Zwölftes Kapitel.
Teilt dem Leser mit, welchen Verlauf Fräulein Fanny Squeers‘ Liebe nahm
Es war ein glücklicher Umstand für Fräulein Fanny Squeers, daß ihr würdiger Papa, als er an dem Tag der kleinen Teepartie spät nach Haus kam, »zu sehr angezündet hatte«, um die zahlreichen Merkmale des höchsten Verdrusses zu gewahren, die sich unverhüllt in ihren Zügen aussprachen. Da er jedoch, wenn er zuviel im Oberstübchen sitzen hatte, ziemlich ungestüm und streitsüchtig war, so hätte es leicht der Fall sein können, daß er sich über den nächsten besten aus der Luft gegriffenen Gegenstand mit der Tochter überworfen hätte, wenn diese junge Dame nicht mit einer höchst empfehlenswerten, klugen Vorsicht darauf bedacht gewesen wäre, zur Ableitung des ersten Unwetters einen Knaben parat zu halten. Als sich dieses in der Form von Fußtritten und Fauststößen entladen hatte, beruhigte sich der Ehrenmann allmählich soweit, daß er sich überreden ließ, zu Bett zu gehen, was er denn auch gestiefelt und mit seinem Regenschirm unter dem Arm tat.
Das ausgehungerte Dienstmädchen begleitete Fräulein Squeers wie gewöhnlich nach dem Schlafgemach, um ihr daselbst das Haar zu wickeln, sonstige kleine Toilettendienste zu verrichten und ihr so viele Schmeicheleien zu sagen, wie sie aufzubringen vermochte; denn Fräulein Squeers war träge und überhaupt eitel und leichtfertig genug, um eine vornehme Dame abzugeben, wie sie sich denn auch in nichts als in den bloß durch eine ungerechte Willkür bestimmten Auszeichnungen des Ranges und der Stellung von einer solchen unterschied.
»Wie schön sich Ihr Haar diesen Abend kräuselt, Fräulein«, sagte das Kammerkätzchen. »Es ist in der Tat jammerschade, es auszukämmen!«
»Halts Maul!« versetzte Fräulein Squeers zornig.
Dem Mädchen war etwas der Art schon viel zu oft vorgekommen, um durch diesen Ausbruch übler Laune von seiten ihrer Gebieterin überrascht zu werden; und da sie halb und halb eine Vermutung von den Ereignissen des Abends hatte, so änderte sie ihren Operationsplan, mit dem sie sich angenehm zu machen gedachte, indem sie einen indirekten Weg einschlug.
»Ach, Fräulein«, sagte das Mädchen, »ich kann mir nicht helfen, aber es muß heraus, und wenn Sie mich umbringen sollten. In meinem ganzen Leben ist mir nie jemand von so ordinärem Aussehen vorgekommen, wie diesen Abend Fräulein Price.«
Fräulein Squeers seufzte und nahm eine horchende Stellung an.
»Ich weiß, es ist sehr unrecht von mir, daß ich so spreche, Fräulein«, fuhr da« Mädchen fort, hocherfreut, als sie bemerkte, daß ihre Worte Eindruck machten, »denn Fräulein Price ist Ihre Freundin und Ihr alles; aber sie putzt sich so heraus und bemüht sich, auf eine so anstößige Weise in die Augen zu fallen, daß – aber meinetwegen – wenn sich die Leute nur auch selbst sehen könnten.«
»Was meinst du damit, Phib?« fragte Fräulein Squeers, in ihren eigenen Handspiegel sehend, wo sie, wie die meisten von uns, nicht sich selbst, sondern den Reflex eines anmutigen Bildes ihrer Einbildungskraft erblickte.
»Was läßt dich so sprechen?«
»Was mich so sprechen läßt, Fräulein? Ach, es ist genug vorhanden, daß darob sogar ein alter Kater französisch sprechen könnte,« versetzte die Zofe. »Man darf sie nur ansehen, wie sie den Kopf hin und her wirft.«
»Sie wirft allerdings den Kopf hin und her«, bemerkte Fraulein Squeers mit zerstreuter Miene.
»So eitel, und doch so gar nichts an ihr!« sagte das Mädchen.
»Arme Thilda!« seufzte Fräulein Squeers mitleidig.
»Und wie tief ausgeschnitten sie ihr Kleid trägt, nur um sich bewundern zu lassen«, fuhr die Dienerin fort. »Mein Gott, sie treibt die Schamlosigkeit aufs äußerste!«
»Ich darf solche Äußerungen nicht gestatten, Phib«, sagte Fräulein Squeers. »Thildas Verwandte sind geringe Leute, und wenn sie es nicht besser weiß, so ist es die Schuld ihrer Familie und nicht die ihre.«
»Wohl«, sagte Phöbe, welchen Namen Fräulein Squeers, wenn sie guter Laune war, in Phib verwandelte; »aber könnte sie sich da nicht eine Freundin zum Muster nehmen? Ach, welch ein nettes Mädchen könnte mit der Zeit aus ihr werden, wenn sie sich nach Ihnen richten wollte und einmal einsehen lernte, was für üble Wege sie einschlägt.«
»Phib«, versetzte Fräulein Squeers mit würdevoller Miene, »es ziemt sich nicht, daß ich solche Vergleichungen anhöre; sie machen Thilda zu einer gewöhnlichen und unanständigen Person, und es könnte unfreundlich von mir scheinen, wenn ich ihnen mein Ohr leihen wollte. Sprechen wir daher von etwas anderem, Phib, denn obgleich ich sagen muß, daß Thilda Price, wenn sie sich irgend jemand zum Muster nehmen wollte – ich meine nicht gerade mich – –«
»O ja, gerade Sie, Fräulein«, fiel Phib ein.
»Nun, meinetwegen mich, wenn du’s so haben willst«, fuhr Fräulein Squeers fort. »Ich muß sagen, daß sie, wenn sie das tun wollte, bei weitem besser fahren würde.«
»Ja, und ich müßte mich sehr irren, wenn nicht noch jemand anders der gleichen Meinung wäre«, versetzte das Mädchen geheimnisvoll.
»Was willst du damit sagen?« fragte Fräulein Squeers.
»Nichts Besonderes, Fräulein«, antwortete das Mädchen; »aber genug – ich weiß, was ich weiß.«
»Phib«, entgegnete Fräulein Squeers mit theatralischem Anstand, »ich bestehe darauf, daß du dich näher erklärst. Was sollen diese geheimnisvollen Worte? Sprich!«
»Nun, wenn Sie es durchaus so haben wollen, Fräulein, so muß ich schon Farbe bekennen«, erwiderte die Zofe. »Herr Johann Browdie ist der gleichen Ansicht mit Ihnen, und wenn er nicht schon zu weit gegangen wäre, um mit Ehren zurücktreten zu können, so würde er die Mamsell Price mit Freuden laufen lassen und bei Fräulein Squeers anzukommen suchen.«
»Gerechter Gott!« rief Fräulein Squeers, mit großer Würde die Hände zusammenschlagend. »Was ist das?«
»Die Wahrheit, Fräulein, nichts als die lautere Wahrheit«, erklärte die schlaue Phöbe.
»Welch eine Lage«, rief Fräulein Squeers. »So bin ich also, ohne es selbst zu wissen, drauf und dran, das Glück und den Frieden meiner lieben Thilda zu zerstören. Was ist doch der Grund, daß die Männer, ich mag wollen oder nicht, sich in mich verlieben und um meinetwillen ihren erkorenen Bräuten abtrünnig werden?«
»Der Grund liegt nahe, Fräulein – sie können nicht anders«, versetzte das Mädchen.
Wenn Fräulein Squeers der Grund war, so lag er allerding sehr nahe.
»Rede mir nie wieder so«, entgegnete Fräulein Squeers, »nie wieder – hörst du? Thilda Price hat Fehler – viele Fehler –, aber ich will ihr Wohl und wünsche vor allem, daß sie unter die Haube kommt, denn es ist ihr zu gönnen – besonders wegen der Beschaffenheit ihrer Mängel zu gönnen, daß sie je eher, je lieber einen Mann kriegt. Nein, Phib, sie soll nur ihren Browdie nehmen. Der arme Bursche dauert mich zwar, aber ich betrachte Thilda noch immer für meine Freundin, und ich hoffe nur, daß sie sich als Ehefrau besser macht, als es wahrscheinlich der Fall sein wird.«
Nach diesem Ergüsse ihrer Gefühle schlüpfte Fräulein Squeers in die Federn.
Groll ist ein kleines Wörtchen, aber es enthält ein so seltsames Gemisch von Gefühlen und Mißtönen als vielleicht das silbenreichste Wort unserer Sprache. Fräulein Squeers wußte in ihrem Innersten ebensogut wie ihre Dienerin, daß alles, was dieses armselige Geschöpf gesagt hatte, nichts als grobe, lügenhafte Schmeichelei war. Aber schon die Gelegenheit, einem bißchen Bosheit gegen ihre Beleidigerin Luft zu machen und gegen die Mängel und Schwächen derselben Mitleid zu heucheln – wäre es auch nur in Gegenwart eines elenden Dienstmädchens – gewährte ihrer üblen Laune eine fast ebenso große Erleichterung, als wenn alles, was zur Sprache kam, reinste Wahrheit gewesen wäre. Die Macht der Selbsttäuschung geht noch außerdem in Stunden der Aufregung so weit, daß Fräulein Squeers sich in ihrem edlen Verzicht auf Johann Browdies Hand ordentlich als groß und erhaben erschien und auf ihre Nebenbuhlerin mit einer Art heiliger Ruhe heruntersehen konnte, die nicht wenig zur Besänftigung ihrer wirren Gefühle beitrug.
Diese glückliche Gemütsstimmung übte einigen Einfluß, um den Weg zur Versöhnung zu bahnen, denn als am andern Morgen an die Tür gepocht und die Müllerstochter angekündigt wurde, begab sich Fräulein Squeers mit einer so christlichen Fassung in das Besuchszimmer, daß man es nicht ohne hohe Erbauung mit ansehen konnte.
»Du siehst, Fanny«, sagte die Müllerstochter, »daß ich wieder zu dir komme, obgleich wir gestern abend einigen Wortwechsel miteinander hatten.«
»Ich beklage deine Leidenschaftlichkeit, Thilda«, versetzte Fräulein Squeers, »aber ich bin darüber erhaben, einen Groll im Herzen nachzutragen.«
»Sei nicht böse, Fanny«, sagte Fräulein Price. »Ich komme, um dir eine Mitteilung zu machen, über die du dich, wie ich hoffe, freuen wirst.«
»Was mag das sein, Thilda?« fragte Fräulein Squeers, indem sie die Lippen aufwarf und eine Miene annahm, als ob nichts in Feuer, Wasser, Luft und Erde imstande wäre, ihr auch nur eine Spur des angedeuteten Gefühls zu entlocken.
»Als wir gestern abend dein Haus verließen«, fuhr Fräulein Price fort, »hatte ich mit Johann einen schrecklichen Streit.«
»Das kann mir keine Freude machen«, entgegnete Fräulein Squeers, obgleich sie ein wohlgefälliges Lächeln nicht zu unterdrücken vermochte.
»Lieber Gott, wie könnte ich auch so schlecht von dir denken?« erwiderte ihre Gefährtin; »das ist es nicht.«
»So?« sagte Fräulein Squeers, ihr Gesicht wieder in düsterere Falten legend. »Was weiter?«
»Nachdem wir uns lange herumgezankt und erklärt hatten, daß wir uns nie wieder sehen wollten«, fuhr Fräulein Price fort, »vertrugen wir uns wieder, und Johann ging diesen Morgen hin, um für den nächsten Sonntag das erste Aufgebot zu bestellen. Wir feiern daher in drei Wochen unsere Hochzeit, und ich teile es dir mit, damit du für das Brautjungfernkleid sorgen kannst.«
Dies war Galle und Honig in einem Becher – Galle, weil sie ihre Freundin so bald verheiratet sehen sollte, und Honig, weil ihr dadurch die Gewißheit wurde, daß die Müllerstochter keine ernsthaften Absichten auf Nicolaus unterhielt. Im ganzen wurde jedoch das Bittere durch das Angenehme so weit überwogen, daß Fräulein Squeers sich bereit erklärte, das Brautjungfernkleid machen zu lassen, und zugleich die Hoffnung ausdrückte, Thilda möchte glücklich sein. Man könne freilich nicht voraussehen, ob dies der Fall sein würde, und sie möchte ihr raten, nicht allzusehr darauf zu bauen; denn die Männer wären gar wunderliche Geschöpfe, und viele Frauen befänden sich in einer so traurigen Lage, daß sie sich von ganzem Herzen die schöne Zeit ihrer Mädchenjahre zurückwünschten. Diesen leidigen Trostsprüchen fügte Fräulein Squeers noch einige andere bei, die auf eine nicht minder edle Weise berechnet waren, ihrer Freundin Mut zu machen und ihre Freudigkeit zu erhöhen.
»Um auf etwas anderes zu kommen, Fanny«, sagte Fräulein Price, »ich möchte ein paar Worte wegen des jungen Nickleby mit dir sprechen.«
»Er ist mir gleichgültig«, fiel Fräulein Squeers schnippisch ein; »ich verachte ihn zu sehr.«
»O, das kann unmöglich dein Ernst sein«, versetzte ihre Freundin. »Sei aufrichtig, Fanny – du liebst ihn noch immer?«
Ohne eine direkte Erwiderung zu geben, brach Fräulein Squeers in einen Strom boshafter Tränen aus und rief, daß sie ein elendes, vernachlässigtes, unglückliches, mit Füßen getretenes Wesen sei.
»Ich hasse alle Welt«, schloß Fräulein Squeers ihren leidenschaftlichen Erguß, »und wollte, daß alle Menschen tot wären – ja, das wollte ich.«
»Barmherziger Himmel!« rief Fräulein Price, nicht wenig erschrocken über dieses Zugeständnis menschenfreundlicher Gesinnungen; »doch nein, du kannst unmöglich so im Ernst sprechen!«
»Es ist mein voller Ernst«, versetzte Fräulein Squeers, indem sie mit knirschenden Zähnen feste Knoten in ihr Taschentuch knüpfte; »und ich wollte, daß auch ich tot wäre.«
»Ach, du wirst in fünf Minuten ganz anders denken«, sagte Mathilda. »Wieviel besser würde es sein, ihn wieder in Gnaden aufzunehmen, als dich in dieser Weise selbst zu quälen; und wäre es nicht viel hübscher, ihn unter guten Bedingungen dir wieder ganz zu eigen zu machen, mit ihm zu scherzen, zu kosen und auf die angenehmste Weise mit ihm zu leben?«
»Ich weiß nicht, wie das alles sein würde«, schluchzte Fräulein Squeers. »O Thilda, wie hast du so ehrlos und niederträchtig handeln können? Ich würde es nimmermehr geglaubt haben, wenn ich es nicht selbst gesehen hätte.«
»Aber, aber!« rief Fräulein Price kichernd, »sollte man nicht glauben, ich hätte zum mindesten jemand umgebracht?«
»Es war fast eben so schlecht«, versetzte Fräulein Squeers leidenschaftlich.
»Und alles das, weil ich zufällig gut genug aussehe, um die Leute höflich gegen mich zu machen?« entgegnete Fräulein Price. »Niemand gibt sich sein Gesicht selber, und es ist ebensowenig meine Schuld, wenn ich das meine sehen lassen darf, als es die Schuld anderer Leute ist, wenn man ihnen das nicht nachrühmen kann.«
»Halt dein Maul«, schrie Fräulein Squeers in ihrem schrillsten Tone, »oder du zwingst mich, dich daraufhin zu schlagen, Thilda, was mir hinterdrein doch wieder leid tun würde.«
Wir brauchen nicht zu sagen, daß der Ton der Unterhaltung einigen Einfluß auf die Stimmung der jungen Dame übte, und daß, als Folge davon, der Wortwechsel eine Beimischung von Tätlichkeiten erhielt. In der Tat steigerte sich die Heftigkeit des Streites zusehends und wurde endlich so ungestüm, daß beide Teile in Tränen ausbrachen und gleichzeitig ausriefen, daß sie sich’s nimmermehr gedacht hätten, je einmal einer solchen Behandlung sich aussetzen zu müssen. Dieses führte zu Erörterungen und Gegenvorstellungen, was allgemach einen Ausgleich herbeiführte, und der Schluß war, daß sie sich in die Arme fielen und aufs neue ewige Freundschaft schworen. Wir bemerken hierbei, daß diese rührende Zeremonie nicht die erste, sondern bereits die zweiundfünfzigste im Laufe desselbigen Jahres war.
Da nun das gute Einvernehmen wieder völlig hergestellt war, so kam man auf die Anzahl und die Beschaffenheit der Kleider zu sprechen, die Fräulein Price für ihren Eintritt in den heiligen Stand der Ehe notwendig haben mußte, und Fräulein Squeers wies augenfällig nach, daß in dieser Hinsicht bedeutend mehr getan werden müsse, als der Müller tun konnte oder wollte, wenn man nicht allen Anstand außer Augen zu lassen beabsichtige. Die junge Dame leitete dann mittels eines leichten Übergangs das Gespräch auf ihre eigene Garderobe und führte, nachdem sie ihre Hauptraritäten der Länge nach aufgezählt hatte, ihre Freundin die Stiegen hinauf, damit sie sich persönlich überzeugen könne. Hier wurden nun die Schätze von zwei Kommoden und einem Wandschranke zur Schau gestellt und die kleineren Putzartikel anprobiert, bis es für Fräulein Price Zeit wurde, wieder nach Hause zurückzukehren. Da indes die letztere über die gesehene Pracht ganz entzückt und von Bewunderung einer Rosaschärpe ganz hingerissen war, erklärte Fräulein Squeers in der besten Laune von der Welt, daß sie ihre Freundin noch eine Strecke begleiten wolle, um noch länger das Vergnügen ihrer Gesellschaft zu genießen. Sie verließen daher miteinander das Haus, und während des Spazierganges sprach Fräulein Squeers ein langes und breites über die hohen Eigenschaften ihres Vaters, wobei sie zugleich, um ihrer Freundin einen schwachen Begriff von der ungemeinen Wichtigkeit und Überlegenheit ihrer Familie zu geben, dessen Einkommen verzehnfachte.
Es war gerade die der Erholung gewidmete Zeit zwischen dem Mittagessen und dem Beginne des Unterrichts, die Nicolaus gewöhnlich zu einem Spaziergang benutzte, auf dem er in melancholischem Brüten über seine unglückliche Lage verdrießlich durch das Dorf zu schlendern pflegte. Fräulein Squeers wußte das recht gut, mußte es aber wahrscheinlich vergessen haben; denn als sie den jungen Mann auf sich zukommen sah, ließ sie allerlei Anzeichen von Überraschung und Bestürzung blicken und beteuerte ihrer Freundin, es sei ihr, als ob sie in die Erde sinken müßte.
»Sollen wir umkehren, oder uns geschwind in ein Bauernhaus flüchten?« fragte Fräulein Price. »Er hat uns noch nicht gesehen.«
»Nein, Thilda«, versetzte Fräulein Squeers; »es ist meine Pflicht, mich zu überwinden, und ich will es.«
Fräulein Squeers sagte dies mit einem Tone, als ob sie einen hohen, edlen Entschluß gefaßt hätte, und da sie außerdem den schweren Kampf ihrer Gefühle durch einiges Seufzen und Luftschnappen kundgab, so erlaubte sich ihre Freundin keine weitere Bemerkung. Sie gingen gerade auf Nicolaus zu, der mit zur Erde gesenktem Blicke einherschritt und der beiden Mädchen nicht eher gewahr wurde, als bis sie ihm ganz nahe waren, da er sonst vielleicht selbst irgendwo ein Versteck gesucht haben würde.
»Guten Morgen«, sagte Nicolaus mit einer Verbeugung und ging vorüber.
»Er geht«, flüsterte Fräulein Squeers. »Ach, ich ersticke, Thilda!«
»Ach, Herr Nickleby!« rief Fräulein Price, indem sie tat, als beunruhige sie die Drohung ihrer Freundin, obgleich ihrem Benehmen nur der boshafte Wunsch, mit anzuhören, was Nicolaus sagen würde, zugrunde lag; »ach, Herr Nickleby, kommen Sie doch zurück.«
Herr Nickleby kam zurück und fragte in ziemlicher Verwirrung, womit er den Damen zu Diensten sein könne.
»Halten Sie sich nicht mit Reden auf«, drängte Fräulein Price, »sondern unterstützen Sie sie auf der andern Seite. Wie ist es dir jetzt, meine Liebe?«
»Besser«, seufzte Fräulein Squeer«, indem sie den rötlichbraunen, mit einem grünen Schleier versehenen Biberhut auf Nicolaus Schulter legte. »Ach, diese törichte Schwäche!«
»Nenne sie nicht töricht, meine Liebe«, sagte Mathilda Price, deren leuchtende Augen sich nicht wenig über die Verwirrung des Hilfslehrers lustig machten; «du hast keinen Grund, dich ihrer zu schämen. Diejenigen sollten sich schämen, die zu stolz sind, um sich durch etwas anderes, als solche Auftritte, wieder gutmachen zu lassen.«
»Sie sind, wie ich sehe, willens, mich fortwährend zu necken«, sagte Nicolaus lächelnd, »obgleich ich Ihnen bereits gestern abend sagte, daß ich mir keiner Schuld bewußt bin.«
»Hörst du? – er sagt, er sei sich keiner Schuld bewußt, meine Liebe«, bemerkte Fräulein Price boshaft. »Vielleicht warst du zu eifersüchtig oder zu vorschnell gegen ihn? Er sagt, er sei unschuldig, und ich denke, das ist Entschädigung genug.«
»Sie wollen mich nicht verstehen«, versetzte Nicolaus; »jedenfalls aber bitte ich, mich bei Ihrem Scherz aus dem Spiele zu lassen; denn ich habe keine Zeit und bin in der Tat auch nicht in der Stimmung, in dem gegenwärtigen Augenblick die Zielscheibe oder den Genossen Ihrer Heiterkeit abzugeben.«
»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Fräulein Price mit geheucheltem Erstaunen.
»Frage ihn nicht, Thilda«, rief Fräulein Squeers; »ich vergebe ihm.«
»Gütiger Gott!« sagte Nicolaus, als der braune Hut abermals auf seine Schulter sank; »die Sache wird ernsthafter, als ich vermutete. Erlauben Sie – wollen Sie die Güte haben, mich anzuhören?«
Mit diesen Worten hob er den braunen Kastorhut in die Höhe; als er jedoch mit unverhohlenem Erstaunen einem Blicke zärtlichen Vorwurfs von Fräulein Squeers‘ Seite begegnete, trat er einige Schritte zurück, um aus dem Bereiche seiner schönen Bürde zu kommen, und fuhr folgerdermaßen fort:
»Es tut mir sehr leid – gewiß aufrichtig leid, daß ich gestern abend zu einer Mißhelligkeit unter Ihnen Anlaß gab. Ich habe mir selbst schon die bittersten Vorwürfe darüber gemacht, daß ich so unglücklich war, jenes Zerwürfnis zu veranlassen, obgleich ich versichern kann, daß es ohne mein Wissen und ohne meinen Willen geschah.«
»Schon gut, aber das ist gewiß nicht alles, was Sie zu sagen haben«, rief Fräulein Price, als Nicolaus innehielt.
»Ich fürchte es selber auch«, stammelte Nicolaus mit einem halben Lächeln und einem Blick auf Fräulein Squeers. »Es ist allerdings etwas höchst Albernes, aber – nein, schon die bloße Andeutung einer solchen Vermutung läßt einen wie einen Pinsel aussehen, – doch – darf ich fragen, ob diese Dame annimmt, daß ich irgendeine – mit einem Worte, glaubt sie, daß ich in sie verliebt bin?«
»Er ist jetzt köstlich in der Klemme«, dachte Fräulein Squeers; »endlich habe ich ihn soweit. – Antworte für mich, meine Liebe«, flüsterte sie ihrer Freundin zu.
»Ob sie das glaubt?« erwiderte Fräulein Price. »Natürlich glaubt sie es.«
»Sie glaubt es?« rief Nicolaus mit einem Ungestüm, daß man es wohl einen Augenblick für Entzücken nehmen konnte.
»Gewiß«, versicherte Fräulein Price.
»Wenn es Herr Nickleby bezweifelt hat, Thilda«, sagte die errötende Fanny in sanftem Ton, »so mag er sich beruhigen. Seine Gefühle werden erwid–«
»Halten Sie inne«, unterbrach sie Nicolaus hastig; »ich bitte, hören Sie mich. Hier waltet die seltsamste Täuschung, der gröbste Irrtum ob, der je einem Menschen vorgekommen ist. Ich habe das Fräulein kaum ein halb Dutzend Male gesehen, aber wäre dies auch sechzigmal der Fall gewesen, oder wenn ich bestimmt wäre, sie sechzigtausendmal zu sehen, so würde das für mich gewiß ganz das gleiche sein. Es ist mir nie ein Gedanke, ein Wunsch oder eine Hoffnung, die in Verbindung mit ihr stünde, aufgestiegen, es müßte denn – ich sage das übrigens nicht, um ihre Gefühle zu verletzen, sondern um ihr die wahre Beschaffenheit der meinen klarzulegen – es müßte denn etwas der Art in dem Sehnen zu finden sein, das meinem Herzen so nahe wie mein Leben selber liegt, diesem verfluchten Orte eines Tages den Rücken kehren zu können und nie wieder einen Fuß in denselben setzen, oder daran denken – ja nicht einmal anders daran denken zu dürfen als mit Abscheu und Ekel.«
Nach dieser in der Tat ungemein offenen und geraden Erklärung, den er sich mit allem Ungestüm eines entrüsteten und aufgeregten Herzens entledigte, verbeugte sich Nicolaus leicht und entfernte sich, ohne Erwiderung abzuwarten.
Aber das arme Fräulein Squeers! Ihr Ärger, ihr Zorn, ihre Wut und die rasche Aufeinanderfolge bitterer, leidenschaftlicher Gefühle, die durch ihre Seele stürmten – nein, das läßt sich nicht beschreiben. Zurückgewiesen! Zurückgewiesen von einem Hilfslehrer, den man durch eine Zeitungsannonce und durch einen Jahrgehalt von fünf Pfunden, zahlbar in unbestimmten Raten, aufgelesen und hinsichtlich der Kost und Wohnung ganz wie die Knaben selbst gehalten hatte! Und das noch obendrein in Gegenwart eines kleinen Äffchens von Müllerstochter, die ihre achtzehn Jahre zählte und sich in drei Wochen mit einem Manne verheiraten sollte, der sie auf den Knien um ihr Jawort angefleht hatte! Sie hätte bei dem Gedanken an diese Demütigung in der Tat allen Ernstes ersticken mögen.
Aber ungeachtet des Sturmes in ihrem Innern blieb ihr doch eines klar, und dies war, daß sie Nicolaus mit der ganzen Engherzigkeit und Erbärmlichkeit, die eines Abkömmlings aus dem Hause der Squeers würdig war, haßte und verabscheute. Auch blieb ihr noch ein Trost übrig, daß sie nämlich jede Stunde des Tages seinen Stolz verwunden und ihn durch kleine Gehässigkeiten, Kränkungen oder Verkürzungen verletzen konnte, um so mehr, da diese, wenn sie schon auf den Gleichgültigen einen unangenehmen Eindruck üben, von einem so reizbaren Manne, wie Nicolaus, doppelt bitter empfunden werden mußten. Durch diese beiden Betrachtungen gestärkt, suchte Fräulein Squeers die Sache zu ihrem Vorteil zu drehen, indem sie gegen ihre Freundin bemerkte, Herr Nickleby ist ein so wunderlicher Mensch und von so ungestümer Gemütsart, daß sie glaube, sie werde ihn wohl aufgeben müssen; und so trennten sich die beiden Damen.
Wir müssen hier bemerken, daß Fräulein Squeers, als sie ihre Liebe (oder was immer bei ihr dieses Gefühl repräsentierte) auf Nicolaus warf, keinen Augenblick an die Möglichkeit dachte, daß er in dieser Sache mit ihr verschiedener Ansicht sein könnte. Sie glaubte sogar, der junge Mann müsse sich durch den Vorzug, den sie ihm angedeihen ließ, über die Maßen geehrt fühlen; denn sie war ja schön und ansprechend, ihr Vater war der Chef und Nicolaus der Gehilfe, ihr Vater hatte Geld und Nicolaus keins – lauter Gründe, die sich wohl hören ließen. Dabei hatte sie auch recht wohl erwogen, wie angenehm sie ihm seine Lage als Freundin und um wieviel unangenehmer als Feindin machen konnte; und ohne Zweifel würden manche weniger gewissenhafte Leute, als Nicolaus, schon aus diesem sehr augenfälligen Grunde ihre Verirrung ermutigt haben. Nicolaus hielt es jedoch für geraten, anders zu handeln, und Fräulein Squeers war darüber wütend.
»Er mag zusehen«, sagte die aufgebrachte junge Dame, als sie wieder auf ihr Zimmer kam und ihr Inneres durch einen Ausfall auf Phib erleichtert hatte. »Wenn die Mutter zurückkommt, so will ich sie noch mehr gegen ihn aufhetzen.«
Das war kaum nötig, aber Fräulein Squeers machte ihrem Worte keine Unehre. Der arme Nicolaus wurde neben der schlechten Kost, der schmutzigen Wohnung und dem unflätigen Elend, dessen Zeuge er ohne Unterlaß sein mußte, mit jeder Art Herabwürdigung, die Bosheit und der niedrigste Geiz zu ersinnen vermochten, behandelt.
Aber das war noch nicht alles. Es gab noch ein anderes, tieferschneidendes Peinigungssystem, dessen Ungerechtigkeit und Grausamkeit ihn fast zur Verzweiflung brachten.
Der arme Smike folgte, seit Nicolaus einmal des Nachts im Schulzimmer freundlich mit ihm gesprochen hatte, in rastloser Dienstfertigkeit dem Hilfslehrer fast immer auf der Ferse, suchte dessen kleinen Bedürfnissen, soviel es in seinen Kräften lag, zuvorzukommen und fühlte sich glücklich, wenn er nur in seiner Nähe war. Er konnte stundenlang neben ihm sitzen und ihm ruhig ins Gesicht sehen, während ein Wort aus Nicolaus‘ Munde seine kummervollen Züge erheiterte und sogar einen vorübergehenden Strahl von Glück in diesem hervorrief. Er war ein ganz anderes Wesen, denn sein Leben hatte jetzt einen Zweck, nämlich den, der einzigen Person, die ihn – wenn nicht gerade mit Liebe, so doch wie einen Menschen behandelt hatte, seine Anhänglichkeit zu zeigen, obgleich diese Person ihm sonst fremd war.
Über dieses arme Wesen ergoß man nun ohne Unterlaß alle Bosheit und alle üble Launen, die man an Nicolaus nicht auslassen konnte. Die härtesten Knechtesdienste hätte er nicht in Anschlag gebracht, da er an diese von lange her gewöhnt war. Ohrfeigen ohne alle Ursache waren gleichfalls eine Angelegenheit, die sich von selber verstand, denn viele schwere und mühevolle Jahre hatte er nichts anderes gekannt. Kaum hatte man aber bemerkt, daß er eine Anhänglichkeit an Nicolaus zeige, so wurden ihm vom Morgen bis zum Abend nichts anderes als Peitschenhiebe und Faustschläge oder Faustschläge und Peitschenhiebe zuteil. Squeers war eifersüchtig auf den Einfluß, den sein Gehilfe so bald erworben hatte; die Squeerssche Familie haßte ihn, und Smike mußte beides entgelten. Nicolaus sah dieses und knirschte mit den Zähnen bei jeder Wiederholung eines solchen feigen und unmenschlichen Angriffs.
Er hatte einige regelmäßige Lehrstunden für die Knaben angeordnet, und eines Abends, als er in der unheimlichen Schulstube auf und ab ging und ihm das übervolle Herz bei dem Gedanken, daß sein Schutz und sein Wohlwollen das Elend eines höchst beklagenswerten Wesens nur noch vermehrt hätte, fast brechen wollte, blieb er auf einmal unwillkürlich in einer dunklen Ecke, wo der Gegenstand seiner Gedanken saß, stehen.
Der arme Junge saß mit rotgeweinten Augen emsig über einem zerrissenen Buche und mühte sich vergeblich ab, mit einer Aufgabe zustande zu kommen, die ein mit gewöhnlichen Fähigkeiten versehenes Kind von neun Jahren mit Leichtigkeit hätte lösen können, die aber für das verwirrte Gehirn des zertretenen neunzehnjährigen Burschen ein versiegeltes und hoffnungsloses Geheimnis war. Trotzdem saß er da, geduldig das Blatt wieder und wieder durchbuchstabierend, obgleich er nicht durch einen knabenhaften Ehrgeiz (denn er war die gemeinsame Zielscheibe des Spottes für seine ganze ungeschlachte Umgebung), sondern nur durch den eifrigen Wunsch, seinem einzigen Freunde zu gefallen, beseelt wurde.
Nicolaus legte die Hand auf seine Schulter.
»Ich komme nicht damit zustande«, sagte Smike niedergeschlagen, indem er mit einem Schmerzensblicke aufsah. »Nein, es geht nicht.«
»Du mußt dich nicht allzusehr anstrengen«, versetzte Nicolaus.
Smike schüttelte den Kopf, schloß das Buch mit einem Seufzer, stierte ausdruckslos um sich her und legte das Gesicht auf seinen Arm. Er weinte.
»Um Gottes willen, höre auf«, sagte Nicolaus mit erregter Stimme: »ich kann es nicht mit ansehen.«
»Sie sind schlimmer gegen mich als je«, schluchzte der Knabe.
»Leider, leider«, entgegnete Nicolaus.
»Aber für Sie«, fuhr der arme Kerl fort, »könnte ich in den Tod gehen. Ich weiß gewiß, sie haben es darauf abgesehen, mich unter die Erde zu bringen.«
»Du wirst es besser haben, armer Junge«, erwiderte Nicolaus, indem er traurig den Kopf schüttelte, »wenn ich fort bin.«
»Fort?« rief der andere mit einem starren Blicke nach Nicolaus‘ Gesicht.
»Still!« versetzte Nicolaus. »Ja.«
»Sie wollen also gehen?« flüsterte der Knabe angelegentlich.
»Ich kann’s noch nicht sagen«, entgegnete Nicolaus; »ich sprach mehr vor mich selber hin als zu dir.«
»Sagen Sie mir«, flehte der Knabe, »o sagen Sie mir, wollen Sie wirklich gehen – wollen Sie?«
»Sie werden mich endlich dazu zwingen«, antwortete Nicolaus. »Doch die Welt liegt ja offen vor mir.«
»Sagen Sie mir«, drängte Smike, »ist die Welt auch so schlimm und abscheulich wie dieser Ort?«
»Behüte Gott!« sprach Nicolcius, den Lauf seiner eigenen Gedanken verfolgend. »Ihre schwerste und sauerste Arbeit wäre ein Glück gegen das Leben hier.«
»Würde ich Sie dort treffen?« fragte der Knabe ungewöhnlich schnell und leidenschaftlich.
»Ja«, versetzte Nicolaus, in der Absicht, ihn zu beschwichtigen.
»Nein, nein«, sagte der andere, Nicolaus‘ Hand ergreifend, »würde ich – würde ich, – sagen Sie mir’s noch einmal. Geben Sie mir die Versicherung, daß ich Sie gewiß finden würde.«
»Du würdest es«, erwiderte Nicolaus in derselben wohlwollenden Absicht, »und ich würde dir Beistand leisten und nicht neue Leiden über dich bringen, wie ich hier getan habe.«
Smike drückte leidenschaftlich die Hände des jungen Mannes an seine Brust und ließ einige abgebrochene, unverständliche Worte laut werden. In demselben Augenblicke trat Squeers in die Stube und schlich nach seiner gewohnten Ecke.