Vierzehntes Kapitel.


Vierzehntes Kapitel.

Hat das Unglück, nur von gewöhnlichen Leuten zu handeln, und ist daher notwendigerweise gleichfalls von niedrigem und gewöhnlichem Charakter.

In dem Teil von London, wo Golden Square liegt, gibt es eine alte verfallene Straße mit zwei unregelmäßigen Reihen hoher, schmaler Häuser, die sich gegenseitig so lange angestarrt zu haben scheinen, daß sie schon seit Jahren ganz außer Fassung sind. Selbst die Schornsteine sind düster und melancholisch geworden, da sie nichts Besseres anzusehen haben als die Schornsteine über der Straße. Sie sind brüchig, zerrissen und von Rauch geschwärzt, und hin und wieder scheint ein über die anderen hervorragender Kamin, der sich schwerfällig auf die eine Seite neigt und schon halb über das Dach herabgestürzt ist, für die Vernachlässigung eines halben Jahrhunderts durch Zerschmetterung der in tiefer liegenden Dachstübchen wohnenden Leute Rache nehmen zu wollen.

Das Geflügel, das in den Gossen herumpickt und in der trübseligen Londoner Manier, die ein Hahn oder eine Henne vom Dorfe nur verblüfft mit ansehen könnte, umherhüpft, steht in vollkommenem Einklang mit den baufälligen Wohnungen seiner Eigentümer. Schmutzig, halb entfiedert und schläfrig wird es, wie viele Kinder in der Nachbarschaft, auf die Straßen hinausgeschickt, um selbst seinen Lebensunterhalt zu suchen; und so hüpfen denn die armen Tiere von Stein zu Stein, um irgend etwas Freßbares aus dem Kot herauszusuchen, was sie jedoch so ärmlich nährt, daß die Hähne nicht einmal zu krähen vermögen. Der einzige, der noch etwas hat, was einer Stimme ähnelt, ist ein alter Hahn in dem Hause eines Bäckers, und selbst der ist infolge der schlechten Kost bei seinem früheren Herrn heiser geworden.

Dem Umfang der Häuser nach zu schließen, müssen sie ehedem reichere Besitzer als ihre gegenwärtigen gehabt haben. Jetzt aber werden die Stockwerke oder einzelnen Zimmer wochenweise vermietet, und jede Haustür hat fast so viele Namentäfelchen oder Klingelgriffe, wie sich Gemächer im Innern befinden. Die Fenster bieten aus demselben Grunde einen hinreichend wechselnden Anblick dar, da sie mit jeder denkbaren Art von Fensterschirmen und Vorhängen geziert sind, während jede Hausflur verbarrikadiert und gleichsam unwegsam gemacht wird durch bunte Haufen von Kindern und von Porterkrügen von jeder Größe; denn man trifft hier den Säugling auf dem Arm und das Halblotkännchen, bis zu dem erwachsenen Mädchen und dem halben Gallonenkrug.

An der Tür eines dieser Häuser, das vielleicht schmutziger als irgendeines seiner Nachbarn war, auch mehr Klingelgriffe, Kinder und Porterkrüge zeigte, und den Qualm eines dicken Rauches, der Tag und Nacht aus einer großen, nebenanliegenden Brauerei aufstieg, von der ersten Hand hatte, klebte ein Zettel mit der Anzeige, daß in seinen Mauern noch ein Zimmer zu vergeben sei, obgleich es die Macht des besten Rechnungsschülers überstiegen haben würde, den Stock, in dem sich das zu vermietende Zimmer befand, auszumitteln, wenn er die äußeren Merkmale der vielen Bewohner ins Auge faßte, die die ganze Front des Hauses, von der Wäschemangel an dem Küchenfenster an bis zu den Blumentöpfen der Dachstube hinauf in Rechnung stellte.

Vor der gemeinschaftlichen Treppe dieses Hause lag keine Strohmatte. Wenn aber ein Neugieriger bis zum Giebel hinaufklomm, so konnte er bemerken, daß es, je höher er hinaufkam, nicht an Merkmalen der zunehmenden Armut fehlte, obgleich die Zimmer der Bewohner verschlossen waren. So hatten die im ersten Stock, die mit Möbeln reichlich versehen waren, einen alten Mahagonitisch – von wirklichem Mahagoni – im Pesel stehen, der nur in das Zimmer durfte, wenn es die Gelegenheit erforderte. Im zweiten Stock sank das überflüssige Hausgerät auf ein paar alte tannene Stühle herab, von denen der eine zu einem Hintergemach gehörte, eines Beines und der Lehne beraubt war. Der dritte Stock konnte sich keines weiteren entbehrlichen Möbels rühmen als eines wurmstichigen Waschzubers; und die Flur des Gelasses unter dem Dache zeigte keine kostbareren Gegenstände als zwei beschädigte Wasserkrüge und einige zerbrochene Wichseschachteln.

In diesem Dachgemach bückte sich ein ältlicher, schäbig gekleideter Mann mit harten Zügen und breitem Gesicht, um die Tür des nach vorn hinausgehenden Stübchens zu öffnen, in das er mit der Miene des gesetzlichen Eigentümers eintrat, nachdem er mit dem Geschäft, einen verrosteten Schlüssel in dem noch mehr verrosteten Schlosse umzudrehen, zustande gekommen war.

Der Mann trug eine Perücke mit kurzen, groben, roten Haaren, die er mit seinem Hut zugleich abnahm und an einen Nagel hängte. Nachdem er diese Kopfbedeckung durch eine schmutzige baumwollene Nachtmütze ersetzt und im Dunkeln nach einem Lichtstümpfchen umhergetappt hatte, klopfte er an die Wand, die die beiden Dachstuben trennte, und fragte mit lauter Stimme, ob Herr Noggs Licht hätte.

Die zurückkommenden Töne waren zwar durch die mit Mörtel beworfene hölzerne Wand gedämpft, es schien übrigens noch außerdem, als ob sie aus dem Innern eines Kruges oder eines andern Trinkgefäßes kamen. Jedenfalls war es aber Newmans Stimme und die Antwort eine bejahende.

»Eine garstige Nacht, Herr Noggs«, sagte der Mann in der Nachtmütze, als er in das Gemach des anderen trat, um sein Licht anzuzünden.

»Regnet es?« fragte Newman.

»Ob es regnet?« versetzte der erstere verdrossen. »Ich bin bis auf die Haut durchnäßt.«

»Es braucht nicht viel, uns beide bis auf die Haut zu durchnässen, Herr Crowl«, sagt Newman, indem er seine Hand auf den Ärmel seines fadenscheinigen Rocks legte.

»Um so ärgerlicher«, sagte Herr Crowl in demselben verdrossenen Tone.

Der Mann, dessen rauhe Züge die eingefleischteste Selbstsucht ausdrückten, brummte noch eine Weile, sich beschwerend, fort, bedeckte das spärliche Feuer so mit Brennmaterial, daß es fast erstickte, trank das Glas, das ihm Noggs hingeschoben hatte, aus und fragte, wo Newman seine Kohlen hätte.

Newman Noggs zeigte nach dem untersten Fach eines Schrankes, worauf Herr Crowl die Schaufel ergriff und die Hälfte des Vorrats in den Kamin warf, den Noggs jedoch, ohne ein Wort zu sagen, gar bedächtig wieder zurückholte.

»Ich hoffe nicht, daß Sie heute anfangen wollen zu sparen?« sagte Crowl.

Newman zeigte auf das leere Glas, als ob dies hinreiche, eine solche Beschuldigung zurückzuweisen, und sagte kurz, daß er zum Nachtessen hinuntergehe.

»Zu den Kenwigsen?« fragte Crowl.

Newman nickte bejahend.

»Sieh doch einer an!« fuhr Crowl fort. »Wenn ich nicht gedacht hätte. Sie gingen gewiß nicht hin, weil Sie sich so ausgesprochen haben, so hätte ich zu Kenwigs nicht gesagt, ich könne nicht kommen, wie ich mir dann auch nicht vorgenommen hätte, diesen Abend bei Ihnen zuzubringen.«

»Man bestand ausdrücklich darauf, daß ich kommen solle, und so mußte ich zusagen«, entgegnete Newman.

»Gut, aber was soll aus mir werden?« wendete der Ehrenmann ein, der nie an etwas anderes als an sich selbst dachte. »Sie sind völlig schuld daran. Doch ich will Ihnen was sagen – ich bleibe bei Ihrem Feuer sitzen, bis Sie wiederkommen.«

Newman warf einen verzweifelten Blick auf seinen kleinen Vorrat von Brennmaterial; da er aber nicht den Mut hatte, nein zu sagen – ein Wort, das er sein ganzes Leben über weder gegen sich selbst noch gegen jemanden anders zur rechten Zeit gebrauchen konnte – so ließ er sich den Vorschlag gefallen, und Herr Crowl schickte sich sogleich an, sich von Newman Noggs‘ Mitteln so gütlich zu tun, wie es die Umstände gestatteten.

Die Hausbewohner, die Crowl mit dem Ausdruck »die Kenwigsen« bezeichnet hatte, waren die Gattin und die hoffnungsvollen Sprößlinge eines Elfenbeindrechslers, namens Kenwigs, der in dem Hause als ein Mann von einiger Bedeutung betrachtet wurde, da er die ganze erste Etage, die aus zwei Zimmern bestand, innehatte. Außerdem spielte Madame Kenwigs ganz die Dame, da sie aus einer achtbaren Familie stammte und einen Wassersteuereinnehmer zum Onkel hatte. Die zwei ältesten ihrer Mädchen erhielten zweimal wöchentlich in der Nachbarschaft Tanzunterricht, hatten ihr Flachshaar mit blauen Bändern in üppige Zöpfe geflochten, die über ihren Rücken hinunterfielen, und trugen kleine weiße Beinkleider mit Krausen um die Knöchel – lauter Dinge, die nebst zahllosen anderen, gleich wichtigen, einen hinreichenden Grund abgaben, Madame Kenwigs zu einer sehr wünschenswerten Bekanntschaft und zum beharrlichen Thema der Klatschbasen in der Straße – und vielleicht auch noch ein wenig um die Ecke hinum – zu machen.

Es war die Jahresfeier des glücklichen Tages, an dem die englische Kirche zwischen Herrn und Frau Kenwigs das Band der heiligen Ehe knüpfte, und Frau Kenwigs hatte in dankbarer Erinnerung an diese denkwürdige Periode ihres Lebens einige auserlesene Freunde auf eine Kartenpartie und ein Nachtessen in den ersten Stock eingeladen. Sie trug zum Zweck des Empfangs ein neues flammenfarbiges Kleid mit sehr jugendlichem Zuschnitt, was eine so günstige Wirkung hervorbrachte, daß Herr Kenwigs erklärte, die acht Jahre seiner Ehe und die fünf Kinder wären ihm nur wie ein Traum und Frau Kenwigs käme ihm jünger und blühender vor, als an dem Sonntag, da er sie zum erstenmal gesehen hätte.

Frau Kenwigs sah in ihrem Putz wirklich so schön und stattlich aus, daß man hätte vermuten können, es stünde ihr wenigstens eine Köchin und eine Dienstmagd zu Gebot, und sie hätte nichts weiter zu tun, als diesen zu befehlen. Demungeachtet aber hatte sie mit ihren Vorbereitungen unsägliche Mühe gehabt – mehr sogar, als sie um ihrer zarten Konstitution willen durchzumachen imstande gewesen wäre, wenn sie nicht der Stolz, sich in dem Glanze ihrer Wirtlichkeit zu zeigen, aufrecht gehalten hätte. Endlich war jedoch alles, was herbeigeschafft werden sollte, beisammen, das, was stören konnte, aus dem Wege und alles in gehöriger Ordnung. Auch hatte der Wassersteuereinnehmer versprochen, an dem Festmahl teilzunehmen, und so ließ sich für das Glück des Abends nichts mehr wünschen.

Die Gesellschaft war zum Bewundern gewählt. Zuerst Herr Kenwigs und Frau Kenwigs nebst vier Kenwigsschen Sprößlingen, die zum Abendessen aufbleiben durften, einmal, weil es nicht mehr als billig war, daß sie sich an einem solchen Tag auch etwas zugute täten, und zweitens, weil ihr Zubettgehen in Gegenwart der Gesellschaft unpassend, um nicht zu sagen unschicklich gewesen wäre. Sodann die junge Dame, die die Toilette der Festgeberin besorgt und, da sie – auf die schicklichste Weise von der Welt – zwei Treppen höher hintenhinaus wohnte, ihr Bett für das jüngste Kenwigslein, ein Knäblein in der Wiege, hergegeben und ein kleines Mädchen für die Bewachung desselben besorgt hatte. Drittens, als passende Gesellschaft für die junge Dame, ein unverheirateter junger Mann, den Herr Kenwigs in früheren Jahren kennengelernt hatte und der von den Damen sehr geschätzt wurde, weil er in dem Rufe eines Bruders Liederlich stand. Hierzu kam noch ein neuvermähltes Paar, das bei Herrn und Frau Kenwigs Brautvisite gemacht hatte, und eine Schwester von Madame Kenwigs, die als eine vollkommene Schönheit galt; außerdem noch ein anderer junger Mann, von dem man glaubte, daß er ehrbare Absichten auf die ebenerwähnte Dame hätte, und Herr Noggs, der deshalb eingeladen wurde, weil er ehedem ein Mann von Stand war.

Dann kam eine ältliche Dame, die in einem Hinterzimmer des Erdgeschosses wohnte, und eine jüngere Dame, die nächst dem Löwen Wassersteuereinnehmer vielleicht die größte Löwin der Gesellschaft war, da sie einen Theaterspritzenmann zum Vater hatte, bisweilen als Statistin auftrat und das ausgezeichnetste mimische Talent, von dem man je gehört, besaß; denn sie konnte so schön singen und deklamieren, daß Frau Kenwigs dadurch stets bis zu Tränen gerührt wurde. Die Lust, solche Freunde um sich zu sehen, wurde nur durch einen unangenehmen Umstand verbittert, und dieser bestand darin, daß die Dame vom Hinterzimmer im Erdgeschoß, die sehr beleibt und über die Sechzig hinaus war, in einem gewöhnlichen Musselinkleide und kurzen Lederhandschuhen ihre Aufwartung machte, was Madame Kenwigs so verdroß, daß letztgenannte Dame ihrer Schwester im Vertrauen mitteilte, sie würde diese unverschämte Person gewiß auf der Stelle wieder gehen heißen, wenn nicht im gegenwärtigen Augenblick das Abendessen auf dem Kochherde des Parterrehinterstübchens stünde.

»Meine Liebe«, sagte Herr Kenwigs, »wäre es nicht am besten, wenn wir ein Gesellschaftsspiel anfingen?«

»Lieber Kenwigs«, versetzte seine Gattin, »wie kommst du mir vor? Wolltest du ohne meinen Onkel anfangen?«

»Ah, ich habe den Steuereinnehmer vergessen«, entgegnete Kenwigs, »nein, das geht nicht an.«

»Er ist so eigen«, sagte Frau Kenwig« zu der andern verheirateten Dame, »daß er uns für immer aus seinem Testament streichen würde, wenn wir ohne ihn anfangen.«

»Wäre es möglich?« rief die verheiratete Dame.

»Sie haben keine Idee davon, was er für Besonderheiten hat«, versetzte Frau Kenwigs, »obgleich er sonst der gutmütigste Mann von der Welt ist.«

»Die liebevollste Seele, die je existierte«, bekräftigte Kenwigs.

»Es schneidet ihm, glaube ich, ins Herz, den Leuten das Wasser entziehen zu müssen, wenn sie nicht bezahlen können«, bemerkte der Bruder Liederlich, der einen Witz machen wollte.

»Georg, nichts der Art, wenn ich bitten darf«, sagte Herr Kenwigs feierlich.

»Es war nur ein Scherz«, sagte der junge Mann kleinlaut.

»Georg«, erwiderte Herr Kenwigs, »ein Scherz ist wohl etwas Hübsches – etwas recht Hübsches – wenn aber dieser Scherz die Gefühle meiner Frau verletzt, so muß ich mich dagegen verwahren. Ein Mann, der einen öffentlichen Charakter hat, muß sich freilich Spottreden gefallen lassen – die Schuld liegt aber an seiner hohen Stellung, nicht an ihm selbst. Der Verwandte meiner Frau ist ein Beamter, Georg. Er weiß das und kann auch das damit verbundene Unangenehme tragen. Aber abgesehen von meiner Frau, wenn man anders Madame Kenwigs bei einem Anlasse, wie der gegenwärtige, aus dem Spiele lassen kann – so habe ich die Ehre, mit dem Steuereinehmer durch Heirat verwandt zu sein, und ich kann daher solche Bemerkungen in meinem –« Herr Kenwigs war im Begriff »Haus« zu sagen, er rundete aber den Satz ab durch die Verbesserung – »in meinen Zimmern nicht dulden.«

Bei dem Schluß dieser Zurechtweisung, die Frau Kenwigs Tränen entlockte und ihre Wirkung, die Bedeutsamkeit des Wassersteuereinnehmers der Gesellschaft recht nahe ans Herz zu legen, nicht verfehlte, ließ sich der Ton der Klingel vernehmen.

»Das ist er«, flüsterte Herr Kenwigs sehr aufgeregt. »Morlina, liebes Kind, eile hinunter und lasse den Onkel herein; vergiß es aber nicht, sobald du die Tür offen hast, ihm einen Kuß zu geben. Hm! Lassen Sie uns ein Gespräch anfangen!«

Herrn Kenwigs Aufforderung entsprechend begann die Gesellschaft sogleich eine sehr laute Unterhaltung, um unbefangen zu erscheinen. Sie hatten indessen kaum angefangen, als ein kleiner, alter Herr in gelben Beinkleidern und Gamaschen und mit einem Gesicht, das wie aus Holz geschnitzt aussah, von Fräulein Morlina Kenwigs unter Scherzen hereingeführt wurde. Wir müssen hier bemerken, daß Madame Kenwigs diesen höchst ungewöhnlichen Taufnamen vor ihrem ersten Wochenbett zu dem Zwecke erfunden hatte, ihn als besondere Auszeichnung ihrem ältesten Kinde, wenn sich dieses als ein Mädchen erweisen sollte, beizulegen.

»Ach, lieber Onkel, wie freut es mich, Sie zu sehen«, sagte Madame Kenwigs, indem sie den Steuereinnehmer zärtlich auf beide Wangen küßte; »ich bin so froh.«

»Möge der Tag oft und glücklich wiederkehren, meine Liebe«, versetzte der Steuereinnehmer, das Kompliment erwidernd.

Es war in der Tat ein interessanter Augenblick. Hier war ein Einnehmer der Wassersteuer ohne sein Buch, ohne Feder und Tinte, ohne seinen schreckenerregenden Doppelschlag – ein Steuereinnehmer, der eine hübsche Frau küßte – in der Tat küßte – und Steuern, Vorladungen, Mahnzettel usw. ganz beiseite ließ. Es war eine wahre Lust, mit anzusehen, wie die Gesellschaft, ganz hingerissen von dem Anblick, den Mann von allen Seiten beäugelte und sich gegenseitig durch Nicken und Winken das innere Vergnügen zu erkennen gab, das man über dem Umstand empfand, daß bei einem Steuereinnehmer so viel Leutseligkeit zu finden wäre.

»Wo wollen Sie Platz nehmen, Onkel?« sagte Frau Kenwigs in der vollen Entfaltung ihres Familienstolzes, der durch die Anwesenheit ihres so hochstehenden Verwandten veranlaßt wurde.

»Wo du mich hinsetzest, meine Liebe«, antwortete der Steuereinnehmer; »ich bin hierin nicht eigen.«

Nicht eigen! Welch ein bescheidener Steuereinnehmer! Wenn er ein Schriftsteller gewesen wäre, der seinen Platz kennt, er hätte nicht demütiger sprechen können.

»Herr Lillyvick«, sagte Herr Kenwigs zu dem Steuereinnehmer; »es sind hier einige Freunde, die sich schon lange nach der Ehre Ihrer Bekanntschaft sehnen. Herr und Frau Cutler, Sir.«

»Ich bin stolz darauf, Sie kennenzulernen, Sir«, versicherte Herr Cutler, »da ich so oft schon von Ihnen sprechen hörte.«

Dies waren keine bloßen Worte der Höflichkeit; denn da Herr Cutler in Herrn Lillyvicks Stadtteil gewohnt, so hatte er in der Tat sehr oft von ihm gehört. Der Einnehmer war außerordentlich pünktlich in seinen Besuchen.

»Georg, ich glaube, Sie kennen den Herrn Lillyvick bereits«, sagte Kenwig«; – »die Dame aus dem Erdgeschoß – Herr Lillyvick. Herr Snewkes – Herr Lillyvick. Fräulein Green – Herr Lillyvick. Herr Lillyvick – Fräulein Petowker vom Königlichen Drury-Lane-Theater. Ich bin sehr erfreut, zwei beamtete Persönlichkeiten miteinander bekannt machen zu können. – Liebe Frau, willst du die Spielmarken herausgeben?«

Frau Kenwigs gehorchte dieser Aufforderung unter dem Beistand von Newman Noggs, von dem man nur im allgemeinen als von einem in seinen Vermögensumständen heruntergekommenen Mann von Stand flüsterte. Man hatte nämlich seinem Wunsch, keine Notiz von ihm zu nehmen, entsprochen, weil er jederzeit mit Gefälligkeiten gegen die Kinder zur Hand war. Der größere Teil der Gäste setzte sich nun zum Kartenspielen nieder, während Newman, Frau Kenwigs und Fräulein Petowker von dem Königlichen Drury- Lane-Theater mit der Zurüstung der Abendtafel zu tun hatten.

Solange die Damen in dieser Weise beschäftigt waren, richtete Herr Lillyvick seine ausschließliche Aufmerksamkeit auf das Spiel, und weil alles Fisch sein mußte, was in eines Wassersteuereinnehmers Netz kommt, so war der gute, alte Herr keineswegs blöde, sich das Eigentum seiner Partner anzueignen, da er es im Gegenteil, sooft sich eine Gelegenheit dazu bot, an sich zu bringen wußte. Dabei lächelte er fortwährend gar leutselig und sprach den Verlierenden so herablassend zu, daß diese ganz entzückt über seine Liebenswürdigkeit wurden und in ihren Herzen dachten, daß er mindestens Kanzler der Schatzkammer zu sein verdiente.

Nach vieler Mühe und nach Verabfolgung manchen Klapses auf die Köpfe der kleinen Kenwigschen, von denen sogar zwei der aufrührerischsten summarisch verbannt werden mußten, breitete man das Tischtuch mit vieler Eleganz aus und trug ein paar gekochte Hühner, einen Schinken, eine Apfelpastete, Kartoffeln und Gemüse auf, bei deren Anblick der würdige Herr Lillyvick viele witzige Einfälle auftischte und zum unaussprechlichen Entzücken der Gesamtheit seiner Verehrer mit einer bewunderungswürdigen Fertigkeit aufräumte.

Das Abendessen ging sehr gut und sehr schnell vorüber, wie man denn überhaupt dabei auf keine ernsteren Schwierigkeiten als auf diejenigen stieß, die aus den unablässigen Fragen nach reinen Messern und Gabeln entsprangen. Das ließ die arme Frau Kenwigs mehr als einmal wünschen, daß bei Privatgesellschaften der Grundsatz der Asyle eingeführt werden möchte, wo jeder Gast Löffel, Messer und Gabel mitbringen muß. Allerdings müßte dies in vielen Fällen sehr bequem sein, und für niemanden mehr als für den Herrn und die Frau des Hauses, besonders wenn der Schulgrundsatz in seiner vollen Ausdehnung in Anwendung käme, demzufolge erwartet wird, daß niemand so unzart sei, sein Besteck wieder mit fortzunehmen.

Da jeder von allem aß, so leerte sich der Tisch mit einer nicht wenig beunruhigenden Eile und einem ziemlichen Lärm. Dann kam die Reihe an die geistigen Getränke, die nebst heißem und kaltem Wasser in schönster Ordnung aufgestellt waren und denen Newman Noggs‘ Augen schon längst entgegengeglänzt hatten. Die Gesellschaft schickte sich nun an, der Freuden des Gelages recht zu genießen, und Herr Lillyvick erhielt einen Ehrenplatz in einem großen Lehnsessel am Herd, wahrend die vier kleinen Kenwigschen, mit ihrem Gesicht dem Feuer und ihren Flachszöpfen der Gesellschaft zugekehrt, ganz vorn auf einer niedrigen Bank aufgepflanzt wurden. Diese Anordnung war kaum vollendet, als Madame Kenwigs, im Übermaß ihrer Muttergefühle, an die linke Schulter ihres teuren Ehegemahls flog und in Tränen zerfloß.

»Sie sind so schön«, sagte Frau Kenwigs schluchzend.

»Ach, du lieber Himmel!« stimmten alle Damen ein; »Sie haben vollkommen recht, und es ist sehr begreiflich, daß Sie stolz darauf sind; aber geben Sie diesen Gefühlen nicht zuviel Raum.«

»Ich kann – ich kann mir nicht helfen, und Tränen der Wonne bringen keinen Schaden«, schluchzte Frau Kenwigs; »aber ach, sie sind zu schön, viel zu schön, um hoffen zu dürfen, daß sie mir erhalten bleiben.«

Als die vier kleinen Mädchen die beunruhigende Vorahnung, als ob sie bestimmt wären, in der Blüte ihrer Jugend einen frühen Tod zu erleiden, vernahmen, erhoben sie ein jämmerliches Gewinsel, begruben zu gleicher Zeit ihre Köpfe in dem Schoß ihrer Mutter und schluchzten in so herzerschütternden Stößen, daß ihre acht Flachszöpfe ohne Unterlaß auf und nieder baumelten. Madame Kenwigs nahm bei dieser Gelegenheit, indem sie eines nach dem andern an ihr beklommenes Mutterherz drückte, so ausdrucksvolle Stellungen des inneren Schmerzes an, daß selbst Fräulein Petowker sich daran hätte ein Muster nehmen können.

Endlich ließ sich die bekümmerte Mutter wieder beruhigen, und die kleinen Kenwigschen faßten sich gleichfalls, worauf letztere unter die Gesellschaft verteilt wurden, um es unmöglich zu machen, daß Frau Kenwigs durch den Glanz ihrer vereinten Schönheit abermals überwältigt würde. Als dies geschehen war, vereinigten sich Herren und Damen in der Prophezeiung, daß sie noch viele, viele Jahre leben würden, und daß für Frau Kenwigs durchaus kein Grund vorhanden sei, sich zu betrüben, was denn in der Tat auch recht wohl sein mochte, da die Liebenswürdigkeit der Kinder keineswegs die Besorgnis der empfindsamen Mutter rechtfertigte.

»Heute vor acht Jahren«, sagte Herr Kenwigs nach einer Pause. »Lieber Gott – ach!«

Dieser Anhang wurde von allen Anwesenden nachgebetet, nur mit dem Unterschiede, daß sie das »Ach!« zuerst und das »Lieber Gott!« hintendrein laut werden ließen.

»Ich war damals jünger«, kicherte Frau Kenwigs.

»Nicht doch!« sagte der Steuereinnehmer.

»Gewiß nicht«, fügte jedermann bei.

»Ich kann mir meine Nichte noch vorstellen«, sagte Herr Lillyvick, indem er den Blick mit ernster Würde über seine Zuhörer hingleiten ließ, »ich kann sie mir noch vorstellen, wie sie eines Nachmittags ihrer Mutter zum ersten Male ihre Neigung für Kenwigs gestand. »Mutter«, sagte sie, »ich liebe ihn.«

»Bete ihn an, sagte ich, Onkel«, fiel Frau Kenwigs ein.

»Liebe ihn, hieß es, soviel ich mich erinnere, meine Teuerste«, sagte der Steuereinnehmer mit Festigkeit.

»Sie mögen wohl recht haben«, versetzte Frau Kenwigs unterwürfig; »ich meine aber, mich des Ausdrucks ›anbeten‹ bedient zu haben.«

»Lieben, meine Beste«, entgegnete Herr Lillyvick. »›Mutter‹, sagte sie, ›ich liebe ihn‹. >Was höre ich?‹ ruft ihre Mutter und verfällt augenblicklich in starke Krämpfe.«

Allgemeiner Ausruf des Staunens von seiten der Gesellschaft.

»In starke Krämpfe«, wiederholte Herr Lillyvick, indem er sich mit stolzen Blicken umsah. »Kenwigs wird mich entschuldigen, wenn ich in der Gegenwart seiner Freunde des Umstandes erwähne, daß man gar viel gegen seine Bewerbung einzuwenden hatte, weil er dem Range nach unter der Familie stand und ihr daher Unehre machen konnte. Sie entsinnen sich dessen, Kenwigs?«

»Gewiß«, versetzte dieser Herr, den diese Erinnerung keineswegs unangenehm berührte, da es dadurch außer allem Zweifel stand, welcher hohen Familie Madame Kenwigs entstammte.

»Ich teilte damals diese Ansicht«, fuhr Herr Lillyvick fort, »die vielleicht natürlich war, vielleicht aber auch nicht.«

Ein leises Murmeln schien anzudeuten, daß bei einem Mann von Lillyvicks Stellung ein solcher Einwurf nicht nur natürlich, sondern sogar höchst lobenswert sein mußte.

»Er gewann mich jedoch bald für sich«, sagte Herr Lillyvick. »Als sie verheiratet waren und sich in der Sache nichts mehr ändern ließ, gehörte ich unter die ersten, die sagten, daß man Kenwigs beachten müsse. Die Familie tat dies infolge meiner Vorstellung, und ich fühle mich verpflichtet, zu sagen – ja, ich bin stolz darauf, es sagen zu können – daß ich ihn immer als einen sehr ehrenwerten, anständigen, rechtschaffenen, achtbaren Mann gefunden habe. Kenwigs, geben Sie mir Ihre Hand!«

»Ich bin stolz darauf, es zu tun«, sagte Herr Kenwigs.

»Ich gleichfalls, Kenwigs«, sagte Herr Lillyvick.

»Ich habe sehr glücklich mit Ihrer Nichte gelebt«, sagte Kenwigs.

»Es müßte Ihre eigene Schuld sein, wenn das nicht der Fall wäre«, entgegnete Herr Lillyvick.

»Morlina«, rief die durch diese Auseinandersetzung tief gerührte Mutter, »küsse deinen lieben Großonkel.«

Das Mädchen tat, wie verlangt wurde, und dann wurden auch die drei andern Kinder zu dem Gesicht des Wassersteuereinnehmers emporgehoben, um das gleiche Verfahren vorzunehmen, was dann nachher bei der Mehrzahl der Anwesenden wiederholt wurde.

»Liebe Madame Kenwigs«, sagte Fräulein Petowker, »lassen Sie doch Morlina Herrn Lillyvick den Tanz mit den neuen Figuren vortanzen, während Herr Noggs den Punsch macht, mit dem wir die Wiederkehr dieses Festes unter Trinksprüchen feiern wollen.«

»Nein, nein, meine Liebe«, versetzte Frau Kenwigs, »es würde meinen Onkel nur langweilen.«

»Unmöglich«, entgegnete Fräulein Petowker; »es wird ihn im Gegenteil recht gut unterhalten – nicht wahr, Sir?«

»Gewiß«, erwiderte der Steuereinnehmer mit einem Blick nach dem Punschkünstler.

»Wohlan, so will ich einen Vorschlag machen«, sagte Frau Kenwigs. »Morlina soll uns vortanzen, wenn der Onkel Fräulein Petowker überreden kann, uns nachher ›der Bluttrinkerin Begräbnis‹ zu deklamieren.«

Der Vorschlag wurde von allen Seiten mit großem Beifall, den man mit Händen und Füßen zu erkennen gab, aufgenommen, und die Dame, der er galt, neigte zum Zeichen der Anerkennung mehrere Male das Haupt.

»Sie wissen«, sagte Fräulein Petowker vorwurfsvoll, »wie ungern ich in Privatgesellschaften mit Leistungen, die zu meinem Beruf gehören, auftrete.«

»O, hier ist´s etwas anderes«, entgegnete Frau Kenwigs. »Wir sind hier ganz unter Freunden und so guter Dinge, daß Sie ebensowenig Anstand zu nehmen brauchen, wie in Ihrem eigenen Zimmer; zudem, der gegenwärtige Anlaß – –«

»Wer könnte da widerstehen«, fiel Fräulein Petowker ein. »Unter solchen Umständen wird es mir ein Vergnügen machen, alles, was in meinen Kräften steht, zur Verherrlichung des Festes beizutragen.«

Frau Kenwigs und Fräulein Petowker hatten unter sich ein kleines Programm entworfen, das die ebengenannte Reihenfolge der Abendunterhaltungen vorschrieb. Es war aber dabei ausgemacht worden, daß man sich auf beiden Seiten ein wenig bitten lassen wolle, weil es dann natürlich aussähe. Die Gesellschaft war des Schauspiels gewärtig, und Fräulein Petowker summte eine Arie, während der Morlina ihren Tanz ausführte, nachdem man ihr die Schuhsohlen zuvor so sorgfältig mit Kreide bestrichen hatte, als ob sie hätte auf dem straffen Seile gehen müssen. Der Tanz war sehr schön anzusehen, besonders da die Arme fast noch mehr dabei zu tun hatten als die Beine. So wurde er auch mit unbändigem Beifall aufgenommen.

»Wenn ich so glücklich wäre, ein – ein Kind zu haben –« sagte Fräulein Petowker errötend, »das so viel Talent wie das Ihrige zeigte, so würde ich es im Augenblick bei der Oper unterbringen.«

Frau Kenwigs seufzte und blickte nach Herrn Kenwigs, der den Kopf schüttelte und meinte, daß man da doch ein Bedenken haben müsse.

»Kenwigs fürchtet –« sagte Frau Kenwigs.

»Was?« fragte Fräulein Petowker – »doch nicht, daß es ihr mißlänge?«

»Nicht doch«, versetzte Frau Kenwigs, »aber wenn sie in dieser Weise fortfährt und heranwächst – denken Sie nur an die jungen Herzöge und Grafen.«

»Ganz richtig«, bemerkte der Steuereinnehmer.

»Ach«, entgegnete Fräulein Petowker, »wenn sie ihren eigenen Wert fühlt, so wissen Sie wohl –«

»Es liegt allerdings viel Wahres in dieser Bemerkung«, erwiderte Frau Kenwigs mit einem Blick nach ihrem Gatten.

»Jedenfalls kann ich sagen –« stotterte Fräulein Petowker – »freilich ist es wohl nicht die allgemeine Regel – mir ist aber nie eine derartige Angelegenheit und Unannehmlichkeit begegnet.«

Herr Kenwigs erklärte mit geziemender Galanterie, daß das jedenfalls ein entscheidender Punkt sei, weshalb er sich auch die Sache in ernstere Erwägung ziehen wolle. Nachdem dies abgemacht worden war, wurde Fräulein Petowker gebeten, das ›Begräbnis der Bluttrinkerin‹ zum besten zu geben. Die junge Dame löste zu diesem Ende ihre Haare auf und nahm ihre Stellung oben in dem Zimmer, indem sie zugleich den unverheirateten Freund in eine Ecke stellte, damit er bei dem Stichworte »der letzte Hauch entweicht« herbeieile und sie in seinen Armen auffange, wenn sie im Wahnsinn stürbe. Die Darstellung geschah mit außerordentlichem Feuer, was aber die kleinen Kenwigschen so sehr in Schrecken setzte, daß sie fast in Krämpfe fielen. Die dieser Kunstleistung folgende Begeisterung war noch in vollem Zug, und Newman, der sich seit langer Zeit bei so später Stunde nie so nüchtern befunden, hatte noch immer nicht dazu kommen können, sein Wörtchen, daß der Punsch fertig sei, anzubringen, als sich plötzlich ein hastiges Pochen an der Zimmertür vernehmen ließ, das Madame Kenwigs, die im Augenblick ahnte, daß das kleinste Kenwigschen aus dem Bett gefallen sei, einen Schrei des Entsetzens entlockte.

»Wer ist da?« fragte Herr Kenwigs unmutig.

»Lassen Sie sich nicht stören – nur ich bin’s« sagte Crowl, der in seiner Nachtmütze zur Tür hereinsah. »Der Kleine ist vollkommen wohl, denn ich blickte beim Heruntergehen in das Zimmer hinein. Er ist fest eingeschlafen und das Mädchen desgleichen. Auch glaube ich nicht, daß das Licht die Bettvorhänge in Brand stecken wird, wenn nicht ein Windzug in das Zimmer kommt. Man wünscht Herrn Noggs zu sprechen.«

»Mich?« rief Newman höchlich verwundert.

»Es ist allerdings eine etwas unpassende Stunde – nicht wahr?« versetzte Crowl, der bei der Aussicht, sein Feuer zu verlieren, nicht in der besten Stimmung war; »und auch die Leute sind wunderlich genug, denn sie sind über und über durchnäßt und beschmutzt. Soll ich sie wieder gehen heißen?«

»Nein«, entgegnete Newman aufstehend. »Leute? Wie viele?«

»Zwei«, erwiderte Crowl.

»Wünschen mich zu sprechen? Haben sie meinen Namen genannt?« fragte Newman.

»Ja«, antwortete Crowl. »Herr Newman Noggs so deutlich, wie man es nur wünschen kann.«

Newman überlegte ein paar Augenblicke und eilte dann mit der Versicherung hinaus, daß er sogleich wieder zurückkommen würde. Er hielt auch Wort; denn nach etlichen Sekunden stürzte er wieder ins Zimmer, nahm, ohne ein Wort der Entschuldigung oder Erklärung, eine angezündete Kerze und ein Glas heißen Punsches von dem Tische und schoß wie ein Verrückter wieder zur Tür hinaus.

»Was zum Henker geht mit ihm vor?« rief Crowl, die Tür aufreißend. »Hört! Ist kein Lärm oben?«

Die Gäste standen in großer Verwirrung auf, sahen sich gegenseitig bestürzt und verlegen an, streckten ihre Hälse und horchten aufmerksam.

Einleitung.


Einleitung.

Dickens hat seinem 1839 erschienenen Roman »Nicolaus Nickleby« selbst ein auch in unserer Ausgabe zum Abdruck kommendes Nachwort geschrieben, worin er mit echt englisch satirischem Humor bestätigt, daß die von ihm geschilderten Zustände im Privatschulwesen tatsächlich bestanden haben. Der heutige deutsche Leser würde erst recht sonst annehmen, daß so schreckliche Verhältnisse kaum möglich gewesen sein konnten. Aber in unserer Zeit, wo das Schulwesen durchweg unter Aufsicht des Staates steht, ist es schwer denkbar, daß früher auch auf dem Kontinent, auch in Deutschland Winkelschulen schlimmster Art existierten, die denen des Yorkshirer Schulmeisters Squeers kaum etwas nachgaben. Indem Dickens auf die Wunden der menschlichen Gesellschaft schonungslos hinwies, ward er ein sozialer Apostel, als der er sich auch in »Schwere Zeiten« und in gleichgerichteten anderen Werken gezeigt hat.

Man wird den Gehalt des Nickleby erst recht zu schätzen wissen, wenn man ihn aus dem Geist der Zeit, dem englischen Puritanismus heraus zu lesen versteht. Unserer ›aufgeklärteren‹, minder empfindsamen Welt von heute wird z. B. fast unbegreiflich erscheinen, wie hilflos zunächst ein junges Mädchen wie Käthchen der argen Welt gegenübersteht, in die sie durch Ralph Nickleby gestürzt wird. Das Mädchen von heute weiß sich anders zu helfen als Käthchen. Aber wir mögen bedenken, daß auch uns Deutschen der dem englischen Käthchen verwandte Typus Gretchens, den uns Goethes »Faust« schenkte, immer seltener, ja fremdartiger wird. Noch seltsamer mögen uns manche gesellschaftliche Zustände und Einrichtungen erscheinen, die aber eben aus dem Geist des Puritanertums begreiflich werden.

Die Puritaner bedeuteten zunächst eine von dem Genf Calvins beeinflußte Partei der Protestanten in England. Sie wollten innerhalb der anglikanischen Kirche die Reinheit (puritas) des evangelischen Christentums wiederherstellen, forderten Trennung der Kirche vom Staat und strengste Kirchenzucht. Die puritanische Gesinnung setzte sich im Zeitalter des großen Staatsmannes Cromwell durch; sie bedingte die straff disziplinierte Sittlichkeit Englands während der folgenden Jahrhunderte und hat in ihrer Strenge und Nüchternheit das meiste dazu beigetragen, daß England die Weltmachtstellung erlangte, die es heute besitzt. Anderseits aber drang die äußere Disziplinierung nicht überall durch. So kam es, daß Prüderie und Heuchelei, ein nur »sittlich tun als ob«, ein Nichtsehenwollen und Nichtsehenkönnen des Schlechten, ja ein gewisser Zynismus zu den schlimmsten Fehlern der englischen Gesellschaft wurden. Wie sich der englische Puritanismus zum Guten auswirken konnte, das zeigt bei Dickens das prachtvolle Kaufmannspaar, die Gebrüder Cheerible; und wie er sich zum Bösen wendet, das erweist an gleicher Stelle die Umwelt des Wucherers Ralph Nickleby. Auch das nichtswürdige Dulden von Privatschulen nach dem Muster eines Squeers wird so begreiflich. Ebenso erklärt sich aus dieser Geisteswelt die Sphäre der bald anmutenden, liebenswürdigen, bald beklemmenden, vorurteilsvoll sich zeigenden Moden und Launen der Frauenzimmerwelt, von der Dickens in unserem Roman die verschiedensten Charaktere darstellt: von dem keuschen (keusch im schönsten Sinne!) Käthchen bis zur konventionell aufgeplusterten, geschwätzigen Madame Nickleby, von der eingebildeten Thilda bis zu der liebenswürdigen, harmlosen kleinen Malerin. Als scharfblickender Frauenkenner zeichnet Dickens die einzelnen Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts und ihre ewigen Schwächen ersichtlich mit boshaftem Vergnügen.

Dickens Romane bewahren stets den Glauben an den endlichen Sieg des Guten. Sie überlasten anfangs oft geradezu den Leser mit den Schrecken des Bösen. Um so größer ist dann des Lesers Freude, wenn der Schurke endlich die verdiente Strafe erhält, und der strebende Brave – in unserm Fall der wackere Brausekopf, der gutherzige Jüngling Nicolaus Nickleby – den Lohn für sein Ausharren auf dem Pfad der Tugend erhält. –

Auch bei der Textrevision dieses Werkes habe ich Frau Clara Weinberg für getreue Mithilfe zu danken.

P. Th. H.

Neuntes Kapitel.


Neuntes Kapitel.

Von Fräulein Squeers, Madame Squeers, dem jungen Squeers und Herrn Squeers. Auch von verschiedenen Dingen und Personen, die ebensosehr mit der Squeersschen Familie als mit Nicolaus Nickleby in Beziehung stehen.

Als Herr Sqneers abends die Schulstube verließ, begab er sich, wie schon oben bemerkt wurde, nach seinem Wohnzimmer – nicht in das, wo Nicolaus bei seiner Ankunft zu Nacht gespeist hatte, sondern in ein kleineres im Hintergebäude, wo seine huldreiche Ehewirtin, sein hoffnungsvoller Sohn und seine liebenswürdige Tochter sich des Glückes ihrer gegenseitigen Gesellschaft erfreuten. Frau Squeers war in der hausmütterlichen Beschäftigung des Strümpfestopfens begriffen, während das junge Fräulein und Herrlein irgendeine jugendliche Meinungsverschiedenheit mittels eines Faustkampfes über dem Tisch erörterten, der sich bei der Annäherung des ehrenwerten Herrn Papas in einen geräuschlosen Austausch von Fußtritten unter dem Tisch verwandelte.

Es mag hier wohl am Platz sein, den Leser davon in Kenntnis zu setzen, daß Fräulein Fanny Squeers in ihrem dreiundzwanzigsten Jahre stand. Wenn irgendeine besondere Anmut und Liebenswürdigkeit von dieser Lebensperiode unzertrennlich ist, so müssen wir annehmen, daß auch Fräulein Squeers im Besitze derselben war, da kein Grund zu der Annahme vorhanden ist, warum sie allein eine Ausnahme von der allgemeinen Regel hätte machen sollen. Sie war nicht so groß wie ihre Mutter, sondern ähnelte in dieser Beziehung eher ihrem Vater, hatte aber von der Mutter die rauhe Stimme, während vom Vater der merkwürdige Ausdruck des rechten Auges auf sie übergegangen war, das ganz das Aussehen hatte, als ob es blind wäre.

Fräulein Squeers war eben erst von einem mehrtägigen Besuch bei einer benachbarten Freundin unter das väterliche Dach zurückgekehrt. Dieser Tatsache mag es zuzuschreiben sein, daß sie noch nichts von dem neuen Hilfslehrer gehört hatte und erst dessen Anwesenheit erfuhr, als Herr Squeers selber auf ihn zu sprechen kam.

»Nun, mein Schatz«, sagte Squeers, seinen Stuhl an den Tisch rückend, »wie hat er dir bis jetzt gefallen?«

»Wer?« fragte Madame Squeers, die im Augenblick nicht auf den Gedankengang ihres Gemahls einzugehen wußte.

»Nun, der junge Mensch – der neue Lehrer – wen anders könnte ich meinen?«

»Ah, der Knittelbrei?« sagte Frau Squeers ungeduldig; »ich kann ihn nicht leiden.«

»Und warum denn nicht, meine Liebe?« fragte Squeers.

»Was kümmert’s dich?« versetzte Madame Squeers. »Ist’s nicht genug, wenn ich dir sage, daß ich ihn hasse?«

»Gerade genug für ihn, meine Liebe; und ich darf wohl sagen, vielleicht um ein gut Teil zuviel, wenn er es wüßte«, entgegnete Herr Squeers in einem begütigenden Tone. »Ich fragte indessen nur aus Kuriosität, mein Schatz.«

»Nun denn, wenn du es durchaus wissen willst, so kann ich’s dir wohl sagen«, erwiderte Frau Squeers – »weil er ein stolzer, hochmütiger, eingebildeter, hochnasiger Pfau ist.«

Wenn Frau Squeers aufgeregt war, pflegte sie sich einer sehr kräftigen Sprache zu bedienen und überdies eine Menge von Beiwörtern einzuflechten, von denen einige der Bildersprache angehörten, wie das Wort »Pfau« und die Anspielung auf Nicolaus‘ Nase, die nicht im buchstäblichen Sinne genommen werden konnte, sondern vielmehr, je nach dem Belieben des Zuhörers, eine gar weite Deutung zuließ. Auch nahm sie es nicht sonderlich genau damit, ob die Prädikate zusammenstimmten, wie man aus dem gegenwärtigen Fall ersehen kann, denn ein hochnasiger Pfau ist gewiß etwas Neues in der Naturgeschichte der Vögel und eine Rarität, die man nicht alle Tage zu sehen kriegt.

»Hm – er ist billig, mein Schatz«, wendete Squeers auf diesen Ausbruch milde ein; »der junge Mann ist sehr billig.«

»Warum auch nicht«, versetzte Madame Squeers.

»Fünf Pfund jährlich«, bedeutete der Schulmann.

»Ist das nicht teuer genug, wenn man ihn nicht braucht?« entgegnete sein Weib.

»Aber wir brauchen ihn«, erwiderte Squeers.

»Ich sehe nicht ein, warum du ihn mehr brauchen solltest, als den verstorbenen«, sagte Frau Squeers. »Schweige mir nur. Kannst du nicht auf die Karten und in die Ankündigungen setzen lassen, ›Erziehungs-Anstalt unter der Leitung des Herrn Wackford Squeers nebst tüchtigen Hilfslehrern‹, ohne daß man einen solchen unnützen Fresser einzustellen braucht? Kommt das nicht alle Tage bei andern Instituten vor? Nein, es ist nicht mehr mit dir auszuhalten.«

»So, – meinst du?« versetzte Squeers in strengem Ton. »Ich will dir was sagen, Frau! – Was das Lehrerhalten anbelangt, so werde ich mit deiner gütigen Erlaubnis meine eigenen Wege gehen. Einem Sklavenvogt in Amerika ist ein untergeordneter Gehilfe zugestanden, der darauf sehen muß, daß die Schwarzen nicht weglaufen oder eine Rebellion anfangen; und so will ich denn auch einen Menschen unter mir haben, der das gleiche bei unsern Schwarzen tut, bis einmal der kleine Wackford imstande ist, die Aufsicht in der Schule zu führen.«

»Darf ich, wenn ich herangewachsen bin, die Aufsicht in der Schule führen, Vater?« fragte Wackford der Jüngere, im Übermaß seines Entzückens einen boshaften Fußtritt unterlassend, den er seiner Schwester eben versetzen wollte.

»Ja, das sollst du, mein Sohn«, entgegnete Herr Squeers in einem sentimalen Ton.

»Ei der Tausend, da will ich’s den Jungen geben«, rief der vielversprechende Sprößling, nach seines Vaters Stock greifend. »Die sollen mir quieken, Vater.«

Welch ein stolzer Augenblick in Herrn Squeers Leben, Zeuge sein zu können von diesem Ausbruch eines edlen Enthusiasmus in der Seele seines Kindes, aus dem schon jetzt seine künftige Größe hervorleuchtete! Er drückte ihm einen Penny in die Hand und machte, vereint mit seiner musterhaften Gattin, seinen Gefühlen durch ein lautes, beifälliges Gelächter Luft. Die Harmonie der Gesinnungen brachte wieder Heiterkeit und Einigkeit in die Gesellschaft.

»Er ist ein garstiger, aufgeblasener Affe – ich kann ihn für nichts anderes betrachten«, sagte Frau Squeers, wieder auf Nicolaus zurückkommend.

»Nun, wenn er auch aufgeblasen ist«, versetzte Squeers, »kann er es in unserer Schulstube nicht so gut als irgendwo anders sein – zumalen es ihm in dieser nicht besonders zu behagen scheint?«

»Gut«, bemerkte Madame Squeers, »das läßt sich hören. Ich hoffe, es stimmt seinen Stolz herunter. Ich wenigstens will`s nicht daran fehlen lassen.«

Nun war ein stolzer Hilfslehrer in einer Yorkshirer Schule eine so außerordentliche Erscheinung – denn da überhaupt schon ein Hilfslehrer eine Seltenheit war, so mußte ein stolzer Hilfslehrer als ein Wesen erscheinen, von dessen Möglichkeit sich sogar die ausschweifendste Phantasie nichts hätte träumen lassen – daß Fräulein Squeers, die sich selten mit Schulangelegenheiten befaßte, mit großer Neugier fragte, wer denn dieser Knittelbrei wäre, der sich so hochmütig aufführe.

»Nickleby«, verbesserte Herr Squeers, indem er ihr den Namen vorbuchstabierte; »deine Mutter nennt immer die Dinge und Leute mit unrechten Namen.«

»Ach, das macht nichts!«, versetzte Frau Squeers: »ich sehe sie mit rechten Augen, und das ist alles, was ich brauche. Ich gab auf ihn acht, als du heute nachmittag dem kleinen Bolder seinen Teil gabst. Er sah die ganze Zeit über so düster aus wie eine Wetterwolke und fuhr sogar einmal auf, als ob er gute Lust hätte, über dich herzufallen. Ja, ich habs wohl gesehen, obgleich er es nicht bemerkte.«

»Lassen wir das jetzt, Vater«, sagte Fräulein Squeers, als das Haupt der Familie eben im Begriff war, eine Erwiderung zu geben. »Wer ist der Mensch?«

»Ei, dein Vater hat sich den Schnickschnack in den Kopf gesetzt, daß er der Sohn eines verarmten Mannes von Stande sei«, antwortete Frau Squeers.

»Der Sohn eines Mannes von Stande?«

»Ja, aber ich glaube kein Wort davon. Wenn er der Sohn eines Herrn ist, so ist er gewiß ein Findling, das ist meine Meinung.«

»Unsinn, nichts der Art«, entgegnete Squeers, »denn sein Vater war manches Jahr vor seiner Geburt mit seiner Mutter verheiratet, und diese ist noch am Leben. Wenn es aber auch der Fall wäre, so brauchte uns das wenig zu kümmern, denn wir machen uns dadurch, daß wir ihn aufgenommen haben, einen sehr guten Freund, und wenn es dem Musje gefällt, außer der Aufsicht, die ihm anheimfällt, die Knaben noch etwas zu lehren, so habe ich nichts dagegen einzuwenden.«

»Ich sage abermals, daß ich ihn ärger hasse als Gift«, fuhr Frau Squeers heftig auf.

»Wenn er dir nicht gefällt, mein Schatz«, erwiderte Squeers, »so kenne ich niemanden, der es ihn besser könnte fühlen lassen als du, und natürlich ist hier kein Grund vorhanden, warum du dir die Mühe geben solltest, deinen Haß zu verbergen.«

»Ich habe es auch nicht im Sinn, verlaß dich drauf«, erklärte Frau Squeers.

»Recht so«, versetzte Squeers; »und wenn etwas Stolz in ihm steckt, was mir selber auch so vorkommt, so gibt’s wohl in ganz England kaum eine Frau, die einen so schnell geschmeidig machen kann wie du, meine Liebe.«

Frau Squeers lachte herzlich über dieses schmeichelhafte Kompliment und sagte, sie meine, zu ihrer Zeit wohl schon den einen oder den andern hochfahrenden Geist heruntergestimmt zu haben.

Wir lassen übrigens ihrem Charakter nur Gerechtigkeit widerfahren, wenn wir sagen, daß sie in Vereinigung mit ihrem achtbaren Gemahl schon viele zermürbt hatte.

Fräulein Fanny Squeers hatte auf dieses und noch einiges andere, was über den Gegenstand gesprochen wurde, genau achtgegeben und stellte, als sie sich nach ihrem Schlafgemach zurückzog, bei der ausgehungerten Magd umständliche Nachforschungen über das Äußere und das Benehmen des Hilfslehrers an. Die Antworten des Mädchens lauteten so enthusiastisch und waren mit so vielen anpreisenden Bemerkungen begleitet, z.B. hinsichtlich seiner schönen, schwarzen Augen, seines süßen Lächelns und seiner geraden Beine (auf die sie einen besonderen Wert legte, da der Wuchs dieser Glieder in Dothebony Hall durchgängig krumm war), daß Fräulein Squeers bald zu der Folgerung kam, der neue Hilfslehrer müsse eine sehr merkwürdige Person oder, wie sie sich sehr bezeichnend ausdrückte, »nichts Gemeines« sein; und so faßte denn besagtes Fräulein den Entschluß, gleich am nächsten Tage Nicolaus persönlich zu beaugenscheinigen.

Um ihre Absicht durchzuführen, benutzte die junge Dame einen Zeitpunkt, wo ihre Mutter beschäftigt und ihr Vater abwesend war, und ging wie aus Zufall in die Schulstube, um sich eine Feder schneiden zu lassen, wo sie jedoch, da sie niemanden als Nicolaus die Knaben beaufsichtigen sah, hoch errötete und eine große Verwirrung zur Schau stellte.

»Ich bitte um Verzeihung«, stotterte Fräulein Squeers; »ich glaubte, mein Vater wäre – oder könnte – ach du lieber Himmel, wie ungeschickt!«

»Herr Squeers ist ausgegangen«, sagte Nicolaus, durch diesen Besuch keineswegs in Verlegenheit gesetzt, so unerwartet er auch war.

»Wird er wohl lange nicht wiederkommen, Sir?« fragte Fräulein Squeers mit einem verschämten Zögern.

»Er sprach von einer Stunde«, antwortete Nicolaus – natürlich höflich, aber ohne eine Spur davon, daß Fräulein Squeers‘ Reize sein Herz getroffen hätten.

»Noch nie ist mir etwas so Queres begegnet«, rief die junge Dame. »Ich danke Ihnen; es tut mir ungemein leid, eine Störung veranlaßt zu haben. Wenn ich nicht gedacht hätte, mein Vater wäre hier, so würde ich um keinen Preis – es ist recht ärgerlich – ich muß Ihnen recht sonderbar vorkommen«, flüsterte Fräulein Squeers, abermals errötend, indem sie ihre Blicke bald nach Nicolaus hinter seinem Pult, bald nach der Feder in ihrer Hand gleiten ließ.

»Wenn Sie nichts, als dieses wünschen«, sagte Nicolaus, indem er auf die Feder deutete, und unwillkürlich über die gezierte Verlegenheit der Schulmeisterstochter lächelte, »so kann ich vielleicht seine Stelle ersetzen.«

Fräulein Squeers blickte, wie im Zweifel, ob es auch schicklich sei, noch näher an einen landfremden Menschen heranzutreten, nach der Tür und dann in der Schulstube umher. Dann aber trat sie, durch die Gegenwart der vierzig Knaben einigermaßen ermutigt, auf Nicolaus zu und händigte ihm mit dem gewinnendsten Gemisch von Schüchternheit und Herablassung die Feder ein.

»Wünschen Sie sie hart, oder weich?« fragte Nicolaus und lächelte wieder, um nicht in ein lautes Lachen auszubrechen.

»Wie lieblich er lächelt«, dachte Fräulein Squeers.

»Wie sagten Sie?« fragte Nicolaus.

»Ach du mein Himmel, ich versichere Ihnen, ich dachte im Augenblick an etwas ganz anderes«, entgegnete Fräulein Squeers – »ach, so weich als möglich, wenn ich bitten darf.«

Fräulein Squeers seufzte bei diesen Worten, was vielleicht andeuten sollte, daß ihr Herz weich wäre und daß sie daher die Feder ebenso wünsche.

Nicolaus schnitt die Feder nach dieser Weisung. Als er sie jedoch Fräulein Squeers zurückgab, ließ Fräulein Squeers diese fallen, und als er sich bückte, um sie aufzuheben, bückte sich Fräulein Squeers gleichfalls, und beide stießen mit den Köpfen zusammen, worüber fünfundzwanzig kleine Knaben laut lachten, – entschieden das erste und einzige Mal in diesem halben Jahre.

»Wie ungeschickt von mir«, sagte Nicolaus, indem er der jungen Dame die Tür öffnete.

»Nicht doch, Sir«, versetzte Fräulein Squeers: »es war mein Fehler – nur mein törichtes – a – a –guten Morgen.«

»Ich empfehle mich«, entgegnete Nicolaus. »Wenn ich Ihnen wieder eine Feder schneide, so wird’s, hoffe ich, nicht so ungeschickt zugehen. Nehmen Sie sich in acht, Sie beißen ihr den Schnabel ab.«

»Wirklich!« erwiderte Fräulein Squeers. »Ich bin so verlegen, daß ich kaum weiß, was ich – tut mir recht leid, Ihnen so viele Mühe gemacht zu haben.«

»Durchaus keine Mühe«, versicherte Nicolaus, die Tür der Schulstube schließend.

»Ich habe in meinem ganzen Leben keine solchen Beine gesehen«, sagte Fräulein Squeers im Fortgehen.

Fräulein Squeers war in der Tat in Nickleby verliebt.

Um sich die Schnelligkeit, mit der diese junge Dame eine Leidenschaft für Nicolaus faßte, erklären zu können, müssen wir anführen, daß die Freundin, bei der sie kürzlich auf Besuch gewesen, eine Müllerstochter von ungefähr achtzehn Jahren war, die sich mit dem Sohn eines kleinen Kornhändlers auf dem nächsten Marktorte verlobt hatte. Fräulein Squeers und die Müllerstochter waren vertraute Freundinnen und waren der unter jungen Frauenzimmern üblichen Gewohnheit zufolge einige Jahre früher darin übereingekommen, daß jede, wenn sie im Sinn hätte, sich zu verloben, das wichtige Geheimnis geradeswegs, ehe sie es noch irgendeiner andern lebenden Seele anvertraut hätte, in dem Busen der Freundin niederlegen und diese ohne Zeitverlust als Brautjungfer anwerben solle. Diesem Versprechen getreu war die Müllerstochter gleich nach dem Abschluß ihrer Verlobung herausgekommen und nachts um elf Uhr – denn der Sohn des Kornhändlers hatte ihr erst vierzig Minuten vor elf Uhr (nach der Schwarzwälder Uhr in der Küche) Hand und Herz angeboten – in Fräulein Squeers Schlafzimmer geeilt, um ihr diese erfreuliche Kunde mitzuteilen. Da nun aber Fräulein Squeers um fünf Jahre älter und über die Zehner hinaus war – ein nicht unwichtiger Umstand –, so hatte sie seitdem sehnlicher als je gewünscht, dieses Vertrauen erwidern und ihre Freundin in ein ähnliches Geheimnis einweihen zu können. Aber sei es, daß es schwer hielt, ihr zu gefallen, oder vielleicht noch schwerer, daß sie jemandem gefiel, – es wollte sich ihr keine Gelegenheit geben, Geheimnisse mitzuteilen. Sobald jedoch die eben beschriebene kleine Zusammenkunft mit Nicolaus stattgefunden hatte, setzte Fräulein Squeers ihren Hut auf, lief in größter Eile zu ihrer Freundin und enthüllte ihr nach einer feierlichen Wiederholung der früheren Verschwiegenheitsgelübde, daß sie – zwar noch nicht wirklich verlobt, aber doch im Begriff sei, sich mit dem Sohne eines Mannes von Stande zu versprechen – nicht mit einem von diesen Kleinhändlern, sondern mit dem Sohne eines Mannes von guter Herkunft, der unter höchst geheimnisvollen und merkwürdigen Umständen als Lehrer nach Dotheboys Hall heruntergekommen sei. Er sei in der Tat nur (wie Fräulein Squeers mehr als einmal aus guten Gründen glauben zu dürfen versicherte) durch den Ruf ihrer Reize angelockt worden, um ihre Bekanntschaft zu machen und um sie zu freien.

»Ist das nicht etwas ganz Außerordentliches?« schloß Fräulein Squeers ihren Bericht, indem sie das letztere Wort besonders nachdrücklich betonte.

»Allerdings, sehr außerordentlich«, versetzte die Freundin; »aber was hat er denn zu dir gesagt?«

»Frage mich nicht, was er zu mir gesagt hat, meine Liebe«, entgegnete Fräulein Squeers. »Wenn du nur seine Blicke und sein Lächeln gesehen hättest! Ich war in meinem Leben nie so verblüfft.«

»Sah er dich etwa so an?« fragte die Müllerstochter, so gut wie möglich einen Liebesblick ihres Kornhändlers nachahmend.

»So etwa, nur viel vornehmer«, erwiderte Fräulein Squeers.

»Ah«, erklärte die Freundin, »dann will er etwas damit sagen, verlaß dich drauf.«

Fräulein Squeers, die noch einiged Bedenken bei der Sache hatte, ließ sich nicht ungern durch eine kompetente Autorität belehren; und als sich im Verlauf der Unterhaltung, in der die charakteristischen Liebesmerkmale zur Sprache kamen, in vielen Punkten Ähnlichkeit zwischen dem Benehmen des Hilfslehrers und des Kornhändlers herausstellte, so wurde sie außerordentlich zutraulich. Sie erzählte ihrer Feundin daher eine Menge Dinge, die Nicolaus nicht gesagt hatte, und die so ungemein schmeichelhaft waren, daß sie auch nicht dem mindesten Zweifel mehr Raum gaben. Sie sprach dann von ihrem harten Geschick, Eltern zu haben, die ihrem künftigen Gatten entschieden abgeneigt wären, über welchen traurigen Umstand sie sich um so mehr der Länge und Breite nach ausließ, als die Eltern ihrer Freundin mit der Verlobung ihrer Tochter vollkommen zufrieden gewesen waren und daher die ganze Freierei einen so flachen und gewöhnlichen Verlauf genommen hatte, wie man sich nur einen denken konnte.

»Ich möchte ihn doch auch sehen«, rief die Freundin.

»Das sollst du, Thilda«, entgegnete Fräulein Squeers. »Ich müßte mich für das undankbarste Geschöpf auf Erden halten, wenn ich dir’s abschlüge. Ich glaube, meine Mutter verreist nächstens auf ein paar Tage, um einige Knaben zu holen. Wenn das geschieht, so werde ich dich und deinen Johann zum Tee bitten. Bei dieser Gelegenheit könnt ihr ihn kennenlernen.«

Dies war ein herrlicher Gedanke, und nachdem man ihn gehörig besprochen hatte, trennten sich die Freundinnen.

Es traf sich, daß die Reise, die Madame Squeers antreten sollte, um drei neue Zöglinge zu holen und die Verwandten zweier alten zur Begleichung einer kleinen Rechnung zu pressen, noch an demselben Nachmittag auf übermorgen festgesetzt wurde. Frau Squeers bestieg zu der bestimmten Zeit einen Außensitz der Postkutsche, als diese zu Greta Bridge des Pferdewechsels wegen halt machte. Sie nahm ein kleines Bündel mit, das eine Flasche Likör nebst einigen Brot- und Fleischschnitten enthielt, versah sich mit einem großen, weiten Mantel, um sich des Nachts darein zu hüllen, und trat mit diesem Gepäck ihre Reise an.

Bei derartigen Gelegenheiten pflegte Herr Squeers unter dem Vorwand eines dringenden Geschäftes jeden Abend nach dem Marktorte zu fahren, wo er dann jedesmal bis zehn oder elf Uhr in einem von ihm sehr geschätzten Wirtshaus verweilte. Da ihm daher das Teekränzchen nicht im Wege war, sondern eher dazu diente, mit Fräulein Squeers ein Abfinden zu treffen, so gab er ohne Anstand seine Einwilligung und hatte auch nichts dagegen, in eigener Person Nicolaus die Mitteilung zu machen, daß er abends um fünf Uhr im Wohnzimmer zum Tee erwartet würde.

Man kann sich denken, daß Fräulein Squeers, als die Zeit herannahte, in keiner kleinen Verwirrung war, jedenfalls aber Vorsorge getroffen hatte, sich aufs vorteilhafteste herauszuputzen. Ihr Haar, das bedeutend ins Rote stach und wie ein Tituskopf geschoren war, fiel von dem Scheitel in fünf korkzieherartigen Lockenreihen herunter und verhüllte gar kunstreich die Mängel des zweifelhaften Auges. Nichts zu sagen von dem blauen Leibgürtel, dessen Enden über den Rücken hinunterhingen, oder der gestrickten Schürze, den langen Handschuhen, der grünen, über die Schulter geworfenen und unter dem andern Arme geknüpften Schleierschärpe oder den übrigen zahlreichen Toilettenkniffen, die man als ebenso viele für Nicolaus‘ Herz bestimmte Pfeile betrachten konnte.

Diese Vorkehrungen waren kaum zu ihrer vollen Zufriedenheit beendigt, als ihre Freundin mit einem weiß und braun gewürfelten Päckchen anlangte, das einige kleine Putzartikel enthielt, die man erst hier anziehen wollte, was denn auch die Müllerstochter unter unablässigem Geplauder tat. Als Fräulein Squeers ihrer Freundin das Haar »gemacht« hatte, machte die Freundin Fräulein Squeers das Haar, wobei sie zugleich einige augenfällige Verschönerungen anbrachte, z.B. eine Lockenpartie über den Nacken hinunterfallen ließ usw. Als nun beide zu ihrer vollkommenen Zufriedenheit herausgeputzt waren, zogen sie ihre langen Handschuhe an und gingen in vollem Staat die Treppe hinunter nach dem Zimmer, wo alles für den Empfang der Gesellschaft bereit war.

»Wo ist dein Johann, Thilda?« fragte Fräulein Squeers.

»Nur nach Hause gegangen, um sich umzukleiden«, versetzte die Freundin; »er wird aber hier sein, noch ehe der Tee fertig ist.«

»Wie mir das Herz pocht«, sagte Fräulein Squeers.

»Ach, ich kenne das«, entgegnete die Freundin.

»Du weißt, Thilda, ich bin so etwas nicht gewöhnt«, sagte Fräulein Squeers, die Hand an die linke Seite ihres Leibgürtels legend.

»Ei, das gibt sich bald, meine Liebe«, tröstete die Freundin.

Während sie sich in dieser Weise unterhielten, brachte das ausgehungerte Dienstmädchen das Teegeschirr herein, und bald nachher klopfte jemand an der Türe.

»Er ist’s!« rief Fräulein Squeers. »O Thilda!«

»Pst!« sagte Thilda. »Hm! sage doch herein!«

»Herein!« rief Fräulein Squeers mit schwacher Stimme.

»Guten Abend«, sagte der junge Mann, ohne von seiner Eroberung auch nur eine Ahnung zu haben. »Ich hörte von Herrn Squeers, daß – –«

»O ja, es ist ganz recht«, fiel Fräulein Squeers ein. »Der Vater trinkt den Tee nicht mit uns, aber ich denke. Sie werden ihn nicht sehr vermissen –« sie sagte das mit einem schalkhaften Blick.

Nicolaus machte große Augen, ließ aber, da er sich gerade um nichts besonders kümmerte, die Sache beruhen und benahm sich, als er der Müllerstochter vorgestellt wurde, mit so viel Anmut, daß diese junge Dame von Bewunderung ganz hingerissen wurde.

»Wir warten nur noch auf einen weiteren Herrn«, sagte Fräulein Squeers, indem sie den Deckel des Teekessels abnahm und hineinsah, um zu prüfen, ob der Tee koche.

Es war Nicolaus ziemlich gleichgültig, ob man auf einen Herrn oder auf zwanzig warte, und so nahm er denn diese Kunde vollkommen unbekümmert hin. Sein Geist war gedrückt, und da er keinen besondern Grund einsah, warum er sich angenehm machen sollte, so blickte er durch das Fenster und seufzte unwillkürlich.

Der Zufall fügte es, daß Fräulein Squeers‘ Freundin, die ein neckisches Mädchen war, Nicolaus seufzen hörte, und so setzte sie sich’s in den Kopf, das Liebespärchen mit seiner Niedergeschlagenheit zu necken.

»Wenn nur meine Anwesenheit daran schuld ist«, sagte die junge Dame, »so dürft ihr euch nicht daran kehren, denn ich bin in demselben Spital krank. Ihr könnt ganz tun, als ob ihr allein wäret.«

»Thilda«, sagte Fräulein Squeers, bis zu ihrer obersten Lockenreihe errötend – »ich muß mich deiner schämen.«

Die beiden Freundinnen brachen nun in ein wiederholtes Kichern aus und schossen hin und wieder über ihren Taschentüchern weg Blicke nach Nicolaus, der aus der Befangenheit des höchsten Staunens allmählich in ein unwiderstehliches Gelächter überging, das teils schon durch den Gedanken, daß er in Fräulein Squeers verliebt sein sollte, teils aber auch durch das alberne Aussehen und Benehmen der zwei Mädchen veranlaßt wurde. Diese beiden Umstände zusammengenommen deuchten ihm so drastisch komisch, daß er ungeachtet seiner armseligen Lage lachte, bis er nicht mehr konnte.

»Je nun«, dachte Nicolaus, »da ich einmal hier bin und man aus einem oder dem andern Grunde von mir zu erwarten scheint, daß ich zu der Erheiterung der Gesellschaft beitrage, so wäre es sehr unpassend, wie ein Pinsel dazustehen. Ich will mich daher der Gesellschaft anpassen.«

Wir müssen mit Erröten gestehen, daß sein Jugendmut und seine Lebhaftigkeit für eine Weile den Sieg über seine trübseligen Gedanken davontrugen. Sobald er zu einem Entschluß gekommen war, trat er mit großer Galanterie auf Fräulein Squeers und ihre Freundin zu, rückte einen Stuhl an den Teetisch und begann sich mit einem Freimut zu bewegen, wie wohl kaum je ein Hilfslehrer in dem Hause seines Prinzipals getan hat, seit das Institut der Hilfslehrer erfunden ist.

Die Damen waren höchlich entzückt über Herrn Nicklebys verändertes Benehmen, als endlich der erwartete junge Mann anlangte. Seine Haare waren noch naß, da er sich eben erst gewaschen hatte. Ein reines Hemd, dessen Kragen irgendeinem riesigen Altvordern angehört zu haben schien, bildete, nebst einer weißen Weste von ähnlichem Umfang, die Hauptzierde seiner Person.

»Nun, Johann?« sagte Fräulein Mathilda Price, denn dies war der volle Name der Müllerstochter.

»Nun?« erwiderte Johann mit einem Grinsen, das selbst der Kragen nicht verbergen konnte.

»Ich bitte um Verzeihung«, fiel Fräulein Squeers ein, indem sie sich beeilte, die beiden sich gegenseitig vorzustellen: »Herr Nickleby – Herr Johann Browdie.«

»Angenehm, Sir«, sagte Johann, der über sechs Fuß hoch war und ein Gesicht nebst einem Rumpf besaß, deren Verhältnisse eher für zu groß als für zu klein betrachtet werden konnten.

»Freue mich Ihrer Bekanntschaft, Sir«, sagte Nicolaus, indem er unter den Butterschnitten fürchterliche Verheerungen anrichtete.

Herr Browdie war kein Mann von besonders geselligen Talenten; er grinste daher noch zweimal, und da er nun jeder Person der Gesellschaft seinen gewohnten Aufmerksamkeitsbeweis abgestattet hatte, grinste er zum drittenmal, ohne einen besondern Grund, und langte gleichfalls zu.

»Ist die Alte fort?« fragte Herr Browdie mit vollen Backen.

Fräulein Squeers nickte bejahend.

Herr Browdie verzog den Mund zu einem noch liebenswürdigeren Grinsen, als sei er der Ansicht, daß wirklicher Grund zum Lachen vorhanden wäre, und fing dann wieder an, die Butterbrote mit erneuter Kraft zu bearbeiten. Es war wirklich sehenswert, wie er und Nicolaus aufräumten.

»Ich denke, Sie bekommen auch nicht alle Abend Butterschnitten«, sagte Herr Browdie, nachdem er Nicolaus eine Weile über den leeren Teller weg angestiert hatte.

Nicolaus biß sich errötend in die Lippen und tat, als ob er diese Bemerkung nicht gehört hätte.

»Zum Kuckuck«, sagte Herr Browdie mit einem lauten Lachen, »sie pflegen einem hier nicht allzuviel aufzutischen. Sie werden bald nichts mehr als Haut und Knochen an sich haben, wenn Sie lange genug hier bleiben, hihi!«

»Sie sind sehr spaßhaft, Sir«, erwiderte Nicolaus verächtlich.

»Na, das wüßt´ ich nicht«, versetzte Herr Browdie, »aber der andere Lehrer – zum Kuckuck! – der war so dünn wie ein Zwirnfaden!«

Die Erinnerung an die Schmächtigkeit des letzten Lehrers schien Herrn Browdie in das größte Entzücken zu versetzen; denn er lachte, bis er es für nötig fand, sich mit den Rockärmeln die Augen auszuwischen.

»Ich weiß nicht, ob Ihr Begriffsvermögen so weit geht, um Sie einsehen zu lassen, daß Ihre Bemerkungen sehr beleidigend sind, Herr Browdie«, sagte Nicolaus in steigendem Zorne. »Wenn das aber der Fall ist, so haben Sie die Güte, mir zu – – «

»Wenn du noch ein Wort sagst, Johann«, schrie Fräulein Price, indem sie ihrem Verehrer den Mund zuhielt, »nur noch ein halbes Wort, so werde ich es dir nie vergeben und nie wieder mit dir sprechen.«

»Ei mein Schatz, was kümmere ich mich um ihn?« sagte der Kornhändler, Fräulein Mathilda einen herzhaften Kuß versetzend; »meinetwegen mag er schwatzen, so viel er will.«

Fräulein Squeers hatte jetzt Nicolaus zur Ruhe zu bringen, was sie denn auch unter vielen Anzeichen von Angst und Schrecken tat. Die Wirkung dieser doppelten Vermittlung war, daß der Hilfslehrer und Johann Browdie sich mit vieler Würde über dem Tische die Hände schüttelten – eine ergreifende Szene, bei der Fräulein Squeers vor Rührung Tränen vergoß.

»Was hast du denn, Fanny?« fragte Fräulein Price.

»Nichts, Thilda«, entgegnete Fräulein Squeers schluchzend.

»Sie hatten ja nie im Sinne, sich etwas zuleide zu tun«, meinte Fräulein Price, »nicht wahr, Herr Nickleby?«

»Nicht im geringsten«, versetzte Nicolaus. »Das wäre recht abgeschmackt gewesen.«

»So ist´s recht«, flüsterte Fräulein Price. »Sagen Sie ihr etwas Freundliches, so werden Sie sie bald wieder herumbringen. Sollen Johann und ich ein wenig in die Küche gehen und nach einer Weile wieder kommen?«

»Um alles in der Welt nicht«, entgegnete Nicolas«, nicht wenig durch diesen Vorschlag in Schrecken gesetzt. »Ich kann mir keinen Grund denken, warum ich es wünschen sollte.«

»Nun«, sagte Fräulein Price, ihn auf die Seite winkend, indem sie in einem etwas verächtlichen Tone fortfuhr, »Sie sind mir ein sauberer Anbeter.«

»Was wollen Sie damit sagen?« erwiderte Nicolaus. »Es fällt mir nicht ein, hier einen Anbeter spielen zu wollen. Ich weiß nicht, was ich aus all diesem machen soll?«

»Nicht? Nun, so weiß ich´s auch nicht«, versetzte Fräulein Price: »aber die Männer sind immer wankelmütig, sind es von jeher gewesen und werden es stets sein; das wenigstens läßt sich sehr leicht aus dem Ganzen ersehen.«

»Wankelmütig?« rief Nicolaus. »Wie kommen Sie zu dieser Anschuldigung? Sie wollen mir doch nicht andeuten, daß Sie der Meinung sind– –«

»O, nein, ich habe hier gar keine Meinung«, entgegnete Fräulein Price schnippisch. »Sehen Sie sie an, wie hübsch sie gekleidet ist, und wie gut sie aussieht – in der Tat, fast schön. Ich würde mich an Ihrer Stelle schämen.«

»Aber mein liebes Kind, was habe ich mit ihrem hübschen Anzug und mit ihrem guten Aussehen zu schaffen?« fragte Nicolaus.

»Sie brauchen mich nicht ›mein liebes Kind‹ zu nennen«, sagte Fräulein Price, konnte aber dabei ein leichtes Lächeln nicht unterdrücken, denn sie war hübsch und nach ihrer Weise ein wenig gefallsüchtig, Nicolaus ein schöner Mann und nach ihrer Ansicht das Eigentum einer andern – lauter Gründe, die ihr den Gedanken schmeichelhaft erscheinen lassen konnten, selbst einen Eindruck auf ihn gemacht zu haben; – »denn Fanny könnte glauben, daß ich am Ganzen schuld wäre. Kommen Sie, wir wollen ein bißchen miteinander Karten spielen.«

Mit den letzteren Worten, die sie laut sprach, trippelte sie hinweg und schloß sich dem stämmigen Yorkshirer an.

Dieses Benehmen war Nicolaus ein vollkommenes Rätsel, denn alles, was er im gegenwärtigen Augenblick dachte, beschränkte sich darauf, daß Fräulein Squeers ein ganz gewöhnlich aussehendes, und ihre Freundin, Fräulein Price, ein recht hübsches Mädchen wäre. Aber er hatte keine Zeit, über die Sache weiter nachzudenken; denn der Tisch war inzwischen abgewischt und das Licht geschneuzt worden, und so setzten sie sich zu einer Partie Karten nieder.

»Wir sind nur zu vier, Thilda«, sagte Fräulein Squeers mit einem schlauen Blick auf Nicolaus; »wir werden daher guttun, wenn wir zwei gegen zwei spielen und uns Kompagnons wählen.«

»Was meinen Sie, Herr Nickleby?« fragte Fräulein Price.

»Mit dem größten Vergnügen«, antwortete Nicolaus.

Mit diesen Worten warf er, ohne zu ahnen, was er für einen entsetzlichen Verstoß beging, seine Spielmarken, die aus Dotheboys Hall-Ankündigungskarten bestanden, mit denen, die Fräulein Price zugeteilt waren, zusammen.

»Herr Browdie«, sagte Fräulein Squeers mit einem krampfhaften Lachen, »wollen wir Bank gegen sie machen?«

Der Yorkshirer, augenscheinlich aufs äußerste verblüfft über die Unverschämtheit des neuen Hilfslehrers, willigte ein, und Fräulein Squeers schoß mit konvulsivischem Lächeln einen Giftblick nach ihrer Freundin.

Das Ausgeben kam an Nicolaus, dem gleich anfangs günstige Karten zufielen.

»Wir wollen alles gewinnen«, sagte er.

»Thilda hat schon etwas gewonnen, was sie vermutlich nicht erwartete – gelt Schätzchen?« versetzte Fräulein Squeers boshaft.

»Nur zwanzig Punkte, meine Liebe«, versetzte Fräulein Price, sich anstellend, als hätte sie die Frage im buchstäblichen Sinne verstanden.

»Wie stumpf es auch heute abend in deinem Kopfe aussieht!« höhnte Fräulein Squeers.

»O, im Gegenteil«, entgegnete Fräulein Price; »ich bin sehr aufgeweckt, aber mir scheint, du seist nicht bei Laune.«

»Ich?« rief Fräulein Squeers, sich in die Lippen beißend und vor Eifersucht zitternd: »nicht doch!«

»Das ist schön«, bemerkte Fräulein Price. »Aber dein Haar kommt aus den Locken, meine Teure.«

»Kümmere dich nicht um mich«, kicherte Fräulein Squeers; »du tätest besser, auf deinen Kompagnon zu achten.«

»Ich bin Ihnen für diese Erinnerung verbunden, denn ich bin ganz Ihrer Ansicht, Fräulein Squeers«, sagte Nicolaus.

Der Yorkshirer glättete sich ein paarmal mit der geballten Faust die Nase, als wolle er seine Hand in Übung erhalten, bis er Gelegenheit hätte, sie gegen das Gesicht eines andern in Tätigkeit zu setzen; und Fräulein Squeers warf ihren Kopf mit einer solchen Entrüstung in die Höhe, daß der durch die Bewegung der unzähligen Locken erzeugte Windstoß beinahe das Licht ausgelöscht hätte.

»Ich habe in der Tat nie so viel Glück gehabt«, rief die gefallsüchtige Müllerstochter nach einigen weiteren Spielen. »Gewiß, das muß ich Ihnen zuschreiben, Herr Nickleby. Ich möchte Sie nur immer zum Kompagnon haben.«

»Ihre Wünsche begegnen hier den meinigen.«

»Aber Sie werden ein böses Weib bekommen, wenn Sie immer im Kartenspiel gewinnen«, sagte Fräulein Price.

»Nicht, wenn Ihr Wunsch in Erfüllung geht«, erwiderte Nicolaus; »denn ich bin überzeugt, daß ich dann ein recht gutes haben würde.«

Es wäre wohl Goldes wert gewesen, mit anzusehen, wie Fräulein Squeers während dieser Unterhaltung den Kopf in die Höhe warf und der Kornhändler seine Nase zerdrückte, während es Fräulein Price augenscheinlich Spaß machte, beide eifersüchtig zu machen, und Nicolaus Nickleby in glücklicher Unwissenheit nicht entfernt daran dachte, daß er soviel Mißbehagen errege.

»Die Unterhaltung bleibt, wie es scheint, uns ganz überlassen«, sagte Nicolaus, sich in heiterer Laune an dem Tische umsehend, indem er zugleich die Karten ergriff, um aufs neue zu geben.

»Sie führen sie auch so gut«, kicherte Fräulein Squeers, »daß es schade wäre, sie zu unterbrechen, – nicht wahr, Herr Browdie? He! he! he!«

»Je nun«, entgegnete Nicolaus, »es geschieht, weil niemand anders das Wort nehmen will.«

»Ihr wißt wohl, daß wir gerne mit euch sprechen, wenn ihr nur etwas sagen wollt«, fügte Miß Price bei.

»Ich danke dir, meine liebe Thilda«, erwiderte Fräulein Squeers, sich in die Brust werfend.

»Oder ihr könnt euch miteinander unterhalten, wenn ihr nicht mit uns sprechen wollt«, sagte Fräulein Price, ihren Verlobten neckend. »Johann, warum bist du denn so stumm?«

»Stumm?« wiederholte der Yorkshirer.

»Ja, ja, stumm und dämlich. Sprich doch nur auch etwas!«

»Wohlan denn«, rief der Kornhändler, indem er aus Leibeskräften mit der Faust auf den Tisch schlug: »was ich sprechen will, ist dies – der Teufel soll mich lotweise holen, wenn ich das länger mit ansehen kann. Du gehst mit mir nach Hause, und dieser luftige Hasenfuß da mag sich auf einen zerbrochenen Schädel gefaßt machen, sobald er mir unter die Hände kommt.«

»Um Gotteswillen, was soll das?« rief Fräulein Price mit verstelltem Erstaunen.

»Komm mit heim, sag‘ ich dir – komm mit heim«, entgegnete der Yorkshirer mit Nachdruck.

Fräulein Squeers brach inzwischen in einen Strom von Tränen aus, der zum Teil seinen Grund in der tödlichen Kränkung, zum Teil auch in dem ohnmächtigen Wunsch hatte, irgend jemandem das Gesicht mit ihren liebenswürdigen Fingernägeln zu zerkratzen.

Dieser Stand der Dinge war durch verschiedene Anlässe und Triebfedern herbeigeführt worden. Fräulein Squeers hatte dazu beigetragen, weil sie sich der hohen Ehre einer Anwartschaft auf den Brautstand rühmte, ohne hinreichende Gründe dafür zu haben; Fräulein Price war durch drei Trümpfe, die sie ausspielte, beteiligt: einmal wollte sie ihre Freundin für die Anmaßung, mit ihr hinsichtlich eines Titels, auf den sie kein Recht hatte, zu rivalisieren, bestrafen. Zweitens wollte sie dem Kornhändler einen augenfälligen Beweis liefern, welche große Gefahr für ihn aus einer längern Verzögerung der Trauungszeremonien erwachsen könnte; während das Scherflein des armen Nicolaus in der gedankenlosen Heiterkeit einer halben Stunde und in dem aufrichtigen Wunsch bestand, jede Vermutung eines zwischen ihm und Fräulein Squeers bestehenden Liebesverhältnisses zurückzuweisen. Unter solchen Umständen ließ sich natürlich kein anderer Ausgang erwarten; denn junge Frauenzimmer sehnen sich nach der Haube, suchen sich in dem Wettrennen nach dem Traualtar gegenseitig den Rang abzulaufen, benutzen alle Gelegenheiten, ihre Reize auf die vorteilhafteste Weise zu entfalten – und werden es tun bis ans Ende der Welt, wie sie es von Anbeginn an getan haben.

»Ei, und da schwimmt Fanny jetzt in Tränen!« rief Fräulein Price, als setze sie dieses in ein neues Staunen. »Was soll denn das heißen?«

»O, Sie wissen es nicht, Jungfer – natürlich. Sie können es nicht wissen. Ich bitte, bemühen Sie sich nicht mit Fragen«, versetzte Fräulein Squeers mit einem Gesicht, das man bei Kindern ›eine Fratze schneiden‹ nennt.

»Nun, so etwas ist mir doch noch nie –« rief Fräulein Price.

»Wer kümmert sich darum, ob Ihnen etwas vorgekommen ist, oder nicht, Mamsell«, entgegnete Fräulein Squeers mit einer neuen Gesichtsverzerrung.

»Sie sind zu höflich, Mamsell«, erwiderte Fräulein Price.

»Ich werde nicht zu Ihnen kommen, um mir von Ihnen Unterricht in der Höflichkeit erteilen zu lassen, Mamsell«, belferte Fräulein Squeers.

»O, Sie brauchen sich keine solche Mühe zu nehmen, da doch nur Hopfen und Malz verloren wäre«, entgegnete Fräulein Price.

Fräulein Squeers errötete bis über die Ohrcn und dankte Gott, daß sie keine so freche Stirn wie gewisse Leute habe; und Fräulein Price in Erwiderung wünschte sich Glück, daß sie nicht wie gewisse Personen von dem Teufel des Neides und der Mißgunst besessen sei. Fräulein Squeers machte noch eine allgemeine Bemerkung hinsichtlich der Gefahr, die man laufe, wenn man sich mit gewöhnlichen Leuten einlasse, worauf Fräulein Price vollkommen beipflichtete, indem sie bemerkte, dies wäre vollkommen wahr und sie hätte sich selbst schon längst ähnliche Gedanken gemacht.

»Thilda«, rief Fräulein Squeers mit Würde, »ich hasse dich!«

»Ach, und ich versicherer dich, daß ich meine Liebe auch nicht an dich zu verschwenden gedenke«, erwiderte Fräulein Price, ihre Hutbänder mit einem zornigen Ruck zuzerrend. »Aber ich weiß bestimmt, du wirst dir die Augen ausweinen, wenn ich weg bin.«

»Ich verachte deine Worte, du Hexe.«

»Ihr Mund ist nicht imstande, zu beschimpfen«, antwortete die Müllerstochter mit einem tiefen Bückling. »Gute Nacht, Fräulein – süße Träume.«

Mit diesem Abschiedswunsche rauschte Fräulein Mathilda Price aus dem Zimmer, während ihr der stämmige Yorkshirer folgte, nachdem er noch vorher, ehe er das Haus verließ, mit Nicolaus jenen eigentümlichen, ausdrucksvollen Zornblick gewechselt hatte, womit die eisenfresserischen Helden im Trauerspiel sich gegenseitig anzudeuten pflegen, daß sie sich wiederzutreffen gedächten.

Sie waren kaum fort, als Fräulein Squeers die Voraussagung ihrer ehemaligen Freundin bewahrheitete, indem sie einem ganzen Strom von Tränen Luft machte und in unzusammenhängenden Worten ihre trostlosen Klagen laut werden ließ. Nicolaus sah ihr einige Augenblicke zu, unschlüssig, welchen Weg er einschlagen sollte. Da er aber halb voraussah, der Anfall würde damit endigen, daß er sich einer Umarmung oder einer Gesichtszerkratzung unterziehen müsse – Bußen, die er beide für gleich angenehm erachtete –, so ging er in größter Ruhe von hinnen, während Fräulein Squeers fort und fort in ihr Taschentuch schluchzte.

»Das ist nun die Folge meiner verwünschten Bereitwilligkeit, mich jeder Gesellschaft, in die mich der Zufall führt, anzupassen«, dachte Nicolaus, als er sich nach dem finstern Schlafsaal hingetappt hatte. »Wäre, ich stumm und regungslos sitzen geblieben, wie ich wohl hätte tun können, so würde das nicht vorgefallen sein.«

Er horchte einige Augenblicke, aber alles blieb ruhig.

»Ich freute mich«, sagte er vor sich hin, »dem Anblick dieser Jammerhöhle und ihres verworfenen Herrn einen Augenblick entkommen zu sein. Jetzt habe ich diese Leute hintereinander gehetzt und mir zwei neue Feinde gemacht, wo ich doch, weiß der Himmel, keines weitern bedurfte. Nun, es ist eine gerechte Strafe dafür, daß ich, wenn auch nur auf eine Stunde, vergaß, wo ich bin.«

Mit diesen Worten suchte er sich tastend seinen Weg durch die gedrängten Haufen der armen kleinen Schläfer und schlüpfte in sein elendes Bett.

Zehntes Kapitel.


Zehntes Kapitel.

Wie Herr Ralph Nickleby für seine Nichte und Schwägerin sorgt.

Am zweiten Morgen nach Nicolaus‘ Abreise saß Käthchen Nickleby in einem ziemlich verblichenen Lehnsessel, der auf einer sehr staubigen Erhöhung stand, in Fräulein La Creevys Zimmer, um von derselben ihr angefangenes Porträt vollenden zu lassen. Damit übrigens zu dessen höchster Vervollkommnung nichts fehle, hatte Fräulein La Creevy den Haustürrahmen heraufbringen lassen, um aus demselben für Fräulein Nicklebys Antlitz eine helle salmenfleischrote Farbe zu entnehmen, auf die sie ursprünglich bei der Porträtierung eines jungen Offiziers verfallen war, und die von Fräulein La Creevys Hauptgönnern und Freunden als etwas ganz Neues in der Kunst betrachtet wurde, was auch wirklich der Fall war.

»Ich denke, ich habe es jetzt«, sagte Fräulein La Creevy. »Ganz derselbe Schatten. Gewiß, es wird das lieblichste Bild werden, das ich je gemalt habe.«

»Dann ist es jedenfalls nur Ihre Kunst, die es dazu macht«, versetzte Käthchen lächelnd.

»Nein, nein, das gebe ich nicht zu, meine Liebe«, entgegnete Fräulein La Creevy. »Gewiß – der Gegenstand schon ist allerliebst –, obgleich natürlich einiges auf die Behandlungsweise ankommt.«

»Und zwar nicht wenig«, bemerkte Käthchen.

»Da haben Sie allerdings recht, meine Liebe«, erwiderte Fräulein La Creevy – »in der Hauptsache recht, obgleich ich nicht einräumen kann, daß dies in dem gegenwärtigen Falle besonders in Betracht kommt. Ach, die Kunst hat ihre großen Schwierigkeiten, meine Teure.«

»Ich zweifle nicht daran, und es muß wohl so sein«, sagte Käthchen, auf das Steckenpferd ihrer gutmütigen kleinen Freundin eingehend.

»Ach, sie übersteigen alle Begriffe«, erwiderte Fräulein La Creevy. »Sie haben keine Ahnung davon, was es für Mühe kostet, dem Auge den gehörigen Ausdruck zu geben und die Nase in das geeignete Verhältnis mit dem Kopfe zu bringen, von Zähnen gar nicht zu reden.«

»So etwas läßt sich kaum mit Geld bezahlen«, meinte Käthchen.

»Da haben Sie vollkommen recht«, entgegnete Fräulein La Creevy; »und dann sind die Leute auch so unvernünftig und schwer zu befriedigen, daß man unter zehn Porträts kaum eins mit Vergnügen malen kann. Das eine Mal sagen sie: »Ach, was für ein ernstes Gesicht haben Sie mir gemacht, Fräulein La Creevy«; ein andermal heißt es: »Aber Fräulein La Creevy, was ist das für ein schmunzelnder Mund?« während doch ein gutes Porträt entweder ernst oder heiter sein muß, sonst ist es überhaupt kein Porträt.«

»Wirklich?« fragte Käthchen lachend.

»Gewiß, meine Liebe, denn die Sitzenden sind immer entweder das eine oder das andere«, versetzte Fräulein La Creevy. »Betrachten Sie die Porträts in der königlichen Akademie – alle die schönen Bilder von Herren in schwarzen Samtwesten mit den auf runden Tischen oder Marmorplatten ruhenden Händen sind bekanntermaßen ernsthaft; und Damen, die mit Sonnenschirmchen, Schoßhündchen oder kleinen Kindern spielen, müssen nach denselben Kunstregcln lächelnd gehalten werden. In der Tat gibt es«, fuhr Fräulein La Creevy in einem vertraulichen Flüstern fort – »nur einen zweifachen Porträtstil – den ernsten und den heitern; des ersteren bedienen wir uns immer bei Geschäftsmännern, des letztern bei Damen oder bei Herren, die sich nicht viel darum kümmern, ob sie gescheit aussehen oder nicht.«

Käthchen schien durch diese Belehrung sehr erheitert zu werden, während Fräulein La Creevy weiter malte und in einem fort mit unveränderter Selbstgefälligkeit plauderte.

»Es scheint, daß Sie viele Offiziere malen müssen«, sagte Käthchen, indem sie eine kleine Pause in der Unterhaltung benutzte, um sich im Zimmer umzusehen.

»Viele, mein Kind?« fragte Fräulein La Creevy, von ihrer Arbeit aufsehend. »Ah, Sie meinen die Charakterporträts – es sind keine wirkliche Militärpersonen.«

»Nicht?«

»Du mein Himmel, nein. Es sind nur Schreiber, Ladendiener und dergleichen, die sich eine Uniform mieten und sie in einem Tuch eingeschlagen herschicken, um sie beim Sitzen anziehen zu können. Einige Künstler halten sich einen Scharlachrock und berechnen für seine Benutzung nebst dem Karmin acht Schilling extra. Ich gebe mich jedoch nicht mit derartigen Spekulationen ab, da ich sie nicht für recht halte.«

Fräulein La Creevy warf sich bei diesen Worten in die Brust, als ob sie sich viel darauf zugut täte, daß sie derartige, Kunden anködernde Kunstgriffe verschmähe, und malte dann wieder emsig fort, indem sie nur hier und da den Kopf aufrichtete, um irgendeine Schattierung, die sie eben angebracht hatte, mit einem unaussprechlichen Wohlbehagen zu betrachten, oder hin und wieder Fräulein Nickleby zu verstehen gab, mit welchem besonderen Teil ihres Gesichts sie eben beschäftigt wäre, »nicht damit Sie ihn in eine malerische Haltung bringen sollen, meine Liebe«, bemerkte sie ausdrücklich, »sondern es ist nur unsere Gewohnheit, den Sitzenden zu sagen, bei welcher Partie wir sind, damit sie, wenn sie einen besondern Ausdruck in derselben angebracht wissen wollen, diesen noch beizeiten hineinlegen können.«

»Und wann«, sagte Fräulein La Creevy nach einem langen Schweigen, was in dem gegenwärtigen Fall ungefähr einen Zeitraum von anderthalb Minuten bezeichnet, »wann hoffen Sie Ihren Onkel wiederzusehen?«

»Das weiß ich nicht zu sagen«, versetzte Käthchen, »denn wir harren bereits seit einigen Tagen vergebens auf seinen Besuch. Ich hoffe jedoch, daß er sich bald zeigen wird, denn die Ungewißheit ist schlimmer als alles andere.«

»Ich glaube, er hat Geld, nicht wahr?« fragte Fräulein La Creevy.

»Dem Vernehmen nach ist er sehr reich«, antwortete Käthchen. »Ich weiß dies freilich nicht mit Bestimmtheit, aber ich glaube es selber auch.«

»Ah, Sie können sich darauf verlassen, daß er es ist, sonst würde er nicht so grob sein«, bemerkte Fräulein La Creevy, die eine seltsame kleine Mischung von Schlauheit und Einfalt war. »Wenn einer ein Bär ist, so kann man im allgemeinen annehmen, daß er ziemlich unabhängig lebt.«

»Ei hat allerdings eine etwas rauhe Außenseite«, sagte Käthchen.

»Etwas rauh?« rief Fräulein La Creevy; »ein Igel ist ein Federbett gegen ihn. Ich habe in meinem ganzen Leben keinen solchen widerhaarigen alten Brummbart gesehen.«

»Ich vermute, daß dies nur so seine Art ist«, bemerkte Käthchen schüchtern. »Ich habe, glaube ich, gehört, daß er in früheren Jahren manche bittere Erfahrung gemacht hat, wodurch er sauertöpfisch wurde. Ich möchte nicht gern Schlimmes von ihm denken, solange ich nicht weiß, daß er es verdient.«

»Nun, das ist lobenswert«, versetzte die Porträtmalerin, »und behüte Gott, daß ich Sie zu einem Unrecht veranlasse. Aber könnte er jetzt nicht, ohne daß es ihm selbst wehe täte, Ihnen und Ihrer Mutter ein kleines Jahrgehalt auswerfen, das Sie beide nährte, bis sich eine passende Partie für Sie fände, und auch dann noch Ihrer Mutter eine sorgenfreie Lage bereitete? Was würden ihm z.B. hundert Pfund jährlich ausmachen?«

»Das weiß ich nicht«, sagte Käthchen mit großem Nachdruck, »aber mir würde es so viel ausmachen, daß ich lieber sterben, als sie annehmen wollte.«

»Ei, ei, was Sie da sagen«, versetzte Fräulein La Creevy.

»Es würde mir mein ganzes Leben verbittern, wenn ich von ihm abhängig sein müßte«, fuhr Käthchen fort. »Sogar das Betteln kommt mir weniger erniedrigend vor.«

»Wohl«, rief Fräulein La Creevy; »doch ich gestehe, meine Liebe, daß dies sonderbar genug klingt in Bezug auf einen Verwandten, über den eine unbeteiligte Person vor Ihren Ohren kein böses Wörtchen sagen soll.«

»Sie haben recht, es klingt allerdings sonderbar«, erwiderte Käthchen in einem weniger aufgeregten Tone. »Ich – ich – meinte übrigens damit nur, ich könnte es, da mir die Gefühle und Erinnerungen besserer Tage noch so lebhaft vor der Seele stehen, nicht ertragen, von der Gnade eines anderen zu leben – nicht vorzugsweise von der seinigen, sondern überhaupt.«

Fräulein La Creevy warf einen forschenden Blick auf ihre Gefährtin, als könne sie nicht recht glauben, daß nicht Ralph selbst der Gegenstand ihrer Abneigung wäre. Da sie aber einen schmerzlichen Ausdruck in den Zügen ihrer jungen Freundin bemerkte, so unterließ sie die Erwiderung.

»Ich wünsche nichts von ihm«, fuhr Käthchen fort, während Tränen über die Wangen flossen, »als daß er sich für mich soweit einsetzt, um mich durch seine Empfehlung – nur durch seine Empfehlung – in den Stand zu setzen, daß ich im buchstäblichen Sinne des Worts mein Brot verdienen und bei meiner Mutter bleiben kann. Ob wir je wieder glücklich sein werden, hängt von dem Schicksal meines lieben Bruders ab. Sorgt aber mein Onkel in der angedeuteten Weise für mich, und schreibt uns Nicolaus nur, daß er gesund und heiter ist, so will ich ja gern zufrieden sein.«

Sie hatte kaum zu sprechen aufgehört, als sich ein Rasseln hinter der spanischen Wand vernehmen ließ, die zwischen ihr und der Tür stand, und unmittelbar darauf pochte jemand an das Getäfel.

»Herein, wer es immer sein mag«, rief Fräulein La Creevy.

Der Klopfende leistete der Aufforderung Folge und ließ, als er ins Zimmer trat, nichts Geringeres als die Gestalt und Züge des Herrn Ralph Nickleby erkennen.

»Ihr Diener, meine Damen«, sagte Ralph, sie abwechselnd anblickend. »Sie sprachen so laut, daß ich nicht imstande war, mich bemerklich zu machen.«

Wenn Ralph Nickleby einen ungewöhnlich boshaften Gedanken in seinem Herzen barg, so war es seine Gewohnheit, seine Augen einen Augenblick fast ganz unter den dicken, buschigen Brauen zu verbergen und sie dann in ihrer vollen Schärfe hervorbrechen zu lassen. Da er es auch in dem gegenwärtigen Moment so machte und das Lächeln zu unterdrücken suchte, das seine dünnen, zusammengekniffenen Lippen mit boshaften Falten umzog, so fühlten beide, daß er wenigstens einen Teil, wo nicht das Ganze der Unterhaltung behorcht hatte.

»Ich war im Begriff, die Stiegen hinaufzugehen, wollte aber zuerst unten vorsprechen, weil ich halb und halb vermutete, dich hier zu treffen«, sagte Ralph zu Käthchen, indem er einen verächtlichen Blick auf das Porträt warf. »Ist dies das Porträt meiner Nichte, Madame?«

»Ja, Herr Nickleby«, entgegnete Fräulein La Creevy sehr lebhaft »und unter uns gesagt, Sir, es wird ein recht hübsches Porträt werden, obgleich es die Künstlerin selbst sagt.«

»Nehmen Sie sich nicht die Mühe, es mir zu zeigen, Madame«, versetzte Ralph zurücktretend; »ich habe kein Auge für Ähnlichkeiten. Ist es wohl bald fertig?«

»Bald«, erwiderte Fräulein La Creevy, indem sie, den Pinselstiel in den Mund nehmend, ein wenig nachsann. »Noch zwei Sitzungen werden –«

»Machen Sie’s gleich in einer ab, Madame«, sagte Ralph; »sie wird übermorgen keine Zeit mehr haben, um sie an dergleichen Torheiten zu verschwenden. Arbeit, Madame – Arbeit ist die Seele des Lebens; wir alle müssen arbeiten. Haben Sie Ihre Zimmer schon wieder vermietet, Madame?«

»Ich habe ihr noch nicht gekündigt, Sir«.

»So tun Sie es schnell, Madame. Meine Schwägerin braucht sie in der nächsten Woche nicht mehr, oder wenn es auch der Fall wäre, so wird es an der Bezahlung fehlen. – Nun, meine Liebe, wenn du bereit bist, so wollen wir keine Zeit mehr verlieren.«

Mit einer geheuchelten Freundlichkeit, die ihm sogar noch übler stand als sein gewohntes Benehmen, winkte Herr Ralph Nickleby der jungen Dame, vorauszugehen, verbeugte sich ernst gegen Fräulein La Creevy, schloß die Tür und folgte Käthchen die Treppe hinauf, wo ihn Frau Nickleby mit vielen Hochachtungsbezeugungen empfing. Ralph unterbrach sie jedoch in ihrem Redefluß mit einer ungeduldigen Handbewegung und ging auf den Zweck seines Besuches über.

»Ich habe einen Platz für Ihre Tochter gefunden«, sagte Ralph.

»Herrlich«, versetzte Frau Nickleby; »doch ich habe nichts anderes von Ihnen erwartet. Ich sagte erst gestern morgen beim Frühstück zu Käthchen: verlaß dich drauf, daß dein Onkel, nachdem er für Nicolaus so gut gesorgt hat, uns nicht verlassen wird, bis ihm mit dir ein gleiches gelungen ist. Ja, dies waren, soviel ich mich erinnern kann, meine Worte. Liebes Käthchen, warum dankst du nicht deinem –«

»Ich bitte, lassen Sie mich fortfahren, Madame«, unterbrach Ralph den Gießbach ihrer Beredsamkeit.

»Liebes Käthchen, laß deinen Onkel fortfahren«, sagte Frau Nickleby.

»Ich harre in der gespanntesten Erwartung, Mama«, erwiderte Käthchen.

»Nun, meine Liebe, wenn du so gespannt darauf bist, so wirst du besser tun, deinen Onkel sagen zu lassen, was er zu sagen hat, ohne ihn zu unterbrechen«, sagte Frau Nickleby mit manchem kleinen Nicken und Kopfschütteln. »Die Zeit deines Onkels ist kostbar, meine Liebe, und wie sehr es auch dein Wunsch sein mag – und es muß natürlich, teuren Verwandten gegenüber, die man noch so wenig kennt, wie wir deinen Onkel, unser Wunsch sein –, das Vergnügen, ihn bei uns zu haben, zu verlängern, so dürfen wir doch nicht selbstsüchtig sein, sondern müssen in Erwägung ziehen, was er für wichtige Geschäfte in der City hat.«

»Ich bin Ihnen sehr verbunden, Madame«, sagte Ralph mit einem kaum bemerklichen Hohnlächeln. »Der Umstand, daß man in dieser Familie nicht an Geschäfte gewöhnt ist, führt, wie ich sehe, zu einer großen Verschwendung von Worten, so daß man, wenn einmal von einem wirklichen Geschäft die Rede ist, gar nicht zu demselben kommen kann.«

»Ich fürchte, es ist nur zu wahr«, versetzte Frau Nickleby mit einem Seufzer. »Ihr armer Bruder –«

»Mein armer Bruder, Madame«, fiel Ralph mit Härte ein, »hatte gar keinen Begriff von einem Geschäft und kannte, wie ich zuverlässig glaube, nicht einmal die Bedeutung des Worts.«

»Ich fürchte, Sie haben recht«, sagte Frau Nickleby, ihr Schnupftuch an die Augen drückend. »Wenn er nicht mich gehabt hätte, so weiß ich nicht, was aus ihm geworden wäre.«

Welches seltsame Geschöpf ist nicht der Mensch? Der leichte Köder, den Ralph bei der ersten Begegnung so geschickt hingeworfen hatte, hing noch immer an der Angel. Bei jeder kleinen Entbehrung und Unbequemlichkeit, die Frau Nickleby im Laufe der vierundzwanzig Stunden des Tages an ihre beschränkten und veränderten Verhältnisse erinnerte, knüpfte sich ein mürrischer Rückblick auf ihre tausend Pfund, bis sie sich endlich ganz in die Überzeugung hineingearbeitet hatte, daß sie von allen Gläubigern ihres seligen Mannes am übelsten behandelt worden und daher am meisten zu beklagen sei. Und doch war sie nicht selbstsüchtiger als andere und hatte ihren Mann viele Jahre lang innig geliebt. So reizbar wird man durch plötzliche Verarmung! Ein anständiges Auskommen würde mit einemmal ihren Gedanken wieder die alte Richtung gegeben haben.

»Das Jammern hilft nichts, Madame«, sagte Ralph. »Von allem nutzlosen Treiben ist es das nutzloseste, einem Tag, der entschwunden ist, Tränen nachzuschicken.«

»Es ist so«, schluchzte Frau Nickleby, »es ist so.«

»Da Sie die Folgen der Hintansetzung eines rührigen Lebens an Ihrer eigenen Börse und Person so schwer empfinden, Madame«, fuhr Ralph fort, »so hoffe ich, Sie werden Ihren Kindern die Notwendigkeit unermüdlichen Arbeitens ans Herz legen.«

»Natürlich, natürlich«, entgegnete Frau Nickleby. »Traurige Erfahrungen, wie Sie wissen, Schwager – liebes Käthchen, führe das in deinem nächsten Briefe an Nicolaus an, oder erinnere mich daran, wenn ich ihm schreibe.«

Ralph hielt eine Weile inne, und nachdem er sich überzeugt hatte, daß die Mutter vollkommen auf seiner Seite wäre, wenn auch die Tochter gegen seinen Vorschlag etwas einzuwenden haben sollte, fuhr er fort:

»Die Stelle, die ich ihr zu verschaffen Sorge trug, Madame, ist bei – bei einer Putz- und Kleidermacherin, mit einem Worte.«

»Bei einer Putzmacherin?« rief Frau Nickleby.

»Einer Putz- und Kleidermacherin, Madame«, wiederholte Ralph. »Ich brauche einer Frau, die so viel Lebenserfahrung hat, nicht erst zu sagen, daß sich Kleidermacherinnen in London ein schönes Geld verdienen, Equipagen halten und zu großem Reichtum gelangen.«

Das Wort »Putz- und Kleidermacherin« hatte Frau Nicklebys Gedanken mit gewissen geflochtenen, mit Wachstuch ausgelegten Weidenkörben in Verbindung gebracht, die sie, wie sie sich erinnerte, in den Straßen hatte hin- und hertragen sehen. Aber als Ralph fortfuhr, verschwand dieser Eindruck und machte den Träumen von großen Häusern in dem Westend Londons, zierlichen Equipagen und Kapitalbriefen Platz – Bilder, die sich mit solcher Raschheit folgten, daß sie, noch ehe er ausgesprochen hatte, mit dem Kopf nickte und, augenscheinlich sehr zufrieden, ihre Zustimmung zu erkennen gab.

»Was dein Onkel sagt, ist vollkommen richtig, Käthchen«, sagte Frau Nickleby. »Ich kam, als wir kaum verheiratet waren, mit deinem armen Vater nach der Stadt, und ich erinnere mich noch recht gut, daß mir eine junge Dame einen Spadrihut mit weißem und grünem Besatz und grünem, seidenem Futter in ihrem eigenen Wagen, der in vollem Galopp anfuhr, ins Haus brachte; – ich weiß zwar nicht ganz bestimmt, ob es ihr eigener Wagen oder eine Mietkutsche war, aber ich erinnere mich noch recht gut, daß das Pferd beim Umwenden tot niederfiel, und daß dein armer Vater meinte, es hätte vierzehn Tage keinen Hafer zu fressen bekommen.«

Diese Anekdote, so schlagend sie auch die Wohlhabenheit der Putzmacherinnen darlegte, schien übrigens keinen besonderen Anklang zu finden, denn Käthchen ließ den Kopf sinken, und Ralph zeigte unzweideutige Spuren der äußersten Ungeduld.

»Die in Frage stehende Dame –« fiel Ralph hastig ein – »heißt Mantalini – Madame Mantalini. Ich kenne sie; sie wohnt in der Nähe von Cavandish-Square. Wenn Ihre Tochter geneigt ist, sich um die Stelle zu bewerben, so will ich sie gleich mit hinnehmen.«

»Hast du deinem Onkel nichts zu sagen, meine Liebe?« fragte Frau Nickleby.

»O, sehr viel«, versetzte Käthchen, »aber nicht jetzt. Ich möchte lieber unter vier Augen mit ihm sprechen. Es wird ihm Zeit ersparen, wenn ich ihm meinen Dank und das, was ich ihm zu eröffnen habe, auf dem Wege sage.«

Käthchen eilte mit diesen Worten hinaus, um die in ihren Augen quellenden Tränen zu verbergen und sich zum Ausgehen anzukleiden, während Frau Nickleby unter vielen Zähren ihren Schwager mit der umständlichen Beschreibung eines Klaviers aus Rosenholz und einer Garnitur Sessel mit gedrechselten Beinen und grünen Sitzpolstern unterhielt, die sie in den Tagen ihrer Wohlhabenheit besessen hätte, wobei sie anmerkte, daß von den letzteren jedes Stück zwei Pfund fünfzehn Schillinge gekostet hätte, daß aber bei der Versteigerung diese Raritäten fast um nichts losgeschlagen worden wären.

Diese Erinnerungen wurden endlich durch Käthchens Rückkehr abgeschnitten, und Ralph, der während der ganzen Zeit ihrer Abwesenheit ärgerlich dagesessen hatte, verlor nun keine Zeit mehr, sondern verließ ohne viele Zeremonien das Haus.

»Jetzt lauf, so schnell du kannst«, sagte er, indem er den Arm seiner Nichte nahm. »Du wirst dann in den Schritt kommen, dessen du dich jeden Morgen, wenn du ans Geschäft gehst, bedienen mußt.«

Mit diesen Worten führte er Käthchen mit tüchtig ausholenden Schritten nach Cavendish-Square.

»Ich bin Ihnen für Ihre Güte sehr verbunden«, sagte das Mädchen, nachdem sie eine Weile schweigend fortgeeilt waren.

»Das hör‘ ich gern«, sagte Ralph. »Ich hoffe, du wirst deine Schuldigkeit tun.«

»Ich will suchen, mich beliebt zu machen, Onkel«, versetzte Käthchen; »in der Tat, ich –«

»Fange mir nicht zu weinen an«, brummte Ralph, »ich kann dieses Geplärre nicht leiden.«

»Ich weiß wohl, daß es töricht ist, lieber Onkel –«, begann das arme Käthchen.

»Ja, das ist es«, erwiderte Ralph, ihr ins Wort fallend, »und sehr affektiert außerdem. Bleib mir mit derartigen Komödien vom Leibe.«

Das war vielleicht nicht die beste Art und Weise, die Tränen eines jungen und gefühlvollen Mädchens zu trocknen, die im Begriffe stand, eine ganz neue Laufbahn unter kalten und teilnahmlosen Fremden anzutreten; aber der Zweck wurde trotzdem erreicht. Käthchens Gesicht übergoß sich mit Glut, und ihre Brust wogte einige Augenblicke ungestüm; dann aber schritt sie mit festerem und entschlossenerem Schritte weiter.

Es lag ein seltener Gegensatz in dem Benehmen der beiden; das furchtsame Landmädchen schlüpfte schüchtern durch das Gedränge, das in den Straßen auf und nieder wogte, und hielt sich fest an ihren Begleiter, als fürchte sie, ihn in den Volksmassen zu verlieren, während der ernste, eherne Geschäftsmann mürrisch seines Weges ging, sich mit den Ellbogen Bahn brach und hin und wieder mit einem Vorübergehenden, der sich vielleicht überrascht nach seiner schönen Begleiterin umsah und sich über diese so übel zusammenstimmende Paarung wunderte, einen verdrossenen Gruß wechselte. Der Gegensatz wäre aber noch weit schneidender gewesen, wenn man in den Herzen, die so nahe beieinander schlugen, hätte lesen und die reine Unschuld des einen mit der heillosen Schurkerei des andern hätte vergleichen können. Wie gerne wäre man bei den arglosen Gedanken des holden Mädchens geweilt, und wie hätte man erstaunen müssen, wenn man unter den schlauen Anschlägen und Berechnungen des alten Mannes keine Spur von einem Gedanken an Tod oder Grab gefunden hätte. Aber es war so; und was noch auffallender ist, obgleich es alle Tage vorkommt – das junge, warme Herz pochte unter tausend Ängsten und Sorgen, während das des alten, weltlich gesinnten Mannes rostend in seiner Zelle lag und nur wie der Pendel einer Uhr ging, ohne je ein Pochen der Hoffnung, der Furcht, der Liebe oder der Teilnahme für irgendein lebendiges Wesen zu fühlen.

»Onkel«, sagte Käthchen, als sie dachte, daß sie dem Orte ihrer Bestimmung nahe wären, »ich muß eine Frage an Sie stellen. Werde ich zu Hause wohnen?«

»Zu Hause?« versetzte Ralph. »Wo ist das?«

»Ich meine bei meiner Mutter, der Witwe«, entgegnete Käthchen mit Nachdruck.

»Dein Aufenthalt wird im eigentlichen Sinne in Madame Mantalinis Haus sein«, erwiderte Ralph; »denn du wirst bei ihr essen und vom Morgen bis in die Nacht, vielleicht auch hin und wieder bis zum andern Morgen dort bleiben.«

»Aber ich meine des Nachts«, sagte Käthchen; »ich kann sie nicht verlassen, Onkel. Ich muß ein Plätzchen haben, das ich Heimat nennen kann, und das ist da, wo sie ist, wie armselig es auch sein mag.«

»Sein mag?« wiederholte Ralph in der Ungeduld, die durch diese Bemerkung veranlaßt wurde, seine Schritte noch mehr beschleunigend. »Sein muß, willst du sagen. Von einem Mögen zu sprechen! Ist das Mädchen toll?«

»Das Wort entfuhr meinen Lippen, ohne daß ich den Sinn hineinlegen wollte, den Sie darin finden«, versetzte Käthchen.

»Ich will’s hoffen«, entgegnete Ralph.

»Aber meine Frage, Onkel – Sie haben mir meine Frage noch nicht beantwortet.«

»Nun, ich sah etwas der Art voraus«, antwortete Ralph, »und habe deshalb, obgleich es ganz und gar nicht nach meinem Sinne ist, Vorkehrungen getroffen. Ich sprach von dir als einer Arbeiterin außer dem Haus, und so kannst du denn zu dieser Heimat, die eine armselige sein mag, jede Nacht deine Zuflucht nehmen.«

Hierin lag doch einiger Trost. Käthchen ergoß sich in hundert Dankesbezeugungen für ihres Onkels Besorgtheit, die auch von Ralph hingenommen wurden, als ob er sie vollkommen verdient hätte, bis sie endlich, ohne auf eine weitere Unterhaltung einzugehen, an dem Hause der Kleidermacherin anlangten. Eine schöne steinerne Treppe führte zu der Tür, über der eine große Tafel Madame Mantalinis Namen und Geschäft angab. In dem Haus befand sich ein Laden, der an einen Rosenölhändler vermietet war. Madame Mantalinis Magazin befand sich im ersten Stock, ein Umstand, der dem putzliebenden Publikum durch die gelegentliche Zurschaustellung einiger der elegantesten Damenhüte nach der neuesten Mode und einiger kostbarer Gewänder im schönsten Geschmack, die sich hinter mit prachtvollen Vorhängen behängten Fenstern befanden, angezeigt wurde.

Ein in Livree gekleideter Diener öffnete die Tür und führte sie auf Ralphs Frage, ob Madame Mantalini zu Hause wäre, durch eine schöne Hausflur über eine breite Treppe nach dem aus zwei geräumigen Zimmern bestehenden Magazin, das eine unermeßliche Fülle von modernen Kleidern und Kleiderstoffen zur Schau bot, die zum Teil an Gestellen oder über den Spiegeln hingen, zum Teil nachlässig auf den Sofas und auf dem Teppich des Bodens umherlagen oder sich auf irgendeine andere Weise mit dem verschiedenartigsten kostbaren Mobiliar mischten, das hier verschwenderisch zur Schau ausgestellt war.

Sie mußten weit länger warten, als es Herrn Ralph Nickleby angenehm war. Dieser betrachtete den bunten Tand um sich her mit großer Gleichgültigkeit und war endlich im Begriff, die Klingel zu ziehen, als plötzlich ein Herr den Kopf durch die Tür steckte, ihn aber ebenso schnell wieder zurückzog, als er bemerkte, daß jemand zugegen war.

»He, wer ist da?« rief Ralph.

Auf den Ton von Ralphs Stimme erschien der Kopf wieder, und ein Mund, der eine lange Reihe schneeweißer Zähne zeigte, sprach in einer gezierten Weise die Worte: »Der Teufel! Wie, Nickleby? O der Teufel!« Unter diesen Rufen trat der Herr näher und schüttelte Nicklebys Hand mit großer Wärme. Er war in einen prächtigen Morgenrock mit einer Weste und türkischen Beinkleidern von dem gleichen Zeuge gekleidet, trug ein rosenrotes seidenes Halstuch und hellgrüne Pantoffel und hatte eine schwere goldene Uhrkette über die Brust hängen. Er trug außerdem einen Backen- und Schnurrbart, beide schwarz gefärbt und zierlich gekräuselt.

»Zum Teufel, Sie werden doch nichts von mir wollen – Gott verdamm mich?« sagte der Herr, Ralph auf die Schulter klopfend.

»Noch nicht«, versetzte Ralph sarkastisch.

»Ha! ha! zum Teufel!« rief der Herr und drehte sich auf seiner Ferse, um mit noch größerer Eleganz lachen zu können, als er plötzlich Käthchen Nicklebys ansichtig wurde, die in der Nähe stand.

»Meine Nichte«, sagte Ralph.

»Ich erinnere mich –« versetzte der Herr, indem er sich gleichsam zur Strafe für seine Vergeßlichkeit mit dem Zeigefinger an die Nase schlug – »der Teufel, ich erinnere mich jetzt des Zwecks Ihres Besuches. Kommen Sie nur mit mir, Nickleby. Wollen Sie mir folgen, meine Beste? Ha! ha! sie folgen mir alle, Nickleby, und, zum Teufel, sie taten es immer.«

Der Herr plapperte in dieser geckenhaften Weise fort und führte die beiden nach einem Besuchszimmer im zweiten Stock, das kaum weniger elegant ausgestattet war als der Saal im ersten; und eine silberne Kaffeekanne, eine Eierschale und eine gebrauchte Porzellantasse dabei schienen anzudeuten, daß der Bewohner eben gefrühstückt hatte.

»Setzen Sie sich, meine Beste«, sagte der Herr, indem er Fräulein Nickleby so lange musterte, bis sie ganz aus der Fassung kam, und dann, entzückt über diese gelungene Heldentat, grinsend sein Gesicht verzog. »Diese verwünschten hochgelegenen Zimmer benehmen einem den Atem; der Henker hole solche Himmelswohnungen! Ich fürchte, ich muß ausziehen.«

»Ich würde das unter allen Umständen tun«, versetzte Ralph, bitter umherblickend.

»Ah, Sie sind ein verdammt altmodischer Kerl, Nickleby«, sagte der Herr, »der verwünschteste, übellaunigste, alte Spitzkopf, der je in Gold und Silber gewühlt hat, hol mich der Teufel«.

Nach diesen Komplimenten zog der Herr die Klingel, glotzte, bis dem Rufe Folge geleistet wurde, Fräulein Nickleby an und befahl dann dem Diener, seiner Gebieterin zu sagen, daß sie sogleich herkommen möchte, worauf er abermals Käthchen zu beäugeln begann und nicht eher davon abließ, bis Madame Mantalini erschien.

Die Kleidermacherin war eine rüstige, schön gekleidete und gut aussehende Frau, aber viel älter als der Herr in den türkischen Beinkleidern, den sie vor sechs Monaten geheiratet hatte. Er hieß ursprünglich Muntle, hatte aber seinen Namen durch eine leichte Veränderung in Mantalini umgewandelt, da die Dame mit Recht annahm, ein englischer Name würde das Geschäft wesentlich beeinträchtigen. Er hatte eigentlich auf seinen Backenbart geheiratet, von dem er mehrere Jahre einen anständigen Unterhalt gezogen hatte, und eine Vermehrung dieses Kapitals durch den Zuwachs eines Schnurrbartes, mit dem er nach langer und geduldiger Pflege sein Gesicht verschönert, versprach, ihm eine ganz behagliche Unabhängigkeit zu sichern. Sein Anteil an den Beschwerlichkeiten des Geschäfts beschränkte sich zurzeit auf das Durchbringen des Geldes und, wenn dieses auf die Neige ging, hin und wieder auf eine Fahrt zu Herrn Ralph Nickleby, um sich von ihm nach Abzug der geeigneten Prozente Vorschüsse auf die Kundenrechnungen geben zu lassen.

»Mein Leben«, sagte Herr Mantalini, »was für eine teufelmäßig lange Zeit haben wir auf dich warten müssen?«

»Ich konnte nicht wissen, daß Herr Nickleby hier ist, mein Schatz«, versetzte Madame Mantalini.

»Dann muß der Diener ein doppelt verteufelter, höllischer Spitzbube sein, meine Seele«, entgegnete Herr Mantalini.

»Das ist deine eigene Schuld, mein Teurer«, sagte Madame Mantalini.

»Meine Schuld, du Freude meines Herzens?«

»Gewiß«, erwiderte die Dame. »Was kannst du erwarten, mein Teuerster, wenn du den Menschen nicht zurechtweisen willst.«

»Den Menschen zurechtweisen, du Wonne meiner Seele?«

»Ja, es tut wahrlich recht not, daß man ein ernstes Wort mit ihm spricht«, schmollte Madame Mantalini.

»Sei nur nicht ungehalten«, sagte Herr Mantalini, »beim Teufel, er soll gepeitscht werden, bis er nach Gott schreit.«

Mit diesem Versprechen küßte Herr Mantalini Madame Mantalini und kniff nach diesem Zärtlichkeitsergusse Madame Mantalini scherzhaft ins Ohr, worauf man sich denn herabließ, zu Geschäftssachen überzugehen.

»Nun, Madame«, sagte Ralph, der diesen Vorgängen mit einer Verachtung zugesehen hatte, wie sie nur wenige Menschen in ihren Blicken auszudrücken vermögen, »dies ist meine Nichte.«

»Ah, richtig, Herr Nickleby«, versetzte Madame Mantalini, indem sie Käthchen von dem Kopfe bis zu den Füßen und wieder zurück besichtigte, »können Sie französisch sprechen, mein Kind?«

»Ja, Madame«, entgegnete Käthchcn, ohne es zu wagen, ihre Blicke aufzuschlagen; denn sie fühlte, daß die Augen des widerlichen Mannes im Schlafrock auf sie gerichtet waren.

»Auch so geläufig, wie eine verteufelte Französin?« fragte der Herr Gemahl.

Fräulein Nickleby gab hierauf keine Antwort, sondern wandte dem Frager den Rücken zu, als ob sie willens sei, nur auf das zu antworten, was Madame Mantalini sie fragen würde.

»Wir haben dauernd zwanzig junge Mädchen in unserem Geschäft«, sagte Madame.

»Wirklich, Madame?« versetzte Käthchen schüchtern.

»Ja, und auch einige verdammt schöne darunter«, sagte der Herr.

»Mantalini!« rief seine Gattin in verweisendem Tone.

»Abgott meines Lebens!« entgegnete Mantalini.

»Willst du mir das Herz brechen?«

»Nicht um zwanzigtausend Hemisphären, bevölkert mit – mit – mit kleinen Ballettänzerinnen«, erwiderte Herr Mantalini in poetischem Schwung.

»Du wirst’s aber tun, wenn du fortfährst, in dieser Weise zu sprechen«, sagte seine Gattin. »Was wird Herr Nickleby denken, wenn er so etwas mit anhören muß.«

»O, nichts, Madame«, fiel Ralph ein. »Ich kenne seine liebenswürdige Weise und auch die Ihrige. Weiter nichts, als kleine Bemerkungen, die Ihrer täglichen Unterhaltung einen pikanten Beigeschmack geben – Liebeshändel, die die häuslichen Freuden versüßen, wenn diese langweilig werden wollen – das ist alles, das ist alles.«

Wenn eine eiserne Tür mit ihren Angeln in Streit geraten und den Entschluß fassen könnte, sich grimmig langsam zu öffnen und die Feinde, um die sie sich dreht, in Staub zu zermalmen, so könnten die Töne kaum unangenehmer sein als die Worte, die Ralph in rauher und bitterer Stimme aussprach. Selbst Mantalini fühlte ihren Einfluß und drehte sich erschrocken mit dem Ausruf um:

»Welch ein verteufelt abscheuliches Krächzen!«

»Achten Sie nicht auf das, was Herr Mantalini sagt«, bemerkte Madame gegen Fräulein Nickleby.

»Das geschieht, Madame«, sagte Käthchen mit ruhiger Verachtung.

»Herr Mantalini kommt mit den jungen Frauenzimmern im Hause durchaus in keine Berührung«, fuhr Madame Mantalini, mit einem Blicke nach ihrem Gatten, gegen Käthchen fort. »Hat er eine von ihnen gesehen, so muß es auf der Straße gewesen sein, wenn sie von oder zu ihrer Arbeit gingen, in keinem Falle aber im Haus; denn ich gestatte nicht, daß er je in das Arbeitszimmer kommt. An was für Arbeitsstunden sind Sie gewöhnt?« –

»Ich bin überhaupt vorderhand noch gar nicht an die Arbeit gewöhnt, Madame«, antwortete Käthchen schüchtern.

»Und eben deshalb wird sie jetzt um so fleißiger arbeiten«, fiel Ralph ein, damit dieses Geständnis die Verhandlung nicht beeinträchtige.

»Ich hoffe das«, entgegnete Madame Mantalini. »Unsere Stunden sind von neun bis neun, auch noch länger, wenn wir mit Arbeit überhäuft sind, was aber dann besonders bezahlt wird.«

Käthchen nickte mit dem Kopf, um anzudeuten, daß sie mit dem Gehörten zufrieden wäre.

»Die Kost«, fuhr Madame Mantalini fort, »das heißt, Mittagessen und Tee erhalten Sie hier. Ihr Lohn wird sich durchschnittlich auf etwa fünf bis sieben Schillinge für die Woche belaufen. Ich kann mich jedoch hierüber noch nicht mit Bestimmtheit aussprechen, bis ich gesehen habe, was Sie zu leisten imstande sind.«

Käthchen nickte abermals.

»Wenn Sie kommen wollen«, fügte Madame Mantalini bei, »so ist’s am besten, wenn Sie Montag morgens punkt neun Uhr anfangen. Ich will Mamsell Knag, der ersten Arbeiterin, den Auftrag geben, daß sie Ihnen für den Anfang leichtere Geschäfte anweist. Haben Sie noch etwas zu wünschen, Herr Nickleby?«

»Nichts mehr, Madame«, versetzte Ralph aufstehend.

»Dann glaube ich, daß wir alles verhandelt haben.«

Nach diesen Worten sah Madame Mantalini nach der Tür, als wünsche sie sich zu entfernen. Aber sie zögerte noch, und es schien, als sei sie nicht willens, ihrem Gemahl die Ehre, den Besuchenden das Geleit zu geben, allein zu überlassen. Ralph half ihr jedoch aus der Not, indem er sich unverzüglich verabschiedete. Madame Mantalini erkundigte sich vorher noch gnädigst, warum man so selten die Ehre seines Besuches hätte, und Herr Mantalini verteufelte im Hinuntergehen mit großer Zungengeläufigkeit die Stiegen, in der Hoffnung, Käthchcn zu veranlassen, sich noch einmal umzusehen – eine Hoffnung, die jedoch das Resultat hatte, unerfüllt zu bleiben.

»So«, sagte Ralph, als sie auf die Straße traten; »jetzt wäre für dich gesorgt.«

Käthchen wollte ihm abermals danken, aber er fiel ihr ins Wort.

»Ich hatte den Gedanken«, sagte er, »deine Mutter in einer hübschen Gegend auf dem Lande unterzubringen –« er hatte nämlich das Recht, für etliche Stellen in den Armenhäusern an der Grenze von Kornwall Bedürftige vorzuschlagen, was ihm bei dieser Gelegenheit mehr als einmal in den Sinn gekommen war – »da ihr aber beisammenbleiben wollt, so muß ich sehen, wie sich’s anders machen läßt. Sie hat noch ein wenig Geld?«

»Sehr wenig«, versetzte Käthchen.

»Auch wenig wird weit reichen, wenn man sparsam damit umgeht«, entgegnete Ralph. »Sie muß es eben so gut wie möglich strecken; die Hausmiete soll sie nichts kosten. Ihr zieht am nächsten Samstag aus?«

»Sie sagten uns, daß wir es tun sollten, Onkel.«

»Ja; ich habe gegenwärtig ein leeres Haus, wo ich euch unterbringen kann, bis es vermietet ist, und dann steht mir vielleicht noch ein anderes zu Gebot, wenn sich nicht etwa die Umstände ändern. Ihr müßt vorderhand dort euren Aufenthalt nehmen.«

»Ist es weit von hier, Sir?« fragte Käthchen.

»Ziemlich weit«, antwortete Ralph: »in einem andern Teil der Stadt – an dem östlichen Ende. Aber ich will euch Samstag abend, um fünf Uhr meinen Schreiber schicken, der euch hinführen kann. Adieu. Du weißt doch den Weg? Geradeaus!«

Ralph verließ seine Nichte an dem Eingang der Regentstraße mit einem kalten Händedruck und bog unter fortwährenden Entwürfen des Gelderwerbs in eine Nebengasse ein, während Käthchen traurig nach ihrer Wohnung zurückging.

Elftes Kapitel.


Elftes Kapitel.

Herr Newman Noggs führt Frau und Fräulein Nickleby nach ihrer neuen Behausung in der City.

Käthchens Betrachtungen auf ihrem Heimweg waren von jener zaghaften Beschaffenheit, wie sie die Begebnisse des Morgens recht wohl hervorzurufen imstande waren. Das Benehmen ihres Onkels war nicht geeignet, die Zweifel und Bedenklichkeiten, die sich ihr bereits von Anfang an aufgedrungen hatten, zu zerstreuen, ebensowenig als sie der Blick, den sie in Madame Mantalinis Etablissement geworfen hatte, ermutigen konnte. Sie sah daher mit manchen düsteren Ahnungen und einem schweren Herzen dem Beginn ihrer neuen Laufbahn entgegen.

Wären Worte des Trostes imstande gewesen, ihr Gemüt in eine angenehmere und beneidenswertere Stimmung zu versetzen, so hätte dieses notwendig der Fall sein müssen, da es ihre Mutter an solchen durchaus nicht fehlen ließ. Diese gute Dame hatte sich während der Abwesenheit ihrer Tochter auf zwei authentische Fälle von Putzmacherinnen besonnen, die ein beträchtliches Vermögen besaßen, obgleich sie nicht mit Bestimmtheit anzugeben wußte, ob sie dieses ganz durch ihr Geschäft erworben und nicht vielleicht mit einem leidlichen Kapital angefangen hatten, oder ob sie so glücklich gewesen waren, eine vorteilhafte Partie zu treffen. Doch mochte dem sein, wie ihm wollte, jedenfalls konnte doch – wie sie sehr logisch bemerkte – irgendeine junge Person in diesem Geschäft, ohne etwas zum Anfang zu besitzen, ihr Glück gemacht haben, und wenn man diese Annahme gelten ließ, warum sollte das nicht auch bei Käthchen der Fall sein können? Fräulein La Creevy, die zu dem Familienrat hinzugezogen wurde, wagte es zwar, einiges Bedenken zu äußern, ob es wohl wahrscheinlich sei, daß Fräulein Nickleby in den Grenzen einer gewöhnlichen Lebensdauer dieses glückliche Ziel zu erreichen vermöge. Aber die gute Witwe schlug diese Frage dadurch zurück, daß sie erklärte, sie hätte in dieser Beziehung eine Ahnung – eine Art zweiten Gesichts, womit sie vordem jeden Beweisgrund des hingeschiedenen Herrn Nickleby zu Paaren zu treiben pflegte und diesen in zehn Fällen neun- und dreiviertelmal zu einem verkehrten Schritte verleitete.

»Ich fürchte nur, daß diese Beschäftigung nachteilig auf die Gesundheit einwirkt«, meinte Fräulein La Creevy. »Ich erinnere mich, daß mir, als ich zu malen anfing, drei junge Putzmacherinnen saßen, und daß alle sehr blaß und kränklich aussahen.«

»O das kann nicht als allgemeine Regel gelten«, bemerkte Frau Nickleby, »denn ich erinnere mich noch so gut, als wäre es gestern geschehen, daß ich mir zur Zeit, als die Scharlachmäntel Mode waren, einen solchen machen ließ, und daß mir bei dieser Gelegenheit eine Putzmacherin empfohlen wurde, die ein sehr rotes Gesicht – ja, ein sehr rotes Gesicht hatte.«

»Vielleicht trank sie«, meinte Fräulein La Creevy.

»Ich weiß nicht, wie sie es damit hielt«, versetzte Frau Nickleby; »aber ich weiß, daß sie ein sehr rotes Gesicht hatte, und somit ist Ihre Behauptung aus dem Felde geschlagen.«

In dieser Weise und mit ähnlichen schlagenden Beweisen wies die würdige Dame jeden kleinen Einwurf zurück, der sich dem Plan des Morgens entgegenstellte. Glückliche Frau Nickleby! Ein Projekt brauchte nur neu zu sein, um ihrem Geiste in den glänzendsten Farben zu erscheinen.

Als diese Frage bereinigt war, teilte Käthchen ihrer Mutter das Verlangen des Onkels, ihre gegenwärtige Wohnung zu verlassen, mit; und Frau Nicklcby ging mit der gleichen Bereitwilligkeit darauf ein, indem sie die charakteristische Bemerkung beifügte, daß es ihr an schönen Abenden eine angenehme Erholung gewähren würde, ihre Tochter aus dem Westend abzuholen. Sie vergaß aber dabei auf eine gleich charakteristische Weise, daß es fast in jeder Woche des Jahres auch regnerische Abende und schlechtes Wetter gebe.

»Es tut mir leid – in der Tat recht leid, Sie verlassen zu müssen, meine gnädige Freundin«, sagte Käthchen, auf die das wohlwollende Gemüt der Miniaturmalerin einen tiefen Eindruck gemacht hatte.

»Sie sollen mich trotzdem nicht verlieren«, versetzte Fräulein La Creevy mit aller Lebhaftigkeit, die ihr zu Gebote stand. »Ich werde Sie sehr oft besuchen, um zu hören, wie es Ihnen geht; und wenn es in ganz London und noch obendrein in der ganzen weiten Welt kein Herz geben sollte, das an Ihrem Wohle aufrichtigen Anteil nimmt, so sollen Sie doch eines in dem Busen eines kleinen alleinstehenden weiblichen Wesens finden, das jeden Tag und jede Nacht seine Gebete für Sie gen Himmel schickt.«

Bei diesen Worten schnitt die gute Seele, die ein Herz, groß genug für Gog, den Schutzgeist von London, und für Magog2 obendrein, besaß, eine Menge wundersamer Gesichter, die ihr, wenn sie diese festgehalten haben würde, ein großes Vermögen gesichert hätten, und setzte sich dann in eine Ecke, um ihren Gefühlen in Tränen Luft zu machen.

Aber weder Tränen noch Worte noch Hoffen noch Furcht konnten den gefürchteten Samstag abend und mit ihm Newman Noggs abhalten. Der letztere hinkte gerade in dem Augenblick, als die Kirchturmuhren der Nachbarschaft, die in der Zeit miteinander übereinstimmten, fünf schlugen, gegen die Haustür heran und hauchte seinen von Branntwein geschwängerten Atem durch das Schlüsselloch. Mit dem letzten Glockenschlag klopfte er.

»Von Herrn Ralph Nickleby«, kündigte sich Newman, als er die Stiege heraufgekommen, mit möglichster Kürze an.

»Wir werden im Augenblick bereit sein«, sagte Käthchen. »Wir haben zwar nicht viel mitzunehmen, aber ich fürchte doch, daß wir eine Kutsche brauchen werden.«

»Ich will eine holen«, versetzte Newman.

»O, nicht doch. Sie sollen sich nicht bemühen«, entgegnete Frau Nickleby.

»Aber ich will«, sagte Newman.

Es ist nicht daran zu denken, daß wir Sie in dieser Weise behelligen«, erwiderte Frau Nickleby.

»Sie können’s nicht hindern«, sagte Newman.

»Nicht hindern?«

»Nein. Ich dachte schon auf dem Herwege daran, aber ich nahm keine mit, weil ich glaubte, Sie möchten noch nicht fertig sein. Ich denke an gar viele Dinge. Niemand kann das wehren.«

»Ah, ich verstehe Sie jetzt, Herr Noggs«, sagte Frau Nickleby; »Gedanken sind natürlich frei, und es ist klar, daß jeder denken kann, was er will.«

»Sie würden es nicht sein, wenn gewisse Leute es ändern könnten«, murmelte Newman.

»Sie haben recht, Herr Noggs«, versetzte Frau Nickleby; »es gibt gewisse Leute, die sogar die Gedanken zwingen möchten. Was macht Ihr Prinzipal?«

Newman ließ einen vielsagenden Blick nach Käthchen gleiten und erwiderte mit einer starken Betonung des Nachsatzes seiner Antwort, daß Herr Ralph Nickleby wohlauf wäre und herzlich grüßen ließe.

»Wir sind ihm in der Tat sehr zu Dank verpflichtet«, bemerkte Frau Nickleby.

»Allerdings«, versetzte Newman; »ich will’s ihm ausrichten.«

Es war in der Tat nicht leicht, Newman Noggs zu vergessen, wenn man ihn einmal gesehen hatte, und als ihn Käthchen, veranlaßt durch das Seltsame seines Benehmens, das übrigens bei der gegenwärtigen Veranlassung ungeachtet seiner abgebrochenen Redeweise etwas Ehrerbietiges und sogar Zartes hatte, genauer betrachtete, so erinnerte sie sich, diese sonderbare Gestalt schon früher flüchtig wahrgenommen zu haben.

»Entschuldigen Sie meine Neugierde«, sagte sie, »aber habe ich Sie nicht schon an dem Morgen, als mein Bruder nach Yorkshire abreiste, in dem Posthofe gesehen?«

Newman warf einen ausdrucksvollen Blick auf Frau Nickleby und erwiderte mit kecker Stirne:

»Nein.«

»Nicht?« rief Käthchen: »und doch hätte ich mir getraut, es allenthalben zu behaupten.«

»Sie würden dann eine Unwahrheit behauptet haben«, erwiderte Newman. »Ich gehe heute seit drei Wochen das erstemal wieder aus; denn ich lag an der Gicht danieder.«

Newman hatte nichts weniger als das Aussehen eines mit der Gicht Behafteten, und auch Käthchen konnte sich dieses Gedankens nicht erwehren. Die weitere Erörterung wurde aber durch Frau Nickleby abgeschnitten, die darauf bestand, daß die Tür geschlossen würde, um Herrn Noggs keiner Erkältung auszusetzen, worauf sie ein Dienstmädchen nach einer Kutsche fortzuschicken beschloß, um besagtem Herrn einen möglichen Rückfall seiner Krankheit zu ersparen. Newman mußte nachgeben.

Der Wagen ließ nicht lange auf sich warten, und nach vielen tränenreichen Lebewohls und vielem geschäftigen Hin- und Herrennen von seiten des Fräulein La Creevy, in dessen Verlaufe der gelbe Turban in manche gewaltsame Berührung mit den Vorübergehenden kam, fuhr er – nicht der Turban, sondern der Wagen – mit den beiden Damen und ihrem Gepäck wieder ab. Newman hatte seinen Sitz auf dem Bock bei dem Kutscher genommen, ohne sich durch die Versicherungen der Frau Nickleby, daß es sein Tod sein könnte, beirren zu lassen.

Der Stromseite folgend gelangten sie in die City und machten nach einer langen und sehr langsamen Fahrt – denn in die Straßen drängten sich zu dieser Zeit Fuhrwerke aller Art – vor einem großen, alten, von Rauch geschwärzten Hause in der Themsestraße halt. Die Türen und Fenster desselben waren indessen so mit Kot bespritzt, daß es den Anschein hatte, als sei es seit Jahren nicht bewohnt worden.

Newman öffnete die Tür dieser verlassenen Wohnung mit einem Schlüssel, den er aus seinem Hute nahm – wir bemerken beiläufig, daß er in diesem wegen des schadhaften Zustandes seiner Taschen alles aufbewahrte und höchstwahrscheinlich auch sein Geld hier untergebracht haben würde, wenn er welches gehabt hätte – und ging, nachdem der Kutscher abgefertigt war, in das Innere der Behausung voran.

Es war ein altes, schwarzes, düsteres Nest, und ebenso waren auch die Zimmer, in denen sich ehedem so viel rühriges und geschäftiges Leben abgespielt hatte. An der Hinterseite befand sich ein Landungsplatz der Themse. Eine leere Hundehütte, einige Knochen, Reste von eisernen Reifen und alte Faßdauben lagen zerstreut umher: aber nirgends zeigten sich Spuren von Leben – alles ein kaltes, trauriges Bild des Verfalls.

»Es ist hier so drückend und beklemmend«, sagte Käthchen, »als ob das Haus unter irgendeinem schlimmen Einfluß stünde. Wenn ich abergläubisch wäre, so möchte ich fast glauben, daß in diesen alten Mauern irgendein schreckliches Verbrechen verübt wurde, und daß der Ort seitdem nicht mehr gedeihen konnte. Wie finster und düster hier alles aussieht!«

»Um Gotteswillen, meine Liebe«, versetzte Frau Nickleby, »rede nicht so, wenn ich mich nicht zu Tode fürchten soll.«

»Ach, Mama, es ist nur eine törichte Einbildung von mir«, sagte Käthchen, ein Lächeln erzwingend.

»Nun, so wünsche ich, meine Liebe, du behieltest solche törichte Einbildungen für dich und wecktest nicht auch meine törichten Einbildungen, um den deinen Gesellschaft zu leisten«, entgegnete Frau Nickleby. »Warum dachtest du denn nicht an all das früher? Du sorgst auch für gar nichts. Wir hätten Fräulein La Creevy um ihre Gesellschaft bitten oder einen Hund borgen oder tausend andere Dinge tun können. Aber so bist du – gerade wie dein armer seliger Vater. Wenn nicht ich an alles dächte – –«

So pflegte Frau Nickleby gewöhnlich ein allgemeines Klagelied zu beginnen, das sich durch ein Dutzend oder mehr verwickelter Sätze durchwand, die eigentlich an niemanden gerichtet waren, und in denen sie sich auch jetzt erging, bis ihr der Atem versagte.

Newman schien diese Bemerkungen nicht zu hören, sondern führte Mutter und Tochter nach ein paar Gemächern in dem ersten Stock, die man etwas wohnlich zu machen versucht hatte. In dem einen waren ein paar Stühle, ein Tisch, ein alter Teppich vor dem Herd und ein Feuer auf dem Kaminroste, in dem andern stand ein altes Feldbett und einige Schlafzimmergerätschaften.

»Nun, meine Liebe«, sagte Frau Nickleby, die sich Mühe gab, heiter zu sein, »erkennst du hier nicht die Umsicht und Sorgfalt deines Onkels? Ohne sie würden wir nichts getan haben als das Bett, das wir gestern kauften.«

»In der Tat, sehr gütig«, versetzte Käthchen umherblickend.

Newman Noggs sagte nicht, daß er die alten Möbel, die sie sahen, aus allen Ecken und Enden zusammengesucht, die auf dem Gesims stehende Milch zum Tee aus seinem eigenen Beutel bezahlt, den rostigen Kessel über dem Feuer gefüllt, die Holzspäne auf dem Hof hinter dem Hause gesammelt und die Kohlen erbettelt hatte. Aber der Gedanke, daß alles dieses in Ralph Nicklebys Auftrage geschehen sei, wollte ihm so gar wenig zusagen, daß er es sich nicht versagen konnte, nacheinander mit allen zehn Fingern zu knacken, was Frau Nickleby freilich anfangs etwas verblüffte. Da sie aber vermutete, es möchte in irgendeiner entfernten Beziehung zu seinem Gichtleiden stehen, so erlaubte sie sich keine Bemerkung.

»Wir dürfen Sie, glaube ich, nicht länger aufhalten«, sagte Käthchen.

»Haben Sie nichts mehr für mich zu tun?« fragte Newman.

»Nichts: ich danke Ihnen«, versetzte Fräulein Nickleby.

»Vielleicht, meine Liebe, hat Herr Noggs die Gefälligkeit, ein Glas auf unsere Gesundheit zu trinken«, fiel Frau Nickleby ein, indem sie in ihrem Strickbeutel nach einem kleinen Geldstück suchte.

»Ich fürchte, Mama«, entgegnete Käthchen stockend, als sie Newmans abgekehrtes Gesicht bemerkte, »Sie werden seine Gefühle verletzen, wenn Sie ihm etwas anbieten.«

Newman Noggs verbeugte sich gegen die junge Dame – mehr in der Weise eines Gentlemans als in der, wie sie für den armen Elenden, den sein Äußeres bekundete, zu passen schien. Er legte die Hände auf seine Brust, blieb eine Weile mit der Miene eines Mannes, der gerne sprechen möchte und nicht weiß, wie er’s angehen soll, stehen, wandte sich dann um und verließ das Zimmer.

Das schrille Echo der in ihr Schloß einklappenden schweren Haustür tönte so traurig durch das Gebäude, daß sich Käthchcn halb und halb versucht fühlte, den Schreiber ihres Onkels wieder zurückzurufen und ihn zu bitten, noch ein wenig zu verweilen. Aber sie schämte sich ihrer Besorgnisse, und so wanderte Newman Noggs seiner Heimat zu.

Zwölftes Kapitel.


Zwölftes Kapitel.

Teilt dem Leser mit, welchen Verlauf Fräulein Fanny Squeers‘ Liebe nahm

Es war ein glücklicher Umstand für Fräulein Fanny Squeers, daß ihr würdiger Papa, als er an dem Tag der kleinen Teepartie spät nach Haus kam, »zu sehr angezündet hatte«, um die zahlreichen Merkmale des höchsten Verdrusses zu gewahren, die sich unverhüllt in ihren Zügen aussprachen. Da er jedoch, wenn er zuviel im Oberstübchen sitzen hatte, ziemlich ungestüm und streitsüchtig war, so hätte es leicht der Fall sein können, daß er sich über den nächsten besten aus der Luft gegriffenen Gegenstand mit der Tochter überworfen hätte, wenn diese junge Dame nicht mit einer höchst empfehlenswerten, klugen Vorsicht darauf bedacht gewesen wäre, zur Ableitung des ersten Unwetters einen Knaben parat zu halten. Als sich dieses in der Form von Fußtritten und Fauststößen entladen hatte, beruhigte sich der Ehrenmann allmählich soweit, daß er sich überreden ließ, zu Bett zu gehen, was er denn auch gestiefelt und mit seinem Regenschirm unter dem Arm tat.

Das ausgehungerte Dienstmädchen begleitete Fräulein Squeers wie gewöhnlich nach dem Schlafgemach, um ihr daselbst das Haar zu wickeln, sonstige kleine Toilettendienste zu verrichten und ihr so viele Schmeicheleien zu sagen, wie sie aufzubringen vermochte; denn Fräulein Squeers war träge und überhaupt eitel und leichtfertig genug, um eine vornehme Dame abzugeben, wie sie sich denn auch in nichts als in den bloß durch eine ungerechte Willkür bestimmten Auszeichnungen des Ranges und der Stellung von einer solchen unterschied.

»Wie schön sich Ihr Haar diesen Abend kräuselt, Fräulein«, sagte das Kammerkätzchen. »Es ist in der Tat jammerschade, es auszukämmen!«

»Halts Maul!« versetzte Fräulein Squeers zornig.

Dem Mädchen war etwas der Art schon viel zu oft vorgekommen, um durch diesen Ausbruch übler Laune von seiten ihrer Gebieterin überrascht zu werden; und da sie halb und halb eine Vermutung von den Ereignissen des Abends hatte, so änderte sie ihren Operationsplan, mit dem sie sich angenehm zu machen gedachte, indem sie einen indirekten Weg einschlug.

»Ach, Fräulein«, sagte das Mädchen, »ich kann mir nicht helfen, aber es muß heraus, und wenn Sie mich umbringen sollten. In meinem ganzen Leben ist mir nie jemand von so ordinärem Aussehen vorgekommen, wie diesen Abend Fräulein Price.«

Fräulein Squeers seufzte und nahm eine horchende Stellung an.

»Ich weiß, es ist sehr unrecht von mir, daß ich so spreche, Fräulein«, fuhr da« Mädchen fort, hocherfreut, als sie bemerkte, daß ihre Worte Eindruck machten, »denn Fräulein Price ist Ihre Freundin und Ihr alles; aber sie putzt sich so heraus und bemüht sich, auf eine so anstößige Weise in die Augen zu fallen, daß – aber meinetwegen – wenn sich die Leute nur auch selbst sehen könnten.«

»Was meinst du damit, Phib?« fragte Fräulein Squeers, in ihren eigenen Handspiegel sehend, wo sie, wie die meisten von uns, nicht sich selbst, sondern den Reflex eines anmutigen Bildes ihrer Einbildungskraft erblickte.

»Was läßt dich so sprechen?«

»Was mich so sprechen läßt, Fräulein? Ach, es ist genug vorhanden, daß darob sogar ein alter Kater französisch sprechen könnte,« versetzte die Zofe. »Man darf sie nur ansehen, wie sie den Kopf hin und her wirft.«

»Sie wirft allerdings den Kopf hin und her«, bemerkte Fraulein Squeers mit zerstreuter Miene.

»So eitel, und doch so gar nichts an ihr!« sagte das Mädchen.

»Arme Thilda!« seufzte Fräulein Squeers mitleidig.

»Und wie tief ausgeschnitten sie ihr Kleid trägt, nur um sich bewundern zu lassen«, fuhr die Dienerin fort. »Mein Gott, sie treibt die Schamlosigkeit aufs äußerste!«

»Ich darf solche Äußerungen nicht gestatten, Phib«, sagte Fräulein Squeers. »Thildas Verwandte sind geringe Leute, und wenn sie es nicht besser weiß, so ist es die Schuld ihrer Familie und nicht die ihre.«

»Wohl«, sagte Phöbe, welchen Namen Fräulein Squeers, wenn sie guter Laune war, in Phib verwandelte; »aber könnte sie sich da nicht eine Freundin zum Muster nehmen? Ach, welch ein nettes Mädchen könnte mit der Zeit aus ihr werden, wenn sie sich nach Ihnen richten wollte und einmal einsehen lernte, was für üble Wege sie einschlägt.«

»Phib«, versetzte Fräulein Squeers mit würdevoller Miene, »es ziemt sich nicht, daß ich solche Vergleichungen anhöre; sie machen Thilda zu einer gewöhnlichen und unanständigen Person, und es könnte unfreundlich von mir scheinen, wenn ich ihnen mein Ohr leihen wollte. Sprechen wir daher von etwas anderem, Phib, denn obgleich ich sagen muß, daß Thilda Price, wenn sie sich irgend jemand zum Muster nehmen wollte – ich meine nicht gerade mich – –«

»O ja, gerade Sie, Fräulein«, fiel Phib ein.

»Nun, meinetwegen mich, wenn du’s so haben willst«, fuhr Fräulein Squeers fort. »Ich muß sagen, daß sie, wenn sie das tun wollte, bei weitem besser fahren würde.«

»Ja, und ich müßte mich sehr irren, wenn nicht noch jemand anders der gleichen Meinung wäre«, versetzte das Mädchen geheimnisvoll.

»Was willst du damit sagen?« fragte Fräulein Squeers.

»Nichts Besonderes, Fräulein«, antwortete das Mädchen; »aber genug – ich weiß, was ich weiß.«

»Phib«, entgegnete Fräulein Squeers mit theatralischem Anstand, »ich bestehe darauf, daß du dich näher erklärst. Was sollen diese geheimnisvollen Worte? Sprich!«

»Nun, wenn Sie es durchaus so haben wollen, Fräulein, so muß ich schon Farbe bekennen«, erwiderte die Zofe. »Herr Johann Browdie ist der gleichen Ansicht mit Ihnen, und wenn er nicht schon zu weit gegangen wäre, um mit Ehren zurücktreten zu können, so würde er die Mamsell Price mit Freuden laufen lassen und bei Fräulein Squeers anzukommen suchen.«

»Gerechter Gott!« rief Fräulein Squeers, mit großer Würde die Hände zusammenschlagend. »Was ist das?«

»Die Wahrheit, Fräulein, nichts als die lautere Wahrheit«, erklärte die schlaue Phöbe.

»Welch eine Lage«, rief Fräulein Squeers. »So bin ich also, ohne es selbst zu wissen, drauf und dran, das Glück und den Frieden meiner lieben Thilda zu zerstören. Was ist doch der Grund, daß die Männer, ich mag wollen oder nicht, sich in mich verlieben und um meinetwillen ihren erkorenen Bräuten abtrünnig werden?«

»Der Grund liegt nahe, Fräulein – sie können nicht anders«, versetzte das Mädchen.

Wenn Fräulein Squeers der Grund war, so lag er allerding sehr nahe.

»Rede mir nie wieder so«, entgegnete Fräulein Squeers, »nie wieder – hörst du? Thilda Price hat Fehler – viele Fehler –, aber ich will ihr Wohl und wünsche vor allem, daß sie unter die Haube kommt, denn es ist ihr zu gönnen – besonders wegen der Beschaffenheit ihrer Mängel zu gönnen, daß sie je eher, je lieber einen Mann kriegt. Nein, Phib, sie soll nur ihren Browdie nehmen. Der arme Bursche dauert mich zwar, aber ich betrachte Thilda noch immer für meine Freundin, und ich hoffe nur, daß sie sich als Ehefrau besser macht, als es wahrscheinlich der Fall sein wird.«

Nach diesem Ergüsse ihrer Gefühle schlüpfte Fräulein Squeers in die Federn.

Groll ist ein kleines Wörtchen, aber es enthält ein so seltsames Gemisch von Gefühlen und Mißtönen als vielleicht das silbenreichste Wort unserer Sprache. Fräulein Squeers wußte in ihrem Innersten ebensogut wie ihre Dienerin, daß alles, was dieses armselige Geschöpf gesagt hatte, nichts als grobe, lügenhafte Schmeichelei war. Aber schon die Gelegenheit, einem bißchen Bosheit gegen ihre Beleidigerin Luft zu machen und gegen die Mängel und Schwächen derselben Mitleid zu heucheln – wäre es auch nur in Gegenwart eines elenden Dienstmädchens – gewährte ihrer üblen Laune eine fast ebenso große Erleichterung, als wenn alles, was zur Sprache kam, reinste Wahrheit gewesen wäre. Die Macht der Selbsttäuschung geht noch außerdem in Stunden der Aufregung so weit, daß Fräulein Squeers sich in ihrem edlen Verzicht auf Johann Browdies Hand ordentlich als groß und erhaben erschien und auf ihre Nebenbuhlerin mit einer Art heiliger Ruhe heruntersehen konnte, die nicht wenig zur Besänftigung ihrer wirren Gefühle beitrug.

Diese glückliche Gemütsstimmung übte einigen Einfluß, um den Weg zur Versöhnung zu bahnen, denn als am andern Morgen an die Tür gepocht und die Müllerstochter angekündigt wurde, begab sich Fräulein Squeers mit einer so christlichen Fassung in das Besuchszimmer, daß man es nicht ohne hohe Erbauung mit ansehen konnte.

»Du siehst, Fanny«, sagte die Müllerstochter, »daß ich wieder zu dir komme, obgleich wir gestern abend einigen Wortwechsel miteinander hatten.«

»Ich beklage deine Leidenschaftlichkeit, Thilda«, versetzte Fräulein Squeers, »aber ich bin darüber erhaben, einen Groll im Herzen nachzutragen.«

»Sei nicht böse, Fanny«, sagte Fräulein Price. »Ich komme, um dir eine Mitteilung zu machen, über die du dich, wie ich hoffe, freuen wirst.«

»Was mag das sein, Thilda?« fragte Fräulein Squeers, indem sie die Lippen aufwarf und eine Miene annahm, als ob nichts in Feuer, Wasser, Luft und Erde imstande wäre, ihr auch nur eine Spur des angedeuteten Gefühls zu entlocken.

»Als wir gestern abend dein Haus verließen«, fuhr Fräulein Price fort, »hatte ich mit Johann einen schrecklichen Streit.«

»Das kann mir keine Freude machen«, entgegnete Fräulein Squeers, obgleich sie ein wohlgefälliges Lächeln nicht zu unterdrücken vermochte.

»Lieber Gott, wie könnte ich auch so schlecht von dir denken?« erwiderte ihre Gefährtin; »das ist es nicht.«

»So?« sagte Fräulein Squeers, ihr Gesicht wieder in düsterere Falten legend. »Was weiter?«

»Nachdem wir uns lange herumgezankt und erklärt hatten, daß wir uns nie wieder sehen wollten«, fuhr Fräulein Price fort, »vertrugen wir uns wieder, und Johann ging diesen Morgen hin, um für den nächsten Sonntag das erste Aufgebot zu bestellen. Wir feiern daher in drei Wochen unsere Hochzeit, und ich teile es dir mit, damit du für das Brautjungfernkleid sorgen kannst.«

Dies war Galle und Honig in einem Becher – Galle, weil sie ihre Freundin so bald verheiratet sehen sollte, und Honig, weil ihr dadurch die Gewißheit wurde, daß die Müllerstochter keine ernsthaften Absichten auf Nicolaus unterhielt. Im ganzen wurde jedoch das Bittere durch das Angenehme so weit überwogen, daß Fräulein Squeers sich bereit erklärte, das Brautjungfernkleid machen zu lassen, und zugleich die Hoffnung ausdrückte, Thilda möchte glücklich sein. Man könne freilich nicht voraussehen, ob dies der Fall sein würde, und sie möchte ihr raten, nicht allzusehr darauf zu bauen; denn die Männer wären gar wunderliche Geschöpfe, und viele Frauen befänden sich in einer so traurigen Lage, daß sie sich von ganzem Herzen die schöne Zeit ihrer Mädchenjahre zurückwünschten. Diesen leidigen Trostsprüchen fügte Fräulein Squeers noch einige andere bei, die auf eine nicht minder edle Weise berechnet waren, ihrer Freundin Mut zu machen und ihre Freudigkeit zu erhöhen.

»Um auf etwas anderes zu kommen, Fanny«, sagte Fräulein Price, »ich möchte ein paar Worte wegen des jungen Nickleby mit dir sprechen.«

»Er ist mir gleichgültig«, fiel Fräulein Squeers schnippisch ein; »ich verachte ihn zu sehr.«

»O, das kann unmöglich dein Ernst sein«, versetzte ihre Freundin. »Sei aufrichtig, Fanny – du liebst ihn noch immer?«

Ohne eine direkte Erwiderung zu geben, brach Fräulein Squeers in einen Strom boshafter Tränen aus und rief, daß sie ein elendes, vernachlässigtes, unglückliches, mit Füßen getretenes Wesen sei.

»Ich hasse alle Welt«, schloß Fräulein Squeers ihren leidenschaftlichen Erguß, »und wollte, daß alle Menschen tot wären – ja, das wollte ich.«

»Barmherziger Himmel!« rief Fräulein Price, nicht wenig erschrocken über dieses Zugeständnis menschenfreundlicher Gesinnungen; »doch nein, du kannst unmöglich so im Ernst sprechen!«

»Es ist mein voller Ernst«, versetzte Fräulein Squeers, indem sie mit knirschenden Zähnen feste Knoten in ihr Taschentuch knüpfte; »und ich wollte, daß auch ich tot wäre.«

»Ach, du wirst in fünf Minuten ganz anders denken«, sagte Mathilda. »Wieviel besser würde es sein, ihn wieder in Gnaden aufzunehmen, als dich in dieser Weise selbst zu quälen; und wäre es nicht viel hübscher, ihn unter guten Bedingungen dir wieder ganz zu eigen zu machen, mit ihm zu scherzen, zu kosen und auf die angenehmste Weise mit ihm zu leben?«

»Ich weiß nicht, wie das alles sein würde«, schluchzte Fräulein Squeers. »O Thilda, wie hast du so ehrlos und niederträchtig handeln können? Ich würde es nimmermehr geglaubt haben, wenn ich es nicht selbst gesehen hätte.«

»Aber, aber!« rief Fräulein Price kichernd, »sollte man nicht glauben, ich hätte zum mindesten jemand umgebracht?«

»Es war fast eben so schlecht«, versetzte Fräulein Squeers leidenschaftlich.

»Und alles das, weil ich zufällig gut genug aussehe, um die Leute höflich gegen mich zu machen?« entgegnete Fräulein Price. »Niemand gibt sich sein Gesicht selber, und es ist ebensowenig meine Schuld, wenn ich das meine sehen lassen darf, als es die Schuld anderer Leute ist, wenn man ihnen das nicht nachrühmen kann.«

»Halt dein Maul«, schrie Fräulein Squeers in ihrem schrillsten Tone, »oder du zwingst mich, dich daraufhin zu schlagen, Thilda, was mir hinterdrein doch wieder leid tun würde.«

Wir brauchen nicht zu sagen, daß der Ton der Unterhaltung einigen Einfluß auf die Stimmung der jungen Dame übte, und daß, als Folge davon, der Wortwechsel eine Beimischung von Tätlichkeiten erhielt. In der Tat steigerte sich die Heftigkeit des Streites zusehends und wurde endlich so ungestüm, daß beide Teile in Tränen ausbrachen und gleichzeitig ausriefen, daß sie sich’s nimmermehr gedacht hätten, je einmal einer solchen Behandlung sich aussetzen zu müssen. Dieses führte zu Erörterungen und Gegenvorstellungen, was allgemach einen Ausgleich herbeiführte, und der Schluß war, daß sie sich in die Arme fielen und aufs neue ewige Freundschaft schworen. Wir bemerken hierbei, daß diese rührende Zeremonie nicht die erste, sondern bereits die zweiundfünfzigste im Laufe desselbigen Jahres war.

Da nun das gute Einvernehmen wieder völlig hergestellt war, so kam man auf die Anzahl und die Beschaffenheit der Kleider zu sprechen, die Fräulein Price für ihren Eintritt in den heiligen Stand der Ehe notwendig haben mußte, und Fräulein Squeers wies augenfällig nach, daß in dieser Hinsicht bedeutend mehr getan werden müsse, als der Müller tun konnte oder wollte, wenn man nicht allen Anstand außer Augen zu lassen beabsichtige. Die junge Dame leitete dann mittels eines leichten Übergangs das Gespräch auf ihre eigene Garderobe und führte, nachdem sie ihre Hauptraritäten der Länge nach aufgezählt hatte, ihre Freundin die Stiegen hinauf, damit sie sich persönlich überzeugen könne. Hier wurden nun die Schätze von zwei Kommoden und einem Wandschranke zur Schau gestellt und die kleineren Putzartikel anprobiert, bis es für Fräulein Price Zeit wurde, wieder nach Hause zurückzukehren. Da indes die letztere über die gesehene Pracht ganz entzückt und von Bewunderung einer Rosaschärpe ganz hingerissen war, erklärte Fräulein Squeers in der besten Laune von der Welt, daß sie ihre Freundin noch eine Strecke begleiten wolle, um noch länger das Vergnügen ihrer Gesellschaft zu genießen. Sie verließen daher miteinander das Haus, und während des Spazierganges sprach Fräulein Squeers ein langes und breites über die hohen Eigenschaften ihres Vaters, wobei sie zugleich, um ihrer Freundin einen schwachen Begriff von der ungemeinen Wichtigkeit und Überlegenheit ihrer Familie zu geben, dessen Einkommen verzehnfachte.

Es war gerade die der Erholung gewidmete Zeit zwischen dem Mittagessen und dem Beginne des Unterrichts, die Nicolaus gewöhnlich zu einem Spaziergang benutzte, auf dem er in melancholischem Brüten über seine unglückliche Lage verdrießlich durch das Dorf zu schlendern pflegte. Fräulein Squeers wußte das recht gut, mußte es aber wahrscheinlich vergessen haben; denn als sie den jungen Mann auf sich zukommen sah, ließ sie allerlei Anzeichen von Überraschung und Bestürzung blicken und beteuerte ihrer Freundin, es sei ihr, als ob sie in die Erde sinken müßte.

»Sollen wir umkehren, oder uns geschwind in ein Bauernhaus flüchten?« fragte Fräulein Price. »Er hat uns noch nicht gesehen.«

»Nein, Thilda«, versetzte Fräulein Squeers; »es ist meine Pflicht, mich zu überwinden, und ich will es.«

Fräulein Squeers sagte dies mit einem Tone, als ob sie einen hohen, edlen Entschluß gefaßt hätte, und da sie außerdem den schweren Kampf ihrer Gefühle durch einiges Seufzen und Luftschnappen kundgab, so erlaubte sich ihre Freundin keine weitere Bemerkung. Sie gingen gerade auf Nicolaus zu, der mit zur Erde gesenktem Blicke einherschritt und der beiden Mädchen nicht eher gewahr wurde, als bis sie ihm ganz nahe waren, da er sonst vielleicht selbst irgendwo ein Versteck gesucht haben würde.

»Guten Morgen«, sagte Nicolaus mit einer Verbeugung und ging vorüber.

»Er geht«, flüsterte Fräulein Squeers. »Ach, ich ersticke, Thilda!«

»Ach, Herr Nickleby!« rief Fräulein Price, indem sie tat, als beunruhige sie die Drohung ihrer Freundin, obgleich ihrem Benehmen nur der boshafte Wunsch, mit anzuhören, was Nicolaus sagen würde, zugrunde lag; »ach, Herr Nickleby, kommen Sie doch zurück.«

Herr Nickleby kam zurück und fragte in ziemlicher Verwirrung, womit er den Damen zu Diensten sein könne.

»Halten Sie sich nicht mit Reden auf«, drängte Fräulein Price, »sondern unterstützen Sie sie auf der andern Seite. Wie ist es dir jetzt, meine Liebe?«

»Besser«, seufzte Fräulein Squeer«, indem sie den rötlichbraunen, mit einem grünen Schleier versehenen Biberhut auf Nicolaus Schulter legte. »Ach, diese törichte Schwäche!«

»Nenne sie nicht töricht, meine Liebe«, sagte Mathilda Price, deren leuchtende Augen sich nicht wenig über die Verwirrung des Hilfslehrers lustig machten; «du hast keinen Grund, dich ihrer zu schämen. Diejenigen sollten sich schämen, die zu stolz sind, um sich durch etwas anderes, als solche Auftritte, wieder gutmachen zu lassen.«

»Sie sind, wie ich sehe, willens, mich fortwährend zu necken«, sagte Nicolaus lächelnd, »obgleich ich Ihnen bereits gestern abend sagte, daß ich mir keiner Schuld bewußt bin.«

»Hörst du? – er sagt, er sei sich keiner Schuld bewußt, meine Liebe«, bemerkte Fräulein Price boshaft. »Vielleicht warst du zu eifersüchtig oder zu vorschnell gegen ihn? Er sagt, er sei unschuldig, und ich denke, das ist Entschädigung genug.«

»Sie wollen mich nicht verstehen«, versetzte Nicolaus; »jedenfalls aber bitte ich, mich bei Ihrem Scherz aus dem Spiele zu lassen; denn ich habe keine Zeit und bin in der Tat auch nicht in der Stimmung, in dem gegenwärtigen Augenblick die Zielscheibe oder den Genossen Ihrer Heiterkeit abzugeben.«

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Fräulein Price mit geheucheltem Erstaunen.

»Frage ihn nicht, Thilda«, rief Fräulein Squeers; »ich vergebe ihm.«

»Gütiger Gott!« sagte Nicolaus, als der braune Hut abermals auf seine Schulter sank; »die Sache wird ernsthafter, als ich vermutete. Erlauben Sie – wollen Sie die Güte haben, mich anzuhören?«

Mit diesen Worten hob er den braunen Kastorhut in die Höhe; als er jedoch mit unverhohlenem Erstaunen einem Blicke zärtlichen Vorwurfs von Fräulein Squeers‘ Seite begegnete, trat er einige Schritte zurück, um aus dem Bereiche seiner schönen Bürde zu kommen, und fuhr folgerdermaßen fort:

»Es tut mir sehr leid – gewiß aufrichtig leid, daß ich gestern abend zu einer Mißhelligkeit unter Ihnen Anlaß gab. Ich habe mir selbst schon die bittersten Vorwürfe darüber gemacht, daß ich so unglücklich war, jenes Zerwürfnis zu veranlassen, obgleich ich versichern kann, daß es ohne mein Wissen und ohne meinen Willen geschah.«

»Schon gut, aber das ist gewiß nicht alles, was Sie zu sagen haben«, rief Fräulein Price, als Nicolaus innehielt.

»Ich fürchte es selber auch«, stammelte Nicolaus mit einem halben Lächeln und einem Blick auf Fräulein Squeers. »Es ist allerdings etwas höchst Albernes, aber – nein, schon die bloße Andeutung einer solchen Vermutung läßt einen wie einen Pinsel aussehen, – doch – darf ich fragen, ob diese Dame annimmt, daß ich irgendeine – mit einem Worte, glaubt sie, daß ich in sie verliebt bin?«

»Er ist jetzt köstlich in der Klemme«, dachte Fräulein Squeers; »endlich habe ich ihn soweit. – Antworte für mich, meine Liebe«, flüsterte sie ihrer Freundin zu.

»Ob sie das glaubt?« erwiderte Fräulein Price. »Natürlich glaubt sie es.«

»Sie glaubt es?« rief Nicolaus mit einem Ungestüm, daß man es wohl einen Augenblick für Entzücken nehmen konnte.

»Gewiß«, versicherte Fräulein Price.

»Wenn es Herr Nickleby bezweifelt hat, Thilda«, sagte die errötende Fanny in sanftem Ton, »so mag er sich beruhigen. Seine Gefühle werden erwid–«

»Halten Sie inne«, unterbrach sie Nicolaus hastig; »ich bitte, hören Sie mich. Hier waltet die seltsamste Täuschung, der gröbste Irrtum ob, der je einem Menschen vorgekommen ist. Ich habe das Fräulein kaum ein halb Dutzend Male gesehen, aber wäre dies auch sechzigmal der Fall gewesen, oder wenn ich bestimmt wäre, sie sechzigtausendmal zu sehen, so würde das für mich gewiß ganz das gleiche sein. Es ist mir nie ein Gedanke, ein Wunsch oder eine Hoffnung, die in Verbindung mit ihr stünde, aufgestiegen, es müßte denn – ich sage das übrigens nicht, um ihre Gefühle zu verletzen, sondern um ihr die wahre Beschaffenheit der meinen klarzulegen – es müßte denn etwas der Art in dem Sehnen zu finden sein, das meinem Herzen so nahe wie mein Leben selber liegt, diesem verfluchten Orte eines Tages den Rücken kehren zu können und nie wieder einen Fuß in denselben setzen, oder daran denken – ja nicht einmal anders daran denken zu dürfen als mit Abscheu und Ekel.«

Nach dieser in der Tat ungemein offenen und geraden Erklärung, den er sich mit allem Ungestüm eines entrüsteten und aufgeregten Herzens entledigte, verbeugte sich Nicolaus leicht und entfernte sich, ohne Erwiderung abzuwarten.

Aber das arme Fräulein Squeers! Ihr Ärger, ihr Zorn, ihre Wut und die rasche Aufeinanderfolge bitterer, leidenschaftlicher Gefühle, die durch ihre Seele stürmten – nein, das läßt sich nicht beschreiben. Zurückgewiesen! Zurückgewiesen von einem Hilfslehrer, den man durch eine Zeitungsannonce und durch einen Jahrgehalt von fünf Pfunden, zahlbar in unbestimmten Raten, aufgelesen und hinsichtlich der Kost und Wohnung ganz wie die Knaben selbst gehalten hatte! Und das noch obendrein in Gegenwart eines kleinen Äffchens von Müllerstochter, die ihre achtzehn Jahre zählte und sich in drei Wochen mit einem Manne verheiraten sollte, der sie auf den Knien um ihr Jawort angefleht hatte! Sie hätte bei dem Gedanken an diese Demütigung in der Tat allen Ernstes ersticken mögen.

Aber ungeachtet des Sturmes in ihrem Innern blieb ihr doch eines klar, und dies war, daß sie Nicolaus mit der ganzen Engherzigkeit und Erbärmlichkeit, die eines Abkömmlings aus dem Hause der Squeers würdig war, haßte und verabscheute. Auch blieb ihr noch ein Trost übrig, daß sie nämlich jede Stunde des Tages seinen Stolz verwunden und ihn durch kleine Gehässigkeiten, Kränkungen oder Verkürzungen verletzen konnte, um so mehr, da diese, wenn sie schon auf den Gleichgültigen einen unangenehmen Eindruck üben, von einem so reizbaren Manne, wie Nicolaus, doppelt bitter empfunden werden mußten. Durch diese beiden Betrachtungen gestärkt, suchte Fräulein Squeers die Sache zu ihrem Vorteil zu drehen, indem sie gegen ihre Freundin bemerkte, Herr Nickleby ist ein so wunderlicher Mensch und von so ungestümer Gemütsart, daß sie glaube, sie werde ihn wohl aufgeben müssen; und so trennten sich die beiden Damen.

Wir müssen hier bemerken, daß Fräulein Squeers, als sie ihre Liebe (oder was immer bei ihr dieses Gefühl repräsentierte) auf Nicolaus warf, keinen Augenblick an die Möglichkeit dachte, daß er in dieser Sache mit ihr verschiedener Ansicht sein könnte. Sie glaubte sogar, der junge Mann müsse sich durch den Vorzug, den sie ihm angedeihen ließ, über die Maßen geehrt fühlen; denn sie war ja schön und ansprechend, ihr Vater war der Chef und Nicolaus der Gehilfe, ihr Vater hatte Geld und Nicolaus keins – lauter Gründe, die sich wohl hören ließen. Dabei hatte sie auch recht wohl erwogen, wie angenehm sie ihm seine Lage als Freundin und um wieviel unangenehmer als Feindin machen konnte; und ohne Zweifel würden manche weniger gewissenhafte Leute, als Nicolaus, schon aus diesem sehr augenfälligen Grunde ihre Verirrung ermutigt haben. Nicolaus hielt es jedoch für geraten, anders zu handeln, und Fräulein Squeers war darüber wütend.

»Er mag zusehen«, sagte die aufgebrachte junge Dame, als sie wieder auf ihr Zimmer kam und ihr Inneres durch einen Ausfall auf Phib erleichtert hatte. »Wenn die Mutter zurückkommt, so will ich sie noch mehr gegen ihn aufhetzen.«

Das war kaum nötig, aber Fräulein Squeers machte ihrem Worte keine Unehre. Der arme Nicolaus wurde neben der schlechten Kost, der schmutzigen Wohnung und dem unflätigen Elend, dessen Zeuge er ohne Unterlaß sein mußte, mit jeder Art Herabwürdigung, die Bosheit und der niedrigste Geiz zu ersinnen vermochten, behandelt.

Aber das war noch nicht alles. Es gab noch ein anderes, tieferschneidendes Peinigungssystem, dessen Ungerechtigkeit und Grausamkeit ihn fast zur Verzweiflung brachten.

Der arme Smike folgte, seit Nicolaus einmal des Nachts im Schulzimmer freundlich mit ihm gesprochen hatte, in rastloser Dienstfertigkeit dem Hilfslehrer fast immer auf der Ferse, suchte dessen kleinen Bedürfnissen, soviel es in seinen Kräften lag, zuvorzukommen und fühlte sich glücklich, wenn er nur in seiner Nähe war. Er konnte stundenlang neben ihm sitzen und ihm ruhig ins Gesicht sehen, während ein Wort aus Nicolaus‘ Munde seine kummervollen Züge erheiterte und sogar einen vorübergehenden Strahl von Glück in diesem hervorrief. Er war ein ganz anderes Wesen, denn sein Leben hatte jetzt einen Zweck, nämlich den, der einzigen Person, die ihn – wenn nicht gerade mit Liebe, so doch wie einen Menschen behandelt hatte, seine Anhänglichkeit zu zeigen, obgleich diese Person ihm sonst fremd war.

Über dieses arme Wesen ergoß man nun ohne Unterlaß alle Bosheit und alle üble Launen, die man an Nicolaus nicht auslassen konnte. Die härtesten Knechtesdienste hätte er nicht in Anschlag gebracht, da er an diese von lange her gewöhnt war. Ohrfeigen ohne alle Ursache waren gleichfalls eine Angelegenheit, die sich von selber verstand, denn viele schwere und mühevolle Jahre hatte er nichts anderes gekannt. Kaum hatte man aber bemerkt, daß er eine Anhänglichkeit an Nicolaus zeige, so wurden ihm vom Morgen bis zum Abend nichts anderes als Peitschenhiebe und Faustschläge oder Faustschläge und Peitschenhiebe zuteil. Squeers war eifersüchtig auf den Einfluß, den sein Gehilfe so bald erworben hatte; die Squeerssche Familie haßte ihn, und Smike mußte beides entgelten. Nicolaus sah dieses und knirschte mit den Zähnen bei jeder Wiederholung eines solchen feigen und unmenschlichen Angriffs.

Er hatte einige regelmäßige Lehrstunden für die Knaben angeordnet, und eines Abends, als er in der unheimlichen Schulstube auf und ab ging und ihm das übervolle Herz bei dem Gedanken, daß sein Schutz und sein Wohlwollen das Elend eines höchst beklagenswerten Wesens nur noch vermehrt hätte, fast brechen wollte, blieb er auf einmal unwillkürlich in einer dunklen Ecke, wo der Gegenstand seiner Gedanken saß, stehen.

Der arme Junge saß mit rotgeweinten Augen emsig über einem zerrissenen Buche und mühte sich vergeblich ab, mit einer Aufgabe zustande zu kommen, die ein mit gewöhnlichen Fähigkeiten versehenes Kind von neun Jahren mit Leichtigkeit hätte lösen können, die aber für das verwirrte Gehirn des zertretenen neunzehnjährigen Burschen ein versiegeltes und hoffnungsloses Geheimnis war. Trotzdem saß er da, geduldig das Blatt wieder und wieder durchbuchstabierend, obgleich er nicht durch einen knabenhaften Ehrgeiz (denn er war die gemeinsame Zielscheibe des Spottes für seine ganze ungeschlachte Umgebung), sondern nur durch den eifrigen Wunsch, seinem einzigen Freunde zu gefallen, beseelt wurde.

Nicolaus legte die Hand auf seine Schulter.

»Ich komme nicht damit zustande«, sagte Smike niedergeschlagen, indem er mit einem Schmerzensblicke aufsah. »Nein, es geht nicht.«

»Du mußt dich nicht allzusehr anstrengen«, versetzte Nicolaus.

Smike schüttelte den Kopf, schloß das Buch mit einem Seufzer, stierte ausdruckslos um sich her und legte das Gesicht auf seinen Arm. Er weinte.

»Um Gottes willen, höre auf«, sagte Nicolaus mit erregter Stimme: »ich kann es nicht mit ansehen.«

»Sie sind schlimmer gegen mich als je«, schluchzte der Knabe.

»Leider, leider«, entgegnete Nicolaus.

»Aber für Sie«, fuhr der arme Kerl fort, »könnte ich in den Tod gehen. Ich weiß gewiß, sie haben es darauf abgesehen, mich unter die Erde zu bringen.«

»Du wirst es besser haben, armer Junge«, erwiderte Nicolaus, indem er traurig den Kopf schüttelte, »wenn ich fort bin.«

»Fort?« rief der andere mit einem starren Blicke nach Nicolaus‘ Gesicht.

»Still!« versetzte Nicolaus. »Ja.«

»Sie wollen also gehen?« flüsterte der Knabe angelegentlich.

»Ich kann’s noch nicht sagen«, entgegnete Nicolaus; »ich sprach mehr vor mich selber hin als zu dir.«

»Sagen Sie mir«, flehte der Knabe, »o sagen Sie mir, wollen Sie wirklich gehen – wollen Sie?«

»Sie werden mich endlich dazu zwingen«, antwortete Nicolaus. »Doch die Welt liegt ja offen vor mir.«

»Sagen Sie mir«, drängte Smike, »ist die Welt auch so schlimm und abscheulich wie dieser Ort?«

»Behüte Gott!« sprach Nicolcius, den Lauf seiner eigenen Gedanken verfolgend. »Ihre schwerste und sauerste Arbeit wäre ein Glück gegen das Leben hier.«

»Würde ich Sie dort treffen?« fragte der Knabe ungewöhnlich schnell und leidenschaftlich.

»Ja«, versetzte Nicolaus, in der Absicht, ihn zu beschwichtigen.

»Nein, nein«, sagte der andere, Nicolaus‘ Hand ergreifend, »würde ich – würde ich, – sagen Sie mir’s noch einmal. Geben Sie mir die Versicherung, daß ich Sie gewiß finden würde.«

»Du würdest es«, erwiderte Nicolaus in derselben wohlwollenden Absicht, »und ich würde dir Beistand leisten und nicht neue Leiden über dich bringen, wie ich hier getan habe.«

Smike drückte leidenschaftlich die Hände des jungen Mannes an seine Brust und ließ einige abgebrochene, unverständliche Worte laut werden. In demselben Augenblicke trat Squeers in die Stube und schlich nach seiner gewohnten Ecke.

Siebentes Kapitel.


Siebentes Kapitel.

Meist Prunes und Prism.

Mrs. General, die beständig auf ihrem Kutschbock saß und die Anstandsgefühle tüchtig zusammenhielt, gab sich alle Mühe, ihrer inniggeliebten jungen Freundin eine Außenseite zu verleihen, und Mrs. Generals inniggeliebte Freundin gab sich alle Mühe, sie anzunehmen. So große Mühe sie sich in der arbeitsvollen Zeit ihres Lebens gegeben hatte, viel zu erreichen, größere Mühe hatte sie sich doch nie gegeben als eben jetzt, wo sie sich von Mrs. General firnissen lassen sollte. Es war ihr freilich übel zumute, wenn sie von dieser glättenden Hand an sich herumarbeiten lassen mußte: aber sie ergab sich in die Anforderungen der Familie in ihrer Größe, wie sie sich in die Anforderungen der Familie in ihrer Niedrigkeit gefügt, und achtete dabei auf ihre eigne Neigung so wenig als auf ihren Hunger in jenen Tagen, da sie ihr Mittagessen sich vom Munde abgespart, damit ihr Vater etwas am Abend habe.

Ein Trost, der ihr während dieser strengen Feuerprobe blieb, machte sie stärker und dankbarer, als es einem weniger hingebenden und liebevollen Wesen, das nicht an ihre Kämpfe und Opfer gewöhnt war, billig scheinen mochte: und man kann es wirklich oft im Leben beobachten, daß Gemüter, wie Klein-Dorrit, nicht halb so ängstlich auf Gründe achten wie die Leute, die sie benutzen. Die fortgesetzte Freundlichkeit ihrer Schwester war dieser Trost für Klein-Dorrit. Es war ihr gleichgültig, daß diese Freundlichkeit die Form nachsichtiger Gönnerschaft annahm: sie war daran gewöhnt. Es war ihr gleichgültig, daß sie dadurch in eine untergeordnete Stellung kam und hinter den glänzenden Wagen trat, in dem Miß Fanny auf einem erhabenen Sitze saß und Huldigung erwartete; sie suchte keinen bessern Platz. Fannys Schönheit und Anmut und Geistesgegenwart stets bewundernd, und sich nicht fragend, wieviel von ihrer Neigung, sich Fanny anhänglich zu erweisen, wirklich aus ihrem Herzen kam, und wieviel Fanny daran teilhatte, weihte sie ihr alle schwesterliche Liebe, deren ihr großes Herz fähig war.

Die großartige Einfuhr von Prunes und Prism in das Familienleben, die Mrs. General besorgte, verbunden mit Miß Fannys fortdauerndem Verkehr mit der Gesellschaft, ließen nur noch einen ganz geringen Rest von natürlichem Niederschlag am Boden der Mixtur zurück. Dies machte vertrauliche Gespräche mit Fanny doppelt wertvoll für Klein-Dorrit, und erhöhte den Genuß, den sie ihr brachten.

»Amy«, sagte Fanny zu ihr, als sie am Abend eines Tages sich allein befanden, der so ermüdend gewesen, daß Klein-Dorrit ganz erschöpft war, indes Fanny mit dem größten Vergnügen von der Welt noch einmal in Gesellschaft gegangen wäre, »ich will dir mal etwas in deinen kleinen Kopf zu bringen suchen. Du wirst wohl nicht ahnen, was es ist.«

»Ich glaube allerdings nicht, meine Liebe«, sagte Klein-Dorrit.

»Nun, ich will dir einen Leitfaden an die Hand geben,« sagte Fanny. »Mrs. General.«

Da Prunes und Prism in tausend Kombinationen den ganzen Tag bis zur Ermüdung die Tagesordnung gebildet – da alles Außenseite und Firnis und Schaugepränge ohne innern Gehalt war – so sah Klein-Dorrit aus, als wenn sie gehofft, Mrs. General sei für einige Stunden glücklich in ihrem Bett begraben.

»Ahnst du jetzt, Amy?« sagte Fanny.

»Nein, meine Liebe. Wenn ich nicht gar etwas getan habe«, sagte Klein-Dorrit, ziemlich ängstlich besorgt, indem sie damit auf einen Sprung im Firnis und eine Falte in der glatten Außenseite zielte.

Fanny amüsierte diese Besorgnis so sehr, daß sie ihren Lieblingsfächer nahm (sie saß nämlich an ihrem Ankleidetisch mit dem Arsenal von grausamen Instrumenten um sich, die meistens vom Herzblut Sparklers dampften) und ihre Schwester häufig damit auf die Nase tupfte, wobei sie beständig lachte.

»O Amy, Amy!« sagte Fanny. »Was für ein schüchternes Gänschen unsre Amy ist! Aber dabei ist nichts zu lachen. Im Gegenteil, ich bin sehr ärgerlich, meine Liebe.«

»Wenn nicht über mich, Fanny, so ist es mir gleichgültig«, versetzte ihre Schwester lächelnd. »Ah! aber mir ist es nicht gleichgültig«, sagte Fanny, »und dir ebensowenig, wenn ich dir’s sage. Amy, ist es dir nie aufgefallen, daß jemand außerordentlich höflich gegen Mrs. General ist?«

»Jedermann ist höflich gegen Mrs. General«, sagte Klein-Dorrit. »Weil –«

»Weil die Leute bei ihr vor Kälte höflich werden?« unterbrach sie Fanny. »Ich meine das nicht; ganz anderes. Sieh! Ist es dir nie aufgefallen, Amy, daß Papa außerordentlich höflich gegen Mrs. General ist?«

Amy murmelte »nein« und war sehr bestürzt.

»Nicht, wirklich nicht. Aber er ist es«, sagte Fanny, »er ist es, Amy. Und erinnere dich meines Worts, Mrs. General hat Absichten auf Papa.«

»Liebe Fanny, hältst du es für möglich, daß Mrs. General auf irgend jemanden Absichten hat?«

»Ob ich es für möglich halte?« warf Fanny ein. »Meine Liebe, ich weiß es. Ich sage dir, sie hat Absichten auf Papa. Und mehr als das, ich sage dir, Papa hält sie für solch ein Wunder, für solch ein Muster von vollendeter Bildung und solch einen Gewinn für unsre Familie, daß er jeden Augenblick bereit ist, sich ganz von ihr verblenden zu lassen. Und das bietet uns eine hübsche Aussicht für die Zukunft. Denk dir mich mit Mrs. General als Mama!«

Klein-Dorrit antwortete nicht: »Denke dir mal mich mit Mrs. General als Mama«, sondern sah ängstlich drein und fragte ernstlich danach, was Fanny auf diese Vermutung gebracht.

»Na, na, mein Liebling«, sagte Fanny schnippisch. »Du könntest mich ebensogut fragen, wie ich wisse, daß ein Mann in mich verliebt ist: Aber ich weiß es ganz natürlich. Es geschieht ziemlich oft, aber ich weiß es immer. Ich weiß es diesmal vermutlich ziemlich auf die gleiche Weise. Jedenfalls weiß ich es.«

»Du hörtest doch Papa nie etwas sagen?«

»Etwas sagen?« wiederholte Fanny. »Mein allerliebster kleiner Engel, was nötigte ihn bis jetzt, etwas zu sagen?«

»Und du hörtest nie Mrs. General etwas sagen?«

»Ei du meine Güte, Amy«, versetzte Fanny, »ist sie die Frau dazu, etwas zu sagen? Ist es denn nicht vollkommen klar und deutlich, daß sie für den Augenblick nichts zu tun hat, als sich aufrecht zu halten, ihre verwünschten Handschuhe anzubehalten und die Schleppe weit hinausfliegen zu lassen? Etwas sagen! Wenn sie den besten Trumpf im Whist in Händen hätte, sie würde nichts sagen. Es würde erst herauskommen, wenn sie ihn ausspielte.«

»Du kannst dich täuschen, Fanny. Oder meinst du nicht?«

»O ja, es ist möglich«, sagte Fanny, »aber ich irre mich diesmal nicht. Indessen freue ich mich doch, daß du dir solch eine Hintertür denken kannst, mein liebes Kind, und freue mich, daß du die Sache vorderhand hinlänglich kaltblütig aufzunehmen imstande bist, um dir einen solchen Fall möglich zu denken. Es läßt mich hoffen, daß du auch imstande sein werdest, diese Verbindung ruhig hinzunehmen. Mir wäre das nicht möglich, und ich würde es auch gar nicht versuchen, mich daran zu gewöhnen. Ich würde lieber den jungen Sparkler heiraten.«

»Oh, du würdest ihn sicher unter keinen Umständen heiraten.«

»Auf mein Wort, meine Liebe«, entgegnete das junge Mädchen mit der größten Gleichgültigkeit, »ich könnte wirklich nicht mit Bestimmtheit dafür einstehen. Niemand weiß, was geschehen könnte. Namentlich, da mir dadurch später mancherlei Gelegenheit geboten wäre, jenes Weib, seine Mutter, in ihrem eignen Stil zu behandeln. Und ich würde sicherlich nicht lange anstehen, das zu tun, Amy.«

Es kam diesmal nicht weiter zur Verhandlung zwischen den beiden Schwestern; aber was vorgekommen, rückte die beiden Fragen über Mrs. General und Mr. Sparkler in den Vordergrund von Klein-Dorrits Gemüt, und sie dachte fortan sehr viel an beide.

Da Mrs. General schon längst ihre eigne Außenseite vollkommen ausgebildet hatte, daß man, was darunter war, nicht entdecken konnte (wenn je etwas drunter war), so war in dieser Richtung keine Beobachtung zu machen. Mr. Dorrit war unleugbar sehr höflich gegen sie und hatte eine sehr hohe Meinung von ihr: aber Fanny, ungestüm in den meisten Fällen, konnte sich trotzdem sehr irren. Die Sparklersche Frage dagegen stand ganz anders, da jedermann sehen konnte, was vorging, und Klein-Dorrit sah es und dachte darüber nach, indem ihr mancherlei Zweifel und Fragen dabei aufstiegen.

Die Hingebung von Mr. Sparkler war nur mit der Launenhaftigkeit und Grausamkeit derjenigen zu vergleichen, die ihn zu ihrem Sklaven gemacht. Bisweilen zeichnete sie ihn so auffallend aus, daß er vor lauter Freude kicherte; am nächsten Tage oder in der nächsten Stunde beachtete sie ihn mit keinem Blick und schleuderte ihn in einen solchen Abgrund von Vergessenheit, daß er unter dem ärmlichen Vorwand, er habe Husten, ächzte. Die Ausdauer seiner Aufmerksamkeit rührte Fanny durchaus nicht! obschon er so unzertrennlich von Edward war, daß, wenn dieser sich endlich mal nach einer andern Gesellschaft sehnte, er zu dem unangenehmen Ausweg genötigt war, wie ein Verschwörer sich in verdeckten Booten und durch geheime Türen und Hinterpförtchen auf und davon zu machen: obschon er ferner so unermüdlich in der Nachfrage nach Mr. Dorrits Befinden war, daß er jeden andern Tag vorsprach, um sich zu erkundigen, als wenn Mr. Dorrit die Beute eines Wechselfiebers wäre: obschon er sich ferner so beständig vor den Hauptfenstern auf und ab rudern ließ, daß man hätte vermuten können, er habe eine Wette um einen bedeutenden Einsatz gemacht, sich in tausend Stunden tausend Meilen rudern zu lassen; obschon endlich, sobald die Gondel seiner Herrin das Tor verließ, die Gondel von Mr. Sparkler aus irgendeinem Wasserversteck hervorschoß und Jagd auf sie machte, als wenn sie eine hübsche Schmugglerin und er ein Zollbeamter wäre. Vielleicht war es dieser Kräftigung seiner von Natur starken Konstitution durch die häufige Bewegung in der freien Luft und den Einflüssen des Salzwassers zuzuschreiben, daß Mr. Sparkler äußerlich nicht abfiel: was jedoch auch die Ursache sein mochte, er hatte so wenig Hoffnung, seine Herrin durch einen traurigen Zustand seiner Gesundheit zu rühren, daß er jeden Tag dicker wurde, und diese Eigentümlichkeit in seiner Erscheinung, durch die er mehr wie ein geschwollener Junge als wie ein junger Mann aussah, entwickelte sich in außerordentlichem Grad zu rotbäckiger Fettsucht aus.

Als Blandois vorsprach, um einen Besuch zu machen, empfing ihn Mr. Dorrit mit Zuvorkommenheit als den Freund von Mr. Gowan und erwähnte gegen ihn seine Idee, Mr. Gowan zu beauftragen, ihn auf die Nachwelt zu bringen. Da Blandois sie bis in die Wolken erhob, fiel es Mr. Dorrit ein, daß es Blandois vielleicht angenehm wäre, die große Gelegenheit, die seiner wartete, sein Talent zu entfalten, ihm mitzuteilen. Blandois nahm den Auftrag in seiner eigentümlich leichten und eleganten Weise an und schwur, er werde sich seiner entledigen, ehe er eine Stunde älter sei. Als er Gowan die Nachricht brachte, wünschte dieser Meister mit großer Freigebigkeit ein volles dutzendmal Mr. Dorrit zum Teufel (denn er ärgerte sich über Gönnerschaft fast ebensosehr, als er sich über den Mangel an Gönnerschaft ärgerte) und hatte gute Lust, sich mit seinem Freunde zu zanken, daß er ihm diese Botschaft gebracht.

»Es mag eine Schwäche meines Kopfes sein, Blandois«, sagte er, »aber ich will gleich sterben, wenn ich einsehe, was Sie damit zu tun haben.«

»Tod und Teufel«, versetzte Blandois, »auch ich weiß es nicht; nur glaubte ich, meinem Freunde einen Dienst damit zu erweisen.«

»Indem Sie ihm das Mietgeld eines Emporkömmlings in die Tasche schoben?« sagte Gowan und zog die Stirn zusammen. »Meinen Sie das? Sagen Sie Ihrem Freunde, er solle seinen Kopf für das Schild eines Wirtshauses malen lassen, und zwar durch einen Schildermaler. Wer bin ich und wer ist er?«

»Professore«, versetzte der Abgesandte, »wer ist Blandois?«

Ohne sich, wie es schien, für die letztere Frage im mindesten zu interessieren, pfiff sich Gowan ärgerlich Mr. Dorrit aus dem Sinn. Am folgenden Tage nahm er die Sache jedoch wieder auf, indem er in seiner ungezwungenen Weise und mit einem den Gegenstand des Gesprächs herabsetzenden Lächeln sagte: »Nun, Blandois, wann wollen wir zu Ihrem Mäzen gehen? Wir Handwerker müssen Aufträge annehmen, wo wir welche bekommen können. Wann wollen wir gehen und uns diesen Auftrag ansehen?«

»Wann Sie wollen«, sagte der gekränkte Blandois, »wie es Ihnen gefällig. Was habe ich damit zu tun? Was geht es mich an?«

»Ich kann Ihnen sagen, was es mich angeht«, sagte Gowan. »Das gibt Brot und Käse. Man muß gegessen haben! So kommen Sie denn, mein Bandois.« Mr. Dorrit empfing sie in Gegenwart seiner Töchter und Mr. Sparklers, der durch einen überraschenden Zufall gerade eben auch seinen Besuch machte. »Wie geht es Ihnen, Sparkler?« sagte Gowan flüchtig. »Wenn Sie mal von Ihrem Mutterwitz leben müssen, alter Junge, so hoffe ich, wird es Ihnen besser gehen als mir.«

Mr. Dorrit erwähnte sodann seinen Vorschlag. »Sir«, sagte Gowan lachend, nachdem er denselben sehr nachsichtig aufgenommen, »ich bin neu im Handwerk und nicht erfahren in seinen Geheimnissen. Ich glaube, ich sollte Sie in verschiedenem Lichte betrachten, Ihnen sagen, daß Sie ein vortrefflicher Vorwurf seien, und dann erwähnen, wann ich hinreichend Muße haben werde, um mich mit der nötigen Begeisterung dem schönen Bild zu widmen, das ich von Ihnen zu machen gedenke. Ich gebe Ihnen die Versicherung«, fuhr er fort und lachte wieder, »mir ist ganz zumute, als wäre ich ein Verräter im Lager dieser lieben, begabten, guten edlen Jungen, meiner Kunstkollegen, weil ich den Hokuspokus nicht besser mache. Aber ich bin nicht dazu erzogen, und jetzt ist es zu spät, es zu lernen. Nun steht die Sache so, ich bin ein sehr schlechter Maler, aber nicht viel schlechter, als alle im allgemeinen sind. Wenn Sie Lust haben, hundert Guineen ungefähr wegzuwerfen, so bin ich so arm, wie ein armer Verwandter von vornehmen Leuten gewöhnlich zu sein pflegt, und ich werde Ihnen sehr verbunden sein, wenn Sie sie an mich wegschleudern wollen. Ich werde mein Bestes für das Geld zu leisten suchen; und wenn dies Beste schlecht sein sollte, so haben Sie wahrscheinlich ein schlechtes Bild mit einem kleinen Namen dazu, statt eines schlechten Bildes mit einem großen Namen.«

Dieser Ton, obgleich nicht das, was man erwartet, gefiel Mr. Dorrit im ganzen merkwürdig gut. Er zeigte, daß der Künstler, der von hoher Verwandtschaft und kein bloßer Arbeiter, sich ihm verpflichtet fühlen würde. Er drückte seine Befriedigung darüber aus, indem er sich in Mr. Gowans Hände gab, und sprach die Erwartung aus, daß sie wohl auch das Vergnügen haben würden, sich in ihrer Eigenschaft als Privatleute näher kennenzulernen.

»Sie sind sehr gütig«, sagte Gowan. »Ich habe die Gesellschaft nicht verschworen, als ich mich der Zunft vom Pinsel anschloß (die angenehmsten Jungen von der Welt), und ich bin ganz froh, wenn ich dann und wann das alte feine Schießpulver riechen kann, wenn es mich auch in die Luft hinauf und in meinen gegenwärtigen Beruf hineinschleuderte. Sie werden nicht glauben, Mr. Dorrit«, und dabei lachte er wieder in der leichtfertigsten Weise, »daß ich in diese Freimauerei der Zunft hineinkomme – denn das ist nicht der Fall; meiner Treu, ich kann nicht umhin, sie auf Schritt und Tritt zu verraten, obgleich ich, beim Jupiter, die Zunft mit all meiner Macht liebe und ehre –, wenn ich eine Bedingung bezüglich des Orts und der Zeit mache.«

Ha! Mr. Dorrit konnte wirklich – hm – keinen Verdacht der Art bei Mr. Gowans Offenheit schöpfen. »Ich muß es wiederholen. Sie sind sehr gütig«, sagte Gowan. »Mr. Dorrit, ich höre, Sie gehen nach Rom. Ich gehe gleichfalls nach Rom, wo ich Freunde habe. Lassen Sie mich die Ungerechtigkeit, die ich Ihnen anzutun geschworen habe, dort beginnen – nicht hier. Wir werden während des Restes unseres Hierseins alle sehr viel zu tun haben; und obschon es in Venedig keinen ärmern Menschen mit heilen Ellbogen gibt als mich, habe ich doch noch nicht so ganz den Kunstfreund abgelegt – verrate die Zunft schon wieder, wie Sie sehen – und kann mich nicht so in der Eile an die Arbeit machen, bloß um des Tagelohns willen.«

Diese Bemerkungen wurden nicht weniger günstig von Mr. Dorrit aufgenommen als die früheren. Sie waren das Vorspiel des ersten Empfangs von Mr. und Mrs. Gowan bei einem Mittagessen, und sie stellten Gowan geschickt in der Familie auf den Boden, den er gewöhnlich einnahm.

Auch seine Frau stellten sie auf den Boden, den sie gewöhnlich einnahm. Miß Fanny wurde mit besonderer Deutlichkeit zu verstehen gegeben, daß Mrs. Gowans Schönheit ihrem Manne sehr teuer zu stehen gekommen, daß es ihretwegen eine große Störung in der Familie Barnacle gegeben, und daß die verwitwete Mrs. Gowan fast mit gebrochenem Herzen sich entschlossen der Heirat widersetzt, bis sie von ihren mütterlichen Gefühlen überwältigt worden. Mrs. General bekam in gleicher Weise deutlich zu hören, daß diese Neigung viel Kummer und Zwietracht in der Familie hervorgerufen. Von dem wackern Mr. Meagles wurde kein Wort erwähnt; nur, daß es für einen derartigen Menschen ganz natürlich sei, wenn er wünsche, seine Tochter aus seiner eignen dunklen Stellung emporzuheben, und daß ihn niemand tadeln könnte, wenn er in dieser Hinsicht sein Bestes täte.

Klein-Dorrits Interesse an dem schönen Gegenstande dieses nur gar zu leicht angenommenen Glaubens war zu ernst und aufmerksam, um der genauen Beobachtung zu ermangeln. Sie konnte sehen, daß dieser seinen Teil daran hatte, wenn auf Mrs. Gowan auch nur ein flüchtiger Schatten fiel, unter dem sie lebte, und sie hatte sogar ein instinktmäßiges Wissen davon, daß durchaus nicht das geringste Wahre daran war. Aber er hatte den Einfluß, daß er ihrem Verkehr mit Mrs. Gowan Hindernisse in den Weg legte, indem er die Schule der Prunes und Prism veranlaßte, sehr höflich, aber nicht sehr vertraulich mit ihr zu sein; und Klein-Dorrit, als gezwungener Famulus dieses Kollegiums, mußte sich demütig seinen Anordnungen unterwerfen.

Nichtsdestoweniger hatte sich bereits ein sympathisches Einverständnis zwischen beiden hergestellt, das ihnen selbst über größere Schwierigkeiten hinweggeholfen haben würde und auch aus einem beschränkteren Verkehr eine Freundschaft entwickelt hätte. Wie wenn der Zufall entschlossen gewesen, dieser günstig zu sein, fanden sie eine neue Bestätigung ihrer Geistesverwandtschaft in der Abneigung, die jedes von beiden das andere gegen Blandois von Paris hegen sah: eine Abneigung, die den Grad des Widerwillens und des Schauers einer natürlichen Antipathie gegen ein häßliches Geschöpf ans der Klasse der Reptilien erreichte.

Und außer dieser aktiven Geistesverwandtschaft gab es auch noch eine passive zwischen ihnen. Gegen beide benahm sich Blandois in derselben Weise; und gegen beide hatte sein Benehmen ohne Ausnahme etwas an sich, wovon beide wußten, daß es von seinem Benehmen gegen andere abweiche. Der Unterschied war zu unmerklich in seinem Ausdruck, daß die andern es hätten bemerken können. Ein bloßes Zucken seiner falschen Augen, eine flüchtige Bewegung seiner weichen weißen Hand, ein bloßes Haarbreit mehr beim Senken seiner Nase und dem Emporziehen seines Schnurrbarts bei der am häufigsten vorkommenden Bewegung seines Gesichts zeigte beiden gleicherweise, daß sein Großtun ihnen galt.

Dies hatten sie beide nie in solchem Grade gefühlt, und nie von jeder einzelnen in Beziehung auf die andre, als eines Tages, da er zu Mr. Dorrit kam, um von ihm Abschied zu nehmen, ehe er Venedig verlasse. Mrs. Gowan war in gleicher Absicht anwesend, und er fand diese beiden allein, da die übrige Familie ausgegangen war. Die beiden Freundinnen waren noch nicht fünf Minuten beisammen, und sein eigentümliches Benehmen schien ihnen zu sagen: »Sie wollten über mich sprechen. Ha! Sehen Sie, ich bin da, es zu verhindern!«

»Gowan kommt auch?« sagte Blandois mit seinem Lächeln.

Mrs. Gowan sagte: nein.

»Nicht!« sagte Blandois. »Erlauben Sie Ihrem ergebenen Diener, wenn Sie weggehen. Sie nach Hause zu begleiten?«

»Danke: ich gehe nicht nach Hause.«

»Nicht nach Hause!« sagte Blandois. »Dann bin ich verloren.«

Das mochte er sein: aber er war nicht so unklug, daß er weggegangen und sie allein gelassen hätte. Er blieb sitzen und unterhielt sie mit seinen feinsten Komplimenten und seinen gewähltesten Redensarten. Aber die ganze Zeit ließ er sie merken: »Nein, nein, nein, liebe Dame. Sehen Sie, ich bin ausdrücklich in der Absicht hier, es zu verhindern!«

Er ließ sie dies mit so vielen Hintergedanken merken, und er besaß eine so teuflische Ausdauer, daß Mrs. Gowan endlich aufstand, um sich zu entfernen. Als er Mrs. Gowan die Hand bot, um sie die Treppe hinabzuführen, behielt sie Klein-Dorrits Hand mit einem vorsichtigen Druck in der ihren und sagte: »Nein, ich danke. Wenn Sie jedoch die Güte haben wollen, zu sehen, ob mein Gondelier da ist, so werde ich Ihnen sehr verbunden sein.«

Es blieb ihm keine Wahl, als vor ihnen hinabzugehen. Als er dies mit dem Hut in der Hand tat, flüsterte Mrs. Gowan:

»Er hat den Hund umgebracht.«

»Weiß das Mr. Gowan?« flüsterte Klein-Dorrit.

»Niemand weiß es. Sehen Sie mich nicht an, blicken Sie nach ihm hin. Er wird sich augenblicklich umdrehen. Niemand weiß es, aber ich bin überzeugt, daß er es getan. Sie nicht auch?« »Ich – ich glaube ja«, antwortete Klein-Dorrit.

»Henry hat ihn lieb und will nichts Böses von ihm denken. Er ist selbst so edel und offenherzig. Aber wir beide fühlen wohl, daß wir von ihm denken, wie er es verdient. Er redete Henry ein, der Hund sei schon vergiftet gewesen, als er sich plötzlich so verändert und auf ihn losgesprungen. Henry glaubt es, aber wir nicht. Ich sehe, er lauscht, aber er kann nicht hören. Leben Sie wohl, meine Liebe! Leben Sie wohl!«

Die letzten Worte wurden ausgesprochen, als der wachsame Blandois stehenblieb, den Kopf umwandte und vom Fuße der Treppe zu ihnen emporschaute. Er sah wahrhaftig in diesem Augenblick, obgleich er seine höfliche Miene annahm, gerade aus, wie wenn jeder echte Menschenfreund nichts Besseres zu tun hätte, als ihm einen großen Stein an den Hals zu hängen und ihn in das Wasser zu werfen, das unter dem dunklen gewölbten Torweg floß, in dem er stand. Da kein solcher Wohltäter der Menschheit im Augenblick zur Hand war, half er Mrs. Gowan in das Boot und blieb stehen, bis es aus dem engen Gesichtskreis verschwunden war: dann stieg er in sein eigenes Boot und folgte.

Klein-Dorrit stieß bisweilen der Gedanke auf, und dies war in diesem Augenblick, da sie die Treppe hinaufging, wieder der Fall, daß er zu rasch seinen Weg in ihres Vaters Haus gefunden. Aber so manche und so verschiedene Leute taten dasselbe, da Mr. Dorrit an der gleichen Gesellschaftssucht litt wie seine älteste Tochter, so daß es kaum ein Ausnahmefall genannt werden konnte. Eine wahre Wut, Bekanntschaften zu machen, denen er seinen Reichtum und seine Wichtigkeit zum Bewußtsein führen konnte, hatte das Haus Dorrit ergriffen.

Es kam Klein-Dorrit im ganzen vor, als wenn diese Gesellschaft, in der sie jetzt lebten, große Ähnlichkeit mit einer vornehmeren Art von Marschallgefängnis hätte. Eine Masse von Menschen schien aus denselben Gründen ins Ausland zu gehen, wie andre ins Gefängnis: wegen Schulden oder aus Trägheit, verwandtschaftshalber, aus Neugier und allgemeiner Unfähigkeit, zu Hause fortzukommen. Sie kamen in diese fremden Städte unter der Obhut eines Kuriers und Lohnbedienten, gerade wie man die Schuldner in das Gefängnis brachte. Sie schlenderten in den Kirchen und Gemäldegalerien gerade so traurig wie auf dem Gefängnishofe umher. Sie waren gewöhnlich im Begriff, morgen oder die nächste Woche wegzugehen, und wußten selten, was sie eigentlich wollten, und taten selten, was sie tun wollten: in allem ganz wie die Schuldner im Gefängnis. Sie bezahlten teuer für schlechte Bequemlichkeit und verschrien einen Ort, während sie vorgaben, daß er ihnen gefalle; ganz wie im Marschallgefängnis. Sie wurden, wenn sie fortgingen, von Leuten beneidet, die zurückblieben und taten, als ob ihnen am Weggehen nichts gelegen wäre: und das war abermals die unveränderliche Gewohnheit im Marschallgefängnis. Eine gewisse Masse von Worten und Phrasen, die dem Touristen so eigentümlich, als das Kollegium und die Snuggery dem Gefängnis, war beständig in ihrem Munde. Sie hatten genau dieselbe Unfähigkeit, etwas Bestimmtes zu treiben, wie die Gefangenen; sie verdarben sich, wie die Gefangenen, gegenseitig und trugen unpassende Kleider und verfielen einem schlaffen Leben: ganz wie die Leute im Marschallgefängnis.

Die Zeit des Aufenthalts der Familie in Venedig nahte ihrem Ende, und sie begaben sich mit ihrem Gefolge nach Nom. Durch eine zweite Reihe der früheren italienischen Szenen, die immer schmutziger und häßlicher wurden, je weiter sie kamen, und sie endlich in Gegenden führte, wo selbst die Luft verdorben und krank ist, gelangten sie an den Art ihrer Bestimmung. Es war eine schöne Wohnung für sie auf dem Korso gemietet worden, und dort schlugen sie ihren Sitz auf: in einer Stadt, wo alles still zu sein schien, für immer auf den Trümmern von etwas bemüht zu stehen – mit Ausnahme des Wassers, das ewigen Gesetzen treu aus der Masse von herrlichen Springbrunnen herabplätscherte und fortrauschte.

Hier war es Klein-Dorrit, als wenn eine Veränderung mit dem Marshallseageist ihrer Gesellschaft vorgegangen wäre und Prunes und Prism die Oberhand gewönnen. Jedermann ging in der Peterskirche und im Vatikan auf den Korkbeinen andrer Leute umher und preßte jeden sichtbaren Gegenstand durch andrer Leute Sieb. Niemand sagte, was etwas war, sondern jedermann sagte, was Mrs. General, Mr. Eustace oder sonst jemand darüber gesagt. Die ganze Masse der Reisenden schien eine Sammlung freiwilliger Menschenopfer zu sein, die, gebunden an Händen und Füßen, Mr. Eustace und seinen Helfershelfern überliefert wurden, damit er ihnen die Eingeweide ihres Verstandes nach dem Geschmack jener geheiligten Priesterschaft zurechtlege. Durch die verwitterten Reste von Tempeln und Grabdenkmälern und Palästen und Senatshallen und Theatern und Amphitheatern des Altertums suchten Scharen moderner Menschen mit gefesselten Zungen und verbundenen Augen ängstlich ihren Weg, beständig die Worte Prunes und Prism wiederholend und bestrebt, ihre Lippen in die angenommene Form zu bringen. Mrs. General war ganz in ihrem Element. Niemand hatte eine Meinung. In erstaunlichem Grade macht in ihrer Umgebung die Bildung der Außenseite Fortschritte, und nicht die leiseste Spur von Mut und offener freier Sprache war zu entdecken.

Eine andere Modifikation von Prunes und Prism drang sich Klein-Dorrits Beobachtung ganz kurz nach ihrer Ankunft auf. Sie bekamen sehr bald einen Besuch von Mrs. Merdle, die diesen Winter in der ewigen Stadt jenes ausgedehnte Departement des Lebens besorgte, und die geschickte Art, wie sie und Fanny miteinander bei dieser Gelegenheit fochten, ließ ihre ruhige Schwester, wie beim Blitzen von Degen, mit den Augen blinzeln.

»Ich bin entzückt«, sagte Mrs. Merdle, »eine Bekanntschaft wieder aufzunehmen, die unter so günstigen Auspizien zu Martigny angeknüpft worden.«

»In Martigny, ja, ja«, sagte Fanny. »Ebenfalls ganz entzückt.«

»Ich erfahre von meinem Sohne Edmund«, sagte Mrs. Merdle, »daß er bereits diese zufällige Gelegenheit sich zunutze gemacht. Er ist ganz bezaubert von Venedig zurückgekommen.«

»Wirklich«, versetzte Fanny gleichgültig. »War er lange dort?«

»Ich möchte Sie mit dieser Frage an Ihren Herrn Vater verweisen«, sagte Mrs. Merdle, indem sie ihren Busen diesem zuwandte, »da Edmund ihm zu großem Dank verpflichtet ist, daß er ihm seinen Aufenthalt so ungemein angenehm gemacht hat.«

»O bitte, sprechen Sie nicht davon«, versetzte Fanny. »Ich glaube, Papa hatte das Vergnügen, Mr. Sparkler zwei- bis dreimal einzuladen, – aber das war ja nichts. Wir hatten so viele Leute bei uns und hielten so offenes Haus, daß, wenn er dies Vergnügen hatte, es weniger als nichts war.«

»Ausgenommen, meine Liebe«, sagte Mr. Dorrit, »ausgenommen – ha –, daß es mir ungewöhnliche Befriedigung gewährte, auf –-hm – jede Weise an den Tag zu legen, so unbedeutend und schwach dies auch geschehen mochte –, welch – ha, hm – hohe Achtung ich – ha – gemeinschaftlich mit der übrigen Welt für einen so ausgezeichneten und fürstlichen Charakter wie Mr. Merdle hege.«

Der Busen empfing diesen Tribut in seiner gewinnendsten Weise. »Mr. Merdle«, bemerkte Fanny, als ein Mittel, Mr. Sparkler in den Hintergrund treten zu lassen, »ist, wie Sie wissen müssen, ein Lieblingsthema von Papa, Mrs. Merdle.«

»Ich bin bitter enttäuscht worden, Madame«, sagte Mr. Dorrit, »als ich von Mr. Sparkler erfahren mußte, daß keine große Wahrscheinlichkeit vorhanden ist, Mr. Merdle werde hierherkommen.«

»Er ist allerdings so sehr beschäftigt«, sagte Mrs. Merdle, »und in Anspruch genommen, daß ich es gleichfalls fürchten muß. Er ist seit Jahren nicht imstande gewesen, eine Reise zu machen. Sie, Miß Dorrit, sind, glaube ich, seit langer Zeit fortwährend im Auslande.«

»O ja«, sagte Fanny mit der größten Keckheit. »Eine ungeheure Zahl von Jahren.«

»Das hätte ich annehmen sollen.«

»Ganz recht«, sagte Fanny.

»Ich hoffe indes«, fuhr Mr. Dorrit fort, »daß, wenn ich nicht den großen Vorteil genieße, mit Mr. Merdle diesseits der Alpen oder des Mittelmeers bekannt zu werden, ich dieser Ehre mich bei meiner Rückkehr nach England erfreuen werde. Es ist eine Ehre, die ich besonders erwünsche und hoch anschlagen werde.«

»Mr. Merdle«, sagte Mrs. Merdle, die Fanny bewundernd durch ihr Augenglas angesehen, »wird es sich gewiß nicht minder zur Ehre schätzen.«

Vornehmer Besuch bei dem vornehm gewordenen Mr. Dorrit.

Klein-Dorrit, die noch immer nachdenklich und einsam, wenn auch nicht mehr allein war, glaubte anfangs, dies sei lauter ›Prunes‹ und ›Prism‹. Als ihr Vater jedoch, nachdem sie einem glänzenden Empfang bei Mrs. Merdle beigewohnt, an ihrem eignen Frühstückstisch wieder seinen Wunsch herableierte, Mr. Merdle kennenzulernen, und die Hoffnung damit verband, durch den Rat dieses Wundermanns bei der Anlegung seines Vermögens zu profitieren, begann sie zu glauben, daß das wirklich etwas zu bedeuten habe, und nun auch ihrerseits eine gewisse Neugierde zu hegen, das strahlende Licht des Zeitalters zu sehen.

Achtes Kapitel.


Achtes Kapitel.

Die Witwe Mrs. Gowan wird daran erinnert, daß es nicht geht.

Während die Wasser von Venedig und die Ruinen von Rom sich zum Vergnügen der Familie Dorrit sonnten und täglich von unzähligen wandernden Pinseln außer aller irdischen Proportion, Zeichnung und Form skizziert wurden, hämmerte die Firma Doyce und Clennam im Bleeding Heart Yard ruhig fort, und das kräftige Klingen des Eisens auf Eisen konnte man dort durch alle Arbeitsstunden hindurch ununterbrochen hören.

Der junge Associé hatte indessen das Geschäft in gute Ordnung gebracht, und der ältere, der nun Zeit hatte, seinen sinnreichen Erfindungen nachzugehen, hatte viel getan, um den Ruf ihrer Manufaktur noch mehr zu heben. Als erfinderischer Mann hatte er natürlich alle Entmutigung zu erfahren, die die regierenden Mächte für lange Zeit auf alle mögliche Weise seiner Klasse von Verbrechern in den Weg zu legen imstande gewesen; aber das war nur die billige Selbstverteidigung der Mächte, da »Wie man’s machen müsse« begreiflich der natürliche Todfeind von »Wie man’s nicht machen müsse« sein mußte. Darin war die Basis des weisen, von dem Circumlocution Office mit aller Macht aufrecht gehaltenen Systems zu finden, jeden erfinderischen britischen Untertan zu warnen, auf sein Risiko hin erfinderisch zu sein; ihn zu quälen, ihn zu hindern, Diebe aufzufordern (indem man sein Mittel als ungewiß, schwierig und kostbar darstellte), ihn zu plündern, und im besten Fall, nachdem er sich kurz desselben erfreut, sein Eigentum zu konfiszieren, als wenn Erfindung mit Todesverbrechen auf einer Linie ständen.

Dies System hatte gleichförmig bei allen Barnacles große Anerkennung gesunden, und das war auch nur zu begreiflich; denn wer ein tüchtiger Erfinder ist, muß seine Sache recht ernst betreiben, und den Barnacles war nichts so sehr in der Seele zuwider als dies. Das war wiederum sehr begreiflich: denn in einem Lande, das unter der Last eines großen Ernstes seufzte, konnte in kürzester Zeit kein einziger Barnacle mehr an einem Posten kleben.

Daniel Doyce trug sein Los mit den daran hängenden Beschwerden und Kränkungen, ohne zu murren, und arbeitete ruhig fort um der Arbeit willen. Clennam, der ihn durch kräftige Mitarbeit munter hielt, war eine moralische Stütze für ihn, abgesehen davon, daß er ihm in geschäftlicher Beziehung große Dienste leistete. Das Geschäft ging gut, und die Associés waren die besten Freunde.

Daniel konnte das alte Projekt so vieler Jahre nicht vergessen. Es war begreiflich, auch nicht zu erwarten, daß er das vergessen sollte; hätte er es leicht vergessen können, so würde er es nie ausgedacht oder die Geduld und die Beharrlichkeit gehabt haben, es auszuarbeiten. So dachte Clennam, wenn er ihn bisweilen abends die Modelle und Zeichnungen betrachten und sich damit trösten sah, daß er, sie mit einem Seufzer wegstellend, vor sich hinmurmelte, die Sache bleibe so wahr, wie sie immer gewesen war.

Für soviel eifrige Ausdauer und soviel Enttäuschung keine Sympathie an den Tag zu legen, hieße das, was Clennam zu den stillschweigenden Verbindlichkeiten seines Geschäftsvertrages rechnete, versäumen. Eine Wiederauffrischung des Interesses an dem Gegenstand, das zufällig an der Tür des Circumlocution Office geweckt worden war, entsprang aus diesem Gefühl. Er bat seinen Associé, ihm die Erfindung zu erklären. »Sie müssen jedoch gefälligst darauf Rücksicht nehmen«, bedingte er, »daß ich kein Techniker bin, Doyce.«

»Kein Techniker?« sagte Doyce. »Sie würden ein sehr tüchtiger Techniker geworden sein, wenn Sie sich auf die Sache gelegt hätten. Sie besitzen einen so guten Kopf, solche Dinge zu begreifen, wie mir je einer vorgekommen.«

»Einen ganz unausgebildeten, muß ich leider hinzufügen«, sagte Clennam.

»Ich weiß das nicht«, versetzte Doyce, »und ich möchte nicht, daß Sie das sagen. Kein Mann von Verstand, der im allgemeinen ausgebildet wurde und sich selbst fortgebildet hat, kann zu irgend etwas unfähig genannt werden. Ich habe keine besondere Vorliebe für Geheimnisse. Ich möchte nach einer klaren und einfachen Auseinandersetzung ebensogern mich von der einen Klasse von Leuten wie von der andern beurteilen lassen, vorausgesetzt, sie haben die Eigenschaft, von der ich sprach.«

»Auf alle Fälle«, sagte Clennam, – »es klingt, als wenn wir Komplimente austauschten, und das wollen wir doch nicht – werde ich den Vorteil einer Erklärung haben, die so klar ist, wie sie überhaupt nur gegeben werden kann.«

»Nun!« sagte Daniel in seiner ruhigen und gelassenen Weise, »ich will es versuchen.«

Er hatte das Talent, das sich oft bei einem solchen Charakter findet, was er selbst ersonnen und gedacht, ebenso scharf und in die Augen springend darlegen zu können, wie es sich seinem eigenen Geiste aufgedrungen. Seine Art zu erklären war so geordnet, sauber und einfach, daß man ihn nicht leicht mißverstehen konnte. Es lag beinahe etwas Spaßhaftes in der vollständigen Unvereinbarkeit einer unbestimmten, übereinkunftsmäßigen Ansicht, daß er ein Seher sein müsse, mit dem sichern und witternden Hin- und Herwandern des Auges und Daumens auf dem Plane, ihrem geduldigen Stillhalten bei besondern Punkten, ihrem bedächtigen Zurückkehren zu andern Punkten, von wo kleine Kanäle der Erklärung ausfindig gemacht werden mußten, und der sorgfältigen Weise, alles gut und alles gründlich bei jedem wichtigen Punkte abzumachen, ehe er seinen Zuhörer um eine Linie breit weiterführte. Daß er sich selbst bei der Beschreibung ganz aus dem Spiel ließ, war kaum weniger bemerkenswert. Er sagte nie, er habe diese Anwendung entdeckt oder jene Verbindung erfunden, sondern zeigte die ganze Sache, als wenn der göttliche Erfinder sie gemacht und es ihm zufällig gelungen sei, sie zu finden. Er war unglaublich bescheiden in dieser Beziehung, es mischte sich die wohltuendste Verehrung in seine ruhige Bewunderung desselben, und dabei war er der unerschütterlichen Überzeugung, daß es auf unumstößlichen Gesetzen beruhe.

Nicht bloß diesen Abend, sondern noch mehrere folgende Abende unterhielt sich Clennam mit dieser Untersuchung aufs angenehmste. Je mehr er in sie eindrang und je öfter er das graue Haupt betrachtete, das darüber gebeugt war, und das scharfsinnige Auge, das vor Freude über sein Werk und vor Liebe zu demselben leuchtete – das Mittel, sein Herz zu prüfen, obgleich es vor zwölf langen Jahren gemacht war –, desto weniger konnte es seine jüngere Kraft über sich bringen, die Sache, ohne einen weitern Versuch zu machen, auf sich beruhen zu lassen. Endlich sagte er:

»Doyce, die Sache steht jetzt so, daß das Geschäft entweder mit, der Himmel weiß, wie vielen Wracks untergehen oder von neuem begonnen werden muß.«

»Ja«, versetzte Doyce, »das ist’s, wohin es die vornehmen Herren und Gentlemen nach zwölf Jahren gebracht haben.«

»Und schöne Jungen sind das!« sagte Clennam bitter.

»Gewöhnlich so!« bemerkte Doyce. »Ich brauche keinen Märtyrer aus mir zu machen, da ich so viele das gleiche Schicksal teilen sehe.«

»Wollen wir’s auf sich beruhen lassen oder von neuem beginnen?« beharrte Clennam.

»So steht die Frage«, sagte Doyce.

»Nun, mein Freund«, rief Clennam aufspringend und die rauhe Hand des Arbeiters ergreifend, »es soll von neuem begonnen werden!«

Doyce sah unruhig aus und antwortete hastig – soweit ihm das möglich war –: »Nein, nein. Lieber die Sache auf sich beruhen lassen. Weit besser, die Sache auf sich beruhen lassen. Man wird schon mal davon hören. Ich habe es auf sich beruhen lassen. Sie vergessen, mein guter Clennam, ich habe es bereits auf sich beruhen lassen, ’s ist aus damit.«

»Ja, Doyce«, entgegnete Clennam, »’s ist aus damit, soweit es Ihre Bemühungen und Zurückweisungen betrifft, das gebe ich zu, aber nicht, soweit es die meinen angeht. Ich bin jünger als Sie; ich habe nur ein einziges Mal den Fuß auf jenes kostbare Amt gesetzt und bin deshalb frisches Wild für sie. Ich will’s mit ihnen versuchen. Sie sollen nichts anderes tun, als was Sie getan, seitdem wir zusammen arbeiten. Ich will (und kann das leicht) etwas mehr tun als bisher und den Versuch machen. Ihnen zu Ihrem Recht gegenüber dem Staate zu verhelfen; und wenn ich nichts von Erfolg zu berichten habe, so sollen Sie nicht wieder davon hören.«

Daniel Doyce wollte noch immer seine Zustimmung nicht geben und kam stets wieder darauf zurück, daß es besser wäre, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Aber es war natürlich, daß er sich nach und nach von Clennam überreden ließ und nachgab. Er gab nach. Und Arthur nahm die lange und hoffnungslose Arbeit wieder auf, nämlich den Versuch zu machen, sich einen Weg durch das Circumlocution Office zu bahnen.

Die Vorzimmer dieses Departements waren bald an seine Anwesenheit gewöhnt, und gewöhnlich wurde er durch die Türsteher in dieselben hineingeführt wie ein Taschendieb in ein Polizeibureau; der Hauptunterschied war nur der, daß die Aufgabe des letztern öffentlichen Amtes die ist, den Taschendieb festzuhalten, während das Circumlocution Office sich bemühte, Clennam loszuwerden. Er war jedoch mal entschlossen, sich an das große Departement festzuhängen, und so begann das große Werk des Formularausfüllens, Korrespondierens, Protokollierens, Memorandummachens, Signierens, Kontrasignierens, Kontrakontrasignierens, Berichterstattens hin und her und Referierens seitwärts, kreuzweise und im Zickzack aufs neue.

Hier tritt nun eine Seite des Circumlocution Office hervor, die in gegenwärtiger Erzählung bisher noch nicht erwähnt ist. Wenn dieses bewundernswürdige Departement in Verlegenheit kam und durch ein wütendes Mitglied des Parlaments, das die jüngern Barnacles beinahe immer im Verdacht hatten, daß es vom Teufel besessen sei, nicht wegen eines einzelnen Falles angegriffen wurde, sondern als ein abscheuliches und bedlamitisches Institut, dann schlug und zerhieb der edle oder sehr ehrenwerte Barnacle, der es im Hause repräsentierte, den Gegner mit einem Nachweis der ungeheuren Masse von Geschäften, die das Circumlocution Office (zur Verhütung von Geschäften) zu besorgen habe. Dann hielt gewöhnlich der edle oder sehr ehrenwerte Barnacle in seiner Hand ein Papier mit einigen Zahlen, auf das er, mit Erlaubnis des Hauses, die Aufmerksamkeit desselben lenken wollte. Dann riefen die untergeordneten Barnacles infolge erhaltener Order: »Hört, hört, hört!« und »Lesen!« Dann ersah der edle oder sehr ehrenwerte Barnacle, Sir, aus diesem kleinen Dokument, das nach seiner Ansicht auch den widerspenstigsten Kopf überzeugen mußte (höhnisches Lachen und Beifallsjubel der Barnacles-Brut), daß innerhalb der kurzen Zeit der letzten halbjährigen Finanzperiode dieses vielgeschmähte Departement (Beifall) fünfzehntausend Briefe (lauter Beifall), vierundzwanzigtausend Protokolle (noch lauterer Beifall) und zweiunddreißigtausendfünfhundertundsiebenzehn Memoranda geschrieben und empfangen (lautester Beifall). Ja, ein sinnreicher Gentleman, der zu dem Departement in Beziehung stände und selbst ein würdiger Staatsdiener sei, habe ihm die Gewogenheit erzeigt, eine interessante Berechnung der während dieser Zeit verbrauchten Masse von Schreibmaterialien anzustellen. Die Berechnung bilde einen Teil dieses kurzen Dokuments, und er entnehme ihr das merkwürdige Faktum, daß die Bogen des Propatriapapiers, das es im Interesse des öffentlichen Dienstes verbraucht, das Trottoir zu beiden Seiten der Oxford Street von einem Ende zum andern pflastern könnte, wobei doch immer noch beinahe eine Viertelmeile für den Park übrigbliebe (ungeheurer Beifall und Gelächter): während es Schnüre – rote Schnüre – in solcher Masse gebraucht, daß man in schönem Gewinde den Weg von Hyde Park Corner bis zur General Post Office behängen könnte. Dann setzte sich unter einem Ausbruch von offiziellem Jauchzen der edle oder sehr ehrenwerte Barnacle nieder und ließ die verstümmelten Überreste des Mitglieds auf dem Schlachtfelde liegen. Niemand würde nach dieser exemplarischen Vernichtung des Genannten die Kühnheit gehabt haben, darauf hinzudeuten, daß, je mehr das Circumlocution Office tat, desto weniger getan war, und daß der größte Segen, den es dem unglücklichen Publikum bringen konnte, der war, wenn es nichts tat.

Bei genügender Beschäftigung, nun da er diese weitere Aufgabe hatte – an einer solchen Aufgabe war gar mancher nützliche Mann vor seiner Zeit gestorben –, führte Arthur Clennam ein ziemlich abwechslungsloses Leben. Regelmäßige Besuche in dem düstern Krankenzimmer seiner Mutter und kaum weniger regelmäßige Besuche bei Mr. Meagles in Twickenham waren seine einzige Erholung während vieler Monate.

Er vermißte Klein-Dorrit bitter und schmerzlich. Er war darauf vorbereitet, daß er sie sehr, aber nicht so sehr vermissen würde. Er wußte erst aus Erfahrung, welch großer Platz in seinem Leben leer geworden, als ihre kleine, vertraute Gestalt daraus verschwunden. Er fühlte auch, daß er auf die Hoffnung ihrer Wiederkehr verzichten mußte, da er den Charakter der Familie zu gut kannte, um nicht zu wissen, daß sie und er durch eine breite Kluft geschieden waren. Das alte Interesse, das er für sie besaß, und ihr altes Vertrauen auf ihn waren melancholisch gefärbt in seiner Seele; so rasch war die Veränderung eingetreten, und so rasch waren sie mit andern geheimen und zarten Empfindungen in den Schoß der Vergangenheit hinabgesunken.

Al« er ihren Brief erhielt, war er tief bewegt: aber das Gefühl, daß sie durch eine weite Kluft von ihm getrennt war, blieb doch in seiner ganzen Stärke in ihm lebendig. Er verhalf ihm im Gegenteil zu einer klareren und deutlicheren Erkenntnis des Platzes, den ihm die Familie angewiesen. Er sah, daß er in ihrer dankbaren Erinnerung still fortlebte, daß die Familie aber seiner nur im Lichte des Gefängnisses und alles übrigen, was dazu gehörte, gedachte und ihm grollte.

Trotz all dieser Betrachtungen, die sich Tag für Tag um sie her aufhäuften, dachte er ihrer doch in der alten Weise. Sie war seine unschuldige Freundin, sein zartes Kind, seine liebe Klein-Dorrit. Die veränderten Umstände paßten merkwürdig zu der Gewohnheit – die in der Nacht begonnen, als die Rosen fortschwammen –, sich für einen weit älteren Mann zu halten, als er wirklich war. Er betrachtete sie von einem Gesichtspunkte, von dem er sich kaum dachte, daß er, so zärtlich er auch war, durch seine Entfernung ihr einen unaussprechlichen Schmerz bereitet hätte. Er dachte über ihr künftiges Schicksal und den Gatten, den sie einst wählen würde, mit einer Besorgtheit für sie nach, die ihr Herz des teuersten Tropfens von Hoffnung beraubt und es gebrochen hätte.

Alles um ihn her zielte darauf hin, ihn in der Gewohnheit zu bestärken, sich als älteren Mann zu betrachten, von dem solche Hoffnungen, wie er sie in der Sache mit Minnie Gowan bekämpft (obwohl das nicht so lange her war, wenn man nach Monaten und Jahreszeiten rechnete), für immer Abschied genommen hatten. Seine Beziehungen zu ihrem Vater und ihrer Mutter waren so, wie sie etwa zwischen einem verwitweten Schwiegersohn und seinen Schwiegereltern gewesen wäre. Wenn die Zwillingsschwester, die gestorben war, gelebt hätte, um in der Blüte des Frauenalters hinwegzusterben, und er ihr Gatte gewesen, so wäre die Art seines Verkehrs mit Mr. und Mrs. Meagles wahrscheinlich ganz dieselbe gewesen wie jetzt. Dies trug natürlich unmerklich auch dazu bei, den Eindruck in ihm lebendig zu erhalten, daß er mit diesem Teil des Lebens fertig sei und abgeschlossen habe.

Er hörte beständig durch sie von Minnie, daß sie in ihren Briefen stets wiederhole, wie glücklich sie sei und wie sie ihren Gatten liebe; aber unzertrennlich davon sah er stets auch die alte Wolke auf Mr. Meagles‘ Gesicht. Mr. Meagles war nie mehr ganz so freudestrahlend seit der Hochzeit wie zuvor. Er hatte die Trennung von Pet nie ganz verschmerzt. Er war dieselbe gutmütige offene Natur; aber wie wenn sein Gesicht von der beständigen Betrachtung des Bildes seiner Kinder, die ihm nur ein Gesicht zeigen konnten, unbewußt etwas Charakteristisches von denselben herübernähme, lag jetzt, bei allem Wechsel des Ausdrucks, doch immer ein gewisses Gefühl des Verlustes darin.

An einem winterlichen Sonnabend, als Clennam auf dem Landhause zu Besuch war, fuhr Mrs. Gowan in dem Wagen von Hampton Court vor, der der ausschließliche Wagen so vieler einzelner Eigentümer zu sein vorgab. Sie stieg in dem schattigen Hinterhalt ihres grünen Fächers aus, um Mr. und Mrs. Meagles mit einem Besuch zu erfreuen.

»Und wie befinden Sie sich beide, Papa und Mama Meagles?« sagte sie, ihre bescheidene Verwandtschaft ermutigend. »Und wann hörten Sie zuletzt von meinem armen Jungen?«

Mein armer Junge war ihr Sohn; und diese Art von ihm zu sprechen, hielt auf eine Weise, ohne daß irgendeine Beleidigung nachzuweisen war, die Anmaßung aufrecht, daß er den Ränken der Meagles‘ zum Opfer gefallen.

»Und die liebe hübsche Kleine«, sagte Mrs. Gowan. »Haben Sie spätere Nachrichten von ihr als ich?«

Auch dies deutete auf zarte Weise an, daß ihr Sohn sich habe von der bloßen Schönheit fangen lassen und unter ihrem Zauber auf alle weltlichen Vorteile verzichtet habe.

»Gewiß«, sagte Mrs. Gowan, ohne die Antworten, die sie erhielt, einer Beachtung zu würdigen, »es ist eine unaussprechliche Wohltat, zu wissen, daß sie immer noch glücklich sind. Mein armer Junge ist von so unruhigem Temperament und so an das Reisen gewöhnt und treibt sich so gern, beliebt unter allen Arten von Leuten, umher, daß das der größte Trost ist. Ich denke mir, sie sind so arm wie Mäuse, Papa Meagles?«

Mr. Meagles, der während dieser Frage ganz unruhig geworden, antwortete: »Ich denke nicht, Madam. Ich hoffe, sie werden mit ihren kleinen Einkünften auskommen.«

»Oh! mein liebster Meagles!« versetzte die Dame, indem sie ihn mit dem grünen Fächer auf den Arm liebkoste und ihn dann geschickt zwischen ein Gähnen und die Gesellschaft hielt, »wie können Sie als Weltmann und einer der mit den Geschäften vertrautesten Menschen – denn Sie wissen. Sie sind ein Geschäftsmann, und zwar viel zu sehr für uns, die wir nichts davon verstehen –«

(Was wieder auf das frühere hinzielte, nämlich Mr. Meagles zu einem geschickten Ränkeschmied zu machen).

»– Wie können Sie davon sprechen, sie sollen mit den kleinen Mitteln auskommen? Mein armer teurer Junge! Der Gedanke, er solle mit Hunderten auskommen! Und das süße, hübsche Geschöpf dazu. Die Idee, sie soll damit auskommen! Papa Meagles! Lassen Sie sich das nicht einfallen!«

»Nun, Ma’am«, sagte Mr. Meagles ernst, »ich bedaure einräumen zu müssen, daß Henry seine Mittel allerdings zu früh verausgabt.«

»Mein lieber, guter Mann – ich lasse alle Beschönigungen Ihnen gegenüber beiseite, da wir ja gewissermaßen Verwandte sind – ja, ja, Mama Meagles«, rief Mrs. Gowan heiter, als wenn der ungereimte Zufall ihr jetzt zum ersten Male ins Auge spränge, »gewissermaßen Verwandte! Mein lieber, guter Mann, in dieser Welt kann niemand von uns alles auf seine Weise haben.« Das ging wieder auf den früheren Punkt und zeigte Mr. Meagles bei aller seinen Lebensart, daß er bis dahin mit seinen schlauen Plänen glänzendes Glück gehabt hatte. Mrs. Gowan hielt den Einfall für so gut, daß sie länger dabei verweilte, indem sie wiederholte: »Nicht alles. Nein, nein, in dieser Welt dürfen wir nicht alles erwarten, Papa Meagles.«

»Und darf ich fragen, Ma’am«, warf Mr. Meagles etwas angerötet ein, » wer alles erwartet?«

»Oh, niemand, niemand!« sagte Mrs. Gowan. »Ich war im Begriff zu sagen – aber Sie bringen mich aus dem Konzept. Sie unterbrechender Papa, was wollte ich nur sagen?«

Damit ließ sie ihren großen grünen Fächer sinken und sah Mr. Meagles sinnend an, während sie darüber nachdachte; eine Beschäftigung, die nicht darauf abzielte, die erhitzten Geister dieses Mannes abzukühlen.

»Ach ja, richtig!« sagte Mrs. Gowan. »Sie müssen sich erinnern, daß mein armer Junge stets an große Erwartungen gewöhnt war. Sie mögen sich nun realisiert haben oder mögen sich nicht realisiert haben –«

»Wir wollen sagen: nicht realisiert haben, –« bemerkte Mr. Meagles.

Die Witwe warf ihm einen flüchtigen Blick voll Ärger zu, verscheuchte diesen aber mit einem Schütteln des Kopfes und des Fächers und fuhr in ihrem früheren Ton fort.

»Das ist kein Unterschied. Mein armer Junge war daran gewöhnt, und Sie wußten es natürlich und waren auf die Folgen vorbereitet. Ich meinesteils sah immer klar die Folgen vor Augen und war nicht überrascht. Und Sie können auch nicht überrascht sein. Können in der Tat nicht überrascht sein. Müssen darauf vorbereitet gewesen sein.«

Mr. Meagles sah seine Frau und dann Clennam an; biß sich auf die Lippen und hustete.

»Und nun erfährt mein armer Junge«, fuhr Mrs. Gowan fort, »daß er sich eines Kindes zu gewärtigen habe und all der Ausgaben, die mit einer solchen Vergrößerung der Familie verbunden sind. Der arme Henry! Aber nun ist nichts mehr zu ändern: es ist jetzt zu spät zu helfen. Nur sprechen Sie nicht von dem vorzeitigen Verausgaben der Mittel, Papa Meagles, als von einer Entdeckung, weil das zuviel wäre.«

»Zuviel, Ma’am?« sagte Mr. Meagles, als suchte er nach einer Erklärung.

»Ja, ja!« sagte Mrs. Gowan, indem sie ihm mit einer ausdrucksvollen Bewegung ihrer Hand seine untergeordnete Stellung anwies. »Zuviel für meines armen Jungen Mutter, um es in dieser Stunde zu tragen. Sie sind fest verheiratet und können nicht unverheiratet gemacht werden. Ja, ja! Ich weiß das! Sie brauchen es mir nicht zu sagen, Papa Meagles. Ich weiß das sehr gut. Was war’s, was ich soeben sagte? Daß es eine große Wohltat sei zu wissen, daß sie immer glücklich sind. Es steht zu hoffen, daß sie auch ferner glücklich sein werden. Es steht zu hoffen, daß die hübsche Kleine alles tun wird, was in ihren Kräften liegt, um meinen armen Jungen glücklich und zufrieden zu machen. Papa und Mama Meagles, wir würden besser tun, nicht mehr davon zu sprechen. Wir sahen diese Sache nie vom gleichen Gesichtspunkte aus an und werden es auch nie tun. Ja, ja! Nun bin ich beruhigt.«

Wahrlich, nachdem sie inzwischen alles gesagt, was sie sagen konnte, um ihre wunderbare mythische Stellung aufrechtzuerhalten und Mr. Meagles einzuschärfen, daß er die Ehre ihrer Verbindung mit ihm nicht zu billig anschlage, konnte Mrs. Gowan leicht geneigt sein, das übrige zu übergehen. Wenn Mr. Meagles einem bittenden Blick von Mrs. Meagles und einer ausdrucksvollen Gebärde Clennams nachgegeben hätte, so würde er sie im ungestörten Genusse dieser Gemütsverfassung gelassen haben. Pet war jedoch der Liebling und Stolz seines Herzens; und wenn er je ein treuerer Kämpe für sie hätte sein und sie mehr hätte lieben können als in den Tagen, da sie das Sonnenlicht seines Hauses war, so wäre es jetzt gewesen, wo sie aufgehört hatte, Tag für Tag Anmut und Heiterkeit darüber zu verbreiten.

»Mrs. Gowan, Ma’am«, sagte Mr. Meagles, »ich war mein ganzes Leben ein ehrlicher, offener Mann. Wenn ich – gleichgültig mit mir oder mit sonst jemandem oder auch mit beiden – irgendeine feine Mystifikation versuchte, würde es mir wahrscheinlich nicht gelingen.«

»Papa Meagles«, versetzte die Witwe mit einem freundlichen Lächeln, indes die Röte auf ihren Wangen um so lebhafter hervortrat, je blasser das übrige Gesicht wurde, »wahrscheinlich nicht.«

»Deshalb, meine gute Madame«, sagte Mr. Meagles, der große Mühe hatte, an sich zu halten, »hoffe ich auch, ohne anzustoßen, verlangen zu dürfen, daß man mich ebenfalls nicht zum Spielzeug solcher Mystifikationen mache.«

»Mama Meagles«, bemerkte Mrs. Gowan, »Ihr guter Mann ist unbegreiflich.«

Daß sie sich an diese würdige Dame wandte, war ein Kunstgriff, um sie in das Gespräch zu ziehen, sich dann mit ihr herumzuzanken und sie zuletzt zu besiegen. Mr. Meagles trat dazwischen, um dieser Niederlage zuvorzukommen.

»Mutter«, sagte er, »du bist unerfahren in solchen Dingen, meine Liebe, und es ist auch kein gleicher Streit. Laß mich dich bitten, ruhig zu bleiben. Nun, Mrs. Gowan, hören Sie. Lassen Sie uns vernünftig zu sein versuchen, lassen Sie uns versöhnlich zu sein versuchen, lassen Sie uns freundschaftlich zu sein versuchen. Bedauern Sie Henry nicht, so will ich Pet nicht bedauern. Und seien Sie nicht einseitig, Ma’am, das ist nicht rücksichtsvoll, das ist nicht freundlich. Lassen Sie uns nicht sagen, wir hoffen, Pet werde Henry glücklich machen, oder gar, wir hoffen, Henry werde Pet glücklich machen« (Mr. Meagles selbst sah nicht glücklich au«, als er diese Worte sprach), »sondern lassen Sie uns hoffen, daß sie sich gegenseitig glücklich machen.«

»Ja, gewiß, und damit genug, Vater«, sagte die gutmütige und behagliche Mrs. Meagles.

»Warum, Mutter; nein«, versetzte Mr. Meagles, »noch nicht. Ich kann die Sache damit noch nicht auf sich beruhen lassen; ich muß noch ein halbes Dutzend Worte mehr sagen. Mrs. Gowan, ich hoffe, ich bin nicht empfindlich. Ich glaube, ich sehe nicht so aus.«

»Allerdings nicht«, sagte Mr«. Gowan, ihren Kopf und ihren großen grünen Fächer zu gleicher Zeit emphatisch schüttelnd.

»Ich danke Ihnen, Ma’am; das ist gut. Trotzdem fühle ich mich ein wenig – ich möchte kein herbes Wort gebrauchen – nun, soll ich sagen, verletzt?« fragte Mr. Meagles mit Offenheit und Mäßigung und mit einer Aufforderung zur Versöhnung in seinem Tone.

»Sagen Sie, was Sie wollen«, antwortete Mrs. Gowan, »es ist mir vollständig gleichgültig.«

»Nein, nein, sagen Sie das nicht«, bat Mr. Meagles, »weil das keine freundschaftliche Antwort ist. Ich fühle mich ein wenig verletzt, wenn ich auf Folgen anspielen höre, die hätten vorausgesehen werden können, und daß es nun zu spät sei und so fort.«

»Wirklich, Papa Meagles?« sagte Mrs. Gowan. »Ich bin nicht überrascht.«

»Nun, Ma’am«, fuhr Meagles fort, »ich hoffte, Sie würden wenigstens überrascht sein, weil, mich absichtlich in einer so zarten Sache zu verletzen, sicher nicht sehr edel ist.«

»Sie wissen«, sagte Mrs. Gowan, »ich bin nicht für Ihr Gewissen verantwortlich.«

Der arme Mr. Meagles sah ganz bestürzt vor Erstaunen aus.

»Wenn ich unglücklicherweise eine Mütze tragen muß, die Ihnen gehört und für Sie paßt«, fuhr Mrs. Gowan fort, »so tadeln Sie nicht mich wegen des Musters, Papa Meagles, ich bitte!«

»Wie, mein Gott, Ma’am!« brach Mr. Meagles los, »das will so viel sagen, als –«

»Nun, Papa Meagles, Papa Meagles«, sagte Mrs. Gowan, die außerordentlich bedächtig und ihrer selbst Herr war, sobald ihr Gegner warm wurde, »vielleicht wäre es von meiner Seite besser, wenn ich, um einer Verwirrung zuvorzukommen, selbst spräche, statt Ihre Freundlichkeit zu bemühen, für mich zu sprechen. Das will so viel sagen, begannen Sie. Wenn Sie erlauben, will ich die Phrase schließen. Das will so viel sagen – nicht daß ich auf die Sache Nachdruck legen oder nur daran zu erinnern wünsche, denn es ist jetzt unnütz, und mein einziger Wunsch ist, aus den bestehenden Umständen so viel Nutzen wie möglich zu ziehen –, daß ich vom ersten bis zum letzten Augenblick Einwendungen gegen diese Verbindung machte und erst sehr spät und äußerst ungern meine Einwilligung dazu gab.«

»Mutter!« rief Mr. Meagles. »Hörst du das! Arthur! Hören Sie das!«

»Da das Zimmer nicht zu groß ist«, sagte Mrs. Gowan umherblickend, während sie sich fächelte, »und in jeder Beziehung zur ›Konservation‹ ganz geeignet ist, so sollte ich denken, daß man mich in jedem Teil des Zimmers verstehen könnte.«

Es vergingen einige Augenblicke, bis Mr. Meagles sich mit genügender Sicherheit auf seinem Stuhl festhalten konnte, um nicht beim nächsten Worte, das er sprach, loszubrechen. Zuletzt sagte er: »Madame, ich frische die Sache sehr ungern wieder auf, allein ich sehe mich genötigt, Sie daran zu erinnern, was meine Ansicht und welcher Art mein Vorgehen in der ganzen unglücklichen Geschichte war.«

»O mein lieber Herr!« sagte Mrs. Gowan, mit einer Einsicht, in der eine Anklage lag, lächelnd und kopfschüttelnd, »ich habe es wohl verstanden, ich versichere Sie.«

»Ich wußte«, sagte Mrs. Meagles, »vor jenem Zeitpunkt nicht, was Unglück ist, ich kannte keine Angst und Besorgnis vor jener Zeit. Es war eine so traurige Zeit für mich, daß –« Daß Mr. Meagles nichts weiter darüber sprechen konnte, sondern mit seinem Taschentuch über das Gesicht fuhr.

»Ich verstand die ganze Sache wohl«, sagte Mrs. Gowan, ruhig über ihren Fächer hinblickend. »Da Sie an Mr. Clennam appelliert haben, so darf ich wohl auch an Mr. Clennam appellieren. Er weiß, ob dies der Fall oder nicht.«

»Ich nehme wirklich sehr ungern irgendwie teil an dieser Verhandlung«, sagte Clennam, den alle Parteien betrachteten, »namentlich, weil ich im besten Einverständnis und den unbefangensten Beziehungen zu Mr. Henry bleiben möchte. Ich habe sehr dringende Gründe, diesen Wunsch zu hegen. Mrs. Gowan unterlegte meinem Freunde hier gewisse Absichten bei der Begünstigung dieser Heirat: dies geschah in einem Gespräch, das zwischen uns stattfand, ehe die Heirat vollzogen wurde; ich versuchte, ihr diese Ansicht zu benehmen. Ich stellte ihr vor, ich wisse (damals, wie jetzt) von ihm, daß er durch Ansicht und Handlungsweise ganz strikt diesen Unterstellungen widerspreche.«

»Sie sehen«, sagte Mrs. Gowan und streckte das Innere ihrer Hände gegen Mr. Meagles aus, als wenn sie die Gerechtigkeit selbst wäre und ihm vorstellen wollte, daß er besser daran tun würde, zu gestehen, da er ja kein Bein mehr habe, auf dem er stehen könne. »Sie sehen? Sehr gut! Nun, Papa und Mama Meagles!« fügte sie hinzu und stand auf, »erlauben Sie, daß ich mir die Freiheit nehme, diesem ziemlich häßlichen Streit ein Ende zu machen. Ich will kein Wort weiter darüber verlieren. Nur so viel will ich sagen, daß es ein weiterer Beweis dessen ist, was uns alle Erfahrung lehrt: daß derlei Sachen nichts taugen – wie mein armer Junge selbst sagen würde, daß sie nicht lohnen – mit einem Wort, daß es eben nicht geht.«

Mr. Meagles fragte: was für Sachen?

»Es ist umsonst«, sagte Mrs. Gowan, »wenn Leute den Versuch machen, zusammengehen zu wollen, die so unendlich verschiedene Antezedenzien haben, die auf diese zufällige Weise durch eine Ehe zusammengeworfen sind und die den verkehrten Umstand, der sie zusammengebracht, nicht im gleichen Lichte betrachten können. Es geht nicht.«

Mr. Meagles war im Begriff zu beginnen: »Erlauben Sie mir zu sagen, Madame –«

»Nein, lassen Sie’s«, sagte Mrs. Gowan. »Warum sollten Sie! Es ist eine anerkannte Tatsache. Es taugt nicht. Ich werde deshalb, wenn Sie erlauben, meinen Weg gehen und Sie den Ihrigen gehen lassen. Es wird mir immer große Freude machen, die hübsche Frau meines armen Jungen zu sehen, und ich werde es mir stets angelegen sein lassen, auf dem liebevollsten Fuß mit ihr zu stehen. Aber was diesen halb familiären und halb fremden, halb warmen und halb kalten Fuß betrifft, so bildet er einen Zustand, der durch seine Unverträglichkeit geradezu spaßhaft ist. Ich versichere, es geht nicht.«

Die Witwe machte hier eine lächelnde Verbeugung, mehr gegen das Zimmer als gegen irgend jemand in demselben und nahm damit für immer Abschied von Papa und Mama Meagles. Clennam ging vor, um ihr in die Pillenschachtel zu helfen, die für alle Pillen im Hampton Court Palace bereitstand: sie stieg mit großer Feierlichkeit in den Wagen und fuhr fort.

Von da ab erzählte die Witwe mit leichtem und harmlosem Humor gar oft ihren nächsten Bekannten, wie sie es nach einem schweren Versuch unmöglich gefunden, mit diesen Leuten, denen Henrys Frau angehörte, die so verzweifelte Anstrengungen gemacht, um ihn zu fangen, Bekanntschaft zu pflegen. Ob sie schon vorher zu dem Schlusse gelangt war, daß ein Bruch mit diesen Leuten ihrer Lieblingsbehauptung einen bessern Hintergrund geben würde, ihr manche Unannehmlichkeit ersparte und dabei doch kein Verlust auf dem Spiel stünde (das hübsche Wesen war zu fest verheiratet, und ihr Vater liebte sie von ganzem Herzen), das wußte sie selbst am besten. Diese Geschichte hat jedoch nicht minder ihre eigne Ansicht, und diese fällt bejahend aus.

Neuntes Kapitel.


Neuntes Kapitel.

Erscheinen und Verschwinden.

»Arthur, mein lieber Junge«, sagte Mr. Meagles am Abend des folgenden Tages, »Mutter und ich haben die Sache besprochen, und wir fühlen uns nicht behaglich, wenn wir so bleiben, wie wir sind. Diese vornehme Verwandtschaft – diese teure Dame, die gestern hier war –«

»Ich verstehe«, sagte Arthur.

»Wir fürchten sogar, diese leutselige und herablassende Zierde der Gesellschaft«, fuhr Mr. Meagles fort, »möchte uns in ein falsches Licht stellen. Wir könnten um ihretwillen viel ertragen, Arthur; aber wir denken, wir ertragen es lieber nicht, da es ihr doch nichts nützt.«

»Gut«, sagte Arthur, »fahren Sie fort.«

»Sie sehen ein«, setzte Mr. Meagles hinzu, »es könnte uns in eine schiefe Stellung zu unserm Schwiegersohn bringen, es könnte uns sogar in eine schiefe Stellung zu unsrer Tochter bringen und zu mancherlei häuslichem Kummer Anlaß geben. Sie sehen doch ein?«

»Jawohl«, versetzte Arthur, »es ist vieles wahr in dem, was Sie sagen.« Er hatte Mrs. Meagles angesehen, die immer auf der guten und vernünftigen Seite war, und es lag eine Bitte in ihrem ehrbaren Gesicht, er möchte Mr. Meagles in seinen gegenwärtigen Absichten unterstützen.

»Wir sind deshalb entschlossen, Mutter und ich«, sagte Mr. Meagles, »unsre sieben Sachen einzupacken und wieder unter die Alloners und Marchoners zu gehen. Ich meine, wir sind entschlossen, uns auf den Weg zu machen, durch Frankreich nach Italien zu reisen und unsre Pet zu besuchen.«

»Und ich bin überzeugt«, versetzte Arthur, gerührt durch die mütterliche Vorfreude in dem hübschen Gesicht von Mrs. Meagles (sie mußte ihrer Tochter einst sehr ähnlich gesehen haben), »daß Sie nichts Gescheiteres tun können. Und wenn Sie mich um Rat fragen, so gebe ich Ihnen den, sich morgen schon auf den Weg zu machen.«

»Ist das wahr?« sagte Mr. Meagles. »Mutter, heißt das nicht, einem seine Gedanken wiedergeben?«

Mutter antwortete mit einem Blick, der Clennam in einer für ihn höchst angenehmen Weise dankte, daß dies allerdings der Fall sei.

»Und dann, Arthur, ist es auch das«, sagte Mr. Meagles, und die alte Wolke überzog sein Gesicht, »daß mein Schwiegersohn bereits wieder Schulden hat, und daß ich ihn vermutlich wieder herausreißen muß. Vielleicht geschieht es ebensowohl aus diesem Grunde, daß ich die Reise unternehme, um ihn auf freundliche Weise zu überwachen. Und dann, darin ist Mutter töricht ängstlich (und doch ist es auch wieder natürlich), wegen Pets Gesundheit; sie soll sich im gegenwärtigen Augenblick nicht einsam und verlassen fühlen. Rom ist unleugbar weit entfernt, Arthur, und unter allen Umständen ein fremder Ort für das arme liebe Kind. Sie mag so gut versorgt sein, wie irgendeine Dame in jenem Lande, es ist und bleibt weit entfernt. Denn Heimat bleibt Heimat, wenn sie auch schon nicht mehr so heimatlich ist. Sie wissen warum«, sagte Mr. Meagles, indem er eine neue Version zu dem Sprichwort »Rom bleibt Rom, wenn es auch nicht mehr so römisch ist« fügte.

»Das ist alles vollkommen richtig«, bemerkte Arthur, »und hinlänglicher Grund zum Reisen.«

»Ich freue mich, daß Sie so denken; es ist entscheidend für mich. Mutter, meine Liebe, du kannst dich vorbereiten. Wir haben unsern angenehmen Dolmetscher verloren (sie sprach drei fremde Sprachen wundervoll, Arthur; Sie haben es oft gehört), und nun mußt du mir durchhelfen, Mutter, so gut du kannst. Ich nehme viele Hilfe in Anspruch, Arthur«, sagte Mr. Meagles, den Kopf schüttelnd, »viele Hilfe. Ich bleibe bei allem stecken, was über das ›Nomen Substantivum‹ hinausgeht –, und ich bleibe bei ihm stecken, wenn es schwer ist.«

»Ah! Nun fällt mir ein«, versetzte Clennam. »Da ist ja Cavalletto. Er soll mit Ihnen gehen, wenn es Ihnen beliebt. Ich würde ihn nicht gern verlieren, aber Sie bringen ihn mir wohlbehalten zurück.«

»Schön! Ich bin Ihnen sehr verbunden, mein Lieber«, sagte Mr. Meagles, sich die Sache überlegend, »aber ich will es doch lassen. Nein, ich hoffe, Mutter wird mir durchhelfen. Cavallooro (ich stocke schon ganz verdutzt bei seinem Namen, er klingt wie der Chorus eines komischen Liedes) Cavallooro ist Ihnen so nötig, daß ich mich mit dem Gedanken, ihn mitzunehmen, nicht befreunden kann. Und überdies, wir wissen ja nicht, wann wir wieder heimkommen, es würde doch nicht gehen, ihn auf unbestimmte Zeit so mit uns fortzunehmen. Das Landhaus ist nicht mehr, was es war. Es birgt nur zwei kleine Personen weniger als sonst, Pet und ihr armes unglückliches Mädchen Tattycoram; aber es erscheint doch ganz öde. Sind wir mal fort, wer weiß, wann wir dann wiederkommen. Nein, Arthur, Mutter wird mir schon durchhelfen.«

»Sie werden sich vielleicht wirklich am besten selbst helfen«, dachte Clennam und beharrte deshalb nicht länger bei seinem Vorschlag.

»Wenn Sie zuweilen hierherkommen und sich hier aufhalten wollten, falls es Ihnen keine Unbequemlichkeit macht«, fuhr Mr. Meagles fort, »so würde mir der Gedanke große Freude machen – und ich weiß, auch bei Mutter ist das der Fall –, daß Sie an den alten Ort etwas Leben brächten, wie er es gewohnt war, als er noch richtig bewohnt war, und daß auf die Kinder an der Wand hier bisweilen ein freundlicher Blick fiele. Sie gehören so wesentlich zu dem Ort und zu ihnen, Arthur, und wir alle wären so glücklich, wenn es anders gekommen wäre – aber, lassen Sie mich mal sehen – wie das Wetter jetzt zum Reisen ist?« Mr. Meagles brach ab, räusperte sich und ging ans Fenster, um nachzusehen.

Sie waren einig darüber, daß das Wetter gut zu werden versprach, und Clennam hielt das Gespräch in dieser unschuldigen Richtung fest, bis ein leichterer Ton eingetreten war, worauf er wieder unmerklich zu Henry Gowan hinüberlenkte und von seinem lebhaften Geist und seinen angenehmen Eigenschaften, wenn man ihn gut behandelte, sprach; auch verweilte er einige Zeit bei der unbestreitbaren Liebe, die er für seine Frau hege. Clennam verfehlte seinen Zweck gegenüber dem guten Mr. Meagles nicht, den diese Anpreisungen sehr angenehm berührten, und der Mutter zum Zeugen nahm, daß es sein einziger und herzlicher Wunsch in Beziehung auf den Gatten seiner Tochter sei, in bestem Einvernehmen mit ihm zu stehen, Freundschaft gegen Freundschaft und Vertrauen gegen Vertrauen auszutauschen. Wenige Stunden später wurden die Möbel des Landhauses zur Schonung während der Abwesenheit der Familie überzogen – oder, wie Mr. Meagles sich ausdrückte, das Hau« begann sein Haar in Papier zu wickeln –, und wenige Tage später waren Vater und Mutter fort, Mrs. Tickit und Dr. Buchan wie ehedem auf ihrem Posten, hinter dem Fenster des Empfangszimmers, und Arthurs einsamer Fuß rauschte in dem dürren gefallenen Laub der Gartengänge.

Da er eine Vorliebe für den Ort besaß, ließ er selten eine Woche vergehen, ohne ihm einen Besuch zu machen. Bisweilen ging er allein dahin und blieb von Sonnabend bis Montag; bisweilen begleitete ihn sein Associé; bisweilen schlenderte er eine oder zwei Stunden durch Haus und Garten, sah nach, ob alles in Ordnung war, und kehrte wieder nach London zurück. Immer und unter allen Umständen saßen Mrs. Tickit mit der schwarzen Lockenfülle und Dr. Buchan am Fenster des Empfangszimmers und warteten auf die Heimkehr der Familie.

Bei einem dieser Besuche empfing ihn Mrs. Tickit mit den Worten: »Ich habe Ihnen etwas zu sagen, Mr. Clennam, das Sie überraschen wird.« Dieses fragliche Etwas war so überraschend, daß es wirklich Mrs. Tickit von dem Fenster im Empfangszimmer wegbrachte und sie in den Garten führte, als Clennam durch das Tor trat, nachdem man ihm geöffnet hatte.

»Was ist es, Mrs. Tickit?« sagte er.

»Sir«, versetzte die getreue Haushälterin, nachdem sie ihn in das Empfangszimmer geführt und die Tür geschlossen hatte, »wenn ich je das entführte und betrogene Kind in meinem Leben sah, so sah ich es gestern abend in der Dunkelheit.«

»Sie meinen doch nicht Tatty –«

»Coram, ja allerdings!« sagte Mr«. Tickit, die Entdeckung mit einem Schlag enthüllend.

»Wo?«

»Mr. Clennam«, versetzte Mr«. Tickit, »meine Augen waren etwas schwer, da ich länger als gewöhnlich auf meine Tasse Tee wartete, die Mary Jane bereitete. Ich schlief nicht, aber ich döste auch nicht, wie man sich richtig ausdrücken würde. Ich wachte vielmehr mit geschlossenen Augen, wie man das genau bezeichnen könnte.«

Ohne auf eine Untersuchung dieses seltsam abnormen Zustandes einzugehen, sagte Clennam: »Jawohl. Nun?«

»Nun, Sir«, fuhr Mrs. Tickit fort, »ich dachte an das eine und dachte an das andere. Ganz wie Sie’s auch machen würden. Ganz wie es jedermann machen würde.«

»Allerdings,« sagte Clennam. »Nun?«

»Und wie ich so an das eine denke und an das andre denke«, fuhr Mrs. Tickit fort, »so brauche ich Ihnen kaum zu sagen, Mr. Clennam, daß ich auch an die Familie denke. Weil, natürlich, die Gedanken eines Menschen«, sagte Mrs. Tickit mit einer argumentierenden und philosophischen Miene, »wie sie sich auch zerstreuen mögen, doch immer wieder mehr oder weniger auf das kommen werden, was in seinem Sinn obenan steht. Sie werden es tun, Sir, und niemand vermag sie daran zu hindern.«

Arthur unterschrieb diese Entdeckung mit einem Nicken des Kopfes.

»Sie finden es selbst so, Sir, das wage ich kühn zu behaupten«, sagte Mrs. Tickit, »und wir alle finden es so. Nicht unsre Stellungen im Leben sind es, die uns ändern, Mr. Clennam; die Gedanken sind frei! – Wie ich sagte, ich dachte an das eine und dachte an das andere und dachte viel an die Familie. Nicht an die Familie in der Gegenwart allein, sondern auch an die Familie in frühern Zeiten. Dann wenn jemand an das eine und an das andre zu denken beginnt, in der Zeit, wo es dunkel wird, so ist das, was ich sagen wollte, daß alle Zeiten wie gegenwärtig erscheinen, und man muß erst aus diesem Zustande herauskommen und überlegen, ehe man sagen kann, was etwas ist.«

Er nickte wieder; denn er fürchtete sich, ein Wort zu äußern, damit nicht eine neue Öffnung für das Ausströmen des Konversationstalents entstünde.

»Als ich deshalb«, sagte Mrs. Tickit, »mit den Augen zwinkerte und ihre wirkliche Gestalt zum Tor hereinschauen sah, schloß ich sie wieder, ohne mich auch nur vom Fleck zu bewegen; denn diese Gestalt paßte so genau zu der Zeit, da sie noch zu dem Hause gehörte, wie ich und Sie, daß ich nicht in dem Augenblick daran dachte, daß sie fort wäre. Als ich jedoch wieder mit den Augen zwinkerte, Sir, und sah, daß jene Gestalt nicht mehr da war, überkam mich eine bange Furcht und ich sprang auf.«

»Sie eilten wohl augenblicklich hinaus?« sagte Clennam.

»Ich eilte hinaus«, bejahte Mrs. Tickit, »so schnell mich meine Füße trugen; und wenn Sie mir glauben wollen, Mr. Clennam, so war, so weit der Himmel reichte, keines Fingers groß von dem Mädchen zu sehen.«

Über die Abwesenheit dieses neuen Sternes am Firmament wegsehend, fragte Arthur Mrs. Tickit, ob sie auch zum Tore hinausgegangen sei.

»Hin und her und auf und ab«, sagte Mrs. Tickit, »und sah keine Spur von ihr.« Er fragte dann Mrs. Tickit, wie groß der Zeitraum zwischen dem zweimaligen Augenzwinkern wohl gewesen sein möchte? Mrs. Tickit, obwohl minutiös umständlich in ihrer Antwort, hatte keine entschiedene Ansicht: sie schwebte zwischen fünf Sekunden und zehn Minuten. Sie war so unsicher in dieser Beziehung und so sicher aus dem Schlafe aufgefahren, daß Clennam sehr geneigt war, diese Erscheinung als einen Traum zu betrachten. Ohne Mrs. Tickit durch diese ungläubige Lösung ihres Rätsels zu kränken, nahm er seine Meinung von dem Landhause mit sich und würde sie wohl für immer festgehalten haben, wenn nicht ein Umstand zufällig bald darauf seine Meinung geändert hätte.

Er ging bei Einbruch des Abends am Strande hin, und vor ihm her schritt der Lampenanzünder, unter dessen Hand die Straßenlaternen, durch die neblige Luft angelaufen, eine nach der andern aufflammten, wie ebenso viele leuchtende Sonnenblumen, die plötzlich in volle Blüte treten, als unerwartet eine Stockung auf dem Wege, den ein Zug von Kohlenwagen veranlaßte, die sich von den Kais am Ufer heraufwanden, ihn stillzustehen nötigte. Er war rasch gegangen und in einem raschen Gedankengang begriffen, und die plötzliche Störung, die nun eintrat, ließ ihn sich lebhaft umsehen, wie dies gewöhnlich unter solchen Umständen der Fall ist.

Plötzlich sah er vor sich – nur wenige Leute waren zwischen ihnen, so daß er sie hätte berühren können, wenn er den Arm ausgestreckt – Tattycoram und einen fremden Mann von merkwürdigem Äußern: es war ein Bramarbas mit einer gebogenen Nase und einem schwarzen Schnurrbart, der so falsch in seiner Farbe war wie seine Augen in ihrem Ausdruck, und der seinen schweren Mantel so trug, daß man ihn für einen Ausländer hielt. Seine Kleidung und sein ganzes Auftreten waren die eines Mannes auf Reisen, und er schien erst ganz kurz auf das Mädchen gestoßen zu sein. Als er sich zu ihr hinabbeugte (da er weit größer als sie war) und auf das lauschte, was sie zu ihm sagte, warf er den mißtrauischen Blick eines Mannes über seine Schulter, der ziemlich daran gewöhnt ist, fürchten zu müssen, daß man ihm auf dem Fuße folgte. In diesem Augenblick sah Clennam sein Gesicht; er bemerkte, wie seine Augen finster auf die Leute blickten, die sich hinter ihm drängten, ohne besonders auf Clennams oder irgendeinem andern Gesicht zu verweilen.

Er hatte kaum wieder seinen Kopf umgewandt und beugte sich noch immer lauschend zu dem Mädchen herab, als die Stockung aufhörte und der gehemmte Menschenstrom fortflutete. Den Kopf zu ihr hinabbeugend und auf das Mädchen lauschend, ging er neben ihr her, und Clennam folgte ihnen, entschlossen, dies unerwartete Spiel zu Ende zu führen und zu sehen, wohin sie gingen.

Er hatte kaum diesen Entschluß gefaßt (obgleich er sich noch nicht lange damit trug), als er plötzlich wieder festgehalten wurde, wie dies durch die Stockung geschehen. Sie bogen kurz nach dem Adelphi ab – das Mädchen war offenbar die Führende – und schritten geradeaus, als ob sie nach der Terrasse gehen wollten, die über dem Flusse hängt.

Es tritt hier immer – bis heutigentags – eine plötzliche Pause in dem Geräusch der großen Straßen ein. Die wirren Klänge werden plötzlich so gedämpft, daß die Veränderung den Eindruck macht, als ob man Baumwolle in die Ohren steckte oder den Kopf dicht umwickelt hätte. Zu jener Zeit war der Kontrast noch weit größer; da noch keine kleinen Dampfboote auf dem Strom, noch keine Landungsplätze, sondern nur schlüpfrige, hölzerne Stufen und Fußdammwege, keine Eisenbahn auf dem gegenüberliegenden Ufer, keine Hängebrücke, kein Fischmarkt in der Nähe, kein Verkehr auf der nächsten steinernen Brücke war und noch kein Fahrzeug auf dem Strom als die Jollen der Fährleute und Kohlenauslader. Lange und breite schwarze Reihen der letzteren, fest im Schlamme liegend, als wenn sie sich nicht wieder bewegen sollten, machten das Ufer, wenn die Dunkelheit eingetreten war, traurig und still und hielten die geringe Bewegung des Wassers von dem Ufer ab und drängten sie nach der Mitte des Stroms. Sobald die Sonne untergegangen, namentlich sobald die meisten Leute, die zu Hause etwas zu essen haben, nach Hause gehen, um es zu essen, und die meisten von denen, die nichts haben, noch nicht fortgeschlichen sind, um zu betteln oder zu stehlen, war es ein öder Ort, der auf eine öde Szene sah.

Zu einer solchen Stunde war es, als Clennam an der Ecke stehenblieb und das Mädchen und den Fremden beobachtete, die die Straße hinabgingen. Die Schritte des Mannes auf den hallenden Steinen waren so geräuschvoll, daß er nicht Lust hatte, den Schall der seinen hinzuzufügen. Als sie jedoch an die Ecke gegangen und in der Dunkelheit der dunklen Ecke sich befanden, die zu der Terrasse führte, ging er in solch gleichgültiger Weise wie nur immer möglich, wie wenn er ein zufälliger Spaziergänger wäre, hinter ihnen drein.

Als er um die dunkle Ecke bog, schritten sie die Terrasse entlang auf eine Gestalt zu, die ihnen entgegenkam. Wenn er sie für sich, unter diesen Umständen von Gaslicht, Nebel und Entfernung gesehen, würde er sie wohl auf den ersten Blick nicht gekannt haben; aber da ihn die Gestalt des Mädchens auf die Spur führte, so erkannte er sogleich Miß Wade.

Er blieb an der Ecke stehen und sah erwartungsvoll in die Straße hinter sich, als wenn er jemand hierher bestellt hätte; aber er behielt die drei scharf im Auge. Als sie zusammenkamen, nahm der Mann seinen Hut ab und machte Miß Wade eine Verbeugung. Das Mädchen schien einige Worte zu sagen, als wenn sie ihn vorstellte oder Rechenschaft gäbe, warum er so spät oder so früh käme oder etwas dergleichen, und trat darauf einen oder zwei Schritte zurück. Miß Wade und der Mann begannen dann auf und nieder zu gehen; der Mann schien äußerst höflich und komplimentenreich zu sein; Miß Wade dagegen erschien außerordentlich stolz.

Als sie an die Ecke kamen und sich umwandten, sagte sie: »Wenn ich deshalb darbe, mein Herr, so ist das meine Sache. Beschränken Sie sich auf Ihre Sache, und fragen Sie mich nichts mehr.«

»Beim Himmel, Madame!« antwortete er und machte eine zweite Verbeugung. »Es war mein tiefer Respekt vor Ihrem Charakter und meine Bewunderung Ihrer Schönheit.«

»Ich verlange weder das eine noch das andere von irgend jemand«, sagte sie, »und sicher am wenigsten unter allen Geschöpfen von Ihnen. Fahren Sie fort mit Ihrem Bericht.«

»Verzeihen Sie mir?« fragte er mit der Miene halbbeschämter Galanterie.

»Sie sind bezahlt«, sagte sie, »und das ist alles, was Sie brauchen.«

Ob das Mädchen hinterdreinging, weil sie die Sache nicht hören sollte, oder weil sie bereits genug davon wußte, konnte Clennam nicht entscheiden. Sie kehrten um, und sie kehrte um. Sie sah auf den Fluß hinaus, während sie mit gefalteten Händen weiterging, und das war alles, was er von ihr sehen konnte, ohne sein Gesicht zu zeigen. Zufälliger- und glücklicherweise war wirklich ein Müßiggänger in der Nähe, der auf jemand wartete und bald über das Geländer in das Wasser sah, bald nach der dunklen Ecke kam, wodurch Arthur weniger beachtet wurde.

Als Miß Wade und der Mann wieder zurückkamen, sagte sie: »Sie müssen bis morgen warten.«

»Bitte tausendmal um Entschuldigung!« versetzte er. »Meiner Treu! So ist es also heute abend nicht mehr möglich?«

»Nein, ich sage Ihnen ja, daß ich es zuvor selbst haben muß, ehe ich es Ihnen geben kann.«

Sie blieb auf dem Wege stehen, als wollte sie der Verhandlung ein Ende machen. Er blieb natürlich gleichfalls stehen. Und das Mädchen blieb stehen.

»Es ist etwas unbequem«, sagte der Mann. »Etwas unbequem. Aber freilich, das will bei einem solchen Dienst nichts heißen. Ich bin zufällig heute abend ohne Geld. Ich habe einen guten Bankier in dieser Stadt, aber ich möchte nicht gern auf jenes Haus ziehen, bis die Zeit da ist, wo ich eine runde Summe ziehen kann.«

»Harriet«, sagte Miß Wade, »arrangieren Sie die Sache mit ihm – diesem Herrn hier –, daß wir ihm morgen einiges Geld schicken.« Sie sagte das Wort Herrn so flüchtig, daß es verächtlicher klang als jede Emphase, und ging langsam weiter.

Der Mann verbeugte sich wieder, und das Mädchen sprach mit ihm, während sie beide hinter ihr dreingingen. Clennam wagte es, das Mädchen anzusehen, als sie weggingen. Er konnte bemerken, daß ihre tiefen schwarzen Augen mit forschendem Ausdruck auf den Mann geheftet waren, und daß sie sich etwas entfernt von ihm hielt, als sie so nebeneinander nach dem andern Ende der Terrasse gingen.

Ein lauter und veränderter Schall auf dem Pflaster sagte ihm, ehe er unterscheiden konnte, was vorging, daß der Mann allein zurückkam. Clennam schlenderte in den Weg, nach dem Geländer; und der Mann ging rasch vorüber. Er hatte den Zipfel seines Mantels über seine Schulter geworfen und sang ein Stück aus einem französischen Liebe.

Die ganze Aussicht zeigte niemand mehr außer ihm. Der Müßiggänger war fortgeschlendert, und Miß Wade und Tattycoram waren weggegangen. Mehr als je begierig zu sehen, was aus ihnen würde, und um seinem guten Freund Mr. Meagles eine Mitteilung machen zu können, ging er nach dem andern Ende der Terrasse, während er vorsichtig nach allen Seiten sah. Er urteilte richtig, daß sie jedenfalls zuerst eine entgegengesetzte Richtung von ihrem letzten Begleiter einschlagen würden. Er sah sie bald in einer benachbarten Nebenstraße, die nicht befahren wurde, wo sie offenbar abwarten wollten, bis der Mann ihnen den Weg geräumt hatte. Sie gingen gemächlich Arm in Arm auf der einen Seite der Straße hinab und kehrten auf der andern Seite zurück. Als sie wieder an die Straßenecke kamen, vertauschten sie ihren Schritt mit dem von Leuten, die etwas zu tun und einen großen Weg zu machen haben, und schritten fest einher. Clennam behielt sie nicht minder fest im Auge. Sie gingen über den Strand und durch Covent Garden (unter den Fenstern seiner alten Wohnung vorüber, wo die liebe Klein-Dorrit in jener Nacht ihn besucht hatte) und nahmen die Richtung nach Nordost, bis sie an dem großen Gebäude vorüberkamen, dem Tattycoram ihren Namen verdankte, und in Grays Inn Road einbogen. Hier war Clennam ganz zu Hause, durch Flora nämlich, des Patriarchen und Pancks nicht zu gedenken, und konnte sie bequem im Auge behalten. Er fing an neugierig zu werden, wohin sie wohl zunächst gehen würden, als sich diese Neugier in das noch größere Staunen auflöste, sie in die Patriarchenstraße einbiegen zu sehen. Dieses Erstaunen wich seinerseits wieder dem noch größern Staunen, mit dem er sie vor der Patriarchentür halten sah. Ein leises zweimaliges Pochen mit dem glänzenden messingnen Klopfer, ein Lichtstrahl, der aus der geöffneten Tür auf die Straße fiel, eine kurze Pause zu Frage und Antwort, und die Tür ward geschlossen, und sie befanden sich in dem Hause.

Nachdem er auf die Umgebung einen Blick geworfen, um sich zu versichern, daß das kein wunderlicher Traum sei, und nachdem er einige Zeit vor dem Hause auf und ab gegangen, pochte Arthur an die Tür. Sie wurde durch die gewöhnliche weibliche Dienerin geöffnet, die ihn mit der gewöhnlichen Behendigkeit nach dem Wohnzimmer Floras führte.

Es war niemand bei Flora als Mr. Finchings Tante, welche ehrwürdige Dame, in der balsamischen Atmosphäre von Tee und geröstetem Brot schwelgend, in einen bequemen Stuhl am Kamin verschanzt war, indes ein kleiner Tisch neben ihr stand und ein reines weißes Taschentuch über ihren Schoß gebreitet war, auf dem zwei Scheiben gerösteten Brotes in diesem Augenblick zum Verzehrtwerden bereitlagen. Über einen dampfenden Teekessel herabgebeugt und durch den Dampf schauend und den Dampf ausatmend wie eine böse chinesische Zauberin, die ihren gottlosen Ritus verrichtet, stellte Mr. Finchings Tante ihre große Tasse weg und rief: »Daß ihn doch, da ist er schon wieder!«

Es könnte nach dem vorhergehenden Ausruf scheinen, als wenn diese unnachgiebige Verwandte des vielbeweinten Mr. Finching, die die Zeit nach der Lebhaftigkeit ihrer Gefühle, nicht nach der Uhr bemaß, angenommen hätte, Clennam sei erst kürzlich weggegangen; während wenigstens ein Vierteljahr verflossen war, seitdem er die Verwegenheit besessen, vor ihr zu erscheinen.

»Ei, du meine Güte, Arthur!« rief Flora, indem sie aufstand, um ihn herzlich zu bewillkommnen. »Doyce und Clennam, welch eine große Überraschung, denn obgleich nicht weit von der Maschinenwerkstätte und der Gießerei und sicherlich kann man es bisweilen genießen, wenn auch zu keiner andern Zeit so doch um Mittag, wo ein Glas Xeres und eine bescheidene Butterschnitte mit etwas kaltem Braten, der gerade noch in der Speisekammer ist, nicht zu verachten ist und nicht schlechter schmeckt weil es die Freundschaft bietet denn Sie wissen kaufen muß man’s wo und wo man’s kauft muß immer ein Profit dabei sein, sonst würden sie das Geschäft nicht betreiben das versteht sich von selbst obgleich niemals gesehen und doch jetzt gelernt nicht zu erwarten denn wie Mr. Finching selbst sagte wenn Sehen Glauben ist so ist Nichtsehen auch Glauben und wenn man nicht sieht so kann man überzeugt sein man erinnere sich unsrer nicht, nicht daß ich erwarte Sie Arthur Doyce und Clennam sollen an mich denken warum sollt‘ ich auch, denn die Zeiten sind vorüber bringe gleich noch eine andre Tasse und sorge auch für frischen Toast und bitte setzen Sie sich hier ans Feuer.«

Arthur lag sehr viel daran, den Grund seines Besuchs auseinanderzusetzen; aber wider seinen Willen hielt ihn der vorwurfsvolle Inhalt dieser Worte, soviel er davon verstand, und die aufrichtige Freude, die sie bei seinem Anblick zeigte, für den Augenblick davon zurück.

»Und jetzt bitte ich, erzählen Sie mir etwas, alles was Sie wissen«, sagte Flora, indem sie ihren Stuhl dicht neben den seinen rückte, »von dem guten, lieben, stillen kleinen Ding und alle ihre Schicksalswechsel; haben jetzt ohne Zweifel Wagen und Pferde ohne Zahl die Leute sehr romantisch ein Wappen natürlich und wilde Bestien auf den Hinterfüßen welche es zeigen als wär’s ein Bild das sie gemacht mit Mäulern von einem Ohr zum andern o du mein Himmel und ist sie gesund was doch das Erste und Wichtigste ist denn was ist Reichtum ohne Gesundheit wie Mr. Finching selbst so oft sagte wenn seine Gicht kam daß sechs Pence des Tages und sie selbst erwerben und keine Gicht weiter vorzuziehen wäre; nicht daß er von einer solchen Summe hätte leben können dazu wäre er der Letzte gewesen oder auch nur dieses kostbare kleine Ding obgleich das jetzt ein viel zu vertraulicher Ausdruck ist eine Neigung dazu gehabt sie war viel zu hart und klein dazu aber sie sah so schwächlich aus, Gott segne sie!«

Mr. Finchings Tante, die ein Stück Toast bis auf die Rinde gegessen, überreichte nun feierlich die Rinde Flora, die sie für sie aß, gewissermaßen als eine Art von Geschäft. Mr. Finchings Tante leckte dann ihre Finger langsam hintereinander an ihren Lippen und wischte sie genau in derselben Ordnung an dem weißen Taschentuch ab; dann nahm sie das andere Stück Toast und fing an, es zu verzehren. Während sie diese Sache auf ihre gewohnte Weise besorgte, sah sie Clennam mit so fürchterlicher Strenge an, daß er sich gegen seine persönliche Neigung gezwungen fühlte, sie ebenfalls anzusehen.

»Sie ist in Italien mit ihrer ganzen Familie, Flora«, sagte er, als die schreckliche Dame wieder mit Essen beschäftigt war.

»In Italien ist sie, wirklich?« sagte Flora, »wo die Tauben und Feigen überall wachsen und auch Lava- Hals- und Armbänder in dem poetischen Lande mit feuerspeienden Bergen über die Maßen malerisch obgleich man sich nicht wundern kann daß die Drehorgeljungen aus der Nachbarschaft dieser Berge weggehen um nicht zu verbrennen da sie noch so jung sind und ihre weißen Mäuse mit sich bringen und ist sie wirklich in diesem herrlichen Lande mit ewig blauem Horizont und sterbenden Gladiatoren und Belvederes obgleich Mr. Finching selbst nicht daran glaubte denn er sagte dagegen wenn er guter Laune war daß die Bilder nicht wahr sein könnten da gar keine Mittelstufe zwischen kostspieligen Massen von schlecht geglättetem ganz verkrümpeltem Leinenzeug und gar keinem wäre was sicher nicht wahrscheinlich ist obgleich vielleicht eine Folge der schroffen Gegensätze von reich und arm was die Sache erklären könnte.«

Arthur suchte ein Wort einzuschieben, aber Flora fuhr hastig fort:

»Auch das frisch erhaltene Venedig«, sagte sie, »ich glaube Sie waren dort ist es schlecht oder gut erhalten denn die Leute sind gar verschiedener Ansicht und Makkaroni wenn sie solche wirklich wie Taschenspieler essen warum schneidet man sie nicht kürzer Arthur – Doyce, denn ich habe nicht das Vergnügen aber bitte entschuldigen lieber Doyce und Clennam wenigstens nicht lieb und sicherlich nicht Sie mich – Sie kennen ja glaube ich Mantua was hat das mit Mantuamachen zu tun, ich konnte das nie herausbringen.«

»Ich glaube, sie haben nichts miteinander zu tun, Flora, diese beiden Dinge«, begann Arthur, als sie ihn abermals unterbrach.

»Auf Ihr Wort, also wirklich nicht ich glaubt‘ es auch nie aber das sieht mir gleich ich laufe mit einem Gedanken davon und da ich keinen übrig habe, behalte ich ihn. Ach es gab eine Zeit lieber Arthur ich sollte eigentlich entschieden nicht lieber sagen auch nicht Arthur aber Sie verstehen mich wenn ein schöner Gedanke den wie heißt es nur Horizont vergoldet und so weiter aber es ist jetzt dunkel umwölkt und alles ist vorbei.«

Arthurs sich steigernder Wunsch von etwas ganz anderem zu sprechen, stand indessen so deutlich auf seinem Gesicht geschrieben, daß Flora mit einem zärtlichen Blick innehielt und ihn fragte, was er auf dem Herzen habe?

»Ich hege den lebhaftesten Wunsch, Flora, jemand zu sprechen, der in diesem Hause ist – ohne Zweifel bei Mr. Casby. Jemanden, den ich eintreten sah und der irregeleitet auf sehr bedauerliche Weise das Haus einer meiner Freunde verlassen hat.«

»Papa sieht so viele und so seltsame Leute«, sagte Flora aufstehend, »daß ich nicht wagen würde hinunterzugehen Arthur außer für Sie. Ihretwegen würde ich willig in eine Taucherglocke gehen, um soviel lieber in ein Speisezimmer und werde augenblicklich zurück sein, wenn Sie während ich fort bin, auf Mr. Finchings Tante achten oder auch nicht achten wollen.«

Mit diesen Worten und einem Blick zum Abschied eilte Flora hinaus, während sie Clennam unter schrecklichen Besorgnissen wegen seiner furchtbaren Aufgabe zurückließ.

Die erste Veränderung, die sich in Mr. Finchings Tante bemerklich machte, als sie ihr Stück Toast gegessen hatte, war ein lautes und langes Schnauben. Da er diese Demonstration nicht anders denn als eine Herausforderung zu deuten imstande war, weil der finstere Ton nicht mißverstanden werden konnte, so sah Clennam die vortreffliche, obgleich vorurteilsvolle Dame, von der die Herausforderung ausging, flehend an, in der Hoffnung, daß sie durch Demut und Unterwerfung entwaffnet würde.

»Richten Sie Ihre Augen nicht so auf mich«, sagte Mr. Finchings Tante vor Feindseligkeit zitternd. »Nehmen Sie das!«

»Das« war die Kruste von dem Stück Toast. Clennam nahm die Gabe mit einem Blick voll Dankbarkeit und hielt sie mit einiger Verlegenheit in der Hand: diese Verlegenheit wurde nicht geringer, als Mr. Finchings Tante, ihre Stimme zu einem Schrei von beträchtlicher Kraft erhebend, ausrief: »Er hat einen stolzen Magen, der Laffe! Er ist zu stolz, es zu essen!« Und aus ihrem Stuhl sich erhebend, schüttelte sie ihre ehrwürdige Faust so dicht vor seiner Nase, daß es ihm an der Spitze kitzelte. Ohne die rechtzeitige Rückkehr Floras, die ihn in dieser schwierigen Lage fand, wären weitere Folgen nicht zu vermeiden gewesen. Flora führte, ohne im mindesten außer Fassung zu geraten oder zu staunen, sondern im Gegenteil die alte Dame beifällig beglückwünschend, daß sie »heute abend so lebhaft sei«, dieselbe in ihren Stuhl zurück.

»Er hat einen stolzen Magen, der Laffe«, sagte Mr. Finchings Verwandte, als man sie wieder zum Sitzen brachte. »Gib ihm eine Schüssel Häcksel!«

»Oh! ich glaube nicht, daß er das schmackhaft fände, Tante«, versetzte Flora.

»Gib ihm eine Schüssel Häcksel, sage ich dir«, versetzte Mr. Finchings Tante und sah um Flora herum nach ihrem Feinde, »’s ist das einzige für einen stolzen Magen. Laß ihm Bissen um Bissen aufessen. Dem verwünschten Laffen gib eine Schüssel Häcksel!«

Unter einem allgemeinen Vorwande, ihm diese Erfrischung zukommen zu lassen, brachte ihn Flora hinaus bis an die Treppe. Mr. Finchings Tante, die auch da noch mit unaussprechlicher Bitterkeit wiederholte, daß er »ein Laffe« sei und »einen stolzen Magen« habe, bestand immer wieder daraus, daß man ihm diese Stallfütterung bereite, die sie bereits so streng vorgeschrieben hatte.

»Eine so unbequeme Treppe und so viele Eckstufen, Arthur«, flüsterte Flora, »würden Sie etwas dawider haben, mir Ihren Arm unter meiner Pelerine zu geben?«

Mit dem Gefühl in einer ungemein lächerlichen Weise die Treppe hinabzugehen, nahm Clennam die gewünschte Haltung an und ließ seine schöne Last erst am Speisezimmer los; und auch hier war dies ziemlich schwierig, denn sie blieb in seinen Armen, um ihm zuzuflüstern: »Arthur, ums Himmels Willen nur dem Papa kein Sterbenswort davon!«

Sie begleitete Arthur in das Zimmer, wo der Patriarch allein saß, mit den Litzenschuhen auf dem Kamingitter und die Daumen umeinander drehend, als ob er niemals aufgehört, dies zu tun. Der jugendliche Patriarch, zehn Jahre alt, sah aus dem Rahmen über ihm kaum mit einer ruhigeren Miene als er selbst herab. Beide glatten Köpfe waren gleich strahlend, faselhausig und hohl.

»Mr. Clennam, ich freue mich, Sie zu sehen. Ich hoffe. Sie befinden sich wohl, Sir, ich hoffe. Sie befinden sich wohl. Bitte, setzen Sie sich, bitte setzen Sie sich.«

»Ich hatte gehofft, Sir«, sagte Clennam, indem er einen Stuhl nahm und sich sehr enttäuscht umsah, »ich hatte gehofft. Sie nicht allein zu finden.«

»Ah, so?« sagte der Patriarch gütig. »Ah, wirklich?«

»Ich sagte es Ihnen ja, Papa, Sie wissen«, rief Flora.

»Ach richtig!« versetzte der Patriarch. »Ja, ja. Ach, gewiß.«

»Bitte, Sir«, fragte Clennam dringend, »ist Miß Wade wieder fort?«

»Miß –? O, Sie nennen sie Miß Wade«, versetzte Mr. Casby. »Ganz hübsch das.«

Arthur entgegnete rasch: »Wie nennen Sie sie?«

»Wade«, sagte Mr. Casby. »O, immer Wade.«

Nachdem Arthur ein paar Sekunden das philanthropische Gesicht und das lange seidene weiße Haar betrachtet, während welcher Zeit Mr. Casby seine Daumen umeinander drehte und in das Feuer lächelte, als wenn er wohlwollend wünschte, es möchte ihn brennen, damit er ihm verzeihen könnte, begann er:

»Ich bitte um Vergebung, Mr. Casby –«

»Keine Ursache, keine Ursache«, sagte der Patriarch, »keine Ursache.« »– aber Miß Wade hatte eine Begleiterin bei sich, ein junges, von mir befreundeten Menschen erzogenes Mädchen, auf das sie einen Einfluß ausübt, der nicht als sehr heilsam betrachtet werden kann, und der ich so gern mitzuteilen die Gelegenheit haben möchte, daß sie das Interesse dieser Beschützer noch nicht verwirkt hat.«

»Wirklich, wirklich?« versetzte der Patriarch.

»Wollen Sie deshalb so freundlich sein und mir die Adresse von Miß Wade geben?«

»Ei, du meine Güte!« sagte der Patriarch, »wie schade! Wenn Sie nur zu mir geschickt hätten, als sie noch da waren! Ich bemerkte das junge Mädchen wohl, Mr. Clennam. Ein feines, vollblühendes junges Mädchen, Mr. Clennam, mit sehr dunklem Haar und sehr dunklen Augen, wenn ich mich nicht täusche, wenn ich mich nicht täusche?«

Arthur stimmte zu und sagte noch einmal mit neuem Nachdruck: »Wenn Sie so gut sein wollten und mir die Adresse geben!«

»Ei, du meine Güte!« rief der Patriarch mit holdem Bedauern »Hm, hm, hm! Wie schade, wie schade! Ich habe keine Adresse, Sir. Miß Wade lebt meist im Auslande, Mr. Clennam. Das tut sie seit mehreren Jahren und ist (wenn ich so von einem Mitmenschen und einer Dame sprechen darf) launisch und unzuverlässig, Mr. Clennam. Ich werde sie wohl lange, lange nicht wiedersehen. Wie schade, wie schade!«

Clennam sah nun, daß er aus dem Porträt ebensoviel herausbekommen könnte als aus dem Patriarchen; aber er sagte nichtsdestoweniger:

»Mr. Casby, könnten Sie mir zur Beruhigung der Freunde, die ich erwähnte, und unter der Versicherung der Verschwiegenheit die Sie mir aufzuerlegen belieben, irgend etwas über Miß Wade mitteilen? Ich habe sie im Auslande gesehen und habe sie in der Heimat gesehen, aber ich weiß nichts von ihr. Können Sie mir irgendwelche Auskunft über sie geben?«

»Nein«, versetzte der Patriarch, indem er seinen dicken Kopf mit dem größten Wohlwollen schüttelte. »Durchaus nicht. Ei du meine Güte! Wie ist das zu bedauern, daß sie so kurz hier blieb und Sie nicht früher kamen! Als vertrauter Agent, als Agent habe ich dieser Dame zuweilen Geld ausbezahlt; aber was nützt es, wenn Sie das wissen.«

»Allerdings nicht das mindeste«, sagte Clennam.

»Ganz gewiß«, stimmte der Patriarch mit leuchtendem Antlitz bei, während er philanthropisch das Feuer anlächelte, »durchaus nichts, Sir. Sie haben die klügste Antwort gefunden, Mr. Clennam. Wahrhaftig nicht das geringste, Sir.«

Das Drehen der glatten Daumen umeinander, wie er so dasaß, war Clennam so typisch für die Art und Weise, wie er die Sache drehen und wenden würde, wenn man sie weiter verfolgte, ohne daß eine neue Seite zum Vorschein käme oder er den kleinsten Schritt weiter rückte, daß es viel dazu beitrug, ihn zu überzeugen, seine Bemühungen seien fruchtlos. Er hätte sich Zeit zum Nachdenken darüber nehmen können, soviel er gewollt, denn Mr. Casby, der daran gewöhnt war, daß ihm alles trefflich vonstatten ging, da er es seiner geschwollenen Stirn und seinem weißen Haar überließ, wußte, daß seine Stärke im Schweigen lag. Casby saß deshalb drehend und drehend da und ließ reiches Wohlwollen aus jeder Erhöhung seines glatten Kopfes und seiner glatten Stirn strahlen.

Mit diesem Schauspiel vor sich war Arthur aufgestanden, um zu gehen, als aus dem innern Dock, wo das gute Schiff Pancks vor Anker lag, wenn es auf keiner Kreuzfahrt abwesend war, das Geräusch dieses gegen sie heranführenden Dampfboots vernehmbar wurde. Es fiel Arthur auf, daß das Geräusch absichtlich schon in der Ferne begann, als wenn Mr. Pancks jedem, der darüber nachzudenken Lust hätte, den Eindruck machen möchte, er habe sein Arbeiten schon außer dem Hörbereich begonnen.

Mr. Pancks und er schüttelten sich die Hände, und der erstere brachte seinem Prinzipal einen oder zwei Briefe zum Unterzeichnen. Beim Händeschütteln kratzte Mr. Pancks seine Augenbraue bloß mit dem linken Zeigefinger und schnaubte einmal, aber Clennam, der ihn jetzt besser als früher verstand, begriff, daß er für den Abend so ziemlich fertig sei und ein Wort draußen mit ihm zu sprechen wünsche. Als er deshalb von Mr. Casby und von Flora (was eine etwas schwierige Prozedur war) Abschied genommen hatte, schlenderte er in der Nachbarschaft auf dem Wege umher, den Mr. Pancks einschlagen mußte.

Er hatte nur kurze Zeit gewartet, als Mr. Pancks erschien. Da Mr. Pancks ihm mit einem weiteren ausdrucksvollen Schnauben die Hände schüttelte und seinen Hut abnahm, um sein Haar in die Höhe zu streichen, glaubte Arthur darin einen Fingerzeig sehen zu müssen, daß er mit ihm als mit jemandem spreche, der ganz gut wisse, was soeben vorgegangen. Deshalb fragte er ohne Vorrede: »Ich vermute, sie waren wirklich fort, Pancks?« »Ja«, antwortete Pancks. »Sie waren wirklich fort.« »Weiß er, wo die Dame zu finden ist?« »Ich kann es nicht sagen. Ich glaube aber ja.« Mr. Pancks wüßte es nicht? Nein, Mr. Pancks wüßte es nicht. Wüßte Mr. Pancks sonst etwas von ihnen?

»Ich glaube, ich weiß so viel von ihr«, versetzte dieser würdige Mann, »als sie selbst von sich weiß. Sie ist jemandes – jedermanns – niemandes Kind. Man bringe sie in ein Zimmer in London, wo die ersten besten sechs Leute sich befinden, die alt genug sind, um ihre Eltern sein zu können, und sie kann nicht wissen, ob ihre Eltern darunter sind. Sie können in dem ersten besten Hause sein, das sie sieht, sie können auf jedem Kirchhofe liegen, an dem sie vorüberkommt, sie kann in jeder Straße auf sie stoßen, sie kann zu jeder beliebigen Zeit Bekanntschaft mit ihnen machen und es doch nicht wissen. Sie weiß nichts von ihnen. Sie weiß überhaupt von keinem Verwandten etwas. Wußte nie etwas von ihnen. Wird nie etwas von ihnen erfahren.«

»Mr. Casby könnte ihr vielleicht Aufklärung geben.«

»Wohl möglich«, sagte Pancks. »Ich vermute es, aber ich weiß es nicht. Er hatte seit langer Zeit Geld (nicht besonders viel, wie ich herausbrachte) in seiner Verwahrung, um es ihr auszubezahlen, wenn sie es durchaus nötig brauchte. Manchmal ist sie stolz und will oft lange Zeit nichts davon: manchmal ist sie so arm, daß sie welches haben muß. Sie ringt mit ihrem Leben. Es hat noch nie ein zornigeres, leidenschaftlicheres, sorgloseres und rachsüchtigeres Weib gelebt. Sie kam heute abend, um Geld zu holen. Sagte, sie brauchte es zu einem besonderen Zweck.«

»Ich glaube«, bemerkte Clennam sinnend, »ich weiß zufälligerweise zu welchem Zweck, – ich meine, in wessen Tasche das Geld fließt.«

»Wirklich?« sagte Pancks. »Wenn’s ein Kontrakt ist, so möchte ich dem betreffenden empfehlen, pünktlich zu sein. Ich möchte mich diesem Weib, so jung und schön es ist, nicht anvertrauen, wenn ich ihm unrecht getan; nein, nicht für das doppelte Geld meines Eigentums. Es sei denn«, fügte Pancks als Klausel hinzu, »ich hätte eine schleichende Krankheit und wollte dieselbe los sein.«

Bei einer flüchtigen Vergleichung seiner eigenen Beobachtung fand er diese mit Mr. Pancks‘ Ansicht so ziemlich übereinstimmend.

»Was mich wundert«, fuhr Pancks fort, »ist, daß sie meinen Prinzipal noch nicht beiseite geschafft hat, als die einzige Person, die mit ihrer Geschichte in Bezug steht, und deren sie habhaft werden kann. Da ich dies erwähne, so muß ich Ihnen unter uns sagen, daß ich bisweilen in Versuchung gerate, es zu tun.«

Arthur erschrak und sagte: »Mein Gott, Pancks, sagen Sie das nicht.«

»Verstehen Sie mich recht«, sagte Pancks, indem er fünf schmutzige, kohlige Fingernägel vor Arthurs Augen ausbreitete: »ich meine nicht, daß ich ihm den Hals abschneiden wolle. Aber bei allem, was uns teuer, wenn er zu weit geht, werde ich ihm das Haar abschneiden.«

Nachdem sich Mr. Pancks in dem neuen Licht dieser furchtbaren Drohung gezeigt, schnaubte er verschiedene Male mit einer vielbedeutenden Miene und dampfte weg.

Zweiunddreißigstes Kapitel.


Zweiunddreißigstes Kapitel.

Zum Ende!

Da Arthur beständig noch sehr krank im Marschallgefängnis lag und Mr. Rugg noch keine hellere Stelle an dem juristischen Himmel entdeckte, aus dem ein Hoffnungsstrahl für seine Befreiung dringen konnte, litt Mr. Pancks verzweiflungsvoll unter den Vorwürfen, die er sich selbst machte. Wenn die unfehlbaren Zahlen nicht gewesen wären, die bewiesen, daß Arthur, statt sich im Gefängnis abzuhärmen, in einem Wagen mit zwei Pferden fahren, und daß Mr. Pancks, statt auf seine Buchhalterbesoldung angewiesen zu sein, drei- bis fünftausend Pfund eigenes Vermögen besitzen sollte, das ihm zur freien Verfügung stünde, der unglückliche Arithmetiker hätte sich in sein Bett gelegt und würde dort eine der vielen unbedeutenden Persönlichkeiten abgegeben haben, die ihr Gesicht der Wand zukehrten und starben, als letztes Opfer für die Größe des geschiedenen Mr. Merdle. Nur durch die unbestreitbaren Berechnungen gehoben, führte Mr. Pancks ein unglückliches und ruheloses Leben; denn er trug beständig seine Zahlen mit sich im Hut umher und rechnete sie nicht allein selbst bei jeder Gelegenheit durch, sondern zwang auch jedes andere menschliche Wesen, dessen er habhaft werden konnte, sie mit ihm durchzurechnen und sich zu überzeugen, wie klar der Fall sei. Drunten im Hof zum blutenden Herzen war kaum ein Insasse von nur einiger Bedeutung, dem Mr. Pancks nicht seinen Beweis vorgeführt hatte, und da Ziffern ansteckend sind, so brachen an diesem Ort eine Art Ziffermasern aus, unter deren Einfluß der ganze Hof verrückt wurde.

Je ruheloser Mr. Pancks im Geiste wurde, desto ungeduldiger wurde er auch dem Patriarchen gegenüber. In ihren jüngsten Geschäftsunterredungen nahm sein Schnauben einen gereizten Ausdruck an, der den Patriarchen nichts Gutes ahnen ließ; auch hatte Mr. Pancks bei verschiedenen Gelegenheiten die patriarchalischen Beulen näher angesehen, als sich mit der Tatsache vereinigen ließ, daß er weder Maler, noch Perückenmacher war, der nach einem lebenden Modell sucht.

Er dampfte jedoch in seinem kleinen hintern Dock aus und ein, je nachdem der Patriarch seiner bedurfte oder nicht bedurfte, und das Geschäft ging seinen gewohnten Gang. Der Hof zum blutenden Herzen wurde zu den bestimmten Zeiten von Mr. Pancks gepflügt und von Mr. Casby abgemäht: Mr. Pancks hatte alle Plackerei und allen Schmutz des Geschäfts auf sich genommen, Mr. Casby dagegen allen Nutzen, allen ätherischen Duft und allen Mondschein für sich; und wenn man den Worten trauen durfte, deren dieser wohlwollende, glänzende Kopf an den Samstagabenden sich bediente, wenn er seine fetten Daumen umeinanderdrehte, nachdem er die Balance der Woche gemacht hatte, war »alles für alle Teile befriedigend – befriedigend für alle Teile.«

Das Dock des Schleppdampfers Pancks hatte ein bleiernes Dach, das, in dem heißen Sonnenschein glühend, das Schiff geheizt haben mochte. Sei dem, wie ihm wolle, an einem glühenden Samstagabend kam das Schleppboot, von dem schwankenden flaschengrünen Schiff gefolgt, augenblicklich in einem sehr erhitzten Zustand aus dem Dock herausgedampft.

»Mr. Pancks«, lautete die Bemerkung des Patriarchen, »Sie sind Ihren Pflichten sehr schlecht nachgekommen, sehr schlecht nachgekommen, Sir.«

»Was meinen Sie damit?« war die kurze Erwiderung.

Der Zustand des Patriarchen, immer ein Zustand der Ruhe und Fassung, war diesen Abend so besonders ruhig, daß er etwas Herausforderndes hatte. Alle andern Leute, die auf der Liste der Sterblichen standen, waren heiß; aber dem Patriarchen war es vollständig kühl, jedermann war durstig, und der Patriarch trank. Er war in einen Wohlgeruch von Limonen gehüllt: er hatte sich ein Getränk von goldenem Sherry gebraut, das in einem großen Glase glänzte, als wenn er den Abendsonnenschein tränke. Das war schlimm, aber nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war, daß er mit seinen großen blauen Augen und seinem polierten Kopf, seinem langen weißen Haar und seinen flaschengrünen, geradeausgestreckten Beinen, die in bequemen und bequem über dem Rist gekreuzten Schuhen endigten, ein so strahlendes Aussehen hatte, als wenn er in seinem unendlichen Wohlwollen für das ganze Menschengeschlecht den Trank gemacht, während er für sich nichts brauchte als die eigne Milch der Menschenliebe.

Deshalb sagte Mr. Pancks: »Was meinen Sie damit?« und strich in höchst unheilverkündender Weise sein Haar mit beiden Händen in die Höhe.

»Ich meine, Mr. Pancks, Sie sollten schärfer gegen die Leute verfahren, schärfer gegen die Leute verfahren, viel schärfer gegen die Leute verfahren, Sir. Sie drängen sie nicht. Ihre Einnahmen erreichen das Soll nicht. Sie müssen sie pressen, Sir, oder unsere Verbindung wird nicht länger so befriedigend für alle Teile sein, wie ich wünschen möchte. Nicht so befriedigend für alle Teile.«

»Presse ich sie etwa nicht?« versetzte Mr. Pancks. »Wozu bin ich denn sonst da?«

»Sie sind zu nichts anderem da, Mr. Pancks. Sie sind dazu da, Ihre Pflicht zu tun, aber Sie tun Ihre Pflicht nicht. Sie sind dafür bezahlt, zu pressen, und Sie müssen pressen, um bezahlt zu werden.« Der Patriarch war so überrascht über dieses glänzende Wortspiel nach Doktor Johnson, das er nicht im mindesten erwartet noch beabsichtigt, daß er laut lachte und mit großer Selbstgefälligkeit, während er seine Daumen umeinanderdrehte und seinem jugendlichen Porträt zunickte, das Wortspiel: »Bezahlt, zu pressen, Sir, und müssen pressen, um bezahlt zu werden«, wiederholte.

»Oh!« sagte Pancks. »Nichts weiter?« »Doch, Sir, doch, Sir. Noch etwas. Sie werden gefälligst den Hof noch einmal pressen; das erste, was sie Montag früh tun, Mr. Pancks.«

»Oh!« sagte Pancks. »Sollte das nicht zu früh sein? Ich habe ihn heute völlig ausgepreßt.«

»Possen, mein Herr. Nicht soweit, wie die Leute schuldig sind.«

»Oh!« sagte Pancks, indem er ihn betrachtete, wie er wohlwollend einen tüchtigen Schluck seiner Mixtur trank. »Nichts weiter?«

»Doch, Sir, doch, Sir. Noch etwas. Ich bin durchaus nicht zufrieden mit meiner Tochter, Mr. Pancks; durchaus nicht zufrieden. Sie geht viel zu oft, um sich nach Mrs. Clennam zu erkundigen, Mrs. Clennam, die sich jetzt nicht gerade in den Umständen befindet, die man irgendwie zu den – zu den für alle Teile befriedigenden zählen kann; sie fragt sogar, wenn ich nicht falsch unterrichtet bin, im Gefängnis nach Mr. Clennam. Denken Sie sich, Mr. Pancks, im Gefängnis.«

»Er muß, wie Sie wissen, das Zimmer hüten«, sagte Pancks. »Vielleicht ist es sehr wohltuend.«

»Pah, pah, Mr. Pancks. Sie hat nichts damit zu schaffen, nichts damit zu schaffen. Ich kann es nicht dulden. Er soll seine Schulden bezahlen und herauskommen, herauskommen; seine Schulden bezahlen und herauskommen.«

Obgleich Mr. Pancks‘ Haar wie starker Draht emporstand, gab er ihm doch noch einen Strich in der Schwungrichtung und lächelte seinen Patron in äußerst häßlicher Weise an.

»Sie werden gefälligst meine Tochter wissen lassen, Mr. Pancks, daß ich es nicht dulden kann, nicht dulden kann«, sagte der Patriarch in sanftem Tone.

»Oh!« sagte Pancks. »Könnten Sie es ihr nicht selbst mitteilen?«

»Nein, Sir, nein; Sie sind dafür bezahlt, es ihr mitzuteilen« – der läppische alte Einfaltspinsel konnte der Versuchung nicht widerstehen, noch einmal ein Wortspiel anzubringen, – »und Sie müssen es ihr mitteilen, um bezahlt zu werden, mitteilen, um bezahlt zu werden!«

»Oh!« sagte Pancks. »Nichts weiter?«

»Doch, Sir. Es scheint mir, Mr. Pancks, als ob Sie selbst zu oft und zuviel in jener Richtung, in jener Richtung sich bewegten. Ich empfehle Ihnen, Mr. Pancks, sowohl Ihre eigenen Verluste als die Verluste anderer sich aus dem Sinn zu schlagen und an Ihr Geschäft zu denken, an Ihr Geschäft zu denken.«

Mr. Pancks erkannte diese Empfehlung an mit einer so außerordentlich abgerissenen, kurzen und lauten Äußerung der einen Silbe »Oh!«, daß sogar der schwerfällige Patriarch seine blauen Augen in einer gewissen Hast nach ihm wandte, um ihn anzusehen. Mr. Pancks fügte dann mit einem Schnauben von entsprechender Kraft hinzu: »Nichts weiter?«

»Im Augenblicke nichts, im Augenblicke nichts. Ich will einen kleinen Gang machen, einen kleinen Gang machen«, sagte der Patriarch, indem er austrank und mit liebenswürdiger Miene aufstand, »vielleicht finde ich Sie hier, wenn ich zurückkomme. Wenn nicht, Sir, Pflicht, Pflicht; pressen, pressen, pressen am Montag; pressen am Montag!«

Nachdem Mr. Pancks noch einmal sein Haar in die Höhe gestrichen, sah er, wie der Patriarch seinen breitkrempigen Hut nahm, und schien einen Augenblick unentschlossen mit dem Gefühl widerfahrener Kränkung zu kämpfen. Es war ihm auch heißer als anfangs, und er atmete schwerer. Aber er ließ Mr. Casby weggehen, ohne daß er eine weitere Bemerkung gemacht, und sah ihm dann über die kleinen grünen Fensterblenden nach. »Ich dachte mir’s«, sagte er. »Ich wußte, Sie würden dahin gehen. Gut!« Dann dampfte er nach seinem Dock zurück, brachte es sorgfältig in Ordnung, nahm seinen Hut, sah sich in dem Dock um, sagte: »Gute Nacht!« und stieß auf eigene Rechnung ab. Er steuerte gerade auf Mrs. Plornishs Ende im Hof zum blutenden Herzen zu und kam erhitzter denn je oben an der Treppe an.

Oben auf der Treppe blieb Mr. Pancks, nachdem er die Aufforderungen von Mrs. Plornish, einzutreten und mit ihrem Vater in der »Glückshütte« zu plaudern, abgelehnt hatte – Aufforderungen, die zu seiner Beruhigung nicht so zahlreich waren, als sie es an jedem andern Abend denn Samstagabend gewesen wären, wo die Kunden, die das Geschäft so freundlich mit allem außer Geld unterstützten, ungemein freigebig mit ihren Bestellungen waren – oben an der Treppe blieb Mr. Pancks, bis er den Patriarchen, der immer von der andern Seite in den Hof kam, langsam, strahlend und von Bittstellern umgeben näher kommen sah, Dann ging Mr. Pancks hinab und steuerte mit äußerster Dampfkraft auf ihn zu.

Der Patriarch, der mit seinem gewöhnlichen Wohlwollen durch den Hof schritt, war erstaunt, Mr. Pancks zu sehen, glaubte jedoch, er habe sich zu einem sofortigen Pressen angeregt gesehen und wolle es nicht bis zum Montag verschieben. Die Bewohner des Hofes waren erstaunt über dieses Zusammentreffen, denn die beiden Mächte waren, soweit die Erinnerung der ältesten »blutenden Herzen« reichte, nie hier zusammen, gesehen worden. Aber das unaussprechlichste Staunen erfaßte sie, als Mr. Pancks, rasch auf den verehrungswürdigsten der Menschen zugehend, dicht vor der flaschengrünen Weste stehenblieb, aus seinem rechten Daumen und Zeigefinger einen Drücker machte, denselben an die Krempe des breitkrempigen Hutes setzte und mit besonderer Kraft und Präzision ihn von seinem polierten Kopfe herabschnellte, als wäre er eine große Schnellkugel.

Nachdem er sich diese kleine Freiheit mit der Person des Patriarchen erlaubt, machte Mr. Pancks die blutenden Herzen weiter staunen und näher treten, indem er mit vernehmlicher Stimme sagte: »Nun, Sie zuckersüßer Schwindler, denke ich mit Ihnen ein- für allemal abzurechnen!« Mr. Pancks und der Patriarch waren augenblicklich der Mittelpunkt eines Gedränges das ganz Ohr und Auge; Fenster wurden aufgerissen, und auf den Türschwellen standen die Leute dicht geschart.

»Was maßen Sie sich denn an?« sagte Mr. Pancks. »Was ist Ihr Plan? Worin machen Sie Geschäfte? In Wohlwollen, nicht wahr? Sie Mann des Wohlwollens!« Bei diesen Worten holte Mr. Pancks aus, offenbar nicht in der Absicht, ihn zu treffen, sondern nur, um sein Herz zu erleichtern und seine überflüssige Kraft in einer heilsamen Leibesbewegung zu verwenden – Mr. Pancks holte zu einem Schlag auf das beulige Haupt aus, aber das beulige Haupt beugte sich, um dem Schlag auszuweichen. Diese seltsame Handlung wurde zum wachsenden Erstaunen der Zuschauer am Schlusse jedes folgenden Absatzes von Mr. Pancks‘ Rede wiederholt.

»Ich bin aus Ihren Diensten getreten«, sagte Pancks, »um Ihnen ins Gesicht schleudern zu können, was Sie sind. Sie gehören zu einer Rasse von Betrügern, die die schlimmste von allen Rassen ist, die man finden kann. Obgleich ich als Opfer von beiden sprechen kann, so wüßte ich doch nicht, ob mir die Merdlesche Rasse nicht noch lieber ist als Ihre Rasse. Sie sind ein verkleideter Leuteschinder durch Bevollmächtigte, ein Ausbeuter und Erpresser und Zwacker durch Stellvertreter. Sie sind ein philanthropischer Schleicher! Sie sind ein schäbiger Betrüger!«

Die Wiederholung der Drohung mit dem Schlag bei diesem Absatz wurde mit lautem Gelächter aufgenommen.

»Fragt diese guten! Leute: Wer ist der harte Mann hier? Sie werden Euch sicherlich ›Pancks‹ antworten.«

Dies wurde durch die Ausrufe: »Gewiß!« und »Hört!« bestätigt.

»Aber ich sage euch, gute Leute – Casby ist es. Dieser Berg von Milde, dieser Klumpen von Liebe, dieser flaschengrüne Lächler ist euer Dränger!« sagte Panck«. »Wenn ihr den Mann sehen wollt, der euch lebendig schinden würde – hier ist er! Sucht ihn nicht in mir, mit meinen dreißig Schillingen die Woche, sucht ihn in Casby, mit seinen ich weiß nicht wieviel das Jahr!«

»Gut!« riefen mehrere Stimmen. »Hört Mr. Pancks.«

»Hört Mr. Pancks?« rief dieser (nach seinem gewöhnlichen Ausholen, das den Leuten zu gefallen schien), »ja, ich dächte wohl. Es ist endlich Zeit, Mr. Pancks anzuhören. Mr. Pancks ist heute abend in den Hof gekommen, daß ihr ihn höret. Pancks ist nur das Werkzeug, hier ist der, der es handhabt!«

Die Zuhörer wären zu Mr. Pancks wie ein Mann, Frau und Kind übergegangen, wenn das lange, graue, seidene Haar und der breitkrempige Hut nicht gewesen.

»Hier ist der Schlüssel«, sagte Mr. Pancks, »der den Ton zum Pressen angibt. Und es gibt nur einen Ton, und sein Name ist Presse, Presse, Presse! Hier ist der Gutsbesitzer, und hier ist der Ausjäter. Ja, gute Leute, wenn er wie ein langsamer, wohlwollender Brummkreisel, sanft sich drehend, zu Abend in den Hof kommt und ihr ihn mit euren Klagen über den Ausjäter umringt, so ahnt ihr nicht, was für ein Betrüger der Patron ist. Solltet ihr glauben, daß der Grund, weshalb er sich heute zeigt, der ist, damit am Montag alle Schuld mich treffe? Solltet ihr glauben, daß er mich heute abend erst auf den Kohlen hatte, weil ich euch nicht genug presse? Solltet ihr glauben, daß ich im gegenwärtigen Augenblick den speziellen Befehl habe, euch am Montag zu pressen?«

Die Antwort war ein Gemurmel, das wie »Schmachvoll!« »Schäbig!« lautete.

»Schäbig?« schnaubte Pancks. »Ja, ich sollte wohl denken! Die Rasse, zu der euer Casby gehört, ist die schäbigste aller Rassen. Sie stellen ihre Ausjäter mit einem elenden Solde an, und diese müssen nun tun, was sie selbst sich zu tun schämen, fürchten und leugnen und dennoch getan wissen wollen oder den Leuten keine Ruhe lassen. Sie hintergehen euch, und ihr schiebt auf ihre Ausjäter alle Schuld und auf sie alles Gute. Ja, der erbärmlichst aussehende Betrüger in der ganzen Stadt, der achtzehn Pence unter falschem Vorgeben erschwindelt, ist kein halb so großer Schwindler als dieses Schild von Casbys Kopf hier!«

Die Umstehenden riefen: »Das ist wahr!« und »Mehr ist er nicht!«

»Und seht nun, was ihr von diesen Burschen bekommt«, sagte Pancks. »Seht, was ihr weiter von diesen kostbaren Brummkreiseln bekommt, die sich so glatt unter euch drehen, daß ihr nicht ahnen könnt, was für ein Muster auf ihnen gemalt ist oder wie das kleine Fenster an ihnen aussieht! Ich wünsche für einen Augenblick eure Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Ich weiß es wohl, meine Rede ist nicht angenehm.«

Der Kreis der Zuhörer war über diesen Punkt geteilt; denn die weniger leicht Zufriedenzustellenden riefen: »Nein, sie ist nicht angenehm«, während die Höflicheren sagten: »Doch, sie ist angenehm.«

»Ich bin im allgemeinen«, sagte Mr. Pancks, »ein trockener, unangenehmer, trauriger Arbeiter und Ausjäter. Das ist euer ergebener Diener. Das ist sein vollständiges Porträt, von ihm selbst gemalt und unter der Garantie der Ähnlichkeit euch vorgestellt! Aber was soll der Mensch sein, wenn er einen solchen Patron hat? Was kann von ihm erwartet werden? Fand jemals jemand gekochtes Hammelfleisch mit Kapernsoße in einer Kokosnuß?«

Keiner von den blutenden Herzen konnte das von sich behaupten, das sprach sich deutlich in der Raschheit ihrer Antwort aus.

»Nun«, sagte Mr. Pancks, »und niemand wird bei Ausjätern, wie ich, unter Patronen, wie dieser, angenehme Eigenschaften finden. Ich bin ein Ausjäter von Jugend auf gewesen. Was war mein Leben? Ein Quälen und Peinigen, Quälen und Peinigen und ein unaufhörliches Raddrehen. Ich war mir selbst nicht angenehm und bin wahrscheinlich auch niemandem sonst angenehm gewesen. Hätte ich in zehn Jahren auch nur für einen Schilling die Woche weniger gearbeitet, dieser Betrüger würde mir einen Schilling weniger gegeben haben; wenn ein ebenso nützlicher Mensch um einen Sixpence billiger zu bekommen gewesen wäre, er würde ihn statt meiner für einen Sixpence billiger angenommen haben. Das ist Handelsbrauch, Gott sei euch gnädig! Feste Grundsätze! Es ist ein sehr gutes Schild, dieser ›Zum Kopf von Casby‹«, sagte Mr. Pancks, indem er ihn nichts weniger als bewundernd betrachtete, »aber der wahre Name des Hauses ist: ›Zum Menschenschinder‹. Sein Motto ist: ›Laß dem Ausjäter keine Ruhe‹. Ist irgend jemand zugegen«, sagte Mr. Pancks, indem er sich unterbrach und umsah, »der mit der englischen Grammatik vertraut wäre?«

Der Hof zum blutenden Herzen scheute sich, diese Vertrautheit zu beanspruchen.

»Es hat nichts zu sagen«, fuhr Mr. Pancks fort. »Ich wollte nur die Bemerkung machen, daß die Aufgabe, die mir dieser Patron gestellt hat, die war, die Imperativform des Präsens des Zeitworts ›keine Ruhe lassen‹ zu konjugieren. Laß keine Ruhe! Laß er keine Ruhe! Lassen wir keine Ruhe! Lassen Sie keine Ruhe! Da steht ein wohlwollender Patriarch von Casby, und das ist seine goldene Regel. Es ist ungewöhnlich angenehm, ihn anzusehen; das ist bei mir durchaus nicht der Fall. Er ist so süß wie Honig, und ich bin so trübe wie Gossenwasser. Er sorgt für das Pech, ich handhabe es, und an mir bleibt es kleben. Jetzt«, sagte Mr. Pancks, indem er wieder näher auf seinen ehemaligen Patron zutrat, von dem er etwas weggegangen, um ihn dem Hof besser zeigen zu können, »da ich nicht gewohnt bin, öffentlich zu sprechen, und da ich eine ziemlich lange Rede gehalten habe, wenn man alle Umstände in Betracht zieht, so werde ich meine Bemerkungen mit der Bitte zum Beschluß bringen, daß Sie sich fortmachen.«

Der letzte der Patriarchen war so überwältigt durch den Angriff und brauchte so viel Raum, um einen Gedanken zu fassen, und so viel Raum mehr, um sich darin zu drehen, daß er kein Wort als Antwort vorbringen konnte. Er schien auf einen patriarchalischen Ausweg aus dieser peinlichen Lage zu sinnen, als Mr. Pancks, indem er plötzlich noch einmal den Drücker an seinen Hut setzte, denselben wieder mit seiner früheren Gewandtheit herabschnellte. Bei der früheren Gelegenheit hatten ein oder zwei von den Bewohnern des blutenden Herzens ihn dienstfertig aufgehoben und ihn dem Besitzer zurückgegeben, aber Mr. Pancks hatte auf seine Zuhörerschaft nunmehr so großen Eindruck gemacht, daß der Patriarch sich bücken und ihn selbst aufheben mußte.

Rasch wie der Blitz holte Mr. Pancks, der einige Augenblicke seine Hände in der Rocktasche gehabt hatte, eine Schere aus der Tasche, fiel dem Patriarchen in den Rücken und schnitt ihm die heiligen Locken, die auf seine Schultern hinabflossen, ab. In einem Paroxysmus ungestümer Wut riß er dann dem erstaunten Patriarchen den breitkrempigen Hut aus der Hand, verschnitt ihn zu einer bloßen Schmorpfanne und setzte ihn auf den Kopf des Patriarchen. Vor den furchtbaren Folgen dieser verzweifelten Tat schauerte Mr. Pancks selbst entsetzt zurück. Eine kahlgeschorene, glotzäugige, dickköpfige und schwerfällige Gestalt starrte ihn an, ohne im mindesten einen großen und ehrwürdigen Eindruck zu machen; sie schien aus der Erde emporgestiegen, um zu fragen, was aus Mr. Casby geworden. Nachdem Mr. Pancks in stummem Grausen sie wieder angestarrt, warf er die Schere weg und floh nach einem Versteck, wo er sich vor den Folgen seines Verbrechens retten könnte. Mr. Pancks hielt es für klug, sich schleunigst aus dem Staub zu machen, obwohl ihn nichts verfolgte als ein schallendes Gelächter, das die Luft im Hof zum blutenden Herzen erschütterte, daß dieser davon widerhallte.