nannte – das Moos, unter dem Athos und Rudolf schlafen, die noch viel mehr besaßen! Na! immer weiter Schritt vor Schritt! Wenn die Stunde kommt, wird Gott es mir sagen, wie er es den andern gesagt hat.« – Er berührte mit der Fingerspitze die vom Tau des Abends nasse Erde, bekreuzte sich wie mit Weihwasser und schlug allein – allein für immer – den Weg nach Paris ein.

7. Kapitel. Luisens Ende

Vier Jahre waren nach dem Begräbnis der Grafen de la Fère und von Bragelonne verflossen. In der Umgebung von Blois, wo Ludwig XIV. bei Madame zu Gast war, fand eines Tages königliche Jagd statt, und der Kapitän der Falken ritt mit dem Kapitän der Windspiele den hohen Herrschaften voraus. Die beiden Aemter, die diese Herren innehatten, gehörten zu den am besten besoldeten Chargen des Hofs und wurden stets nur Herren aus dem Feudaladel zuteil.

»Sieh da!« rief der Falkonier, »dort kommt der Kapitän der Musketiere. So ist er schon wieder zurück aus Pignerol. Er hat sich gesputet.« – »Herr d’Artagnan altert nie,« sagte der andere, »er sitzt noch im Sattel wie ein Jüngling. Willkommen, Herr Graf!«

Für d’Artagnan war dieser Titel schon nichts Neues mehr; er führte ihn seit drei Jahren. Er redete die beiden Herren freundlich an wie jemand, der einen höheren Rang einnimmt, während sie ihn mit großem Respekt begrüßten. – »Sie haben die 200 Meilen bis Pignerol rasch hin und her gemacht, Herr Graf,« sagte der Kapitän der Windspiele. »So ist nun Herr Fouquet dort. Mich wundert das! Das Parlament hat ihn schuldig gesprochen, und der König begnadigt ihn nun zu lebenslänglichem Gefängnis. Das ist viel Milde für jemand, der den König bestohlen hat.« – »Herr,« antwortete d’Artagnan grob, »wenn man mir sagte, Sie hätten Ihren Hunden die Brotrinden weggegessen, so würde ich es nicht glauben. Wenn Sie aber gar deshalb zu Geißelhieben und Kerker verurteilt worden wären, so würde ich Sie bemitleiden und nie dulden, daß jemand übel von Ihnen spräche. Ich schwöre Ihnen, so ehrbar Sie auch sein mögen, Sie sind es nicht in höherem Maße, als der arme Herr Fouquet es war.«

Der Kapitän der Windspiele senkte den Kopf und schluckte die Lektion ohne Widerrede hinunter.

»Werden wir eine lange Jagd haben?« wandte d’Artagnan sich an den Kapitän der Falken. – »Nein,« antwortete dieser, »der König macht sich nicht viel daraus, er tut es nur, um den Damen Kurzweil zu bereiten.« – »Ah!« machte der Musketier. »Sie lächeln so sonderbar. Ich weiß nichts Neues mehr. Ich bin einen Monat fort gewesen und komme eben erst wieder. Als ich ging, trauerte man um den Tod der Königin-Mutter. Der König schien untröstlich, aber alles nimmt ein Ende. Er ist jetzt nicht mehr traurig, wie mir scheint. Desto besser! Wer ist denn alles mit von der Partie? Wie geht es der Herzogin von Orléans? Wie geht es der Königin?«

»Besser, Herr Graf.« – »So ist sie krank gewesen?«

»Seit dem letzten Verdruß, den es gegeben hat, war sie leidend.« – »Verdruß? Welcher Art?« – »Seit dem Tode ihrer Schwiegermutter fühlte die Königin sich vernachlässigt und beklagte sich beim König, der ihr zur Antwort gab: Schlafe ich nicht jede Nacht bei Ihnen, Majestät? Was wollen Sie mehr?« – »Ah,« rief d’Artagnan, »so haßt sie die Lavallière noch immer?« – »O, die Lavallière nicht mehr,« versetzte der Falkonier. – »Wen denn?«

Der Klang der Jagdhörner machte dem Gespräch ein Ende. Die beiden Herren ritten mit den Hunden und den Vögeln fort. D’Artagnan blieb allein. Nach wenigen Minuten war die Jagdgesellschaft heran. Der König erschien in einer Schar von Herren und Damen. Hinter den Reitern und Reiterinnen sah man drei Kutschen, in denen die Damen saßen. Die erste Kutsche war die der Königin: doch es saß niemand darin. D’Artagnan, der Fräulein von Lavallière suchte, blickte in die zweite Kutsche und sah sie dort mit zwei Ehrendamen. Alle drei schienen sich sehr zu langweilen. An der Seite des Königs aber, wo bisher Luise ihren Platz gehabt hatte, bemerkte d’Artagnan eine andere Frauengestalt: eine stolze, blendende Schönheit. Sie sprach ein paar Worte, und ihre Umgebung zollte ihr durch einmütiges Lachen lauten Beifall – das sicherste Zeichen dafür, daß sie schon in allerhöchster Gunst stand. – »Ah, die Tonnay-Charente,« murmelte d’Artagnan, »die seit kurzem mit Herrn von Montespan verheiratet ist.«

Ludwig XIV. erblickte d’Artagnan. »Wieder zurück, Graf?« rief er, »warum habe ich Sie noch nicht gesehen?« – »Majestät schliefen schon, als ich gestern abend zurückkehrte, und waren noch nicht wach, als ich heute morgen meinen Dienst antrat.« – »Immer derselbe,« sagte Ludwig lächelnd. »Ruhen Sie sich aus, ich befehle es Ihnen, und heute abend speisen Sie mit mir.« Ein Gemurmel der Bewunderung umschwirrte den Musketier – man drängte sich zu ihm, denn von dem König zu Tisch geladen zu werden, war eine große Ehre. Der König ritt weiter, und d’Artagnan sah sich alsbald von einer anderen Gruppe umringt, in deren Mitte er Colbert erblickte. – »Guten Tag, Herr Graf!« rief der Minister, »Sie sind zur Tafel geladen? Da werden Sie einen ehemaligen Freund von Ihnen wiedersehen.« – »Einen ehemaligen Freund?« antwortete d’Artagnan und versenkte sich schmerzlich in die düsteren Fluten der Vergangenheit, die für ihn so viele Freundschaften und Feindschaften verschlungen hatte. – »Den Herzog von Alameda,« fuhr Colbert fort, »den Unterhändler Spaniens, der heute morgen angekommen ist.« – »Den Namen höre ich zum ersten Male,« sagte d’Artagnan verwundert. »Wer ist das?«

»Ich bin es!« antwortete eine Stimme, und ein Greis mit schneeweißem Haar und gebeugtem Rücken stieg aus der dritten Kutsche. – »Aramis!« rief d’Artagnan verblüfft. Er sprang vom Pferde und ließ sich ohne Widerstreben von den zitternden Armen des alten Seigneurs umfassen. – Colbert ritt fort und ließ die beiden Freunde allein.

»So sind Sie hier?« rief d’Artagnan. »Sie, der Rebell, der Geächtete, der Staatsverbrecher?« – »Ich bin in Frankreich und speise mit dem König,« antwortete d’Herblay lächelnd. »Nicht wahr, nun fragen Sie, wozu die Treue auf der Welt frommt? Lassen wir die Lavallière darauf antworten, die hier an uns vorüberfährt. Sehen Sie, wie ihr von Tränen schimmerndes Auge nach dem König blickt, der mit der Frau von Montespan vorausreitet.« – Sie plauderten während der ganzen Jagd miteinander. D’Artagnan ritt neben der Kutsche d’Herblays her, welche von ihrem Führer so geschickt gelenkt wurde, daß sie gerade in dem Moment zur Jagdgesellschaft zurückkam, als der Falke den Reiher gestoßen hatte und der König vom Pferde sprang. Zu gleicher Zeit schwang sich Frau von Montespan aus dem Sattel. Der Falke war mit dem Reiher in einer kleinen Umfriedung niedergefallen, in deren Mitte man eine alte Kapelle erblickte, rings von dichten Sträuchern und Bäumen umgeben. Während die Gesellschaft um diese Einfriedung einen Kreis bildete, trat der König hinein, um der Sitte gemäß den von dem Falken festgehaltenen Reiher abzufangen und ihm die erste Feder zu entreißen.

»Wissen Sie, wohin der Zufall uns geführt hat?« sprach d’Artagnan zu Aramis. »Bei dieser Kapelle liegen Leute begraben, die wir gekannt haben,« – »Ha!« rief der Bischof erbleichend, und trat mit dem Musketier durch eine kleine Seitenpforte in die Kapelle. »Wo ruhen sie?« – »Sehen Sie das Kreuz unter der Zypresse dort?« antwortete d’Artagnan. »Doch gehen Sie jetzt nicht hin. Der König ist eben dort, weil der Reiher dicht neben das Doppelgrab gefallen ist.«

Sie blieben im Schatten stehen und sahen nun, ohne selbst gesehen zu werden, das blasse Antlitz der Lavallière, die, hingerissen von Eifersucht, aus der Kutsche gesprungen und in die Umfriedung eingedrungen war. Hier sah sie nun, hinter einen Baum geschmiegt, wie der König lächelnd die Hand der Frau von Montespan ergriff und küßte. Dann schmückte er ihren Hut mit der ersten Feder, die er dem Reiher ausgerissen hatte. Sie lächelte ebenfalls und küßte nun auch ihm die Hand. Da errötete der König vor Freude, und aus seinen Augen leuchtete Liebe und Verlangen. – »Und was schenken Sie mir?« fragte er. – Sie brach ein Zweiglein von der Zypresse und bot es dem von seliger Hoffnung berauschten König dar.

»Das ist ein trauriges Geschenk,« murmelte Aramis, »denn die Zypresse beschattet ein Grab.« – »Ja, und zwar das Grab Rudolfs von Bragelonne,« setzte d’Artagnan hinzu, »der hier neben seinem Vater schlummert.« – Ein Seufzer erklang in der Stille dieses Ortes; Luise von Lavallière sank ohnmächtig über das Grab hin. – »Arme Frau!« murmelte d’Artagnan, »wie groß wird ihr Leid in Zukunft sein!«

Am Abend saßen d’Artagnan und d’Herblay an der königlichen Tafel. Der König war sehr zuvorkommend gegen Madame, denn man trieb zu dieser Zeit hohe Politik. Man stand kurz vor der Eröffnung des Krieges mit Holland. Der spanische Unterhändler war zu dem Zweck herübergekommen, um ein Neutralitätsbündnis zwischen Spanien und Frankreich abzuschließen, und von Madame erwartete Ludwig nichts Geringeres als ein gleiches Bündnis mit England. Es ward ihm nicht schwer, sie zu einer Reise nach London zu bestimmen, und sie verlangte als Gegendienst nichts weiter, als daß er ihr versprechen sollte, den Grafen von Guiche, der seit langem vom Hofe verbannt war, zurückzurufen und an seiner Statt den ihr verhaßten Chevalier von Lorraine, der beständig zwischen ihr und Monsieur Feindschaft säte, ins Exil zu schicken. Damit hatte Ludwig sich ihre Fürsprache am englischen Hof leichten Kaufs erworben.

Ludwig XIV. sah sich um, und sein königlicher Blick fiel auf Monsieur, seinen Bruder, der mit Mißtrauen nach ihm und seiner Frau geschaut und sich über ihr langes angelegentliches Gespräch gewundert hatte. – »Mein lieber Bruder,« sprach der König, »ich bin mit dem Chevalier von Lorraine sehr unzufrieden. Sie werden ihm den Rat geben, ein paar Monate auf Reisen zu gehen.« – Diese Worte fielen wie eine Lawine über den armen Herzog von Orléans her, der seinen Günstling vergötterte und ohne ihn nicht leben zu können glaubte. – »Wodurch hat der Chevalier Ihr Mißfallen erregt?« fragte er. – »Das werde ich Ihnen sagen, wenn er abgereist ist,« antwortete Ludwig, »und während Madame in England ist.« – »Was? Madame geht nach England?« rief Monsieur erstaunt. – »Ja, in acht Tagen, lieber Bruder,« erwiderte der König, lächelte seinem Bruder zu und wandte sich an Colbert und Aramis, die inzwischen miteinander verhandelt hatten.

»Nun,« rief er, »werden wir auf Spaniens Neutralität rechnen können?« – »Frankreich mit Holland zu entzweien, entspricht ganz unserer Politik,« antwortete der Herzog von Alameda. »Aber ein Krieg mit Holland wird ein Seekrieg, und in einem solchen wird Frankreich nur obsiegen können, wenn England sich neutral verhält.« – »Dafür ist gesorgt,« sagte Ludwig lächelnd. – »Und dann gehört dazu eine stärkere Flotte, als Frankreich sie besitzt,« fügte Aramis hinzu. – Colbert zog eine Liste aus der Tasche und antwortete: »Hier ist ein Verzeichnis der französischen Schiffe. Wir verfügen über 35 Kreuzer. Daraus werden jetzt schon drei Geschwader gebildet. Bis zum Ende dieses Jahres aber werden wir 50 Linienschiffe haben.« – »Potzwetter!« rief d’Artagnan und riß die Augen auf. »Das ist viel, Herr Colbert. Aber wie steht es mit der Ausrüstung? Wir haben keine Gießerei in Frankreich.«

»Ah,« antwortete der Staatsmann lächelnd, »in anderthalb Jahren habe ich es dahin gebracht, daß wir das alles in Frankreich haben. Sie kennen Herrn d’Infreville nicht? Er gießt jetzt Kanonen für mich in Toulon. Und Sie kennen Herrn Forant nicht? Er hat, die Zeit des Friedens benützend, in Holland selbst für mich Blei, Pulver, Holz, Lunten, Granaten, Schiffsteer und dergleichen in großen Mengen aufgekauft. Das ist um sieben Prozent billiger gewesen, als wenn ich es hier selbst hergestellt hätte. Und Sie kennen auch Herrn Destouches nicht? Das ist ein Mann, der den Schiffsbau aus dem Grunde versteht, und er überwacht jetzt die Herstellung von sechs Schiffen zu je 78 Kanonen. Sie sehen also, ich weiß meine Leute zu finden, und der König wird, wenn es zum Kriege kommt, über eine sehr tüchtige Flotte gebieten. Ob aber die Landmacht gut bestellt ist, das wissen Sie, Herr d’Artagnan, besser als irgendwer.«

Aramis und der Musketier blickten einander an und bewunderten die stille, geheimnisvolle Arbeit, die dieser Mann in so kurzer Zeit geleistet hatte. Colbert lächelte gerührt über diese stumme Schmeichelei, die beste von allen. – »Wenn wir in Frankreich nichts davon erfahren haben,« sprach d’Artagnan, »im Auslande weiß man es erst recht nicht.«

»Und, Herr Herzog,« fuhr Colbert fort, »wenn Spanien neutral bleibt, so wird es England auch tun.« – »In diesem Falle bürge ich für Spaniens Neutralität,« antwortete Alameda. – »Das wird Ihnen den Orden des goldenen Vlieses eintragen, Herr Herzog,« sprach Colbert. Aramis verneigte sich. – »Und Sie, Herr d’Artagnan,« fuhr Colbert fort, »hätten Sie Lust, unsere Landarmee gegen die Holländer zu führen? Ihnen wird das den Marschallstab bringen.« – D’Artagnan wurde blaß vor Freude und griff zitternd nach dem Feldzugsplane, den Colbert ihm reichte.

»Der König wird aus diesem Feldzug als Sieger hervorgehen oder mich nimmer wiedersehen,« sprach er und drückte mit Wärme die Hand des Ministers.

Am folgenden Tage nahm Aramis Abschied von d’Artagnan. Sie lagen sich lange in den Armen. – »Wir müssen uns nun für vier lieben,« sprach der Musketier. »Wir sind nur noch zwei.« – »Und mich wirst du vielleicht nicht mehr wiedersehen, lieber d’Artagnan,« sagte Aramis. »Ich bin alt, ausgelöscht, dem Tode nahe.«

»Ah, du wirst mich überdauern,« rief der Musketier. »Die Diplomatie heißt dich leben. Mir aber gebietet die Ehre zu sterben.« – »Bah, Herr Marschall,« sagte Aramis, »wir werden nicht eher sterben, als bis wir von Freude und Ruhm gesättigt sind.« – »O, Herr Herzog,« antwortete d’Artagnan lächelnd, »ich habe kein Verlangen mehr.« – Und sie umarmten sich ein letztes Mal.

8. Kapitel. D’Artagnans Tod

Die Bündnisse mit Spanien und England waren vollzogen, der Krieg mit Holland begann. Im Frühjahr rückte die Landarmee aus. Sie marschierte in wundervoller Ordnung auf das feindliche Gebiet hinüber. D’Artagnan führte das Kommando über ein Korps von 12000 Mann Kavallerie und Infanterie und hatte den Sonderbefehl, Friesland zu erobern. Er blieb in diesem Feldzuge seiner früheren Gewohnheit treu, vom Lande des Feindes zu leben, seine Soldaten singen zu lassen, den Feind weinen zu machen. Der Kapitän der Musketiere setzte seinen Stolz darein zu zeigen, daß er sein Handwerk verstehe. Er manöverierte mit so großem Geschick, daß er keine einzige Schlappe erlitt und in einem Monat zwölf kleine Festungen eroberte. Er stand vor der dreizehnten, die sich seit fünf Tagen hielt. Er ließ nun Minen legen und Sturm laufen. An den König sandte er einen Boten und erstattete Bericht über seine letzten Erfolge. Seine Majestät erinnerte daraufhin Herrn Colbert daran, daß man Herrn d’Artagnan ein Versprechen zu halten habe, und daß es, weil er die seinen so trefflich einlöste, nun an der Zeit sei, dies auszuführen.

Demzufolge schickte Herr Colbert den Offizier, der d’Artagnans Brief gebracht hatte, zurück und gab ihm einen von ihm selbst geschriebenen Brief mit und ein Kästchen aus goldverziertem Ebenholz, das zwar klein war, aber etwas sehr Wichtiges zu enthalten schien, da er dem Boten eine Bedeckung von fünf Mann mitgab. Der Offizier kam vor der Festung an und ließ sich sofort zu Herrn d’Artagnan führen, der persönlich die Arbeit an neuen, weit vorgeschobenen Laufgräben leitete.

Die hohe Gestalt d’Artagnans überragte alle andern. Die goldenen Tressen seines Hutes und seiner Uniform leuchteten in der Sonne. Er kaute an seinem weißen Schnurrbart und klopfte ab und zu den Staub ab, mit den die den Sand aufwühlenden feindlichen Kugeln seinen Rock überschütteten. Inmitten des heftigen Feuers wurde mit Schaufeln und Spaten fleißig gearbeitet, und der General gab seinen Leuten das beste Beispiel der Tapferkeit, indem er, unbekümmert um das furchtbare Pfeifen, das rings die Luft erfüllte, die Arbeiten selbst leitete. Nach drei Stunden meldete ihm der Hauptmann der Pioniere, der Laufgraben sei fertig.

Der Mann hatte diese Worte kaum gesprochen, als ihm eine Kanonenkugel das Bein wegriß. Er sank in d’Artagnans Arme.

Der General hob den Verwundeten empor und stieg mit ihm in den Laufgraben hinab. Laut jubelten die Soldaten, als sie das sahen. Ein Fieber des Mutes ergriff alle, sie stürzten vorwärts, und der neue Graben war im Nu dicht gefüllt. Mit so jäher Gewalt erfolgte nun der Sturm, daß der Feind nicht standzuhalten vermochte. Man eroberte die äußeren Böschungen. Die vordersten feindlichen Geschütze fielen in die Hände der Franzosen. Dort aber kam der Kampf zum Stehen. Die Holländer verteidigten zäh jeden Fußbreit des Bodens.

D’Artagnan hielt inne, und sein Falkenauge überflog die Situation. Da hörte er eine Stimme neben sich: »Mein Herr, ich komme von Herrn Colbert.« – Der General nahm das Schreiben entgegen, öffnete es und las: »Herr d’Artagnan, der König beauftragt mich, Ihnen Ihre Ernennung zum Marschall von Frankreich hiermit kundzutun. Es ist Ihr Lohn für die guten Dienste und für die Siege, zu denen Sie Ihre Truppe geführt haben. Mögen Sie auch noch die Belagerung, die Sie inzwischen begonnen haben, mit Erfolg zu Ende führen!«

Der General sah auf und erkannte, daß seine Soldaten abermals weiter vorgedrungen waren. – »Es geht zu Ende,« sagte er. »in einer Viertelstunde ist die Festung unser.«

Dann fuhr er fort zu lesen: »Das Kistchen, Herr d’Artagnan, ist ein Geschenk von mir. Nehmen Sie das kleine Kunstwerk freundlich entgegen. Ich empfehle mich Ihrer Wohlgeneigtheit. Allzeit der Ihre …

Colbert.«

D’Artagnan, trunken vor Freude, hielt das Kästchen in den Händen, aber als er es öffnen wollte, geschah eine furchtbare Explosion auf den Wällen, und er sah auf. »Seltsam!« sprach er, »ich sehe noch nicht das Lilienbanner auf den Zinnen, ich höre noch nicht das Trommelzeichen der Uebergabe.« – Er schickte dreihundert frische Soldaten in den Sturm und befahl eine neue Bresche zu schießen.

Darauf sah er wieder das Kästchen an. Er sagte sich, er habe, was darinnen sei, ehrlich verdient. Er öffnete es – da brauste aus der Festung eine Kanonenkugel heran, traf ihn mitten in die Brust und streckte ihn ins Gras nieder, wobei aus dem Kästchen der Marschallstab hervorrollte und in seine gelähmte Rechte glitt. Er versuchte aufzustehen – aber die Kräfte verließen ihn. Es erhob sich lautes Geschrei unter den Offizieren seines Stabes. Man beugte sich zu ihm nieder und sah, daß seine Brust mit Blut bedeckt war, während Todesblässe sein edles Antlitz überzog.

Gestützt auf die Arme, die sich von allen Seiten nach ihm ausstreckten, hob er sich noch einmal empor und blickte nach der Festung hin. Da sah er die weiße Fahne auf dem Hauptwall wehen; und sein für das Geräusch des Lebens schon taubes Ohr vernahm noch den Trommelwirbel, der den Sieg verkündete.

Seine Hand schloß sich krampfhaft um den mit Sammet umschlossenen, mit goldenen Lilien bestickten Marschallstab, er sah darauf herab, da er nicht mehr die Kraft hatte, den Blick gen Himmel zu erheben, und dann sank er nieder. Man hörte ihn die folgenden Worte murmeln, welche den Umstehenden wie eine Zauberformel erklangen – Worte, die einst auf Erden so viel bedeutet hatten und die jetzt niemand mehr als dieser Sterbende verstand:

»Athos! Porthos! auf Wiedersehen! Aramis! lebwohl auf immer!«

 

Ende.

6. Kapitel Herr d’Artagnan sucht seine Freunde

Zwei Stunden nach der Abreise des Hausherrn ritt ein Reiter vor. Blaisois erkannte ihn und rief: »Der Chevalier d’Artagnan! Geschwind, ihr andern, macht das Tor auf!« – Acht dienstfertige Burschen, über die nun Blaisois als Gebieter gesetzt war, eilten hinaus und ließen den Ankömmling herein. – »Wo ist der liebe Graf?« rief dieser, bereit, sich aus dem Sattel zu schwingen. – »Der gnädige Herr hat wirklich Unglück,« antwortete Blaisois, »der Herr Graf ist vor zwei Stunden weggeritten.« – »So warte ich,« antwortete d’Artagnan ruhig. – »Da könnten Sie lange warten, Herr Chevalier, denn es handelt sich um eine lange Reise, von der der Graf sobald nicht wiederkommen wird. Der Herr Graf hat das Haus meiner Obhut anvertraut, und das tut er nur, wenn er lange wegbleiben will. Als Reiseziel nannte er mir Paris.« – »Mehr brauche ich ja nicht zu wissen. Und zwei Stunden ist er voraus?« Mit diesen Worten saß der Chevalier schon wieder im Sattel. »Ist er allein?« – »Nein, zwei Männer, die ich nicht kenne, sind bei ihm, ein alter und ein junger, und dann noch Herr Grimaud. Doch einen Augenblick noch, gnädiger Herr!« setzte Blaisois hinzu und hielt das Pferd fest, »die Sache mit Paris ist nur ein Vorwand gewesen – ich weiß das genau –« – »Nun, zum Teufel, wo will er sonst hin?« – »Das ist’s ja eben, Herr – ich habe keine Ahnung. Paris ist es nicht, denn Grimaud hat mir mal geschworen, wenn er je nach Paris gehe, für mich etwas an meine Frau mitzunehmen, von der ich getrennt lebe. Jetzt hätte er also ganz bestimmt dieses Versprechen ausgeführt, denn Grimaud denkt an seine Versprechen, das wissen Sie ja. Daran habe ich erkannt, daß es in Wahrheit nicht nach Paris geht.« – »Und wohin sonst, das kannst du mir auch nicht sagen?« rief d’Artagnan. »Nun, das fängt ja wieder gut an. Adieu!« Er riß sein Pferd herum und sprengte von dannen.

»Sollte Athos wirklich auf die Reise gegangen sein? Er hat den Teufel mit seiner ewigen Geheimniskrämerei! Vielleicht kann ich ihn für meine Zwecke doch nicht brauchen. Ein schlauer Kopf, ein andauernder Geist – das ist’s, was ich brauche, und das finde ich nur in einem gewissen Pfarrhause zu Melun. Also auf, dorthin. Vier und einen halben Tag zu reiten. Doch das macht nichts, es ist ja schönes Wetter.« –Vier Tage später traf er denn auch in Melun ein. D’Artagnan pflegte unterwegs nie in geringfügigen Dingen um Auskunft zu fragen, und solange er sich nicht völlig verirrt hatte, verließ er sich stets auf seinen oft bewährten Scharfsinn und auf seine dreißigjährige Erfahrung. Er fand das Pfarrhaus sogleich, denn die Häuser erkannte er an ihrem Aeußern ebenso sicher wieder wie die Menschen. Aus dem Erdgeschoß erscholl ein Summen von Stimmen, als wenn Kinder das Alphabet buchstabierten, und eine tiefere Stimme schien ihre Fehler zu korrigieren. Diese Stimme erkannte d’Artagnan; er ritt heran, steckte den Kopf durch das Weinlaub am Fenster und rief: »Guten Tag, lieber Bazin!«

Ein kleiner dicker Mann mit breitem Gesicht und einer Tonsur auf dem Haupte, fuhr von seinem Platze in die Höhe, als wenn eine Nadel ihn gestochen hätte. »Sie hier?« rief er erstaunt, »Herr d’Artagnan?« – »Ja, ich bin’s. Wo ist Aramis oder vielmehr Chevalier d’Herblay oder noch richtiger, der Herr Generalvikar?« – »Ihro Gnaden sind in ihrer Diözese,« antwortete Bazin.

»Was? Aramis hat eine Diözese.« – »Freilich! Warum sollte er keine haben?« – »Er ist also jetzt Bischof?« – »Na, gnädiger Herr, wissen Sie denn das nicht?« – »Wir Leute vom Degen wissen wohl, wenn jemand Marschall wird, aber wir fragen nicht danach, wer Bischof und wer Papst wird.« – »Still! still!« rief Bazin, »reden Sie nicht so vor den Kindern hier.«

Die Kinder hatten inzwischen Herrn d’Artagnan umringt und staunten sein Roß, sein Schwert und seine Sporen an. Bazin jagte sie mit Schlägen in die Schulstube zurück. – »Wo ist die Diözese deines Herrn?« rief der Haudegen. – »Monseigneur René ist Bischof von Vannes.« – »Wer hat ihm denn dazu verholfen?« – »Der Herr Oberintendant, unser Nachbar.« – »Was? Fouquet? Also steht sich Aramis gut mit ihm?« – »Er hat dort alle Sonntage gepredigt und ist später mit dem Herrn Oberintendanten immer auf die Jagd gegangen?« – »So, so! Und nun ist er in Vannes? Warum bist du nicht mit deinem Herrn gegangen? Wie lange ist er dort?« – »Seit einem Monat. Ich habe hier doch so viel zu tun. Da kann ich doch nicht weg.« – »Wie? Bist du denn gar Priester geworden?« – »Noch nicht. Da nun aber der gnädige Herr fort ist, wird’s damit nicht mehr lange dauern,« antwortete Bazin, sich die Hände reibend.

»Laß mir was zum Abendbrot zurechtmachen, Bazin!« rief d’Artagnan, »und besorge meinen Gaul, wenngleich ihr hier wohl nicht mit Pferden umzugehen versteht.« – Bazin betrachtete das Pferd ziemlich geringschätzig. – »Der Herr Oberintendant,« antwortete er, »hat vier Pferde aus seinem Marstall hergeschickt, die alle mehr wert sind als Euers hier. Junge!« rief er einem seiner Schüler zu, »lauf und sag‘ der Köchin, sie solle ein kaltes Huhn herrichten.« – Diese Worte besänftigten den Soldaten wieder, der über die Beleidigung seines Rosses schon außer sich geraten wollte. »Sieh da!« sagte er, »wenn der Herr Oberintendant so viele Pferde hat, so hat er wohl auch Musketiere.« – »Jedenfalls hat er Geld genug, alle Musketiere des Königs zu unterhalten,« versetzte Bazin prahlerisch.

Da das Abendessen inzwischen fertiggemacht war, trat der Reitersmann in die Küche und ließ sich’s gut schmecken. Während des Essens versuchte d’Artagnan, Bazin über alles mögliche auszufragen, aber er hatte damit wenig Glück. Bazin war auf seiner Hut und ließ die Neugierde seines Gastes unbefriedigt. Obwohl das Bett, das ihm angewiesen wurde, in seiner Art fast noch härter war, als das gebratene Huhn gewesen, so fürchtete sich d’Artagnan doch ebensowenig davor, sondern streckte sich behaglich aus und brauchte nicht mehr Zeit dazu einzuschlafen, als er zum Abnagen des letzten Hühnerknochens gebraucht hatte.

Am andern Morgen war d’Artagnan bei früher Stunde schon wieder unterwegs. Sein nächstes Ziel war Pierrefonds, wo er endlich einen Freund und eine volle Geldkiste zu finden hoffte. Er ritt an dem Schlosse des Herzogs Ludwig von Orléans vorbei – einer mittelalterlichen Burg mit dicken Mauern und hohen Türmen – und erblickte am Morgen des dritten Tages am Ufer eines großen Teichs und am Saume eines herrlichen Waldes das Schloß seines Freundes Porthos. Als er in den Wald hineingeritten war, sah er wenige Schritte vor sich einen großen Kasten, der sich auf zwei Rädern bewegte und von zwei Lakaien geschoben, von zweien gezogen wurde. Der unförmige Gegenstand, der sich darin befand, war zunächst nicht zu erkennen, dann glaubte d’Artagnan, es sei ein Faß, und dann, als er noch näher kam, ward ihm klar, daß es ein fabelhaft aufgedunsener Mensch war, der das ganze Innere ausfüllte. Und dieser Mensch war Mousqueton – Mousqueton mit weißen Haaren und rotem Gesicht.

»Wahrhaftig, das ist ja Mousqueton!« rief er aus. »Heda, Freund!« – »Was?« schrie der Dicke. »Herr d’Artagnan! Haltet an, Kerle! O, verehrter Herr! Ich kann Ihre Knie nicht umfassen, ich bin ein Krüppel geworden.« – »Das bringt das Alter mit sich, Freundchen.« – »Nein, ich hab’s vom Herzeleid!« stöhnte Mousqueton. »Ach, meine Beine wollen mich nicht mehr tragen.« – »Du fütterst sie zu gut.« – »Jenun, ich habe für meinen Körper stets getan, was in meinen Kräften stand. Ich bin nie einseitig gewesen. Aber wie wird sich der gnädige Herr freuen, daß Sie mal wieder an ihn gedacht haben! Das muß ich ihm gleich schreiben.« – »Was? Schreiben? Also ist er nicht hier? Wo ist er denn? Weit weg oder in der Nähe?« – »Das weiß ich nicht,« antwortete Mousqueton.

»Potzblitz! welch ein Pech! Der Stubenhocker Porthos ist ausgeflogen!« rief d’Artagnan und schlug sich auf den Schenkel. – »Allerdings. Unser Herr pflegt selten auszugehen, aber wenn man von einem Freunde aufgescheucht wird –« – »Von wem denn?« – »Von Chevalier d’Herblay.« – »Was du sagst! Aramis hat Porthos aufgescheucht? Wie ging denn das zu?« – »Lassen Sie sich erzählen,« berichtete Mousqueton, »Herr d’Herblay hat an den gnädigen Herrn einen Brief geschrieben, der ihn ganz außer Rand und Band gebracht hat. Das war vor etwa acht Tagen. Er schlug förmlich um sich – na, und Sie wissen ja! Ueberhaupt jetzt! er ist auch nicht mehr so gut auf den Beinen, da hat sich alle Kraft in die Arme gezogen –« – »So daß er also noch jetzt einen Ochsen zu Boden schlagen kann, wie früher.« – »Ganz recht. Kaum hatte der gnädige Herr den Brief gelesen, so schrie er: ›Geschwind, meine Pferde! Meine Waffen!‹« – »Dann hat es sich wieder um ein Duell gehandelt,« meinte d’Artagnan. – »Mit nichten. Der Brief enthielt nur die Worte: ›Wenn Sie noch rechtzeitig vor der Tag- und Nachtgleiche eintreffen wollen, lieber Porthos, dann wird es nun Zeit, daß Sie sich auf den Weg machen.‹«

»Hm!« brummte d’Artagnan, »dann scheint es ja etwas sehr Dringliches gewesen zu sein. Ob er wohl noch rechtzeitig angekommen ist?« – »Das hoffe ich. Unser Herr ist ja kein Freund von Langsamkeit. ›Donnerwetter!‹ rief er, ›was ist das mit der Tag- und Nachtgleiche? Doch einerlei! Der Kerl muß gut zu Pferde sein, wenn er vor mir ankommen will!‹« – »So meinst du, Porthos sei noch zuerst angekommen?« – »Daran zweifle ich nicht. Bessere Rosse als mein Herr hat niemand.« Mousqueton ließ sich von den Lakaien weiterfahren, und d’Artagnan folgte ihm. Unterwegs stellte er noch viele Fragen, aber es war nichts weiter aus Mousqueton herauszuholen. D’Artagnan schlief in dieser Nacht in einem vortrefflichen Bette. Am andern Tage verließ er denn nun auch Pierrefonds, ohne dort seinen Zweck erreicht zu haben. Und jetzt wußte er nicht mehr, wohin er sich wenden sollte. Gesenkten Hauptes saß er zu Rosse. »Keine Freunde mehr – keine Zukunft mehr!« brummte er vor sich hin. »Alles vorbei! Das Alter kommt, die Jugend ist heidi. Der Tod streckt seine Hand nach mir aus.« Der Gaskogner bebte, so männlich er auch war. – »Ah bah!« rief er auf einmal, spornte sein Roß und schlug einen Galopp an. »Nach Paris!« – Schon am folgenden Tage kam er dort an. Seit er es verlassen, waren zehn Tage verstrichen.

7. Kapitel. D’Artagnans große Idee

Der ehemalige Leutnant stieg vor einem Kolonialwarenladen in der Rue des Lombards ab. Ein stattlicher Mann, der an der Kasse stand und das Geld der Kunden entgegennahm, stieß bei seinem Anblick einen Schrei freudiger Ueberraschung aus. – »Sie sind’s, Herr Chevalier!« – »Guten Tag, Planchet!« antwortete d’Artagnan, eintretend. »Schick das Gesindel da weg, ich muß mit dir reden.« Mit diesen Worten meinte er die Laufburschen und Ladendiener, die im Geschäft die Bedienung der Kunden besorgten. – »Heda!« befahl Planchet, »einer besorgt das Pferd des Herrn, einer richtet ihm das Zimmer her, und einer deckt den Abendtisch! Euer Gnaden müssen sich mit dem Gespräch schon noch ein wenig gedulden, ich kann den Laden nicht verlassen,« setzte er hinzu, sich an den Reitersmann wendend. »Um was handelt sich’s denn?« – »O, um etwas sehr Angenehmes, gib dich zufrieden.« – »Das freut mich zu hören.« Und Planchet atmete tief auf. Dann widmete er sich wieder dem Publikum. – D’Artagnan, auf einer Kiste sitzend, betrachtete seinen früheren Diener. Der pfiffige Planchet war ziemlich dick geworden, aber sein Gesicht hatte noch immer die charakteristischen Zeichen der Schlauheit, Habgier und Beharrlichkeit, die das überwuchernde Fett nicht zu verwischen vermochte.

Endlich führte der Kaufmann seinen ehemaligen Herrn in sein Zimmer und bot ihm dort ein einfaches, aber trefflich zubereitetes Mahl an. Dazu gab es Anjouwein, welche Sorte d’Artagnan ja von jeher am liebsten trank. – »Ehemals, Herr Chevalier,« sagte Planchet, eingießend, »trank ich Ihren Wein; nun macht es mich glücklich, Sie den meinigen trinken zu sehen.« – »Und ich hoffe, ihn noch lange trinken zu können,« antwortete d’Artagnan. – »Sie sind also beurlaubt?« – »Sogar verabschiedet.« – »Nicht mehr im Dienst? Und der König?« – »Muß ohne mich fertig werden. Doch nun höre mich an. Ich habe dir was zu sagen. Zuerst von Geschäften! Was macht denn unser Geld?« – »O, das steckt noch immer im Geschäft und bringt neun Prozent. Davon gebe ich Ihnen sieben. Bringen Sie frisches?« – »Nein, hast du denn welches nötig?« – »Gott bewahre! Alle Leute wollen jetzt ihr Geld bei mir anlegen. Ich mache nämlich nebenbei noch Bankgeschäfte. Das rentiert sich. Doch von welcher Angelegenheit wollten Sie denn sprechen?«

D’Artagnan kraute sich im Schnurrbart. »Das ist eine lange Geschichte, Freund, und auch schwer zu erzählen,« begann er. – »Handelt sich’s um eine Kapitalsanlage?« – »Ja.« – »Und ist was dabei zu verdienen?«

»400 Prozent.« – Planchet schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Flaschen tanzten. – »Jeder steckt 20 000 Livres ins Geschäft,« fuhr d’Artagnan fort. – »Das wäre Ihr ganzes Guthaben, Chevalier,« sagte Planchet. »Und was wird das Geld uns einbringen?« – »Für jeden 50 000 Livres,« – »Das wäre ja fabelhaft!« rief der Kaufmann. »Und wo ist denn das Geschäft zu machen?«

»Nicht hier, sondern in England.« – »Nun, dort blüht freilich die Spekulation. Was ist es denn für eine Art von Geschäft? Ich bin begierig, das Nähere zu erfahren,« und Planchet rückte an d’Artagnan heran. »Planchet,« begann dieser nach kurzem Schweigen, »du hast doch wohl schon von Karl I. gehört?« – »Ach gewiß, Grimaud hat mir doch erzählt, wie Sie versucht haben, ihn zu retten, wie dann sein Kopf doch fallen mußte, und wie Sie eine halbe Nacht in einem mit Pulver geladenen Schiffe gefahren sind – so etwas vergißt man nicht.« – »Nun, dieser Karl I. hatte einen Sohn.« – »Sogar zwei,« sagte der Krämer. »Den jüngern habe ich mal in Paris gesehen, den älteren aber kenne ich nur dem Namen nach.« – »Um ihn handelt es sich aber gerade, denn er ist jetzt Karl II., König von England.« – »Ein König ohne Königreich,« sagte Planchet in salbungsvollem Tone. – »Ja, und unglücklicher als der ärmste Mann in Paris,« setzte d’Artagnan hinzu.

Planchet zuckte die Achseln. Was ging ihn denn dieser unbekannte Monarch an? Und was hatte das mit der großen Idee des Chevaliers zu tun? Das konnte er nicht begreifen. – »Höre weiter, Planchet,« fuhr sein Herr fort. »Ich sah, wie dieser König als Bettler Hilfe bei Ludwig XIV. suchte und wie man ihm jeden Beistand versagte. Der Stolz, mit dem er seinen Jammer ertrug, hat mir gezeigt, daß er von echt königlichem Sinn beseelt ist.«

»Mein Gott ja,« seufzte Planchet, aber er begriff noch immer nicht, inwiefern das alles mit dem fraglichen Geschäft zusammenhinge. D’Artagnan fuhr fort: »Da bin ich nun auf folgenden Gedanken gekommen. Dieser König ohne Königreich, wie du richtig sagtest, ist ohne Zweifel ein Samenkorn, das, um zu blühen und Frucht zu tragen, nur von der richtigen Hand auf den richtigen Boden gesetzt zu werden braucht. Und das will ich nun tun.«

»Sie wollen ihm also wieder zum Throne verhelfen, wenn ich recht verstehe,« antwortete nun Planchet, und als d’Artagnan nickte, fügte er hinzu: »Haben Sie sich das aber auch reiflich überlegt? In England gibt es jetzt ein von der Nation gebildetes Parlament, das seine eigene Armee hat.« – »Aber wir beide zusammen werden doch eben 40 000 Livres anwenden, um eine Armee ins Feld zu stellen.« – »Eine Armee?« rief Planchet, die Hände zusammenschlagend, als hielte er seinen Herrn für verrückt. »Wie stark soll sie denn sein?« – »Vierzig Mann.« – »Nun, Sie selbst sind zwar so viel wert wie 1000 Mann,« versetzte er, »aber trotzdem sind 40 Mann ein bißchen wenig gegen 40 000. Da verlieren wir gleich die erste Schlacht.« – »Auf eine Schlacht wollen wir uns ja auch gar nicht einlassen,« entgegnete d’Artagnan. »Da du in der neuesten Geschichte Englands ein wenig bewandert zu sein scheinst, wirst du wohl auch wissen, daß Cromwell tot ist, daß sein Sohn das Protektorat niedergelegt hat und ein gewisser General Monk jetzt die erste Geige spielt. Das ist ein sehr geschickter Feldherr, denn er hat sich noch nie geschlagen, und auch ein sehr geschickter Diplomat, denn er spricht nie. Ehe er guten Morgen sagt, sinnt er so lange nach, bis es Zeit ist, guten Abend zu sagen. Und deshalb bewundert ihn nun alle Welt. Nun höre, ich gehe mit meinen vierzig Mann hinüber, packe diesen Monk beim Kragen, schnüre ihn zusammen wie einen Warenballen und bringe ihn nach Frankreich. Hier verlange ich nun für ihn ein Lösegeld von 100 000 Talern oder ich liefere ihn an Karl II. aus. Das letztere erscheint mir als das Bessere, denn wenn Karl diesen Monk nicht mehr zu fürchten hat, steht ihm der Weg zum Throne frei, und er wird die 100 000 Taler mit Kußhand bezahlen.«

»Vortrefflich, Herr Chevalier!« rief Planchet. »Aber es erinnert mich das an die bekannte Bärenhaut, die verkauft werden sollte, ehe sie dem Bären abgezogen worden war. Monk gefangen zu nehmen, ist ein kühnes Unterfangen, das blutige Köpfe kosten wird, soviel Glück Sie auch bisher in derlei gewagten Unternehmungen gehabt haben.« – »Es kann nicht fehlschlagen, Planchet, wenn ich es einmal in die Hand nehme. Für dich ist es ein glänzendes Geschäft, für mich ein famoses Abenteuer, das mir in meinem Alter noch große Ehre machen wird, und darauf bin ich ebenso erpicht, wie du auf Geld.« – »Wenn ich denke, daß ein so toller Plan hier mitten zwischen meinen Backpflaumen und Rosinen geschmiedet worden ist,« sagte Planchet, »dann kommt mir mein Büdchen wie ein Palast vor.« – »Aber hüte dich ja, etwas davon verlauten zu lassen, sonst wandern wir in die Bastille. Monk ist Mazarins Bundesgenosse.« – »Wenn man mit Ihnen zusammen gewesen ist, Herr Chevalier, dann hat man erstens keine Angst und zweitens Schweigen gelernt.«

D’Artagnan nickte, nahm Feder und Papier und schrieb: »Zwischen Chevalier d’Artagnan, Musketier-Leutnant a.D., und Herrn Planchet, Kolonialwarenhändler, wird folgender Vertrag abgeschlossen: Beide begründen eine Geschäftsgesellschaft mit einem Kapital von insgesamt 40 000 Livres, von welchem beide je die Hälfte einzahlen. Das Kapital wird verwendet, um eine von Chevalier d’Artagnan entworfene Idee auszuführen. Herr Planchet kennt und billigt diese Idee und wird Kapital und Zinsen erst dann beanspruchen, wenn Chevalier d’Artagnan aus England zurückkehrt, denn dieses Land ist der Schauplatz des geplanten Unternehmens. Chevalier d’Artagnan hat das freie Verfügungsrecht über das Kapital und kann die ganze Summe in jeder ihm zum Besten seiner Idee genehmen Art verwenden. Wenn jedoch auf irgendeine Weise Karl II. von England wieder auf den Thron gelangt ist, dann zahlt Chevalier d’Artagnan an Herrn Planchet die Summe von…«

Er hielt zögernd inne, und der kluge Kaufmann fiel rasch ein: »Die Summe von 150 000 Livres –« – »Nein, nein,« antwortete d’Artagnan, »zu gleichen Teilen verdienen? Das geht doch nicht gut.« – »Aber wir zahlen doch jeder die gleiche Summe Geldes ein,« meinte Planchet. – »Ja, aber dafür bleibst du hübsch zu Hause, während ich meine Haut zu Markte trage. Sagen wir: du bekommst ein drittel, ich zwei.« – »Na ja, einverstanden.« – Und d’Artagnan schrieb weiter: »Die Summe von 100 000 Livres, während er selbst auf 200 000 Livres Anspruch hat, sofern es ihm gelingt, bei der Ausführung seiner Idee die Summe von 300 000 Livres herauszuschlagen. Aber auch jede andere Summe soll in dieser Weise – zwei Drittel zu ein Drittel – zwischen beiden Gesellschaftern geteilt werden. Zur Beendung des Geschäfts wird die Frist von einem Monat gewährt.«

Diesen Vertrag unterzeichneten beide, dann speisten sie zu Abend, und dann nahm d’Artagnan ein Licht und ging auf sein Zimmer. Er fand in dieser Nacht keinen Schlaf, obwohl er sich, seit er sein eigner Herr war, schon an ruhiges Schlafen gewöhnt hatte. Seine Idee ließ ihm keine Ruhe. Er grübelte darüber nach – er erwog sie nach allen Seiten hin. Und schließlich kam er zu dem Entschluß, nicht vierzig, sondern nur zehn Mann anzuwerben. Erstens, sagte er sich, ist es dann erheblich billiger, und zweitens auch weit ungefährlicher. Wenn jemand mit einer Geleitschaft von 40 Mann erscheint, so erweckt das in kriegerischen Zeiten unter allen Umständen Verdacht. Mit zehn Mann jedoch konnte er unbemerkt auftauchen und verschwinden. Er gedachte sie als bretonische Fischer zu verkleiden, eine Barke zu mieten und dann nach England hinüberzusegeln. Dort wollte er angeben, der Sturm habe ihn verschlagen, und er war der Zuversicht, daß selbst der mißtrauische Monk dann keinen Argwohn schöpfen würde.

Am nächsten Morgen machte er sich auf den Weg nach Calais, und dort gelang es ihm dank seinem Scharfblick und seiner großen Menschenkenntnis in sehr kurzer Zeit unter dem Gesindel von Abenteuerern, Landesflüchtlingen, entlassenen Sträflingen und andern zweifelhaften Menschen, von denen Hafenstädte ja immer angefüllt sind, zehn auserlesene Kerle herauszufinden, die seinen Zwecken entsprachen und mit denen er, wenn er sie gut bezahlte, alles wagen konnte.

Er war es nicht anders gewöhnt, als daß ein General, wenn er mit seiner Truppe auszieht, eine Ansprache hält, und daher hielt er nun auch eine, als er seine kleine Schar vollzählig beisammen hatte. »Leute,« sprach er, »ihr seid vom Schicksal dazu bestimmt, miteinander zu leben, vertragt euch also und brecht euch nicht gegenseitig den Hals! Ich habe euch angeworben, weil ihr mir mutig und standfest erscheint. Ihr sollt nun an einem ruhmvollen Wagestück teilnehmen. Indem ihr für mich arbeitet, leistet ihr dem König einen großen Dienst. Aber vergeßt nicht, daß ihr keinem Menschen eine Silbe davon verraten dürft. Gegen alle andern Menschen seid ihr Fischer, und damit gut. Staatsgeheimnisse, das laßt euch sagen, sind ein tödliches Gift; solange das Gift in einer Büchse fest verschlossen ist, schadet es nichts; kommt es unter die Leute, so ist es von vernichtender Wirkung. Und so würde auch jeder von euch, der etwas verrät, von meiner Hand ohne Gnade sterben. Tretet dicht um mich herum, damit weder der Vogel, der über uns hinfliegt, noch der Fisch, der aus dem Wasser schnellt, etwas hören kann. Wir haben auszukundschaften, wieviel Schaden der englische Schleichhandel den französischen Finanzen bereitet. Wir sind arme Fischer aus der Picardie, der Sturm hat uns an die englische Küste verschlagen. Nur im äußersten Notfall greifen wir zu den Waffen. Im übrigen haben wir einen mächtigen Beschützer im Rücken. Und somit: Glück auf!«

Vierzehn Tage später befand sich d’Artagnan mit seinen Leuten im Haag, und von hier aus machte er allein einen Ausflug nach dem kleinen Dorf Scheveningen. Dort lag am Meeresstrande das Häuschen, das Wilhelm von Nassau, der Statthalter von Holland, Karl II. als Wohnung eingeräumt hatte. D’Artagnan hatte davon gehört und überzeugte sich nun von der Wahrheit dieses Gerüchts, um zu wissen, wo er im Falle einer glücklichen Rückkehr den König fände. Er sah Karl II. aus seinem Häuschen herauskommen und an den Strand treten. Dort blickte der unglückliche Monarch lange und unbeweglich über das weite Meer hin, als suchten seine Augen den fernen Strand seiner Heimat. D’Artagnan in seiner Schiffertracht blieb unerkannt.

5. Kapitel Athos

An demselben Morgen, an dem Ludwig von dem Abschied von Maria zurückkehrte, ritt Karl II., der unglückliche Verbannte, der König ohne Land und ohne Geld, auf der Landstraße dahin. Sein treuer Parry bildete sein ganzes Gefolge. Eine halbe Meile etwa waren sie von Blois entfernt, da begegnete ihnen ein Reiter, der an ihnen vorübersprengte, aber trotz der Eile, in der er sich befand, grüßend den Hut zog. Der König, in düstere Gedanken versunken, hätte diesen Mann, einen Jüngling von etwa 25 Jahren, gewiß nicht bemerkt, wenn er ihm nicht dadurch aufgefallen wäre, daß er sich wiederholt umsah und mit dem Hut winkte. Nun erkannte der König auch, daß der Gruß gar nicht ihm gegolten hatte, sondern dem alten Manne, der vor einem Gitter stand und die Winke des jugendlichen Reiters erwiderte. Karl II. wollte weiterreiten, als Parry nach einem Blick auf diesen alten Mann einen Schrei der Ueberraschung ausstieß. Im selben Augenblick war dieser Greis auch auf die beiden fremden Reiter aufmerksam geworden, sah von dem älteren zum jüngeren hin, stieß ebenfalls einen Schrei aus, faltete die Hände und verneigte sich mit allen Zeichen tiefster Ehrerbietung.

»Mein Gott, Parry!« stammelte der König, »dieser Alte scheint mich zu kennen. Wer kann das sein?« – »Sire,« antwortete Parry, »so ist es auch. Gestatten Eure Majestät, daß ich ihn anspreche! Grimaud, sind Sie es wirklich?« rief er und trieb sein Pferd dicht vor das Tor. – »Ich bin es,« antwortete der Greis, sich aufrichtend. – »Sire« rief Parry, »ich hatte richtig gesehen. Dies ist der Diener des Grafen de la Fère, des würdigen Kavaliers, der dem Gedächtnis Eurer Majestät so teuer sein muß.« – »War das nicht der Mann, der meinem Vater in seinen letzten Augenblicken beistand?« fragte Karl, erbebend. »O, sagen Sie!« wendete er sich an Grimaud, »wohnt Euer Herr, Graf de la Fère dort? Und ist er zu Hause?« – »Dort steht er – dort unter den Kastanien.« – »Ich muß ihm persönlich meinen Dank sagen – Freund, haltet mein Pferd.«

Er sprang ab und eilte in den Garten. Als der Graf, der in der Kastanienallee nachdenklich hin und her ging, Schritte vernahm, sah er auf. Beim Anblick eines Unbekannten, der sich durch eine edle Haltung und ein sicheres Auftreten als Kavalier kennzeichnete, nahm er den Hut ab und wartete. Auch Karl entblößte das Haupt. »Herr Graf,« rief er, auf Athos zutretend, »ich bin Ihnen seit langer Zeit Dank schuldig. Ich bin Karl Stuarts Sohn, Karl II.« – Athos erschrak, starrte den Fremden mit seinen großen, blauen Augen an und verneigte sich dann tief. Karl ergriff seine Hand. »Sie sehen keinen König vor sich,« sprach er düster, »sondern einen Unglücklichen, der keinem Menschen die Liebe lohnen kann.« – »Es ist wahr,« sagte Athos, »Eure Majestät sind schwergeprüft.« – »Die schwerste Prüfung steht mir noch bevor,« antwortete der Geächtete. »Gestern noch hatte ich Hoffnung. Mein Vetter, der Statthalter von Holland, hatte mir seine Hilfe zugesagt, wenn Frankreich den ersten Schritt täte. Von Frankreich habe ich nun eine Million Frank und 200 Mann erbeten, mit denen ich alles hätte erreichen können.« – »Und der König hat Ihnen das abgeschlagen?« rief Athos. – »Der König nicht,« antwortete Karl, »aber der Kardinal Mazarin.« – Athos biß sich auf die Lippe. »Das war nicht anders zu erwarten,« murmelte er, »ich kenne den Italiener seit langem.«

»Nachdem Frankreich seine helfende Hand verweigert, ist alles verloren – ich muß dem Schicksal weichen,« sagte Karl II. – »Majestät, ich möchte Ihnen darin nicht ohne weiteres beistimmen,« versetzte Athos. »Ich habe oft schon erlebt, daß gerade dann, wenn es am schlimmsten stand, eine glückliche Wendung plötzlich eintrat.« – »Danke, Herr Graf. Sie meinen es gut, indem Sie mich trösten,« erwiderte Karl mit der Kürze der Verzweiflung, »aber ich weiß, woran ich bin – für mich ist keine Rettung mehr. Ich reite nach Holland, wo man mir ein kleines Schloß als Exil überlassen will. Möge nur der Tod nicht lange auf sich warten lassen!« – »Wollen Eure Majestät mir noch ein paar Minuten vergönnen und mit mir kommen?« fragte Athos, indem er dem Hause zuschritt. Karl II. folgte ihm.

In seinem Zimmer angelangt, bot der Graf dem König einen Sessel an. »Majestät,« sagte er, »Sie äußerten eben, daß Sie mit einer Million Frank Ihr Reich wiedererobern könnten. Hören Sie mich an! Die Geschichte vom Tode Ihres Vaters muß seinem Sohne allerdings sehr schmerzlich sein, dennoch muß ich jetzt darauf zurückkommen, weil gewisse Umstände, so getreu Ihr Diener Ihnen auch alles erzählt haben mag, außer Gott im Himmel nur mir allein bekannt sind.« – »Sprechen Sie, Herr Graf.« – »Als Ihr Vater das Blutgerüst betrat, war alles zur Flucht vorbereitet, und ich selbst befand mich unter den verhängnisvollen Brettern des Schafotts. ›Geh‘ auf einen Augenblick fort,‹ sprach der erlauchte Märtyrer zu dem maskierten Henker, ›und komm wieder, wenn ich dir das Zeichen gebe. Ich will erst ungestört beten.‹«

»Eine Frage, Herr Graf!« unterbrach Karl II. ihn, »wie hieß der Elende, der den Henkerdienst verrichtete?«

Athos wechselte die Farbe. »Ich darf seinen Namen nicht nennen,« antwortete er. – »Aber was ist aus ihm geworden? Man weiß in England nichts von seinem Verbleib.« – »Er ist in einer schrecklichen Nacht eines furchtbaren Todes gestorben. Von einem Dolchstoß durchbohrt, rollte er in die Tiefe des Ozeans. Gott möge dem verzeihen, der ihn tötete! Doch weiter. Karl I. sprach ferner noch zu seinem Henker: ›Höre wohl, du führst den Beilhieb erst, wenn ich die Arme öffne und rufe: Remember!« 2 – »Ich weiß,« nickte der Verstoßene vor sich hin, »dies war das letzte Wort meines unglücklichen Vaters. Doch in welchem Sinne sprach er es, in welcher Absicht?« – »Es war an den unter dem Schafott verborgenen Franzosen gerichtet.« – »Also an Sie, Herr Graf?« – »An mich. Und die Worte des Königs, der nun niederkniete und zu mir sprach, klingen mir noch heute in den Ohren. ›Graf de la Fère,‹ sagte er, ›sind Sie da? Sie haben mich nicht retten können, es sollte nicht sein. Vernehmen Sie meine letzten Worte: Ich habe den Thron meiner Väter verloren, aber ich besitze noch eine Million in Gold, die im Keller des Schlosses zu Newcastle vergraben ist.‹«

»O, Herr Graf!« rief Karl II. und nahm die Hände von dem in Tränen gebadeten Gesicht, »eine Million, sagen Sie!« – »›Um dieses Geld wissen nur Sie,‹ fuhr der König fort, ›verwenden Sie es zum Besten meines ältesten Sohnes, wenn Sie die Stunde gekommen glauben. Und nun leben Sie wohl!‹ Darauf klang von seinen Lippen das letzte Wort: › Remember!‹ Und Sie sehen, Majestät, ich habe daran gedacht.« – Der König konnte seine Gefühle nicht mehr niederdrücken; er schluchzte laut auf, und auch Athos fühlte sich von den wiedererweckten Erinnerungen überwältigt. – »Sire,« fuhr er dann fort, »mir scheint, die Stunde, dieses letzte Hilfsmittel zu benützen, ist nun gekommen. Ich wollte mich schon aufmachen und Sie suchen. Nun schickt Gott Sie mir zu.«

»Eine Million im Schloß Newcastle,« murmelte Karl II. »Aber Schloß Newcastle ist zur Zeit von General Monk besetzt. Der Ort, wo Hilfe für mich verborgen liegt, ist in der Hand meines Feindes.« – »General Monk kann den Schatz nicht entdeckt haben,« versetzte Athos. – »Das mag sein, aber soll ich mich in Monks Hände liefern? Ach, so oft ich mich wieder aufrichte, gleich wirft mich das Schicksal wieder zu Boden.« – »Majestät, was Ihnen und Ihrem Diener nicht gelingen kann, vielleicht gelingt es mir. Ich will für Sie nach Newcastle reisen.« – »Sie, Herr Graf, der Sie hier so glücklich leben?« – »Ich bin nie glücklich, solange ich noch eine Pflicht zu erfüllen habe. Und über den verborgenen Schatz zu wachen, hat mir Ihr Vater als heilige Pflicht übertragen. Es bedarf nur eines Winkes von Eurer Majestät, und ich gehe.«

Alle Etikette vergessend, fiel der König dem Grafen um den Hals. »Sie beweisen mir,« rief er, »daß es einen Gott im Himmel gibt, der die Unglücklichen nicht vergißt.« – Athos trat ans Fenster und rief hinaus: »Grimaud, die Pferde!« – »Sie wollen –?« fragte Karl II. »Aber, Herr Graf, ich bin nicht imstande, solche Dienste zu belohnen.« – »Majestät scherzen,« war die Antwort. »Sie besitzen doch eine Million. Einstweilen habe ich noch einige Rollen Geld und ein paar Familienbrillanten. Majestät werden mir die Ehre erweisen, mit einem treuen Diener zu teilen.« – »Mit einem Freunde,« antwortete der König: »Unter der Bedingung, daß dieser Freund später auch mit mir teilt.« – Die Freude färbte zum ersten Male seit langer Zeit wieder die bleichen Wangen Karls II. Grimaud führte die reisefertigen Pferde vor. – »Blaisois!« rief Athos seinem Diener zu, »dieser Brief ist an den Grafen von Bragelonne zu befördern. Ich reise nach Paris – halte gut Wirtschaft.«

  1. Englisch: denke dran!

3. Kapitel. Auf Belle-Ile

Aramis und Porthos standen am Gestade der See, und der Bischof schaute auch an diesem Tage wie an allen, seit sein großer Plan gescheitert, voll banger Unruhe gen Westen über die See hinaus. Sein leuchtender Blick durchmaß wie der eines Falken den Luftraum und suchte noch über den Horizont hinauszudringen. Vor einigen Tagen waren alle Fischerbarken auf die Fahrt ausgegangen, und bisher war nicht eine zurückgekehrt. Der kluge d’Herblay wußte, was das zu bedeuten hatte, und erwartete nun die Ankunft königlicher Schiffe, denn solche mußten den Fischerbooten begegnet sein und sie von Belle-Ile fernhalten. Am schwersten lastete es auf seiner Seele, daß der gutmütige Porthos noch immer nichts ahnte, und der Mann, der tausend Ränke gesponnen und sich durch unzählige schwere Lagen leicht zurechtgefunden hatte, wußte nun nicht, wie er diesem großen Kinde die Wahrheit klarmachen sollte. Dennoch mußte es geschehen, sobald eine feindliche Flotte herankam. In der letzten Zeit drang auch Porthos mehr mit Fragen in ihn als bisher. Es hatte den Anschein, als wenn die Dinge ihm selber nicht mehr geheuer erschienen.

Plötzlich rief Aramis aus: »Porthos! Sehen Sie dorthin!« – »Ei,« rief der Riese, »mir scheint, die Fischerbarken kommen endlich zurück! Ich habe mir schon den Kopf zerbrochen, weshalb sie so lange ausblieben.« – »Das sind keine Fischerbarken, das sind königliche Kriegsschiffe!« rief Aramis. Und er zählte: »Drei, vier, sechs! wahrlich, eine ganze Flotte!« – »Hurrah!« schrie Porthos, »also schickt man uns endlich Verstärkung! Nun mag der falsche König herankommen!«

Aramis hatte den Kopf in beide Hände vergraben, dann sah er auf und rief: »Porthos! lassen Sie Alarm schlagen!« – Der Baron machte große Augen, aber er entfernte sich, um den Befehl des Freundes auszuführen, war er es doch nicht anders gewöhnt, als den Anordnungen des weisen Prälaten sich zu fügen.

Nun füllten sich die Hafendämme mit Neugierigen und Bewaffneten; die Artilleristen rückten mit Lunten heran, die Wälle, die Batterien wurden besetzt. Porthos beobachtete mit Verwunderung diese Zurüstungen zu einer energischen Gegenwehr. Aramis sah nach den Schiffen aus, die allmählich näher kamen. Doch erst als es Nacht geworden war, befanden sie sich in Kanonenschußweite von der Insel und gingen nun vor Anker. Trotz der Finsternis wurde alsbald ein Boot ausgesetzt und an Land gerudert. Der Führer der Jolle hielt einen Brief in der Hand, den er in der Luft schwenkte, und schien jemand zu suchen, an den er diese Mitteilung abgeben sollte. Als ein paar Soldaten ihn anhielten, verlangte er vor Herrn d’Herblay geführt zu werden.

Aramis stand auf dem Quai. Er erkannte in ihm einen Fischer von Belle-Ile, der mit den andern Barken zusammen vor kurzem ausgefahren war. Der Mann erzählte nun, sie seien alle gefangengenommen worden. – »Von wem?« fragte Aramis. – »Von einem Schnellsegler des Königs,« war die Antwort. – »Welches Königs?« warf Porthos dazwischen. »Des echten oder des falschen?« – »Erzähle weiter!« gebot Aramis, als der Fischer den Baron verständnislos ansah. – »Wir wurden also alle gefangengenommen,« wiederholte der Mann, »und nun schickt man mich hierher, um Ihnen zu sagen und zu melden, daß die hier eingetroffene Flotte Befehl hat, Belle-Ile zu blockieren und keinen Mann der Besatzung entwischen zu lassen.« – »Und wer ist der Befehlshaber?« fragte d’Herblay. – »Der Kapitän der Musketiere, Herr d’Artagnan.«

»D’Artagnan!« rief Porthos; »aber dann ist ja alles gut!« – »Hast du selbst mit ihm gesprochen?« fragte Aramis den Fischer. – »Ja, und er läßt Sie zu sich an Bord bitten.« – »So laß uns hingehen!« rief Porthos. »Laß uns zu unserm Freunde gehen!« – »Bist du von Sinnen?« entgegnete der Bischof. »Woher willst du wissen, ob das nicht eine Falle ist?« – »Die uns der falsche König stellt?« fragte Porthos. – »Jawohl, und das ist am Ende gar nicht d’Artagnan, der uns zu sich ruft!« setzte Aramis hinzu. – »Sie haben immer recht,« meinte der Baron.

»Gehen Sie an Bord zurück,« sagte d’Herblay zu dem Fischer, »und sagen Sie ihm, ich ließe den Herrn bitten, zu uns auf die Insel zu kommen. Wenn er sich weigere, so würden wir von unsern Kanonen Gebrauch machen.« – »Sollen wir auf d’Artagnan und seine Leute schießen?« rief Porthos. – »Ich sagte Ihnen doch, er ist’s vielleicht gar nicht,« antwortete der Bischof. – »Donnerwetter, jetzt verstehe ich schon gar nichts mehr!« seufzte der Riese. – »Ich werde Sie aufklären, der Augenblick ist nun gekommen,« sagte Aramis, während der Fischer sich entfernte. »Setzen Sie sich auf diese Lafette und hören Sie mir zu.« – Und er faßte Porthos bei der Hand und begann ihm alles zu sagen, begann es mit den Worten: »Porthos, einem so biederen Manne wie Sie soll man nichts vorflunkern. Also heraus mit der Wahrheit! Ich habe Sie betrogen.«

»Sie haben mich betrogen?« rief der Baron. »Geschah es zu meinem Besten?« – »Wenigstens glaubte ich das felsenfest, Porthos.« – »Nun denn, so haben Sie mir einen Dienst erwiesen oder doch erweisen wollen. Freund,« antwortete der gutmütige Riese. »Ich danke Ihnen, und worin haben Sie mich betrogen?« – »Indem ich in Wahrheit dem Usurpator diente, gegen den Ludwig XIV. in jenem Augenblick alle Kräfte aufbot.«

»Wie? Also dienten Sie nicht dem wirklichen Ludwig XIV.?« – »Sehr richtig! Und daraus geht hervor, mein armer Porthos –« – »Daraus geht hervor,« vollendete der Baron, »wir sind Rebellen. Und somit ist die Herzogswürde, auf die ich hoffte, heidi! Denn von einem Usurpator will ich sie nicht haben. Sie taten unrecht, Aramis, mich in diesem Punkte zu täuschen. Ich habe so fest darauf gehofft! Kannte ich Sie doch als einen Mann von Wort! Ich bin also nun mit meinem König, mit Ludwig XIV., zerfallen?«

»Ich werde das wieder ins rechte Gleis bringen, Freund,« antwortete Aramis. »Sie haben ja nichts eigenmächtig getan, ich war das Haupt des Komplotts. Mich allein trifft die Schuld. Sie haben ja im besten Glauben gehandelt. Ich rief Sie, und Sie folgten mir. Mein größter Fehler, Porthos, war, ich handelte aus Egoismus.« – »Sehen Sie, dieses Wort liebe ich,« versetzte Ballon. »Und da Sie bloß in Ihrem Interesse gehandelt haben, so kann ich Ihnen unmöglich gram sein, das ist ja so natürlich.« Mit diesen Worten drückte er seinem Freunde herzlich die Hand.

Aramis fühlte sich klein vor dieser naiven Seelengröße. Er mußte sich beugen vor dieser Ueberlegenheit des Herzens, die stets mächtiger ist als Größe des Geistes.

Eine Donnerstimme unterbrach ihr Gespräch. – »Das ist d’Artagnan,« sagte Porthos. – »Ja, ich bin es,« antwortete der Kapitän und eilte herbei. Ein Offizier folgte ihm auf dem Fuße. Als d’Artagnan die Hälfte der Stufen erstiegen hatte, die zu dem Wehrdamme emporführten, rief er Aramis und Porthos zu: »Lassen Sie Ihre Leute zurücktreten, und zwar so weit, daß sie nicht mehr hören können, was ich spreche.« – Porthos gab diesen Befehl, der alsbald befolgt wurde. – Der Kapitän drehte sich hierauf zu seinem Begleiter um und sagte: »Mein Herr, wir sind jetzt nicht mehr auf dem königlichen Schiffe, wo Sie eben noch in so anmaßendem Tone mit mir gesprochen haben.« – »Herr Kapitän, das ist keine Anmaßung,« erwiderte der Offizier. »Ich habe meine Befehle, und denen gehorche ich. Mir wurde aufgetragen, Ihnen überallhin zu folgen, das tue ich hiermit!«

»Mein Herr!« unterbrach d’Artagnan ihn mit Ungestüm, »genug nun! ich gestattete Ihnen, mir nach Belle-Ile zu folgen. Doch nun machen Sie halt! Ich kümmere mich gar nicht drum, ob Sie gewisse Befehle von Herrn Colbert oder von sonstwem haben. Sie fallen mir zur Last, das ist alles, und ich werde mich dagegen schützen. Sie haben hier einen Mann vor sich, der d’Artagnan heißt, und Sie stehen auf einer Treppe, die dreißig Fuß tief in die salzige Flut reicht. Das ist eine schlimme Stellung für jemand, der d’Artagnan lästig wird.«

»Ich habe meinen Dienst zu versehen,« antwortete der Offizier, die Achseln zuckend. – »Mein Herr, diejenigen, die Sie mit diesen besonderen Befehlen versahen, haben mich beleidigt. Ich kann mich aber nicht an sie halten, denn sie sind mir fern; ich muß mich an Ihre Person halten, und das werde ich tun, seien Sie versichert! Wenn Sie einen Schritt weiter hinter mir hertun, ich schwöre es bei meinem Namen, so spalte ich Ihnen den Schädel mit dem Schwerte oder werfe Sie ins Meer! Geschehe, was mag! Sechsmal in meinem Leben bin ich in Zorn geraten, und alle sechs Male habe ich den getötet, der mir da gegenüberstand!« – Der Offizier erblaßte bei dieser schrecklichen Drohung, antwortete aber: »Als ich Soldat wurde, wußte ich, daß ich im Dienst mein Leben lassen müsse.« – D’Artagnan stieg die Treppe weiter hinauf – der Offizier bekreuzte sich fromm und folgte ihm. Porthos und Aramis, die ihren d’Artagnan kannten, stießen einen Schrei aus und stürzten herbei, um den Streich aufzuhalten, den sie schon zu hören glaubten. Aber der Musketier nahm das Schwert in die linke Hand. – »Herr,« sagte er zu dem Offizier. »Sie sind ein tapferer Mann. Sie müssen aber das, was ich Ihnen jetzt sagen werde, besser begreifen als das, was ich Ihnen eben gesagt habe.« – »Reden Sie, Herr Kapitän,« sagte der Offizier schlicht. – »Die Herren dort, gegen die Sie Befehle haben, sind meine Freunde,« sprach der Musketier. »Lassen Sie mich ohne Zeugen mit ihnen sprechen.« – »Mein Herr,« antwortete jener, »wenn ich nachgebe, so breche ich mein Wort – wenn ich nicht nachgebe, handle ich Ihnen zuwider. Das eine ist so schlimm wie das andere. Also gehen Sie und reden Sie mit Ihren Freunden. Verzeihen Sie mir, daß ich aus Liebe zu Ihnen, den ich achte und ehre, eine gemeine Handlung begehe, indem ich meine Pflicht vergesse.« – Der Gaskogner schlang gerührt den Arm um den Nacken des jungen Mannes und stieg zu seinen Freunden hinauf. Der Offizier wickelte sich in seinen Mantel und setzte sich auf die feuchten Stufen, die mit Seetang überzogen waren.

»So stehen die Dinge,« sagte d’Artagnan zu seinen Freunden. »Nun urteilt selbst!« Und alle drei umarmten sich. »Sie sehen, alles, was von Belle-Ile kommt, wird abgefangen, und niemand darf unangefochten hier landen. Eine Flucht ist unmöglich. Der König will Sie fangen – und wird Sie fangen. Ich hatte nun die Absicht, Sie beide auf mein Schiff zu rufen, dort zu behalten und dann entwischen zu lassen. Aber ich muß jetzt damit rechnen, daß sich, wenn ich auf mein Schiff zurückkehre, einer meiner Offiziere als mein Vorgesetzter entpuppt, der mit geheimen Befehlen gegen mich ausgerüstet, vielleicht sogar befugt ist, mich im Notfall des Kommandos zu entsetzen. Was also soll ich für Sie tun?«

»Nehmen Sie Porthos mit,« sprach Aramis. »Er wird dem König beweisen, daß er ganz unschuldig war. Ich aber bleibe hier und bürge Ihnen, daß ich mich erst nach sehr energischem Widerstand ergeben werde.« – »Ich muß mir das überlegen,« erwiderte Porthos. »Einstweilen bleibe ich.« – »Dann wollen wir uns vorerst Lebewohl sagen,« sprach d’Artagnan. »Auch ich muß nachdenken, und ich hoffe, Ihnen bald einen guten Gedanken mitteilen zu können.« Er schüttelte den Freunden die Hand und kehrte mit dem Offizier, den Herr Colbert ihm zum Wächter bestellt hatte, auf sein Schiff zurück.

Unterwegs zerbrach er sich den Kopf, um einen Ausweg zu finden, und fand auch einen. Als er an Bord stieg, war sein Entschluß gefaßt. Er berief seinen Kriegsrat, der aus acht Offizieren bestand, nämlich aus einem Hauptmann der Seesoldaten, einem Major der Artillerie, einem Ingenieur, dem jungen Offizier und vier Leutnants.

»Meine Herren,« sprach d’Artagnan, »ich habe mir Belle-Ile angesehen. Es ist stark befestigt, hat eine gute Garnison und kann lange Gegenwehr leisten. Ich will daher zwei von den ersten Offizieren der Garnison herüberkommen lassen, um mit ihnen zu unterhandeln. Mir erscheint eine friedliche Einigung als das beste. Sind Sie auch dieser Meinung?« – »Herr Kapitän,« antwortete der Artillerist, »also haben wir wohl auf einen Widerstand Belle-Iles zu rechnen?« – »Allerdings, obgleich es nicht Herr Fouquet ist, der die Insel verteidigt, denn den habe ich gestern verhaftet,« versetzte d’Artagnan. »Aber diese Verhaftung ist hier ruchbar geworden, und alle Leute auf Belle-Ile hängen an Fouquet und erblicken in ihm ihren Herrn und König. Sie werden ihm treu bleiben bis in den Tod. Deshalb will ich mit den Offizieren sprechen, will ihnen zeigen, wie stark unsere Schiffe sind, und Ihnen eröffnen, daß sie im Falle eines Widerstandes keine Gnade zu erhoffen haben. Ich denke, sie werden sich ohne Kampf ergeben, und die Festung, deren Eroberung uns viel Blut kosten würde, fällt vielleicht ohne Schwertstreich in unsere Hände.«

Die Offiziere blickten einander an, als wollten sie sich gegenseitig um Rat befragen, da trat der Offizier vor, der d’Artagnan nach Belle-Ile begleitet hatte, und legte ein Papier vor, das die Aufschrift trug: »Befehl Nr. 2.« Der Kapitän nahm es und las: »Es wird hiermit Herrn d’Artagnan aufs strengste verboten, einen Kriegsrat zu versammeln, bevor Belle-Ile sich ergeben hat und die Besatzung gefangengenommen oder über die Klinge gesprungen ist. Gezeichnet ….. Ludwig XIV.«

D’Artagnan bezwang mit Gewalt die Wut, die in ihm emporstieg, und sagte mit anmutigem Lächeln: »Sehr wohl, Herr! Die Befehle des Königs sollen befolgt werden.« – Er schwieg ein Weilchen, dann fuhr er fort: »Da der König einen andern mit Befehlen gegen mich ausgerüstet hat, so genieße ich nicht mehr sein Vertrauen und bin unwürdig, dieses Kommando weiterzuführen. Ich werde also auf der Stelle meinen Abschied einreichen. Ich fordere Sie infolgedessen auf, mit mir nach der französischen Küste zurückzukehren. In einer Stunde ist Flut, dann kann die Rückfahrt angetreten werden. Wollen Sie ohne Oberhaupt hier bleiben, so würden Sie die Streitkräfte gefährden, die der König mir anvertraut hat. Ich nehme an, Herr,« wandte er sich an den jungen Offizier, »Sie haben diesmal keinen Gegenbefehl.«

D’Artagnan triumphierte schon, als er diese Worte aussprach; denn wenn die Blockade unterbrochen war, so würden seine Freunde, dachte er, bald Gelegenheit finden, nach Spanien zu entfliehen. Nachher mochte der König getrost einen anderen nach Belle-Ile schicken, der würde das Nest leer finden.

Allein der junge Offizier reichte d’Artagnan abermals einen Befehl, und der Musketier las: »Sobald Herr d’Artagnan erklärt, er wolle den Befehl niederlegen, so soll er nicht mehr als Haupt der Expedition betrachtet werden. Die ihm unterstellten Offiziere brauchen ihm von diesem Augenblick an keine Folge mehr zu leisten. Vielmehr soll Herr d’Artagnan alsbald nach Frankreich zurückkehren und zwar unter der Aufsicht des Offiziers, dem diese Sonderbefehle anvertraut werden, als dessen Gefangenen er sich zu betrachten hat. Gezeichnet – – Ludwig XIV.«

D’Artagnan erblaßte; das alles war so klug, so weitsichtig berechnet, daß er sich seit dreißig Jahren wieder einmal an die unbeugsame Logik, an den Scharfblick des großen Richelieu erinnert fühlte. Er sann nach. Dann dachte er: »Ich zerreiße diesen Befehl, wer kann sich mir dann widersetzen? Und ehe der König durch seinen Vertrauten etwas davon erfährt, habe ich meine Freunde gerettet. Mutig vorwärts! Mein Kopf gehört nicht zu denen, die man wegen Ungehorsams vom Rumpfe schlägt. Also wollen wir ungehorsam sein!«

Aber in diesem Augenblick sah er, daß alle andern Offiziere denselben Befehl lasen, den er in der Hand hatte. Der junge Offizier hatte jedem eine Abschrift gegeben. Also auch der Fall des Ungehorsams war vorhergesehen worden und somit vereitelt. – »Herr Kapitän,« sprach der Offizier, »ich nehme an, Sie werden mir ohne Widerstand folgen.« – »Selbstverständlich,« versetzte d’Artagnan, mit den Zähnen knirschend. Alsbald wurde auch ein Boot ausgesetzt. »Nach dem Abgang des Kapitäns,« sprach der Offizier zu dem Hauptmann der Seesoldaten. »überträgt Seine Majestät Ihnen das Oberkommando. Hier ist Ihre Vollmacht.«

D’Artagnan, der Mann von Eisen, senkte zum erstenmal in seinem Leben kleinlaut den Kopf. Er stieg in das kleine Fahrzeug, das mit einem günstigen Wind im Segel Frankreich zusteuerte. Die Barke flog wie eine Schwalbe dahin. Bald zeigte sich am nächtlichen Himmel die französische Küste. D’Artagnan hatte noch immer Hoffnung, zeitig genug in Nantes einzutreffen, um beim König mit all seiner Beredsamkeit die Sache seiner Freunde zu führen. – »Junger Mann,« sprach er zu dem Offizier, »ich würde viel drum geben, die Instruktionen des neuen Kommandanten zu kennen. Er hat doch vorderhand Frieden zu halten, nicht wahr?« – Er hatte kaum ausgesprochen, da hallte der Donner eines Kanonenschusses über das Meer hin, ein zweiter und ein dritter folgten.

»Das Feuer auf Belle-Ile ist eröffnet,« sagte der Offizier.

Der Kiel des Bootes knirschte im Küstensande.

4. Kapitel. Der Tod eines Titanen

Als d’Artagnan seine Freunde verlassen hatte, machten auch sie sich auf den Weg, um an ihre Posten zu gehen. Porthos richtete sich mühsam auf, aber beim ersten Schritt versagten ihm die Beine den Dienst, und er mußte sich noch einmal setzen. – »Aramis,« rief er, »das ist ein böses Zeichen. Daran erkenne ich, es geht mit mir zu Ende.« – »Nicht doch!« versetzte d’Herblay. »Die Ueberraschung ist Ihnen nur in die Glieder gefahren.« – »Ich weiß das besser,« beharrte jener. »Mein Großvater war zweimal so stark wie ich; aber bei einer Jagd fühlte er plötzlich, daß ihm die Beine schwach wurden – ein Uebel, das er nie zuvor gekannt hatte. Er raffte sich dennoch auf und pirschte weiter. Da begegnete ihm ein Wildschwein; er schoß mit der Armbrust und fehlte das Ziel. Das Tier fiel über ihn her und schlitzte ihm den Leib auf. Er war auf der Stelle tot.«

»Das ist noch kein Grund, für Ihre Person zu fürchten,« antwortete der Bischof. – »Hören Sie weiter!« fuhr Porthos fort. »Mein Vater war noch einmal so stark wie ich. Müdigkeit war ihm fremd. Aber als er eines Tages von Tisch aufstand, waren ihm die Beine schwach. Er trotzte dieser Schwachheit wie mein Großvater, und statt zu Bett zu gehen, ging er in den Garten. Bei den ersten Stufen wiederholte sich der Schwächeanfall, mein Vater fiel hin und schlug mit dem Kopf auf eine eiserne Klammer, die ihm in die Schläfe drang. Er war auf der Stelle tot.«

»Das sind zwei seltsame Zufälle, Porthos, aber wir können daraus immer noch nicht folgern, daß es Ihnen ebenso ergehen werde,« erwiderte Aramis. »Uebrigens stehen Sie jetzt schon wieder so stolz und fest da wie noch nie. Sie könnten ein Haus auf den Schultern tragen.«

»Ich fühle mich allerdings auch sehr dazu aufgelegt; aber diese Schwäche, währte sie auch nur einen Augenblick, ist für mich trotz allem ein untrügliches Zeichen. Ich fürchte mich nicht, allein ich liebe das Leben. Ich habe hübsche Landgüter und ein schönes Vermögen, das würde ich gern noch eine Zeitlang genießen. Und dann habe ich auch Freunde, die ich liebe: d’Artagnan, Athos, Rudolf und Sie!« – Der ehrliche Porthos nahm sich nicht einmal die Mühe, d’Herblay zu verhehlen, welchen Rang unter den Freunden er ihm zuerteilte.

»Wir werden auch noch lange leben,« antwortete Aramis, ihm die Hand drückend, »und der Welt noch viele Jahre das Muster von seltenen Männern sein. D’Artagnan wird uns befreien. Er will seinen Abschied einreichen, und die Verwirrung, die sein Rücktritt vom Kommando hervorrufen muß, will er benutzen, uns entschlüpfen zu lassen. Das ist sein Plan, und ich habe auch schon eine Barke an den Ausgang der unterirdischen Grotte Locmaria rollen lassen. Von dort aus können wir, sobald es Nacht ist, die See erreichen.« – »Das ist ein guter Gedanke,« sagte Porthos. »Hoffen wir also das Beste!«

Da erklang das Geschrei: »Zu den Waffen!« – Eine Menge von Männern und Frauen eilte herbei, Fackeln irrten hin und wieder, die Soldaten rückten an ihre Plätze. – »Die Flotte kommt heran!« schrie ein Bewaffneter, der Aramis erkannt hatte. – »Dann beginnt der Kampf! Auf, verteidigen wir uns!« schrie Aramis.

»Auf in den Kampf!« brüllte Porthos mit Donnerstimme. Und beide liefen zur nächsten Batterie.

Man sah Schaluppen mit Militär herankommen, sie näherten sich von drei Richtungen her, um an drei verschiedenen Punkten zugleich zu landen. Im nächsten Augenblick hatten nur noch die Kanonen das Wort; der Donner zerriß die Luft, der Rauch trieb wie dichter Nebel über die See und das Land hin. Der erste Angriff wurde siegreich zurückgeschlagen, nur ein Boot der Königlichen erreichte die Küste, mußte jedoch unter schweren Verlusten sofort umkehren.

»Porthos! Wir brauchen einen Gefangenen!« rief Aramis, und der Riese eilte zum Strande, warf sich mitten in den Knäuel der Flüchtenden und packte einen davon beim Kragen. Indem er ihn wie einen Schild vor der Brust trug, ging er rückwärts schreitend zu den Seinen zurück. »Hier ist ein Gefangener,« sprach er. – »Ihre Beine haben sich trefflich bewährt,« lachte Aramis. – »Ich habe ihn nicht mit den Füßen gefangen,« sagte Porthos traurig, »sondern mit den Armen.«

Es war ein Offizier, und Aramis begann ihn ins Verhör zu nehmen. Nun erfuhren sie, daß d’Artagnan nach Niederlegung des Kommandos sofort als Gefangener nach Frankreich gebracht worden sei, und daß sie von seiner Seite nichts mehr zu hoffen hätten. Aramis fragte sodann, was man mit den Leuten von Belle-Ile tun wolle, wenn man sie besiegt hätte. – »Der Befehl lautet, diejenigen, die den Kampf überleben, aufzuknüpfen.« – Aramis und Porthos blickten einander an. – »Ich bin zu leicht für den Galgen,« meinte d’Herblay. »Leute, wie ich bin, henkt man nicht.« – »Und ich bin zu schwer,« setzte Porthos hinzu, »bei mir reißt der Strang.« – »Ihnen beiden,« sagte der gefangene Offizier, »hätten wir jedenfalls die Vergünstigung gewährt, sich die Todesart auszuwählen.« – »Sehr gütig!« entgegnete Aramis.

Von neuem erklang Kanonendonner, und das scharfe Knattern von Musketen mischte sich darein. Schrecklich hallte das Getöse von den Felsen der Insel wider. – »Potz Wetter, was ist das?« rief Aramis. – »Der erste Angriff, den Sie zurückgeschlagen haben, war ein Scheinmanöver, das Sie veranlassen sollte, alle Ihre Kräfte hierher zu konzentrieren. Inzwischen sind wir an einer minder stark besetzten Stelle siegreich eingedrungen,« sagte der Gefangene lächelnd. – Aramis sank zurück. »Dann sind wir verloren,« stöhnte er dumpf. Und während das Geschrei der Kämpfenden näher heranbrauste, wandte er sich an die Soldaten, die rings an ihren Posten standen, und rief: »Freunde, keinen Widerstand mehr! Er wäre nutzlos und würde euch zum Verderben gereichen! Ergebt euch der Gnade des Königs! Der König ist Euer Herr! Der König ist der Abgesandte Gottes! Denkt nicht ferner mehr daran, Herrn Fouquet an dem König zu rächen. Opfert nicht nutzlos Weib und Kind, Freiheit, Besitz und Leben! Nieder mit den Waffen! Die Soldaten des Königs sind in Belle-Ile eingedrungen, und wenn ihr euch zur Wehr setzt, so wird es kein redlicher Kampf mehr sein, sondern nur noch ein Gemetzel, das keiner von euch überleben wird! Ich befehle euch im Namen des Allmächtigen, unterwerft euch der Gnade Ludwigs XIV.!«

Nach dieser Ansprache wandte er sich an den Offizier, der die Beweggründe dieser plötzlichen Umwandlung von energischem Widerstand zu wehrloser Ergebung nicht begreifen konnte. »Mein Herr!« setzte d’Herblay hinzu, »Sie sind frei, kehren Sie zu den Ihren zurück.« – »Mein Herr,« antwortete der Offizier, »Sie retten auf diese Weise wohl alle diese Einwohner, aber weder sich noch Ihren Freund.« – »Auch wir hoffen, die Gnade des Königs nicht vergebens anzuflehen,« antwortete Aramis. – »Gnade?« rief Porthos wild. »Was ist das für ein Wort?« – »Meine Herren,« sprach der Offizier, »der Befehl lautet ausdrücklich –« – »Herr,« unterbrach ihn Aramis, der fürchtete, Porthos könnte in seinem Zorn etwas von der geplanten Flucht ausschwatzen, »ich bin Bischof – ein Bischof kann nicht ohne weiteres gerichtet werden.« – »Allerdings,« erwiderte der Offizier. »Diese Chance hätten Sie noch für sich.« – Darauf verneigte er sich und ging.

Die Grotte von Locmaria war ein natürlicher unterirdischer Gang, der ein gutes Stück landeinwärts lag und bis hart ans Gestade der See führte. Im letzten Teile lag er allerdings nicht mehr unter der Erde, war aber durch ein Gewirr von übereinandergestürzten Steinblöcken so trefflich verdeckt, das man unter völliger Deckung das Meer erreichen konnte. Aramis und Porthos verließen den Wall und machten sich im Schutze der Nacht auf den Weg. Mit jener Rücksichtslosigkeit, die in schwierigen Lagen dem Bischof zu eigen war, überließ er es unbedenklich den Leuten von Belle-Ile, sich mit den Königlichen auseinanderzusetzen, wie sie wollten.

»Lieber Freund,« sprach Porthos, sich verschnaufend, »da wären wir! Aber sprachen Sie nicht von drei Fischern, die hier ein Boot für uns in Bereitschaft halten sollten? Ich sehe jedoch niemand.« – »Sie warten im Innern der Höhle,« antwortete Aramis. Sie traten ein, gekrümmten Rückens schritten sie in die feuchte, pechschwarze Höhle, und d’Herblay ließ einen Ruf, ähnlich dem der Nachteule, erschallen. Ein gleicher erklang als Antwort. – »Sind Sie es, Yves?« fragte der Bischof. – »Ja, Monseigneur, mit Goennec und seinem Sohne.« – »Ist alles bereit?« – »Alles, bischöfliche Gnaden!«

Sie zündeten bei diesen Worten eine Laterne an, und man sah nun ein Boot zwischen den Steinen liegen. Aramis untersuchte es beim matten Schein der Kerze, überzeugte sich, daß es alles enthielt, was er mit sich nehmen wollte, prüfte die Flinten, die Munition und das kleine Faß Pulver, das man im Heck verstaut hatte, und befahl dann, das Fahrzeug fortzutragen. Obwohl es gut beladen war mit Proviant, Wein in Schläuchen, Waffen und anderen Bedarfsartikeln, war es doch leicht, da es einer jener schlanken, hochbordigen Kähne war, die man besonders auf Belle-Ile mit großem Geschick anzufertigen verstand. Die drei Männer hoben es bis zur Höhe des Knies empor und schoben es nun ruckweise, immer wieder absetzend, Schritt für Schritt vorwärts. Das ging langsam, aber man mußte sich gedulden. Schließlich wurde das Ende des unterirdischen Ganges erreicht. Hier versperrte ein gewaltiger Steinblock den Ausgang, an dessen Schwere die Kräfte der drei Fischer versagten.

Porthos trat heran, stemmte den Rücken und die gewaltigen Schultern gegen das Hemmnis und bohrte die Füße in den Sand des Grundes. Dann hob er sich langsam empor, und der Stein lockerte sich in seinem festen Gefüge, Erde prasselte hernieder, Wurzeln zerrissen wie Bindfäden, die Platte ging in die Höhe und kollerte nach außen herum, das Dämmerlicht des grauenden Tages schimmerte in die Höhle hinein.

Aramis stieg als erster hervor, um Ausschau zu halten. Dann ließ er die Fischer mit Hilfe des Barons den Kahn hinausschieben, und die Männer trugen ihn nun leichter und schneller auf dem ebenen Boden im Schutze der Steinwände weiter, um ihn dann das letzte kurze Stück über das Ufer hin auf hölzernen Rollen ins Wasser zu schieben. Aramis und Porthos schickten sich an, ihnen zu folgen, als, gehetzt von mehreren bellenden Hunden, plötzlich ein Fuchs in die Oeffnung der Grotte schoß.

»Potz Wetter!« rief d’Herblay, »das ist eine Meute! Und hören Sie, da sind auch menschliche Stimmen! Sie kommen hierher. Wir wollen vorsichtshalber in die Höhle zurückkehren.« – Sie schlüpften rasch hinein, da brausten auch schon die Hunde heran, die hinter dem Fuchs hersetzten, und sprangen durch den schmalen Gang. Draußen aber vernahm man Pferdegetrappel und lautes Geschrei. »Es sind Offiziere der königlichen Garden,« sprach Aramis. »Sie haben zufällig einen Fuchs aufgestöbert, und da sie Zeit zum Jagen haben, so gibt es also auf Belle-Ile schon nichts mehr zu tun. Die Besatzung hat sich ergeben.« – »Die Jäger werden den Hunden folgen und hierherkommen,« sagte Porthos. – »Und uns hier finden, freilich,« setzte Aramis hinzu. »Aber wir werden sie hinter den Steinen erwarten und niedermachen, sobald sie hereinkommen. Das wird zehn Minuten dauern.«

Und er griff nach der Pistole und nahm den Dolch zwischen die Zähne. Der Bischof von Bannes war wieder der Musketier von ehedem geworden.

Die Jäger kamen heran. Aramis und Porthos eröffneten durch eine Lücke des Gesteins das Feuer und streckten mit vier Schüssen vier Feinde nieder. Aber sie konnten nicht hindern, daß zwei der Reiter, erschrocken über den unvermuteten Angriff, mit lautem Geschrei entflohen. Sie wollten nun zuerst ohne weiteres zu dem Boot eilen, das die Fischer inzwischen fast bis ins Wasser gebracht hatten, Allein Aramis hielt seinen Freund zurück. Es war aussichtslos, in diesem Augenblick zu entfliehen. Die Schüsse waren gehört worden, die Reiter riefen Hilfe herbei, und was nützte es, ins Boot zu kommen und in See zu stechen. Sie wurden dann ja doch verfolgt, eingeholt und gefangen genommen. Dagegen gab es kein Mittel. Sie mußten sich zurückziehen, die feindliche Abteilung, die gegen sie anrücken würde, erwarten und ihr Leben so teuer wie möglich verkaufen. Sie hatten im Innern der Grotte doch wenigstens eine einigermaßen sichere Stellung und konnten es im Schutze steinerner Pfeiler und finsterer Gänge mit einer großen Ueberzahl aufnehmen.

Sie blieben hinter den Steinblöcken, bis sie ihre Feinde heranrücken sahen. Aramis zählte 75 Mann. – »Was ist da zu tun?« murmelte er und wühlte mit Wut in seinen ergrauenden Haaren. – »Wir können keinen offenen Kampf mit ihnen wagen,« antwortete Porthos. »Aber wir wollen sie in die Höhle locken. Dort stellen wir uns hinter den steinernen Pfeilern auf, und alle, die herankommen, schlagen wir nieder, ehe sie erkennen, wo wir stecken. Wie dünkt Sie das?« – »Ausgezeichnet, lieber Freund,« erwiderte Aramis. »Ich bin sehr dafür, nur fürchte ich, die Hälfte wird Angst bekommen und draußen bleiben. Wir müssen aber alle vernichten. Bleibt nur ein einziger übrig, so sind wir verloren.« – »Also wie locken wir sie da heran?« – »Indem wir uns gar nicht rühren, lieber Porthos,« sagte d’Herblay. – »Und für den Notfall,« setzte Porthos hinzu, »haben wir noch das Faß Pulver, das die Fischer in der Grotte zurückgelassen haben, um das Boot zu erleichtern.« – »Das wollen wir aber möglichst wieder mit ins Boot nehmen,« meinte Aramis. »Und nun ans Werk, ich höre Stimmen!« – Porthos zog sich in die zweite Wölbung der Höhle zurück, Aramis kroch in die dritte. Der Riese hob die schwere Eisenstange vom Boden auf, mit der man das Boot vorwärts bewegt hatte. Sie wog etwa fünfzig Pfund, und er handhabte sie wie einen Spazierstock.

Man hörte jetzt ein Kommandowort, und alsbald sprangen 25 Mann von den oberen Felsen herab und drangen in die erste Höhlung vor. Dort legten sie an und schossen in die zweite hinein. Der Knall dröhnte in der Wölbung, die Kugeln prasselten gegen die Steinwände. Der Rauch erfüllte die Gänge. Da aber die Salve gar keinen Erfolg hatte, befahl der Führer den Leuten weiter vorzudringen. Porthos stieß einen Seufzer aus und hob die Eisenstange. Schwer hob und senkte sie sich zehnmal, und zehn Leichen lagen am Boden. Die Soldaten sahen in der Finsternis nichts. Sie hörten nur Geschrei und immer wieder eine Stimme, die aus einer noch tieferen Höhle ihnen zurief: »Kommt nur heran! Kommt nur heran!« – So drangen immer wieder neue Feinde vor, und immer wieder fiel die mörderische Eisenstange auf sie hernieder.

Nun aber hatte sich der Kapitän draußen eine Fackel aus Tannenzweigen gemacht und kam mit Licht herein. Soldaten folgten ihm. Aber bei dem Anblick, der sich ihnen bot, flüchteten sie voll Entsetzen. Der Kapitän selbst erschrak zu Tode, als er die Menge von Leichen erblickte und doch niemand sah, der sie getötet haben konnte. Er tat noch einen Schritt in den blutigen Knäuel hinein. Da packte ihn eine Faust, die aus dem Dunkel hervorschoß, bei der Kehle. Die Fackel entfiel seiner Hand und verlosch knisternd in einer Lache von Blut. Eine Sekunde später lag die Leiche des Kapitäns neben dem verkohlten Tannenzweig. Alles das geschah auf zauberhafte Weise, als wenn dort drinnen eine rätselhafte, menschenmordende Maschine arbeitete. Die Soldaten wagten sich nicht mehr herein und beratschlagten, was sie tun sollten.

Porthos schöpfte Atem. Er wartete, die Eisenstange in der Hand. Da hörte er die Stimme seines Freundes. »Kommen Sie,« flüsterte Aramis. »Nehmen Sie dieses Fäßchen Pulver, ich habe eine Lunte hineingesteckt. Werfen Sie es mitten unter unsere Feinde, es wird ihrer aller Tod sein.« – »Brennen Sie an!« sprach Porthos. – »Warten wir, bis sich alle versammelt haben, und dann sollen Sie wie Jupiter ihren Blitz schleudern.« – »Brennen Sie an!« wiederholte Porthos. – »Ich eile inzwischen zu den Bretagnern und helfe ihnen alles fertig machen. Sie kommen dann nach, so rasch Sie können. Bis zu ihrer Ankunft wird alles bereit sein, und wir fahren dann gleich ab.« – »Brennen Sie an,« sagte Porthos ein letztes Mal. – Aramis gab ihm das Faß und den brennenden Schwamm und kroch selbst zum Ausgang der Höhle. – Wie ein Leuchtkäfer glühte das Stückchen Schwamm in der Finsternis – der erste Funke eines ungeheuren Brandes – dann glomm die Lunte auf, und während Aramis den Steingang entlangkroch, erstieg Porthos die Wand, hob das Fäßchen hoch empor und zeigte sich in seiner Riesengestalt den verblüfften Feinden. Sie sahen diesen Recken. Geschwärzt von Rauch, bespritzt von Erde und Blut, glich er mehr einem Dämon der Tiefe als einem Menschen. Sie glaubten Vulkan selbst vor sich zu sehen, und sie erkannten den Gegenstand, den die Erscheinung schwang, sahen die brennende Lunte und stoben mit furchtbarem Angstgeschrei auseinander. Doch zu spät! Im mächtigen Bogen, von beiden Armen des Riesen geschleudert, flog das Pulverfaß mitten zwischen sie und explodierte mit einem Krach, der Himmel und Erde einzureißen schien.

Aber so tödlich das gräßliche Wurfgeschoß für die Feinde war, so verhängnisvoll ward es für Porthos selbst. Die Felsenwand, auf deren oberem Rande er stand, senkte sich jäh hernieder, die Steine barsten wie Tannenbretter unter der Axt, und während vor ihm ein entsetzliches Geschrei erklang und in wimmernden Lauten erstarb, während lodernde Flammen hoch emporflackerten und eine riesige Rauchwolke rings die Luft erfüllte, sah sich Porthos in die Tiefe gerissen, Steine, Sand und Erdklumpen hagelten auf ihn hernieder, und bis zum halben Leibe war er zwischen Felsentrümmern eingeklemmt.

Die Explosion der Pulvermassen hatte in diesem Teil der Insel das Antlitz der Erde verändert; die Grotte war aufgerissen worden, die Steinblöcke hatten sich an vielen Stellen auseinandergebreitet, an andern wieder zusammengehäuft. Es war kein unterirdischer Gang mehr da, sondern nur noch ein Gewirr von größeren und kleineren Steinhaufen, und einer von diesen hatte sich um Porthos her gebildet, der nun vor sich die Freiheit sah, den Strand des Meeres und Aramis mit den drei Fischern, die ihn erkannten und ihm zuwinkten. Aber hinter sich hatte er eine schwere Masse Gestein, die er nur mit Aufbietung aller Kraft zurückhielt und die ihm das Genick zu zerquetschen drohte.

»Kommen Sie, kommen Sie!« riefen die Fischer. – »Schnell, schnell!« rief Aramis und streckte die Hände vor, als wollte er seinen Freund zu sich heranziehen.

Der Riese wühlte mit beiden Fäusten zwischen den Steinen. Er reckte Schultern und Hals, um die Last, die ihn von hinten niederdrücken wollte, zurückzuschieben. Aber er vermochte es nicht. Seine Arme beugten sich, sein Kopf senkte sich tiefer und tiefer. Das stämmige Dach seiner Schultern gab nach. – »Porthos! Porthos!« rief Aramis. »So komm doch!« – »Noch warten!« keuchte der Herkules, »noch warten!« – Als d’Herblay die röchelnde Stimme vernahm, sprang er aus dem Kahn und eilte, aller Gefahr ungeachtet, seinem Freunde zu Hilfe. Die Fischer folgten ihm, und alle vier fielen nun über die Steinblöcke her, gegen die Porthos vergebens ankämpfte. Aber sie waren machtlos, sie konnten nicht einmal versuchen, ihn hervorzuziehen, denn beim ersten Ruck wäre der Steinkoloß vollends herniedergestürzt.

»Zu schwer!« stöhnte Porthos. Dann sah er mit traurigem Lächeln Aramis an und murmelte: »Die Beine! die Beine!« – Sein Kopf sank auf die Brust – Schaum trat ihm vor den Mund – man hörte ein knackendes Geräusch – dann sank der Steinblock über ihn und begrub ihn zur Hälfte unter sich. Ihm nach prasselten eine Masse von kleineren Steinen, die die ganze Gestalt des Toten bedeckten.

Aramis, an allen Gliedern bebend, beugte sich hernieder und horchte. Nichts – kein Röcheln mehr – der Riese schlief den Todesschlaf in dem Grab, das Gott ihm nach seiner Größe gemacht hatte.

Der Bischof kehrte mit seinen Freunden zum Boote zurück, langsamer, als er hergekommen. Sie griffen in die Ruder, und in schneller Fahrt flog die Barke über den glatten Meeresspiegel hin. Aramis sah noch immer nach der Stelle, wo die Grotte von Locmaria in ihrem Zusammenbruch die letzte Ruhestätte seines treuen Porthos gebildet hatte. Und so oft er auch versuchte, seine Gedanken auf den Ernst seiner Lage zu konzentrieren, sie kehrten immer wieder zu Porthos zurück, zu dem Stärksten und Einfältigsten der berühmten vier, welcher nun als erster hatte sterben müssen, zermalmt von einem blöden Stein.

Und ihm, dachte er bei sich, ihm, der an allem schuld war, der diesen gutmütigen Freund hintergangen hatte, ihm war die Flucht geglückt – doch nein! sie glückte auch ihm nicht! Denn als er nun den Kopf hob, sah er, daß ein Schiff das Boot verfolgte!

»Monseigneur, man setzt uns nach,« sagte Yves, der Fischer. – Aramis sah nach dem weißen Punkte, den das Segel des feindlichen Kreuzers am Horizont bildete, und nickte düster vor sich hin. Er antwortete nichts und vergrub wieder das Gesicht zwischen den Händen.

»Monseigneur, wir sind verloren!« sprach nach einer Weile der Fischer wieder. »Barmherziger Himmel, sie schießen auf uns!«

Eine Dampfwolke zeigte sich unter den Segeln, breitete sich aus, wie eine Blume, die sich entfaltet, und verflog; dann sah man etwa hundert Meter vor dem Hinterteil des Bootes eine Kugel ins Meer sausen, eine Furche im Wasser aufwühlen und verschwinden, gleich einem Steine, den ein Knabe über einen Teich schwippt. –

»Monseigneur, sie bohren uns in Grund!« rief der Fischer und warf sich mit den andern vor Aramis auf die Knie. »Geben Sie uns Absolution, Herr Bischof!«

»Ihr vergeßt, sie können euch sehen,« sagte d’Herblay. – »Es ist wahr,« antworteten die Seemänner, sich ihrer Schwachheit schämend. »Befehlen Sie, Monseigneur, wir sind bereit, für Sie zu sterben!« – »Wir warten auf sie,« sagte Aramis ruhig. »Es bleibt uns nichts weiter übrig.« – Sie ließen die Ruder ruhen und zogen das Segel ein. Das feindliche Schiff kam mit Windeseile heran. Die ganze Mannschaft stand auf Deck, die Waffen in der Hand, die Kanoniere sah man an den Stücken, die brennenden Lunten bereithaltend. Man hätte meinen mögen, sie seien auf dem Punkte, eine Fregatte zu entern, nicht aber ein Boot anzuhalten, in welchem sich nur vier Menschen befanden.

»Ergebt euch!« rief der Kapitän. – Aramis nickte nur mit dem Kopfe, und Yves, der Fischer, winkte mit seinem Taschentuche. – »Dreien von euch schenke ich das Leben!« rief der Kapitän. »Einem aber nicht, und das ist Chevalier d’Herblay.« – »Hören Sie, Monseigneur?« rief Yves. – »Ja,« antwortete der Bischof. – »Was sollen wir tun?« – »Annehmen!« Und Aramis spielte mit seinen weißen Fingern in dem grünlich schwarzen Wasser, als wenn er überlegte, ob er sich ergeben oder ertränken solle. – »Wir nehmen es an!« rief Yves. »Wer aber bürgt uns dafür, das Ihr Wort haltet?« – »Mein Name und mein Stand,« rief der Kommandant zurück. »Ich bin Leutnant der königlichen Fregatte Pomona und heiße Constant von Pressigny!«

Der Bischof hatte sich schon mit halbem Leibe über den Bord des Bootes geneigt. Als er diesen Namen hörte, richtete er sich auf. Mit leuchtenden Augen und einem geheimnisvollen Lächeln rief er: »Werft die Strickleiter!«

Er faßte sie als erster und kletterte hinauf. Die Fischer folgten, das Boot ließ man mit den Wellen treiben. Festen Schrittes trat Aramis auf den Kommandanten zu, sah ihn starr an und machte mit der rechten Hand ein geheimnisvolles Zeichen. Leutnant von Pressigny erblaßte, zitterte und trat zurück. Darauf hob Aramis die Rechte und ließ ihn den Stein eines Ringes sehen, den er an dieser Hand trug. Und der Kommandant ergriff diese Hand, neigte sich über sie und küßte sie, wie man die Hand eines Kaisers küßt. Er führte den seltsamen Gefangenen in seine Kajüte.

Die drei Fischer sahen sich verwundert an, die Schiffsmannschaft verhielt sich schweigend. Fünf Minuten später wurde der zweite Leutnant in die Kajüte gerufen, und als er wiederkam, erscholl der Befehl, gen Süden zu steuern. Die Leute gehorchten ohne Widerrede, obwohl man, um nach Belle-Ile zurückzukehren, Kurs nach Norden hätte nehmen müssen.

Aramis erschien auf Deck und setzte sich auf ein zusammengerolltes Segel. In Träume versunken, sah er nach der Richtung aus, in der Belle-Ile lag. Yves, der Fischer, näherte sich ihm ehrfurchtsvoll und fragte leise: »Monseigneur, wohin geht die Fahrt?« – »Nach Spanien,« antwortete Aramis kurz. – Yves schüttelte den Kopf; hatte er doch beim Mondschein auf den Wangen des Bischofs Tränen gesehen.

Ja, Aramis weinte. Es waren die ersten Tränen, die aus diesen Augen rannen. Und sie galten dir, guter Porthos!

5. Kapitel. »Ich bin der Kopf«

D’Artagnan kehrte in bitterster Entrüstung nach Nantes zurück. Er begab sich sofort ins Schloß und verlangte den König zu sprechen. Als er aber das Vorzimmer betrat, kam Herr von Gevres, ein Gardeoffizier, ihm entgegen und ersuchte ihn sehr höflich, sich ruhig zu verhalten, da Majestät noch schlafe. – »Wann wird der König aufstehen?« fragte d’Artagnan. – »In zwei Stunden etwa,« antwortete der Offizier. »Er ist die ganze Nacht auf gewesen.« – Der Musketier ging und kam in zwei Stunden wieder. Man sagte ihm nun, der König säße beim Frühstück. – »Mein Anliegen ist so wichtig,« erwiderte er, »daß der König mich während des Essens anhören wird.« – Herr von Brienne, der Kammerherr vom Dienst, antwortete, Majestät habe ausdrücklich befohlen, während der Mahlzeit niemand vorzulassen. –

»Sie wissen wohl nicht, Herr,« sagte d’Artagnan, »daß ich zu jeder Zeit Einlaß habe?« – »Aber nicht hier in Nantes,« erwiderte der Höfling. »Majestät hat hier eine andere Hausordnung bestimmt.« – »Wann ist der König fertig mit dem Frühstück?« fragte der Musketier.

»Das weiß man nicht.« – D’Artagnan fühlte, wie ihm die Wut zu Kopfe stieg. Er fürchtete, durch eine unbedachte Handlung alles zu verderben, und ging.

»Der König will mich nicht empfangen, das ist ganz klar.« dachte er. »Er denkt, ich könnte ihm unangenehme Dinge sagen. Und inzwischen belagert man Belle-Ile, erobert es, fängt meine Freunde, hängt sie auf. Tod und Teufel! Aramis wird sich zu helfen wissen, um ihn ist mir nicht bange; aber Porthos, der gute Porthos! Ob ich zu Colbert gehe? Ja, ich will ihm einen Schreck einjagen!« Und er eilte zu Colberts Wohnung, wo er erfuhr, der Intendant arbeite mit dem König. – »Also zurück zum Schlosse!« sprach der Musketier.

Herr von Lyonne, der Sekretär, kam aus dem Vorzimmer, trat auf d’Artagnan zu und sagte, Majestät habe sich vorgenommen, die ganze Nacht hindurch zu arbeiten, und es sei streng angeordnet worden, niemand zu ihm zu lassen. – »Wenn dem so ist,« rief nun d’Artagnan mit überlauter Stimme, »wenn der Kapitän der Musketiere nicht mehr wie früher zum König darf, dann ist entweder der König gestorben oder der Kapitän in Ungnade gefallen. In beiden Fällen braucht man ihn nicht mehr. Gehen Sie also zum König, Herr von Lyonne, Sie stehen ja in Gunst, und sagen Sie ihm, ich bitte um meinen Abschied.« – Lyonne ging und kam wieder.

»Was hat der König gesagt?« rief d’Artagnan. – »Majestät haben gesagt, es sei gut.«

»Es sei gut!« rief der Gaskogner. »Also er nimmt meinen Abschied an? So bin ich frei! Nun denn, Gott befohlen! Leb wohl, o Schloß, leb wohl, Korridor und Vorzimmer! Ein Bürger, der endlich aufatmen kann, ruft euch Valet zu!« – Er sprang die Treppe hinab und eilte in den Gasthof, wo er logierte. Er befahl, ein Pferd zu satteln und Proviant zurechtzulegen, denn er wollte am Abend um acht Uhr die Reise nach Vannes antreten. Zu dieser Zeit wollte er denn auch zu Pferde steigen, als Herr von Gevres mit zwölf Gardisten im Gasthofe erschien.

»Guten Abend, Herr d’Artagnan!« rief er. »Man sollte meinen, Sie wollten fortreiten? Vortrefflich, daß ich Sie noch treffe.« – »Suchten Sie mich?« fragte der Gaskogner. »Etwa gar im Namen des Königs?« – »Mein Gott, ja.« – »Sie sollen mich wohl verhaften, wie ich vor ein paar Tagen Herrn Fouquet verhaften mußte?«

»O nicht doch!« – »Warum kommen Sie dann mit zwölf Mann zu mir?« – »Ich mache eben meine Runde,« antwortete Herr von Gevres lächelnd. »Da treffe ich Sie gerade und fordere Sie auf, mit mir zu kommen.«

»Wohin denn?« – »Zum König.«

»Gut!« rief d’Artagnan. »Also vorwärts. Verhaftete kommen zwischen den sechsten und siebenten Mann.« – »Da ich Sie aber nicht verhafte,« antwortete Gevres, »so tun Sie mir den Gefallen, mit mir zusammen hinterdrein zu reiten.« – »Sehr wohl, Herzog, und ich muß gestehen,« sagte d’Artagnan, »wenn ich je eine Runde zu Ihnen hin hätte reiten müssen, so würde ich ebenso höflich mit Ihnen verfahren sein. Und was will der König?«

»O, er ist wütend!« – »Hat er sich die Mühe genommen, in Wut zu geraten, so wird er sich auch die Mühe nehmen, wieder ruhig zu werden,« sagte der Gaskogner. »Ich werde daran nicht sterben, das versichere ich Ihnen.« – »Nein, aber –« – »Aber man wird mich dem armen Fouquet Gesellschaft leisten lassen, meinen Sie? Ei, er ist ein wackrer Mann. Wir werden gut miteinander auskommen.« – »Kapitän, wir sind am Ziele,« antwortete Gevres. »Bewahren Sie Ihre Ruhe.«

»Ei, wie höflich Sie sind!« entgegnete der Chevalier. »Man sagt, Sie wünschten Ihre Garden mit meinen Musketieren vereint zu sehen. Hier scheint sich eine Gelegenheit dazu zu bieten.« – »Ich werde mich hüten, einen solchen Anlaß zu benützen; denn wenn ich Ihr Nachfolger würde, nachdem ich Sie verhaftet habe –« – »Ah, Sie gestehen also, daß Sie mich verhafteten –?« – »Nein, nein!« – »Nun, so sagen wir wieder, Sie haben mich nur angetroffen. Wenn Sie also mein Nachfolger würden, nachdem Sie mich angetroffen – was dann?« – »Dann würden Ihre Musketiere beim ersten Scharfschießen aus Versehen nach mir hinknallen.« – »Den Teufel auch, das könnte passieren,« murmelte d’Artagnan, »die Schlingel hängen an mir!«

Man hörte im Kabinett den König laut mit Colbert sprechen. Herr von Gevres blieb an d’Artagnans Seite. Das Gerücht, der Kapitän der Musketiere sei verhaftet worden, verbreitete sich im Schlosse. Und nun sah man, wie zur guten alten Zeit Ludwig XIII., die Musketiere sich im Hofe zusammenscharen, die Offiziere traten zu Gruppen zusammen, und dumpfes Murmeln pflanzte sich fort bis in die Korridore. »Es wäre doch wunderbar,« dachte d’Artagnan, »wenn meine Prätorianer mich zum König von Frankreich ausriefen. Wie würde ich darüber lachen!« Allein im selben Moment verstummte alles. Die Soldaten, die Offiziere, die Höflinge – alle zerstreuten sich, verloren sich, verschwanden; ein einziges Wort hatte genügt, die Gärung zu beschwichtigen: es gab kein Ungewitter, keinen Aufruhr mehr. Der Kammerherr vom Dienst hatte in den Hof hinabgerufen: »Ruhe! Man stört den König!«

»Es ist aus,« murmelte d’Artagnan, »die Musketiere von heute sind nicht mehr die Musketiere von ehedem!«

»Herr d’Artagnan zum König!« rief der Kammerherr.

Der König kehrte der Tür den Rücken zu, aber in einem vor ihm hängenden Spiegel konnte er mit einem Blick sehen, wer eintrat. Er verzog keine Miene, als er d’Artagnan kommen sah, sondern breitete mit ruhiger Hand das grünseidene Tuch über seine Papiere, das dazu diente, seine Dokumente unberufenen Augen zu entziehen. Der Gaskogner kannte dieses Manöver und stellte sich so, daß der König ihn im Spiegel nicht mehr sehen konnte und infolgedessen fragen mußte: »Ist Herr d’Artagnan nicht hier?« – »Hier bin ich,« antwortete der Musketier vortretend.

»Nun, mein Herr,« sprach der König, sein klares Auge auf den Chevalier heftend, »was haben Sie mir zu sagen?« – »Ich, Sire?« entgegnete jener. »Nichts, außer daß Sie mich verhaften ließen und ich eben hier bin.« – Der König wollte entgegnen, er habe ihn nicht verhaften lassen, doch erschien ihm diese Phrase einer Ausrede gleichzukommen, und er schwieg. D’Artagnan schwieg ebenfalls.

»In welchem Auftrage hatte ich Sie nach Belle-Ile geschickt, Herr?« sprach der König dann. »Sagen Sie mir das gefälligst.« – »Sie wollen also wissen, was ich in Belle-Ile getan habe?« versetzte der Gaskogner, den festen Blick des Königs erwidernd. »Das weiß ich nicht, Sire. Danach muß man mich nicht fragen. Danach muß man die endlose Reihe von Offizieren fragen, denen man unzählige Befehle aller Art mitgab, während man mir, dem Führer der Expedition, gar keinen bestimmten Auftrag gab.« –

Der König antwortete pikiert: »Herr, man erteilte Befehle nur solchen Leuten, welche man für treu hielt.«

»Es mußte mich wundernehmen,« fuhr der Kapitän fort, »daß ein Mann, der dem Range nach so hoch steht wie ein Marschall von Frankreich, unter die Befehle von sechs Leutnants gestellt wird, die wohl zu Spionen taugen mögen, nicht aber zu Führern einer kriegerischen Expedition. Ich kam hierher, Eure Majestät um Aufklärung zu bitten, aber der Zutritt wurde mir verweigert – ein letzter Schimpf, der mich veranlaßte, den Dienst Eurer Majestät zu verlassen.« – »Herr,« rief der König, »Sie glauben immer noch in einer Zeit zu leben, wo die Könige sich nach ihren Untergebenen zu richten hatten. Sie vergessen, daß ein König nur Gott Rechenschaft über seine Handlungen schuldig ist.«

»Das vergesse ich durchaus nicht, Sire,« antwortete der Chevalier gekränkt. »Ich begreife nicht, inwiefern es beleidigend für einen König ist, wenn ein ehrbarer Mann ihn fragt, in welcher Hinsicht er ihm schlecht gedient habe.« – »Sie haben mir schlecht gedient, indem Sie meine Feinde beschützten,« rief Ludwig XIV. – »Wer sind Ihre Feinde?« versetzte der Gaskogner. – »Die Männer, gegen die ich Sie geschickt habe!« – »Zwei einzelne Männer – Feinde Ihrer ganzen Armee! Kaum glaublich, Majestät!« – »Sie haben an meinem Willen nicht herumzudeuten!« – »Aber ich habe an meine Freundschaften zu denken!«

»Wer seinen Freunden dient, dient nicht seinem Herrn!« rief der König. – »Ich habe das so wohl eingesehen, Sire, daß ich um meinen Abschied bat,« antwortete d’Artagnan. – »Und ich habe ihn angenommen,« sprach der König. »Doch ehe ich mich von Ihnen trenne, wollte ich Ihnen beweisen, daß ich mein Wort zu halten weiß.« – »Majestät haben mehr als Wort gehalten,« entgegnete der Gaskogner kalt, »denn Sie ließen mich verhaften, und das hatten Sie mir nicht einmal versprochen.« – Ludwig XIV. nahm diesen Hohn verächtlich auf. – »Sie sehen, wozu mich Ihr Ungehorsam getrieben hat,« sagte er gelassen.

»Mein Ungehorsam!« rief d’Artagnan, vor Zorn erglühend. – »Das ist noch gelinde ausgedrückt,« versetzte Ludwig. »Ich wollte Rebellen fangen und bestrafen. Hatte ich danach zu fragen, ob diese Rebellen Ihre Freunde seien?« – »Aber ich hatte danach zu fragen!« erwiderte der Chevalier. »Es war grausam von Eurer Majestät, mich auf den Fang von Freunden auszuschicken, welche ich Ihrem Galgen überliefern sollte!« – »Es war eine Probe, Herr, die ich mit einem Manne anstellte, der sich immer meinen treuen Diener nannte und als solcher mein Brot ißt. Die Probe ist schlecht ausgefallen, Herr!«

»Nun, für diesen einen schlechten Diener, den Majestät damit verlieren,« versetzte der Kapitän bitter, »haben Majestät zehn gefunden, die an demselben Tage ihre Probe bestanden haben. Nun ja, Sire! ich bin ein rebellischer Mensch, wenn sich’s darum handelt, etwas Böses zu tun, und es war etwas Böses in meinen Augen, zwei Männer zu Tode zu hetzen, um deren Leben Fouquet, Ihr Retter, Sie gebeten hatte. Obendrein waren diese Männer meine Freunde. Aber warum mußten Sie mich verdächtigen, ehe ich etwas getan hatte? Warum mußten Sie mich mit Spionen umgeben? Warum mich vor der Armee entehren? Sie hatten mir Ihr ganzes Zutrauen geschenkt, dreißig Jahre lang habe ich an Ihnen gehangen, ich habe Ihnen tausend Beweise der Ergebenheit und Aufopferung gegeben, und nun mußte ich 3000 Soldaten gegen zwei einzelne Männer ins Feld führen!«

»Ja, vergessen Sie denn, was diese Männer an mir getan haben?« rief der König in dumpfem Tone, »daß ich durch diese Männer um ein Haar verloren gewesen wäre?« – »Und vergessen Sie denn, Sire, daß ich noch da war?« rief d’Artagnan. – »Genug, genug, Herr d’Artagnan, mit diesen persönlichen Rücksichten, die meinen höheren Rücksichten im Wege sind! Ich gründe einen Staat, in welchem es nur einen Herrn geben soll. Das habe ich mir einstmals gelobt; das habe ich Ihnen einstmals versprochen. Jetzt ist der Augenblick gekommen, mein Versprechen einzulösen. Sie sollen nach Ihrem Geschmack und um Ihrer Freundschaft willen befugt sein, meine Pläne zu vereiteln und meine Feinde zu retten? Nein! entweder Sie gehorchen mir, oder Sie verlassen mich! Suchen Sie sich einen Herrn, der dazu Ja und Amen sagt. Ich glaube es gern, mancher andere König würde sich Ihnen fügen, mit dem Hintergedanken, daß er es ja immer in der Hand habe, Sie eines Tages dorthin zu schicken, wo Herr Fouquet jetzt weilt. Aber ich habe ein gutes Gedächtnis, und für mich sind Dienste, die man mir geleistet, ein geheiligter Anspruch auf meine Dankbarkeit und auf milde Beurteilung, wenn ich strafen muß. Herr d’Artagnan, Ihnen soll zur Strafe für Ihren Mangel an Disziplin nur diese Lektion zuteil werden. Nachdem ich nicht ebenso gnädig gewesen bin wie meine Vorgänger, will ich nun auch nicht ebenso brutal sein. Noch andere Gründe veranlassen mich, milde mit Ihnen zu verfahren: erstens sind Sie ein Mann von Geist, Einsicht und Herz und werden dem ein guter Diener sein, der Sie zu zähmen vermocht hat; zweitens haben Sie jetzt keinen Grund mehr zur Insubordination; denn inzwischen haben meine Soldaten die Rebellen von Belle-Ile gefangengenommen oder getötet.«

D’Artagnan erblaßte. »Gefangen oder getötet!« rief er. »O, Sire, wenn das wahr wäre, so würde ich vergessen, das Sie mir eben Gerechtes und Großmütiges gesagt haben, und Sie einen barbarischen König, einen unnatürlichen Menschen nennen! Aber ich vergebe Ihnen diese Worte,« setzte er mit stolzem Lächeln hinzu, »ich vergebe sie dem jungen Fürsten, der noch nicht weiß, noch nicht beurteilen kann, was Männer wie d’Herblay, wie du Vallon, wie ich sind! Gefangen oder getötet? Ha, sagen Sie mir dann auch, wieviel Geld, wie viele Menschen es Sie gekostet hat, und lassen Sie uns den Gewinn nach dem Einsatz berechnen!«

Der König trat voll Zorn dicht vor ihn. »Herr! Sie antworten mir da wie ein Rebell!« rief er. »Wer ist König von Frankreich? Ich oder ein anderer?« – »Sire!« versetzte der Musketier kalt, »ich erinnere mich, daß Sie diese Frage eines Morgens in Vaux an viele Leute gestellt haben, die alle nichts darauf zu antworten wußten, während ich Ihnen Antwort gab. Wenn ich den König an jenem Tage erkannt habe, wo es gar nicht so leicht war, so halte ich es für unnötig, diese Frage heute an mich zu stellen, wo ich mit Eurer Majestät allein bin.«

Ludwig XIV. schlug die Augen nieder; die Erinnerung an den unglücklichen Philipp war ihm peinlich. Ein Offizier trat ein und reichte dem König eine Depesche; er öffnete sie, las und erblaßte. – »Herr d’Artagnan,« sagte er rasch entschlossen, »was man mir hier meldet, das sollen Sie später erfahren. Es ist besser, Sie hören es aus dem Munde Ihres Königs als von anderer Seite. In Belle-Ile ist gekämpft worden.«

»Ah,« sagte der Gaskogner ruhig, aber sein Herz schlug so heftig, als wollte es die Brust zersprengen. – »Und bei diesem Kampfe habe ich 106 Mann verloren,« fuhr der König fort. – D’Artagnans Augen flammten auf vor Freude und Stolz. – »Und die Rebellen?« fragte er. – »Sind entflohen,« antwortete der König. – D’Artagnan stieß einen Schrei des Triumphes aus. – »Gemach!« setzte der König hinzu. »Meine Flotte hat Belle-Ile so eng umstellt, daß sie nicht entschlüpfen können. Wenn man sie aufgreift, hängt man sie.« – »Und wissen sie das?« fragte d’Artagnan erbebend. – »Wie Sie es gewußt haben, wie ganz Frankreich es weiß.«

»Dann werden sie sich nicht lebendig fangen lassen, Sire, dafür bürge ich.« – »So wird man sie tot aufgreifen, was auf dasselbe hinauskommt,« versetzte der König. »Ich habe Ihnen gesagt,« fuhr er fort, »ich würde Ihnen eines Tages ein wohlgeneigter, edeldenkender, wortgetreuer König sein. Sie sind nun der einzige noch von früher her, der eins von beiden verdient: meinen Zorn oder meine Freundschaft. Eines von beiden soll Ihnen zuteil werden je nach Ihrem Verhalten. Und das entscheidet sich heute. Herr d’Artagnan, wollen Sie einen Mann zum König haben, der sich vor hundert andern durch nichts auszeichnet? Und könnte ein so schwacher König das Große ausführen, das meinem Geiste vorschwebt? Haben Sie je einen Künstler mit widerspenstigem Werkzeug große, ewige Werke schaffen sehen? Herr d’Artagnan, ich allein bin Herr in meinem Reiche, und ich will Diener haben, die die Ergebenheit, den Gehorsam bis zum Heroismus steigern – mögen sie auch nicht den Geist haben, den Sie besitzen! Was liegt daran, ob sie Geist haben. Gott gibt den Geist nicht den Füßen und den Armen, sondern dem Kopfe. Und dem Kopfe gehorcht alles übrige. Der Kopf bin – ich!«

D’Artagnan erschrak. Ludwig XIV. sprach weiter, als hätte er nichts bemerkt, obwohl dieses Erschrecken ihm keineswegs entgangen war. – »Wir beide schließen jetzt die Rechnung ab, die an jenem Tage offenbleiben mußte, wo Sie mich in Blois so klein und schwach fanden. Wissen Sie mir Dank, Herr, daß ich niemand die Tränen der Wut und der Beschämung entgelten lasse, die ich damals vergossen habe! Sehen Sie sich um, die großen Häupter sind gebeugt. Nun müssen auch Sie sich beugen – oder ins Exil gehen. Treffen Sie Ihre Wahl! Wenn Sie nachdenken, werden Sie sich vielleicht sagen, dieser König sei doch ein edler Mensch, denn er lasse Sie, der Sie im Besitz des gefährlichsten Staatsgeheimnisses sind, als einen Mißvergnügten dennoch unangefochten ziehen. D’Artagnan, warum haben Sie vor der Zeit ein Urteil über mich gefällt? Richten Sie heute abend über mich und seien Sie dann so streng wie Sie wollen!«

Verblüfft, stumm, schwankend stand der alte Krieger vor dem jungen Fürsten. Er erkannte in ihm einen Gegner, der seiner würdig war. Das war nicht mehr Hinterlist, das war feinste Berechnung: das war nicht mehr Gewalttätigkeit, das war Kraft; nicht mehr Zorn, sondern Wille; nicht mehr Ruhmrederei, sondern Urteil. Der junge Mann, der Fouquet zu Boden geschmettert hatte, beugte nun auch den starren Nacken d’Artagnans. »Nun, was zaudern Sie?« fragte der König. »Sie haben Ihren Abschied eingereicht – soll ich ihn verweigern? Ich gebe zu, es ist schwer für einen alten Kapitän, etwas zurückzunehmen, was er im Groll gesprochen hat.«

»O, das ist das Schwerste nicht,« entgegnete der Musketier traurig. »Das Schwerste ist, ich bin alt gegen Sie, und ich bin durch viele, viele Jahre an manches gewöhnt, das sich nicht leicht ablegen läßt. Sie brauchen künftig Höflinge, die Ihnen was vormachen können, Hanswurste, die sich für das, was Sie Ihre großen Werke nennen, abstechen lassen. Wohl, wohl, groß werden diese Werk sein, ich fühle es – aber mein Gott, wenn ich sie doch nicht für gar so groß halten könnte! Ich habe unter Richelieu und Mazarin gedient, ich habe mich mit Ihrem Vater zusammen am Feuer von Larochelle versengt, mein Leib ist voller Wunden gewesen, durchlöchert wie ein Sieb, und ich habe zehnmal eine neue Haut bekommen, wie eine Schlange. Nachdem ich lange Zeit unter Schmähungen und Ungerechtigkeit zu leiden hatte, bekam ich endlich ein Kommando, das früher wenigstens insofern einigen Wert hatte, als man damit das Recht erhielt, mit dem König von der Leber weg zu reden. Aber künftighin wird es mit Ihrem Musketier-Kapitän anders bestellt sein. Er wird nur eine Art Türhüter sein dürfen. Wahrlich, Sire, für dieses Geschäft tauge ich schlecht. Glauben Sie nicht, ich hegte einen Groll wider Sie! O nein, Sie haben mich gezähmt, wie Sie sagen – aber der gezähmte d’Artagnan ist auch nicht mehr der frühere, ist nicht mehr so stark, so unbeugsam, so wagemutig. Was meinen Sie? Wird es nicht lächerlich sein, wenn ich nun noch den Kopf hochtrage, wo ich doch nichts weiter hier soll, als den Staub Ihrer Teppiche schlucken? Sire, Sie haben Höflinge genug, streuen Sie ihnen Puder in die Haare, setzen Sie ihnen goldene Borten auf die Röcke, und Sie können jederzeit Herzöge, Pairs, Marschälle haben. Das sind die besten Diener – sie tun alles für die Hand, die sie füttert. Doch was schwatze ich das alles aus? Der König ist mein Herr – o, Sie wußten recht wohl, ich kann ohne einen König, dem ich diene, nicht leben! Nun denn, mein König will, daß ich ein Höfling werde, Verse drechsle und mit seidenen Schuhen seinen Parkettfußboden glatt schleife – Donnerwetter! das ist schwer, aber ich habe Schwereres vollbracht! Ich werde es tun. Warum? Geld habe ich – mein Ehrgeiz ist befriedigt. Darin also liegt der Grund nicht! Nein, ich bleibe, weil ich es seit dreißig Jahren gewöhnt bin, nach den Befehlen meines Königs zu fragen und ihn sagen zu hören: Guten Abend, d’Artagnan! mit einem Lächeln, das ich mir noch nie erbettelt habe. Nun aber werde ich es mir erbetteln – Sire, sind Sie zufrieden?«

Und langsam neigte sich der graue Kopf des Kriegsmannes hernieder. Der König legte lächelnd die weiße Hand darauf und sagte voll Stolz: »Dank, alter treuer Diener und lieber Freund! Von heute ab habe ich keine Feinde mehr in Frankreich, ich muß dich also in ein fremdes Land schicken, damit du dir den Marschallstab verdienst. Das soll geschehen, sobald sich die Gelegenheit bietet. Ich bürge dir dafür. Bis dahin iß mein bestes Brot und schlaf ruhig.«

»Und die armen Leute auf Belle-Ile?« fragte d’Artagnan. »Zumal einer, der so gut und so tapfer ist?« – »Bittest du um Gnade für sie?« – »Auf den Knien. Majestät!« – »Nun denn, bring ihnen meine Gnade, wenn es noch Zeit ist. Du bürgst mir aber für sie.« – »Mit meinem Leben, Sire.« – »Gehen Sie. Morgen kehre ich nach Paris zurück. Eilen Sie, daß Sie wieder hier sind, denn ich will Sie allzeit um mich haben.« – »Seien Sie unbesorgt, Sire!« rief d’Artagnan und küßte die Hand des Königs.

Er reiste auf der Stelle nach Belle-Ile, kehrte zurück und begleitete den König nach Paris. Aber obwohl er 24 Stunden lang die sorgsamsten Erkundigungen eingezogen, hatte er doch nichts Gewisses erfahren können. Man erzählte ihm nur alles, was die beiden tatkräftigen Männer, seine Freunde, auf der Insel gegen eine ganze Armee ins Werk gesetzt hätten, und daß sie schließlich auf einem Boote die Flucht ergriffen hätten, von einer königlichen Fregatte hart verfolgt. Darüber hinaus war nichts Genaues mehr zu ermitteln. Das Geheimnis des Felsengrabes von Locmaria ward ihm nicht kundgemacht. Er sah sich also auf das Gebiet der Vermutungen gestoßen; doch was sollte er denken? Die Fregatte war nicht zurückgekehrt – Stürme hatten zwar auf der See geherrscht, allein das Schiff war sehr seetüchtig, wie er hörte, und niemand nahm an, daß es untergegangen sein könnte. Mehr wußte d’Artagnan nicht, als er wieder in Nantes eintraf.

Nach Paris zurückgekehrt, war Ludwig eben erst aufgestanden und hatte gefrühstückt, als der Kapitän seiner Musketiere, blaß und aufgeregt, vor ihm erschien.

»Sire, mir ist ein großes Unglück widerfahren,« sagte er. »Ich habe eben einen Brief erhalten, der mir mitteilt, daß einer meiner Freunde, Baron du Vallon, auf Belle-Ile ums Leben gekommen ist.« – »Das wußte ich,« sagte der König. – »Sie wußten es und verschwiegen es mir?« rief der Musketier. – »Ich wollte Ihnen keinen Schmerz bereiten, mein Freund. Sie hätten vielleicht gestern noch geglaubt, ich wolle über Ihr Unglück triumphieren. Ich weiß, Herr du Vallon liegt unter den Trümmern von Locmaria begraben, und Herr d’Herblay hat mir ein Schiff mitsamt der Mannschaft weggenommen, um sich nach Bayonne bringen zu lassen. Aber ich wollte, Sie sollten das durch unmittelbare Erkundigung erfahren, damit Sie sich überzeugt hielten, daß Ihre Freunde mir heilig sind, daß der Mensch in mir sich gern den Menschen opfert, da der König in mir so oft gezwungen ist, die Menschen seiner Majestät und Macht zu opfern.«

»Aber, Sire, woher wissen Sie–?« – »Woher wissen Sie es nun selbst?« – »Durch einen Brief, den mir Aramis aus Bayonne geschickt hat.« – »Und ich durch einen Brief, der acht Stunden vor dem Ihrigen von Colbert aus bei mir eintraf. Nicht wahr, ich bin gut bedient?« – »Ja, Sire, aber Sie werden das nun nicht mißbrauchen –« – »D’Artagnan,« antwortete Ludwig XIV. lächelnd, »ich könnte Herrn d’Herblay noch in Spanien verhaften lassen, allein er ist frei und wird frei bleiben.« – »O, Sire,« sprach der Musketier, »so gütig werden Sie nicht immer denken; es wird sich eine Stimme finden, die Sie von diesem Edelmut abzubringen suchen wird.« – »Sie irren, d’Artagnan, der Rat, Herrn d’Herblay nicht weiter zu verfolgen, rührt von Colbert selbst her. Und ich will Ihnen noch ein weiteres Geheimnis offenbaren, das der eigentliche Grund ist, weshalb Herr d’Herblay unangefochten bleiben muß. Ihr guter Freund, Aramis, der Musketier, der Bischof von Vannes, der Staatsverbrecher von Vaux, ist General des Jesuitenordens. Herr Colbert hat das durch Frau von Chevreuse erfahren.«

D’Artagnan riß die Augen weit auf und stieß nur ein lautes »Ah!« der höchsten Verwunderung hervor.

»Ich habe Ihnen noch mehrere gute Nachrichten mitzuteilen; aber Sie sollen sie erst in dem Augenblick hören, wo ich mit meinen Abrechnungen fertig sein werde. Ich sage nur, ich will Ihr Glück begründen – und das ist keine leere Phrase.« – »Tausend Dank, Sire, ich kann warten!« antwortete der Musketier. »Machen Sie einstweilen die armen Leute glücklich, die schon seit langem in Ihrem Vorzimmer warten, um Ihnen eine Bittschrift zu Füßen zu legen.« – »Wer sind sie?« – »Feinde Eurer Majestät – Freunde des Herrn Fouquet,« sagte d’Artagnan. – »Wie heißen sie?« – »Gourville, Pelisson und der Dichter Lafontaine.« – »Was wollen sie?« – »Ich weiß es nicht.« – »Wie kommen sie?« – »In Trauer.« – »Was tun sie?« – »Sie weinen.« – »Sie mögen eintreten,« sprach der König, die Stirn runzelnd.

D’Artagnan hob den Vorhang auf, der den Eingang in das Königszimmer verhüllte, und rief in den Vorsaal: »Hereinführen!« – Darauf erschienen drei Männer, bei deren Annäherung die im Vorsaal weilenden Höflinge entsetzt zurückwichen, als fürchteten sie, durch die Berührung mit diesen Freunden eines Geächteten besudelt zu werden. D’Artagnan aber schritt auf sie zu und reichte einem von ihnen die Hand. So führte er sie vor den Lehnstuhl des Königs. Ludwig ließ sie sich vorstellen. Pelisson weinte nicht mehr; aber er hatte den Tränen nur gewehrt, um deutlich sprechen zu können und von Seiner Majestät besser verstanden zu werden. Gourville biß sich auf die Lippe, um aus Ehrfurcht vor dem König keine Träne mehr sehen zu lassen. Lafontaine konnte das Schluchzen nicht unterdrücken und preßte das Taschentuch vors Gesicht.

Der König stand würdevoll und leidenschaftslos vor ihnen. Er machte eine Bewegung, welche besagte: »Nun, so rede doch einer!« und sah mit gerunzelter Stirn von einem zum andern. Pelisson krümmte sich bis zur Erde, und Lafontaine kniete sogar nieder, wie man es in der Kirche tut. Das peinliche Schweigen fing an, nicht das Mitleid, sondern die Ungeduld des Königs wachzurufen. – »Herr Pelisson,« sprach er kurz. »Herr Gourville und Sie, Herr – –« er nannte Lafontaine nicht beim Namen 15 – »es mißfällt mir, daß Sie vor mich treten, um für einen der größten Verbrecher zu bitten, den meine Gerechtigkeit bestrafen mußte. Ein König läßt sich nur durch Tränen der Unschuld und durch die Reue des Schuldigen rühren. Ich werde aber weder an die Reue des Herrn Fouquet noch an die Tränen seiner Freunde glauben, denn der eine ist bis ins Herz hinein verderbt, und die andern müssen fürchten, mich in meinem eigenen Palast zu beleidigen. Deshalb, Herr Pelisson und Herr Gourville, sagen Sie kein Wort, das nicht laut die Ehrfurcht bezeugt, die Sie meinem Willen zollen!«

»Sire,« antwortete Pelisson, bei diesen furchtbaren Worten zitternd, »uns führt nur die Absicht her, Eurer Majestät unsere tiefste Demut und Ergebenheit zu beteuern. Die Gerechtigkeit Eurer Majestät ist streng, alle Welt muß sich Ihren Beschlüssen beugen. Auch wir beugen uns in der Ehrfurcht und der aufrichtigen Liebe, die alle Untertanen dem König schuldig sind. Fern liegt es uns, den Mann zu verteidigen, der das Unglück hatte, Eure Majestät zu beleidigen. Ein Mann, der sich Ihre Ungnade zugezogen hat, kann uns wohl ein Freund bleiben, für den Staat aber ist er ein Feind. Wir werden ihn weinend der Strenge des Königs überlassen.«

Beschwichtigt durch diese überzeugenden Worte und ihren demutsvollen Ton, antwortete Ludwig XIV: »Im übrigen wird mein Parlament urteilen. Ich strafe nicht, ohne daß das Verbrechen nachgewiesen wird. Meine Gerechtigkeit hat neben dem Schwert auch eine Wage. Was haben Sie von mir zu erbitten?«

»Sire,« sprach Pelisson, »der Angeklagte hinterläßt Frau und Kinder. Das Vermögen, das man noch bei ihm vorfand, reicht kaum hin, seine Schulden zu decken. Seine Frau ist seit seiner Verhaftung von aller Welt verlassen. Die Hand Eurer Majestät schlägt ebenso wie die Hand Gottes. Wenn der Herr über eine Familie die Plage des Aussatzes verhängt, so meidet jeder die Wohnung des Aussätzigen. Nur bisweilen wagt sich ein todesmutiger Arzt über die Schwelle und setzt sein Leben ein, um die Unglücklichen zu heilen. Sire, mit aufgehobenen Händen und auf den Knien flehen wir zu Ihnen, wie zu einer Gottheit: Frau Fouquet hat niemand mehr auf dieser Welt, keinen Freund, keinen Helfer, sie weint in ihrem ausgeplünderten Hause, verlassen von allen, die in den Tagen des Glücks ihre Tür belagert haben. Der Unglückliche, den Ihr Zorn getroffen hat, erhält wenigstens von Ihnen trotz seiner Schuld Speise und Trank. Aber Frau Fouquet, welche die Ehre hatte, Sie an ihrem Tische zu empfangen, Frau Fouquet, die Gemahlin des ehemaligen Finanzministers, Frau Fouquet hat kein Brot mehr!«

Das Grabesschweigen, das während dieser Worte geherrscht hatte, wurde von Schluchzen und Weinen unterbrochen, selbst d’Artagnan, dem die Brust zersprang, als er dieses demütige Flehen hörte, drehte sich um und kaute heftig an seinem Schnurrbart. Das Auge des Königs blieb trocken, aber seine Wangen röteten sich, sein Blick verlor ein wenig die ihm eigene imponierende Sicherheit. »Was wünschen Sie also?« fragte er bewegt.

»Wir bitten Eure Majestät in aller Demut,« fuhr Pelisson fort, »um Erlaubnis, Frau Fouquet die 2000 Pistolen leihen zu dürfen, die wir und einige frühere Freunde ihres Gemahls zusammengesteuert haben, um die Witwe vor äußerster Not zu schützen.« Als Pelisson die Frau des noch lebenden Fouquet eine Witwe nannte, erblaßte der König; sein Stolz sank, das Mitleid drängte sich aus dem Herzen auf seine Lippen. Er warf einen Blick der Rührung auf die zu seinen Füßen schluchzenden Männer und erwiderte: »Gott verhüte, daß ich mit den Schuldigen die Unschuldigen treffe! Wer bezweifelt, daß ich für die Schwachen Barmherzigkeit übrig hätte, der kennt mich schlecht. Tun Sie für Frau Fouquet, was Ihr Herz Ihnen eingibt, meine Herren, lindern Sie ihr Leid, soweit sie können. Gehen Sie, meine Herren, gehen Sie!«

Sie standen auf; doch hatten sie nicht die Kraft mehr, dem König zu danken, der übrigens ihre feierlichen Verbeugungen nur flüchtig erwiderte und sich rasch hinter seinen Lehnstuhl zurückzog. – »Gut!« sprach d’Artagnan zu dem jungen Fürsten, der ihn fragend ansah. »Wenn Sie nicht schon die Devise hätten, die Ihre Sonne ziert, so würde ich Ihnen die folgende empfehlen: Sanft gegen die Schwachen, streng gegen die Starken!« – Der König lächelte und ging in den Vorsaal. Auf der Schwelle sprach er zu d’Artagnan: »Sie sind beurlaubt. Bringen Sie die Angelegenheiten Ihres verstorbenen Freundes du Vallon in Ordnung.«

  1. Lafontaine, der berühmte Fabeldichter, hatte sich durch mehrere seiner Fabeln, in deren Moral man eine Spitze gegen den König und die Regierung zu erkennen glaubte, bei Hofe unmöglich gemacht.