Elftes Kapitel.
Herr Newman Noggs führt Frau und Fräulein Nickleby nach ihrer neuen Behausung in der City.
Käthchens Betrachtungen auf ihrem Heimweg waren von jener zaghaften Beschaffenheit, wie sie die Begebnisse des Morgens recht wohl hervorzurufen imstande waren. Das Benehmen ihres Onkels war nicht geeignet, die Zweifel und Bedenklichkeiten, die sich ihr bereits von Anfang an aufgedrungen hatten, zu zerstreuen, ebensowenig als sie der Blick, den sie in Madame Mantalinis Etablissement geworfen hatte, ermutigen konnte. Sie sah daher mit manchen düsteren Ahnungen und einem schweren Herzen dem Beginn ihrer neuen Laufbahn entgegen.
Wären Worte des Trostes imstande gewesen, ihr Gemüt in eine angenehmere und beneidenswertere Stimmung zu versetzen, so hätte dieses notwendig der Fall sein müssen, da es ihre Mutter an solchen durchaus nicht fehlen ließ. Diese gute Dame hatte sich während der Abwesenheit ihrer Tochter auf zwei authentische Fälle von Putzmacherinnen besonnen, die ein beträchtliches Vermögen besaßen, obgleich sie nicht mit Bestimmtheit anzugeben wußte, ob sie dieses ganz durch ihr Geschäft erworben und nicht vielleicht mit einem leidlichen Kapital angefangen hatten, oder ob sie so glücklich gewesen waren, eine vorteilhafte Partie zu treffen. Doch mochte dem sein, wie ihm wollte, jedenfalls konnte doch – wie sie sehr logisch bemerkte – irgendeine junge Person in diesem Geschäft, ohne etwas zum Anfang zu besitzen, ihr Glück gemacht haben, und wenn man diese Annahme gelten ließ, warum sollte das nicht auch bei Käthchen der Fall sein können? Fräulein La Creevy, die zu dem Familienrat hinzugezogen wurde, wagte es zwar, einiges Bedenken zu äußern, ob es wohl wahrscheinlich sei, daß Fräulein Nickleby in den Grenzen einer gewöhnlichen Lebensdauer dieses glückliche Ziel zu erreichen vermöge. Aber die gute Witwe schlug diese Frage dadurch zurück, daß sie erklärte, sie hätte in dieser Beziehung eine Ahnung – eine Art zweiten Gesichts, womit sie vordem jeden Beweisgrund des hingeschiedenen Herrn Nickleby zu Paaren zu treiben pflegte und diesen in zehn Fällen neun- und dreiviertelmal zu einem verkehrten Schritte verleitete.
»Ich fürchte nur, daß diese Beschäftigung nachteilig auf die Gesundheit einwirkt«, meinte Fräulein La Creevy. »Ich erinnere mich, daß mir, als ich zu malen anfing, drei junge Putzmacherinnen saßen, und daß alle sehr blaß und kränklich aussahen.«
»O das kann nicht als allgemeine Regel gelten«, bemerkte Frau Nickleby, »denn ich erinnere mich noch so gut, als wäre es gestern geschehen, daß ich mir zur Zeit, als die Scharlachmäntel Mode waren, einen solchen machen ließ, und daß mir bei dieser Gelegenheit eine Putzmacherin empfohlen wurde, die ein sehr rotes Gesicht – ja, ein sehr rotes Gesicht hatte.«
»Vielleicht trank sie«, meinte Fräulein La Creevy.
»Ich weiß nicht, wie sie es damit hielt«, versetzte Frau Nickleby; »aber ich weiß, daß sie ein sehr rotes Gesicht hatte, und somit ist Ihre Behauptung aus dem Felde geschlagen.«
In dieser Weise und mit ähnlichen schlagenden Beweisen wies die würdige Dame jeden kleinen Einwurf zurück, der sich dem Plan des Morgens entgegenstellte. Glückliche Frau Nickleby! Ein Projekt brauchte nur neu zu sein, um ihrem Geiste in den glänzendsten Farben zu erscheinen.
Als diese Frage bereinigt war, teilte Käthchen ihrer Mutter das Verlangen des Onkels, ihre gegenwärtige Wohnung zu verlassen, mit; und Frau Nicklcby ging mit der gleichen Bereitwilligkeit darauf ein, indem sie die charakteristische Bemerkung beifügte, daß es ihr an schönen Abenden eine angenehme Erholung gewähren würde, ihre Tochter aus dem Westend abzuholen. Sie vergaß aber dabei auf eine gleich charakteristische Weise, daß es fast in jeder Woche des Jahres auch regnerische Abende und schlechtes Wetter gebe.
»Es tut mir leid – in der Tat recht leid, Sie verlassen zu müssen, meine gnädige Freundin«, sagte Käthchen, auf die das wohlwollende Gemüt der Miniaturmalerin einen tiefen Eindruck gemacht hatte.
»Sie sollen mich trotzdem nicht verlieren«, versetzte Fräulein La Creevy mit aller Lebhaftigkeit, die ihr zu Gebote stand. »Ich werde Sie sehr oft besuchen, um zu hören, wie es Ihnen geht; und wenn es in ganz London und noch obendrein in der ganzen weiten Welt kein Herz geben sollte, das an Ihrem Wohle aufrichtigen Anteil nimmt, so sollen Sie doch eines in dem Busen eines kleinen alleinstehenden weiblichen Wesens finden, das jeden Tag und jede Nacht seine Gebete für Sie gen Himmel schickt.«
Bei diesen Worten schnitt die gute Seele, die ein Herz, groß genug für Gog, den Schutzgeist von London, und für Magog2 obendrein, besaß, eine Menge wundersamer Gesichter, die ihr, wenn sie diese festgehalten haben würde, ein großes Vermögen gesichert hätten, und setzte sich dann in eine Ecke, um ihren Gefühlen in Tränen Luft zu machen.
Aber weder Tränen noch Worte noch Hoffen noch Furcht konnten den gefürchteten Samstag abend und mit ihm Newman Noggs abhalten. Der letztere hinkte gerade in dem Augenblick, als die Kirchturmuhren der Nachbarschaft, die in der Zeit miteinander übereinstimmten, fünf schlugen, gegen die Haustür heran und hauchte seinen von Branntwein geschwängerten Atem durch das Schlüsselloch. Mit dem letzten Glockenschlag klopfte er.
»Von Herrn Ralph Nickleby«, kündigte sich Newman, als er die Stiege heraufgekommen, mit möglichster Kürze an.
»Wir werden im Augenblick bereit sein«, sagte Käthchen. »Wir haben zwar nicht viel mitzunehmen, aber ich fürchte doch, daß wir eine Kutsche brauchen werden.«
»Ich will eine holen«, versetzte Newman.
»O, nicht doch. Sie sollen sich nicht bemühen«, entgegnete Frau Nickleby.
»Aber ich will«, sagte Newman.
Es ist nicht daran zu denken, daß wir Sie in dieser Weise behelligen«, erwiderte Frau Nickleby.
»Sie können’s nicht hindern«, sagte Newman.
»Nicht hindern?«
»Nein. Ich dachte schon auf dem Herwege daran, aber ich nahm keine mit, weil ich glaubte, Sie möchten noch nicht fertig sein. Ich denke an gar viele Dinge. Niemand kann das wehren.«
»Ah, ich verstehe Sie jetzt, Herr Noggs«, sagte Frau Nickleby; »Gedanken sind natürlich frei, und es ist klar, daß jeder denken kann, was er will.«
»Sie würden es nicht sein, wenn gewisse Leute es ändern könnten«, murmelte Newman.
»Sie haben recht, Herr Noggs«, versetzte Frau Nickleby; »es gibt gewisse Leute, die sogar die Gedanken zwingen möchten. Was macht Ihr Prinzipal?«
Newman ließ einen vielsagenden Blick nach Käthchen gleiten und erwiderte mit einer starken Betonung des Nachsatzes seiner Antwort, daß Herr Ralph Nickleby wohlauf wäre und herzlich grüßen ließe.
»Wir sind ihm in der Tat sehr zu Dank verpflichtet«, bemerkte Frau Nickleby.
»Allerdings«, versetzte Newman; »ich will’s ihm ausrichten.«
Es war in der Tat nicht leicht, Newman Noggs zu vergessen, wenn man ihn einmal gesehen hatte, und als ihn Käthchen, veranlaßt durch das Seltsame seines Benehmens, das übrigens bei der gegenwärtigen Veranlassung ungeachtet seiner abgebrochenen Redeweise etwas Ehrerbietiges und sogar Zartes hatte, genauer betrachtete, so erinnerte sie sich, diese sonderbare Gestalt schon früher flüchtig wahrgenommen zu haben.
»Entschuldigen Sie meine Neugierde«, sagte sie, »aber habe ich Sie nicht schon an dem Morgen, als mein Bruder nach Yorkshire abreiste, in dem Posthofe gesehen?«
Newman warf einen ausdrucksvollen Blick auf Frau Nickleby und erwiderte mit kecker Stirne:
»Nein.«
»Nicht?« rief Käthchen: »und doch hätte ich mir getraut, es allenthalben zu behaupten.«
»Sie würden dann eine Unwahrheit behauptet haben«, erwiderte Newman. »Ich gehe heute seit drei Wochen das erstemal wieder aus; denn ich lag an der Gicht danieder.«
Newman hatte nichts weniger als das Aussehen eines mit der Gicht Behafteten, und auch Käthchen konnte sich dieses Gedankens nicht erwehren. Die weitere Erörterung wurde aber durch Frau Nickleby abgeschnitten, die darauf bestand, daß die Tür geschlossen würde, um Herrn Noggs keiner Erkältung auszusetzen, worauf sie ein Dienstmädchen nach einer Kutsche fortzuschicken beschloß, um besagtem Herrn einen möglichen Rückfall seiner Krankheit zu ersparen. Newman mußte nachgeben.
Der Wagen ließ nicht lange auf sich warten, und nach vielen tränenreichen Lebewohls und vielem geschäftigen Hin- und Herrennen von seiten des Fräulein La Creevy, in dessen Verlaufe der gelbe Turban in manche gewaltsame Berührung mit den Vorübergehenden kam, fuhr er – nicht der Turban, sondern der Wagen – mit den beiden Damen und ihrem Gepäck wieder ab. Newman hatte seinen Sitz auf dem Bock bei dem Kutscher genommen, ohne sich durch die Versicherungen der Frau Nickleby, daß es sein Tod sein könnte, beirren zu lassen.
Der Stromseite folgend gelangten sie in die City und machten nach einer langen und sehr langsamen Fahrt – denn in die Straßen drängten sich zu dieser Zeit Fuhrwerke aller Art – vor einem großen, alten, von Rauch geschwärzten Hause in der Themsestraße halt. Die Türen und Fenster desselben waren indessen so mit Kot bespritzt, daß es den Anschein hatte, als sei es seit Jahren nicht bewohnt worden.
Newman öffnete die Tür dieser verlassenen Wohnung mit einem Schlüssel, den er aus seinem Hute nahm – wir bemerken beiläufig, daß er in diesem wegen des schadhaften Zustandes seiner Taschen alles aufbewahrte und höchstwahrscheinlich auch sein Geld hier untergebracht haben würde, wenn er welches gehabt hätte – und ging, nachdem der Kutscher abgefertigt war, in das Innere der Behausung voran.
Es war ein altes, schwarzes, düsteres Nest, und ebenso waren auch die Zimmer, in denen sich ehedem so viel rühriges und geschäftiges Leben abgespielt hatte. An der Hinterseite befand sich ein Landungsplatz der Themse. Eine leere Hundehütte, einige Knochen, Reste von eisernen Reifen und alte Faßdauben lagen zerstreut umher: aber nirgends zeigten sich Spuren von Leben – alles ein kaltes, trauriges Bild des Verfalls.
»Es ist hier so drückend und beklemmend«, sagte Käthchen, »als ob das Haus unter irgendeinem schlimmen Einfluß stünde. Wenn ich abergläubisch wäre, so möchte ich fast glauben, daß in diesen alten Mauern irgendein schreckliches Verbrechen verübt wurde, und daß der Ort seitdem nicht mehr gedeihen konnte. Wie finster und düster hier alles aussieht!«
»Um Gotteswillen, meine Liebe«, versetzte Frau Nickleby, »rede nicht so, wenn ich mich nicht zu Tode fürchten soll.«
»Ach, Mama, es ist nur eine törichte Einbildung von mir«, sagte Käthchen, ein Lächeln erzwingend.
»Nun, so wünsche ich, meine Liebe, du behieltest solche törichte Einbildungen für dich und wecktest nicht auch meine törichten Einbildungen, um den deinen Gesellschaft zu leisten«, entgegnete Frau Nickleby. »Warum dachtest du denn nicht an all das früher? Du sorgst auch für gar nichts. Wir hätten Fräulein La Creevy um ihre Gesellschaft bitten oder einen Hund borgen oder tausend andere Dinge tun können. Aber so bist du – gerade wie dein armer seliger Vater. Wenn nicht ich an alles dächte – –«
So pflegte Frau Nickleby gewöhnlich ein allgemeines Klagelied zu beginnen, das sich durch ein Dutzend oder mehr verwickelter Sätze durchwand, die eigentlich an niemanden gerichtet waren, und in denen sie sich auch jetzt erging, bis ihr der Atem versagte.
Newman schien diese Bemerkungen nicht zu hören, sondern führte Mutter und Tochter nach ein paar Gemächern in dem ersten Stock, die man etwas wohnlich zu machen versucht hatte. In dem einen waren ein paar Stühle, ein Tisch, ein alter Teppich vor dem Herd und ein Feuer auf dem Kaminroste, in dem andern stand ein altes Feldbett und einige Schlafzimmergerätschaften.
»Nun, meine Liebe«, sagte Frau Nickleby, die sich Mühe gab, heiter zu sein, »erkennst du hier nicht die Umsicht und Sorgfalt deines Onkels? Ohne sie würden wir nichts getan haben als das Bett, das wir gestern kauften.«
»In der Tat, sehr gütig«, versetzte Käthchen umherblickend.
Newman Noggs sagte nicht, daß er die alten Möbel, die sie sahen, aus allen Ecken und Enden zusammengesucht, die auf dem Gesims stehende Milch zum Tee aus seinem eigenen Beutel bezahlt, den rostigen Kessel über dem Feuer gefüllt, die Holzspäne auf dem Hof hinter dem Hause gesammelt und die Kohlen erbettelt hatte. Aber der Gedanke, daß alles dieses in Ralph Nicklebys Auftrage geschehen sei, wollte ihm so gar wenig zusagen, daß er es sich nicht versagen konnte, nacheinander mit allen zehn Fingern zu knacken, was Frau Nickleby freilich anfangs etwas verblüffte. Da sie aber vermutete, es möchte in irgendeiner entfernten Beziehung zu seinem Gichtleiden stehen, so erlaubte sie sich keine Bemerkung.
»Wir dürfen Sie, glaube ich, nicht länger aufhalten«, sagte Käthchen.
»Haben Sie nichts mehr für mich zu tun?« fragte Newman.
»Nichts: ich danke Ihnen«, versetzte Fräulein Nickleby.
»Vielleicht, meine Liebe, hat Herr Noggs die Gefälligkeit, ein Glas auf unsere Gesundheit zu trinken«, fiel Frau Nickleby ein, indem sie in ihrem Strickbeutel nach einem kleinen Geldstück suchte.
»Ich fürchte, Mama«, entgegnete Käthchen stockend, als sie Newmans abgekehrtes Gesicht bemerkte, »Sie werden seine Gefühle verletzen, wenn Sie ihm etwas anbieten.«
Newman Noggs verbeugte sich gegen die junge Dame – mehr in der Weise eines Gentlemans als in der, wie sie für den armen Elenden, den sein Äußeres bekundete, zu passen schien. Er legte die Hände auf seine Brust, blieb eine Weile mit der Miene eines Mannes, der gerne sprechen möchte und nicht weiß, wie er’s angehen soll, stehen, wandte sich dann um und verließ das Zimmer.
Das schrille Echo der in ihr Schloß einklappenden schweren Haustür tönte so traurig durch das Gebäude, daß sich Käthchcn halb und halb versucht fühlte, den Schreiber ihres Onkels wieder zurückzurufen und ihn zu bitten, noch ein wenig zu verweilen. Aber sie schämte sich ihrer Besorgnisse, und so wanderte Newman Noggs seiner Heimat zu.