D’Artagnan kehrte in bitterster Entrüstung nach Nantes zurück. Er begab sich sofort ins Schloß und verlangte den König zu sprechen. Als er aber das Vorzimmer betrat, kam Herr von Gevres, ein Gardeoffizier, ihm entgegen und ersuchte ihn sehr höflich, sich ruhig zu verhalten, da Majestät noch schlafe. – »Wann wird der König aufstehen?« fragte d’Artagnan. – »In zwei Stunden etwa,« antwortete der Offizier. »Er ist die ganze Nacht auf gewesen.« – Der Musketier ging und kam in zwei Stunden wieder. Man sagte ihm nun, der König säße beim Frühstück. – »Mein Anliegen ist so wichtig,« erwiderte er, »daß der König mich während des Essens anhören wird.« – Herr von Brienne, der Kammerherr vom Dienst, antwortete, Majestät habe ausdrücklich befohlen, während der Mahlzeit niemand vorzulassen. –
»Sie wissen wohl nicht, Herr,« sagte d’Artagnan, »daß ich zu jeder Zeit Einlaß habe?« – »Aber nicht hier in Nantes,« erwiderte der Höfling. »Majestät hat hier eine andere Hausordnung bestimmt.« – »Wann ist der König fertig mit dem Frühstück?« fragte der Musketier.
»Das weiß man nicht.« – D’Artagnan fühlte, wie ihm die Wut zu Kopfe stieg. Er fürchtete, durch eine unbedachte Handlung alles zu verderben, und ging.
»Der König will mich nicht empfangen, das ist ganz klar.« dachte er. »Er denkt, ich könnte ihm unangenehme Dinge sagen. Und inzwischen belagert man Belle-Ile, erobert es, fängt meine Freunde, hängt sie auf. Tod und Teufel! Aramis wird sich zu helfen wissen, um ihn ist mir nicht bange; aber Porthos, der gute Porthos! Ob ich zu Colbert gehe? Ja, ich will ihm einen Schreck einjagen!« Und er eilte zu Colberts Wohnung, wo er erfuhr, der Intendant arbeite mit dem König. – »Also zurück zum Schlosse!« sprach der Musketier.
Herr von Lyonne, der Sekretär, kam aus dem Vorzimmer, trat auf d’Artagnan zu und sagte, Majestät habe sich vorgenommen, die ganze Nacht hindurch zu arbeiten, und es sei streng angeordnet worden, niemand zu ihm zu lassen. – »Wenn dem so ist,« rief nun d’Artagnan mit überlauter Stimme, »wenn der Kapitän der Musketiere nicht mehr wie früher zum König darf, dann ist entweder der König gestorben oder der Kapitän in Ungnade gefallen. In beiden Fällen braucht man ihn nicht mehr. Gehen Sie also zum König, Herr von Lyonne, Sie stehen ja in Gunst, und sagen Sie ihm, ich bitte um meinen Abschied.« – Lyonne ging und kam wieder.
»Was hat der König gesagt?« rief d’Artagnan. – »Majestät haben gesagt, es sei gut.«
»Es sei gut!« rief der Gaskogner. »Also er nimmt meinen Abschied an? So bin ich frei! Nun denn, Gott befohlen! Leb wohl, o Schloß, leb wohl, Korridor und Vorzimmer! Ein Bürger, der endlich aufatmen kann, ruft euch Valet zu!« – Er sprang die Treppe hinab und eilte in den Gasthof, wo er logierte. Er befahl, ein Pferd zu satteln und Proviant zurechtzulegen, denn er wollte am Abend um acht Uhr die Reise nach Vannes antreten. Zu dieser Zeit wollte er denn auch zu Pferde steigen, als Herr von Gevres mit zwölf Gardisten im Gasthofe erschien.
»Guten Abend, Herr d’Artagnan!« rief er. »Man sollte meinen, Sie wollten fortreiten? Vortrefflich, daß ich Sie noch treffe.« – »Suchten Sie mich?« fragte der Gaskogner. »Etwa gar im Namen des Königs?« – »Mein Gott, ja.« – »Sie sollen mich wohl verhaften, wie ich vor ein paar Tagen Herrn Fouquet verhaften mußte?«
»O nicht doch!« – »Warum kommen Sie dann mit zwölf Mann zu mir?« – »Ich mache eben meine Runde,« antwortete Herr von Gevres lächelnd. »Da treffe ich Sie gerade und fordere Sie auf, mit mir zu kommen.«
»Wohin denn?« – »Zum König.«
»Gut!« rief d’Artagnan. »Also vorwärts. Verhaftete kommen zwischen den sechsten und siebenten Mann.« – »Da ich Sie aber nicht verhafte,« antwortete Gevres, »so tun Sie mir den Gefallen, mit mir zusammen hinterdrein zu reiten.« – »Sehr wohl, Herzog, und ich muß gestehen,« sagte d’Artagnan, »wenn ich je eine Runde zu Ihnen hin hätte reiten müssen, so würde ich ebenso höflich mit Ihnen verfahren sein. Und was will der König?«
»O, er ist wütend!« – »Hat er sich die Mühe genommen, in Wut zu geraten, so wird er sich auch die Mühe nehmen, wieder ruhig zu werden,« sagte der Gaskogner. »Ich werde daran nicht sterben, das versichere ich Ihnen.« – »Nein, aber –« – »Aber man wird mich dem armen Fouquet Gesellschaft leisten lassen, meinen Sie? Ei, er ist ein wackrer Mann. Wir werden gut miteinander auskommen.« – »Kapitän, wir sind am Ziele,« antwortete Gevres. »Bewahren Sie Ihre Ruhe.«
»Ei, wie höflich Sie sind!« entgegnete der Chevalier. »Man sagt, Sie wünschten Ihre Garden mit meinen Musketieren vereint zu sehen. Hier scheint sich eine Gelegenheit dazu zu bieten.« – »Ich werde mich hüten, einen solchen Anlaß zu benützen; denn wenn ich Ihr Nachfolger würde, nachdem ich Sie verhaftet habe –« – »Ah, Sie gestehen also, daß Sie mich verhafteten –?« – »Nein, nein!« – »Nun, so sagen wir wieder, Sie haben mich nur angetroffen. Wenn Sie also mein Nachfolger würden, nachdem Sie mich angetroffen – was dann?« – »Dann würden Ihre Musketiere beim ersten Scharfschießen aus Versehen nach mir hinknallen.« – »Den Teufel auch, das könnte passieren,« murmelte d’Artagnan, »die Schlingel hängen an mir!«
Man hörte im Kabinett den König laut mit Colbert sprechen. Herr von Gevres blieb an d’Artagnans Seite. Das Gerücht, der Kapitän der Musketiere sei verhaftet worden, verbreitete sich im Schlosse. Und nun sah man, wie zur guten alten Zeit Ludwig XIII., die Musketiere sich im Hofe zusammenscharen, die Offiziere traten zu Gruppen zusammen, und dumpfes Murmeln pflanzte sich fort bis in die Korridore. »Es wäre doch wunderbar,« dachte d’Artagnan, »wenn meine Prätorianer mich zum König von Frankreich ausriefen. Wie würde ich darüber lachen!« Allein im selben Moment verstummte alles. Die Soldaten, die Offiziere, die Höflinge – alle zerstreuten sich, verloren sich, verschwanden; ein einziges Wort hatte genügt, die Gärung zu beschwichtigen: es gab kein Ungewitter, keinen Aufruhr mehr. Der Kammerherr vom Dienst hatte in den Hof hinabgerufen: »Ruhe! Man stört den König!«
»Es ist aus,« murmelte d’Artagnan, »die Musketiere von heute sind nicht mehr die Musketiere von ehedem!«
»Herr d’Artagnan zum König!« rief der Kammerherr.
Der König kehrte der Tür den Rücken zu, aber in einem vor ihm hängenden Spiegel konnte er mit einem Blick sehen, wer eintrat. Er verzog keine Miene, als er d’Artagnan kommen sah, sondern breitete mit ruhiger Hand das grünseidene Tuch über seine Papiere, das dazu diente, seine Dokumente unberufenen Augen zu entziehen. Der Gaskogner kannte dieses Manöver und stellte sich so, daß der König ihn im Spiegel nicht mehr sehen konnte und infolgedessen fragen mußte: »Ist Herr d’Artagnan nicht hier?« – »Hier bin ich,« antwortete der Musketier vortretend.
»Nun, mein Herr,« sprach der König, sein klares Auge auf den Chevalier heftend, »was haben Sie mir zu sagen?« – »Ich, Sire?« entgegnete jener. »Nichts, außer daß Sie mich verhaften ließen und ich eben hier bin.« – Der König wollte entgegnen, er habe ihn nicht verhaften lassen, doch erschien ihm diese Phrase einer Ausrede gleichzukommen, und er schwieg. D’Artagnan schwieg ebenfalls.
»In welchem Auftrage hatte ich Sie nach Belle-Ile geschickt, Herr?« sprach der König dann. »Sagen Sie mir das gefälligst.« – »Sie wollen also wissen, was ich in Belle-Ile getan habe?« versetzte der Gaskogner, den festen Blick des Königs erwidernd. »Das weiß ich nicht, Sire. Danach muß man mich nicht fragen. Danach muß man die endlose Reihe von Offizieren fragen, denen man unzählige Befehle aller Art mitgab, während man mir, dem Führer der Expedition, gar keinen bestimmten Auftrag gab.« –
Der König antwortete pikiert: »Herr, man erteilte Befehle nur solchen Leuten, welche man für treu hielt.«
»Es mußte mich wundernehmen,« fuhr der Kapitän fort, »daß ein Mann, der dem Range nach so hoch steht wie ein Marschall von Frankreich, unter die Befehle von sechs Leutnants gestellt wird, die wohl zu Spionen taugen mögen, nicht aber zu Führern einer kriegerischen Expedition. Ich kam hierher, Eure Majestät um Aufklärung zu bitten, aber der Zutritt wurde mir verweigert – ein letzter Schimpf, der mich veranlaßte, den Dienst Eurer Majestät zu verlassen.« – »Herr,« rief der König, »Sie glauben immer noch in einer Zeit zu leben, wo die Könige sich nach ihren Untergebenen zu richten hatten. Sie vergessen, daß ein König nur Gott Rechenschaft über seine Handlungen schuldig ist.«
»Das vergesse ich durchaus nicht, Sire,« antwortete der Chevalier gekränkt. »Ich begreife nicht, inwiefern es beleidigend für einen König ist, wenn ein ehrbarer Mann ihn fragt, in welcher Hinsicht er ihm schlecht gedient habe.« – »Sie haben mir schlecht gedient, indem Sie meine Feinde beschützten,« rief Ludwig XIV. – »Wer sind Ihre Feinde?« versetzte der Gaskogner. – »Die Männer, gegen die ich Sie geschickt habe!« – »Zwei einzelne Männer – Feinde Ihrer ganzen Armee! Kaum glaublich, Majestät!« – »Sie haben an meinem Willen nicht herumzudeuten!« – »Aber ich habe an meine Freundschaften zu denken!«
»Wer seinen Freunden dient, dient nicht seinem Herrn!« rief der König. – »Ich habe das so wohl eingesehen, Sire, daß ich um meinen Abschied bat,« antwortete d’Artagnan. – »Und ich habe ihn angenommen,« sprach der König. »Doch ehe ich mich von Ihnen trenne, wollte ich Ihnen beweisen, daß ich mein Wort zu halten weiß.« – »Majestät haben mehr als Wort gehalten,« entgegnete der Gaskogner kalt, »denn Sie ließen mich verhaften, und das hatten Sie mir nicht einmal versprochen.« – Ludwig XIV. nahm diesen Hohn verächtlich auf. – »Sie sehen, wozu mich Ihr Ungehorsam getrieben hat,« sagte er gelassen.
»Mein Ungehorsam!« rief d’Artagnan, vor Zorn erglühend. – »Das ist noch gelinde ausgedrückt,« versetzte Ludwig. »Ich wollte Rebellen fangen und bestrafen. Hatte ich danach zu fragen, ob diese Rebellen Ihre Freunde seien?« – »Aber ich hatte danach zu fragen!« erwiderte der Chevalier. »Es war grausam von Eurer Majestät, mich auf den Fang von Freunden auszuschicken, welche ich Ihrem Galgen überliefern sollte!« – »Es war eine Probe, Herr, die ich mit einem Manne anstellte, der sich immer meinen treuen Diener nannte und als solcher mein Brot ißt. Die Probe ist schlecht ausgefallen, Herr!«
»Nun, für diesen einen schlechten Diener, den Majestät damit verlieren,« versetzte der Kapitän bitter, »haben Majestät zehn gefunden, die an demselben Tage ihre Probe bestanden haben. Nun ja, Sire! ich bin ein rebellischer Mensch, wenn sich’s darum handelt, etwas Böses zu tun, und es war etwas Böses in meinen Augen, zwei Männer zu Tode zu hetzen, um deren Leben Fouquet, Ihr Retter, Sie gebeten hatte. Obendrein waren diese Männer meine Freunde. Aber warum mußten Sie mich verdächtigen, ehe ich etwas getan hatte? Warum mußten Sie mich mit Spionen umgeben? Warum mich vor der Armee entehren? Sie hatten mir Ihr ganzes Zutrauen geschenkt, dreißig Jahre lang habe ich an Ihnen gehangen, ich habe Ihnen tausend Beweise der Ergebenheit und Aufopferung gegeben, und nun mußte ich 3000 Soldaten gegen zwei einzelne Männer ins Feld führen!«
»Ja, vergessen Sie denn, was diese Männer an mir getan haben?« rief der König in dumpfem Tone, »daß ich durch diese Männer um ein Haar verloren gewesen wäre?« – »Und vergessen Sie denn, Sire, daß ich noch da war?« rief d’Artagnan. – »Genug, genug, Herr d’Artagnan, mit diesen persönlichen Rücksichten, die meinen höheren Rücksichten im Wege sind! Ich gründe einen Staat, in welchem es nur einen Herrn geben soll. Das habe ich mir einstmals gelobt; das habe ich Ihnen einstmals versprochen. Jetzt ist der Augenblick gekommen, mein Versprechen einzulösen. Sie sollen nach Ihrem Geschmack und um Ihrer Freundschaft willen befugt sein, meine Pläne zu vereiteln und meine Feinde zu retten? Nein! entweder Sie gehorchen mir, oder Sie verlassen mich! Suchen Sie sich einen Herrn, der dazu Ja und Amen sagt. Ich glaube es gern, mancher andere König würde sich Ihnen fügen, mit dem Hintergedanken, daß er es ja immer in der Hand habe, Sie eines Tages dorthin zu schicken, wo Herr Fouquet jetzt weilt. Aber ich habe ein gutes Gedächtnis, und für mich sind Dienste, die man mir geleistet, ein geheiligter Anspruch auf meine Dankbarkeit und auf milde Beurteilung, wenn ich strafen muß. Herr d’Artagnan, Ihnen soll zur Strafe für Ihren Mangel an Disziplin nur diese Lektion zuteil werden. Nachdem ich nicht ebenso gnädig gewesen bin wie meine Vorgänger, will ich nun auch nicht ebenso brutal sein. Noch andere Gründe veranlassen mich, milde mit Ihnen zu verfahren: erstens sind Sie ein Mann von Geist, Einsicht und Herz und werden dem ein guter Diener sein, der Sie zu zähmen vermocht hat; zweitens haben Sie jetzt keinen Grund mehr zur Insubordination; denn inzwischen haben meine Soldaten die Rebellen von Belle-Ile gefangengenommen oder getötet.«
D’Artagnan erblaßte. »Gefangen oder getötet!« rief er. »O, Sire, wenn das wahr wäre, so würde ich vergessen, das Sie mir eben Gerechtes und Großmütiges gesagt haben, und Sie einen barbarischen König, einen unnatürlichen Menschen nennen! Aber ich vergebe Ihnen diese Worte,« setzte er mit stolzem Lächeln hinzu, »ich vergebe sie dem jungen Fürsten, der noch nicht weiß, noch nicht beurteilen kann, was Männer wie d’Herblay, wie du Vallon, wie ich sind! Gefangen oder getötet? Ha, sagen Sie mir dann auch, wieviel Geld, wie viele Menschen es Sie gekostet hat, und lassen Sie uns den Gewinn nach dem Einsatz berechnen!«
Der König trat voll Zorn dicht vor ihn. »Herr! Sie antworten mir da wie ein Rebell!« rief er. »Wer ist König von Frankreich? Ich oder ein anderer?« – »Sire!« versetzte der Musketier kalt, »ich erinnere mich, daß Sie diese Frage eines Morgens in Vaux an viele Leute gestellt haben, die alle nichts darauf zu antworten wußten, während ich Ihnen Antwort gab. Wenn ich den König an jenem Tage erkannt habe, wo es gar nicht so leicht war, so halte ich es für unnötig, diese Frage heute an mich zu stellen, wo ich mit Eurer Majestät allein bin.«
Ludwig XIV. schlug die Augen nieder; die Erinnerung an den unglücklichen Philipp war ihm peinlich. Ein Offizier trat ein und reichte dem König eine Depesche; er öffnete sie, las und erblaßte. – »Herr d’Artagnan,« sagte er rasch entschlossen, »was man mir hier meldet, das sollen Sie später erfahren. Es ist besser, Sie hören es aus dem Munde Ihres Königs als von anderer Seite. In Belle-Ile ist gekämpft worden.«
»Ah,« sagte der Gaskogner ruhig, aber sein Herz schlug so heftig, als wollte es die Brust zersprengen. – »Und bei diesem Kampfe habe ich 106 Mann verloren,« fuhr der König fort. – D’Artagnans Augen flammten auf vor Freude und Stolz. – »Und die Rebellen?« fragte er. – »Sind entflohen,« antwortete der König. – D’Artagnan stieß einen Schrei des Triumphes aus. – »Gemach!« setzte der König hinzu. »Meine Flotte hat Belle-Ile so eng umstellt, daß sie nicht entschlüpfen können. Wenn man sie aufgreift, hängt man sie.« – »Und wissen sie das?« fragte d’Artagnan erbebend. – »Wie Sie es gewußt haben, wie ganz Frankreich es weiß.«
»Dann werden sie sich nicht lebendig fangen lassen, Sire, dafür bürge ich.« – »So wird man sie tot aufgreifen, was auf dasselbe hinauskommt,« versetzte der König. »Ich habe Ihnen gesagt,« fuhr er fort, »ich würde Ihnen eines Tages ein wohlgeneigter, edeldenkender, wortgetreuer König sein. Sie sind nun der einzige noch von früher her, der eins von beiden verdient: meinen Zorn oder meine Freundschaft. Eines von beiden soll Ihnen zuteil werden je nach Ihrem Verhalten. Und das entscheidet sich heute. Herr d’Artagnan, wollen Sie einen Mann zum König haben, der sich vor hundert andern durch nichts auszeichnet? Und könnte ein so schwacher König das Große ausführen, das meinem Geiste vorschwebt? Haben Sie je einen Künstler mit widerspenstigem Werkzeug große, ewige Werke schaffen sehen? Herr d’Artagnan, ich allein bin Herr in meinem Reiche, und ich will Diener haben, die die Ergebenheit, den Gehorsam bis zum Heroismus steigern – mögen sie auch nicht den Geist haben, den Sie besitzen! Was liegt daran, ob sie Geist haben. Gott gibt den Geist nicht den Füßen und den Armen, sondern dem Kopfe. Und dem Kopfe gehorcht alles übrige. Der Kopf bin – ich!«
D’Artagnan erschrak. Ludwig XIV. sprach weiter, als hätte er nichts bemerkt, obwohl dieses Erschrecken ihm keineswegs entgangen war. – »Wir beide schließen jetzt die Rechnung ab, die an jenem Tage offenbleiben mußte, wo Sie mich in Blois so klein und schwach fanden. Wissen Sie mir Dank, Herr, daß ich niemand die Tränen der Wut und der Beschämung entgelten lasse, die ich damals vergossen habe! Sehen Sie sich um, die großen Häupter sind gebeugt. Nun müssen auch Sie sich beugen – oder ins Exil gehen. Treffen Sie Ihre Wahl! Wenn Sie nachdenken, werden Sie sich vielleicht sagen, dieser König sei doch ein edler Mensch, denn er lasse Sie, der Sie im Besitz des gefährlichsten Staatsgeheimnisses sind, als einen Mißvergnügten dennoch unangefochten ziehen. D’Artagnan, warum haben Sie vor der Zeit ein Urteil über mich gefällt? Richten Sie heute abend über mich und seien Sie dann so streng wie Sie wollen!«
Verblüfft, stumm, schwankend stand der alte Krieger vor dem jungen Fürsten. Er erkannte in ihm einen Gegner, der seiner würdig war. Das war nicht mehr Hinterlist, das war feinste Berechnung: das war nicht mehr Gewalttätigkeit, das war Kraft; nicht mehr Zorn, sondern Wille; nicht mehr Ruhmrederei, sondern Urteil. Der junge Mann, der Fouquet zu Boden geschmettert hatte, beugte nun auch den starren Nacken d’Artagnans. »Nun, was zaudern Sie?« fragte der König. »Sie haben Ihren Abschied eingereicht – soll ich ihn verweigern? Ich gebe zu, es ist schwer für einen alten Kapitän, etwas zurückzunehmen, was er im Groll gesprochen hat.«
»O, das ist das Schwerste nicht,« entgegnete der Musketier traurig. »Das Schwerste ist, ich bin alt gegen Sie, und ich bin durch viele, viele Jahre an manches gewöhnt, das sich nicht leicht ablegen läßt. Sie brauchen künftig Höflinge, die Ihnen was vormachen können, Hanswurste, die sich für das, was Sie Ihre großen Werke nennen, abstechen lassen. Wohl, wohl, groß werden diese Werk sein, ich fühle es – aber mein Gott, wenn ich sie doch nicht für gar so groß halten könnte! Ich habe unter Richelieu und Mazarin gedient, ich habe mich mit Ihrem Vater zusammen am Feuer von Larochelle versengt, mein Leib ist voller Wunden gewesen, durchlöchert wie ein Sieb, und ich habe zehnmal eine neue Haut bekommen, wie eine Schlange. Nachdem ich lange Zeit unter Schmähungen und Ungerechtigkeit zu leiden hatte, bekam ich endlich ein Kommando, das früher wenigstens insofern einigen Wert hatte, als man damit das Recht erhielt, mit dem König von der Leber weg zu reden. Aber künftighin wird es mit Ihrem Musketier-Kapitän anders bestellt sein. Er wird nur eine Art Türhüter sein dürfen. Wahrlich, Sire, für dieses Geschäft tauge ich schlecht. Glauben Sie nicht, ich hegte einen Groll wider Sie! O nein, Sie haben mich gezähmt, wie Sie sagen – aber der gezähmte d’Artagnan ist auch nicht mehr der frühere, ist nicht mehr so stark, so unbeugsam, so wagemutig. Was meinen Sie? Wird es nicht lächerlich sein, wenn ich nun noch den Kopf hochtrage, wo ich doch nichts weiter hier soll, als den Staub Ihrer Teppiche schlucken? Sire, Sie haben Höflinge genug, streuen Sie ihnen Puder in die Haare, setzen Sie ihnen goldene Borten auf die Röcke, und Sie können jederzeit Herzöge, Pairs, Marschälle haben. Das sind die besten Diener – sie tun alles für die Hand, die sie füttert. Doch was schwatze ich das alles aus? Der König ist mein Herr – o, Sie wußten recht wohl, ich kann ohne einen König, dem ich diene, nicht leben! Nun denn, mein König will, daß ich ein Höfling werde, Verse drechsle und mit seidenen Schuhen seinen Parkettfußboden glatt schleife – Donnerwetter! das ist schwer, aber ich habe Schwereres vollbracht! Ich werde es tun. Warum? Geld habe ich – mein Ehrgeiz ist befriedigt. Darin also liegt der Grund nicht! Nein, ich bleibe, weil ich es seit dreißig Jahren gewöhnt bin, nach den Befehlen meines Königs zu fragen und ihn sagen zu hören: Guten Abend, d’Artagnan! mit einem Lächeln, das ich mir noch nie erbettelt habe. Nun aber werde ich es mir erbetteln – Sire, sind Sie zufrieden?«
Und langsam neigte sich der graue Kopf des Kriegsmannes hernieder. Der König legte lächelnd die weiße Hand darauf und sagte voll Stolz: »Dank, alter treuer Diener und lieber Freund! Von heute ab habe ich keine Feinde mehr in Frankreich, ich muß dich also in ein fremdes Land schicken, damit du dir den Marschallstab verdienst. Das soll geschehen, sobald sich die Gelegenheit bietet. Ich bürge dir dafür. Bis dahin iß mein bestes Brot und schlaf ruhig.«
»Und die armen Leute auf Belle-Ile?« fragte d’Artagnan. »Zumal einer, der so gut und so tapfer ist?« – »Bittest du um Gnade für sie?« – »Auf den Knien. Majestät!« – »Nun denn, bring ihnen meine Gnade, wenn es noch Zeit ist. Du bürgst mir aber für sie.« – »Mit meinem Leben, Sire.« – »Gehen Sie. Morgen kehre ich nach Paris zurück. Eilen Sie, daß Sie wieder hier sind, denn ich will Sie allzeit um mich haben.« – »Seien Sie unbesorgt, Sire!« rief d’Artagnan und küßte die Hand des Königs.
Er reiste auf der Stelle nach Belle-Ile, kehrte zurück und begleitete den König nach Paris. Aber obwohl er 24 Stunden lang die sorgsamsten Erkundigungen eingezogen, hatte er doch nichts Gewisses erfahren können. Man erzählte ihm nur alles, was die beiden tatkräftigen Männer, seine Freunde, auf der Insel gegen eine ganze Armee ins Werk gesetzt hätten, und daß sie schließlich auf einem Boote die Flucht ergriffen hätten, von einer königlichen Fregatte hart verfolgt. Darüber hinaus war nichts Genaues mehr zu ermitteln. Das Geheimnis des Felsengrabes von Locmaria ward ihm nicht kundgemacht. Er sah sich also auf das Gebiet der Vermutungen gestoßen; doch was sollte er denken? Die Fregatte war nicht zurückgekehrt – Stürme hatten zwar auf der See geherrscht, allein das Schiff war sehr seetüchtig, wie er hörte, und niemand nahm an, daß es untergegangen sein könnte. Mehr wußte d’Artagnan nicht, als er wieder in Nantes eintraf.
Nach Paris zurückgekehrt, war Ludwig eben erst aufgestanden und hatte gefrühstückt, als der Kapitän seiner Musketiere, blaß und aufgeregt, vor ihm erschien.
»Sire, mir ist ein großes Unglück widerfahren,« sagte er. »Ich habe eben einen Brief erhalten, der mir mitteilt, daß einer meiner Freunde, Baron du Vallon, auf Belle-Ile ums Leben gekommen ist.« – »Das wußte ich,« sagte der König. – »Sie wußten es und verschwiegen es mir?« rief der Musketier. – »Ich wollte Ihnen keinen Schmerz bereiten, mein Freund. Sie hätten vielleicht gestern noch geglaubt, ich wolle über Ihr Unglück triumphieren. Ich weiß, Herr du Vallon liegt unter den Trümmern von Locmaria begraben, und Herr d’Herblay hat mir ein Schiff mitsamt der Mannschaft weggenommen, um sich nach Bayonne bringen zu lassen. Aber ich wollte, Sie sollten das durch unmittelbare Erkundigung erfahren, damit Sie sich überzeugt hielten, daß Ihre Freunde mir heilig sind, daß der Mensch in mir sich gern den Menschen opfert, da der König in mir so oft gezwungen ist, die Menschen seiner Majestät und Macht zu opfern.«
»Aber, Sire, woher wissen Sie–?« – »Woher wissen Sie es nun selbst?« – »Durch einen Brief, den mir Aramis aus Bayonne geschickt hat.« – »Und ich durch einen Brief, der acht Stunden vor dem Ihrigen von Colbert aus bei mir eintraf. Nicht wahr, ich bin gut bedient?« – »Ja, Sire, aber Sie werden das nun nicht mißbrauchen –« – »D’Artagnan,« antwortete Ludwig XIV. lächelnd, »ich könnte Herrn d’Herblay noch in Spanien verhaften lassen, allein er ist frei und wird frei bleiben.« – »O, Sire,« sprach der Musketier, »so gütig werden Sie nicht immer denken; es wird sich eine Stimme finden, die Sie von diesem Edelmut abzubringen suchen wird.« – »Sie irren, d’Artagnan, der Rat, Herrn d’Herblay nicht weiter zu verfolgen, rührt von Colbert selbst her. Und ich will Ihnen noch ein weiteres Geheimnis offenbaren, das der eigentliche Grund ist, weshalb Herr d’Herblay unangefochten bleiben muß. Ihr guter Freund, Aramis, der Musketier, der Bischof von Vannes, der Staatsverbrecher von Vaux, ist General des Jesuitenordens. Herr Colbert hat das durch Frau von Chevreuse erfahren.«
D’Artagnan riß die Augen weit auf und stieß nur ein lautes »Ah!« der höchsten Verwunderung hervor.
»Ich habe Ihnen noch mehrere gute Nachrichten mitzuteilen; aber Sie sollen sie erst in dem Augenblick hören, wo ich mit meinen Abrechnungen fertig sein werde. Ich sage nur, ich will Ihr Glück begründen – und das ist keine leere Phrase.« – »Tausend Dank, Sire, ich kann warten!« antwortete der Musketier. »Machen Sie einstweilen die armen Leute glücklich, die schon seit langem in Ihrem Vorzimmer warten, um Ihnen eine Bittschrift zu Füßen zu legen.« – »Wer sind sie?« – »Feinde Eurer Majestät – Freunde des Herrn Fouquet,« sagte d’Artagnan. – »Wie heißen sie?« – »Gourville, Pelisson und der Dichter Lafontaine.« – »Was wollen sie?« – »Ich weiß es nicht.« – »Wie kommen sie?« – »In Trauer.« – »Was tun sie?« – »Sie weinen.« – »Sie mögen eintreten,« sprach der König, die Stirn runzelnd.
D’Artagnan hob den Vorhang auf, der den Eingang in das Königszimmer verhüllte, und rief in den Vorsaal: »Hereinführen!« – Darauf erschienen drei Männer, bei deren Annäherung die im Vorsaal weilenden Höflinge entsetzt zurückwichen, als fürchteten sie, durch die Berührung mit diesen Freunden eines Geächteten besudelt zu werden. D’Artagnan aber schritt auf sie zu und reichte einem von ihnen die Hand. So führte er sie vor den Lehnstuhl des Königs. Ludwig ließ sie sich vorstellen. Pelisson weinte nicht mehr; aber er hatte den Tränen nur gewehrt, um deutlich sprechen zu können und von Seiner Majestät besser verstanden zu werden. Gourville biß sich auf die Lippe, um aus Ehrfurcht vor dem König keine Träne mehr sehen zu lassen. Lafontaine konnte das Schluchzen nicht unterdrücken und preßte das Taschentuch vors Gesicht.
Der König stand würdevoll und leidenschaftslos vor ihnen. Er machte eine Bewegung, welche besagte: »Nun, so rede doch einer!« und sah mit gerunzelter Stirn von einem zum andern. Pelisson krümmte sich bis zur Erde, und Lafontaine kniete sogar nieder, wie man es in der Kirche tut. Das peinliche Schweigen fing an, nicht das Mitleid, sondern die Ungeduld des Königs wachzurufen. – »Herr Pelisson,« sprach er kurz. »Herr Gourville und Sie, Herr – –« er nannte Lafontaine nicht beim Namen 15 – »es mißfällt mir, daß Sie vor mich treten, um für einen der größten Verbrecher zu bitten, den meine Gerechtigkeit bestrafen mußte. Ein König läßt sich nur durch Tränen der Unschuld und durch die Reue des Schuldigen rühren. Ich werde aber weder an die Reue des Herrn Fouquet noch an die Tränen seiner Freunde glauben, denn der eine ist bis ins Herz hinein verderbt, und die andern müssen fürchten, mich in meinem eigenen Palast zu beleidigen. Deshalb, Herr Pelisson und Herr Gourville, sagen Sie kein Wort, das nicht laut die Ehrfurcht bezeugt, die Sie meinem Willen zollen!«
»Sire,« antwortete Pelisson, bei diesen furchtbaren Worten zitternd, »uns führt nur die Absicht her, Eurer Majestät unsere tiefste Demut und Ergebenheit zu beteuern. Die Gerechtigkeit Eurer Majestät ist streng, alle Welt muß sich Ihren Beschlüssen beugen. Auch wir beugen uns in der Ehrfurcht und der aufrichtigen Liebe, die alle Untertanen dem König schuldig sind. Fern liegt es uns, den Mann zu verteidigen, der das Unglück hatte, Eure Majestät zu beleidigen. Ein Mann, der sich Ihre Ungnade zugezogen hat, kann uns wohl ein Freund bleiben, für den Staat aber ist er ein Feind. Wir werden ihn weinend der Strenge des Königs überlassen.«
Beschwichtigt durch diese überzeugenden Worte und ihren demutsvollen Ton, antwortete Ludwig XIV: »Im übrigen wird mein Parlament urteilen. Ich strafe nicht, ohne daß das Verbrechen nachgewiesen wird. Meine Gerechtigkeit hat neben dem Schwert auch eine Wage. Was haben Sie von mir zu erbitten?«
»Sire,« sprach Pelisson, »der Angeklagte hinterläßt Frau und Kinder. Das Vermögen, das man noch bei ihm vorfand, reicht kaum hin, seine Schulden zu decken. Seine Frau ist seit seiner Verhaftung von aller Welt verlassen. Die Hand Eurer Majestät schlägt ebenso wie die Hand Gottes. Wenn der Herr über eine Familie die Plage des Aussatzes verhängt, so meidet jeder die Wohnung des Aussätzigen. Nur bisweilen wagt sich ein todesmutiger Arzt über die Schwelle und setzt sein Leben ein, um die Unglücklichen zu heilen. Sire, mit aufgehobenen Händen und auf den Knien flehen wir zu Ihnen, wie zu einer Gottheit: Frau Fouquet hat niemand mehr auf dieser Welt, keinen Freund, keinen Helfer, sie weint in ihrem ausgeplünderten Hause, verlassen von allen, die in den Tagen des Glücks ihre Tür belagert haben. Der Unglückliche, den Ihr Zorn getroffen hat, erhält wenigstens von Ihnen trotz seiner Schuld Speise und Trank. Aber Frau Fouquet, welche die Ehre hatte, Sie an ihrem Tische zu empfangen, Frau Fouquet, die Gemahlin des ehemaligen Finanzministers, Frau Fouquet hat kein Brot mehr!«
Das Grabesschweigen, das während dieser Worte geherrscht hatte, wurde von Schluchzen und Weinen unterbrochen, selbst d’Artagnan, dem die Brust zersprang, als er dieses demütige Flehen hörte, drehte sich um und kaute heftig an seinem Schnurrbart. Das Auge des Königs blieb trocken, aber seine Wangen röteten sich, sein Blick verlor ein wenig die ihm eigene imponierende Sicherheit. »Was wünschen Sie also?« fragte er bewegt.
»Wir bitten Eure Majestät in aller Demut,« fuhr Pelisson fort, »um Erlaubnis, Frau Fouquet die 2000 Pistolen leihen zu dürfen, die wir und einige frühere Freunde ihres Gemahls zusammengesteuert haben, um die Witwe vor äußerster Not zu schützen.« Als Pelisson die Frau des noch lebenden Fouquet eine Witwe nannte, erblaßte der König; sein Stolz sank, das Mitleid drängte sich aus dem Herzen auf seine Lippen. Er warf einen Blick der Rührung auf die zu seinen Füßen schluchzenden Männer und erwiderte: »Gott verhüte, daß ich mit den Schuldigen die Unschuldigen treffe! Wer bezweifelt, daß ich für die Schwachen Barmherzigkeit übrig hätte, der kennt mich schlecht. Tun Sie für Frau Fouquet, was Ihr Herz Ihnen eingibt, meine Herren, lindern Sie ihr Leid, soweit sie können. Gehen Sie, meine Herren, gehen Sie!«
Sie standen auf; doch hatten sie nicht die Kraft mehr, dem König zu danken, der übrigens ihre feierlichen Verbeugungen nur flüchtig erwiderte und sich rasch hinter seinen Lehnstuhl zurückzog. – »Gut!« sprach d’Artagnan zu dem jungen Fürsten, der ihn fragend ansah. »Wenn Sie nicht schon die Devise hätten, die Ihre Sonne ziert, so würde ich Ihnen die folgende empfehlen: Sanft gegen die Schwachen, streng gegen die Starken!« – Der König lächelte und ging in den Vorsaal. Auf der Schwelle sprach er zu d’Artagnan: »Sie sind beurlaubt. Bringen Sie die Angelegenheiten Ihres verstorbenen Freundes du Vallon in Ordnung.«