Neunundzwanzigstes Kapitel.


Neunundzwanzigstes Kapitel.

Eine Bitte im Marschallgefängnis.

Bitterer Kummer und Reue sind schlechte Gesellen für einen Gefangenen. Den ganzen Tag vor sich hinbrüten und bei Nacht wenig ruhen kann einen Mann nicht gegen das Elend wappnen. Am nächsten Morgen fühlte Clennam, daß seine Gesundheit schwächer wurde, wie sein Mut bereits gesunken war, und daß die Last, unter der er seufzte, ihn erdrücken mußte.

Eine Nacht um die andere war er um zwölf oder ein Uhr von seinem Jammerlager aufgestanden und hatte sich an sein Fenster gesetzt, um die trübe brennenden Lampen im Hofe unten zu beobachten und auf den ersten bleichen Schimmer des Tags zu harren, stundenlang, ehe es möglich war, daß dieser am Himmel sich zeigte. Jetzt, da die Nacht kam, konnte er sich nicht mal überreden, sich auszukleiden.

Denn es stellte sich eine brennende Unruhe, eine qualvolle Ungeduld, wie das Gefängnis sie hervorbringt, und die Überzeugung ein, daß das Herz hier ihm brechen und er hier sterben müßte, was ihm unbeschreibliche Leiden verursachte. Sein Widerwille und Abscheu gegen diesen Ort wurde so groß, daß es ihm Mühe kostete, darin Atem zu holen. Das Gefühl zu ersticken bemächtigte sich seiner oft so gewaltig, daß er am Fenster stehenblieb und, den Hals haltend, nach Luft seufzte. Zu gleicher Zeit erweckte die Sehnsucht nach anderer Luft und das Verlangen, außerhalb dieser öden weißen Mauer sich bewegen zu können, ein Gefühl in ihm, als wenn ihn die Inbrunst dieses Wunsches wahnsinnig machen müßte.

Viele andere Gefangene hatten vor ihm ähnliche Gefühle gehabt, aber die Heftigkeit und Dauer derselben hatte sie abgestumpft, was auch bei ihm der Fall wurde. Dazu genügten zwei Nächte und ein Tag. Es kam wohl hier und da wieder, aber weit schwächer und auch in größeren Zwischenräumen. Eine traurige Ruhe folgte auf diesen Zustand, und schon um die Mitte der Woche war er in die Abgespanntheit eines langsam schleichenden Fiebers versunken.

Da Cavaletto und Pancks fort waren, hatte er keinen andern Besuch zu fürchten als Mr. und Mrs. Plornish. Sein Bemühen betreffs dieses würdigen Paares war, daß es ihm nicht zu nahe komme; denn in der krankhaften Stimmung seiner Nerven suchte er allein zu sein und von der Pein, daß man ihn in diesem gedrückten und schwachen Zustand sehe, verschont zu werden. Er schrieb einen Brief an Mrs. Plornish, worin er mitteilte, daß er von seinen Angelegenheiten in Anspruch genommen und durch die Notwendigkeit, sich ihnen ganz und gar zu widmen, sich gezwungen sehe, einige Zeit auf das Vergnügen verzichten zu müssen, sich durch den Anblick ihres freundlichen Gesichts zu zerstreuen. Wenn der junge John, der täglich zu einer gewissen Stunde, wo die Schließer abgelöst wurden, hereinsah, sich bei ihm erkundigte, ob er etwas für ihn besorgen könnte, tat er immer, als ob er mit Schreiben beschäftigt wäre, und antwortete mit einem freundlichen »Nein.« Der Gegenstand ihrer einzigen langen Unterredung war nie mehr mit einem Wort berührt worden. Durch alle diese Wandlungen des Unglücks hindurch hatte Clennam ihn nicht einen Augenblick aus dem Auge verloren.

Der sechste Tag der erwähnten Woche war ein feuchter, heißer, nebliger Tag. Es war, als nähme die Armut, die Schäbigkeit und der Schmutz in der schwülen Atmosphäre zu. Mit einem brennenden Kopf und müdem Herzen hatte Clennam die traurige Nacht durchwacht, indem er dem Tröpfeln des Regens auf das Hofpflaster gelauscht und an das sanftere Rieseln auf den Boden im Freien gedacht hatte. Ein trüber Kreis von gelbem Nebel war statt der Sonne am Himmel aufgestiegen, und er hatte den trüben Schein beobachtet, den er auf die Mauer warf und der wie ein Stück Gefängnislumpen aussah. Er hatte das Öffnen der Türen, das Hereinschlürfen der schlechten Schuhe, die draußen gewartet hatten, das Kehren und Pumpen und das Hin- und Hergehen gehört, womit der Gefängnismorgen gewöhnlich anfängt. Er fühlte sich so schwach und krank, daß er oftmals innehalten mußte,

Clennam im Schuldgefängnis.

während er sich wusch, und war endlich nach seinem Stuhl am offenen Fenster hingekrochen. Dort saß er schlummernd, während die alte Frau, die sein Zimmer aufräumte, ihre Morgengeschäfte besorgte.

Halb wirr durch den Mangel an Schlaf und Nahrung (sein Appetit und sogar sein Geschmack waren ganz verlorengegangen) war er sich zwei- oder dreimal im Verlauf der Nacht bewußt geworden, daß er an Sinnestäuschungen litt. Er hatte durch die warme Nachtluft Bruchstücke von Liedern und Melodien klingen hören, von denen er wußte, daß sie gar nicht existierten. Jetzt, da er in einem Zustand der Erschöpfung halb im Schlummer lag, vernahm er sie wieder. Stimmen schienen ihn anzureden, und er antwortete ihnen und fuhr auf.

Schlummernd und träumend, ohne die Kraft, die Zeit zu berechnen, so daß eine Minute eine Stunde und eine Stunde eine Minute hätte sein können, schlich sich dies Bild eines Gartens in seine Phantasie, eines Blumengartens, dessen Düfte ein feuchter bunter Wind auf sanften Schwingen trug. Es kostete ihn eine so schmerzliche Anstrengung, den Kopf aufzurichten, um sich darüber ins reine zu setzen oder überhaupt ins reine zu kommen, daß jene Vorstellung von dem Garten ihm eine alte und lustige erschien, als er sich umsah. Neben der Teetasse auf seinem Tische sah er einen blühenden Strauß; eine prächtige Handvoll der auserlesensten und lieblichsten Blumen.

Noch nie war etwas in seinen Augen so schön erschienen. Er nahm sie in die Hand, schlürfte ihren Duft ein, hielt sie an seine heiße Stirn, legte sie nieder und breitete seine trocknen Hände darüber, als wollte er die wohltuende Wärme eines Feuers genießen. Erst als er sich desselben einige Zeit erfreut hatte, fragte er sich, wer sie wohl geschickt, und öffnete seine Tür, um die Frau zu fragen, wie sie in ihre Hände gekommen. Aber sie war fort und schien schon lange gegangen zu sein; denn der Tee, den sie für ihn auf dem Tische gelassen, war kalt. Er wollte eine Tasse trinken, aber er konnte den Geruch desselben nicht ertragen; deshalb kroch er nach seinem Stuhl am offenen Fenster zurück und stellte die Blumen auf den kleinen runden Tisch aus alten Zeiten.

Als die erste Schwäche, die eine Folge seines Herumgehens gewesen, ihn verlassen hatte, verfiel er wieder in seinen früheren Zustand. Eine von den nächtlichen Melodien spielte in dem Wind, als die Tür seines Zimmers sich einem leichten Druck zu öffnen und nach einer kurzen Pause eine stille Gestalt in einem schwarzen Mantel auf der Schwelle zu stehen schien. Es war, als ob sie den Mantel fallen ließe, und dann schien es seine Klein-Dorrit in ihrem alten, abgeschabten Kleid zu sein. Sie schien zu zittern und ihre Hände zu falten und zu lächeln und in Tränen auszubrechen.

Er raffte sich auf und rief. Und dann sah er in dem liebevollen, mitleidigen, kummervollen, teuren Gesicht als wie in einem Spiegel, wie verändert er war. Sie kam auf ihn zu, und die Hände auf seine Brust legend, daß er sitzenbleibe, und vor ihm auf den Boden kniend und die Lippen zu ihm erhebend, um ihn zu küssen, und mit ihren Tränen ihn befeuchtend, wie der Regen vom Himmel die Blumen befeuchtet, rief ihn Klein-Dorrit, die leibhaftig vor ihm lag, bei seinem Namen.

»Oh, mein bester Freund! Lieber Mr. Clennam, lassen Sie mich keine Tränen sehen! Wenn Sie nicht gar aus Freude weinen, mich zu sehen. Ich hoffe, das ist der Fall! Ihr armes Kind ist wieder da!«

So treu, so zärtlich, so unverdorben vom Glück. Im Klang ihrer Stimme, im Licht ihrer Augen, in der Berührung ihrer Hände so engelhaft tröstend und wahr!

Als er sie küßte, sagte sie zu ihm: »Niemand hat mir gesagt, daß Sie krank seien«, und ihren Arm sanft um seinen Arm schlingend, zog sie seinen Kopf an ihre Brust, legte ihre Hand auf sein Haupt, ließ ihre Wange auf dieser Hand ruhen und liebkoste ihn so zärtlich und, Gott weiß, so unschuldig, wie sie ihren Vater in demselben Zimmer geliebkost hatte, als sie noch ein kleines Kind gewesen und alle die Pflege von andern bedurft hätte, die sie ihnen angedeihen ließ.

Als er sprechen konnte, sagte er: »Ist es möglich, daß Sie zu mir kommen? Und in diesem Kleid?«

»Ich hoffte, Sie würden mich in diesem Kleid lieber sehen als in jedem andern. Ich habe es immer zur Erinnerung aufbewahrt; obgleich ich die Erinnerung nicht brauche. Ich bin nicht allein, wie Sie sehen. Ich habe eine alte Freundin mit mir gebracht.«

Als er sich umsah, erblickte er Maggy in ihrer großen Haube, die sie schon lange nicht mehr getragen, mit einem Korb am Arm wie in früheren Tagen, und ganz vergnügt vor sich hin lachend.

»Erst gestern abend bin ich mit meinem Bruder in London angekommen. Ich schickte fast unmittelbar nach unserer Ankunft zu Mrs. Plornish, um von Ihnen zu hören und Sie meine Ankunft wissen zu lassen. Da hörte ich, daß Sie hier seien. Haben Sie vielleicht während der Nacht an mich gedacht? Ich glaube fast, daß Sie ein wenig an mich gedacht haben. Ich habe so besorgt an Sie gedacht, und es schien mir so lange, bis der Morgen anbrach.«

»Ich habe an Sie gedacht« – er stockte, da er nicht wußte, wie er sie nennen sollte. Sie merkte es augenblicklich.

»Sie haben mich noch nicht bei meinem rechten Namen genannt. Sie wissen, was stets mein rechter Name bei Ihnen war.«

»Ich habe jeden Tag, jede Stunde, jede Minute an Sie gedacht, Klein-Dorrit, seit ich hier bin.«

»Wirklich! Wirklich!«

Er sah die helle Freude auf ihrem Gesicht und die Röte, die darüber hinflammte, mit einem Gefühl der Scham. Er, ein gebrochner, bankerotter, kranker, entehrter Gefangener! »Ich war schon hier, ehe das Tor aufging, aber ich fürchtete mich, so geradezu zu Ihnen zu kommen. Ich hätte im ersten Augenblick mehr geschadet als genützt; denn das Gefängnis kam mir so vertraut und doch so fremd vor, und es rief so viele Erinnerungen an meinen armen Vater und auch an Sie in mir wach, daß ich anfangs ganz überwältigt davon war. Aber wir gingen zu Mr. Chivery, ehe wir hierher an das Tor kamen, und er brachte uns herein und schloß uns Johns Zimmer auf – Sie wissen, mein armes, altes Zimmer –, und wir warteten dort ein wenig. Ich brachte die Blumen an die Tür, aber Sie hörten mich nicht.«

Sie sah etwas frauenhafter als vor ihrer Reise aus, und die reifende Berührung der italienischen Sonne war auf ihrem Antlitz sichtbar. Im übrigen war sie jedoch ganz unverändert. Denselben tiefen, scheuen Ernst, den er immer und nie ohne Rührung an ihr bemerkt, fand er auch jetzt noch. Wenn dieser Ernst eine neue Bedeutung hatte, die ihm tief ins Herz drang, so lag die Veränderung in seiner Auffassung, nicht in ihr.

Sie nahm ihren alten Hut ab und hing ihn an die alte Stelle und fing an, mit Maggys Hilfe das Zimmer so frisch und sauber zu machen, wie es nur möglich war, und es mit wohlriechendem Wasser zu besprengen. Als dies geschehen, wurde der Korb, der mit Trauben und anderem Obst gefüllt war, ausgepackt und sein Inhalt geräuschlos untergebracht. Als auch dies geschehen war, wurde Maggy mit einigen zugeflüsterten Worten weggeschickt, um jemanden anders wegzuschicken, der den Korb wieder vollfüllen sollte. Dieser kam auch bald wieder mit neuen Vorräten, aus denen zuerst ein kühlendes Getränk und Gelee und weiter ein gebratenes Huhn und Wein und Wasser herausgenommen wurden. Nachdem diese verschiedenen Anordnungen getroffen waren, nahm sie ihr altes Nähkistchen heraus, um ihm einen Vorhang für sein Fenster zu machen; und so sah er Klein-Dorrit, während er ruhig in seinem Stuhl saß, ruhig in seinem Zimmer walten und arbeiten, eine Ruhe, die sich auch über das sonst so geräuschvolle Gefängnis zu verbreiten schien.

Das bescheidene Köpfchen wieder über die Arbeit herabgebeugt und die flinken Finger geschäftig an ihrer alten Arbeit zu sehen – obgleich sie nicht so in die Arbeit vertieft war, daß ihre teilnahmsvollen Blicke sich nicht zu ihm erhoben und, wenn sie sich senkten, Tränen zeigten – so getröstet und gestärkt zu werden und zu glauben, daß alle Hingebung dieser großen Natur in seinem Unglück ihm zugewandt sei, um ihren unerschöpflichen Reichtum von Güte über ihn auszuschütteln, machte Clennams zitternde Stimme oder Hand nicht ruhiger und stärkte ihn nicht in seiner körperlichen Schwäche. Aber es flößte ihm eine moralische Kraft ein, die mit seiner Liebe wuchs. Und wie zärtlich er sie jetzt liebte, vermögen Worte nicht auszudrücken.

Wie sie so nebeneinander saßen, in dem Schatten der Mauer, fiel der Schatten wie Licht auf ihn. Sie wollte ihn nicht viel sprechen lassen, und er legte sich in seinen Stuhl zurück und blickte sie an. Dann und wann stand sie auf und gab ihm ein Glas zum Trinken oder strich die Stelle glatt, wo sein Kopf ruhte; dann kehrte sie still zu ihrem Sitz zurück und beugte sich wieder über ihre Arbeit.

Der Schatten bewegte sich mit der Sonne, aber sie wich nicht von seiner Seite, außer wenn sie ihm etwas bringen wollte. Sie war jetzt mit ihrer Arbeit fertig, und ihre Hand, die, seitdem sie ihm zum letzten Male etwas gereicht, auf dem Arm des Stuhles zitternd geruht hatte, weilte noch darauf. Er legte seine Hand darauf, und sie faßte sie mit bebendem Flehen.

»Lieber Mr. Clennam, ich muß Ihnen etwas sagen, ehe ich gehe. Ich habe es von Stunde zu Stunde verschoben, aber nun muß ich es sagen.«

»Auch ich, liebe Klein-Dorrit. Auch ich habe aufgeschoben, was ich sagen mußte.«

Sie bewegte ängstlich besorgt ihre Hand nach seinen Lippen, als wollte sie ihn zum Schweigen bringen; dann ließ sie sie zitternd wieder sinken.

»Ich verlasse England nicht wieder. Mein Bruder hat die Absicht, aber ich nicht. Er war immer sehr anhänglich an mich, und er ist jetzt so dankbar gegen mich – viel zu dankbar, denn es ist nur, daß ich zufällig während seiner Krankheit bei ihm war –, daß er sagt, es soll ganz in meinem Willen stehen, zu bleiben, wo es mir am besten gefällt, und zu tun, was mir am besten gefällt. Er wünsche mich nur glücklich zu wissen, sagt er.«

Ein heller Stern glänzte am Himmel. Sie blickte zu ihm auf, während sie sprach, als wäre es der inbrünstige Vorsatz ihres Herzens, der über ihr erglänzte.

»Sie werden sich denken können, ohne daß ich es Ihnen zu sagen brauche, daß mein Bruder hierher gereist ist, um das Testament meines lieben Vaters zu eröffnen und von seinem Vermögen Besitz zu ergreifen. Er sagt, wenn ein Testament vorhanden wäre, würde ich gewiß reich bedacht sein; und wenn keines vorhanden sei, wolle er mich reich machen.«

Er wollte sprechen, aber sie hob wieder ihre zitternde Hand empor, und er schwieg.

»Ich wüßte nicht, was mit dem Gelde tun, und wünschte mir keines. Es wäre durchaus ohne Wert für mich, außer um Ihretwillen. Ich könnte unmöglich reich sein, solange Sie hier sind. Ich wäre im Gegenteil immer unsagbar arm, wenn Sie hier in Not schmachten. Wollen Sie mir erlauben, alles, was ich habe, Ihnen zu leihen? Wollen Sie mir gestatten, es Ihnen zu geben? Wollen Sie mir erlauben, Ihnen zu zeigen, daß ich nie vergessen habe und nie vergessen kann, wie Sie mich zu der Zeit, da dies meine Heimat war, beschützt haben? Lieber Mr. Clennam, machen Sie mich zum glücklichsten Menschen von der Welt, indem Sie Ja sagen. Machen Sie mich so glücklich, wie ich es sein kann, solange Sie hier bleiben, indem Sie mir heute abend noch keine Antwort geben und mich mit der Hoffnung von hier fortgehen lassen, daß Sie die Sache sich freundlich überlegen wollen; und daß Sie mir um meinetwillen – nicht um Ihretwillen, sondern um meinetwillen, einzig um meinetwillen! – die größte Freude machen würden, die ich je auf Erden erleben kann, die Freude, zu wissen, daß ich Ihnen einen Dienst geleistet habe, und daß ich etwas von der großen Schuld meiner Liebe und Dankbarkeit abgetragen. Ich kann nicht sagen, was ich sagen möchte. Ich kann Sie hier nicht besuchen, wo ich so lange gewohnt, ich kann nicht hier an Sie denken, wo ich Sie so viel gesehen habe, und so ruhig und trostvoll sein, wie ich sollte. Meine Tränen drängen sich unwillkürlich hervor. Ich kann sie nicht zurückhalten. Aber bitte, bitte, bitte, wenden Sie sich jetzt in Ihrem Kummer nicht von Ihrer Klein-Dorrit! Bitte, bitte, bitte! ich flehe Sie aus tiefstem bekümmertstem Herzen an, mein Freund – Sie Lieber! – nehmen Sie alles, was ich habe, und machen Sie es zu einem Segen für mich!«

Der Stern hatte bis jetzt auf ihr Gesicht geschienen, aber ihr Gesicht sank nun auf ihre und seine Hand.

Es war dunkler geworden, als er sie in seinem Arme aufrichtete und ihr mit sanftem Tone antwortete:

»Nein, liebe Klein-Dorrit. Nein, mein Kind. Ich darf nicht von einem solchen Opfer hören. Freiheit und Hoffnung um solchen Preis wären so teuer erkauft, daß ich nie ihre Last, nie den Vorwurf, sie zu besitzen, tragen könnte. Aber mit welch heißem Danke und welch inniger Liebe ich dies sage, mag der Himmel mir bezeugen!«

»Und doch wollen Sie nicht gestatten, Ihnen in Ihrem Unglück treu zu bleiben?«

»Sagen Sie, liebste Klein-Dorrit, und doch will ich versuchen, Ihnen treu zu bleiben. Wenn in vergangenen Tagen, wo dies Ihre Heimat und dies Ihr Kleid war, ich mich selbst besser verstanden (ich spreche nur von mir selbst) und die Geheimnisse meiner Brust deutlicher gelesen hätte; wenn ich trotz meiner Zurückhaltung und meines Mißtrauens gegen mich ein Licht erkannt hätte, das ich jetzt hell leuchten sehe, wo es weit entfernt von mir ist und meine schwachen Füße es nicht mehr einholen können; wenn ich damals gewußt und Ihnen gesagt hätte, daß ich Sie liebe und ehre, nicht als das arme Kind, als das ich Sie zu betrachten gewohnt war, sondern als eine Frau, deren wackere Hand mich weit über mich selbst erheben und mich zu einem weit glücklicheren und bessern Mann machen konnte; wenn ich so die Gelegenheit benutzt hätte, die nun nicht zurückzurufen ist, – wie ich wünsche, daß ich’s getan, und wie sehr ich das wünsche! – und wenn uns damals etwas fern voneinander gehalten hätte, wo ich mich in mäßigem Wohlstand befand, während Sie arm waren; da würde ich Ihr edles Anerbieten Ihres Vermögens, liebstes Mädchen, mit andern Worten angenommen haben und hätte doch erröten müssen, es anzurühren. Aber wie es jetzt ist, darf ich es nie anrühren, nie!«

Sie bat ihn ergreifender und inniger mit ihrer kleinen bittenden Hand, als sie es mit Worten hätte tun können.

»Ich bin genug mit Schmach beladen, meine liebe Klein-Dorrit. Ich darf nicht so tief sinken und Sie – ein so liebes, edles, gutes Wesen – mit mir hinabziehen. Gott segne Sie, Gott lohne Ihnen! Es ist vorbei!«

Er schloß sie in seine Arme, als wenn sie seine Tochter wäre.

»Immer so viel älter, so viel rauher, so viel weniger wert, müssen wir beide selbst das vergessen, was ich war, und Sie dürfen mich nur sehen, wie ich jetzt bin. Ich drücke diesen Scheidekuß auf Ihre Wange, mein Kind – das mir hätte näher stehen, aber nie lieber sein können – ich, ein zu Grunde gerichteter Mann, der weit ab von Ihnen steht, für immer von Ihnen getrennt, dessen Laufbahn beinahe zu Ende ist, während die Ihre eben beginnt. Ich habe nicht den Mut zu verlangen, daß Sie mich in meiner Erniedrigung vergessen; aber ich bitte Sie, meiner nur so zu gedenken, wie ich bin.«

Die Glocke begann zu läuten, zum Zeichen, daß die Fremden sich aus dem Gefängnis zu entfernen hatten. Er nahm ihren Mantel von der Wand und legte ihn zärtlich besorgt um ihre Schulter.

»Noch ein Wort, Klein-Dorrit. Ein hartes Wort für mich, aber ein notwendiges. Die Zeit, wo Sie und dies Gefängnis etwas miteinander gemein hatten, ist längst vorbei. Verstehen Sie mich?«

»Oh, Sie werden mir doch nicht sagen wollen, daß ich nicht wiederkommen soll«, rief sie, bitterlich weinend und ihre gefalteten Hände zu ihm aufhebend. »Sie werden mich gewiß nicht so verlassen!«

»Ich würde es sagen, wenn ich könnte; aber ich habe nicht den Mut, dieses liebe Gesicht so ganz von mir zu verbannen und auf alle Hoffnung, es wiederzusehen, zu verzichten. Aber kommen Sie nicht bald, kommen Sie nicht oft. Es ist ein verpesteter Ort, und ich weiß wohl, daß die Ansteckung mir anklebt. Sie gehören in eine heiterere und bessere Umgebung. Sie dürfen nicht hierher zurückschauen, meine Klein-Dorrit; Sie müssen auf ganz andere und glücklichere Pfade blicken. Noch einmal, Gott segne Sie auf denselben! Gott lohne Ihnen!«

Maggy, die sehr traurig gestimmt wurde, rief in diesem Augenblick: »Oh, bring‘ ihn in ein Spital. Er wird nie wieder wie früher werden, wenn man ihn nicht in ein Spital bringt. Und dann kann die kleine Frau, die immer an ihrem Rade spann, an den Schrank gehen mit der Prinzessin und sagen: Für wen bewahrt Ihr das Hühnchen auf? Und dann können sie es herausnehmen und ihm geben und alle glücklich sein!« Die Unterbrechung kam zur rechten Zeit! denn die Glocke hatte beinahe zu Ende geläutet. Arthur wickelte sie noch einmal sorgfältig in ihren Mantel, gab ihr seinen Arm (obgleich er ohne ihren Besuch beinahe zu schwach zum Gehen gewesen wäre) und führte sie die Treppe hinab. Sie war der letzte Besuch, der zum Schließerstübchen hinausging, und das Tor fiel schwer und hoffnungslos hinter ihr ins Schloß.

Mit dem Grabeston, der damit in Arthurs Herz klang, kehrte auch sein Gefühl der Schwäche zurück. Es war eine mühselige Reise die Treppe hinauf in sein Zimmer, und er betrat den dunklen einsamen Raum in unaussprechlich elender Stimmung.

Als es beinahe Mitternacht und im Gefängnis längst still geworden war, hörte man ein vorsichtiges Krachen die Treppe heraufkommen und ein vorsichtiges Klopfen eines Schlüssels an der Tür. Es war der junge John. Er schlüpfte auf Socken herein und hielt die Tür zu, während er flüsternd sprach:

»Es ist gegen alle Vorschriften, aber es ist mir einerlei. Ich war entschlossen, mir Bahn zu brechen und zu Ihnen zu kommen.«

»Was gibt es?«

»Nichts gibt’s, Sir. Ich wartete auf dem Hofe auf Miß Dorrit, bis sie herauskam. Ich dachte, es würde Ihnen angenehm sein, wenn jemand auf sie achtgebe.«

»Danke, danke! Sie führten sie nach Hause, John?«

»Ich begleitete sie bis in ihr Hotel. Dasselbe, in dem auch Mr. Dorrit gewohnt hatte. Miß Dorrit sprach auf dem ganzen Wege so freundlich mit mir, daß ich vor Freuden außer mir war. Warum glauben Sie wohl, daß sie ging, statt zu fahren?«

»Ich weiß es nicht, John.«

»Um von Ihnen zu reden. Sie sagte zu mir: ›John, Sie waren immer ein Ehrenmann, und wenn Sie mir versprechen, daß Sie für ihn sorgen wollen und es ihm nie an Hilfe und Trost fehlen lassen werden, wenn ich nicht um ihn bin, so wird mein Gemüt beruhigt sein.‹ Ich versprach es ihr. Und ich will Ihnen zur Seite sein in alle Ewigkeit«, sagte John Chivery.

Tief gerührt bot Clennam dem ehrlichen Menschen die Hand.

»Ehe ich sie nehme«, sagte John, indem er sie ansah, ohne die Tür zu verlassen, »müssen Sie erst raten, welche Botschaft mir Miß Dorrit gegeben hat.«

Clennam schüttelte den Kopf.

»›Sagen Sie ihm‹, wiederholte John mit deutlicher, obgleich zitternder Stimme, ›daß seine Klein-Dorrit ihm ihre nimmer aufhörende Liebe sendet.‹ Jetzt ist’s heraus. Habe ich redlich gehandelt?«

»Gewiß, gewiß!«

»Wollen Sie Miß Dorrit sagen, daß ich redlich gehandelt habe, Sir?«

»Das will ich.« »Hier ist meine Hand, Sir«, sagte John, »und ich will Ihnen zur Seite sein in alle Ewigkeit.«

Nach einem herzlichen Händedruck verschwand er mit demselben vorsichtigen Schritt, schlich ohne Schuhe über das Pflaster des Hofes, schloß das Tor hinter sich und ging nach dem Vordergebäude, wo er seine Schuhe gelassen hatte. Wäre dieser Weg mit glühenden Pflugscharen gepflastert gewesen, so ist doch nicht unwahrscheinlich, daß John um desselben Zweckes willen ihn mit der gleichen Hingebung gegangen wäre.

Drittes Kapitel.


Drittes Kapitel.

Auf dem Wege.

Die helle Morgensonne blendete die Augen, der Schnee hatte aufgehört, die Nebel waren verschwunden, die Bergluft war so klar und leicht, daß das neue Gefühl des Atmens wie das Eintreten in ein neues Dasein erschien. Um die Täuschung zu mehren, schien selbst der feste Boden verschwunden und der Berg eine leuchtende Wüste ungeheurer weißer Haufen und Massen, eine schwimmende Wolkenregion zwischen dem blauen Himmel oben und der Erde tief unten.

Einige dunkle Flecken auf dem Schnee, wie Knoten an einer kleinen Schnur, am Klostertor beginnend und sich in gebrochenen Stücken, die noch nicht zusammengebunden waren, fortziehend, wanden sich an dem Abhang hinab und zeigten, wie die Brüder bereits an verschiedenen Punkten beschäftigt waren, den Pfad zu bahnen. Schon hatte der Schnee begonnen, um das Tor her unter den Füßen aufzutauen. Geschäftig wurden Maulesel herausgeschafft, an die Ringe in der Mauer gebunden und beladen; Glockenriemen wurden umgeschnallt, Lasten festgebunden: die Stimmen der Treiber und Reiter klangen harmonisch. Einige von den Frühesten hatten sogar bereits ihre Reise wieder angetreten, und sowohl auf dem flachen Berggipfel bei dem dunkeln Wasser in der Nähe des Klosters als auf dem Wege, auf dem man gestern bergan geklettert war, sah man kleine sich bewegende Gestalten von Menschen und Maultieren, durch den ungeheuren Raum zu Zwergen zusammengeschrumpft, unter dem hellen Klang der Glöckchen und angenehmem, harmonischem Geplauder hinziehen.

Im Speisezimmer vom vergangenen Abend war ein neues Feuer auf der federartigen Asche des alten aufgetürmt und schien auf das einfache Frühstück, das aus Brot, Butter und Milch bestand. Es beschien auch den Kurier der Familie Dorrit, der für seine Gesellschaft Tee aus einem Vorrat bereitete, den er, nebst noch einigen andern kleinen Vorräten, mitgebracht hatte, die hauptsächlich für die große unbequeme Masse angelegt waren. Mr. Gowan und Blandois von Paris hatten bereits gefrühstückt und gingen, ihre Zigarre rauchend, am See auf und nieder.

»Gowan, hm?« murmelte Tip, sonst Edward Dorrit, Esquire, die Blätter des Buches umdrehend, als der Kurier gegangen war. »Gowan ist also der Name eines Laffen, das ist alles, damit Punktum! Wenn es sich der Mühe für mich lohnte, wollt‘ ich ihn tüchtig an der Nase herumführen. Aber es lohnt sich der Mühe nicht – das ist ein Glück für ihn. Wie befindet sich seine Frau, Amy? Ich glaube, du kennst sie. Du kennst ja Dinge der Art.«

»Sie befindet sich besser, Edward. Aber sie gehen heute noch nicht.«

»Oh! Sie gehen heute noch nicht? Das ist ein Glück für diesen Menschen,« sagte Tip, »er und ich möchten sonst in Kollision kommen.«

»Man halt es hier für besser, daß sie heute noch ruhig liegenbleibt und sich nicht anstrengt und durch den Ritt hinab erschüttert wird, bis sie sich morgen ganz wohl befindet.«

»Meinetwegen. Aber du sprichst ja, als ob du ihre Krankenwärterin gewesen wärest. Du bist doch nicht wieder (Mrs. General ist nicht hier) in deine alten Gewohnheiten zurückgefallen, Amy?«

Er tat diese Frage mit einem listig beobachtenden Blick auf Fanny und auf seinen Vater.

»Ich war bloß bei ihr, um sie zu fragen, ob ich für sie nichts tun könne, Tip,« sagte Klein-Dorrit.

»Du brauchst mich nicht Tip zu nennen, Amy,« versetzte der junge Mann mit gerunzelter Stirn, »denn das ist eine alte Gewohnheit, die du aufgeben mußt.«

»Ich wollt‘ es auch nicht sagen, lieber Edward. Ich vergaß es. Es war einst so natürlich, daß es mir im Augenblick das rechte Wort schien.«

»O ja!« fiel Miß Fanny ein. »Natürlich und rechtes Wort und einst, und wie das alles heißt. Unsinn, du kleines Ding! Ich weiß ganz wohl, weshalb du solch ein Interesse an dieser Mrs. Gowan nimmst. Du kannst mich nicht täuschen.«

»Ich will es auch nicht, Fanny. Sei nicht böse.«

»O, böse!« versetzte die junge Dame auffahrend. »Ich habe keine Geduld« (was auch wirklich der Fall war).

»Bitte, Fanny«, sagte Mr. Dorrit, die Augenbrauen aufziehend, »was meinst du? Erkläre dich.«

»Oh! sei ruhig, Vater,« versetzte Miß Fanny, »es ist nicht der Rede wert. Amy wird mich verstehen. Sie kannte diese Mrs. Gowan oder wußte von ihr, schon vor dem gestrigen Abend, und sie wird es wohl auch eingestehen, daß dies der Fall.«

»Mein Kind,« sagte Mr. Dorrit, sich an seine jüngere Tochter wendend, »hat deine Schwester – irgend – ha – irgendeinen Grund zu dieser seltsamen Behauptung?«

»Wie weichherzig wir auch sind,« fiel Miß Fanny ein, ehe sie antworten konnte, »wir schleichen doch nicht in die Zimmer der Leute auf den Spitzen der Berge und sitzen halbtot vor Kälte bei den Leuten, wenn wir sie nicht vorher schon kennen. Ist es nicht schwer zu ahnen, wessen Freundin Mrs. Gowan sei?«

»Wessen Freundin?« fragte der Vater.

»Papa, ich bedaure, sagen zu müssen,« versetzte Miß Fanny, der es indessen gelungen war, sich in den Zustand der Beleidigten und Geärgerten hineinzustacheln, was sie oft mit großer Anstrengung tat, »daß ich glaube, sie ist eine Freundin jener aus vielen Gründen widerwärtigen und unangenehmen Person, die uns seinerzeit beleidigte. Sie benahm sich mit jenem vollständigen Mangel an Delikatesse, die unsere Erfahrung von ihm erwartet hätte. Sie kränkte aus so öffentliche und absichtliche Weise bei einer Gelegenheit, auf die wir, nach unserer Verabredung, durchaus nicht mehr anspielen wollen.«

»Amy, mein Kind,« sagte Mr. Dorrit, milde Strenge mit würdevoller Liebe mäßigend, »ist das der Fall?«

Klein-Dorrit antwortete sanft, ja, es sei der Fall.

»Ja, es ist der Fall!« rief Miß Fanny. »Natürlich! Ich sagte es ja. Und jetzt, Papa, erkläre ich, ein für allemal (diese junge Dame hatte die Gewohnheit, dasselbe jeden Tag ihres Lebens und oft siebenmal an einem Tag ein für allemal zu erklären), daß das schändlich ist! Ich erkläre ein für allemal, daß dieser Sache ein Ende gemacht werden sollte. Nicht genug, daß wir durchgemacht haben, was nur wir wissen. Wir müssen es uns auch noch von der, die unsre Gefühle am meisten schonen sollte, beharrlich und systematisch ins Gesicht schleudern lassen? Sollen wir unser ganzes Leben lang diesem unnatürlichen Benehmen ausgesetzt sein? Sollen wir niemals vergessen dürfen? Ich sage noch einmal, es ist unerhört!«

»Nun, Amy,« bemerkte ihr Bruder, den Kopf schüttelnd, »du weißt, ich stehe immer auf deiner Seite, wo ich kann, und bei den meisten Gelegenheiten. Aber ich muß sagen, ich halte es wahrhaftig für eine ziemlich unerklärliche Art, deine schwesterliche Liebe zu zeigen, daß du einen Mann beschützest, der mich auf die ungesittetste Weise behandelte, in der man einen andern behandeln kann. Und der«, fügte er überzeugend hinzu, »ein sehr niedriggesinnter Schuft sein muß, sonst hätte er sich nicht so gegen mich benehmen können, wie er es tat.«

»Und bedenkt,« sagte Miß Fanny, »bedenkt wohl, was das mit sich führt! Können wir erwarten, daß uns unsre Diener respektieren? Nie. Da sind zwei Kammermädchen, und Papas Kammerdiener, und ein Diener, und ein Kurier und alle Arten von Dienerschaft; und umgeben von diesen müssen wir eins von den Unsrigen mit einem Glase kalten Wasser, wie einen Diener umherlaufen sehen. Wahrhaftig,« sagte Miß Fanny, »ein Polizeidiener könnte, wenn ein Bettler in der Straße einen Anfall bekommt, nicht anders mit seinem Glase einherrennen, als Amy es in diesem Jimmer gestern Abend vor unsren Augen getan hat!«

»Ich wollte darauf kein so großes Gewicht legen«, bemerkte Mr. Edward. »Aber dein Clennam, wie er sich zu nennen beliebt, das ist etwas anderes.«

»Er gehört dazu«, versetzte Miß Fanny, »und zu allem andern. Er drängte sich in erster Linie uns auf. Wir haben nie nach ihm verlangt. Ich zeigte ihm stets, daß ich mit dem größten Vergnügen auf seine Gesellschaft verzichten würde. Und dann beleidigt er unsre Gefühle auf so gröbliche Weise, was er nie getan haben könnte oder würde, wenn es ihm nicht Vergnügen gemacht hätte, uns bloßzustellen; und dann müssen wir uns noch zum Dienste seiner Freunde herabwürdigen lassen! Ich wundre mich auch nicht über das Benehmen Mr. Gowans. Was ließ sich erwarten, da er unser früheres Mißgeschick kannte und sich gerade im Augenblick daran weidete.«

»Vater – Edward – wahrhaftig nicht!« verteidigte sich Klein-Dorrit. »Weder Mr. noch Mrs. Gowan hatten je unsere Namen gehört. Sie wußten und wissen durchaus nichts von unsrer Geschichte.«

»Um so schlimmer«, warf Fanny ein, entschlossen, nichts zuzugeben, was ihren Angriff hätte abschwächen können, »denn dann hast du keine Entschuldigung. Wenn sie uns gekannt hätten, hättest du dich berufen fühlen können, sie zu versöhnen. Das wäre ein schwacher und lächerlicher Mißgriff gewesen: aber ich kann einen Mißgriff entschuldigen, während ich eine absichtliche und überlegte Erniedrigung derer, die uns am nächsten und teuersten sein sollten, nicht entschuldigen kann. Nein. Ich kann das nicht entschuldigen. Ich kann es nur anklagen.«

»Ich beleidige dich nie mit Wissen, Fanny«, sagte Klein-Dorrit, »obgleich du so hart gegen mich bist.«

»Dann solltest du vorsichtiger sein, Amy«, versetzte ihre Schwester. »Wenn du solche Sachen durch Zufall tust, so solltest du vorsichtiger sein. Wenn ich etwa an einem gewissen Platz und unter gewissen Umständen geboren wäre, die mein Bewußtsein von Anstand beeinträchtigen, ich glaube, ich würde mich dann für verbunden halten, bei jedem Schritt zu überlegen: ›Werde ich unbewußterweise irgendeinen näheren oder entfernteren Verwandten kompromittieren?‹ Das ist es, glaube ich, was ich tun würde, wenn es mein Fall wäre.«

Mr. Dorrit trat nun dazwischen, um zu gleicher Zeit dieser peinlichen Unterhaltung ein Ende zu machen und ihrer Moral durch seine Weisheit die Krone aufzusetzen.

»Meine Liebe«, sagte er zu seiner jüngern Tochter, »ich bitte dich, erwidere nichts mehr. Deine Schwester drückt sich etwas streng aus, hat aber ziemlich recht. Du mußt eine – hm – eine große Stellung ausfüllen. Die große Stellung nimmst nicht du allein ein, Sondern auch –ha – ich – und – ha, hm – wir alle. Alle. Es ist nun die Aufgabe aller Menschen in einer bedeutenden Stellung, und insbesondere dieser Familie, aus Gründen, bei denen ich – ha – nicht verweilen will, sich Achtung zu verschaffen. Immer darauf bedacht zu sein, sich die Achtung der Menschen zu erwerben. Untergeordnete Menschen müssen, damit sie uns respektieren, – ha – in Entfernung gehalten werden und – hm – niedergehalten werden. Nieder. Deshalb ist es von höchster Wichtigkeit, daß du dich keinen Bemerkungen unsrer Dienerschaft aussetzest, indem du dich etwa ihrer Dienste entschlagen und dieselben selbst verrichtet zu haben scheinst.«

»Nun, wer sollte daran zweifeln?« rief Miß Fanny. »Das ist die Essenz von allem.« »Fanny«, versetzte ihr Vater in feierlichem Tone, »erlaube mir, meine Liebe. Wir kommen jetzt zu – ha – Mr. Clennam. Ich gestehe offen, Amy, daß ich die Gefühle deiner Schwester nicht teile, – das heißt nämlich – hm – in Beziehung auf Mr. Clennam. Ich begnüge mich, dieses Individuum als einen – ha – im allgemeinen – wohlgesitteten Mann zu betrachten. Hm. Einen wohlgesitteten Mann. Auch will ich nicht untersuchen, ob Mr. Clennam sich je meiner Gesellschaft –hm – aufgedrängt. Er wußte, daß – hm – meine Gesellschaft gesucht war, und der Grund, weshalb er es getan hat, mag sein, daß er mich als einen öffentlichen Charakter betrachtete. Aber es gab Umstände im Geleite – ha – meiner geringen Bekanntschaft mit Mr. Clennam (sie war sehr gering), die«, hier wurde Mr. Dorrit außerordentlich ernst und feierlich, »es höchst unzart für Mr. Clennam machen würden, – ha – den Verkehr mit mir oder irgendeinem Glied meiner Familie unter den bestehenden Umständen wieder anzuknüpfen. Wenn Mr. Clennam Zartheit genug besitzt, das Unpassende jedes derartigen Versuches zu begreifen, so bin ich als Mann von Ehre verpflichtet, dieses Zartgefühl auf seiner Seite zu respektieren. Wenn aber auf der andern Seite Mr. Clennam diese Delikatesse nicht besitzt, so kann ich keinen Augenblick – ha – mit einem so ungebildeten Menschen im geringsten Verkehr stehen. In beiden Fällen würde es scheinen, als ob Mr. Clennam ganz und gar nicht in Betracht käme und wir nichts mit ihm oder er mit uns zu tun hätte. Ha – Mrs. General!«

Das Eintreten der Dame, die er ankündigte und die ihren Platz beim Frühstück einnehmen wollte, machte der Diskussion ein Ende. Kurz darauf kündigte der Kurier an, daß der Kammerdiener, der Diener, die beiden Kammermädchen, die vier Führer und die vierzehn Maultiere bereitständen: die Frühstücksgesellschaft brach deshalb auf, um sich vor dem Klostertore zu der Kalvalkade zu gesellen.

Mr. Gowan stand in der Ferne mit Zigarre und Bleistift, aber Mr. Blandois war an Ort und Stelle, um den Damen seinen Respekt zu bezeugen. Als er höflich seinen ins Gesicht hereingedrückten Hut vor Klein-Dorrit abnahm, war es ihr, als ob er einen noch unheimlicheren Blick hätte, wie er so schwarz und in den Mantel gehüllt im Schnee dastand, als vergangene Nacht, wo ihn das helle Kaminfeuer beleuchtete. Da jedoch ihr Vater und ihre Schwester seine Huldigung mit einigem Wohlwollen aufnahmen, faßte sie sich, um ihr Mißtrauen nicht zu zeigen, damit es nicht wieder einen Beweis des Makels liefere, der von ihrer Gefängnisgeburt stamme.

Nichtsdestoweniger sah sie sich, solange sie den rauhen Weg hinabritten und das Kloster noch sichtbar war, mehr als einmal um und gewahrte, wie Mr. Blandois, hinter dem der Klosterrauch senkrecht und hoch aus den Kaminen in einer goldenen Hülle emporstieg, immer noch auf einem hervorragenden Punkte dastand und ihnen nachblickte. Lange, nachdem er nur wie ein schwarzer Stock im Schnee aussah, war es ihr, als ob sie noch immer sein Lächeln, die gebogene Nase und die Augen sehen könnte, die so nahe beieinander standen. Und noch später, als das Kloster verschwunden war und einige leichte Morgenwolken den Paß unter denselben verschleierten, schienen die Skelettarme am Wege alle nach ihm hinaufzudeuten.

Trügerischer denn Schnee, vielleicht kälter an Herz und schwerer schmelzend, verschwand Blandois von Paris nach und nach aus ihrem Gedächtnis, als sie in die milderen Regionen kamen. Die Sonne war wieder warm; die Ströme, die von den Gletschern und Schneeklüften herabrauschten, boten wieder frischen Trunk: sie ritten wieder zwischen den Pinien, den Felsbächen, über die grünen Höhen und durch die Täler, an den hölzernen Sennhütten und an den rohen Zickzackgehängen des Schweizerlandes hin. Bisweilen wurde der Weg so breit, daß sie und ihr Vater nebeneinander reiten konnten. Und dann ihn anzublicken, wie er in Pelz und prachtvolles Tuch gehüllt, reich, frei, von vielen Dienern begleitet und bedient, die Augen weit in der Herrlichkeit der Landschaft umherschweifen ließ, während keine elende Scheidewand den Blick verdunkelte und ihren Schatten darauf warf, – das war genug für sie.

Ihr Onkel war so weit aus dem früheren Schatten herausgetreten, daß er die Kleider trug, die man ihm gab, und einige Waschungen als Opfer für den Ruf der Familie vornahm und mitging, wohin man ihn führte, mit einer gewissen geduldigen naiven Freude, die auszudrücken schien, daß die Luft und der Wechsel ihm wohltue. In jeder andern Beziehung, eine ausgenommen, gab und spiegelte er kein andres Licht von sich als das, das von seinem Bruder ausstrahlte. Seines Bruders Größe, Reichtum, Freiheit und Herrlichkeit gefiel ihm ohne irgendwelche Rücksicht auf sich. Still und in sich gekehrt, hatte er keine Sprache, wenn er seinen Bruder sprechen hören konnte; keinen Wunsch, selbst bedient zu werden, so daß die Diener nur mit seinem Bruder zu tun hatten. Die einzige bemerkenswerte Neuerung, die in ihm vorging, war sein verändertes Benehmen gegen seine jüngere Nichte. Jeden Tag verfeinerte es sich mehr zu einem ausgeprägten Respekt, wie man ihn selten beim Alter gegenüber der Jugend steht, und noch seltener, möchte man sagen, von einem Takt, ihm den richtigen Ausdruck zu geben, begleitet findet. Sooft Miß Fanny ein für allemal erklärte, pflegte er die nächste Gelegenheit zu ergreifen, sein graues Haupt vor seiner jüngern Nichte zu entblößen, oder er half ihr aufsteigen, oder hob sie in den Wagen, oder erwies ihr sonst mit der tiefsten Ehrerbietung eine Aufmerksamkeit. Und doch erschien alles dies nie am unrechten Ort angebracht oder gezwungen, sondern immer herzlich einfach, natürlich und ungekünstelt. Auch gab er niemals zu, selbst wenn sein Bruder ihn dazu aufforderte, daß man ihm vor ihr einen Platz anwies oder daß er in irgend etwas den Vorrang vor ihr habe. So eifersüchtig war er darauf, daß man sie respektiere, daß er eben auf dem Ritt vom großen St. Bernhard herab plötzlich ganz heftig und ungehalten wurde, als er sah, daß der Diener, obgleich er ganz nahe dabei war, als sie abstieg, ihr den Steigbügel zu halten versäumte; und das ganze Gefolge geriet in grenzenloses Erstaunen, als er auf einem starrköpfigen Maultier, einen Angriff auf ihn machte, ihn in eine Ecke ritt und ihm drohte, ihn totzutreten.

Es war eine hochnoble Gesellschaft, und die Wirte stritten sich um sie. Wohin sie kamen, war ihre Wichtigkeit in der Person des vorausreitenden Kuriers ihnen vorangeeilt, um zu sehen, ob die Staatszimmer in Bereitschaft seien. Er war der Herold der Familienprozession. Dann kam der große Reisewagen, der innen enthielt: Mr. Dorrit, Miß Dorrit, Miß Amy Dorrit und Mrs. General; außen saß einer der Diener und (bei schönem Wetter) Edward Dorrit, Esquire, für den der Bock reserviert war. Dann kam der kleine Reisewagen mit Frederick Dorrit, Esquire, und einem leeren Platze für Edward Dorrit, bei schlechtem Wetter. Dann kam der Gepäckwagen mit der übrigen Dienerschaft, dem schweren Gepäck, und soviel er von dem Schmutz und Staub tragen konnte, den die andern Wagen hinter sich ließen.

Diese Wagen schmückten den Hof des Hotels in Martigny, als die Familie von ihrer Bergtour zurückkehrte. Es waren noch andere Wagen vorhanden, da viele Reisende sich unterwegs befanden. Von der zusammengeflickten italienischen Vettura – die wie der Stuhl einer Schaukel von einem italienischen Jahrmarkt aussah, den man auf ein hölzernes Speisenbrett mit Rädern gestellt hat, während sich obendrüber ein zweites hölzernes Speisenbrett ohne Räder befand – bis hinauf zum schöngebauten englischen Wagen. Aber etwas anderes schmückte noch das Hotel, was Mr. Dorrit nicht ausbedungen hatte. – Zwei fremde Reisende nämlich schmückten eines seiner Zimmer.

Der Hotelbesitzer schwor, den Hut in der Hand, dem Kurier, daß er vernichtet, daß er trostlos, daß er tief bekümmert, daß er das elendeste und unglücklichste aller Tiere sei, daß er den Kopf eines hölzernen Schweins habe. Er würde das niemals zugegeben haben, sagte er, aber die feine Dame habe ihn so inständig gebeten, ihr das Zimmer nur für eine kleine halbe Stunde zum Dinieren einzuräumen, daß er sich habe herumbringen lassen. Die kleine halbe Stunde sei vorüber, die Dame und der Herr nehmen ihr kleines Dessert ein und eine halbe Tasse Kaffee, die Rechnung sei bezahlt, die Pferde befohlen, sie würden augenblicklich abreisen; aber ein unglückliches Schicksal und der Fluch des Himmels wolle, daß sie noch nicht fort seien.

Nichts konnte die Entrüstung Mr. Dorrits übersteigen, als er sich am Fuße der Treppe umwandte und diese Entschuldigungen vernahm. Es war ihm, als ob die Würde der Familie von den Händen eines Meuchelmörders getroffen worden. Er hatte ein Gefühl seiner Würde, das von der ausgesuchtesten Art war. Er konnte einen Angriff auf dieselbe entdecken, wo kein Mensch sonst auch nur das geringste merkte. Sein Leben wurde zu einem unaufhörlichen Kampf durch die Masse von Seziermessern, die er beständig mit der Sezierung seiner Würde beschäftigt wähnte.

»Ist es möglich, mein Herr«, sagte Mr. Dorrit tief errötend, »daß (Sie – ha – die Kühnheit gehabt haben, eines von meinen Zimmern zur Verfügung einer andern Person zu stellen?«

Er bitte tausendmal um Entschuldigung. Es sei des Wirtes größtes Unglück, sich von dieser nur allzu vornehmen Dame haben überreden zu lassen. Er bitte Monseigneur nicht ungehalten zu sein. Er verlasse sich auf Monseigneurs Nachsicht. Wenn Monseigneur die ausgezeichnete Gnade haben wollte, den andern besonders für ihn hergerichteten Salon nur für fünf Minuten einzunehmen, so würde alles gut sein.

»Nein, Sir«, sagte Mr. Dorrit, »Ich will gar keinen Salon einnehmen. Ich werde Ihr Haus verlassen, ohne zu essen oder zu trinken oder einen Fuß hineinzusetzen. Wie können Sie es wagen, so zu handeln. Wer bin ich, daß Sie –ha – mich von andern Gentlemen absondern?«

Ach! Der Wirt rief das ganze Weltall zu Zeugen auf, daß Monseigneur der liebenswürdigste Mann des ganzen Adels, der bedeutendste, achtungswerteste und geachtetste Mann sei. Wenn er Monseigneur von andern absondere, so geschehe es bloß, weil er ausgezeichneter, geschätzter, edler und berühmter sei.

»Sagen Sie mir dergleichen nicht ins Gesicht«, versetzte Mr. Dorrit in großer Hitze. »Sie haben mich beleidigt. Sie haben Beschimpfungen auf mich gehäuft. Wie können Sie das wagen? Erklären Sie sich!«

Ach, gerechter Himmel, wie könnte der Wirt sich erklären, da er nichts mehr zu erklären hatte, sondern sich nur noch entschuldigen und sein Vertrauen auf die wohlbekannte Großmut von Monseigneur setzen könnte!

»Ich sage Ihnen, Sir«, versetzte Mr. Dorrit, zitternd vor Zorn, »daß Sie mich von andern Gentlemen absondern; daß Sie Unterschiede zwischen mir und andern Gentlemen von Vermögen und Stellung machen. Ich frage Sie, warum? Ich wünsche zu wissen, mit welchem Recht, mit welchem – ha – Recht? Antworten Sie, mein Herr. Erklären Sie sich. Antworten Sie, warum?«

Der Wirt müsse sich die Freiheit nehmen, dem Herrn Kurier zu bemerken, daß der sonst so gnädige Monseigneur sich ohne Grund ereifere. Es sei keine Ursache vorhanden. Der Herr Kurier möge Monseigneur vorstellen, daß er sich täusche, wenn er glaube, es sei irgendein Grund vorhanden als der, den sein ergebener Diener bereits ihm mitzuteilen die Ehre gehabt. Die außerordentlich vornehme Dame –

»Genug!« rief Mr. Dorrit. »Schweigen Sie. Ich will nichts mehr von dieser außerordentlich vornehmen Dame hören. Sehen Sie diese Familie an – meine Familie – eine vornehmere Familie als irgendwelche Dame. Sie haben diese Familie mit Mißachtung behandelt. Sie waren unverschämt gegen diese Familie. Ich werde Sie ruinieren. Ha – schicken Sie nach den Pferden. Packen Sie die Wagen, ich werde keinen Fuß mehr in dieses Mannes Haus setzen.«

Niemand hatte sich in diesen Streit gemischt, der über die französischen Sprachkräfte Edward Dorrits Esq. ging und kaum im Bereich von denen der Damen lag. Miß Fanny jedoch unterstützte jetzt ihren Vater mit großer Bitterkeit, indem sie in ihrer heimischen Sprache erklärte, daß es ganz klar sei, hinter dieses Mannes Impertinenz laure etwas ganz Bestimmtes; und sie betrachte es für wichtig, daß er durch irgendwelche Mittel gezwungen werde, den Grund anzugeben, weshalb er einen Unterschied zwischen dieser Familie und andern reichen Familien mache. Was die Ursache seiner Vermessenheit sein könne, wisse sie sich nicht zu erklären; aber Gründe müsse er haben und man solle sie aus ihm herauspressen.

Alle Führer, Maultiertreiber und Müßiggänger im Hofe hatten bei der heftigen Verhandlung zugehört und waren sehr verblüfft, als der Kurier nun die Wagen hinauszuschaffen sich mühte. Mit Hilfe von einigen Dutzend Leuten an jedem Rade geschah dies mit großem Geräusch; dann machte man sich wieder ans Aufladen, bis die Pferde vom Posthause kamen.

Da der Wagen der sehr vornehmen englischen Dame bereits angeschirrt an dem Tor des Hotels stand, war der Wirt hinaufgeschlichen, um ihr seinen fatalen Fall mitzuteilen. Dies erfuhr der Hof, indem er jetzt mit dem Herrn und der Dame die Treppe herabkam und auf die beleidigte Majestät von Mr. Dorrit mit einer bezeichnenden Bewegung der Hand hindeutete.

»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte der Herr, indem er sich von der Dame losmachte und näher kam. »Ich bin ein Mann von wenig Worten und habe kein Talent zum Erklären – aber die Dame hier wünscht sehr, daß jeder Spektakel vermieden würde. Die Lady – meine Mutter – wünscht wegen des Vorgefallenen, daß ich sagen soll, sie hoffe, es werde keinen Spektakel geben.«

Mr. Dorrit, der im Gefühle der Kränkung noch immer zitterte, grüßte den Herrn und die Dame in einer sehr fremden, abweisenden unnahbaren Weise.

»Nein, aber wahrhaftig – hier, alter Junge; Sie!« Das war die Art des jungen Mannes, wie er sich an Edward Dorrit Esquire wandte, den er als einen großen, von der Vorsehung ihm zugesandten Befreier aus der Verlegenheit packte. »Wir zwei wollen die Sache miteinander zurechtlegen. Die Dame wünscht so sehr, daß es keinen Spektakel gebe.«

Edward Dorrit Esquire, der am Knopf etwas auf die Seite gezogen worden, nahm einen diplomatischen Gesichtsausdruck an, indem er antwortete: »Sie müssen doch gestehen, wenn Sie eine Partie Zimmer vorausbestellen lassen und dieselben Ihnen gehören, es nicht angenehm ist, andre Leute in denselben zu finden.«

»Ja«, sagte der andre, »allerdings. Ich gebe es zu. Wir zwei wollen die Sache jedoch miteinander zurechtlegen und den Spektakel vermeiden. Der Fehler liegt durchaus nicht an diesem Laffen, sondern an meiner Mutter. Eine sehr feine Frau, die bei Gott keinen Unsinn an sich hat – und sehr gebildet – sie war zuviel für diesen Laffen. Steckte ihn förmlich in die Tasche.«

»Wenn das der Fall –« begann Edward Dorrit Esquire.

»Ich versichere Sie, auf Ehre, das ist der Fall. Warum deshalb«, sagte der andere, seine frühere gewichtige Stellung wieder einnehmend, »warum Spektakel?«

»Edmund«, sagte die Dame vom Tor aus, »ich hoffe, du hast zur Beruhigung des Herrn und seiner Familie erklärt, daß dieser höfliche Wirt keinen Tadel verdient?«

»Versichere Sie, Madame«, versetzte Edmund, »ich werde ganz lahm vor Anstrengung.« Dann sah er Edward Dorrit Esquire einige Sekunden lang an und fügte mit einem Ausbruch von Vertraulichkeit hinzu: »Alter Junge! Ist jetzt alles in Ordnung?«

»Ich glaube«, sagte die Dame, anmutig einen Schritt oder zwei auf Mr. Dorrit zuschreitend, »es ist besser, wenn ich selbst sage, daß ich diesen Mann versicherte, ich werde alle Folgen auf mich nehmen, die daraus entstehen könnten, daß ich eines von den Zimmern eines Fremden, während seiner Abwesenheit, für die lange (oder kurze) Dauer meines Diners in Beschlag nahm. Ich hatte keine Ahnung, daß der rechtmäßige Inhaber dieser Zimmer so bald zurückkommen würde. Auch hatte ich keine Ahnung, daß er schon angekommen, sonst würde ich mich beeilt haben, mein mit Unrecht in Beschlag genommenes Zimmer zurückzugeben und mich zu erklären und zu entschuldigen. Ich glaube, indem ich dies sage –«

Einen Augenblick lang stand die Dame mit dem Glas an dem Auge betroffen und sprachlos vor den beiden Miß Dorrit. In diesem Augenblick hielt Miß Fanny im Vordergrund einer großen malerischen Stellung, die die Familie, die Familienwagen und die Familiendiener bildeten, ihre Schwester fest unter dem Arm, um sie an Ort und Stelle zu fesseln, und mit dem andern Arm fächelte sie sich mit stolzer Miene und betrachtete die Dame nachlässig von Kopf bis zu Fuß.

Die Dame, die sich rasch wieder faßte – denn es war Mrs. Merdle, die nicht leicht aus der Fassung zu bringen war – fügte nun hinzu, sie glaube, indem sie dies sage, ihre Kühnheit zu entschuldigen und diesen gebildeten Wirt wieder in den Besitz der Gunst zu setzen, die ihm von so hohem Wert sei. Mr. Dorrit, auf dessen Altar all dies eitel Weihrauch war, gab eine gnädige Antwort und sagte, seine Leute sollten – ha – seine Pferde wieder abbestellen, – er wolle – hm – über das hinwegsehen, was er anfangs für eine Beleidigung gehalten, jetzt aber für eine Ehre ansehe. Daraufhin neigte sich der Busen vor ihm; und die Besitzerin warf mit einer wundervollen Beherrschung ihrer Züge den beiden Schwestern, als jungen Damen von Vermögen, für die sie sehr eingenommen war und die sie nie zuvor das Glück gehabt zu sehen, ein gewinnendes Lächeln zum Abschied zu.

Anders benahm sich Mr. Sparkler. Dieser junge Mann, dessen Blicke zu gleicher Zeit wie die seiner Lady-Mutter gefesselt wurden, konnte sich um keinen Preis wieder von den Fesseln losmachen, sondern starrte unverwandt auf die ganze Gesellschaft mit Miß Fanny im Vordergrund. Als seine Mutter sagte: »Edmund, wir sind nun fertig: gib mir deinen Arm«; schien er, nach der Bewegung seiner Lippen, mit einer Bemerkung zu antworten, die ungefähr die Worte enthielt, in denen seine glänzenden Talente sich zumeist äußerten, aber er entspannte keinen Muskel. So steif und starr war seine Gestalt, daß es schwierig gewesen wäre, ihn hinlänglich zu beugen, um ihn in die Wagentür zu bringen, wenn er nicht von drinnen zu rechter Zeit eine mütterlichen Ruck bekommen hätte. Er war kaum im Wagen, als das Kissen an dem kleinen Fenster hinten verschwand und sein Auge den Platz desselben beschlagnahmte. Dort blieb es so lange, als man einen so kleinen Gegenstand unterscheiden konnte, und wahrscheinlich noch weit länger, und starrte (wie wenn einem Stockfisch etwas unaussprechlich Überraschendes begegnet), einem schlechtgemalten Auge in einem großen Armband ähnlich, in die Ferne.

Diese Begegnung war für Miß Fanny so angenehm, und sie dachte später so viel mit wahrer Siegesfreude daran, daß ihre Härten sich außerordentlich milderten. Als die Prozession am nächsten Tag wieder im Gange war, nahm sie ihren Platz in derselben mit einer ihr sonst fremden Heiterkeit ein und zeigte wirklich eine so glückliche Laune, daß Mrs. General ziemlich überrascht aussah.

Klein-Dorrit war froh, daß man keinen Fehler an ihr fand und daß Fanny heiter war: ihr Teil an der Prozession war jedoch ein stilles sinnendes Träumen. Wenn sie so ihrem Vater in dem Reisewagen gegenübersaß und an das alte Zimmer im Marschallgefängnis dachte, so erschien ihr das gegenwärtige Leben wie ein Traum. Alles, was sie sah, war neu und herrlich, aber es war nicht wirklich. Es war ihr, als wenn diese Visionen von Bergen und malerischen Gegenden jeden Augenblick verschwinden und der Wagen, plötzlich um eine Ecke biegend, mit einem Stoß vor dem alten Gefängnistor stehen könnte.

Nichts zu arbeiten zu haben war seltsam, aber nicht halb so seltsam, als in einer Ecke zu sitzen, wo sie für niemanden zu denken, nichts auszusinnen und auszurichten, keine Sorgen von andern auf sich zu übernehmen hatte. Seltsam wie das war, war es doch noch weit seltsamer, einen Raum zwischen sich und dem Vater zu sehen, wo andere sich damit beschäftigten, für ihn zu sorgen und wo man sie gar nicht erwartete. Anfangs war dies mit ihrer alten Erfahrung so widerstreitend, mehr noch als die Berge, daß sie außerstande gewesen war, darauf zu verzichten, und versucht hatte, ihren alten Platz neben ihm zu behaupten. Aber er hatte allein mit ihr gesprochen und ihr gesagt: daß Leute – ha – Leute in einer höheren Stellung ängstlich gewissenhaft von ihren Untergebenen Respekt verlangen müßten; und daß es für sie, seine Tochter, Miß Amy Dorrit, von der einzig noch existierenden Linie der Dorrits von Dorsetshire, unvereinbar mit jener Stellung wäre, dafür zu gelten, daß sie die Funktionen – ha – eines Kammerdieners versehe. Deshalb müsse er ihr seine väterliche – hm – streng verschärfte Mahnung erteilen, sich zu erinnern, daß sie eine Dame, die sich nun mit – hm – dem gebührenden Stolz zu benehmen und den Rang einer Dame aufrechtzuerhalten habe. Deshalb fordre er von ihr, daß sie sich solchen Tuns enthalte – ha –, das unangenehme und nachteilige Bemerkungen hervorrufen könnte. Sie hatte ohne Murren auf sein Wort gehorcht. Es war dahin gekommen, daß sie jetzt in einer Ecke des üppigen Wagens, die kleinen Hände vor sich faltend, saß, selbst von dem äußersten Punkt ihres früheren Platzes weggerückt, den ihr Fuß aufzugeben lange gezögert hatte.

Von dieser Stellung aus erschien ihr alles, was sie sah, traumhaft! je überraschender die Szenen, desto mehr glichen sie der Traumhaftigkeit ihres eignen innern Lebens, durch dessen öde Räume sie den ganzen Tag schritt. Die Abgründe des Simplon, seine ungeheuren Tiefen und donnernden Wasserfälle, der herrliche Weg, die gefährlichen Punkte, wo ein loses Rad oder ein strauchelndes Pferd den Untergang brachte, das Hinabsteigen nach Italien, das Aufgehen des schönen Landes, als die rauhe Bergschlucht sich erweiterte und sie aus dem düstern und dunkeln Gefängnis herausließ – alles war ein Traum – nur das alte elende Marschallgefängnis eine Wirklichkeit. Ja, selbst das alte elende Marschallgefängnis war bis auf den Grund niedergerissen, wenn sie es sich ohne ihren Vater malte. Sie konnte kaum glauben, daß die Gefangenen noch in dem engen Hofe weilten, daß die elenden Räume noch immer alle besetzt waren und daß der Schließer noch immer in dem Pförtnerstübchen stehe und die Leute aus- und einlasse – alles, wie sie wohl wußte, daß es noch war.

Mit einer Erinnerung an ihres Vaters altes Leben im Gefängnis, die schwer wie eine traurige Weise auf ihr lastete, erwachte Klein-Dorrit gewöhnlich aus einem Traum von ihrem Geburtsort zu dem Traum eines ganzen Tages. Das gemalte Zimmer, in dem sie erwachte, oft ein ehemaliges Prunkzimmer in einem verfallenen Palaste, eröffnete diesen Traum; wildes rotes Herbstweinlaub hing über die Fenster herab, Orangenbäume standen auf der zerrissenen weißen Terrasse vor dem Fenster, eine Gruppe von Mönchen und Bauern ging durch die Straße einher. Elend und Pracht stritten sich auf jedem Fleck Erde, gleichviel unter welcher Gestalt, rings umher um den Vorrang, und das Elend warf die Pracht mit der Stärke des Schicksals zu Boden. Diesem Eingang folgte ein Labyrinth von kahlen Gängen und pfeilertragenden Galerien, während die Familienprozession sich bereits in dem viereckigen Hof zur Abfahrt rüstete, nachdem die Wagen und das Gepäck für die Tagreise von den Dienern zusammengebracht worden. Dann das Frühstück in einem andern gemalten Zimmer, mit feuchten Flecken und von traurigem Aussehen; und dann die Abreise, die für ihre Schüchternheit und das Gefühl, nicht vornehm genug für ihren Platz bei den Zeremonien zu sein, immer eine unbehagliche Sache war. Denn dann erschien der Kurier (der ein Fremder von hoher Auszeichnung im Marschallgefängnis gewesen wäre), um anzuzeigen, daß alles in Bereitschaft sei. Dann hüllte ihres Vaters Kammerdiener ihn mit großem Pomp in seinen Reiserock; dann bedienten sie Fannys Mädchen und ihr eigenes Mädchen (die für Klein-Dorrit eine schwere Last war, sie weinte anfangs über sie, da sie gar nicht wußte, was mit ihr anfangen); dann vollendete ihres Bruders Diener den Anzug seines Herrn; dann gab ihr Vater Mrs. General den Arm, und ihr Onkel gab ihr den seinen, und begleitet von dem Wirt und der Dienerschaft des Hotels rauschten sie die Treppe hinab. Dort war gewöhnlich eine Masse Menschen versammelt, um sie einsteigen zu sehen, was sie dann auch unter vielem Verbeugen, Bitten, Pferdebäumen, Knallen und Knarren taten; und dann ging’s toll durch die engen, übelriechenden Straßen und zum Stadttor hinaus.

Unter den Traumerscheinungen des Tages waren gewöhnlich Wege, wo das glänzend rote Weinlaub sich wie Girlanden meilenlang an den Bäumen hinzog: Olivenwälder, weiße Dörfer und Städte an Hügel gelehnt, lieblich von außen, aber schrecklich in ihrem Schmutz und ihrer Armut im Innern; Kreuze am Wege; tiefblaue Seen mit schönen Inseln und Gruppen von Booten mit Zelten von glänzenden Farben und Segeln von schönen Formen; massenhafte Gebäude, die in Staub zerfielen; hängende Gärten, wo das wuchernde Gestrüpp so stark geworden, daß seine Stämme wie eingetriebene Keile die Bogen gesprengt und die Mauer zerrissen hatten; steinerne terrassenförmige Gänge, wo die Eidechsen in und aus allen Ritzen krochen; Bettler von allen Arten und überall; bemitleidenswert, malerisch, hungrig, lustig; Bettelkinder und alte Bettler. Oft erschienen ihr an Posthäusern und andern Haltplätzen diese elenden Geschöpfe das einzige Wirkliche des Tages, und manchmal, wenn das Geld, das sie mitgebracht hatten, um es ihnen zu geben, alles verschenkt war, saß sie mit gefalteten Händen gedankenvoll da, nach einem winzig kleinen Mädchen hinblickend, das seinen greisen Vater führte, als wenn dieser Anblick sie an etwas aus längst vergangenen Tagen erinnerte.

Dann gab es wieder Orte, wo sie die ganze Woche in glänzenden Zimmern zusammenwohnten, jeden Tag Gastmähler hatten, unter Haufen von Wundern ausfuhren, zwischen Meilen von Palästen hingingen und in dunkeln Winkeln von großen Kirchen weilten; wo es blinkende Lampen von Gold und Silber zwischen Pfeilern und Bogen gab, kniende Gestalten in der Nähe von Beichtstühlen und auf dem Pflaster umherschwärmten: wo Dampf und Geruch von Weihrauch webte: wo man Gemälde, phantastische Bilder, festlich geschmückte Altäre, große Höhen und Entfernungen sah, alles durch buntes Glas sanft beleuchtet und die massiven Vorhänge, die an den Türen hingen. Von den Städten kamen sie wieder auf Wegen mit Wein und Oliven durch schmutzige Dörfer, wo keine Hütte war ohne ein Loch in der trüben Wand, kein Fenster mit einem ganzen Zoll Glas oder Papier; wo nichts zu sein schien, was das Leben erträglich machte, nichts zu essen, nichts zu tun, nichts zu schaffen, nichts zu hoffen, wo man nichts tun konnte als sterben.

Dann kamen sie wieder in ganze Städte von Palästen, deren rechtmäßige Einwohner alle verbannt, und die alle in Kasernen verwandelt waren; Scharen von müßigen Soldaten lehnten aus den Staatsfenstern, wo ihre Ausrüstung an der marmornen Architektur zum Trocknen aufgehängt war. Die Soldaten sahen wie Heere von Ratten aus, die (glücklicherweise) die Stützen der Gebäude wegfraßen, die bald mit ihnen über die Häupter der andern Schwärme von Soldaten, und der Schwärme von Priestern, und der Schwärme von Spionen noch, die die unheimliche Bevölkerung bildeten und sich, dem Untergang verfallen, in den Straßen unten umhertrieben, hereinbrechen mußten.

Durch solche Szenen bewegte sich die Reisegesellschaft bis nach Venedig. Hier zerstreute sie sich für einige Zeit, da sie in Venedig einige Monate bleiben wollte, in einem Palast (der sechsmal so groß war wie das ganze Marschallgebäude) am Canal Grande.

In diesem alles Frühere krönenden Traum, wo alle Straßen mit Wasser gepflastert waren und die Totenstille bei Tag und Nacht nur durch das dumpfe Läuten der Kirchenglocken, das Rauschen des Wassers und den Ruf der Gondoliere unterbrochen wurde, die um die Ecken der fließenden Straßen bogen, saß Klein-Dorrit, ganz in Gedanken versunken, da ihre Arbeit getan war, und sinnend da. Die Familie begann ein heiteres Leben, ging da und dorthin und verwandelte Nacht in Tag; aber sie scheute sich, an ihren Freuden teilzunehmen, und verlangte nur, allein bleiben zu dürfen.

Bisweilen stieg sie auch in eine der Gondeln, die immer in Bereitschaft standen und an gemalte Pfosten vor der Tür angelegt waren, – wenn sie sich von der aufdringlichen Bedienung ihres Kammermädchens, die mehr ihre Herrin, und zwar eine sehr harte, war, losmachen konnte – und ließ sich durch die ganze seltsame Stadt fahren. Gesellschaften in andern Gondeln begannen einander zu fragen, wer das kleine einsame Mädchen sei, an dem sie vorüberkamen, und das mit gefalteten Händen in ihrem Boote sitze und so nachdenklich und staunend umherblicke. Nicht entfernt ahnend, daß es irgend jemand für der Mühe wert halte, von ihrem Tun Notiz zu nehmen fuhr Klein-Dorrit in ihrer ruhigen, schüchternen, in sich gekehrten Weise in der Stadt umher. Aber ihr Lieblingsplätzchen war der Balkon ihres Zimmers, der auf den Kanal hinausging, mit andern Balkonen darunter und keinem darüber. Er war massiv von Stein, durch die Zeit geschwärzt und von jener wunderlich phantastischen Bauart, die vom Osten mit andern wunderlich phantastischen Dingen herüberkam; und Klein-Dorrit sah wirklich sehr klein aus, wenn sie sich über das breite Geländer hinauslehnte und hinabschaute. Da sie namentlich abends keinen Ort so sehr liebte wie den Balkon, so fiel sie bald auf, und manche Augen in den vorüberfahrendcn Gondeln erhoben sich zu ihr und manche Leute sagten: »Da ist wieder die kleine Gestalt der jungen Engländerin, die immer allein ist.«

Solche Leute waren für die kleine Gestalt der jungen Engländerin keine wirklichen Personen; sie waren ihr ja alle unbekannt. Sie beobachtete den Sonnenuntergang mit seinen langen purpurnen und roten Linien, seinem Flammenbrand, der hoch in die Wolken schlug und die Gebäude mit solcher Glut, ihre Struktur mit solchem Licht übergoß, daß es aussah, als wenn die dicken Wände durchsichtig und von innen erhellt wären. Sie sah, wie diese Pracht unterging; und dann, wenn sie einige Zeit auf die schwarzen Gondeln unten hinabgeblickt, die Gäste zu Musik und Tanz führten, erhob sie die Augen zu den leuchtenden Sternen. War nicht in ihrem eignen früheren Leben eine Gesellschaft, auf die die Sterne schienen? Oh, an jenes alte Tor jetzt zu denken!

Sie dachte dann gewöhnlich an jenes alte Tor, und wie sie dort gesessen in der Totenstille der Nacht, Maggys Haupt als Kopfkissen dienend; und an andre Plätze und andre Szenen, deren Erinnerung sich an jene vergangene Zeiten knüpfte. Und dann lehnte sie sich an den Balkon und sah darüber hinaus auf das Wasser, als wenn das alles unten vor ihr läge. Wenn sie so weit gekommen, schaute sie sinnend auf die Strömung, als wenn sie, in der allgemeinen Vision, austrocknen und ihr das Gefängnis und sie selbst und das alte Zimmer und die alten Insassen und die alten Besuche zeigen würde: lauter dauernde Wirklichkeiten, die sich nicht verändert hatten.

Dreißigstes Kapitel.


Dreißigstes Kapitel.

Abschließen.

Der letzte Tag der erwähnten Woche beschien die Riegel des Marschallgefängnistores. Die eisernen Bänder, die die ganze Nacht, seit das Tor hinter Klein-Dorrit ins Schloß gefallen war, schwarz ausgesehen, verwandelten sich im Glanze der frühen Morgensonne in goldene Bänder. Quer über die Stadt, über ihre wirren Dächer, durch die offene Ornamentik ihrer Kirchtürme schlugen die langen glänzenden Sonnenstrahlen die Riegel des Gefängnisses dieser niederen Welt.

Den ganzen Tag blieb das alte Haus hinter dem Torweg von Besuchen verschont. Als die Sonne jedoch herabsank, traten drei Männer in den Torweg und schritten auf das verwitterte Haus zu.

Rigaud war der erste und ging rauchend allein. Mr. Baptist war der zweite und schlenderte, nicht rechts, nicht links blickend, hinter ihm drein. Mr. Pancks war der dritte; er trug seinen Hut unter dem Arm, um sein starres Haar frei emporstehen zu lassen, da das Wetter außerordentlich heiß war. Sie kamen alle an der Haustreppe zusammen.

»Ihr beiden Verrückten!« sagte Rigaud, indem er sich umsah. »Geht noch nicht!«

»Das ist auch nicht unsere Absicht«, sagte Mr. Pancks.

Rigaud pochte laut, indem er ihm einen finstern Blick als Anerkennung seiner Antwort zuwarf. Er hatte sich etwas angetrunken, um sein Spiel auszuspielen, und harrte ungeduldig auf den Beginn. Er hatte kaum einmal gepocht, daß es lang nachtönte, als er wieder nach dem Klöpfel griff und zum zweitenmal pochte. Dies war noch nicht zu Ende, als Jeremiah Flintwinch die Tür öffnete und sie alle in die steinerne Halle hineinstürmten. Rigaud stieß Mr. Flintwinch auf die Seite und eilte die Treppe hinauf. Seine beiden Gefährten folgten ihm, Mr. Flintwinch diesen, und zuletzt traten sie alle hastig in das stille Zimmer von Mrs. Clennam. Es befand sich in seinem gewöhnlichen Zustand, nur daß eines von den Fenstern weit offen war. Affery saß auf ihrem altvaterischen Fenstersitz und stopfte einen Strumpf. Die gewöhnlichen Gegenstände befanden sich auf dem kleinen Tisch: das gewöhnliche herabgebrannte Feuer flackerte auf dem Kaminrost; auf dem Bette lag das gewöhnliche Bahrtuch: und die Herrin von alledem saß auf ihrem schwarzen bahrenartigen Sofa und stützte sich auf das schwarze eckige Polster, das wie der Block des Henkers aussah.

Und doch war eine unbeschreiblich eigentümliche Luft in dem Zimmer, als wenn sie für eine besondere Gelegenheit gespannt wäre. Woher das kam – da jeder kleine Gegenstand den Platz einnahm, den er seit Jahren eingenommen – konnte niemand sagen, wenn er die Herrin nicht aufmerksam beobachtet hätte, und zwar überdies ausgerüstet mit einer genauen Kenntnis des Gesichts, wie es früher war. Obgleich ihr unveränderliches schwarzes Kleid in jeder Falte noch wie früher lag und ihre unveränderliche Haltung streng beibehalten war, trat ein neuer, an sich unbedeutender Zug in ihrem Gesicht und eine Zusammenziehung der düstern Stirn so scharf hervor, daß dieser Ausdruck sich gleichsam der ganzen Umgebung mitteilte.

»Wer ist das?« sagte sie erstaunt, als die beiden Gefährten eintraten. »Was wollen diese Leute hier?«

»Wer dies sei, verehrte Frau?« versetzte Rigaud. »Nun, das sind Freunde Ihres gefangensitzenden Sohnes. Und was sie wollen, fragen Sie? Zum Teufel, Madame, ich weiß es nicht. Sie werden am besten tun, wenn Sie sie fragen.«

»Sie wissen, Sie sagten uns an der Tür unten, wir sollten noch nicht gehen«, warf Pancks ein.

»Und Sie wissen, Sie sagten mir an der Tür, es sei auch nicht Ihre Absicht zu gehen«, versetzte Rigaud. »Mit einem Worte, Madame, erlauben Sie mir, Ihnen zwei Spione des Gefangenen – verrückte Menschen, aber Spione – vorzustellen. Wenn Sie wünschen, daß sie während unserer kurzen Verhandlung hierbleiben sollen, so sagen Sie es. Es gilt mir gleich.«

»Warum sollte ich wünschen, daß sie hierbleiben?« sagte Mrs. Clennam. »Was habe ich mit ihnen zu schaffen?«

»Dann, teuerste Frau«, sagte Rigaud, indem er so schwer in einen Armstuhl niederfiel, daß das alte Zimmer zitterte, »dann werden Sie gut daran tun, wenn Sie sie entlassen. Es ist Ihre Sache. Sie sind nicht meine Spione, nicht meine Spitzbuben.«

»Hören Sie, Mr. Pancks«, sagte Mrs. Clennam, indem sie zornig die Augenbrauen gegen ihn senkte. »Sie Buchhalter von Casby! Gehen Sie Ihres Prinzipals und Ihren eigenen Geschäften nach. Gehen Sie. Und nehmen Sie den andern Mann mit sich.«

»Danke, Madame«, versetzte Mr. Pancks, »ich freue mich, sagen zu können, ich finde kein Hindernis für unsern Weggang mehr. Wir haben getan, was wir für Mr. Clennam zu tun uns verpflichteten. Seine beständige Sorge (die ihn noch mehr drückte, als er Gefangener wurde) war die, daß dieser angenehme Mensch hierhergebracht werde, an den Ort, von dem er verschwunden ist. Hier ist er nun – wir haben ihn zurückgebracht. Und ich sage es ihm in sein häßliches Gesicht«, fügte Mr. Pancks hinzu, »daß meiner Ansicht nach die Welt ebensogut bestehen könnte, wenn er ganz aus ihr verschwände.«

»Sie werden nicht nach Ihrer Ansicht gefragt«, antwortete Mrs. Clennam. »Gehen Sie.«

»Ich bedauere, Sie nicht in besserer Gesellschaft lassen zu können«, sagte Pancks, »und bedauere außerdem, daß Mr. Clennam nicht zugegen sein kann. Es ist meine Schuld, daß dies der Fall ist.«

»Sie meinen, seine eigene?« versetzte sie.

»Nein, ich meine, die meinige, Madame«, sagte Pancks, »denn es war mein Unglück, daß ich ihn zu dieser verderblichen Geldanlage veranlaßte.« (Mr. Clennam hielt immer noch an diesem Worte fest und sagte nie Spekulation.) »Obgleich ich durch Zahlen beweisen kann«, fügte Mr. Pancks mit kummervollem Ausdruck des Gesichts hinzu, »daß es eigentlich aller Berechnung nach eine günstige Geldanlage hätte sein sollen. Ich habe die Sache, seitdem sie fehlgeschlagen ist, Tag für Tag berechnet und wieder berechnet, und sie geht immer – als Zahlenfrage betrachtet – siegreich aus der Berechnung hervor. Hier ist nicht Zeit und Ort«, fuhr Mr. Pancks mit einem sehnsüchtigen Blick in seinen Hut fort, in dem seine Berechnungen lagen, »um auf Zahlen einzugehen, aber die Zahlen lassen sich nicht bestreiten. Mr. Clennam müßte jetzt in seinem Wagen mit zwei Pferden sitzen, und ich müßte drei- bis fünftausend Pfund verdient haben.«

Mr. Pancks strich sein Haar mit einem Ausdruck der Zuversichtlichkeit, der kaum hätte intensiver sein können, wenn er jenes Geld in der Tasche gehabt hätte, in die Höhe. Diese unwiderleglichen Zahlen waren die Beschäftigung jedes freien Augenblicks gewesen, seit er sein Geld verloren, und sollten ihn bis an das Ende seiner Tage trösten.

»Genug jedoch davon«, sagte Mr. Pancks. »Altro, alter Junge. Sie haben die Zahlen gesehen und Sie wissen, wie sie herauskommen.« Mr. Baptist, der nicht das geringste Rechentalent besaß, sich in solcher Weise zu entschädigen, nickte und zeigte, dabei die glänzendsten Zähne.

Mr. Flintwinch hatte ihn inzwischen angesehen und sagte jetzt zu ihm:

»Oh! Sind Sie es? Ich dachte, ich erinnerte mich Ihres Gesichts, aber ich war meiner Sache nicht gewiß, bis ich Ihre Zähne sah. Ah! ja, Sie sind’s. Dieser dienstfertige Flüchtling war es«, sagte Jeremiah zu Mrs. Clennam, »der an die Tür pochte in der Nacht, als Arthur und Chatterbox hier waren, und der einen ganzen Katechismus von Fragen wegen Mr. Blandois an mich richtete.«

»Das ist wahr«, bestätigte Baptist freundlich. »Und sehen Sie nun, Padron! Ich habe ihn daraufhin wirklich gefunden.«

»Ich hätte nichts dagegen gehabt«, versetzte Mr. Flintwinch, »wenn Sie daraufhin wirklich den Hals gebrochen hätten.« »Und jetzt«, sagte Mr. Pancks, dessen Auge oft verstohlen nach dem Fenstersitz und dem Strumpf hinübergeblickt hatte, der dort gestopft wurde, »jetzt habe ich nur ein Wort zu sagen, ehe ich gehe. Wenn Mr. Clennam hier wäre – aber unglücklicherweise, obgleich er diesem Herrn so weit zuvorgekommen, daß er ihn wider Willen an diesen Ort schaffte, ist er krank und im Gefängnis – krank und im Gefängnis, der arme Junge – wenn er hier wäre«, sagte Mr. Pancks, indem er einen Schritt seitwärts nach dem Fenstersitz machte und seine rechte Hand auf den Strumpf legte, »würde er sagen: ›Affery, erzählen Sie Ihre Träume!‹«

Mr. Pancks hielt seinen rechten Zeigefinger zwischen seine Nase und den Strumpf, mit dem gespenstischen Ausdruck der Mahnung, drehte sich um, dampfte hinaus und nahm Mr. Baptist ins Schlepptau. Man hörte die Haustür hinter ihnen ins Schloß fallen, hörte ihre Tritte auf dem dumpfen Pflaster des hallenden Hofes, und noch hatte niemand ein Wort gesprochen, Mrs. Clennam und Jeremiah hatten einen Blick gewechselt und sahen dann unverrückt auf Affery, die eifrig mit dem Stopfen des Strumpfes beschäftigt dasaß.

»Nun!« sagte Mr. Flintwinch endlich, indem er sich um ein bis zwei Kurven nach dem Fenstersitz zu höherschraubte und sich die Hände an seinem Frackflügel rieb, als wenn er sich etwas mit ihnen zu unternehmen rüstete: »Es wäre besser, wenn wir mit dem, was unter uns zu verhandeln ist, sogleich begännen, ohne weiter Zeit zu verlieren. Affery, Frau, mache, daß du fortkommst!«

In einem Augenblick hatte Affery den Strumpf beiseite gelegt, war aufgesprungen, hatte die Fensterbank mit der rechten Hand angefaßt, das rechte Knie auf den Fenstersitz gestemmt und schwang nun die linke Hand, um den erwarteten Angriff abzuwehren.

»Nein, ich will nicht, Jeremiah – nein, ich will nicht – nein, ich will nicht! Ich will nicht gehen, ich will hierbleiben. Ich will alles hören, was ich noch nicht weiß, und alles sagen, was ich weiß. Ich will’s, wenn ich darum stürbe! Ich will’s, ich will’s, ich will’s, ich will’s!«

Mr. Flintwinch, der vor Staunen und Entrüstung ganz starr war, befeuchtete die Finger der einen Hand an seinen Lippen, beschrieb mit ihnen einen Kreis im Innern der andern Hand und bewegte sich mit einem drohenden Grinsen auf seine Frau zu, indem er eine Bemerkung hervorjapste, von der in seinem heftigen Zorn nur die Worte: »Solch eine Dosis!« vernehmbar waren.

»Nicht einen Schritt näher, Jeremiah!« rief Affery, die nicht aufhörte, in der Luft umherzufahren. »Nicht einen Schritt näher, oder ich rufe die Nachbarschaft herbei! Ich springe zum Fenster hinaus! Ich schreie Feuer und Mord! Ich wecke die Toten auf! Bleib, wo du bist, oder ich schreie so laut, daß die Toten aufwachen!«

Die entschiedene Stimme von Mrs. Clennam rief: »Halt!« Jeremiah hatte bereits innegehalten. »Es ist gut, Flintwinch. Lassen Sie sie gehen. Affery, empörst du dich nach so vielen Jahren gegen mich!«

»Ja, wenn das Empörung heißt, zu hören, was ich nicht weiß, und zu sagen, was ich weiß. Ich habe nun einmal begonnen und kann nicht zurückgehen. Ich bin entschlossen, die Sache durchzuführen. Ich will es durchführen, ich will, ich will, ich will! Wenn das Empörung heißt, ja: ich empöre mich gegen die beiden Gescheiten. Ich sagte Arthur, als er in die Heimat zurückkehrte, er solle gegen Sie auftreten. Ich sagte ihm, wenn ich mich meines Lebens bei Ihnen fürchte, so sei das kein Grund für ihn. Alle möglichen Dinge sind seitdem geschehen, und ich will nicht, daß mich Jeremiah zu Boden schmettert, noch die Augen mir ausreißt, noch mich schreckt, noch mich zu irgend etwas mißbraucht. Ich will es nicht, ich will es nicht, ich will es nicht! Ich will für Arthur auftreten, solange er nichts hat und krank ist und gefangensitzt und nicht selbst für sich eintreten kann. Ich will, ich will, ich will, ich will!«

»Wie kannst du wissen, du Haufen von Konfusion«, fragte Mrs. Clennam streng, »daß du durch die Art, wie du verfährst, Arthur auch wirklich dienst?«

»Ich weiß nichts ganz gewiß«, sagte Affery; »und wenn Sie je ein wahres Wort in Ihrem ganzen Leben gesprochen, so ist es das, daß Sie mich einen Haufen Konfusion heißen, denn Sie beide Gescheite haben Ihr möglichstes getan, um mich dazu zu machen. Sie haben mich verheiratet, ob ich wollte oder nicht, und haben mich recht hübsch seit dieser Zeit in einem Traum und in einer Furcht erhalten, wie solche bis jetzt unerhört war. Was können Sie anderes von mir erwarten, als daß ich ein Haufen Konfusion bin? Sie wollten mich zu einem solchen machen, und es ist Ihnen gelungen; aber ich will nicht länger die Unterwürfige spielen; nein, ich will nicht, ich will nicht, ich will nicht, ich will nicht!« Sie schlug immer noch in der Luft herum, um jede Annäherung unmöglich zu machen.

Nachdem sie sie schweigend angesehen hatte, wandte sich Mrs. Clennam an Rigaud. »Sie sehen und hören dieses törichte Geschöpf. Haben Sie etwas dagegen, daß eine solche verwirrte Person bleibt, wo sie ist?«

»Ich, Madame?« versetzte er. »Ich? Das ist Ihre Sache.«

»Ich habe nichts dagegen«, sagte sie finster. »Es bleibt wenig anderes übrig. Flintwinch, die Sache drängt.«

Mr. Flintwinch antwortete, indem er einen Blick furchtbarer Rache auf seine Frau warf und, wie um sich zu halten, damit er nicht auf sie losfahre, seine verschränkten Arme in die Brust seiner Weste steckte und, sein Kinn ganz nahe an den Ellbogen, in einer Ecke stand, indem er Rigaud so in der wunderlichsten Stellung beobachtete. Rigaud dagegen stand auf aus seinem Stuhl und setzte sich auf den Tisch, indem er die Füße baumeln ließ. In dieser bequemen Stellung sah er in Mrs. Clennams gesetztes Gesicht, während sein Bart sich bäumte und seine Nase darüber herabkam. »Madame, ich bin ein Gentleman –«

»Von dem«, unterbrach sie ihn in ihrem gemessenen Ton, »von dem ich entehrende Dinge wie Gefangenschaft in Frankreich und Anklage auf Mord vernommen.«

Er warf ihr mit übertriebener Galanterie eine Kußhand zu. »Ganz richtig. Genau so war es. Und noch dazu an einer Dame! Welche Abgeschmacktheit! Wie unglaublich! Ich hatte damals die Ehre, mich großen Erfolgs rühmen zu können: ich hoffe, daß dies jetzt wieder der Fall sein wird. Ich küsse Ihnen die Hand, Madame. Ich bin ein Gentleman (wollt‘ ich bemerken), der, wenn er sagt: ›Ich will diese oder jene Angelegenheit in dieser Sitzung zum Abschluß bringen‹, sie auch wirklich zum Abschluß bringt. Ich erkläre Ihnen, daß wir heute unsere letzte Sitzung wegen unseres kleinen Geschäfts halten. Sie haben doch die Güte, meinen Worten zu folgen und zu begreifen?«

Sie heftete ihre Augen auf ihn, während sich ihre Stirn runzelte, und sagte: »Ja«.

»Ferner bin ich ein Gentleman, der mit dem rein kaufmännischen Geschäftsbetrieb nicht vertraut ist, der aber immerhin Sinn für das Geld hat, da es ihm die Mittel bietet, sich Vergnügen zu verschaffen. Sie haben doch die Güte, meinen Worten zu folgen und zu begreifen?«

»Kaum nötig zu fragen, möchte man sagen. Ja.«

»Ferner bin ich ein Gentleman von der sanftesten und zartesten Gemütsart, der jedoch, wenn man seinen Spaß mit ihm treiben will, wütend wird. Edle Naturen werden in solchen Fällen immer wütend. Ich besitze eine edle Natur. Wenn der Löwe gereizt ist – das heißt, wenn ich wütend werde –, so liegt mir die Befriedigung meines Rachedurstes so sehr am Herzen wie das Geld. Sie haben doch die Güte, meinen Worten zu folgen und zu begreifen?«

»Ja«, antwortete sie etwas lauter als früher.

»Lassen Sie sich nicht durch mich aus Ihrer Ruhe bringen, bitte, verhalten Sie sich ganz ruhig. Ich sagte, wir seien jetzt zu unserer letzten Sitzung gekommen. Erlauben Sie mir, die beiden früheren Sitzungen kurz zu vergegenwärtigen.«

»Es ist nicht nötig.«

»Tod und Teufel, Madame«, brach er los, »ich will aber! Außerdem ebnet es den Weg. Die erste Sitzung war sehr beschränkt. Ich hatte die Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen – meine Briefe zu übergeben; ich bin ein Industrieritter, wenn Sie wollen, Madame, aber meine feinen Manieren hatten mir, der vieler Sprachen mächtig ist, unter Ihren Landsleuten, die so steif sind wie ihre gegenseitige Steifheit, gegenüber einem Fremden von feinen Manieren jedoch gern etwas ungezwungener werden, mir so viel Erfolge verschafft und mich zwei bis drei Kleinigkeiten in diesem ehrenwerten Hause herausfinden lassen«, – er blickte im Zimmer umher und lächelte – »daß ich wußte, was nötig war, um mich zu vergewissern und zu überzeugen, daß ich das ausgezeichnete Vergnügen habe, die Bekanntschaft der Dame zu machen, die ich suchte. Dies gelang mir. Ich gab unserm teuren Flintwinch mein Ehrenwort, daß ich zurückkehren wolle. Ich reiste gnädigst ab.«

Sie gab weder ihre Zustimmung zu erkennen, noch machte sie Einwendungen. Er mochte innehalten oder sprechen, ihr Gesicht zeigte ihm immer dieselbe aufmerksame gerunzelte Stirn und machte den früher erwähnten Eindruck auf ihn, daß sie alle ihre Kraft für die Verhandlung zusammengenommen.

»Ich sage, ich reiste gnädigst ab, weil es gnädig war, wegzugehen, ohne eine Dame in Aufruhr zu bringen. Moralisch gnädig zu sein, nicht weniger denn physisch, ist eine Eigenschaft des Charakters von Rigaud Blandois. Auch war es schlau: da ich Sie verließ, während über Ihnen eine Gefahr schwebte, mußten Sie mich ja an irgendeinem Tag mit einiger Angst erwarten. Aber Ihr Sklave ist schlau. Beim Himmel, Madame, schlau! Kehren wir zur Sache zurück. An jenem unbestimmten Tage habe ich wieder die Ehre, mich nach Ihrer Wohnung zu begeben. Ich gebe zu verstehen, daß ich etwas zu verkaufen habe, das, wenn es nicht gekauft wird, die Dame, die ich so hoch schätze, kompromittieren muß. Ich erkläre mich im allgemeinen. Ich verlange – ich glaube, es waren tausend Pfund. Wollen Sie mich berichtigen?«

So zu sprechen genötigt, antwortete sie mit einigem Zwang: »Sie verlangten tausend Pfund.«

»Jetzt verlange ich zweitausend. Das sind die üblen Folgen des Zögerns. Aber noch einmal darauf zurückzukommen. Wir sind nicht eines Sinnes in dieser Sache; wir differieren. Ich scherze gern; Scherz ist eine Eigenschaft meines liebenswürdigen Charakters. Im Scherz gesprochen, mir wird wie einem zumute, der ermordet und versteckt worden ist. Denn es mag für Madame nur die halbe Summe wert sein, von dem Verdacht, den mein drolliger Gedanke erweckt, gereinigt zu werden. Zufall und Spione mischen sich darein, verderben meinen Scherz und verderben die Frucht, vielleicht – wer weiß? nur Sie und Flintwinch – gerade, wenn sie reif ist. Deshalb, Madame, bin ich zum letzten Male hier. Hören Sie! Entschieden zum letzten Male!«

Während er mit seinen schlenkernden Stiefelabsätzen an die Klappe des Tisches schlug und ihrem finsteren Gesicht mit einem unverschämten Blick begegnete, begann er einen stolzeren Ton anzuschlagen.

»Bah! Warten Sie einen Augenblick! Lassen Sie uns Schritt für Schritt vorgehen. Hier ist meine Wirtshausrechnung, die vertragsmäßig bezahlt werden muß. Fünf Minuten später sind wir vielleicht im bittersten Streite begriffen. Ich will es nicht bis dahin anstehen lassen. Sie möchten mich sonst darum betrügen. Bezahlen Sie die Rechnung. Zählen Sie mir das Geld vor.«

»Nehmen Sie sie aus seiner Hand und bezahlen Sie, Flintwinch«, sagte Mrs. Clennam. Er warf sie Mr. Flintwinch ins Gesicht, als der alte Mann näher trat, um sie in Empfang zu nehmen: dann streckte er seine Hand aus und wiederholte geräuschvoll: »Bezahlen Sie! Geben Sie das Geld! Gutes Geld!«

Jeremiah hob die Rechnung auf, sah mit blutunterlaufenem Auge nach der Summe, nahm einen kleinen Kanevasbeutel aus der Tasche und zahlte ihm den Betrag in die Hand.

Rigaud klimperte mit dem Geld, wog es in seiner Hand, warf es etwas in die Höhe, fing es wieder auf und klimperte noch einmal.

»Der Klang dieses Geldes ist für den kühnen Rigaud Blandois wie der Genuß von frischem Fleisch für den Tiger, So sagen Sie denn, Madame. Wieviel?«

Er drehte sich rasch mit einer drohenden Bewegung der vollen Hand, die das Geld einschloß, nach ihr um, als ob er die Absicht hätte, sie damit zu schlagen.

»Ich sage Ihnen noch einmal, wie ich Ihnen früher schon sagte, daß wir hier nicht so reich sind, wie Sie wohl von uns vermuten, und daß Ihr Verlangen unmäßig ist. Ich habe die Mittel nicht gegenwärtig, um einem solchen Verlangen zu genügen, selbst wenn ich es zu erfüllen auch noch so geneigt wäre.«

»Wenn!« rief Blandois. »Hört diese Dame mit ihrem ›Wenn‹! Wollen Sie damit sagen, daß Sie nicht dazu geneigt sind?«

»Ich will sagen, wie die Sache sich mir darstellt, nicht wie Ihnen.«

»So sagen Sie denn, ob Sie geneigt sind. Rasch. Kommen Sie zu dem Punkt, ob Sie geneigt sind, und ich weiß, was zu tun ist.«

Sie antwortete nicht rascher und nicht langsamer. »Es scheint, Sie seien in den Besitz eines Papiers – oder mehrerer Papiere – gekommen, die ich allerdings wieder an mich zu bringen geneigt bin.«

Rigaud trommelte laut lachend mit den Absätzen an dem Tisch und klimperte mit seinem Geld. »Ich denke wohl! Ich glaube, daß das Ihre Absicht ist.«

»Das Papier mag für mich eine Summe Geldes wert sein, ich kann nicht sagen, wieviel oder wie wenig.«

»Was zum Teufel?« fragte er wild. »Nicht mal, nachdem ich Ihnen eine Woche Bedenkzeit gegeben?«

»Nein! Ich werde nicht aus meinen schwachen Mitteln – denn ich sage Ihnen noch einmal, wir sind hier arm und nicht reich – Ihnen einen Preis für eine Macht bestimmen, deren volle und schlimmste Tragkraft ich nicht kenne. Es ist zum dritten Male, daß Sie bloß andeuten und drohen. Sie müssen sich genau erklären, oder Sie mögen gehen, wohin Sie wollen, und tun, was Sie wollen. Es ist besser, auf einmal zerrissen zu werden, als die Maus für die Laune einer solchen Katze zu sein.«

Er sah sie mit seinen Augen, die viel zu nahe beieinander standen, so gefühllos an, daß der unheimliche Blick des einen, der sich mit dem des andern kreuzte, die Brücke seiner gebogenen Nase zu verschieben schien. Nachdem er sie lange angesehen hatte, sagte er, sein höllisches Lächeln fortsetzend:

»Sie sind eine kühne Frau!«

»Ich bin eine entschlossene Frau.«

»Das waren Sie immer. Wie? Das war sie immer; nicht wahr, mein kleiner Flintwinch?«

»Flintwinch, sprechen Sie nichts mit ihm. Es ist an ihm, hier und jetzt alles zu sagen, was er sagen kann; oder er mag fortgehen und tun, was er kann. Sie wissen, daß das unser Entschluß ist. Lassen Sie ihn nun tun, was ihm beliebt.«

Sie wich seinem scheelen Blick nicht aus und vermied ihn nicht. Er richtete ihn wieder auf sie, aber sie blieb unverwandt in der Stellung, die sie einmal gewählt. Er verließ den Tisch, stellte einen Stuhl an das Sofa, setzte sich darein und lehnte den Arm auf jenes, dicht neben den ihren, den er mit seiner Hand berührte; ihr Gesicht war immer finster, aufmerksam und ruhig.

»Es ist also Ihr Wunsch, Madame, daß ich ein Stück Familiengeschichte in dieser kleinen Familienversammlung erzähle«, sagte Rigaud, mit einer warnenden Bewegung seiner gelenkigen Finger auf ihrem Arm. »Ich bin ein wenig Arzt. Lassen Sie mich Ihren Puls fühlen.«

Sie gestattete es, daß er ihr Gelenk in seine Hand nahm. Dann fuhr er fort, während er dieses hielt:

»Eine Geschichte von einer seltsamen Heirat und einer seltsamen Mutter, und einer Rache und einer Unterschlagung. – Ei, ei, ei! Der Puls schlägt wunderlich! Es scheint mir, daß er sich verdoppelt, während ich ihn in der Hand halte. Kommt dieser Wechsel in Ihrer Krankheit gewöhnlich vor, Madame?«

Es war ein Kampf in ihrem gelähmten Arm, als sie ihn wegzog, aber es war kein Kampf in ihrem Gesicht. Auf seinem Gesicht spielte sein eigentümliches Lächeln.

»Ich habe ein abenteuerliches Leben geführt. Ich bin ein abenteuerlicher Charakter. Ich habe manche Abenteurer gekannt, interessante Menschen – liebenswürdige Gesellschaft. Einem von ihnen verdanke ich meine Wissenschaft und meine Beweise – ich wiederhole es, schätzbarste Dame, – Beweise – von der reizenden kleinen Familiengeschichte, die ich nun zu erzählen im Begriff bin. Sie werden entzückt sein darüber. Bah, bah! Ich vergesse. Man muß einer Geschichte auch einen Namen geben. Soll ich sie die Geschichte eines Hauses nennen? Aber nein! Es gibt so viele Häuser. Soll ich sie die Geschichte dieses Hauses heißen?«

Über das Sofa gelehnt, auf zwei Beinen seines Stuhles und seinem linken Ellbogen sich wiegend, mit der Hand ihren Arm berührend, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen; die Beine kreuzend, während seine rechte Hand bald sein Haar in Ordnung brachte, bald seinen Bart, bald seine Nase strich und, was sie auch tun mochte, eine drohende Haltung hatte, grob, unverschämt, raubsüchtig, grausam und eindringlich setzte er seine Erzählung gemächlich fort. »Kurz, ich nenne sie die Geschichte dieses Hauses. Ich beginne: Es wohnen hier, wollen wir annehmen, ein Onkel und ein Neffe. Der Onkel, ein strenger, alter Mann von starkem Charakter; der Neffe, gewöhnlich schüchtern, gedrückt und unter einem Zwange lebend.« Mrs. Affery, die in ihrem Fenstersitz ganz Auge und Ohr war und, an ihrem Schürzenende nagend, von Kopf bis zu Fuß zitterte, rief, als er dies sagte: »Jeremiah, komm mir nicht nahe! Ich habe in meinen Träumen von Arthurs Vater und seinem Onkel gehört! Er spricht von diesen. Es war, bevor ich hierherkam; aber ich hörte in meinen Träumen, daß Arthurs Vater ein armer, unselbständiger, eingeschüchterter Mensch war, dem man nichts als sein armseliges Waisenbewußtsein gelassen, als er noch jung war, und der bei der Wahl seiner Frau keine Stimme hatte; denn sein Onkel wählte sie für ihn. Da sitzt sie! Ich hörte es in meinen Träumen, und Sie sagten es ja auch zu ihr.« Während Mr. Flintwinch mit der Faust ihr drohte und Mrs. Clennam sie anstarrte, warf Rigaud ihr eine Kußhand zu. »Ganz richtig, liebe Madame Flintwinch, Sie haben ein Talent für das Träumen.« »Ich will nicht von Ihnen gelobt sein«, versetzte Affery. »Ich habe überhaupt nichts mit Ihnen zu schaffen. Aber Jeremiah sagt, es seien Träume, und ich will sie Ihnen als solche erzählen!« Dabei steckte sie wieder ihre Schürze in den Mund, als ob sie eines andern Mund stopfte – vielleicht den von Jeremiah, der mit Drohungen zitterte, als wenn er schrecklich fröre. »Unsere liebe Madame Flintwinch«, sagte Rigaud, »entfaltet plötzlich eine solche Feinfühligkeit und Geistigkeit, daß sie ein wahres Wunder ist. Ja. So ist die Geschichte. Der Herr Onkel befiehlt dem Neffen zu heiraten. Dieser Herr sagt wirklich zu ihm: ›Mein Neffe, ich führe dich zu einer Dame von starkem Charakter, ganz wie ich selbst; einer entschlossenen Dame, einer ernsten Dame, einer Dame, deren Wille den Schwachen zu Staub zerdrücken kann; einer Dame ohne Mitleid, ohne Liebe, unversöhnlich, rachsüchtig, kalt wie Stein, aber ungestüm wie das Feuer.‹ Ha, welche Seelenstärke! Ha, welche Überlegenheit an geistiger Kraft! Wahrhaftig, ein stolzer und edler Charakter, den ich in den angeführten Worten des Herrn Onkels beschreibe. Ha, ha, ha! Tod meiner Seele, ich liebe diese süße Dame.« Mr. Clennams Gesicht hatte einen andern Ausdruck angenommen. Es hatte sich sichtlich dunkler gefärbt, und die Stirn war mehr zusammengezogen als gewöhnlich. »Madame, Madame«, sagte Rigaud, indem er sie auf den Arm streichelte, als wenn seine grausame Hand ein musikalisches Instrument probierte, »ich merke, daß ich Sie interessiere. Ich merke, daß ich Ihre Teilnahme rege mache. Lassen Sie uns fortfahren.« Er mußte jedoch die sich senkende Nase und den sich bäumenden Schnurrbart zuvor mit der weißen Hand einen Augenblick bedecken, ehe er fortfahren konnte; so sehr freute er sich über die Wirkung, die seine Worte hervorbrachten.

»Da der Neffe, wie die erleuchtete Madame Flintwinch bemerkte, ein armer Teufel war, dem man durch Furcht und Hunger nichts als sein armseliges Waisenbewußtsein gelassen, – so verbeugt sich der Neffe und gibt die Antwort: ›Mein Onkel, Sie haben zu befehlen, tun Sie, wie Ihnen beliebt!‹ Der Herr Onkel tut, wie ihm beliebt. Ganz wie von jeher. Die glückversprechende Heirat findet statt; die Neuverheirateten kommen in dieses reizende Haus; die Dame, wollen wir annehmen, wird von Flintwinch empfangen. Hm, alter Intrigant?«

Jeremiah, der seine Augen auf seine Herrin geheftet hatte, antwortete nicht. Rigaud sah bald den einen, bald den andern an, strich an seiner häßlichen Nase und schnalzte mit der Zunge.

»Die Dame macht ehestens eine eigentümliche und beunruhigende Entdeckung; voll Zorn, voll Eifersucht, voll Rache entwirft sie – beachten Sie wohl, Madame! – einen Racheplan, dessen ganze Schwere sie scharfsinnigerweise ihren vernichteten Gatten sowohl selbst zu tragen, als auch auf ihre Feindin zu werfen zwingt. Welch überlegener Geist!«

»Laß ihn nicht weiter sprechen, Jeremiah!« rief Affery mit Herzklopfen, indem sie die Schürze wieder aus dem Munde zog. »Aber es war einer meiner Träume, daß du ihr sagtest, als du eines Winterabends mit ihr in der Dunkelheit strittest – sie saß hier, und du sahst sie an –, sie hätte von Arthur, als er nach Hause kam, es durchaus nicht dulden sollen, daß er auch nur den leisesten Verdacht auf seinen Vater werfe; sie habe immer die Stärke und die Macht gehabt; und sie hätte Arthur gegenüber für seinen Vater kräftiger auftreten sollen. In demselben Traume sagtest du zu ihr, sie sei nicht – nicht, ich weiß nicht was, denn sie fuhr heftig auf und brachte dich zum Schweigen. Du kennst den Traum so gut wie ich. Es war damals, als du mit dem Licht in der Hand die Treppe herabkamst und mir die Schürze vom Kopfe rissest; damals, als du mir sagtest, ich hätte geträumt, und als du nicht an das Geräusch glauben wolltest.« Nach diesem Ausbruch steckte Affery wieder die Schürze in den Mund; dabei hielt sie immer die Fensterbank fest und kniete auf dem Fenstersitz, bereit, jeden Augenblick aufzuschreien oder loszufahren, wenn ihr Herr und Meister sich näherte.

Rigaud hatte von alledem nicht ein Wort verloren.

»Haha!« rief er, die Augenbrauen emporziehend, seine Arme kreuzend und im Stuhl sich zurücklehnend. »Ganz gewiß, Madame, Flintwinch ist ein Orakel! Wie sollen wir das Orakel erklären. Sie und ich und der alte Intrigant? Er sagte, Sie seien nicht –? Und Sie fuhren heftig auf und brachten ihn zum Schweigen! Was ist das, was Sie nicht waren? Was ist das, was Sie nicht sind? Sprechen Sie, Madame!«

Bei diesem frechen Spott atmete sie schwerer, und ihr Mund war unruhig. Ihre Lippen zitterten und öffneten sich, obgleich sie sich die größte Mühe gab, sie ruhig zu halten.

»Nun, Madame! Sprechen Sie! Unser alter Intrigant sagte, Sie seien nicht – und Sie brachten ihn zum Schweigen. Er war im Begriff zu sagen, Sie seien nicht – was? Ich weiß es bereits, aber ich verlange etwas Vertrauen von Ihrer Seite. Nun denn? Sie seien nicht, was?«

Sie versuchte, sich wieder zusammenzunehmen, brach aber ungestüm in die Worte aus: »Nicht Arthurs Mutter!«

»Gut«, sagte Rigaud. »Sie sind gehorsam.«

Der gesetzte Ausdruck ihres Gesichte war durch den Ausbruch ihrer Leidenschaft verschwunden, und aus jeder Falte ihres Gesichts brach das so lange zurückgehaltene dampfende Feuer, als sie ausrief: »Ich will es selbst sagen! Ich will es nicht von Ihren Lippen hören, da sonst der Flecken Ihrer Bosheit daran klebt. Wenn es einmal an den Tag kommen muß, will ich, daß man es in dem Licht sehe, in dem ich stand. Kein Wort mehr. Hören Sie mich!«

»Wenn Sie nicht eine halsstarrigere und hartnäckigere Frau sind, als ich Sie kenne«, warf Mr. Flintwinch ein, »so würden Sie besser daran tun, wenn Sie Mr. Rigaud, Mr. Blandois, Mr. Beelzebub es auf seine Weise sagen ließen. Was hat es zu bedeuten, wenn er alles weiß?«

»Er weiß nicht alles.«

»Er weiß alles, woran ihm zu wissen liegt«, drängte Mr. Flintwinch mürrisch.

»Er kennt mich nicht.«

»Was glauben Sie denn, daß er sich um Sie kümmern werde, Sie eingebildete Frau?« sagte Mr. Flintwinch.

»Ich sage Ihnen, Flintwinch, ich will sprechen. Ich sage Ihnen, da es so weit gekommen, so will ich es mit meinen eigenen Lippen sagen und mich ganz und gar aussprechen. Habe ich nichts in diesem Zimmer gelitten, keine Entbehrung, keine Gefangenschaft, um mich zuletzt dazu herbeizulassen, daß man mich durch ein solches Glas wie dieses betrachte! Können Sie ihn sehen? Können Sie ihn hören? Wenn Ihre Frau hundertmal so undankbar wäre, wie sie ist, wenn ich tausendmal weniger Hoffnung hätte, als ich wirklich habe, sie zum Schweigen zu bringen, wofern dieser Mann zum Schweigen gebracht ist, so würde ich es doch lieber selbst sagen, ehe ich die Qual ertrüge, es vom ihm zu hören.«

Rigaud schob seinen Stuhl etwas zurück; streckte seine Füße gerade vor sich aus und saß mit gekreuzten Armen ihr gegenüber.

»Sie wissen nicht, was es heißt«, fuhr sie, an ihn gewandt, fort, »streng und hart erzogen zu werden. Ich wurde so erzogen. Ich kannte keine Jugend irdischer Heiterkeit und Lust. Ich kannte nur Tage heilsamer Unterdrückung, Züchtigung und Furcht. Die Verdorbenheit unsrer Herzen – das Böse unsres Treibens, der Fluch, der auf uns lastet, die Schrecken, die uns umgeben – das waren die Gedanken, mit denen meine Kindheit beschäftigt wurde. Sie bildeten meinen Charakter und erfüllten mich mit Abscheu vor denen, die Böses tun. Als der alte Mr. Gilbert Clennam seinen verwaisten Neffen meinem Vater als Gatten für mich vorschlug, wies mich mein Vater nachdrücklich darauf hin, daß seine Erziehung wie die meine von der größten Strenge geleitet gewesen sei. Er sagte mir, daß, abgesehen von der Zucht, in der sein Geist gehalten worden, er in einem sparsamen Hause gelebt habe, wo Schwelgerei und Heiterkeit unbekannte Gäste seien, und wo jeder Tag wie der vorhergehende ein Tag voll Mühe und Last war.

Er sagte mir, er sei ein Mann bei Jahren gewesen, ehe sein Onkel ihn als solchen anerkannt, und daß von seiner Schulzeit bis zu jener Stunde seines Onkels Dach ein Heiligtum für ihn gewesen, das die ansteckende Hand der Irreligiosität und des Leichtsinns nicht berührte. Als ich ein Jahr nach unsrer Hochzeit entdeckte, daß mein Gatte gegen Gott gesündigt und mich beschimpft, indem er einem verbrecherischen Geschöpf meine Stelle eingeräumt, konnte ich da zweifeln, daß es mir auferlegt sei, diese Entdeckung zu machen, und daß es mir bestimmt sei, die strafende Hand an dieses verdorbene Geschöpf zu legen? Sollte ich in einem Augenblick – nicht die mir widerfahrene Unbill – was war ich! – sondern all den Abscheu vor der Sünde und all den Kampf gegen sie, in dem ich erzogen wurde, vergessen?«

Sie legte ihre zornige Hand auf die Uhr, die auf dem Tisch lag.

»Nein! ›Vergiß nicht!‹ Die Initialen dieser Worte stehen jetzt hier innen und standen damals hier innen. Es war mir bestimmt, den alten Brief zu finden, der darauf Bezug hatte und mir sagte, was sie bedeuten sollten, und wessen Arbeit sie waren, und weshalb sie gestickt wurden; jener Brief lag bei dieser Uhr in seiner geheimen Schieblade. Wäre es mir nicht bestimmt gewesen, ich hätte die Entdeckung nicht gemacht. ›Vergiß nicht.‹ Es sprach zu mir wie eine Stimme aus einer Zorneswolke. Vergiß nicht die Todsünde. Vergiß nicht die dir bestimmte Entdeckung. Vergiß nicht das dir bestimmte Leiden. Ich habe nicht vergessen. Was ist die mir widerfahrene Unbill, von der ich sprach? Meine Unbill! Ich war ja nur eine Dienerin und ein Werkzeug. Welche Macht hätte ich über sie haben können, wenn sie nicht in den Banden ihrer Sünde gelegen und mir ausgeliefert gewesen wären!«

Mehr als vierzig Jahre waren über das graue Haupt dieser entschlossenen Frau seit der Zeit hingegangen, von der sie sprach. Mehr als vierzig Jahre unausgesetzten Kämpfens und Ringens, und es ging ein Geflüster, daß, welchen Namen sie auch ihrem rachesüchtigen Stolz und Grimm geben mochte, nichts in alle Ewigkeit ihre Natur zu ändern imstande sein würde. Nachdem jedoch diese vierzig Jahre vorübergegangen waren und diese Nemesis ihr nun ins Gesicht schaute, beharrte sie dennoch bei ihrer alten Gottlosigkeit – verdrehte die Ordnung der Schöpfung und blies ihren Atem einem Lehmbilde ihres Schöpfers ein. Wahrlich, wahrlich, viele Reisende haben viele ungeheuerliche Idole in vielen Ländern gesehen; aber kein menschliches Auge sah je keckere, gröbere und widrigere Bilder der göttlichen Natur, als wir Staubgeborene aus unsern schlechten Leidenschaften uns zum Bilde schaffen.

»Als ich ihn zwang, mir ihren Namen und ihre Wohnung zu nennen«, fuhr sie in der vollen Entrüstung ihrer Verteidigung fort; »als ich ihr Vorwürfe machte und sie, ihr Gesicht bedeckend, mir zu Füßen fiel, war es da meine Kränkung, wegen der ich mich erhob, waren es meine Vorwürfe, die ich auf sie schleuderte? Die, die in alten Zeiten auserwählt wurden, zu gottlosen Königen zu gehen und sie anzuklagen – waren das nicht Werkzeuge und Diener? Und hatte ich Unwürdige und weit unter ihnen Stehende keine Sünde zu bekennen? Als sie mir ihre Jugend vorhielt und sein elendes und hartes Leben (das war ihr Ausdruck für die tugendhafte Erziehung, die er Lügen gestraft hatte) und die entweihte Hochzeitszeremonie, die sie im geheimen begangen, und die Schrecken des Mangels und der Schande, die über ihnen geschwebt, als ich zuerst die Mission erhielt, das Werkzeug ihrer Züchtigung zu werden, und die Liebe vorhielt (denn sie gebrauchte das Wort, als sie zu meinen Füßen lag), um deretwillen sie ihn verlassen und ihn mir wieder geschenkt, war es da mein Feind, der mein Schemel wurde, waren es die Worte meines Zornes, die sie niederschmetterten und erbeben machten? Nicht mir darf diese Strenge zugemessen werden; nicht mir die Qual der Sühne!«

Manches Jahr war gekommen und gegangen, seit sie den freien Gebrauch ihrer Finger besessen; aber es war bemerkenswert, daß sie bereits mehr als einmal mit ihrer geballten Hand kräftig auf den Tisch geschlagen hatte, und daß sie bei diesen Worten ihren Arm in die Luft erhob, als wenn dies eine gewöhnliche Gebärde für sie wäre.

»Und was war die Reue, die ich ihrem harten Herzen und ihrer schwarzen Verdorbenheit abringen konnte? Ich rachsüchtig und unversöhnlich? Es mag Leuten wie Ihnen, die keine Gerechtigkeit, keine Mission als die des Satans kennen, so erscheinen. Lachen Sie; aber ich will gekannt sein, wie ich mich kenne und wie Flintwinch mich kennt, obgleich ich es nur mit Ihnen und dieser einfältigen Person zu tun habe.«

»Fügen Sie hinzu, mit sich selbst, Madame«, sagte Rigaud. »Ich habe meine bescheidene Vermutung, daß Madame bemüht ist, sich vor sich selbst zu rechtfertigen.«

»Das ist falsch. Dem ist nicht so. Ich brauche das nicht«, sagte sie mit großer Energie und Entrüstung.

»Wirklich!« versetzte Rigaud. »Ha!«

»Ich frage, was war die tatsächliche Buße, die man von ihr verlangte? ›Sie haben ein Kind; ich habe keines. Sie lieben dieses Kind, geben Sie es mir. Es soll glauben, daß es mein Sohn, und jedermann soll glauben, daß es mein Sohn ist. Um Sie vor Bloßstellung zu sichern, soll sein Vater schwören, daß er Sie nie wiedersehen noch mit Ihnen verkehren wolle; und um auch ihn davor zu sichern, daß ihn sein Onkel nicht enterbe und sein Kind ein Bettler werde, sollen Sie schwören, keines von beiden je wiederzusehen oder mit ihnen zu verkehren. Wenn dies geschehen und Sie auf die von meinem Manne bezogenen Mittel verzichtet haben, übernehme ich Ihren Unterhalt. Sie mögen dann, während Ihr Aufenthaltsort unbekannt ist, wenn Sie wollen, die Lüge hinterlassen, daß Sie einen guten Namen verdienen, und ich werde nicht widersprechen.‹ Das war alles. Sie hatte ihre sündige und schmachvolle Neigung zu opfern; nicht mehr. Sie konnte die Last ihrer Schuld im stillen tragen, und ihr Herz konnte im stillen brechen. Durch solchen Schmerz in diesem Leben aber (der, sollt‘ ich denken, leicht genug für sie war) die Erlösung von dem ewigen Verderben sich erkaufen, wenn es ihr möglich wäre. Wenn ich sie hienieden strafte, öffnete ich ihr nicht einen Weg für das Jenseits? Wenn sie sich von unersättlicher Rache und unlöschbaren Feuern umgeben sah, waren diese mein? Wenn ich ihr damals und später mit den Schrecken drohte, die sie umringten, hielt ich sie in meiner rechten Hand?«

Sie drehte die Uhr auf dem Tische, öffnete sie und blickte mit ungemildertem Ausdruck auf die darinstehenden Buchstaben.

»Sie vergaßen sich nicht. Es ist solchen Sünden eigentümlich, daß die Sünder nicht imstande sein sollen zu vergessen. Wenn die Gegenwart Arthurs für seinen Vater ein täglicher Vorwurf war und die Abwesenheit Arthurs ein täglicher Stachel für seine Mutter, so war dies die gerechte Fügung Jehovas. Ebensogut könnte es mir zur Last gelegt werden, daß der Stachel des erwachten Gewissens sie wahnsinnig machte, und daß es der Wille des Lenkers aller Dinge war, daß sie in diesem Zustand viele Jahre lebte. Ich opferte mich, den sonst verlorenen Knaben zu beanspruchen, ihm den Namen ehrlicher Geburt zu geben; ihn in Furcht und Zittern zu erziehen, in einem Leben werktätiger Zerknirschung für die Sünden, die schwer auf seinem Haupt lasteten, ehe er in diese verdammte Welt trat. War das grausam? Litt ich nicht ebenfalls unter den Folgen der ursprünglichen Schande, an der ich keine Mitschuld trug? Arthurs Vater und ich lebten nicht geschiedener voneinander zu der Zeit, da die halbe Erde zwischen uns lag, denn da wir zusammen in diesem Hause wohnten. Er starb und schickte mir diese Uhr mit ihrem ›Vergiß nicht‹. Ich vergesse nicht, obgleich ich diese Worte nicht lese, wie er sie las. Ich lese aus denselben heraus, daß es meine Mission war, dies zu tun. Ich habe diese Buchstaben so gelesen, seit die Uhr auf diesem Tisch liegt. Und ich las sie ebenso deutlich, als sie Tausende von Meilen entfernt waren.«

Als sie das Uhrgehäuse mit jener Freiheit des Gebrauchs der Finger, von der sie kein Bewußtsein zu haben schien, in die Hand nahm und mit den Augen sich darüber herabbeugte, als wollte sie sie herausfordern, sich zu bewegen, rief Rigaud mit lautem und verächtlichem Schnalzen seiner Finger: »Nun, Madame, vorwärts. Die Zeit verfliegt. Vorwärts, Frau des Mitleids, es muß sein! Sie können nichts sagen, was ich nicht wüßte, kommen Sie zu dem gestohlenen Gelde, oder ich werde es tun. Tod meiner Seele, ich habe genug von Ihrem übrigen Geschwätz gehört. Kommen Sie sogleich zu dem gestohlenen Gelde!«

»Schurke, der Sie sind!« antwortete sie, und dabei faßten ihre Hände an ihren Kopf. »Durch welch unglückseligen Irrtum Flintwinchs, durch welche Unvorsichtigkeit seinerseits, da er die einzige damit vertraute und dabei helfende Person war, durch wessen und was für eine Sammlung der Asche eines verbrannten Papieres Sie in den Besitz einer Urkunde gekommen sind, weiß ich so wenig, als wie Sie zu der übrigen Macht an diesem Ort gelangten –«

»Und doch habe ich das wunderliche Glück, an einem nur mir bekannten geeigneten Ort eben diesen kleinen Anhang zu dem Testament von Monsieur Gilbert Clennam zu besitzen, geschrieben von einer Dame und bezeugt von eben dieser Dame und auch dem alten Intriganten! Ah, bah, alter Intrigant, alte krumme Puppe! Madame, lassen Sie uns fortfahren. Die Zeit drängt. Sie oder ich müssen die Sache zu Ende bringen!«

»Ich!« antwortete sie mit gesteigerter Entschiedenheit, wenn eine solche möglich, »ich, weil ich es nicht ertragen werde, mich mit Ihrer abscheulichen Verzerrung meines Bildes vor mir selbst oder einem andern zu zeigen. Sie, mit Ihren Ränken aus abscheulichen fremden Gefängnissen und Galeeren, würden das Geld als meine Triebfeder hinstellen. Es war nicht das Geld.«

»Oho, oho, oho! Ich verzichte für den Augenblick auf meine Höflichkeit und sage: ›Lügen, Lügen, Lügen.‹ Sie wissen, Sie unterschlugen die Urkunde und behielten das Geld.«

»Nicht um des Geldes willen, Schurke!« Sie machte eine Anstrengung, als wenn sie auffahren und in ihrer Entrüstung sich auf ihre lahmen Füße erheben wollte. »Wenn Gilbert Clennam, geistig und körperlich schwach geworden, im Begriff zu sterben und in dem Wahn einer gerührten Stimmung gegenüber einem Mädchen, von dem er gehört, daß sein Neffe einst eine Neigung für sie gehabt, die er in ihm unterdrückt, und daß das Mädchen später in Melancholie und geistiger Zerrüttung untergegangen – wenn er, sage ich, in diesem Zustand der Schwäche mir, deren Leben sie durch ihre Sünde verdunkelt und der es auferlegt war, ihre Gottlosigkeit von ihrer eigenen Hand und ihren eigenen Lippen zu erfahren, ein Legat diktierte, das als eine Entschädigung für vermeintlich unverdientes Leiden gelten sollte, war in diesem Falle kein Unterschied zwischen meiner Widersetzlichkeit gegen diese Ungerechtigkeit und der bloßen Gier nach dem Geld – einer Sache, die Sie und Ihre Kameraden in den Gefängnissen jedermann stehlen?«

»Die Zeit drängt. Bedenken Sie das!«

»Wenn dieses Haus vom Dach bis zum Boden brennte«, entgegnete sie, »würde ich darin bleiben, um mich dagegen zu wehren, daß meine gerechten Motive nicht mit denen von Meuchelmördern und Dieben verwechselt werden.«

Rigaud schnalzte ihr höhnisch in das Gesicht. »Tausend Guineen, für die kleine Schönheit, die Sie langsam zu Tode gehetzt. Tausend Guineen für die jüngste Tochter, die ihr Beschützer im fünfzigsten Jahre hätte, oder (wenn er keinen hätte) für die jüngste Tochter des Bruders, wenn sie mündig wäre, als Anerkennung seiner uneigennützigen Protektion, die er einer freundelosen jungen Waise angedeihen ließ. Zweitausend Guineen. Wie! Sie werden doch endlich zu dem Gelde kommen?«

»Dieser Beschützer«, fuhr sie ungestüm fort, als er sie wieder unterbrach.

»Namen! Nennen Sie ihn Mr. Frederick Dorrit. Keine ausweichenden Redensarten mehr!«

»Dieser Frederick Dorrit war der Anfang von all dem Unglück. Wenn er kein Musiker gewesen wäre und in jenen Tagen seiner Jugend und seines Glückes nicht ein üppiges Haus geführt hätte, wo Sänger und Musiker und solche Kinder des Satans ihren Rücken dem Licht und ihr Gesicht der Finsternis zugekehrt, so wäre sie wohl in ihrer untergeordneten Stellung verblieben und nicht aus ihr hervorgehoben worden, um wieder hinabgeschleudert zu werden. Doch nein. Der Satan kam zu diesem Frederick Dorrit und sagte ihm, er sei ein Mann von unschuldigem und lobenswertem Sinn, der edle Handlungen zu tun imstande wäre, und hier sei ein armes Mädchen mit Talent für den Gesang. Da muß er sie in Unterricht nehmen. Da wird Arthurs Vater, der sich auf den Pfaden rauher Tugend schon lange nach den verruchten Schlingen gesehnt, die man Künste nennt, mit ihr bekannt. Und so trägt eine schamlose Waise, die zur Sängerin abgerichtet wird, durch die Vermittlung dieses Frederick Dorrit den Sieg über mich davon, und ich bin gedemütigt und hintergangen! Nicht ich, soll das heißen«, fügte sie rasch hinzu, während Röte ihr Gesicht übergoß, »ein größerer als ich. Was bin ich?«

Jeremiah Flintwinch, der immer näher zu ihr hinkam und jetzt dicht bei ihr stand, ohne daß sie es wußte, machte ein besonders schiefes, vorwurfsvolles Gesicht, als sie dies sagte, und zupfte außerdem an seinen Gamaschen, als wenn diese die Stellung kleiner Bärte an seinen Beinen einnähmen.

»Kurz«, fuhr sie fort, »denn ich bin zu Ende mit dieser Angelegenheit und werde nicht weiter darüber sprechen, und auch Sie sollen nicht weiter darüber sprechen; alles, was noch bleibt, ist zu entscheiden, ob die Kenntnis dieser Dinge unter uns, die wir hier anwesend sind, bleiben kann: kurz, als ich jenes Papier mit Wissen von Arthurs Vater unterschlug –«

»Aber nicht mit seiner Zustimmung, werden Sie wissen«, sagte Mr. Flintwinch.

»Wer sagte, mit seiner Zustimmung?« Sie erschrak, Jeremiah so nahe bei sich zu sehen, und hielt den Kopf zurück, indem sie ihn mit wachsendem Mißtrauen ansah. »Sie waren oft genug zwischen uns, wenn er wollte, daß ich es herausgebe, und ich nicht wollte, um mir zu widersprechen, wenn ich sagte, mit seiner Zustimmung. Ich sagte, als ich jenes Papier unterschlug, tat ich nichts, es zu vernichten, sondern bewahrte es auf, in diesem Hause, viele Jahre lang. Da das übrige Vermögen Gilberts Arthurs Vater zufiel, konnte ich jederzeit, ohne mehr als die beiden Summen in Zweifel zu stellen, behaupten, ich hätte es gefunden. Aber abgesehen davon, daß ich eine solche Behauptung durch eine direkte Falschheit hätte unterstützen müssen (eine große Verantwortung), sah ich keinen neuen Grund, während meiner ganzen Prüfungszeit, das Papier ans Licht zu bringen. Es war eine Strafe für die Sünde; die schlimme Folge eines Betrugs. Ich tat, was mir zu tun bestimmt war, und ich habe getragen innerhalb dieser vier Wände, was mir zu tragen bestimmt war. Als das Papier endlich – wie ich glaubte – in meiner Gegenwart vernichtet wurde, war sie lange tot, und ihr Beschützer, Frederick Dorrit, war verdienterweise lange schon ruiniert und kindisch. Er besaß keine Tochter. Ich hatte die Nichte schon früher gefunden, und was ich für sie tat, war besser als das Geld, von dem sie keinen Nutzen gehabt.« Sie fügte einen Augenblick später, als spräche sie mit der Uhr, hinzu: »Sie selbst war unschuldig, und ich würde nicht versäumt haben, es ihr bei meinem Tode zu hinterlassen«: dabei sah sie auf die Uhr.

»Soll ich Sie an etwas erinnern, würdige Frau?« sagte Rigaud. »Das kleine Papier befand sich in diesem Hause an jenem Abend, als unser Freund, der Gefangene – der Gefängnisfreund meiner Seele – von fernen Ländern heimkehrte. Soll ich Sie noch an etwas Weiteres erinnern? Der kleine Singvogel, der nie flügge ward, wurde lange von einem durch Sie bestellten Wächter im Käfig gehalten, der auch unsrem alten Intriganten hier wohlbekannt ist. Sollten wir unsern alten Intriganten zwingen, uns zu sagen, wo er ihn zuletzt sah?«

»Ich will es Ihnen sagen!« rief Affery, die Schürze aus ihrem Munde nehmend. »Es war der erste aller meiner Träume. Jeremiah, wenn du mir jetzt zu nahe kommst, schreie ich, daß man es bei St. Pauls hört! Die Person, von der dieser Mann sprach, war Jeremiahs eigener Zwillingsbruder; er war in totenstiller Nacht hier, in jener Nacht, als Arthur heimkehrte, und Jeremiah gab ihm mit eigner Hand dieses Papier, von dem ich nichts weiter weiß, und er trug es in einer eisernen Kapsel weg. – Hilfe! Mörder! schützt mich vor Jere – mi – ah!«

Mr. Flintwinch war auf sie zugestürzt, aber Rigaud hatte ihn noch zur rechten Zeit am Arme gegriffen. Nachdem er einen Augenblick mit ihm gerungen, ließ Flintwinch los und steckte seine Hände in seine Taschen.

»Wie!« rief Rigaud spottend, indem er ihn mit seinem Ellbogen zurückstieß, »Eine Dame angreifen, die ein solches Talent für das Träumen besitzt? Ha, ha, ha! Sie wird eine Quelle des Reichtums für Sie werden, wenn Sie sie öffentlich zeigen. Alles, was sie träumt, trifft ein. Ha, ha, ha! Sie sehen ihm so ähnlich, kleiner Flintwinch. So ähnlich, als ich ihn kennenlernte (da ich zuerst englisch für ihn mit dem Wirt sprach), in der Schenke zu den drei Billards, in der kleinen Straße mit den hohen Dächern an dem Kai von Antwerpen. Ach, er war ein tüchtiger Junge im Trinken! Und ein tüchtiger Junge im Rauchen! Er wohnte in einem hübschen möblierten Junggesellenlogis im fünften Stock, über dem Holz- und Kohlenhändler und dem Frauenschneider und dem Stuhlmacher und dem Böttcher – dort kannte ich ihn, und dort machte er bei seinem Kognak und seinem Tabak zwölf Schläfchen des Tages und hatte jeden Tag seine Ohnmacht, bis er einst eine Ohnmacht zuviel hatte und zum Himmel emporstieg. Ha, ha, ha! Was tut das zur Sache, wie ich von den Papieren in seiner eisernen Kapsel Besitz nahm? Vielleicht vertraute er sie meinen Händen an, um sie Ihnen zu geben; vielleicht war die Kapsel geschlossen, und meine Neugierde wurde dadurch gereizt, vielleicht unterschlug ich sie. Ha, ha, ha! Was hat es auch zu sagen, wenn ich sie noch ganz besitze? Wir sind hier nicht so eigen; hm, Flintwinch? Wir sind hier nicht so eigen; nicht wahr, Madame?«

Mr. Flintwinch hatte sich mit boshaften Gegenstößen seiner Ellbogen in seinen Winkel zurückgezogen, wo er jetzt, atemholend und Mrs. Clennams Blicke erwidernd, mit den Händen in den Taschen stand.

»Ha, ha, ha! Was ist das?« rief Rigaud. »Es scheint, als kennten Sie sich gegenseitig nicht. Erlauben Sie mir, Madame Clennam, die unterschlägt, Mr. Flintwinch, der betrügt, vorzustellen.«

Mr. Flintwinch, der eine Hand aus der Tasche zog, um sich am Kinn zu kratzen, trat in dieser Haltung einen Schritt vor, während er immer noch Mrs. Clennams Blick erwiderte, und sagte zu ihr:

»Ich weiß, was Sie damit sagen wollen, daß Sie die Augen so weit aufreißen, aber Sie brauchen sich die Mühe nicht zu nehmen, weil ich mich nicht darum kümmere. Ich habe Ihnen seit vielen Jahren gesagt, daß Sie eine der starrsinnigsten und hartnackigsten Frauen seien. Das sind Sie. Sie nennen sich demütig und sündenvoll, aber Sie sind die anmaßendste Frau Ihres Geschlechts. Das sind Sie. Ich habe Ihnen ab und zu, wenn wir miteinander grollten, gesagt, daß Sie möchten, alles solle sich Ihnen fügen, aber ich wollte mich Ihnen nicht fügen, daß Sie gern jeden Menschen bei lebendigem Leibe verschlängen, aber ich wollte mich nicht bei lebendigem Leibe verschlingen lassen. Warum vernichteten Sie das Papier nicht, als Sie zum ersten Male Hand an dasselbe legten? Ich riet Ihnen dazu: aber nein, es ist nicht Ihre Sache, Rat anzunehmen. Sie mußten es freilich statt dessen aufbewahren. Vielleicht werden Sie es zu einer andern Zeit zum Vorschein bringen. Als ob ich es nicht besser wüßte. Ich denke, ich sehe Ihren Stolz noch das Papier selbst auf die Gefahr hin zum Vorschein bringen, daß Sie in den Verdacht geraten, es zurückbehalten zu haben. Aber das ist die Art, wie Sie sich selbst betrügen. Gerade wie Sie sich auch betrügen, indem Sie vorgeben, Sie tun all das nicht, weil Sie eine harte Frau sind, ganz Stolz und Haß und Gewalt und Unversöhnlichkeit, sondern weil Sie eine Dienerin und ein Werkzeug seien, dem diese Mission zuteil geworden. Wer sind Sie denn, daß Sie eine solche Mission erhalten haben sollten? Es mag das für Sie Religion sein, für mich sind es Possen. Und um Ihnen die ganze Wahrheit zu sagen, da ich mal im Zuge bin«, fuhr Mr. Flintwinch fort, indem er die Arme übereinander kreuzte und das vollendete Bild eines gereizten Murrkopfs darbot, »Sie haben mich förmlich geraspelt – geraspelt, sage ich, in den letzten vierzig Jahren – indem Sie sich auf einen so hohen Standpunkt selbst mir gegenüber stellten, der die Sache doch besser kennt. Nie Absicht war freilich allein die, mich um so tiefer zu stellen. Ich bewundre Sie sehr; Sie sind eine Frau von starkem Kopf und großem Talent; aber der stärkste Kopf und das größte Talent kann einen Mann nicht vierzig Jahre lang raspeln, ohne ihn zu reizen. Ich kümmere mich nichts darum, was für Blicke Sie mir zuwerfen. Ich komme jetzt zu dem Papier, und merken Sie nun, was ich sage. Sie brachten es irgendwohin auf die Seite, hielten aber den Art, wo Sie es versteckt, geheim. Sie waren damals noch eine rüstige Frau, und wenn Sie das Papier brauchten, konnten Sie es jeden Augenblick holen. Aber merken Sie wohl! Es kommt eine Zeit, wo Sie gelähmt sind wie jetzt: und wenn Sie dann das Papier brauchen, können Sie es nicht holen. So liegt es lange Jahre an dem verborgenen Platz. Zuletzt, da wir Arthurs Heimkehr jeden Tag erwarten und jeder Tag ihn bringen kann, da sich ferner unmöglich sagen läßt, wie er das Haus durchstöbern wird, mache ich Ihnen fünftausendmal den Vorschlag, wenn Sie das Papier nicht holen könnten, wolle ich es holen, um es in das Feuer zu werfen. Doch nein – niemand als Sie weiß, wo es ist, und das ist eine Macht; geben Sie sich so bescheidene Namen wie Sie wollen, ich heiße Sie einen weiblichen Luzifer in der Gier nach Macht! An einem Sonntagabend kommt Arthur zurück. Er ist noch nicht zehn Minuten in diesem Zimmer, so spricht er von seines Vaters Uhr. Sie wissen wohl, daß das ›Vergiß nicht‹ zu der Zeit, da sein Vater jene Uhr Ihnen sandte, nur so viel bedeuten konnte als, da alles übrige vorüber und vergessen ist, so vergiß die Vernichtung des Papiers nicht. Es herausgeben! Arthurs Benehmen hat Sie ein wenig erschreckt, und das Papier soll nun verbrannt werden. Ehe diese tolle Dirne und Jesabel«, grinste Mr. Flintwinch seine Frau an, »Sie zu Bett gebracht hat, sagen Sie mir deshalb endlich, wohin Sie das Papier getan, nämlich unter die alten Lagerbücher im Keller, wohin Arthur schon am nächsten Morgen kommt, als er im Hause herumstöbert. Aber an einem Sonntagabend soll es nicht verbrannt werden. Nein, Sie sind streng; wir müssen bis über zwölf warten, um in den Montag hineinzukommen. Das geht mir denn doch zu weit, das reizt mich, und da ich etwas ärgerlich bin und nicht so streng als Sie, so werfe ich vor zwölf Uhr einen Blick in das Dokument, um mein Gedächtnis bezüglich seines Aussehens zu erfrischen, lege eines von den vielen alten, vergilbten Papieren im Keller gerade wie das Dokument zusammen und mache später, als es Montagmorgen geworden und ich bei dem Scheine Ihrer Lampe von dem Bett, in dem Sie liegen, nach diesem Kamingitter gehen soll, einen kleinen Tausch, wie etwa ein Zauberer, und verbrenne das falsche Papier. Mein Bruder Ephraim, der Irrenpfleger (ich wünschte, er hätte sich selbst in die Zwangsjacke gesteckt), hatte seit dem großen einträglichen Auftrage, mit dem Sie ihn betrauten, gar mancherlei Aufträge, aber er spann trotzdem keine Seide. Seine Frau starb (das hatte gerade nichts zu bedeuten, die meine hätte statt ihrer gern sterben können), er spekulierte unglücklich mit den Irren und verwickelte sich in allerlei Schwierigkeiten, indem er einem Patienten zu sehr zusetzte, um ihn zur Vernunft zu bringen, und geriet darüber in Schulden. Er machte sich mit dem, was er aufbringen konnte, und einer Kleinigkeit von mir aus dem Staube. Er war an jenem Montagmorgen in der Frühe hier, um die Abfahrt des Schiffes abzuwarten; kurz, er ging nach Antwerpen, wo er (ich fürchte, Sie werden sich ärgern, wenn ich es sage: Hol‘ ihn der Teufel!) die Bekanntschaft dieses Herrn machte. Er hatte einen weiten Weg gemacht, und ich glaubte damals, er sei nur schläfrig: aber jetzt vermute ich, er war betrunken. Als Arthurs Mutter unter seiner und seiner Frau Obhut stand, schrieb sie immer und in einem fort – meist Briefe mit Bekenntnissen, die an Sie gerichtet waren und Bitten um Ihre Verzeihung enthielten. Mein Bruder hatte mir von Zeit zu Zeit Stöße von solchen Papieren eingehändigt. Ich dachte, ich könnte sie ebensogut für mich behalten, als sie auch lebendig verschlingen zu lassen; deshalb bewahrte ich sie in einer Kapsel auf und durchblätterte sie, wenn ich in der Stimmung dazu war. Überzeugt, daß es rätlich sei, das Papier fortzuschaffen, wenn Arthur nicht dahinterkommen sollte, legte ich es in dieselbe Kapsel, schloß das Ganze mit zwei Schlössern und übergab es meinem Bruder, daß er es mit sich nehme und aufbewahre, bis ich ihm schriebe. Ich schrieb ihm darüber, aber erhielt nie eine Antwort. Ich wußte nicht, was ich daraus machen sollte, bis dieser Herr uns mit seinem ersten Besuch beehrte. Natürlich begann ich nun auf die Vermutung zu kommen, wie all das zusammenhing: und ich brauchte seine Erklärung nicht, um zu verstehen, wie er aus meinen Papieren und Ihrem Papier und dem Kognak- und Tabaksgeschwatze meines Bruders (ich wollte, er hätte sich knebeln müssen) zu seiner Wissenschaft kam. Ich habe jetzt nur eines noch zu sagen. Sie hartnäckige Frau, und das ist, daß ich mir nie klar wurde, ob ich Ihnen mit dem Dokument einen Kummer bereitet haben möchte oder nicht – ich glaube nicht –, und daß ich ganz damit zufrieden war, daß ich wußte, ich hatte den Vorteil über Sie errungen und hielt Sie in meiner Hand. Unter den gegenwärtigen Umständen habe ich Ihnen keine Erklärung mehr zu geben bis morgen abend um diese Stunde. Deshalb mögen Sie Ihre Augen gegen jemand andern aufreißen«, sagte Mr. Flintwinch, indem er seine Rede mit einer Steigerung schloß, »denn es ist unnütz, sie gegen mich aufzureißen.«

Sie wandte sich langsam weg, als er geschlossen hatte, und senkte ihre Stirn auf ihre Hand. Ihre andre Hand drückte sie schwer auf den Tisch, und wieder war die seltsame Unruhe bei ihr zu bemerken, als beabsichtigte sie aufzustehen.

»Diese Kapsel kann nie und nirgend so teuer verkauft werden wie hier. Dieses Geheimnis kann Ihnen nie den gleichen Nutzen bringen, wenn Sie es an jemand anderen verkaufen, als wenn Sie es an mich verkaufen. Aber ich habe im Augenblick nicht die Mittel, die Summe aufzutreiben, die Sie verlangten. Ich war in meinen Geschäften nicht glücklich. Was wollen Sie jetzt und was später, und wie kann ich mich Ihrer Verschwiegenheit versichern?«

»Mein Engel«, versetzte Rigaud, »ich sagte, was ich verlange, und die Zeit drängt. Ehe ich hierherkam, deponierte ich Abschriften der wichtigsten unter diesen Papieren in einer andren Hand. Verzögern Sie den Abschluß, bis das Tor des Marschallgefängnisses sich für die Nacht geschlossen hat, und es wird zu spät sein. Der Gefangene wird dann die Papiere gelesen haben.«

Sie legte wieder ihre beiden Hände an den Kopf, stieß einen lauten Seufzer aus und fuhr in die Höhe. Sie schwankte einen Augenblick, als wollte sie fallen: dann stand sie fest.

»Sagen Sie, was Sie damit meinen. Sagen Sie, was Sie damit meinen, Mann!«

Vor dieser geisterhaften Gestalt, die man so lange nicht mehr in dieser aufrechten Stellung gesehen, in der sie wie erstarrt war, fuhr Rigaud zurück und dämpfte seine Stimme. Es war für alle drei, als wenn eine tote Frau auferstanden wäre.

»Miß Dorrit«, antwortete Rigaud, »die kleine Nichte von Monsieur Frederick, den ich jenseits des Meeres kannte, ist um die Person des Gefangenen. Miß Dorrit, die kleine Nichte von Monsieur Frederick, pflegt in diesem Augenblick den Gefangenen, der krank ist. Für sie hinterließ ich in eigner Person auf dem Wege hierher ein Paket in dem Gefängnis, nebst einem Brief mit Instruktionen

Die gelähmte Mrs. Clennam steht auf und geht.

›in seinen Angelegenheiten‹ – und in seinen Angelegenheiten wird sie gern zu allem bereit sein – welches Paket sie aufbewahren und nicht erbrechen solle, für den Fall, daß es vor dem Torschluß reklamiert würde; im Fall dies jedoch vor dem Läuten der Gefängnisglocke nicht geschähe, es ihm zu geben; es enthält eine zweite Abschrift für sie selbst, die er ihr geben soll. Ja! Ich halte mich unter euch nicht mehr sicher, nachdem wir so weit gediehen sind; deshalb habe ich mein Geheimnis verdoppelt. Was im übrigen das betrifft, Madame, daß es mir nirgends einen solchen Nutzen abwerfen kann als hier, so sagen Sie denn, haben Sie den Preis bestimmt und festgesetzt, den die kleine Nichte – um seinetwillen – geben wird, um es zu vertuschen? Noch einmal sage ich Ihnen, die Zeit drängt. Ist das Paket vor dem Läuten der Glocke zu Nacht nicht reklamiert, so können Sie es nicht mehr kaufen. Ich verkaufe dann an das kleine Mädchen!«

Noch einmal sah man einen Kampf und Aufruhr in ihr, dann eilte sie nach einem Kabinett, riß die Tür auf, nahm eine Kapuze oder einen Schal heraus und warf ihn über den Kopf. Affery, die sie erschrocken beobachtet hatte, stürzte nach der Mitte des Zimmers, wo ihre Herrin stand, erfaßte ihr Kleid und rutschte auf den Knien zu ihr.

»Bleiben Sie, bleiben Sie, bleiben Sie! Was wollen Sie tun? Wohin gehen Sie? Sie sind eine furchtbare Frau, aber ich hege keine Feindschaft gegen Sie. Ich kann dem armen Arthur jetzt nicht nützlich sein, das sehe ich; und Sie brauchen sich nicht vor mir zu fürchten. Ich will Ihr Geheimnis bewahren. Gehen Sie nicht aus, Sie sterben auf der Straße. Versprechen Sie mir nur, wenn es sich um die Arme handelt, die hier im geheimen eingesperrt ist, lassen Sie mich sie pflegen und für sie sorgen. Versprechen Sie mir nur das, und Sie brauchen sich nicht vor mir zu fürchten.«

Mrs. Clennam stand mitten in ihrer ungestümsten Hast einen Augenblick still und sagte in finsterem Erstaunen:

»Hier eingesperrt? Sie ist seit zwanzig Jahren und länger tot. Frage Flintwinch – frage ihn. Sie können beide sagen, daß sie starb, als Arthur auf Reisen ging,«

»Um so schlimmer«, sagte Affery mit einem Schauer, »denn sie geht dann als Gespenst im Hause umher. Wer sonst als sie raschelt hier herum und macht Zeichen, indem sie sanft Staub fallen laßt? Wer sonst als sie geht aus und ein und macht lange krumme Striche an die Wände, wenn wir alle zu Bett sind? Wer sonst als sie hält die Türen zuweilen fest? Aber gehen Sie nicht fort – gehen Sie nicht fort! Mistreß, Sie werden auf der Straße sterben!«

Ihre Herrin machte einfach ihr Kleid von den bittenden Händen los, sagte zu Rigaud: »Warten Sie hier, bis ich zurückkomme!« und stürzte aus dem Zimmer. Sie sahen sie vom Fenster aus, wie sie ungestüm durch den Hof und zum Torweg hinauseilte. Einige Augenblicke standen die Zurückbleibenden bewegungslos da. Affery war die erste, die sich rührte: händeringend folgte sie ihrer Herrin. Nach ihr zog sich Jeremiah Flintwinch langsam nach der Tür zurück und schlich sich, die eine Hand in der Tasche, mit der andern das Kinn reibend, in seiner verstohlenen Weise und still hinaus. Rigaud, der allein zurückgeblieben, setzte sich auf die Fensterbank ans offene Fenster in seiner alten Positur wie ehedem in dem Gefängnis zu Marseille. Er legte seine Zigarette und seine Zündholzschachtel neben sich und begann zu rauchen.

»Puh! Beinahe so düster wie das alte höllische Gefängnis. Wärmer, aber beinahe so trübselig. Warten, bis sie zurückkommt? Ja, gewiß; aber wohin ist sie gegangen und wie lange wird sie fortbleiben? Gleichgültig! Rigaud Lagnier Blandois, mein liebenswürdiges Ich, du wirst dein Geld bekommen. Du wirst dich bereichern. Du hast als Gentleman gelebt; du wirst als Gentleman sterben. Du triumphierst, mein kleiner Junge; aber es liegt in deinem Charakter, zu triumphieren. Uf!«

In der Stunde seines Triumphes bäumte sich sein Schnurrbart, und seine Nase senkte sich, während er einen großen Balken über seinem Kopf mit besonderem Vergnügen beäugelte.

Siebzehntes Kapitel.


Siebzehntes Kapitel.

Vermißt.

Die Abreise von Mr. Dorrit war auf übermorgen bestimmt und er eben im Begriff sich anzukleiden, um eine neue Prüfung vor dem Oberhaushofmeister zu bestehen (denn die Opfer desselben waren immer besonders für ihn herausgeputzt), als einer der Diener des Hotels ihm eine Visitenkarte brachte. Mr. Dorrit nahm sie und las:

»Mrs. Finching.«

Der Diener wartete in sprachloser Demut.

»Mann, Mann«, sagte Mr. Dorrit, sich mit großer Entrüstung zu ihm umwendend, »erklären Sie mir, warum Sie mir diesen lächerlichen Namen bringen. Ich kenne ihn durchaus nicht. Finching, Sir?« sagte Mr. Dorrit, indem er sich vielleicht an dem Oberhaushofmeister durch einen Ersatzmann rächte. »Ha! Was wollen Sie mit dieser Mrs. Finching?«

Der Mann, Mann schien so wenig mit dieser Finching zu wollen als mit irgend jemand, denn er trat vor Mr. Dorrits strengem Blick zurück, indem er antwortete: »Eine Dame, Sir.«

»Ich kenne keine Dame dieses Namens, Sir«, sagte Mr. Dorrit. »Nehmen Sie diese Karte fort. Ich kenne keine Finching, weder männlichen noch weiblichen Geschlechts.«

»Bitte um Vergebung, Sir. Die Dame sagte, es sei möglich, daß Sie ihren Namen nicht kennen. Aber sie bitte mich zu melden, Sir, daß sie früher die Ehre gehabt, mit Miß Dorrit bekannt zu sein. Die Dame sagte, Sir, mit der jüngsten Miß Dorrit.«

Mr. Dorrit zog die Brauen zusammen und entgegnete nach einigen Augenblicken: »Sagen Sie Mrs. Finching, Sir«, indem er den Namen mit einem Nachdruck hervorhob, als wenn der unschuldige Mann allein für ihn verantwortlich wäre, »daß sie heraufkommen könne.«

Er hatte während der momentanen Pause überlegt, daß sie, wenn er sie nicht vorlasse, eine Botschaft an ihn hinterlassen oder unten etwas sagen möchte, was eine unangenehme Beziehung auf sein früheres Leben haben könnte. Daher seine Nachgiebigkeit und daher das Erscheinen von Flora, die der Mann, Mann hereinsteuerte.

»Ich habe nicht das Vergnügen«, sagte Mr. Dorrit mit der Karte in der Hand und mit einer Stimme, die zu erkennen gab, daß es kaum ein Vergnügen ersten Ranges wäre, wenn er es hätte, »diesen Namen oder Sie selbst zu kennen, Madame. Geben Sie einen Stuhl, Sir.«

Der verantwortliche Mann gehorchte aufschreckend und ging auf den Zehen hinaus. Flora schlug mit einem verschämten Beben den Schleier zurück, um sich näher vorzustellen. Zu gleicher Zeit durchströmte eine eigentümliche Mischung von Wohlgerüchen das Zimmer, als wenn etwas Kognak aus Versehen in eine Lavendelwasserflasche oder etwas Lavendelwasser aus Versehen in eine Kognakflasche gekommen wäre.

»Ich bitte Mr. Dorrit tausendmal um Verzeihung, und es reicht dies kaum hin für eine solche Freiheit die wie ich wohl weiß für eine Dame außerordentlich kühn erscheinen muß namentlich wenn sie allein kommt aber ich hielt es im ganzen für das beste so schwer und anscheinend unpassend es auch ist obgleich Mr. Finchings Tante mich wohl gern begleitet hätte und als ein Charakter von großer Kraft und vielem Geist wahrscheinlich einen Mann interessiert hätte der eine so große Lebenskenntnis besitzt wie dies bei so vielen Veränderungen der Stellung nicht anders möglich ist, denn Mr. Finching sagte häufig daß obgleich er in der Nähe von Blackheath eine gute Erziehung für ein so bedeutendes Honorar wie achtzig Guineen erhalten welche Summe für Eltern keine Kleinigkeit da die Leute beim Abgang noch überdies das Silberzeug behielten was mehr eine Gemeinheit als daß es gerade sich um den Wert handelte so habe er doch in dem ersten Jahre als Handelsreisender mit einem Artikel von dem niemand habe hören und den noch viel weniger jemand habe kaufen wollen weit mehr gelernt als in den ganzen sechs Jahren auf jener Akademie die ein Junggeselle geleitet obgleich ich nicht einsehe und nie einsehen werde warum ein Junggeselle geschickter sein soll als ein verheirateter Mann aber bitte um Entschuldigung das ist’s nicht um was es sich handelt.«

Mr. Dorrit stand wie an den Boden genagelt, eine Statue der Mystifikation.

»Ich muß offen gestehen daß ich eigentlich kein Recht habe«, sagte Flora, »da ich die liebe Kleine kannte was unter veränderten Umständen gewissermaßen wie eine Anmaßung erscheint aber gewiß von meiner Seite keine solche sein soll und Gott weiß es war kein Geschenk eine halbe Krone für eine solche Näherin wie sie sondern ganz das Gegenteil und es ist auch gar nichts Erniedrigendes darin denn der Arbeiter ist seines Lohnes wert und wahrhaftig ich wünschte nur er bekäme ihn öfter und mehr Fleisch und weniger Rheumatismus im Rücken und den Beinen die armen Leute.«

»Madame«, sagte Mr. Dorrit, indem er mit großer Mühe zu Atem kam, als die Witwe des verstorbenen Mr. Finching innehielt, um selbst Atem zu schöpfen; »Madame«, sagte Mr. Dorrit, sehr rot im Gesicht, »wenn ich Sie recht verstehe, so sprechen Sie – ha – von etwas Vergangenem aus – hm – dem Leben einer meiner Töchter, was – ha, hm – mit einer täglichen Entschädigung in Verbindung steht, Madame. Ich bitte Sie zu bemerken, daß die – ha – Tatsache angenommen, daß – ha – es wirklich eine Tatsache ist, nie zu meiner Kenntnis kam. Ich würde es nicht gestattet haben. Ha! Nie, nie!«

»Wir brauchen den Gegenstand nicht weiter zu verfolgen«, versetzte Flora, »und ich würde ihn auch gar nicht erwähnt haben wenn ich es nicht für den einzigen günstigen Empfehlungsbrief gehalten aber daß es Tatsache ist daran kann nicht gezweifelt werden und Sie mögen sich darüber beruhigen denn das Kleid das ich trage kann es beweisen das ist sehr schön gemacht obgleich nicht zu leugnen daß es einer besser gewachsenen Person besser stünde denn ich bin viel zu stark obgleich ich nicht weiß wie ich’s verhindern soll bitte entschuldigen Sie ich schweife wieder ab.«

Mr. Dorrit trat ganz statuenhaft an seinen Stuhl und setzte sich, während Flora ihm einen besänftigenden Blick zuwarf und mit ihrem Sonnenschirm spielte.

»Die liebe Kleine«, sagte Flora, »wurde plötzlich ganz matt und weiß und kalt in meinem Hause oder wenigstens Papas Hause denn wenn es auch noch nicht unser Eigentum so haben wir doch einen langen Pacht für einen Pfifferling an dem Morgen als Arthur – törichte Gewohnheit aus unsrer Jugendzeit und Mr. Clennam weit passender für die gegenwärtigen Verhältnisse namentlich einem Fremden gegenüber der noch überdies ein Mann von hoher Stellung ist – die frohe Nachricht brachte die er von einem Mann namens Pancks hatte das macht mich so kühn.«

Bei der Erwähnung dieser beiden Namen zog Mr. Dorrit die Brauen zusammen, starrte die Dame an, zog die Brauen wieder zusammen, besann sich mit den Fingern an den Lippen, wie er es vor langer Zeit gemacht hatte, und sagte: »Haben Sie die Gefälligkeit, mir – ha – zu sagen, was Sie wünschen, Madame.«

»Mr. Dorrit«, sagte Flora, »Sie sind sehr freundlich daß Sie mir diese Erlaubnis geben und es erscheint mir sehr natürlich daß Sie so gütig sind denn obgleich Sie stattlicher sind gewahre ich doch eine Ähnlichkeit natürlich voller aber doch eine Ähnlichkeit der Zweck meines Herkommens ist meine Sache ich habe kein menschliches Wesen zu Rate gezogen namentlich nicht Arthur – bitte entschuldigen Sie Doyce und Clennam ich weiß nicht was ich sage Mr. Clennam allein – denn diesen Mann der mit einer goldenen Kette an eine purpurne Zeit gefesselt ist wo alles ätherisch war von einer Sorge zu befreien wäre für mich das Lösegeld eines Königs wert obgleich ich nicht die geringste Idee habe wie hoch sich das belaufen würde aber ich meine damit die Totalsumme von allem was ich auf der Welt besitze und noch mehr.«

Mr. Dorrit, ohne den Ernst dieser letzten Worte besonders zu beachten, wiederholte: »Bitte, was wünschen Sie, Madame?«

»Es ist nicht wahrscheinlich das weiß ich wohl«, sagte Flora, »aber es ist möglich und da es möglich so entschloß ich mich als ich in den Zeitungen Ihre Ankunft aus Italien und Ihre Rückkehr dahin las zu sehen ob ich Sie nicht veranlassen könnte ihm entgegenzukommen oder etwas von ihm zu hören und wenn das der Fall was wäre das für alle ein Glück und eine Beruhigung.«

»Erlauben Sie mir zu fragen, Madame«, sagte Mr. Dorrit, während seine Ideen sich verwirrten, »auf wen – ha – auf wen«, wiederholte er mit gehobener Stimme in seiner Verzweiflung, »auf wen Sie anspielen?«

»Auf den Fremden aus Italien der in der City verschwunden ist wie Sie ohne Zweifel so gut wie ich in den Zeitungen gelesen haben werden«, sagte Flora, »abgesehen von Privatquellen wie Mr. Pancks aus welchen man erfährt was für schrecklich bösartige Dinge manche Leute schlecht genug sind sich zuzuflüstern da sie wahrscheinlich andere nach sich beurteilen und wie ärgerlich und entrüstet Arthur – kann nicht anders Doyce und Clennam – darüber sein muß.«

Zum Glück für die Aufklärung der Sache hatte Mr. Dorrit nichts von der Sache gehört noch gelesen. Dies veranlaßte Mrs. Finching mit vielen Entschuldigungen wegen der Schwierigkeit unter den Falten ihres Kleides den Weg in ihre Tasche zu finden, endlich eine polizeiliche Bekanntmachung hervorzuholen, die besagte, daß ein fremder Herr namens Blandois, der kürzlich aus Venedig angelangt sei, auf unerklärliche Weise an dem und dem Abend in dem und dem Teil der City von London verschwunden sei; daß man wisse, er sei in das und das Haus zu der und der Stunde gegangen; daß die Bewohner jenes Hauses angegeben, er habe es so und so viele Minuten vor Mitternacht verlassen, und daß man ihn seit dieser Zeit nicht mehr gesehen habe. Dies mit genauen Angaben über Zeit und Örtlichkeit und mit einer detaillierten Beschreibung des so geheimnisvoll verschwundenen Mannes las Mr. Dorrit ein langes und breites.

»Blandois!« sagte Mr. Dorrit. »Venedig! Und diese Beschreibung! Ich kenne diesen Herrn. Er war in meinem Hause. Er ist sehr befreundet mit einem Gentleman von guter Familie (obwohl selbst nicht in den besten Umständen), dessen – ha – Gönner ich bin.«

»Dann ist es um so mehr meine dringende Bitte«, sagte Flora, »daß Sie auf der Rückreise die Freundlichkeit haben sich nach diesem fremden Herrn auf allen Straßen und an allen Ecken umzusehen und sich in allen Hotels bei allen Orangenbäumen Weinbergen und Vulkanen kurz an allen Orten zu erkundigen denn er muß irgendwo sein und warum kommt er nicht und sagt daß er da sei und klärt alles auf?«

»Bitte, Madame«, sagte Mr. Dorrit mit Bezugnahme auf die Bekanntmachung, »wer ist Clennam und Komp.? Ich sehe den Namen hier in Verbindung mit dem Hause erwähnt, in das man Monsieur Blandois gehen sah; wer ist Clennam und Komp.? Ist es jener Mann, mit dem ich früher – hm – eine – ha – vorübergehende Bekanntschaft hatte, und dessen Sie, wie ich glaube, Erwähnung taten? Ist es jener – ha – Mann?«

»Eine ganz andere Person«, versetzte Flora, »ohne Beine wofür sie Räder hat und die mürrischste Frau obgleich seine Mutter.«

»Clennam und Komp. eine – hm – Mutter?« rief Mr. Dorrit.

»Und außerdem ein alter Mann«, sagte Flora.

Mr. Dorrit sah aus, als wenn ihn diese Mitteilung sogleich von Sinnen bringen müßte. Auch wirkte es nicht wohltätiger auf seine Gesundheit, daß Flora eine rasche Analyse von Mr. Flintwinchs Kravatte gab und ihn, ohne die geringste Grenzlinie zwischen seiner und Mrs. Clennams Person zu ziehen, als eine rostige Schraube in Gamaschen beschrieb. Diese Zusammensetzung von Mann und Frau, keinen Beinen, Rädern, rostiger Schraube, mürrischem Wesen und Gamaschen verblüffte Mr. Dorrit so vollständig, daß er einen bemitleidenswerten Anblick bot.

»Aber ich möchte Sie nicht einen Augenblick länger aufhalten«, sagte Flora, auf welche dieser Anblick die entsprechende Wirkung gemacht hatte, »wenn Sie die Güte haben wollten, mir Ihr Versprechen als Gentleman zu geben daß Sie sowohl auf Ihrer Rückreise nach Italien als in Italien selbst sich nach diesem Herrn Blandois unten und oben umsehen und wenn Sie ihn finden oder von ihm hören ihn veranlassen daß er sich zeige und alles aufkläre.«

Inzwischen hatte sich Mr. Dorrit so weit von seiner Verwirrung erholt, daß er in ziemlich zusammenhängender Weise zu erklären imstande war, er werde dies als seine Pflicht betrachten. Flora war entzückt von ihrem Erfolg und stand auf, um sich zu verabschieden.

»Tausend Dank«, sagte sie, »und hier meine Adresse auf meiner Karte im Falle mir eine persönliche Mitteilung zu machen wäre ich will meinen Gruß nicht der lieben Kleinen senden denn es würde sich vielleicht nicht schicken und es existiert ja auch eigentlich keine Kleine mehr nachdem sich alles so sehr verändert also hat es auch keinen Grund aber ich und Mr. Finchings Tante wünschen ihr immer das beste Wohlergehen und gründen keine Ansprüche auf Dienste von unserer Seite Sie können dessen versichert sein im Gegenteil denn was sie unternahm das führte sie aus und das ist mehr als viele von uns tun abgesehen davon daß sie was sie tat so gut machte als es nur irgend möglich war und ich selbst bin eine von jenen denn seitdem ich mich von dem Schlage des Todes von Mr. Finching zu erholen begann sagte ich immer ich wolle die Orgel lernen für die ich außerordentlich eingenommen bin aber ich muß mich schämen zu bekennen daß ich noch nicht eine Note kenne guten Abend!«

Als Mr. Dorrit, der sie bis zur Zimmertür begleitete, etwas Zeit gefunden sich zu sammeln, fand er, daß die Unterhaltung längst vergessene Erinnerungen in ihm wachgerufen hatte, die sich nicht mit Mr. Merdles Diner vertrugen. Er schrieb ein kurzes Billet, um sich für heute zu entschuldigen, und befahl, daß das Diner augenblicklich in seinem eigenen Zimmer im Hotel serviert werde. Er hatte noch einen andern Grund dafür. Seine Zeit in London war nahezu zu Ende und im voraus vollauf in Anspruch genommen; sein Plan für die Rückreise war entworfen; und er glaubte, es seiner hohen Stellung schuldig zu sein, über das Verschwinden Blandois‘ nähere Nachforschungen anzustellen, um in der Lage zu sein, Mr. Henry Gowan das Resultat seiner persönlichen Erkundigungen mitteilen zu können. Er beschloß deshalb, diesen freien Abend zu benützen, um zu Clennam und Komp. zu gehen, welche Firma sich nach den Angaben in der Bekanntmachung leicht finden ließ, und sich den Platz anzusehen und selbst einige Erkundigungen einzuziehen.

Nachdem er so einfach gegessen, als das Hotel und der Kurier es gestatteten, und einen kurzen Schlaf an dem Kamin gemacht, um sich von Mrs. Finching zu erholen, fuhr er allein in einem Mietwagen aus. Die dumpfe Glocke von St. Paul schlug neun, als er unter dem Schatten des Tempeltors vorüberkam, das in diesen entarteten Zeiten keinen Kopf eines Enthaupteten zeigte und verlassen dastand.

Als er durch die Nebenstraßen und Gassen am Wasser dem Ziele seiner Fahrt sich näherte, erschien ihm dieser Teil von London häßlicher, als er sich ihn jemals gedacht hatte. Viele Jahre waren verflossen, seit er ihn gesehen; er hatte sich niemals hier viel umgetrieben; und das Ganze machte einen geheimnisvollen und traurigen Eindruck auf ihn. So mächtig wirkte es auf seine Phantasie, daß, als der Kutscher hielt, nachdem er sich mehr denn einmal nach dem Wege erkundigt, und sagte, dies scheine ihm der fragliche Torweg zu sein, Mr. Dorrit zögernd, mit dem Kutschenschlag in der Hand, und beinahe erschrocken über den finstern Anblick des Ortes, dastand.

Sicherlich sah er an jenem Abend so düster aus wie nur je. Zwei von den Bekanntmachungen waren an der Mauer angeklebt, eine auf jeder Seite des Eingangs, und wenn die Laterne in dem Nachtwind sich bewegte, glitten Schatten drüber hin, nicht unähnlich den Schatten von Fingern, die über die Zeilen hinliefen. Offenbar wurde der Ort beobachtet; denn als Mr. Dorrit stehenblieb, ging ein Mann von der andern Seite der Straße an ihm vorüber in den Hof, und ein anderer kam aus einem dunklen Winkel drinnen hervor; und beide sahen ihn im Vorübergehen an, und beide blieben in der Nähe stehen.

Da sich nur ein Haus innerhalb der Ringmauer befand, so konnte kein Zweifel möglich sein; er ging daher die Stufen dieses Hauses hinauf und klopfte. Ein schwaches Licht bemerkte man in zwei Fenstern des ersten Stockes. Die Tür gab einen traurigen hohlen Schall von sich, als wenn das ganze Haus leer wäre; aber das war nicht der Fall, denn beinahe im selben Augenblick sah man ein Licht und hörte Schritte. Sie kamen näher, eine Kette klirrte, und, eine Frau, die Schürze über Gesicht und Kopf gezogen, stand in der Öffnung.

»Wer ist da?« sagte die Frau.

Mr. Dorrit, sehr erstaunt über diese Erscheinung, antwortete, er sei aus Italien und wünsche einige Erkundigungen über die Person einzuziehen, die vermißt werde und die er kenne.

»Hi!« rief die Frau, ihre gebrochene Stimme erhebend. »Jeremiah!«

Auf diesen Ruf erschien ein vertrockneter alter Mann, in dem Mr. Dorrit durch die Gamaschen die rostige Schraube zu erkennen glaubte. Die Frau fürchtete sich vor diesem vertrockneten alten Mann, denn sie zog die Schürze weg, als er sich näherte, und zeigte ein blasses, erschrockenes Gesicht. »Öffne die Tür, du Närrin«, sagte der alte Mann, »und lasse den Herrn herein.«

Mr. Dorrit trat, nachdem er noch nach seinem Kutscher und Kabriolett zurückgesehen, in die dunkle Halle. »Nun, Sir«, sagte Mr. Flintwinch, »können Sie alles fragen, was Ihnen beliebt; es gibt hier keine Geheimnisse, Sir.«

Ehe man Zeit zu einer Antwort hatte, rief eine starke strenge Stimme, obgleich eine Frauenstimme, von oben herab: »Wer ist da?«

»Wer da ist?« antwortete Jeremiah. »Noch mehr Erkundigungen. Ein Herr aus Italien.«

»Bringen Sie ihn herauf.«

Mr. Flintwinch murmelte vor sich hin, als wenn er das für unnötig halte; aber zu Mr. Dorrit gewandt setzte er hinzu: »Mrs. Clennam. Sie tut immer, was ihr beliebt. Ich will Ihnen den Weg zeigen.« Er ging dann Mr. Dorrit die dunkle Treppe voran: dieser, der natürlich sich auf dem Weg umsah, erblickte die Frau hinter sich, die Schürze wieder in ihrer früheren geisterhaften Weise über den Kopf geworfen.

Mrs. Clennam hatte ihre Bücher offen auf ihrem kleinen Tisch vor sich liegen. »Oh!« sagte sie kurz, während sie den Fremden mit festem Blick ins Auge faßte. »Sie sind aus Italien, Sir, nicht wahr. Hm?«

Mr. Dorrit wußte im Augenblick keine passendere Antwort zu geben als: »Ha – hm?«

»Wo ist der Vermißte? Können Sie uns Mitteilungen über seinen Aufenthalt machen? Ich hoffe, Sie können es.«

»Weit entfernt davon, suche ich – hm – vielmehr hier Auskunft über ihn.«

»Unglücklicherweise können wir Ihnen keine geben. Flintwinch, zeigen Sie dem Herrn die Bekanntmachung. Geben Sie ihm mehrere Exemplare zum Mitnehmen. Halten Sie dem Herrn das Licht, damit er besser lesen kann.«

Mr. Flintwinch tat, wie ihm befohlen ward, und Mr. Dorrit las die Bekanntmachung, als wenn er sie zum ersten Male in die Hand bekäme, wahrhaft froh, sich auf diese Weise etwas sammeln zu können, da das Aussehen des Hauses und der Bewohner desselben ihn etwas außer Fassung gebracht hatten. Während seine Augen auf dem Papier verweilten, fühlte er, daß die Augen von Mr. Flintwinch und Mrs. Clennam auf ihm ruhten. Er fand, als er aufblickte, daß dies Gefühl keine Einbildung gewesen war.

»Nun wissen Sie so viel wie wir, Sir«, sagte Mrs. Clennam. »Ist Mr. Blandois ein Freund von Ihnen?«

»Nein, ein – hm – Bekannter«, antwortete Mr. Dorrit.

»Haben Sie vielleicht einen Auftrag von ihm?«

»Ich? Ha. Gewiß nicht.«

Der forschende Blick senkte sich nach und nach zu Boden, nachdem er unterwegs auch Flintwinchs Gesicht mitgenommen. Mr. Dorrit, etwas verwirrt, da er sah, daß er der Befragte statt der Frager war, suchte diese unerwartete Ordnung der Dinge umzukehren.

»Ich bin – ha –- ein Mann von Vermögen und wohne gegenwärtig mit meiner Familie, meinen Dienern und – hm – einem ziemlich großen Haushalt in Italien. Da ich mich für kurze Zeit Angelegenheiten wegen, die mit meinen – ha – Besitzungen in Verbindung stehen, in London aufhalte und von diesem seltsamen Verschwinden höre, so wünschte ich mich über die näheren Umstände aus erster Hand zu unterrichten, da ein – ha, hm – englischer Gentleman in Italien ist, den ich zweifelsohne bei meiner Rückkehr sehen werde und der in sehr vertrautem und täglichem Verkehr mit Monsieur Blandois stand. Mr. Henry Gowan. Sie kennen wohl den Namen?«

»Habe nie von ihm gehört.«

Mrs. Clennam sagte es, und Mr. Flintwinch war ihr Echo.

»Da ich ihm – ha – einen zusammenhängenden und genauen Bericht abstatten möchte«, sagte Mr. Dorrit, »so darf ich mir – wohl drei Fragen erlauben?«

»Dreißig, wenn Sie wollen.«

»Kannten Sie Monsieur Blandois schon lange?«

»Kein Jahr. Mr. Flintwinch wird in den Büchern nachsehen und Ihnen sagen, wann und von wem in Paris er an uns empfohlen wurde; wenn dies«, fügte Mrs. Clennam hinzu, »Ihnen zur Beruhigung dienen sollte. Uns ist es eine geringe Beruhigung.«

»Haben Sie ihn oft gesehen?«

»Nein. Zweimal. Einmal früher und –«

»Das eine Mal«, half Mr. Flintwinch nach.

»Und dies eine Mal.«

»Bitte, Madame«, sagte Mr. Dorrit, der nach und nach, als er seine Wichtigkeit wieder zu fühlen begann, zu dem Gedanken kam, er sei in einer höheren Weise Friedensrichter; »bitte, Madame, darf ich, zur größeren Beruhigung des Herrn, den ich – ha – die Ehre haben zu beschäftigen oder zu protegieren oder, wir wollen sagen – hm – zu kennen – zu kennen – mir die Frage erlauben, war Monsieur Blandois an dem in diesem gedruckten Zettel angegebenen Abend hier in Geschäften?«

»Was er Geschäfte nannte«, versetzte Mrs. Clennam.

»Sind sie – ha – ich bitte um Entschuldigung, der Art, daß sie mitgeteilt werden können?«

»Nein.«

Es war offenbar unmöglich, über die Barriere dieser Antwort hinwegzukommen.

»Diese Frage ist schon früher gestellt worden«, sagte Mrs. Clennam, »und die Antwort lautete nein. Wir lieben es nicht, unsere Geschäfte, so unbedeutend sie auch sind, der ganzen Stadt mitzuteilen. Wir sagen nein«.

»Ich meine, zum Beispiel, er nahm kein Geld mit sich?« sagte Mr. Dorrit.

»Er hat keins von uns mitgenommen, Sir, und auch keins von uns erhalten.«

»Ich vermute«, bemerkte Mr. Dorrit, von Mrs. Clennam zu Mr. Flintwinch hinüberblickend und umgekehrt, »Sie können sich selbst dieses Geheimnis nicht erklären.«

»Weshalb vermuten Sie das?« versetzte Mrs. Clennam.

Außer Fassung gebracht durch die kalte und harte Frage, war Mr. Dorrit nicht imstande, irgendeinen Grund für seine Vermutung anzugeben.

»Ich erkläre es mir so, Sir«, fuhr sie fort, nach einer unbeholfenen Pause von Mr. Dorrits Seite, »daß er ohne Zweifel irgendwo reist oder sich irgendwo versteckt hält.«

»Wissen Sie etwa – ha – weshalb er Grund hat, sich zu verstecken?«

»Nein.«

Es war genau dasselbe Nein wie zuvor, wodurch eine neue Barriere aufgestellt war.

»Sie frugen mich, ob ich mir sein Verschwinden erkläre«, erinnerte ihn Mrs. Clennam streng, »nicht ob ich es Ihnen erklären könne. Ich möchte mir nicht anmaßen, es Ihnen zu erklären, Sir. Ich meine, daß dies ebensowenig meine Sache ist, wie eine Erklärung zu verlangen, die Ihre.«

Mr. Dorrit antwortete mit einer um Entschuldigung bittenden Verbeugung. Als er zurücktrat, was besagen wollte, er habe nichts mehr zu fragen, konnte er nicht umhin zu bemerken, wie düster und fest die Augen zu Boden gerichtet sie dasaß, mit einem Ausdruck auf ihrem Gesicht, der darauf deutete, daß sie ruhig warte, und wie derselbe Ausdruck sich von Mr. Flintwinchs Gesicht widerspiegelte, der in einiger Entfernung von ihrem Stuhl, die Augen gleichfalls zu Boden gerichtet und mit der rechten Hand sanft das Kinn reibend, dastand.

In diesem Augenblick ließ Mrs. Affery (natürlich die Frau mit der Schürze über dem Kopf) den Leuchter fallen, den sie in der Hand hielt, und rief: »Da! O, guter Gott! Da ist es wieder! Horch, Jeremiah! Jetzt!«

Wenn auch wirklich ein Geräusch vorhanden war, so war es jedenfalls so leise, daß sie es nur bei ihrer zur Manie gewordenen Gewohnheit, immerfort zu lauschen, hören konnte; aber Mr. Dorrit glaubte ebenfalls etwas zu hören wie das Niederfallen dürrer Blätter. Der Schrecken der Frau schien für einen kurzen Augenblick die andern anzustecken, und sie lauschten alle.

Mr. Flintwinch war der erste, der sich wieder faßte. »Affery, arme Frau«, sagte er, indem er mit geballten Fäusten auf sie zu wackelte, während seine Ellbogen vor Begierde, sie zu schütteln, zitterten: »Du machst wieder deine alten Streiche. Du wirst nächstens wieder im Schlafe wandeln, Weib, und die ganze Reihe deiner verrückten Gaukelei durchmachen. Du mußt einnehmen. Wenn ich diesem Herrn das Geleit gegeben habe, werde ich dir ein angenehmes Pulver geben; ein ganz angenehmes Pulver.«

Diese Aussicht schien Mrs. Affery nichts weniger als angenehm zu sein; Jeremiah aber nahm, ohne weiter von seiner heilsamen Medizin zu sprechen, ein zweites Licht von Mrs. Clennams Tisch und sagte: »Nun, mein Herr, soll ich Ihnen hinableuchten?«

Mr. Dorrit sagte, daß er ihm dankbar dafür sein werde, und ging hinab. Mr. Flintwinch schloß ihn durch Tür und Kette hinaus, ohne einen Augenblick Zeit zu verlieren. Wiederum gingen die beiden Männer an ihm vorüber, indem der eine von draußen, der andre von drinnen kam; nachdem er in den Wagen gestiegen, der auf ihn gewartet hatte, fuhr er fort.

Ehe er weit gefahren war, hielt der Kutscher an, um ihm mitzuteilen, daß er auf ihr gemeinschaftliches Verlangen den beiden Männern seinen Namen, seine Nummer und seine Adresse gegeben habe; auch die Adresse, wo Mr. Dorrit eingestiegen, die Stunde, wo man ihn von seinem Standort abgeholt, und den Weg, den er gemacht habe.

Dies trug gerade nicht dazu bei, den Eindruck, den dieses nächtliche Abenteuer auf Mr. Dorrit gemacht, abzuschwächen; die ganze Szene stand ihm lebhaft vor Augen, als er vor seinem Kamin saß und als er zu Bett ging. Die ganze Nacht verließ ihn das Bild des unheimlichen Hauses nicht; er sah, wie die beiden Männer unverdrossen warteten, hörte, wie die Frau mit der Schürze über dem Kopf wegen des Geräusches schrie, und erblickte die Leiche des vermißten Blandois bald in einem Keller begraben, bald in einer Wand vermauert.

Achtzehntes Kapitel.


Achtzehntes Kapitel.

Ein Luftschloß.

Mannigfach sind die Sorgen des Reichtums und Glanzes. Mr. Dorrits Zufriedenheit bei dem Gedanken, daß er sich habe bei Clennam und Komp. nicht zu nennen brauchen und ebensowenig auf die Bekanntschaft mit einer zudringlichen Person dieses Namens hatte anspielen müssen, wurde am Abend, selbst während sie noch frisch war, von einem Kampf getrübt, der in ihm erwachte, ob er nämlich auf dem Rückweg an dem Marschallgefängnis vorbeifahren und sich das alte Tor ansehen sollte oder nicht. Er entschied, es nicht zu tun, und setzte den Kutscher durch seine Heftigkeit in Erstaunen, mit der er seinen Vorschlag zurückwies, über die Londonbrücke und dann auf die Waterloobrücke zurück über den Fluß zu fahren, – ein Weg, der ihn ganz in die Nähe seiner alten Wohnung gebracht hätte. Trotz alledem hatte die Frage einen Konflikt in seinem Innern hervorgerufen, und er war aus irgendeinem schlechten oder gar keinem Grunde unzufrieden mit sich. Selbst bei Tisch am andern Tage in Merdles Hause war er dadurch so verstimmt, daß er beständig wieder die Sache in seinem Innern hin und her wog, was ein Benehmen zur Folge hatte, das die gute Gesellschaft um ihn her verlegen machen mußte. Es überlief ihn heiß, wenn er daran dachte, was wohl die Meinung des Oberhaushofmeisters von ihm sein würde, wenn diese erlauchte Person mit ihrem lästigen Blick den Strom seiner Gedanken ermessen könnte.

Das Abschiedsbankett war prachtvoll und bildete einen höchst glänzenden Schluß seines Besuches. Fanny verband mit den Reizen ihrer Jugend und Schönheit ein gewisses gewichtiges Selbstbewußtsein, als wenn sie schon zwanzig Jahre verheiratet wäre. Er fühlte, daß er es ihr mit ruhigem Gefühl überlassen könne, die Pfade der vornehmen Welt zu betreten, und wünschte – aber ohne Verminderung seines Wohlwollens und ohne Vorurteil gegen die stilleren Tugenden seines Lieblings –, daß er noch eine solche Tochter hätte.

»Meine Liebe«, sagte er beim Scheiden zu ihr, »unsere Familie blickt auf dich – ha –, daß du ihre Würde und – hm – Bedeutung aufrechterhaltest. Ich weiß, du wirst diese Erwartung nie täuschen.«

»Nein, Papa«, sagte Fanny, »darauf darfst du vertrauen. Meine besten Grüße der lieben, lieben Amy, ich werde ihr bald schreiben.« »Soll ich – ha – sonst noch jemandem etwas ausrichten?« fragte Mr. Dorrit mit einschmeichelndem Ton.

»Papa«, sagte Fanny, vor der Mrs. General augenblicklich auftauchte, »nein, ich danke Ihnen. Sie sind sehr freundlich, Papa, aber ich muß um Entschuldigung bitten: ich habe niemandem etwas sagen zu lassen, ich danke Ihnen, lieber Papa, nichts, was Ihnen angenehm sein würde.«

Sie nahmen in einem äußern Salon voneinander Abschied, wo nur Mr. Sparkler auf seine Frau wartete und pflichtschuldig des Zeitpunktes harrte, wo er Mr. Dorrit die Hand schütteln konnte. Als Mr. Sparkler zu dieser Schlußaudienz zugelassen war, kam Mr. Merdle hereingeschlichen und machte den Eindruck, als wenn er nicht viel mehr Arme in seinen Ärmeln hätte denn ein Zwillingsbruder von Miß Biffin, und bestand darauf, Mr. Dorrit die Treppe hinabzugeleiten. Da alle Protestationen Mr. Dorrits vergeblich waren, genoß er die Ehre, von diesem ausgezeichneten Mann, der (wie Mr. Dorrit ihm unter Händeschütteln auf der Treppe sagte) ihn wirklich während seines unvergeßlichen Besuchs mit Aufmerksamkeiten und Diensten überhäuft hatte, bis an die Haustür begleitet zu werden. Hier schieden sie, und Mr. Dorrit stieg mit schwellendem Herzen in den Wagen, durchaus nicht unzufrieden, daß sein Kurier, der in den untern Regionen Abschied zu nehmen gekommen war, Gelegenheit erhalten hatte, Zeuge seiner ehrenvollen Abreise zu sein.

Die erwähnte Ehre ergoß noch ihren ganzen Glanz auf Mr. Dorrit, als er vor seinem Hotel abstieg. Von dem Kurier und einem halben Dutzend Bedienten des Hotels aus dem Wagen gehoben, ging er mit heiterem Gepränge durch die Vorhalle, als er ein Schauspiel erblickte, das ihn stumm und bewegungslos machte. John Chivery, in seinen besten Kleidern, mit seinem hohen Hut unter dem Arme, seinen Stock mit der Elfenbeinhand in gentiler Verlegenheit festhaltend und ein Bündel Zigarren in der Hand.

»Sehen Sie, junger Mann«, sagte der Portier. »Das ist der Herr. Dieser junge Mann wollte durchaus auf Sie warten, Sir, indem er behauptete, Sie würden sich freuen, ihn zu sehen.«

Mr. Dorrit stierte den jungen Mann an, würgte und sagte im mildesten Tone: »Ach! Der junge John! Sie sind es, mein lieber John, nicht wahr?«

»Ja, Sir«, versetzte der junge John.

»Ich – ha – dachte es doch, der junge John werde es sein!« sagte Mr. Dorrit. »Der junge Mann kann mit mir heraufkommen«, fuhr er, an die Dienerschaft gewandt, fort, indem er weiterging. »O ja, er soll nur heraufkommen. Der junge John soll mir folgen. Ich will oben mit ihm sprechen.«

Der junge John folgte lächelnd und sehr geschmeichelt. Man hatte Mr. Dorrits Zimmer erreicht. Lichter wurden angesteckt. Die Dienerschaft entfernte sich.

»Nun, Sir«, sagte Mr. Dorrit, indem er sich nach ihm umwandte und ihn am Rockkragen faßte, als sie ganz allein wahren. »Was soll das heißen?«

Das Erstaunen und der Schrecken, die sich auf dem Gesicht des unglücklichen John malten – denn er hatte eher erwartet, umarmt zu werden –, waren von so ungemein ausdrucksvoller Art, daß Mr. Dorrit seine Hand zurückzog und ihn bloß anstierte.

»Wie können Sie das wagen?« sagte Mr. Dorrit. »Wie können Sie sich herausnehmen, hierherzukommen? Wie wagen Sie es, mich zu beleidigen?«

»Ich Sie beleidigen, Sir?« rief der junge John. »Oh!«

»Ja, Sir«, versetzte Mr. Dorrit, »mich beleidigen. Ihr Hierherkommen ist eine Beleidigung, eine Impertinenz, eine Frechheit. Man hat Sie hier nicht verlangt. Wer schickte Sie? Was – ha – zum Teufel haben Sie hier zu tun?«

»Ich dachte, Sir«, sagte der junge John mit so blassem und erschrockenem Gesicht, als Mr. Dorrit je nur eines in seinem Leben gesehen, »ich dachte, Sie würden wohl die Güte haben, dieses Päckchen Zigarren anzunehmen.«

»Verdammt sei Ihr Päckchen, Sir!« rief Mr. Dorrit in nicht zu bezähmender Wut. »Ich – hm – rauche nicht!«

»Ich bitte Sie demütig um Verzeihung, Sir. Sie rauchten früher.«

»Sagen Sie mir das noch einmal«, rief Mr. Dorrit ganz außer sich, »und ich lasse Sie das Schüreisen fühlen.«

John Chivery trat den Rückzug nach der Tür an.

»Halt, Sir!« rief Mr. Dorrit. »Halt! Setzen Sie sich. Still, setzen Sie sich!«

John Chivery sank auf den neben der Tür stehenden Stuhl, und Mr. Dorrit ging im Zimmer auf und nieder: anfangs rasch; dann immer langsamer. Einmal trat er ans Fenster und stand dort mit der Stirn an der Scheibe. Plötzlich drehte er sich um und sagte:

»Was wollten Sie sonst noch hier?«

»Nichts in der Welt sonst, Sir. O Gott, wahrhaftig nicht. Ich wollte nur sagen, Sir, ich hoffe, daß Sie sich wohl befinden, und fragen, ob Miß Amy wohl ist?«

»Was geht das Sie an, Sir?« versetzte Mr. Dorrit.

»Es geht mich freilich von Rechts wegen nichts an. Ich will durchaus die Kluft, die zwischen uns ist, nicht ausfüllen. Ich weiß, daß ich mir etwas herausnehme, aber ich dachte nicht, daß Sie es so übel aufnehmen würden. Auf mein Ehrenwort, Sir«, sagte der junge John bewegt, »trotz meiner Armut bin ich zu stolz, als daß ich hierhergekommen wäre, wenn ich dies gewußt, das versichere ich Ihnen.«

Mr. Dorrit war beschämt. Er ging wieder an das Fenster und lehnte seine Stirn einige Zeit an die Scheibe. Als er sich umwandte, hatte er sein Taschentuch in seiner Hand und trocknete sich die Augen damit und sah angegriffen und unwohl aus. »Mein lieber John, ich bedaure, heftig gegen Sie gewesen zu sein, aber – ha – aber es gibt Erinnerungen, die nicht gerade zu den glücklichen zählen, und – hm – Sie hätten nicht kommen sollen.«

»Ich fühle das jetzt, Sir«, erwiderte John Chivery; »aber ich habe es nicht früher überlegt, und der Himmel weiß, ich habe es nicht böse gemeint, Sir.«

»Nein. Nein«, sagte Mr. Dorrit. »Ich – ha – bin davon überzeugt. Ha. Geben Sie mir die Hand, mein lieber John, geben Sie mir die Hand.«

Der junge John gab sie; aber Mr. Dorrit hatte ihm das Herz herausgeschreckt, und nichts konnte mehr den bleichen, entsetzten Ausdruck seines Gesichts ändern.

»So!« sagte Mr. Dorrit, ihm langsam die Hand schüttelnd. »Setzen Sie sich wieder, mein junger John.«

»Ich danke Ihnen, Sir, – aber ich möchte lieber stehen.«

Mr. Dorrit setzte sich statt dessen. Nachdem er seinen Kopf einen Augenblick, als wenn er ihn schmerzte, gehalten, wandte er sich an seinen Besuch und sagte, indem er sich Mühe gab, unbefangen zu erscheinen:

»Und wie geht es Ihrem Vater, lieber John? Wie – ha – geht es ihnen allen, lieber John?«

»Danke Ihnen, Sir. Sie befinden sich alle ziemlich wohl. Sie klagen über nichts.«

»Hm. Sie sind – hm –, wie ich sehe, noch in Ihrem alten Geschäft, John?« sagte Mr. Dorrit mit einem Blick auf das beleidigende Päckchen, das er verwünscht hatte.

»Zum Teil, Sir. Ich bin auch«, John zögerte ein wenig, »in meines Vaters Geschäft.«

»O, so!« sagt« Mr. Dorrit. »Sie – ha, hm – helfen ihm beim – ha –«

»Schließen, Sir? Ja, Sir.«

»Viel zu tun, John?«

»Ja, Sir; wir haben gegenwärtig ziemlich anstrengenden Dienst. Ich weiß nicht, wie es kommt, aber wir haben meistens ziemlich anstrengenden Dienst.«

»Um diese Jahreszeit, lieber John?«

»Beinahe zu allen Zeiten des Jahres, Sir. Ich wüßte nicht, daß die Zeit großen Unterschied bei uns machte. Ich wünsche Ihnen gute Nacht, Sir.«

»Bleiben Sie einen Augenblick, John, – ha – bleiben Sie einen Augenblick. Hm. Lassen Sie mir die Zigarren, John, ich – ha – bitte.«

»Gern, Sir.« John legte sie mit zitternder Hand auf den Tisch.

»Bleiben Sie noch einen Augenblick, lieber John: bleiben Sie noch einen Augenblick. Es würde mir – ha – sehr angenehm sein, eine kleine – hm – Ehrengabe einem so sichern Boten zu übergeben, damit es – ha – hm – unter sie – sie – nach ihrem Bedürfnisse verteilt werde. Hätten Sie etwas dagegen?«

»Durchaus nicht, Sir. Gar viele, bin ich überzeugt, können es gut brauchen.«

»Ich danke Ihnen, John. Ich – ha – will es aufschreiben, John.«

Seine Hand zitterte so, daß er lange dazu brauchte und zuletzt die Anweisung nur ein unleserliches Gekritzel war. Sie betrug hundert Pfund. Er legte sie zusammen, übergab sie dem jungen John und drückte ihm die Hand.

»Ich hoffe. Sie werden – ha – vergessen – hm –, was geschehen ist, John.«

»Sprechen Sie doch nicht mehr davon, Sir. Ich hege durchaus keinen Groll.«

Aber nichts konnte, solange er hier war, Johns Gesicht seine natürliche Farbe und seinen gewöhnlichen Ausdruck wiedergeben oder John seine alle Ungezwungenheit verleihen.

»Und, John«, sagte Mr. Dorrit, indem er ihm die Hand noch einmal drückte und sie dann losließ, »ich hoffe – ha –, wir verstehen uns, daß wir im Vertrauen gesprochen haben; und daß Sie beim Weggehen unterlassen, irgend etwas zu jemand zu sagen, was – hm – auf die Vermutung führen könnte, daß – ha – ich einmal –«

»O, ich versichere Sie, Sir«, versetzte John Chivery, »ich bin trotz meiner Armut zu stolz und zu ehrenhaft, um so etwas zu tun.«

Mr. Dorrit war nicht zu stolz und zu ehrenhaft, an der Tür zu horchen, um sich zu versichern, ob John wirklich geradewegs fortgehe oder vorziehe, unten mit irgend jemandem ein Gespräch anzuknüpfen. Es ließ sich nicht bezweifeln, daß er geradeswegs zur Tür hinaus und raschen Schrittes die Straße hinabging. Nachdem er eine Stunde lang allein geblieben, läutete Mr. Dorrit dem Kurier, der ihn mit dem Stuhl an dem Kamin, den Rücken nach der Tür und das Gesicht dem Feuer zugekehrt, fand. »Sie können dies Bündel Zigarren nehmen und auf der Reise rauchen, wenn Sie wollen«, sagte Mr. Dorrit mit einer gleichgültigen Handbewegung. »Ha – ’s ist – hm – ein kleines Geschenk von – ha – dem Sohn eines alten Pächters auf meinen Gütern.«

Die Sonne des nächsten Morgens sah Mr. Dorrits Wagen auf der Straße von Dover, wo jeder rotbejackte Postillion das Schild eines grausamen Hauses war, das dazu eingerichtet worden war, die Reisenden unbarmherzig zu plündern. Da das ganze Geschäft des Menschengeschlechts zwischen London und Dover Freibeuterei war, so wurde Mr. Dorrit in Dartford angefallen, in Gravesend ausgeplündert, in Rochester beraubt, in Sittingbourne gepreßt und in Canterbury marodiert. Da es jedoch die Aufgabe des Kuriers war, ihn aus den Händen der Banditen zu befreien, so kaufte ihn dieser auf jeder Station los; und die Rotjacken ritten heiter glänzend durch die Frühlingslandschaft hin, im Takte zwischen Mr. Dorrit in seiner gemütlichen Ecke und der nächsten kalkigen Anhöhe der staubigen Landstraße auf und nieder humpelnd.

Die Sonne eines zweiten Tages sah ihn in Calais. Und da er jetzt den Kanal zwischen sich und John Chivery hatte, begann er sich sicher zu fühlen und zu finden, daß die fremde Luft sich leichter atmen lasse als die englische Luft.

Nun ging es weiter auf den kotigen französischen Straßen nach Paris. Da er jetzt sein volles Gleichgewicht des Geistes wiederhatte, so beschäftigte sich Mr. Dorrit in seiner gemütlichen Ecke mit Luftschlösserbauen, während er so dahinfuhr. Offenbar hatte er den Bau eines sehr großen Schlosses unternommen. Den ganzen Tag baute er Türme auf, trug er Türme ab, fügte hier einen Flügel an, setzte dort eine Zinne auf, sah nach den Mauern, verstärkte die Verteidigungswerke, brachte Verzierungen im Innern an – und machte in jeder Beziehung ein prachtvolles Schloß daraus. Sein sinnendes Gesicht verriet so deutlich, womit er beschäftigt war, daß jeder Krüppel in den Posthäusern, der nicht blind war und seine kleine verwetterte Zinnbüchse m den Wagen hereinhielt, um im Namen des Himmels, im Namen der heiligen Jungfrau, im Namen aller Heiligen eine Gabe zu erbitten, ebensogut wissen konnte, was in ihm vorging, als ihr Landsmann Lebrun es gewußt hätte, wenn er den englischen Reisenden zum Gegenstand einer speziellen physiognomischen Abhandlung gemacht hätte.

In Paris angelangt, wo er sich drei Tage aufhielt, wanderte Mr. Dorrit viel allein in den Straßen umher und blieb an den Ladenfenstern, besonders der Juweliere, stehen. Zuletzt ging er in den Laden des berühmtesten Juweliers und sagte, er wünsche ein kleines Geschenk für eine Dame zu kaufen.

Es war eine reizende kleine Frau, zu der er dies sagte – eine muntere kleine Frau, mit vorzüglichem Geschmack gekleidet, die aus einem grünen Samtkäfig hervorkam, um ihn zu bedienen, wo sie mit hübschen kleinen Rechnungsbüchern beschäftigt war, die kaum zum Eintragen eines andern Handelsartikels geeignet erschienen als Küsse, und wo sie vor einem hübschen kleinen und glänzenden Pult saß, das selbst schon wie Zuckerwerk aussah.

Welcher Art soll denn das Geschenk sein, das Monsieur machen wolle? Eine Liebesgabe?

Mr. Dorrit lächelte und sagte: Nun, vielleicht! Was wisse er? Es sei immerhin möglich: das Geschlecht sei so reizend. Ob sie ihm welche zeigen wolle?

»Mit dem größten Vergnügen«, sagte die kleine Frau. Sie fühle sich geschmeichelt und sei entzückt, ihm viele vorlegen zu dürfen. Aber Verzeihung! Zuerst wolle sie bemerken, daß dies Liebesgabe und dies Hochzeitsgeschenke seien. Zum Beispiel diese reizenden Ohrringe und dies prächtig dazu passende Halsband würden eine Liebesgabe sein. Diese Broschen und diese Ringe von so anmutiger und himmlischer Schönheit möchte sie, mit des Herrn Erlaubnis, eine Hochzeitsgabe nennen. »Vielleicht wird es am besten sein«, meinte Mr. Dorrit lächelnd, »beide Sachen zu kaufen und die Liebesgaben zuerst und zuletzt die Hochzeitsgeschenke« zu überreichen?«

»O, Himmel!« sagte die kleine Frau, indem sie die Fingerspitzen ihrer beiden kleinen Hände aneinander legte. »Das wäre wirklich sehr edel. Das wäre eine große Galanterie! Und die Dame, die so mit Geschenken überhäuft würde, müßte Sie sicherlich unwiderstehlich finden.«

Mr. Dorrit war davon nicht überzeugt. Aber die muntere kleine Frau war davon überzeugt, wie sie sagte. So kaufte Mr. Dorrit ein Geschenk von jeder Art und bezahlte eine hübsche Summe dafür. Als er wieder nach seinem Hotel zurückging, trug er den Kopf sehr hoch; denn sein Schloß ragte jetzt offenbar weit höher empor als die beiden viereckigen Türme von Notre-Dame.

Aus allen Kräften fortbauend, aber die Pläne seines Schlosses ganz für sich behaltend, fuhr Mr. Dorrit nach Marseille weiter. Immer bauend, immer bauend, geschäftig und unermüdlich vom Morgen bis in die Nacht. Er schlief ein und ließ große Granitblöcke in der Luft schweben; und wenn er erwachte, machte er sich wieder an die Arbeit und brachte sie an ihren Platz. Unterdessen ließ der Kurier auf dem Bedientensitz, die besten Zigarren des jungen John rauchend, ein kleines Wölkchen dünnen, leichten Rauches hinter sich – vielleicht baute auch er mit einigen verlorenen Stücken von Mr. Dorrits Geld ein Schloß oder zwei.

Keine von den befestigten Städten, durch die sie auf ihrer ganzen Reise kamen, war so stark, keine Kathedralenspitze so hoch wie Mr. Dorrits Schloß.

Weder die Saone noch die Rhone flossen so rasch dahin, wie dieses unvergleichliche Gebäude erstand; auch war das Mittelländische Meer nicht so tief wie seine Fundamente, und die fernen Landschaften auf der Cornichestraße oder die Hügel und die Bucht des stolzen Genua waren nicht so schön.

Mr. Dorrit und sein unvergleichliches Schloß landeten unter den schmutzigen, weißen Häusern Civitavecchias und rumpelten dann, so gut es eben ging, durch den Schmutz, der die Straßen bedeckte.

Neunzehntes Kapitel


Neunzehntes Kapitel

Der Sturm auf das Luftschloß

Die Sonne war volle vier Stunden untergegangen, und es war später, als die meisten Reisenden sich gern außerhalb der Mauern von Rom befinden, als Mr. Dorrits Wagen immer noch auf der letzten mühsamen Station über die einsame Campagna hinrollte. Die wilden Hirten und die finster blickenden Bauern, die noch den Weg belebt und bunt gemacht hatten, solange es hell war, waren alle mit der Sonne zur Ruhe gegangen und ließen die Einöde leer. An einigen Ecken des Weges zeigte ein blasser Schimmer am Horizont, gleich einer Ausdünstung aus dem trümmerübersäten Land, daß die Stadt noch weit entfernt war; aber dieser dürftige Trost war selten und kurz. Der Wagen senkte sich wieder in ein Loch des schwarzen, trockenen Meeres, und für lange Zeit war wieder nichts zu sehen als die versteinerte Woge und der düstere Himmel.

Mr. Dorrit, obgleich er mit dem Bau seines Luftschlosses beschäftigt war, fühlte sich doch an diesem Ort nicht ganz behaglich. Er war bei jedem Umbiegen des Wagens und jedem Ruf des Postillions neugieriger als er auf dem ganzen Wege seit London gewesen. Der Kammerdiener auf dem Bock zitterte sichtlich. Dem Kurier Hintenauf war es nicht wohl zumute. Sooft Mr. Dorrit das Fenster herunterließ und sich nach ihm umsah (was sehr oft geschah), sah er ihn allerdings John Chivery rauchen, aber dabei zumeist stehen und sich umschauen wie ein Mann, der seinen Verdacht hat und auf seiner Hut bleibt. Dann zog Mr. Dorrit die Fenster wieder in die Höhe und dachte bei sich, diese Postillione seien mörderartig aussehende Kerle, und er würde besser daran getan haben, wenn er in Civitavecchia übernachtet und beizeiten morgens aufgebrochen wäre. Aber trotzdem baute er immer wieder an seinem Luftschloß.

Und jetzt zeigten Bruchstücke verfallener Einfassungen, gähnende Fensteröffnungen und morsche Mauern, öde Häuser, lecke Brunnen, geborstene Zisternen, gespenstische Zypressen, Büsche verschlungener Weinreben und der Übergang des Geleises in eine lange, unregelmäßige, unordentliche Gasse, wo alles im Verfall war, von den unansehnlichen Gebäuden bis zu dem holperigen Weg – all dies zeigte, daß sie sich Rom näherten. Und jetzt flößte ein plötzliches Ausbiegen und Anhalten des Wagens Mr. Dorrit die Besorgnis ein, daß nun der Straßenräuberaugenblick gekommen sei, um ihn in einen Graben zu schleppen und auszuplündern; bis er das Fenster wieder herunterließ und sah, daß ihm nichts Schlimmes den Weg versperrte als eine Leichenprozession, die ein undeutliches Schauspiel von schmutzigen Kleidern, flackernden Fackeln, geschwungenen Weihrauchpfannen und einem großen, vor einem Priester hergetragenen Kreuze entfaltete, mit mechanischer Gleichgültigkeit an ihm vorüberzog. Jener Priester war ein häßlicher Mann, wenn man ihn so bei Fackellicht sah, von finsterem Aussehen, mit vorstehender Stirn, und als seine Augen denen von Mr. Dorrit begegneten, der entblößten Hauptes zum Wagen heraussah, schienen die vom Singen bewegten Lippen diesem bedeutenden Reisenden zu drohen, auch die Bewegung seiner Hand, die nichts als die Erwiderung des Grußes des Reisenden war, schien diese Drohung zu unterstützen. So kam es wenigstens Mr. Dorrit vor, dessen Phantasie durch das ermüdende Bauen und Fahren aufgeregt war, als der Priester an ihm vorüberzog und die Prozession mit ihrer Leiche sich entfernte. Einen ganz andern Weg schlug Mr. Dorrit mit seinem Gefolge ein; und bald klopften sie mit ihrer Wagenladung von Luxuswaren aus den beiden großen Hauptstädten Europas (gleich umgekehrten Goten) an die Tore von Rom.

Mr. Dorrit wurde von seinen Leuten nicht mehr diese Nacht erwartet. Man hatte auf ihn gewartet, hatte es aber endlich bis zum andern Morgen verschoben, da man glaubte, er werde zu so später Nachtzeit nicht mehr in einem solchen Lande unterwegs sein. Als daher sein Wagen vor der Tür seines Hauses hielt, erschien niemand zu seinem Empfang als der Portier. Ob Miß Dorrit nicht zu Hause, fragte er. Doch, sie sei zu Hause. Gut, sagte Mr. Dorrit zu den herbeikommenden Dienern, sie sollten bleiben, wo sie wären, und den Wagen abladen helfen, er wolle Miß Dorrit selbst aufsuchen.

Er ging langsam und müde die große Treppe hinauf und blickte in verschiedene Zimmer, die leer waren, bis er Licht in einem kleinen Vorzimmer bemerkte.

Es war ein verhangener Raum wie ein Zelt, hinter dem sich zwei Zimmer befanden; er sah warm und hellfarbig aus, da er durch den dunklen Gang geschritten kam.

Der Eingang hatte eine Portiere, aber keine Tür, und als er hier stehenblieb und ungesehen hineinschaute, fühlte er einen Stich im Herzen. Wohl nicht aus Eifersucht? Warum auch Eifersucht? Es waren ja nur sein Bruder und seine Tochter drinnen; er hatte den Stuhl an den Kamin gerückt und genoß die Wärme des abendlichen Holzfeuers; sie saß an einem kleinen Tischchen und war mit einer Stickerei beschäftigt. Wenn man den großen Unterschied in der Umgebung des Bildes zugibt, so bleibt doch eine große Ähnlichkeit in den Personen, denn sein Bruder sah ihm ähnlich genug, um ihn für einen Augenblick vorstellen zu können. So hatte er manchen Abend an einem Steinkohlenfeuer in der alten Heimat gesessen, so hatte sie gesessen, ganz nur seinem Dienst geweiht. Und doch war in der alten, elenden Armut nichts, worauf man hätte eifersüchtig sein können. Woher dann dieser Stich im Herzen?

»Weißt du, Onkel, ich glaube, du wirst wieder jung.«

Ihr Onkel schüttelte den Kopf und sagte: »Seit wann, meine Liebe, seit wann?«

»Ich glaube«, versetzte Klein-Dorrit, fleißig mit der Nadel fortarbeitend, »daß du schon seit Wochen immer jünger wirst. So heiter, Onkel, und so munter und so teilnehmend an allem, was vorgeht!«

»Mein liebes Kind – das tust du mir alles.«

»Ich alles, Onkel?«

»Ja, ja. Du hast unendlich wohltätig auf mich eingewirkt. Du warst so rücksichtsvoll gegen mich und gingst so zart mit mir um und suchtest so zart mir deine Aufmerksamkeiten zu verbergen, daß ich – ja, ja, ja! Ich habe es in treuem Herzen bewahrt, gutes Kind, in treuem Herzen bewahrt.« »Aber, lieber Onkel, das phantasierst du dir nur alles so zusammen«, sagte Klein-Dorrit heiter.

»Ja, ja, ja!« murmelte der Alte. »Gott sei Dank!«

Sie hielt einen Augenblick mit ihrer Arbeit inne, um ihn anzusehen, und ihr Blick machte, daß der Stich in ihres Vaters Brust wieder schmerzte: in seiner armen, schwachen Brust, die so voll von Widersprüchen, Ungereimtheiten und Schwankungen, so voll von den kleinen armseligen Verlegenheiten dieses dunklen Lebens war, Nebeln, die der Morgen ohne Nacht allein verscheuchen kann.

»Ich konnte mein Herz offner vor dir ausschütten, mein Täubchen«, sagte der alte Mann, »seit wir allein sind. Ich sage allein, denn ich zähle Mrs. General nicht: ich kümmere mich nicht um sie: sie hat nichts mit mir zu schaffen. Aber ich weiß, Fanny hat keine Geduld mit mir. Und das wundert mich nicht, auch klage ich nicht darüber, denn ich fühle wohl, ich muß im Wege sein, obgleich ich mich so viel wie möglich seitab halte. Ich weiß, ich passe nicht in unsre Gesellschaft. Mein Bruder William«, sagte der alte Mann ganz von Bewunderung voll, »würde ein Umgang für Fürsten sein: aber mit deinem Onkel ist’s etwas anderes, mein Kind. Frederick Dorrit mehrt das Ansehen William Dorrits nicht, und er weiß es ganz wohl. Ach! Wie, da ist ja dein Vater, Amy! Mein lieber William, sei willkommen! Mein geliebter Bruder, ich freue mich herzlich, dich wiederzusehen!«

Als er sich während des Sprechens umgewandt, hatte er ihn auf der Schwelle stehen sehen.

Klein-Dorrit schlang mit einem Freudenschrei die Arme um ihres Vaters Hals und küßte ihn wieder und wieder. Ihr Vater war etwas ungeduldig und mißgestimmt. »Ich freue mich, dich endlich wiederzusehen, Amy«, sagte er. »Ha. Wirklich, ich freue mich, endlich – hm – irgend jemand zu finden, der mich empfängt. Ich scheine so wenig – ha – erwartet worden zu sein, daß ich wahrhaftig – ha – hm – zu glauben begann, es werde nötig sein, mich zu entschuldigen, daß ich – ha – mir die Freiheit nahm, überhaupt zurückzukommen.«

»Es war so spät, mein lieber William«, sagte sein Bruder, »daß wir die Hoffnung für heute nacht aufgegeben hatten.«

»Ich bin stärker als du, lieber Frederick«, versetzte sein Bruder mit einer gemachten Brüderlichkeit, in der mehr Strenge lag, »und ich hoffe, ich kann ohne Nachteil für meine Gesundheit – ha – zu jeder Stunde, wenn ich will, reisen.«

»Gewiß, gewiß«, versetzte der andere, besorgt, er möchte Anstoß gegeben haben. »Gewiß, William.«

»Ich danke dir, Amy«, fuhr Mr. Dorrit fort, während sie ihm die Schals abnehmen half, »ich kann es schon allein machen. Ich will – ha – dir keine Mühe verursachen, Amy. Könnte ich ein Stückchen Brot und ein Glas Wein haben, oder – hm – würde es zu viele Umstände machen?«

»Lieber Vater, du sollst dein Abendessen in wenigen Minuten haben.«

»Ich danke, mein liebes Kind«, sagte Mr. Dorrit mit vorwurfsvoller Kälte; »ich – ha – fürchte zu viele Umstände zu veranlassen. Hm. Mrs. General ganz wohl?«

»Mrs. General klagte über Kopfweh und Müdigkeit; sie ging deshalb zu Bett, als wir glaubten, du kämst nicht mehr, mein lieber Vater.«

Vielleicht dachte Mr. Dorrit, Mrs. General habe recht gehabt, wenn sie durch die Täuschung, die durch ein Nichtankommen verursacht worden, sich gedrückt gefühlt. Jedenfalls heiterte sich sein Gesicht auf, und er sagte mit offenbarer Befriedigung: »Bedaure außerordentlich zu hören, daß Mrs. General nicht wohl ist.«

Während dieses kurzen Gespräches hatte ihn seine Tochter mit etwas mehr als gewöhnlichem Interesse betrachtet. Es hatte den Anschein, als wenn er ihr verändert und schlechter aussehend vorkäme: er bemerkte es und nahm es empfindlich auf: denn er sagte, mit neuer Verdrießlichkeit, als er sich seines Reiserocks entledigt hatte und an das Feuer getreten war:

»Amy, wonach siehst du? Was siehst du an mir, das dich veranlaßt, deine – ha – besorgte Teilnahme mir in – hm – so eigentümlicher Weise zuzuwenden?«

»Ich wußte es nicht, Vater: ich bitte um Entschuldigung. Es beglückte meine Augen, dich wiederzusehen: das ist alles.«

»Sage nicht, das ist alles, weil – ha – das nicht alles ist. Du – hm – glaubst,« sagte Mr. Dorrit mit einer Emphase, in der eine Anklage lag, »daß ich nicht gut aussehe.«

»Ich dachte, du sähest etwas ermüdet aus, lieber Vater.«

»Dann täuschest du dich«, sagte Mr. Dorrit. »Ha, ich bin nicht müde. Ha, hm. Ich bin frischer, als ich war, als ich wegging.«

Er war so nahe daran, in Zorn auszubrechen, daß sie nichts mehr zu ihrer Verteidigung sagte, sondern ruhig neben ihm stehenblieb und seinen Arm umschlungen hielt. Als er so dastand, wahrend sein Bruder von der andern Seite ihn ansah, versank er in eine Träumerei von kaum einer Minute, aus der er plötzlich auffuhr.

»Frederick«, sagte er, sich zu seinem Bruder umwendend, »ich empfehle dir, augenblicklich zu Bett zu gehen.«

»Nein, William, ich will aufbleiben und dich zu Nacht speisen sehen.«

»Frederick«, versetzte er, »ich bitte dich, zu Bett zu gehen. Tue es mir zu Gefallen und gehe zu Bett. Du solltest schon lange zu Bett sein. Du bist sehr schwach.«

»Ha!« sagte der alte Mann, der keinen andern Wunsch hatte, als ihm zu Gefallen zu leben. »Ja, ja, ja! Das bin ich wohl.«

»Mein lieber Frederick«, versetzte Mr. Dorrit mit erstaunlicher Überlegenheit über die schwachen Kräfte seines Bruders, »es kann kein Zweifel darüber sein. Es ist sehr schmerzlich für mich, dich so schwach zu sehen. Ha. Es macht mir großen Kummer. Hm. Ich finde nicht, daß du wohl aussiehst. Du bist nicht für dergleichen Dinge gemacht. Du solltest ängstlicher auf deine Gesundheit bedacht sein, weit mehr auf deine Gesundheit bedacht sein.«

»Soll ich zu Bett gehen?« fragte Frederick.

»Lieber Frederick«, sagte Mr. Dorrit, »tue es, ich beschwöre dich! Gute Nacht, Bruder. Ich hoffe, du wirst dich morgen kräftiger fühlen. Dein Aussehen gefällt mir ganz und gar nicht. Gute Nacht, lieber Junge!« Nachdem er seinen Bruder auf diese freundliche Weise fortgeschickt, versank er wieder in ein träumerisches Sinnen, ehe der alte Mann noch zum Zimmer hinaus war; und er wäre über die Schwelle gestolpert, wenn seine Tochter ihn nicht gehalten hätte.

»Dein Onkel ist sehr verwirrt, Amy«, sagte er, als er aus seinem Sinnen erwachte. »Er spricht weniger zusammenhängend, und seine Konversation ist – hm – gebrochener, als ich es je – ha – hm – an ihm gekannt. Ist er unwohl gewesen, seit ich fort war?«

»Nein, Vater.«

»Du – ha – findest ihn doch auch sehr verändert. Amy?«

»Ich habe nichts bemerkt, Vater.«

»Er ist ganz gebrochen«, sagte Mr. Dorrit. »Ganz gebrochen. Mein armer liebevoller, schwacher Frederick! Ha. Wenn ich namentlich bedenke, was er früher war, so ist er jetzt – hm – traurig gebrochen.«

Sein Nachtessen, das ihm nunmehr gebracht und auf dem kleinen Tisch aufgestellt wurde, an dem er sie hatte arbeiten sehen, lenkte seine Aufmerksamkeit von dem bisherigen Gesprächsgegenstand etwas ab. Sie saß an seiner Seite wie in jenen früheren Tagen, zum ersten Male, seit jene Tage ihr Ende genommen. Sie waren allein, und sie reichte ihm die Speisen und schenkte ihm den Wein ein, wie sie es im Gefängnis zu tun gewohnt gewesen war. All dies geschah jetzt zum ersten Male, seit sie reich geworden. Sie fürchtete sich, ihn viel anzusehen, nachdem er Ärgernis daran genommen; aber sie beobachtete zweimal während des Essens, daß er sie ganz plötzlich ansah und sich dann umschaute, als wenn die Ideenverbindung so stark wäre, daß er sich durch seinen Gesichtssinn versichern müsse, sie seien nicht in dem alten Gefängnis. Beide Male legte er seine Hand an seinen Kopf, als vermißte er seine alte schwarze Mütze – obwohl diese schmählicherweise im Marschallgefängnis weggeschenkt und bis zu dieser Stunde nicht frei geworden, sondern noch immer auf dem Kopfe seines Nachfolgers im Hofe sich umhertrieb.

Er nahm sehr wenig zu sich, aber verweilte sehr lange beim Essen und kehrte oft auf den schwachen Zustand seines Bruders zurück. Obwohl er das größte Mitleid mit ihm aussprach, war er doch beinahe ärgerlich auf ihn. Er sagte, der arme Frederick – ha, – hm – fasle. Es gebe kein andres Wort dafür: fasle. Der arme Junge! Es war ein trauriger Gedanke, wenn man bedächte, was Amy von der unendlichen Langweiligkeit seiner Gesellschaft ausgestanden haben mußte – von der Gesellschaft dieses Mannes, der immerfort schwätze und fasle, der arme, gute, liebe Mensch, der immerfort fasle und schwatze – wenn sie nicht in Mrs. General eine Aufheiterung gefunden. Er bedauere sehr, wiederholte er dann mit der früheren Zufriedenheit, daß diese – ha – herrliche Frau unpäßlich sei.

Klein-Dorrit mit ihrer aufmerksamen Liebe würde sich des Geringsten, was er in jener Nacht sagte und tat, erinnert haben, obgleich sie später keinen Grund hatte, jene Nacht sich ins Gedächtnis zurückzurufen. Sie erinnerte sich immer, daß wenn er unter dem starken Einfluß der Ideenverbindung des Jetzt und Ehemals umherblickte, er ihr und vielleicht sich selbst den Gedanken fernzuhalten suchte, indem er augenblicklich wieder von dem großen Reichtum und der vornehmen Gesellschaft sprach, mit der er während seiner Abwesenheit verkehrt, und von der hohen Stellung, die er und seine Familie zu behaupten hätten. Auch erinnerte sie sich deutlich, daß durch das ganze Gespräch und das ganze Benehmen ihres Vaters zwei Strömungen durchliefen, nämlich, daß er zeigen wollte, wie gut es ihm ohne sie gegangen, und wie unabhängig er von ihr sei, und daß er sich auf eine passende, zart andeutende Weise beklagte, es wäre möglich, sie hätte ihn, während er fortgewesen, vernachlässigt.

Seine Schilderung von der großartigen Stellung, die Mr. Merdle einnehme, und von dem Hofe, der sich vor ihm beuge, brachte ihn natürlich auf Mrs. Merdle. So natürlich, daß, obgleich ungewöhnlicher Mangel an Folgerichtigkeit in dem größern Teil seiner Bemerkungen sichtlich war, er plötzlich auf sie überging und fragte, wie sie sich befände.

»Sie ist ganz wohl. In nächster Woche geht sie fort.«

»Nach Hause?« fragte Mr. Dorrit.

»Nachdem sie sich einige Wochen unterwegs aufgehalten habe.«

»Sie wird ein großer Verlust für die hiesige Gesellschaft sein«, sagte Mr. Dorrit. »Ein großer Gewinn für die Heimat. Für Fanny und – hm – die übrige – ha – große Welt.«

Klein-Dorrit dachte an den Wetteifer, der nun beginnen sollte, und stimmte außerordentlich sanft zu.

»Mrs. Merdle will eine große Abschiedsgesellschaft geben, lieber Vater, der ein Diner vorangehen soll. Sie drückte ihre Besorgnis aus, du möchtest nicht mehr zur rechten Zeit eintreffen. Sie hat dich und mich zu ihrem Diner eingeladen.«

»Sie ist – ha – sehr freundlich. Wann soll es stattfinden?«

»Übermorgen.«

»Schreibe ihr morgen und sage, daß ich zurückgekehrt sei und mich sehr – hm – freue.«

»Darf ich dich die Treppe hinauf in dein Zimmer begleiten, lieber Vater?«

»Nein!« antwortete er, ärgerlich sich umsehend: denn er ging weg, als wenn er das Abschiednehmen vergäße. »Du sollst nicht, Amy! Ich brauche keine Hilfe. Ich bin dein Vater, nicht dein gebrechlicher Onkel!« Er unterbrach sich ebenso plötzlich, als er diese Antwort gegeben hatte, und sagte: »Du hast mich nicht geküßt, Amy. Gute Nacht, liebes Kind! Wir müssen dich nun verheiraten – ha – dich verheiraten.« Mit diesen Worten ging er langsam und müde die Treppe hinauf nach seinen Zimmern, und beinahe sofort, als er dort angekommen, entließ er seinen Kammerdiener. Die nächste Sorge war, nach seinen Pariser Einkäufen zu sehen und, nachdem er ihre Kapseln geöffnet und sie genau in Augenschein genommen hatte, sie unter Schloß und Riegel zu legen. Darauf sank er, halb dösend, halb Schlösser bauend, auf lange Zeit in träumerisches Sinnen, so daß bereits ein leichter Morgenschimmer den östlichen Rand der öden Campagna umsäumte, als er in das Bett kroch.

Mrs. General ließ sich am nächsten Tag frühzeitig nach seinem Befinden erkundigen: sie hoffe, er habe nach seiner anstrengenden Reise wohl geruht. Er ließ ihr danken und bat Mrs. General zu versichern, daß er vortrefflich geschlafen und sich außerordentlich wohl befinde. Nichtsdestoweniger verließ er seine Zimmer erst spät am Nachmittag, und obgleich er sich für eine Fahrt mit Mrs. General und seiner Tochter prachtvoll ankleiden ließ, reichte doch seine äußere Erscheinung nicht an die Beschreibung, die er von sich machte.

Da die Familie an diesem Tage keine Besuche hatte, speisten die vier Familienmitglieder allein zusammen. Er führte Mrs. General mit ungeheurer Zeremonie an den Platz zu seiner Rechten, und Klein-Dorrit bemerkte unwillkürlich, als sie mit ihrem Onkel folgte, daß er wieder mit ausgesuchtem Geschmack gekleidet, und daß sein Benehmen gegen Mrs. General ganz eigentümlicher Art war. Die vollendete Bildung des Äußern dieser vollkommenen Dame machte es schwierig, ein Atom von ihrer feinen Politur zu verrücken, aber Klein-Dorrit glaubte in einer Ecke ihres frostigen Auges ein flüchtiges Auftauen des Triumphes zu gewahren.

Trotz des prunischen und prismatischen Charakters des Familienbanketts, wie wir jenen in diesem Roman bezeichnen wollen, schlief Mr. Dorrit mehrere Male im Verlauf des Diners ein. Seine Anfälle von Schlummer waren so plötzlich, als sie es in der Nachtzeit vor Schlafengehen waren, und auch so kurz und tief. Als ihn zum erstenmal ein solcher Schlummer überfiel, war Mrs. General etwas erstaunt, aber bei jeder Wiederholung dieses Symptoms betete sie ihren höflichen Rosenkranz, der aus den Worten: Papa, Potateos, Poultry, Prunes und Prism bestand: und indem sie äußerst langsam dieses unfehlbare Mittel anwandte, schien sie mit ihrem Rosenkranz beinahe im selben Augenblick zu Ende zu kommen, als Mr. Dorrit aus seinem Schlafe auffuhr.

Er bemerkte wieder eine Neigung zur Schlafsucht bei Frederick (die außerhalb seiner Phantasie jedoch nicht existierte) und entschuldigte nach dem Diner, als Frederick weggegangen, im Vertrauen den armen Mann bei Mrs. General. »Der ehrenwerteste und liebevollste Bruder, den man sich denken kann«, sagte er, »aber –- ha, hm – ganz gebrochen. Ein großes Unglück, er wird immer schwächer.«

»Mr. Frederick, Sir«, sagte Mrs. General, »ist gewöhnlich abwesend und gedrückt, aber lassen Sie uns hoffen, daß es nicht so schlimm mit ihm steht.«

Mr. Dorrit war jedoch entschlossen, ihn nicht aufkommen zu lassen. »Er wird sichtlich schwächer. Ein Wrack. Eine Ruine. Er fällt vor unsern Augen zusammen. Hm. Der gute Frederick.«

»Sie haben hoffentlich Mrs. Sparkler wohl und glücklich verlassen?« sagte Mrs. General, nachdem sie Frederick einen kühlen Seufzer gewidmet.

»Umgeben«, versetzte Mr. Dorrit, »von allem – ha –, was die Sinne erfreuen und – hm – den Geist erheben kann. Ganz glücklich, meine Verehrte, im Besitze eines – ha – Gatten.«

Mrs. General wurde etwas verlegen; sie schien das Wort zart mit ihren Handschuhen wegzuschieben, als wenn sie nicht wüßte, wie man dazu kommt.

»Fanny«, fuhr Mr. Dorrit fort, »Fanny, Mrs. General, hat bedeutende Eigenschaften. Ha. Ehrgeiz – hm –, festen Charakter, Bewußtsein – ha – ihrer Stellung, Entschlossenheit, diese Stellung zu wahren – ha, hm –, Anmut, Schönheit und angeborene Noblesse.«

»Ganz gewiß«, sagte Mrs. General mit einer kleinen Extrasteifheit.

»In Verbindung mit diesen Eigenschaften, Madame«, sagte Mr. Dorrit, »hat Fanny – ha – einen Fehler an den Tag gelegt, der mir sehr – hm – unangenehm war und – ha –, ich muß hinzufügen, mich ärgerlich machte; der jedoch als abgemacht zu betrachten sein dürfte, sogar was sie selbst betrifft, und unzweifelhaft auch – ha –, was andere betrifft – getilgt ist.«

»Worauf, Mr. Dorrit«, versetzte Mrs. General, während ihre Handschuhe wieder etwas in Aufregung kamen, »worauf können Sie anspielen? Ich weiß nicht –«

»Sagen Sie das nicht, meine Verehrte«, unterbrach sie Mr. Dorrit.

Mrs. Generals Stimme erstarb in den Worten: »Ich weiß nicht, was ich mir denken soll.«

Mr. Dorrit überkam wieder ein Schlummer von ungefähr einer Minute, aus dem er mit krampfhafter Schnelligkeit erwachte.

»Ich meine, Mrs. General, jenen – ha – starken Oppositionsgeist, oder – hm – ich möchte sagen – ha – jene Eifersucht bei Fanny, die bisweilen gegen dieses Gefühl – ha – aufgetaucht, das ich von den Ansprüchen hege, die die Dame, mit der ich jetzt zu sprechen die Ehre habe, machen könnte.«

»Mr. Dorrit«, versetzte Mrs. General, »ist stets zu gütig gegen mich, schlägt meine Verdienste stets zu hoch an. Wenn es Augenblicke gab, wo ich mir einbildete, Miß Dorrit sei ungehalten über die günstige Meinung, die Mr. Dorrit von meinen Diensten habe, so fand ich eben in dieser nur zu hohen Meinung meinen Trost und Lohn.«

»Meinung von Ihren Diensten, Madame?« sagte Mr. Dorrit.

»Von meinen Diensten«, wiederholte Mrs. General in zarter und eindrucksvoller Weise.

»Von Ihren Diensten allein, meine Teure?« sagte Mr. Dorrit.

»Ich denke wohl«, versetzte Mrs. General in ihrer früheren eindrucksvollen Weise, »von meinen Diensten allein. Denn wem sonst«, sagte Mrs. General mit einer flüchtig fragenden Bewegung ihrer Handschuhe, »könnte ich die Schuld geben –?«

»Ihnen selbst, Mrs. General. Ha, hm. Ihnen selbst und Ihren Verdiensten«, lautete Mr. Dorrits Antwort.

»Mr. Dorrit wird mir verzeihen«, sagte Mrs. General, »wenn ich die Bemerkung mache, daß jetzt nicht die Zeit und dies nicht der Ort ist, dieses Gespräch fortzusetzen. Mr. Dorrit wird mich entschuldigen, wenn ich ihn daran erinnere, daß sich Miß Dorrit im anstoßenden Zimmer befindet, und daß ich sie sehen kann, während ich ihren Namen ausspreche. Mr. Dorrit wird mir verzeihen, wenn ich bemerke, daß ich aufgeregt bin und daß ich finde, es gibt Augenblicke, wo die Schwache, die ich überwunden zu haben glaubte, sich mit verdoppelter Kraft wieder geltend macht. Mr. Dorrit wird mir erlauben, mich zu entfernen.«

»Hm. Vielleicht nehmen wir ein andermal diese – ha – interessante Unterhaltung wieder auf«, sagte Mr. Dorrit: »wenn sie nicht etwa, was ich nicht hoffe, irgendwie Mrs. General – ha – unangenehm wäre.«

»Mr. Dorrit«, sagte Mrs. General, ihre Blicke niederschlagend, während sie mit einer Verbeugung aufstand, »wird mich stets zu seinen Diensten finden.«

Mrs. General entfernte sich in pomphafter Weise und nicht mit jenem Grade von Zittern, den man bei einer minder bedeutenden Person wohl gefunden hätte. Mr. Dorrit, der seinen Teil am Gespräch mit einer gewissen majestätischen und bewundernden Herablassung vorgebracht hatte – ganz wie man manche Leute in der Kirche ihren Teil am Gottesdienst verrichten sieht –, erschien im ganzen sehr zufrieden mit sich und auch mit Mrs. General. Bei der Rückkehr dieser Dame zum Tee hatte sie sich mit etwas Puder und Pomade aufgebessert und war gleicherweise auch moralisch in etwas gesteigerter Stimmung! das letztere zeigte sich in der sanften wohlwollenden Art ihres Benehmens gegen Miß Dorrit und in der Äußerung zärtlichen Interesses für Mr. Dorrit, soweit sich dies mit dem strengen Anstand vertrug. Am Schluß des Abends, als sie aufstand, um sich zu entfernen, nahm Mr. Dorrit sie bei der Hand, als wollte er sie hinaus auf die Piazza del Popolo führen, um ein Menuett mit ihr beim Mondenschein zu tanzen, und brachte sie mit großer Feierlichkeit nach der Zimmertür, wo «r ihre Knöchel an seine Lippen hob. Nachdem er mit einem, wir dürfen wohl sagen, ziemlich knochigen Kuß von kosmetischem Duft sich von ihr verabschiedet hatte, gab er seiner Tochter seinen freundlichen Segen. Und nachdem er auf diese Weise angedeutet, daß etwas Wichtiges im Anzüge sei, ging er wieder zu Bett.

Er blieb am nächsten Morgen wieder auf seinem Zimmer für sich abgeschlossen: aber früh am Nachmittag schickte er seine besten Empfehlungen an Mrs. General durch Mr. Tinkler und bat, sie möchte Miß Dorrit auf einem Spaziergang ohne ihn begleiten. Seine Tochter war für Mrs. Merdles Diner angekleidet, ehe er erschien. Endlich zeigte er sich in strahlendem Glänze, was seinen Anzug betrifft, im übrigen aber sah er unbeschreiblich gebrochen und alt aus. Da er jedoch offenbar entschlossen war, ärgerlich zu werden, wenn sie ihn fragte, wie er sich befände, so wagte sie es nur, seine Wange zu küssen, ehe sie ihn mit ängstlichem Herzen zu Mrs. Merdle begleitete.

Die Entfernung bis zum Hause derselben war sehr kurz: aber er war wieder an seinem Luftschlösserbauen, ehe der Wagen die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte. Mrs. Merdle empfing ihn mit großer Auszeichnung. Der Busen befand sich im allerbesten Wohlsein und war höchst zufrieden mit sich: das Diner war außerordentlich fein und die Gesellschaft sehr erlesen.

Sie bestand meist aus Engländern, mit Ausnahme des gewöhnlichen französischen Grafen und der gewöhnlichen italienischen Marchese – dekorativen sozialen Meilensteinen, die man immer an gewissen Orten trifft und die im Äußern wenig voneinander variieren. Der Tisch war lang, und das Diner dauerte lange, und Klein-Dorrit, überschattet von einem großen schwarzen Backenbart und einer großen weißen Krawatte, verlor ihren Vater ganz aus dem Gesicht, bis ein Diener ein Stückchen Papier ihr in die Hand steckte und ihr im Auftrag von Mrs. Merdle zuflüsterte, sie möchte dies augenblicklich lesen. Mrs. Merdle hatte mit Bleistift darauf geschrieben: »Bitte, kommen Sie und sprechen Sie mit Mr. Dorrit. Ich glaube, er ist nicht ganz wohl.«

Sie eilte unbemerkt zu ihm hin, als er sich aus seinem Stuhl erhob und, sich über den Tisch hinüberbeugend, ihr, in der Meinung, sie sei noch an ihrem Platze, zurief:

»Amy, Amy, mein Kind!«

Diese Handlung war so ungewöhnlich, ganz abgesehen von seinem seltsam aufgeregten Aussehen und seiner seltsam hohen Stimme, daß augenblicklich tiefe Stille eintrat. »Meine liebe Amy«, wiederholte er. »Willst du nachsehen, ob Bob heute das Schließeramt hat?«

Sie war nun an seiner Seite, aber er glaubte immer noch in seinem Wahn, sie sitze an ihrem Platze, und rief, über die Tafel hinübergelehnt: »Amy, Amy. Ich fühle mich nicht ganz Herr meiner selbst. Ha. Ich weiß nicht, was mit mir ist. Ich wünsche besonders Bob zu sehen. Ha. Von allen Schließern ist er ebensosehr mein Freund wie der deine. Sieh, ob Bob im Schließerstübchen ist, und bitte ihn, zu mir zu kommen.«

Alle Gäste waren konsterniert und standen auf.

»Lieber Vater, ich bin nicht dort: ich bin hier, bei dir.«

»Oh! Du bist hier, Amy! Gut. Hm. Gut. Ha. Rufe Bob. Wenn er abgelöst wurde und nicht am Tor ist, so sage Mrs. Bangham, sie möchte gehen und ihn holen.«

Sie suchte ihn freundlich wegzuführen; aber er widerstand und wollte nicht gehen.

»Ich sage dir, Kind«, rief er trotzig, »ich kann die engen Treppen nicht ohne Bob hinaufkommen. Ha. Schick‘ nach Bob. Hm. Schick‘ nach Bob, Hm. Schick‘ nach Bob – dem besten aller Schließer – schick‘ nach Bob!«

Er sah sich verlegen um, und als er bemerkte, von welcher Menge von Gesichtern er umgeben war, redete er sie folgendermaßen an:

»Ladies und Gentlemen, es ist – ha – meine Pflicht – hm –, Sie im Marschallgefängnis willkommen zu heißen. Willkommen im Marschallgefängnis! Der Raum ist – ha – beschränkt – beschränkt – der Spazierplatz könnte größer sein; aber Sie werden ihn sichtlich mit der Zeit weiter werden sehen – mit der Zeit, Ladies und Gentlemen, und die Luft ist, im ganzen genommen, sehr gut. Sie kommt über die – ha – Surreyhügel herüber. Weht über die Surreyhügel herüber. Das ist die Snuggery. Hm. Unterhalten durch eine kleine Subskription der – ha – Kollegiatenkörperschaft. Dafür hat man heißes Wasser – gemeinschaftliche Küche – und kleine häusliche Vorteile. Die Habitués des – ha – Marschallgefängnisses nennen mich gern den Vater. Ich bin daran gewöhnt, daß Fremde dem – ha – Vater des Marschallgefängnisses ihre Aufwartung machen. Und wirklich, wenn jahrelanger Aufenthalt in demselben auf einen solchen Ehrentitel ein Anrecht geben kann, so darf ich diese – hm – Auszeichnung annehmen. Mein Kind, Ladies und Gentlemen, meine Tochter, hier geboren!«

Sie schämte sich deswegen nicht, noch seinethalben. Sie war blaß und erschrocken; aber sie hatte keine andere Sorge, als ihn zu besänftigen und ihn um seiner selbst willen fortzubringen. Sie stand zwischen ihm und den erstaunten Gesichtern und drehte sich zu ihm herum, indem sie die Augen zu ihm erhob. Er hielt sie mit seinem linken Arm umschlungen, und zuweilen hörte man sie mit ihrer sanften Stimme ihn zärtlich bitten, mit ihr wegzugehen.

»Hier geboren«, wiederholte er unter Tränen. »Ladies und Gentlemen, meine Tochter. Kind eines unglücklichen Vaters, aber – ha – doch eines Gentleman. Arm, freilich, aber – hm – stolz. Immer stolz. Es wurde eine – hm – nicht ungewöhnliche Sitte unter – ha – meinen persönlichen Verehrern – sich das Vergnügen zu machen, mir ihren Wunsch auszudrücken, meiner halboffiziellen Stellung hier ihre Huldigung durch die Anerbietung eines kleinen Tributs darzubringen, der gewöhnlich die Form von – ha – Ehrengeschenken – Ehrengeschenken in Geld annahm. In der Annahme dieser – ha – freiwilligen Anerkennung meiner schwachen Bemühungen, einen – ha – Ton hier aufrechtzuerhalten einen Ton – bitte mich wohl zu verstehen, halte ich mich nicht für kompromittiert. Ha. Nicht kompromittiert. Ha. Nicht kompromittiert. Ha. Kein Bettler. Nein, ich weise diesen Titel zurück! Zu gleicher Zeit sei es fern von mir – hm –, auf die zarten Gefühle, von denen meine parteiischen Freunde geleitet waren, den mindesten Verdacht fallen zu lassen, als wenn – hm – solche Gaben nicht außerordentlich annehmbar wären. Im Gegenteil, sie sind äußerst annehmbar. In meines Kindes Namen, wenn auch nicht meinem, muß ich dies energisch behaupten, indem ich zu gleicher Zeit – ha –- meine persönliche Würde bewahre. Ladies und Gentlemen, Gott segne Sie alle!«

Inzwischen hatte die furchtbare Kränkung, die der Busen erdulden mußte, den größern Teil der Gesellschaft veranlaßt, in andre Zimmer zu gehen. Die wenigen, die so lange geblieben waren, folgten den übrigen, und Klein-Dorrit und ihr Vater waren mit der Dienerschaft allein noch im Zimmer. »Liebster, bester Vater, willst du jetzt nicht mit mir gehen, nicht?« Er antwortete auf ihre dringende Bitte, er werde die engen Treppen nicht ohne Bob hinaufkommen; wo Bob sei, ob niemand Bob holen wolle! Unter dem Vorwand, nach Bob zu sehen, brachte sie ihn hinaus; sie mußte dabei an der nun hereinströmenden glänzenden Gesellschaft vorbei, die zu der Abendunterhaltung eingeladen war; sie setzte ihn in einen Wagen, der eben hielt, und führte ihn nach Hause.

Die breiten Treppen seines römischen Palastes waren in seinen gebrochenen Augen zu den engen Treppen seines Londoner Gefängnisses zusammengeschrumpft, und er würde sich von niemand haben anrühren lassen als von ihr und seinem Bruder. Sie brachten ihn ohne Hilfe in sein Zimmer hinauf und legten ihn auf sein Bett. Und von diesem Augenblick war in seinem gelähmten Geist, der sich nur noch des Ortes erinnerte, wo er seine Schwingen gebrochen, der Traum verwischt, durch den er sich seit jener Zeit getastet, und er wußte von nichts mehr als vom Marschallgefängnis. Wenn er Tritte auf der Straße hörte, hielt er sie für die alten traurigen Schritte auf dem Hof. Wenn die Stunde zum Schließen kam, glaubte er, alle Fremden seien nun für die Nacht ausgeschlossen. Wenn dann wieder die Stunde zum Öffnen kam, wollte er um jeden Preis Bob sehen, so daß sie genötigt waren, eine Geschichte zu erfinden, wie dieser Bob, der edle Schließer, der seit vielen Jahren tot war, sich erkältet habe – aber morgen oder den nächsten Tag oder den übernächsten wieder ausgehen zu können hoffe.

Er wurde so außerordentlich schwach, daß er seine Hand nicht aufheben konnte. Aber er ließ seinem Bruder, wie er es seit lange gewohnt war, seine Nachsicht angedeihen und sagte wohl fünfzigmal am Tage, wenn er ihn an seinem Bett stehen sah, mit wohlwollender Teilnahme: »Nein, guter Frederick, setze dich. Du bist wirklich sehr schwach.«

Sie versuchten es mit Mrs. General, ihm sein früheres klares Bewußtsein zu geben, aber er hatte nicht die geringste Ahnung von ihr. Ein beleidigender Verdacht schlich sich sogar in sein Gehirn, sie wolle nämlich Mrs. Bangham ersetzen und sei dem Trunk ergeben. Er machte ihr in maßlosen Ausdrücken Vorwürfe darüber und drang so ungestüm in seine Tochter, sie solle zum Marschall gehen und ihn bitten, sie hinauszuschaffen, daß man sie nach diesem ersten mißlungenen Versuche nicht mehr zum Vorschein brachte.

Mit Ausnahme der einmaligen Frage, ›ob Tip in die Stadt gegangen sei‹, schien er keine Erinnerung an seine beiden abwesenden Kinder zu haben. Aber das Kind, das so viel für ihn getan und so armselig dafür belohnt worden, verlor sich keinen Augenblick aus seinem Gedächtnis. Nicht, daß er sie geschont hätte oder fürchtete, sie möchte durch das Wachen und die Anstrengung sich aufreiben; er machte sich darüber so wenig Sorgen wie gewöhnlich. Nein, er liebte sie auf seine alte Weise. Sie waren wieder im Gefängnis, und sie pflegte ihn, und er bedurfte ihrer beständig und konnte sich nicht ohne sie hin und her wenden; er sagte ihr bisweilen, daß er gern viel um ihretwillen gelitten. Sie aber beugte sich mit ihrem stillen Gesicht zu ihm herab und hätte ihr eigenes Leben hingegeben, wenn sie das seine damit hätte wieder anfachen können.

Als er auf diese schmerzlose Weise zwei bis drei Tage lang an Kräften abgenommen, bemerkte sie, daß ihn das Ticken seiner Uhr inkommodiere – einer prachtvollen goldenen Uhr, die viel Lärm mit ihrem Gehen machte, wie wenn sonst nichts ginge als sie und die Zeit. Sie ließ sie ablaufen; aber er war immer noch unruhig und gab zu verstehen, daß es das nicht gewesen, was er gewollt. Endlich raffte er sich soweit auf, um zu erklären, daß er Geld auf diese Uhr aufgenommen zu wissen wünsche. Er war sehr angenehm berührt, als sie vorgab, sie zu diesem Zweck fortzunehmen, und er fand von da ab die kleinen Delikatessen von Wein und Gelee weit besser als früher.

Er gab bald deutlich zu verstehen, daß das seinem Wunsche gemäß sei: denn er schickte ein oder zwei Tage später seine Hemdenknöpfe und Fingerringe fort. Es gewährte ihm eine ganz erstaunliche

Mr. Dorrits Tod.

Befriedigung, wenn er ihr diese Aufträge erteilt, und schien sie wie die methodischsten und vorsorglichsten Anordnungen, die man treffen könnte, zu betrachten. Nachdem seine Kleinodien oder zum mindesten diejenigen, die er davon zu sehen imstande, versetzt waren, zogen seine Kleider seine Aufmerksamkeit auf sich; und es ist so wahrscheinlich wie nicht, daß ihn einige Tage die Befriedigung am Leben erhielt, sie Stück für Stück zu einem eingebildeten Pfandleiher zu schicken.

So beugte sich Klein-Dorrit zehn Tage lang über sein Kissen und legte ihre Wange an die seine. Bisweilen war sie so erschöpft, daß sie beide einige Minuten lang schliefen. Dann erwachte sie wieder, um mit rasch fließenden stillen Tränen zu bedenken, was sie mit ihrem Gesicht berührte, und über das geliebte Gesicht auf dem Pfühl einen dunklern Schatten ziehen zu sehen, als der Schatten der Mauer des Marschallgefängnisses.

Leise und unmerklich verschwammen alle Linien des Plans zu dem großen Schlosse, eine nach der andern. Unmerklich wurde das Gesicht, auf dem sich diese Linien kreuz und quer gezogen hatten, glatt und schön. Unmerklich verschwanden die Schatten der Gefängnisgitter und der Zickzackstacheln auf dem Mauerfirst. Unmerklich wurde das Gesicht zu einem weit jüngeren Ebenbild ihres eigenen, als sie es sonst unter dem grauen Haar zu sehen gewöhnt war, und schlief endlich zur ewigen Ruhe ein.

Anfangs war ihr Oheim ganz verstört, »O, mein Bruder! O, William, William! Du gehst mir voran, du gehst allein. Du sollst gehen, und ich soll bleiben. Du, der so viel höher stand. Du ein so ausgezeichneter, vornehmer Charakter, und ich eine arme, nutzlose Kreatur, die zu nichts taugt und die niemand vermißt haben würde!«

Das tat ihr für den Augenblick soweit gut, als sie an ihn denken, ihm eine Stütze sein mußte. »Onkel, lieber Onkel, schon dich, schone mich!«

Der alte Mann war nicht taub für die letzten Worte. Als er sich zusammenzunehmen anfing, tat er es, um sie zu schonen. Er kümmerte sich nicht um sie; aber mit der ganzen Kraft, die seinem ehrlichen Herzen noch übrigblieb, dem Herzen, das so lange geschlummert und nun aufwachte, um gebrochen zu werden, ehrte und segnete er sie.

»O Gott!« rief er, ehe sie das Zimmer verließen, indem er seine runzlichen Hände über ihr faltete. »Du siehst dieses Kind meines teuren verstorbenen Bruders. Alles, was ich mit meinen halbblinden und sündigen Augen gesehen, hast du klar und hell erkannt. Nicht ein Haar ihres Hauptes soll vor dir gekrümmt werden. Du wirst sie aufrechterhalten bis zu ihrer letzten Stunde. Und ich weiß, du wirst sie belohnen in der andern Welt!«

Sie blieben in einem schwach erleuchteten Zimmer, bis es beinahe Mitternacht war, und saßen still und traurig beisammen. Bisweilen suchte sein Schmerz Erleichterung in einem Ausbruch, gleich jenem, in dem er zuerst seinen Ausdruck gefunden; aber außer daß die Kraft, die er noch besaß, solchen Anstrengungen nicht mehr standhalten konnte, erinnerte er sich auch stets wieder ihrer Worte, machte sich Vorwürfe und beruhigte sich. Die einzige Äußerung, mit der er seinem Kummer Luft machte, war der häufige Ausruf, daß sein Bruder allein von der Erde geschieden, daß sie beim Eingang ihres Lebens zusammengewesen, daß sie zusammen ins Unglück geraten, daß sie in den langen Jahren ihrer langen Armut zusammengehalten, daß sie bis auf den heutigen Tag zusammengeblieben, und daß dieser Bruder dennoch allein, allein von hinnen gegangen.

Sie schieden mit schwerem und kummervollem Herzen. Sie wollte ihn erst in seinem eigenen Zimmer verlassen, und sie sah ihn sich in seinen Kleidern auf das Bett legen und deckte ihn mit eignen Händen zu. Dann sank sie auf ihr Bett und fiel in einen tiefen Schlaf: den Schlaf der Erschöpfung und Ruhe, obgleich nicht vollständig befreit von einem alles durchdringenden Schmerzbewußtsein. Schlafe, gute Klein-Dorrit. Schlafe die Nacht hindurch!

Es war Mondnacht; aber der Mond ging spät auf, da der Vollmond längst vorüber. Als er hoch an dem friedlichen Firmament stand, schien er durch halbgeschlossene Jalousien in das feierlich stille Gemach, wo die unsicheren Schritte und Tritte eines Lebens vor so kurzer Zeit stillgestanden. Zwei stumme Gestalten waren im Zimmer; zwei Gestalten, gleich still und regungslos, gleich entfernt durch einen unüberschreitbaren Raum von der fruchtbaren Erde und allem, was sie birgt, obgleich sie bald in ihr liegen werden.

Eine Gestalt ruhte auf dem Bett. Die andere kniete auf dem Boden und war über sie gesunken; die Arme ruhten leicht und friedlich auf der Bettdecke; das Gesicht war herabgesunken, so daß die Lippen die Hand berührten, über die sein letzter Atem sich gebeugt hatte. Die beiden Brüder standen vor ihrem Vater, weit erhaben über dem dämmerartigen Urteil der Welt; hoch über ihren Nebeln und Finsternissen.

Zweites Kapitel.


Zweites Kapitel.

Mrs. General.

Es ist unerläßlich, die vollendete Dame vorzustellen, die bedeutend genug im Gefolge der Familie Dorrit war, um ihre eigne Linie im Fremdenbuch zu haben.

Mrs. General war die Tochter eines geistlichen Würdenträgers an einem Bischofssitz, wo sie den Ton angegeben, bis sie so nahe an fünfundvierzig war, wie es eine einzelne Dame sein kann. Ein steifer Kommissariatsbeamter von sechzig Jahren, bekannt als ein Mann, der auf strenge Zucht hielt, verliebte sich zu dieser Zeit in die Anstandsgefühle, die sie vierspännig durch die Bischofsstadt kutschierte, und hatte darum angehalten, neben ihr seinen Sitz auf dem Zeremonienwagen nehmen zu dürfen, an den dieses Gespann geschirrt war. Nachdem sein Heiratsantrag von der Dame angenommen worden, nahm der Beamte seinen Sitz hinter den Anstandsgefühlen mit großer Ehrbarkeit ein, und Mrs. General lenkte die Zügel, bis er starb. Im Verlauf ihrer gemeinsamen Reisen überfuhren sie verschiedene Leute, die den Anstandsgefühlen in den Weg kamen; aber immer großartig und mit äußerster Ruhe.

Nachdem der Kommissariatsbeamte mit allem dem Dienst entsprechenden Aufwande begraben worden (das ganze Gespann von Anstandsgefühlen war an seinen Leichenwagen geschirrt, und sie hatten alle Federn und schwarze Samtschabracken mit seinem Wappenschild in der Ecke), begann Mrs. General nachzuprüfen, welche Masse Staub und Asche bei den Bankiers deponiert sei. Es wurde ruchbar, daß der Kommissariatsbeamte in der Stille Mrs. General zuvorgekommen und sich einige Jahre vor der Hochzeit eine Leibrente gekauft, welchen Umstand er verschwiegen hatte, indem er zur Zeit seiner Bewerbung vorgab, sein Einkommen datiere von den Zinsen seines Vermögens. Mrs. General sah infolgedessen ihre Mittel so verringert, daß, wenn sie nicht mit ihrem Verstande sehr im reinen gewesen, sie sich hätte veranlaßt fühlen können, die Richtigkeit des Teiles der Leichenrede zu bezweifeln, der behauptete, der Kommissariatsbeamte könne nichts mit sich hinübernehmen.

In dieser Lage kam Mrs. General auf den Gedanken, sie wolle sich der »Geistesbildung« und gesellschaftlichen Erziehung einer jungen vornehmen Dame widmen. Oder auch die Anstandsgefühle an den Wagen einer reichen jungen Erbin oder einer Witwe schirren und zu gleicher Zeit Kutscher und Schaffner eines solchen Fuhrwerks durch die sozialen Irrgänge werden. Die Mitteilung, die Mrs. General ihren geistlichen und kommissariatlichen Bekanntschaften von dieser Idee machte, fand so warmen Beifall, daß, wenn die Verdienste der Dame nicht so außer allem Zweifel gestanden hätten, die Vermutung nahegelegen wäre, man wolle sie los werden. Zeugnisse, die Mrs. General als ein Wunder von Frömmigkeit, Gelehrsamkeit, Tugend und feiner Lebensart schilderten, wurden von einflußreichen Quartieren verschwenderisch beigesteuert, und ein ehrwürdiger Archidiakon vergoß sogar Tränen, wenn er an sein Zeugnis über die Vollkommenheiten (die ihm von Leuten, auf die er sich verlassen konnte, geschildert wurden) dachte, obgleich er nie in seinem ganzen Leben die Ehre und den sittlichen Genuß gehabt, seine Blicke auf Mrs. General ruhen zu lassen.

So gleichsam von Kirche und Staat zu ihrer Mission beordert, fühlte sich Mrs. General, die immer auf vornehmem Boden gewandelt, in der Lage, diesen zu behaupten, und begann damit, ein sehr stolzes Gesicht zur Schau zu tragen. Es trat eine Zwischenzeit von einiger Dauer ein, während der nicht auf Mrs. General geboten wurde. Endlich eröffnete ein gräflicher Witwer mit einer Tochter von vierzehn Jahren Unterhandlungen mit der Dame, und da es entweder im Charakter der angeborenen Würde oder der künstlichen Politik von Mrs. General lag (sicher jedoch eines von beiden), sich dabei zu benehmen, als wäre sie weit mehr die Gesuchte, denn die Suchende, verfolgte der Witwer Mrs. General, bis es ihm gelang, sie zu bewegen, seiner Tochter Geist und Sitten beizubringen.

Die Durchführung dieser Aufgabe beschäftigte Mrs. General ungefähr sieben Jahre. Währenddessen machte sie die Tour durch Europa und sah den größten Teil jenes umfangreichen Durcheinanders von Dingen, die wesentlich jeder Mensch von seiner Bildung mit den Augen andrer Leute und niemals mit den seinen sehen sollte. Als ihre Aufgabe endlich gelöst war, hatte sich nicht nur die junge Dame, sondern gleicherweise auch ihr Vater, der Witwer, zum Heiraten entschlossen. Der Witwer, der nun Mrs. General unbequem und kostspielig zu finden begann, wurde beinahe ebenso vernarrt in ihre Verdienste, als es der Archidiakonus gewesen, und verbreitete solche Lobeserhebungen ihres ausnehmenden Wertes in allen Quartieren, wo er glaubte, es könne sich eine Gelegenheit bieten, ihren Segen auf jemand andern zu übertragen, daß Mrs. General ein geschätzterer Name denn je war.

Der Phönix stand auf dieser erhabenen Stange zu vermieten, als Mr. Dorrit, der in jüngster Zeit in den Besitz seiner Erbschaft gekommen war, seinen Bankiers gegenüber erwähnte, er wünsche eine feingebildete, gesittete, mit der guten Gesellschaft bekannte und vertraute Dame zu finden, die geeignet wäre, zu gleicher Zeit die Erziehung seiner Töchter zu übernehmen und als Ehrendame oder Anstandswauwau zu dienen. Mr. Dorrits Bankiers, als die Bankiers des gräflichen Witwers, sagten augenblicklich: »Mrs. General.«

Dem Lichte folgend, das ihm so glücklich aufgegangen, und das einstimmige Urteil der ganzen Bekanntschaft von Mrs. General so erhaben findend, wie wir bereits erwähnt, nahm sich Mr. Dorrit die Mühe, sich nach der Grafschaft des gräflichen Witwers zu begeben und Mrs. General kennenzulernen, in der er eine Dame fand, die seine höchsten Erwartungen übertraf. »Entschuldigen Sie mich«, sagte Mr. Dorrit, »wenn ich Sie frage – ha – welche Belohn –«

»Nein,« versetzte Mrs. General, ihn unterbrechend, »das ist eine Sache, auf die ich lieber nicht eingehen möchte. Ich habe nie darüber mit meinen Freunden hier verhandelt, und ich kann die Delikatesse, mit der ich diese Sache stets betrachtet, Mr. Dorrit, nicht überwinden. Ich bin keine Gouvernante, wie Sie bemerkt haben werden –«

»O, gewiß nicht!« sagte Mr. Dorrit. »Bitte, Madame, glauben Sie nicht einen Augenblick, daß ich so etwas denke.« Er errötete wirklich, daß man ihn habe in solchem Verdacht haben können.

Mrs. General neigte feierlich den Kopf. »Ich kann deshalb nicht einen Preis auf Dienste setzen, die ich mit Vergnügen leiste, wenn ich sie freiwillig leisten kann, die ich jedoch als Ersatz unter keiner Bedingung zu leisten imstande wäre. Auch weiß ich nicht, wie und wo ich einen Fall finden sollte, der dem meinen ähnlich wäre. Er ist einzig in seiner Art.«

»Allerdings. Aber wie sollte man denn«, bemerkte Mr. Dorrit ganz natürlich, »die Sache anfangen?«

»Ich kann nichts dagegen einwenden,« sagte Mrs. General, »obgleich selbst das mir unangenehm ist, wenn Mr. Dorrit im Vertrauen meine Freunde fragt, wieviel sie vierteljährlich an meine Bankiers auszubezahlen gewohnt waren.«

Mr. Dorrit verbeugte sich zustimmend.

»Erlauben Sie mir, hinzuzufügen,« sagte Mrs. General, »daß ich mich nicht weiter auf dieses Kapitel einlassen werde. Ferner, daß ich keine zweite oder untergeordnete Stellung einnehmen kann. Wenn mir die Ehre zuteil würde, Mr. Dorrits Familie kennenzulernen – ich glaube, von zwei Töchtern war die Rede?«

»Zwei Töchter.«

»So könnte ich es nur unter der Bedingung vollkommener Gleichheit, als Gesellschafterin, Beschützerin, Mentor und Freundin annehmen.«

Mr. Dorrit kam es trotz des Bewußtseins seiner Würde vor, als ob es wirklich eine Freundlichkeit wäre, wenn sie es überhaupt unter irgendeiner Bedingung annähme. Er ließ dies beinahe in seinen Worten merken.

»Ich glaube,« wiederholte Mrs. General, »von zwei Töchtern war die Rede.«

»Zwei Töchter,« sagte Mr. Dorrit wieder.

»Es würde deshalb nötig sein,« sagte Mrs. General, »ein Drittel mehr zu der Summe hinzuzufügen (wie groß immer ihr Betrag auch sein mag), die meine Freunde hier bei meinen Bankiers niederzulegen gewohnt waren.«

Mr. Dorrit verlor keine Zeit, die delikate Frage dem gräflichen Witwer vorzulegen, und da er fand, daß dieser gewohnt war, jährlich dreihundert Pfund an die Bankiers von Mrs. General zu bezahlen, kam er, ohne seine Arithmetik besonders anzustrengen, zu dem Resultat, daß er vier bezahlen müsse. Da Mrs. General ein Artikel von jener glänzenden Außenseite war, der einen glauben macht, daß sie jeden Preises wert sei, so machte er ihr den förmlichen Antrag, ihm zu gestatten, sie als ein Glied seiner Familie zu betrachten. Mrs. General bewilligte das stolze Privilegium und gehörte von nun an zur Familie.

Persönlich war Mrs. General, mit Einschluß ihrer Toiletten, die eine bedeutende Rolle dabei spielten, von würdiger, imposanter Erscheinung: groß, rauschend und sehr umfangreich; beständig aufrecht hinter ihren Anstandsgefühlen. Man hätte sie nach den Höhen der Alpen und den Tiefen von Herkulanum mitnehmen können, und nahm sie auch mit, ohne daß eine Falte ihres Kleides aus der Ordnung gekommen oder eine Stecknadel verrückt worden wäre. Wenn ihr Gesicht und ihr Haar ein ziemlich mehliges Aussehen hatten, als wenn dies vom Aufenthalt in einer außerordentlich eleganten Mühle käme, so war dies eher darum der Fall, weil sie überhaupt eine kreidige Natur, als weil sie ihre Gesichtsfarbe mit Veilchenpulver aufbesserte oder grau geworden war. Wenn ihre Augen keinen Ausdruck besaßen, so war dies wohl deshalb der Fall, weil sie nichts auszudrücken hatten. Wenn sie wenig Runzeln besaß, so war es, weil ihr Geist nie seinen Namen oder eine Inschrift auf ihr Gesicht gezeichnet. Eine kalte, wachsartige, ausgelöschte Person, die niemals gut geleuchtet hatte.

Mrs. General hatte keine Meinungen. Ihre Art, einen Geist zu bilden, war die, daß sie ihn hütete, sich Meinungen zu bilden. Sie hatte eine kleine Anzahl kreisförmiger geistiger Rinnen oder Schienen, auf denen sie kleine Züge von andrer Leute Meinungen führte, die sich niemals überholten und nie irgendwohin kamen. Selbst ihr Anstandsgefühl konnte nicht bestreiten, daß es Unanständigkeit in der Welt gebe; aber Mrs. Generals Art, sich davon loszumachen, war, dergleichen aus dem Gesichtskreis zu rücken und glauben zu lassen, daß das gar nicht existiere. Dies war eine zweite Art, wie sie den Geist bildete – alle schwierigen Dinge in Schränke zu kramen, diese zuzuschließen und zu behaupten, sie existierten nicht. Es war die leichteste Art und ohne Vergleich die anständigste.

Mrs. General konnte nichts Angreifendes hören. Unglücksfälle, Jammer und Mißhandlungen durften nie vor ihr erwähnt werden. Leidenschaft schlief gewöhnlich in Mrs. Generals Gegenwart ein und Blut ging in Milch und Wasser über. Das wenige zu firnissen und zu beschönigen, was in der Welt übrigblieb, wenn man alle diese Abzüge gemacht, war Mrs. Generals Aufgabe. In diesem ihrem Bildungsprozeß tauchte sie den kleinsten Pinsel in den größten Topf und firnißte die Oberfläche aller Dinge, die in Betracht kamen. Je mehr Risse eine Sache hatte, desto mehr firnißte sie.

Es war Firnis in Mrs. Generals Stimme, Firnis in Mrs. Generals Berührung, eine Firnisatmosphäre um Mrs. Generals Gestalt. Mrs. Generals Träume waren sicher gefirnißt – wenn sie welche hatte –, als sie in den Armen des guten hl. Bernhard schlief, während der federige Schnee auf seinen Hausgiebel fiel.

Zwanzigstes Kapitel.


Zwanzigstes Kapitel.

Einleitung zum nächsten

Die Passagiere stiegen vom Paketboot an dem Hafendamm von Calais aus. Calais war ein niedrigliegender und niederdrückender Ort in diesem Augenblick, wo die Ebbe aus ihrem niedrigsten Punkte stand. Es war auf der Barre nur noch so viel Wasser, um das Paketboot hereinzulassen; und nun sah die Barre selbst, während eine seichte Brandung sich darüber hinwälzte, wie ein träges, eben an die Oberfläche gekommenes Seeungeheuer aus, dessen Gestalt nur undeutlich zu unterscheiden war, während es so schlafend dalag. Der hagere, ganz weiße Leuchtturm, der wie ein Gespenst am Meeresufer umging, als wäre er der Geist eines Gebäudes, das einst Farbe und Rundung gehabt, weinte melancholische Tränen, wenn die See gegen ihn angestürmt. Die langen Reihen nackter, schwarzer Pfähle, schleimig und naß und wasserzerfressen, mit Leichenkränzen von Seetang, die die letzte Flut ihnen umgewunden, hätten einen unheimlich aussehenden Meereskirchhof vorstellen können. Jeder wellenumbrauste, windumsauste Gegenstand erschien unter dem weiten, grauen Himmel, in dem Lärm von Wind und Meer und vor den krausen Gestalten der Brandung, die sich wild an ihnen brach, so niedrig und klein, daß man sich wundern mußte, daß es überhaupt noch ein Calais gab und daß seine niedrigen Tore und niedrigen Mauern und niedrigen Dächer und niedrigen Gräben und niedrigen Dünen und niedrigen Festungsgräben und flachen Straßen nicht längst der unterwühlenden und belagernden See zur Beute geworden wie die Festungen, die die Kinder am Meeresufer bauen.

Nach vielfachem Ausgleiten zwischen schleimigen Pfählen und Planken, vielfachem Stolpern auf nassen Treppen und mancher Überwindung der Schwierigkeiten, die das Salzwasser bot, traten die Passagiere ihre trostlose Wanderung über den Hafendamm an, wo alle französischen Vagabunden und englischen Flüchtlinge der Stadt (die Hälfte der Bevölkerung) sie erwarteten, um sie von ihrer Verwirrung sich nicht erholen zu lassen. Nachdem alle Engländer sie aufmerksam besichtigt und alle Franzosen als Beute in Anspruch genommen und sich streitig gemacht und endlich Beschlag auf sie gelegt hatten, durften sie, nachdem sie ein meilenlanges Handgemenge durchgemacht hatten, endlich die Straßen betreten und hitzig verfolgt ihre verschiedenen Richtungen einschlagen.

Clennam, den mehr als eine Sorge in Anspruch nahm, war unter diesen Opfern. Nachdem er die Wehrlosesten unter seinen Landsleuten aus dieser äußerst peinlichen Lage befreit hatte, ging er allein seines Weges oder eigentlich so allein, wie es möglich war, verfolgt von einem eingeborenen Herrn in einem schmierigen Anzug und einer Mütze von derselben Beschaffenheit, der ihm in einer Entfernung von fünfzig Schritt nacheilte und ihm beständig in geradebrechtem Englisch nachrief: »Sir! Sir! halten Sie! Ich führe Sie nach dem schönsten Hotel!«

Aber selbst dieser gastfreundliche Mann mußte zuletzt zurückbleiben, und Clennam setzte seinen Weg unbelästigt fort. Die Stadt hatte ein ruhiges, stilles Aussehen nach dem Lärm des Kanals und des Strandes, und die Öde hatte im Vergleich damit sogar etwas Angenehmes. Er begegnete neuen Gruppen seiner Landsleute, die alle ein wucherpflanzenartiges Aussehen hatten, als wenn sie einmal zu stark geblüht hätten, wie gewisse ungesunde Arten von Blumen, und wären nun reines Unkraut; sie hatten den Anstrich, als wenn sie Tag für Tag in einem beschränkten Raum die Runde machten, was ihn stark an das Marschallgefängnis erinnerte. Aber ohne weiter Notiz von ihnen zu nehmen, als genügte, um diesen Gedanken in ihm wachzurufen, suchte er eine gewisse Straße und Hausnummer auf, die er im Kopfe hatte.

»Pancks nannte mir dies«, murmelte er vor sich hin, als er vor einem düstern Hause stillhielt, das mit seiner Adresse korrespondierte. »Ich denke, seine Weisung wird richtig sein und seine Entdeckung unter Mr. Casbys zerstreuten Papieren unbestreitbar, sonst würde ich dies schwerlich für das richtige Haus gehalten haben.«

Ein totes Haus mit einer kahlen Mauer gegenüber und einem öden Torweg an der Seite, wo ein hängender Glockengriff ein totes Geklingel und ein Klopfer ein totes, mattes Geklopf hervorbrachte, das nicht kräftig genug zu sein schien, um selbst durch die geborstene Tür durchzudringen. Die Tür ging jedoch langsam durch eine tote Springfeder auf, und er schloß sie hinter sich, als er in einen stillen Hof trat, den bald eine andere kahle Wand abschloß, an der man den Versuch gemacht, einige Schlinggewächse emporzuziehen, die jedoch abgestorben waren; auch hatte man einen kleinen Springbrunnen in einer Grotte angelegt, er war jedoch vertrocknet; die kleine Statuette, die man darauf angebracht, war zerbrochen.

Der Eingang in dies Haus war zur Linken und war wie der äußere Torweg mit zwei gedruckten Anschlägen in französischer und englischer Sprache geschmückt, die meldeten, daß hier augenblicklich möblierte Zimmer zu vermieten seien. Eine kräftige, muntere Bauerfrau, ganz Strumpf, Unterrock, weiße Mütze und Ohrring, stand hier in einem dunklen Torweg und sagte, indem sie ihre hübschen, weißen Zähne zeigte, in gebrochenem Englisch: »Was gibt es, Sir? Wen rufen Sie?«

Elennam antwortete auf französisch: Die englische Dame, er wünsche die englische Dame zu sprechen.

»So treten Sie ein und kommen Sie herauf, wenn’s gefällig«, versetzte die Bäuerin jetzt gleichfalls französisch. Er tat beides und folgte ihr eine dunkle kahle Treppe hinauf nach einem hinteren Zimmer des ersten Stocks. Hier hatte man eine düstere Aussicht auf den stillen Hof und die abgestorbenen Schlinggewächse und den vertrockneten Springbrunnen und das Piedestal der zerbrochenen Statuette.

»Monsieur Blandois«, sagte Elennam.

»Mit Vergnügen, Monsieur.«

Darauf entfernte sich die Frau und ließ ihm Zeit, sich in dem Zimmer umzusehen. Es war das Muster eines Zimmers, wie sie in solchen Häusern immer zu finden sind. Kühl, düster und dunkel. Ein gebohnerter, sehr glatter Boden. Ein Zimmer, nicht groß genug, um darin Schlittschuh zu laufen; und ungeeignet zum bequemen Betrieb einer andern Beschäftigung. Rot und weiß verhangene Fenster, eine kleine Strohmatte, ein kleiner runder Tisch mit einer wirren Masse von Beinen, plumpe Strohstühle, zwei große, rotsamtne Armstühle, in denen Platz genug war, um sich unbehaglich zu fühlen, ein Schreibtisch, ein Kaminspiegel aus mehreren Stücken zusammengesetzt, der sich aber das Ansehen gab, als wäre er aus einem Stück, ein paar übertrieben glänzende Vasen mit äußerst künstlichen Blumen: zwischen ihnen ein griechischer Krieger mit abgenommenem Helm, der dem Genius Frankreichs eine Uhr opfert.

Nach einer kurzen Pause ging eine Nebentür auf und eine Dame trat ein. Sie legte großes Erstaunen an den Tag, als sie Clennam sah, und ihr Blick lief im Zimmer umher, als ob sie noch jemand suche.

»Verzeihen Sie, Miß Wade. Ich bin allein.«

»Man hat mir doch nicht Ihren Namen gemeldet?«

»Nein; ich weiß das. Entschuldigen Sie mich. Ich habe bereits die Erfahrung gehabt, daß mein Name Sie nicht gerade sehr zu einer Unterredung mit mir geneigt macht; und ich wagte, den Namen eines Mannes nennen zu lassen, den ich suche.«

»Bitte«, versetzte sie, indem sie ihm so kalt einen Stuhl anbot, daß er stehenblieb, »unter welchem Namen ließen Sie sich melden?«

»Unter dem Namen Blandois.«

»Blandois?«

»Ein Name, den Sie kennen.«

»Es ist seltsam«, sagte sie, indem sie ihre Stirn runzelte, »daß Sie beständig ein Interesse an mir und meinen Bekanntschaften, an mir und meinen Angelegenheiten nehmen, das man gar nicht von Ihnen heischt, Mr. Clennam. Ich weiß nicht, was Sie wollen.«

»Verzeihen Sie. Sie kennen jenen Namen?«

»Was können Sie mit dem Namen zu schaffen haben? Was kann ich mit dem Namen zu schaffen haben? Was geht es Sie an, ob ich irgendeinen Namen kenne oder nicht? Ich kenne viele Namen und habe noch mehr vergessen. Dieser kann zu der einen oder zu der andern Klasse gehören, oder ich habe ihn vielleicht auch nie vernommen. Ich kenne keinen Grund, warum ich mich darüber besinnen oder mich nach ihm fragen lassen sollte.«

»Wenn Sie mir erlauben wollen«, sagte Clennam, »so werde ich Ihnen den Grund sagen, weshalb ich mich mit so großem Eifer danach erkundige. Ich gebe zu, daß ich zudringlich bin, und ich muß Sie sehr ernstlich um Verzeihung bitten, daß ich es bin. Der Grund rührt ganz von mir her. Ich will durchaus nicht andeuten, daß es irgendwie Ihretwegen geschähe.«

»Gut, Sir«, versetzte sie, indem sie etwas weniger stolz als zuvor ihre frühere Aufforderung, sich zu setzen, wiederholte; – er gehorchte ihr diesmal, da sie das gleiche tat. »Ich freue mich wenigstens zu erfahren, daß es sich nicht abermals um eine Sklavin eines Ihrer Freunde handelt, die nicht frei wählen darf und die ich weggelockt habe. Ich will Ihren Grund hören, wenn’s gefällig ist.«

»Um bei der Person zu bleiben, von der wir sprechen«, sagte Clennam, »lassen Sie mich bemerken, daß es dieselbe Person ist, die Sie vor einiger Zeit in London trafen. Sie werden sich erinnern, es war unweit des Flusses – in Adelphi.«

»Sie mischen sich auf ganz unerklärliche Weise in meine Geschäfte«, antwortete sie und sah ihn mit strenger Unzufriedenheit an. »Wie wissen Sie das?«

»Ich bitte Sie, es nicht übelzunehmen. Durch reinen Zufall.«

»Wie durch Zufall?«

»Durch den einfachen Zufall, daß ich in der Straße hinter Ihnen drein ging und Zeuge der Zusammenkunft war.«

»Sprechen Sie von sich selbst oder von sonst jemand?«

»Von mir selbst. Ich sah es.«

»Allerdings war es auf offener Straße«, bemerkte sie, nachdem sie einige Augenblicke nachgedacht und ihr Ärger nachgelassen hatte, »fünfzig Leute hätten es sehen können. Es würde nichts ausgemacht haben.«

»Ich lege auch keine Bedeutung darauf, es gesehen zu haben; ebensowenig bringe ich meinen Besuch (außer als eine Erklärung, daß ich überhaupt hierherkomme) oder die Gunst, die ich mir von Ihnen zu erbitten habe, in irgendwelche Verbindung damit.«

»Oh! Sie haben von mir eine Gunst zu erbitten! Es dünkt mich«, und das schöne Gesicht sah ihn bitter an, »als wenn Sie milder geworden wären, Mr. Clennam.«

Er begnügte sich, mit einer leichten Handbewegung dagegen zu protestieren, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Dann erwähnte er Blandois‘ Verschwinden, von dem sie wahrscheinlich gehört hätte? Nein. So unwahrscheinlich es ihn auch dünken möge, habe sie doch nichts davon gehört. Er möge sich umsehen (sagte sie) und selbst urteilen, wie eine allgemeine Kunde zu dem Ohr einer Frau dringen könne, die hier, ganz ihrem Schmerze lebend, wohne. Als sie diese Verneinung ausgesprochen, an deren Wahrheit er glaubte, fragte sie ihn, was es mit dem Verschwinden für eine Bewandtnis habe? Dies veranlaßte ihn, die Umstände ausführlich zu erzählen, und seinen lebhaften Wunsch zu erkennen zu geben, zu erfahren, was wirklich aus dem Mann geworden, um den schwarzen Verdacht zu verscheuchen, der auf seiner Mutter Haus lastete. Sie hörte ihn mit sichtlichem Staunen an und verriet mehr heimliche Teilnahme, als er bisher an ihr bemerkt hatte; aber dennoch änderte sich dadurch nichts Wesentliches in ihrem fernhaltenden, stolzen und verschlossenen Wesen. Als er zu Ende war, sagte sie nichts als die Worte:

»Sie haben mir noch nicht gesagt, was die Sache mich angeht und welche Gunst Sie von mir fordern. Wollen Sie die Güte haben, jetzt darauf zu kommen?«

»Ich setze voraus«, sagte Arthur, noch immer bemüht, ihr verächtliches stolzes Benehmen zu besänftigen, »daß, da Sie im Verkehr – darf ich sagen, im vertrauten Verkehr? – mit dieser Person stehen –«

»Sie können natürlich sagen, was Ihnen beliebt«, bemerkte sie, »aber ich unterschreibe Ihre Voraussetzungen nicht, Mr. Clennam, so wenig wie die jedes andern.«

»– daß, da Sie wenigstens im persönlichen Verkehr mit ihm stehen«, sagte Clennam, seine Worte anders stellend, um einem neuen Widerspruch zu begegnen, »Sie mir etwas von seinem früheren Tun und Treiben, seinen Erlebnissen, seinem gewöhnlichen Wohnorte werden sagen können, daß Sie mir eine Andeutung an die Hand geben können, um ihn am ehesten aufzufinden und ihn entweder herbeizuschaffen oder nachzuweisen, was aus ihm geworden ist. Das ist die Gefälligkeit, die ich mir von Ihnen erbitte, und ich erbitte sie in einer Seelenpein, auf die Sie einige Rücksicht nehmen werden. Wenn Sie irgendeinen Grund haben, mir Bedingungen aufzuerlegen, so werde ich ihn achten, ohne weiter danach zu fragen.«

»Sie haben mich zufällig mit dem Manne auf der Straße gesehen«, bemerkte sie, nachdem sie sehr zu seinem Verdruß sich offenbar mehr mit ihren eigenen Gedanken über diese Sache als mit seiner Bitte beschäftigt hatte. »Sie kannten also den Mann früher?«

»Nicht früher: ich lernte ihn erst später kennen. Ich habe ihn nie zuvor gesehen, aber ich sah ihn wieder in jener Nacht, als er verschwunden ist. Wirklich in meiner Mutter Hause. Dort verließ ich ihn. Sie werden in diesem Blatt alles finden, was von ihm bekannt ist.«

Er übergab ihr einen der gedruckten Zettel, den sie mit ruhigem und aufmerksamem Gesicht las.

»Das ist mehr, als ich von ihm wußte«, sagte sie und gab das Blatt zurück.

Clennams Blick gab seine schmerzliche Enttäuschung zu erkennen, vielleicht sogar seinen Unglauben; denn sie fügte in dem gleichen teilnahmslosen Tone hinzu: »Sie glauben es nicht. Und doch ist dem so. Was den persönlichen Verkehr betrifft, so scheint es mir, daß er im persönlichen Verkehr mit Ihrer Mutter stand: Und dennoch sagen Sie, Sie glaubten ihrer Erklärung, daß sie nicht mehr von ihm wisse.«

Es lag ein so deutlicher Verdacht in diesen Worten und dem Lächeln, das sie begleitete, daß Clennam das Blut in die Wangen schoß.

»Nun, Sir«, sagte sie mit einem grausamen Vergnügen den Stich wiederholend, »ich will offen gegen Sie sein, wie Sie nur immer wünschen mögen. Ich will gestehen, daß, wenn mir etwas an meinem Ruf läge (was nicht der Fall ist) oder ich mir einen guten Namen zu erhalten hätte (was wieder nicht der Fall ist, denn es ist außerordentlich gleichgültig, ob er für gut oder schlecht gilt), so würde ich mich für schwer kompromittiert halten, daß ich irgend etwas mit diesem Menschen zu tun gehabt habe. Aber er schritt nie über meine Schwelle – noch hat er je mit mir bis Mitternacht zusammengesessen.«

Sie rächte ihren alten Groll, indem sie so die Sache gegen ihn kehrte. Es lag nicht in ihrer Natur, zu schonen, und sie hatte kein Mitleid. »Daß er ein gemeiner, für Geld zu habender Mann ist: daß ich ihn zuerst in Italien fand, wo er sich herumtrieb (und wo ich vor nicht langer Zeit war), und daß ich ihn dort als das geeignetste Werkzeug für einen Zweck, den ich gerade verfolgte, in Sold nahm, will ich Ihnen offen gestehen. Kurz, ich hielt es für der Mühe wert, zu meinem Vergnügen – zur Befriedigung eines sehr lebhaften Gefühls – einen Spion zu bezahlen, der mir für Geld zutrug, was ich wissen wollte. Ich bezahlte diese Kreatur. Und ich darf wohl sagen, wenn ich ihn zu einem solchen Geschäft gebraucht und wenn ich ihm genug hätte bezahlen können und wenn er es im Dunkeln tun gekonnt, ohne etwas zu riskieren, er würde jemand mit ebensowenig Bedenken das Leben genommen haben, wie er mein Geld nahm. Das ist wenigstens meine Meinung von ihm; und ich sehe, sie ist nicht sehr von der Ihrigen verschieden. Die Ansicht Ihrer Mutter von ihm, darf ich wohl annehmen (indem ich Ihrem Beispiele folge, dies und jenes anzunehmen), war eine ganz andere.«

»Meine Mutter, lassen Sie mich Ihnen sagen«, versetzte Clennam, »kam erst im unglücklichen Verlauf des Geschäftes mit ihm in Verkehr.«

»Es scheint mir ein unglückliches Geschäft gewesen zu sein, das ihn mit ihr in Verkehr brachte«, versetzte Miß Wade; »und die Geschäftsstunden waren bei dieser Gelegenheit sehr spät.«

»Sie wollen zu verstehen geben«, sagte Arthur, unter diesen kaltblütigen Stichen zuckend, deren Kraft er bereits tief gefühlt hatte, »daß noch etwas –«

»Mr. Clennam«, unterbrach sie ihn ruhig, »erinnern Sie sich, daß ich durchaus nicht andeutungsweise von diesem Manne spreche. Er ist, ich sage es noch einmal ohne allen Hehl, eine niedrige Söldnernatur. Ich glaube, ein solches Geschöpf geht überall hin, wo es für sich etwas zu tun findet. Wenn ich nichts für ihn zu tun gehabt hätte, so würden Sie ihn und mich nicht beisammen gesehen haben.«

Gequält von der Beharrlichkeit, mit der sie diese dunkle Seite der Sache, die ihm selbst wie ein flüchtiger Schatten durch die Seele zog, ihm vor Augen hielt, schwieg Clennam.

»Ich sprach von ihm, als ob er noch lebte«, fügte sie hinzu, »aber er kann ebensogut aus irgendeinem Grunde aus dem Wege geschafft worden sein. Mir ist es völlig gleichgültig. Ich habe nichts weiter mit ihm zu schaffen.«

Mit einem schweren Seufzer und verzweifelnder Miene stand Arthur Clennam langsam auf. Sie stand nicht auch auf, sondern sagte, nachdem sie ihn eine Zeitlang mit einem festen Blick voll Argwohn und die Lippen fest zusammengepreßt betrachtet hatte:

»Er war der Lieblingsumgang Ihres werten Freundes Mr. Gowan, nicht wahr? Warum holen Sie sich nicht Rat bei Ihrem werten Freunde?«

Die Antwort, daß er nicht sein werter Freund sei, stand bereits auf Arthurs Lippen; aber er hielt sie zurück, indem er sich an seine alten Kämpfe und Entschlüsse erinnerte, und sagte:

»Anderes, als daß er Blandois nicht gesehen, seitdem dieser von England abgereist ist, weiß Mr. Gowan nichts von ihm. Es war eine zufällige Reisebekanntschaft.«

»Eine zufällige Reisebekanntschaft!« wiederholte sie. »Ja. Ihr werter Freund hat wohl das Bedürfnis, sich mit allen Bekanntschaften, die er machen kann, zu amüsieren, wenn man bedenkt, was für eine Frau er hat. Ich hasse seine Frau, Sir.«

Die Aufgeregtheit und die Leidenschaft, mit der sie dies sagte und die um so auffälliger war, als sie sich sonst so sehr in ihrer Gewalt hatte, fesselte Clennams Aufmerksamkeit und bewog ihn, noch länger zu bleiben. Es blitzte aus ihren dunklen Augen, als sie ihn ansah, zuckte in ihren Nasenflügeln und durchglühte sogar den Atem, den sie ausströmte; auf ihrem Gesicht lag im übrigen eine geringschätzige Ruhe verbreitet, und ihre Haltung war so sicher und stolz, als ob sie völlig gleichgültig gegen alles wäre, was um sie her vorging.

»Alles, was ich sagen will, Miß Wade«, bemerkte er, »ist, daß man Ihnen keinen Anlaß zu einem Gefühl gegeben haben kann, das, wie ich glaube, niemand mit Ihnen teilt.«

»Sie mögen Ihren werten Freund fragen, wenn Sie wollen, was er über diese Sache denkt«, versetzte sie.

»Ich stehe kaum auf so vertrautem Fuße mit meinem werten Freunde«, sagte Arthur, trotz seiner Entschlüsse, »um eine solche Berührung der Sache sehr wahrscheinlich zu machen, Miß Wade.«

»Ich hasse ihn«, versetzte sie. »Mehr als seine Frau noch, weil ich einst töricht genug und treulos genug gegen mich selbst war, ihn fast zu lieben. Sie haben mich nur bei gewöhnlichen Gelegenheiten gesehen, Sir, wo Sie mich vermutlich auch nur für ein gewöhnliches Weib gehalten, höchstens etwas eigenwilliger als die meisten andern sind. Sie wissen nicht, was ich unter Hassen verstehe; Sie können es nicht wissen, ohne zu wissen, mit welcher Sorgfalt ich mich und die Menschen um mich her studiert habe. Aus diesem Grunde hatte ich seit einiger Zeit Lust, Ihnen meine Lebensgeschichte zu erzählen – nicht um Ihre gute Meinung mir zu gewinnen, denn ich lege keinen Wert darauf, sondern damit Sie begreifen, wenn Sie an Ihren werten Freund und an Ihre werte Freundin denken, was ich unter Haß verstehe. Soll ich Ihnen etwas geben, was ich geschrieben und für Sie zurückgelegt habe, oder soll ich es behalten?«

Arthur bat sie, es ihm zu geben. Sie ging nach dem Schreibtisch, schloß ihn auf und holte aus einer verborgenen Schublade einige zusammengelegte Bogen Papier hervor. Ohne ihn im mindesten zu gewinnen zu suchen, ja, kaum die Worte an ihn richtend, sondern eher sprechend, als rechtfertigte sie sich gegen ihren Spiegel wegen ihres Trotzes, sagte sie, indem sie ihm die Papiere gab: »Jetzt werden Sie erfahren, was ich unter Haß verstehe! Genug jedoch davon. Sir, Sie mögen mich nun vorübergehend in einer billigen leeren Londoner Wohnung finden oder in einem Hause von Calais, Sie werden stets Harriet bei mir treffen. Sie möchten sie vielleicht gern sehen, ehe Sie gehen. Harriet, kommen Sie!« Sie rief Harriet noch einmal. Auf das zweite Rufen kam Harriet, einst Tattycoram.

»Hier ist Mr. Clennam«, sagte Miß Wade, »er kommt nicht Ihretwegen; er hat Sie aufgegeben. Ich vermute es wenigstens.«

»Da ich weder Autorität noch Einfluß habe – ja«, stimmte Clennam bei.

»Sie sehen, er sucht Sie nicht, aber er sucht dennoch jemand. Er möchte wissen, wo jener Blandois ist.«

»Mit dem ich Sie am Strand zu London sah«, fügte Arthur als nähere Bezeichnung hinzu.

»Wenn Sie etwas von ihm wissen, Harriet, außer daß er von Venedig kam – was wir alle bereits wissen – so sagen Sie es Mr. Clennam offen.«

»Ich weiß nichts weiter von ihm«, sagte das Mädchen.

»Sind Sie zufrieden?« fragte Miß Wade Arthur.

Er hatte keinen Grund, ihnen nicht zu glauben; das Benehmen des Mädchens war so natürlich, daß es beinahe hätte überzeugend wirken müssen, wenn er früher gezweifelt hätte. Er antwortete: »Ich muß anderswo etwas zu erfahren suchen.«

Er ging nicht im selben Augenblick; aber er war bereits aufgestanden, ehe das Mädchen eintrat, und sie glaubte offenbar, er sei im Begriff zu gehen. Sie sah ihn lebhaft an und sagte:

»Geht es ihnen gut, Sir?«

»Wem?«

Sie unterbrach sich selbst, indem sie im Begriff war zu sagen: »ihnen allen«; sie sah Miß Wade an und sagte: »Mr. und Mrs. Meagles.«

»Jawohl, als ich zuletzt von ihnen hörte, – sie sind nicht in England. Erlauben Sie mir beiläufig eine Frage. Ist es wahr, daß man Sie dort gesehen hat?«

»Wo? Wo will man mich gesehen haben?« versetzte das Mädchen und schlug verdrießlich die Augen nieder.

»Als Sie an der Gartentür des Landhauses standen.«

»Nein«, sagte Miß Wade. »Sie war nie dort.«

»Sie irren sich«, sagte das Mädchen. »Ich ging, als wir das letztemal in London waren, hin. Ich tat es eines Nachmittags, als Sie mich allein ließen. Und ich warf einen Blick hinein.«

»Du armseliges Geschöpf«, versetzte Miß Wade mit unendlicher Verachtung; »hat all unser Zusammensein, haben alle unsere Gespräche und alle Ihre früheren Klagen so wenig bewirken können?«

»Es war ja ganz unschuldig, einen Augenblick hineinzublicken, als ich an der Gartentür stand«, sagte das Mädchen. »Ich bemerkte an den Fenstern, daß die Familie nicht da war.« »Warum gingen Sie in die Nähe jenes Ortes?«

»Weil ich ihn sehen wollte, weil ich fühlte, daß ich gern wieder einmal einen Blick darauf ruhen lassen würde.«

Wie so die beiden hübschen Gesichter sich gegenseitig ansahen, hatte Clennam ein Gefühl, als ob diese beiden Naturen sich beide beständig zerfleischen müßten.

»Oh!« sagte Miß Wade, kalt ihrem Blick gebietend und ihn abwendend, »wenn Sie irgend den Wunsch hatten, den Ort wiederzusehen, wo Sie jenes Leben führten, von dem ich Sie befreite, weil Sie zur Erkenntnis gekommen waren, was das für ein Leben sei, so ist das etwas anderes. Aber ist das Ihre Wahrheit gegen mich? Ist das Ihre Treue gegen mich? Heißt das gemeinschaftliche Sache mit mir machen? Sie sind des Vertrauens nicht würdig, das ich Ihnen geschenkt habe. Sie sind nicht besser als ein Schoßhündchen und täten besser, Sie gingen zu den Leuten zurück, die Ihnen noch mehr als die Peitsche zu kosten geben.«

»Wenn Sie im Beisein eines Dritten so von ihnen sprechen, so werden Sie mich reizen, ihre Partei zu ergreifen«, sagte das Mädchen.

»Kehren Sie zu ihnen zurück«, entgegnete Miß Wade. »Gehen Sie nur zu ihnen zurück.«

»Sie wissen Wohl«, versetzte nun Harriet, »daß ich nie zu ihnen zurückkehren werde. Sie wissen ganz wohl, daß ich mich von ihnen losgesagt habe und nie mehr zu ihnen zurückkehren kann, will und werde. Also sprechen Sie nicht mehr von ihnen, Miß Wade.«

»Sie ziehen ihren Überfluß Ihrer weniger üppigen Kost hier vor«, versetzte sie. »Sie setzen sie hinauf und mich herunter. Was hätte ich sonst von Ihnen erwarten können. Ich hätte es wissen sollen.«

»Dem ist nicht so«, sagte das Mädchen, hochrot werdend, »und Sie sagen nicht, was Sie meinen. Ich weiß, was Sie meinen. Sie machen mir unter der Hand den Vorwurf, daß ich niemand habe als Sie. Und weil ich niemand habe als Sie, glauben Sie, ich solle alles tun und lassen, was Sie wünschen, und solle mir jede Beleidigung von Ihnen gefallen lassen. Sie sind in jeder Hinsicht so schlimm wie jene. Aber ich will mich nicht ganz zahm und unterwürfig machen lassen. Ich sage es noch einmal, daß ich hinging, um mir das Haus anzusehen, weil ich oft gedacht, daß ich es gern noch einmal sehen würde. Ich will mich noch einmal erkundigen, wie sie sich befinden, weil ich sie einst lieb gehabt und bisweilen gedacht habe, sie seien freundlich gegen mich.«

Darauf sagte Clennam, er sei überzeugt, sie würden sie freundlich aufnehmen, wenn sie jemals zurückzukehren wünschen sollte.

»Nie!« sagte das Mädchen leidenschaftlich. »Das werde ich nie tun. Niemand weiß dies besser als Miß Wade, obgleich sie mich schmäht, weil sie mich von sich abhängig gemacht hat. Und ich weiß, daß ich es bin; und ich weiß, daß es ihr außerordentliche Freude macht, wenn sie es mir vorwerfen kann.« »Ein guter Vorwand!« sagte Miß Wade mit nicht weniger Entrüstung, Stolz und Bitterkeit; »aber zu abgenützt, um zu bedecken, was ich klar dahinter sehe. Meine Armut hält den Wettstreit mit deren Geld nicht aus. Es ist besser, auf der Stelle zurückzukehren, besser, auf der Stelle zurückzukehren und damit die Sache abzumachen!«

Arthur Clennam betrachtete sie, wie sie in dem dunklen beschränkten Zimmer unfern voneinander standen, jedes nur seinem Zorn sich stolz hingebend, jedes mit dem festen Entschluß, sein eigenes Herz und das des andern zu peinigen. Er sprach etwas vom Abschiednehmen; aber Miß Wade neigte einfach den Kopf, und Harriet tat mit der geheuchelten Demut einer abhängigen Sklavin (aber dennoch nicht, ohne Trotz), als ob sie zu niedrig stände, um zu beachten oder beachtet zu werden.

Er ging die dunkle Wendeltreppe hinab in den Hof mit einem lebhafteren Gefühl des düstern Eindrucks, den die leere Mauer und die abgestorbenen Gewächse und die vertrocknete Fontäne und die geborstene Statue auf ihn machte. Ganz beschäftigt mit dem Gedanken an das, was er in diesem Hause gesehen und gehört, und an das Fehlschlagen aller seiner Bemühungen, die Spur des verdächtigen Charakters, der verschwunden war, aufzufinden, kehrte er mit demselben Paketboot nach London zurück, das ihn herübergebracht hatte. Auf dem Wege nahm er die Papiere auseinander und las in ihnen, was das nächste Kapitel wiedergibt.

Einundzwanzigstes Kapitel.


Einundzwanzigstes Kapitel.

Die Geschichte einer Selbstquälerin

Ich hatte das Unglück, nicht einfältig zu sein. Schon in frühester Jugend durchschaute ich, was meine Umgebung mir verborgen zu halten dachte. Wäre ich gewöhnlich hintergangen worden, statt daß ich gewöhnlich hinter die Wahrheit kam, so hätte ich so ruhig leben können, wie die meisten Toren leben.

Meine Kindheit verlebte ich bei meiner Großmutter, das heißt bei einer Dame, die diese Stelle bei mir vertrat und diesen Titel für sich in Anspruch nahm. Sie hatte kein Recht auf denselben, aber ich – so töricht war ich doch damals – hegte kein Mißtrauen gegen sie. Sie hatte einige Kinder ihrer eigenen Familie bei sich und einige Kinder von anderen Leuten. Lauter Mädchen, zehn an der Zahl, mich eingerechnet. Wir lebten alle miteinander, wurden alle zusammen erzogen.

Ich muß ungefähr zwölf Jahre alt gewesen sein, als ich zu merken anfing, wie entschlossen diese Mädchen waren, mich zu bevormunden. Man sagte mir, ich sei eine Waise. Es war keine andere Waise unter uns; und ich bemerkte (das war der erste Nachteil, nicht einfältig zu sein), daß sie mich mit einem zudringlichen Mitleid und mit einer gewissen Überlegenheit schonten. Ich nahm dies nicht so unbesonnen hin. Ich stellte sie oft auf die Probe. Ich konnte sie nur mit Mühe dahin bringen, daß sie sich mit mir zankten. Wenn es mir bei einer gelang, so kam sie gewiß nach einer oder zwei Stunden und versuchte eine Aussöhnung. Ich stellte sie immer und immer wieder auf die Probe und erlebte es nie, daß eine auf mich gewartet hätte, bis ich begonnen. Sie verziehen mir immer in ihrer Eitelkeit und Herablassung. Kleine Ebenbilder erwachsener Leute.

Eines der Mädchen war meine erwählte Freundin. Ich liebte dieses dumme unbedeutende Geschöpf mit einer Leidenschaft, die sie ebensowenig verdiente, wie ich mich ihrer erinnern kann, ohne mich zu schämen, obgleich ich nur ein Kind war. Sie hatte, was man ein liebenswürdiges Temperament, ein liebevolles Wesen nannte. Sie hatte für jedes von uns einen freundlichen Blick und ein freundliches Lächeln. Ich glaube, es war nicht eine Seele im Hause außer mir, die wußte, daß sie es vorsätzlich tat, um mich zu verletzen und zu erbittern.

Demungeachtet liebte ich dieses unwürdige Mädchen so, daß mein Leben durch meine Liebe zu ihr ein ungemein unruhiges wurde. Ich bekam beständig Strafreden und zog mir ihren Unwillen zu, weil, wie sie es nannte, ich »sie reize«, mit andern Worten, weil ich dem Mädchen seine kleine Perfidie vorwarf und sie zu Tränen brachte, indem ich ihr zeigte, wie ich in ihrem Herzen las. Und dennoch liebte ich das Kind aufrichtig und begleitete sie mal während der Festtage nach Hause.

Sie war zu Hause schlimmer, als sie in der Schule gewesen war. Sie hatte eine Unzahl von Kusinen und Bekannten, und wir tanzten zu Hause bei ihr und bei andern Leuten, und sowohl zu Hause als auswärts quälte sie meine Liebe, daß es nicht zu ertragen war. Ihre Absicht war, alle in sich verliebt zu machen und mich vor Eifersucht wahnsinnig werden zu lassen, mit allen vertraut und gegen alle liebreich zu sein – und mich vor Neid vergehen zu lassen. Des Abends, wenn wir allein in unserm Schlafzimmer waren, machte ich ihr gewöhnlich Vorwürfe und zeigte ihr, wie sehr ich ihre niedrige Gesinnung durchschaue; dann weinte sie in einem fort und sagte, ich sei grausam; dann hielt ich sie in meinen Armen bis zum Morgen: und liebte sie so sehr wie immer, und oft war es mir, als wenn, lieber denn so zu leiden, ich sie so in meinen Armen halten und mich in einen tiefen Strom stürzen möchte – wo ich sie immer noch umschlungen halten würde, wenn wir beide längst tot wären.

Es kam zu einem Ende, und ich wurde wieder frei. In der Familie war eine Tante, die mich nicht leiden mochte. Ich zweifle, daß irgend jemand von der Familie mich leiden mochte; aber ich kümmerte mich ja auch nicht darum, daß sie mich leiden mochten, so sehr nahm mich ganz und gar dieses eine Mädchen in Anspruch. Die Tante war eine junge Frau, und sie hatte eine ernste Art, mich mit ihren Augen zu beobachten. Sie war eine kecke Frau und sah mich mit unverhohlenem Mitleid an. Nach einer von den Nächten, von denen ich gesprochen, kam ich vor dem Frühstück in ein Gewächshaus.

Charlotte (so hieß meine falsche junge Freundin) war vor mir hinuntergegangen, und ich hörte, wie ihre Tante mit ihr von mir sprach, als ich eintrat. Ich blieb einen Augenblick stehen, wo ich war, und lauschte, von dem Laub versteckt.

Die Tante sagte: »Charlotte, Miss Wade quält dich zu Tode, und das darf nicht fortdauern.« Ich wiederhole wörtlich, was ich gehört hatte.

Was antwortete sie nun? Sagte sie: »Ich bin es, die sie zu Tode quält, ich, die sie beständig auf der Folter hält, ich bin der Henker, und doch sagt sie mir jede Nacht, dass sie mich von Herzen liebt, obwohl sie weiß, was sie von mir zu erdulden hat?« Nein. Meine erste denkwürdige Erfahrung entsprach ganz dem, was ich von ihr erwartet, und all meinen übrigen Erfahrungen. Sie begann zu schluchzen und zu weinen (um sich die Teilnahme der Tante zu sichern) und sagte: »Liebe Tante, sie hat ein unglückliches Temperament; auch andere Mädchen in der Schule, außer mir, geben sich viele Mühe, es zu bessern: wir geben uns alle viele Mühe.«

Als sie dies sagte, liebkoste die Tante sie, als wenn sie etwas Edles gesagt hätte, statt etwas Verächtliches und Falsches, und ging auf die niederträchtige Behauptung durch die Antwort ein: »Aber es gibt für alles Vernünftige Grenzen, mein liebes Kind, und ich sehe, daß dies arme dürftige Mädchen dir mehr beständigen und nutzlosen Schmerz verursacht, als sogar ein so guter Zweck rechtfertigt.«

Das arme dürftige Geschöpf trat aus seinem Schlupfwinkel hervor, wie Sie sich wohl denken können, und sagte: »Schicken Sie mich nach Hause.« Ich habe nie ein anderes Wort zu einem von ihnen gesprochen als: »Schicken Sie mich nach Hause, oder ich werde allein heimgehen, bei Tag und Nacht!« Als ich nach Hause kam, erzählte ich meiner vermeintlichen Großmutter, wenn man mich zur Vollendung meiner Erziehung nicht anderswohin schicke, ehe dies Mädchen oder eines von den andern zurückkäme, so würde ich mir lieber die Augen ausbrennen, indem ich mich selbst in das Feuer würfe, als den Anblick ihrer intriganten Gesichter ertragen.

Ich kam darauf unter andre junge Mädchen und fand sie nicht besser. Schöne Worte und schöner Schein: aber ich durchschaute diese Versicherungen von sich und ihre Herabsetzungen meiner Person, und sie waren nicht besser. Ehe ich sie verließ, erfuhr ich, daß ich keine Großmutter und keine anerkannten Verwandten hatte. Ich beleuchtete mit dem Lichte dieses Wissens meine Vergangenheit und meine Zukunft. Es zeigte mir viele neue Gelegenheiten, wo Leute über mich triumphierten, während sie sich den Anschein gaben, als behandelten sie mich voll Rücksicht oder erwiesen mir einen Dienst.

Ein Geschäftsmann hatte für mich ein kleines Vermögen zu verwalten. Ich sollte Gouvernante werden und kam in die Familie eines armen Edelmanns, der zwei Töchter hatte – kleine Mädchen, aber die Eltern wünschten sie womöglich unter einer Erzieherin aufwachsen zu lassen. Die Mutter war jung und hübsch. Vom ersten Augenblick an machte sie es recht in die Augen fallend, daß sie mich mit großem Zartgefühl behandeln wolle. Ich behielt meinen Groll für mich; aber ich wußte recht wohl, daß dies ihre Art war, sich mit dem Bewußtsein zu schmeicheln, daß sie meine Herrin sei und ihre Dienerin anders behandeln könnte, wenn ihr das in den Sinn käme.

Ich sage, daß ich keinen Groll hegte, und es war auch nicht der Fall; aber ich zeigte ihr, indem ich ihr nicht zu Gefallen lebte, daß ich sie durchschaute. Wenn sie mich aufforderte, Wein zu nehmen, so nahm ich Wasser. Wenn etwas ausgesucht Feines auf den Tisch kam, so schickte sie es immer mir; aber ich lehnte, es stets ab und aß von den verschmähten Gerichten. Dies Zurückweisen ihrer Gönnerschaft war ein scharfer Gegendruck und gab mir ein Gefühl der Unabhängigkeit. Ich liebte die Kinder. Sie waren schüchtern, aber im ganzen sehr willig, sich an mich anzuschließen. Es war jedoch eine Kinderfrau im Hause, eine Frau mit einem rosigen Gesicht, die immer ihre Heiterkeit und ihre gute Stimmung jedermann aufdrängte: sie hatte beide gestillt und sich ihre Liebe zu erwerben gewußt, ehe ich sie sah. Ich hätte, wenn diese Frau nicht gewesen wäre, mit meinem Schicksal zufrieden sein können. Ihre Kunstgriffe, ihren beständigen Wettkampf mit mir vor den Kindern zu zeigen, hätte manches Mädchen an meiner Stelle nicht bemerkt; aber ich durchschaute sie vom ersten Augenblick an. Unter dem Vorwand, in meinem Zimmer aufzuräumen und mich zu bedienen und für meine Garderobe zu sorgen (was sie alles mit großer Geschäftigkeit besorgte), war sie beständig um mich. Der schlauste ihrer vielen Kunstgriffe war die Art, wie sie sich stellte, als gebe sie sich Mühe, die Kinder mich liebgewinnen zu lehren. Sie führte sie mit allen möglichen Liebkosungen zu mir. »Kommt zur guten Miß Wade, kommt zur lieben Miß Wade, kommt zur hübschen Miß Wade. Sie liebt euch so sehr. Miß Wade ist eine gescheite Dame, die eine Menge von Büchern gelesen hat und euch weit bessere und interessantere Geschichten erzählen kann als ich. Kommt und hört Miß Wade zu!« Wie konnte ich ihre Aufmerksamkeit gewinnen, während mein Herz gegen diese gemeinen Pläne sich empörte? Wie konnte ich mich wundern, wenn ich sah, wie ihre unschuldigen Gesichter sich abwandten und ihre Arme sich um den Hals der Kinderfrau schlangen statt um den meinen. Dann sah sie mich wieder an, strich die Haare aus dem Gesicht und sagte: »Sie werden bald zu Ihnen kommen. Miß Wade; sie sind sehr einfach und herzensgut; grämen Sie sich nicht deshalb, Ma’am.« Das war ein Triumph für sie.

Noch etwas anderes tat die Frau. Bisweilen, wenn sie sah, daß es ihr gelungen war, mich auf diese Weise in ein finsteres, dumpfes Brüten zu versetzen, richtete sie die Aufmerksamkeit der Kinder darauf und zeigte ihnen den Unterschied zwischen ihr und mir. »Still! Die arme Miß Wade ist nicht wohl. Macht kein Geräusch, Kinder, sie hat Kopfweh. Kommt, tröstet sie. Kommt und fragt sie, ob sie sich besser befinde. Kommt und bittet sie, daß sie sich zu Bett lege. Ich hoffe, Sie haben doch keinen Kummer, der Sie drückt, Ma’am? Nehmen Sie’s nicht so schwer, Madame, und grämen Sie sich nicht.«

Es wurde unausstehlich. Als die gnädige Frau, meine Herrin, eines Tages, da ich allein war, zu mir kam und ich recht lebhaft fühlte, daß ich es nicht länger ertragen könne, sagte ich ihr, daß ich um meine Entlassung bitten müsse. Ich könne das Zusammensein mit dieser Dawes nicht ertragen.

»Miß Wade! Die arme Dawes hat Sie ja so sehr lieb: sie würde alles für Sie tun!«

Ich wußte es im voraus, daß sie das sagen würde; ich war ganz darauf vorbereitet; ich antwortete nur, es sei nicht meine Sache, meiner Herrin zu widersprechen; ich müsse gehen.

»Ich hoffe, Miß Wade«, versetzte sie, indem sie augenblicklich den Ton der Überlegenheit anschlug, den sie bis dahin so schwach verdeckt hatte, »daß nichts, was ich seit unsrem Zusammensein gesagt oder getan habe, Ihren Gebrauch dieses unangenehmen Wortes ›Herrin‹ gerechtfertigt habe. Es müßte ganz unabsichtlich von meiner Seite geschehen sein. Bitte sagen Sie mir, was es ist.«

Ich antwortete, daß ich mich nicht zu beklagen habe, weder über meine Herrin, noch gegen meine Herrin; aber ich müßte fort.

Sie war einen Augenblick unschlüssig, setzte sich aber dann neben mich und legte ihre Hand auf die meine, als wenn diese Ehre jede Erinnerung verwischen würde.

»Miß Wade, ich fürchte, Sie sind unglücklich, aus Gründen, auf die ich keinen Einfluß habe.«

Ich lächelte, indem ich an die Erfahrung dachte, die dieses Wort mir vor Augen rief, und sagte: »Ich habe vermutlich ein unglückliches Temperament.«

»Ich sagte das nicht.«

»Es läßt sich auf solche Weise alles erklären«, sagte ich.

»Wohl möglich; aber ich sagte das nicht. Was ich zu berühren wünschte, ist etwas ganz anderes. Mein Gemahl und ich haben mehrmals darüber gesprochen, seit wir mit Schmerz bemerkt haben, daß Sie sich nicht behaglich bei uns fühlen.«

»Behaglich? Oh! Sie sind so vornehme Leute, Mylady«, sagte ich.

»Ich bin unglücklich, wenn ich ein Wort gebrauchte – und offenbar ist dies der Fall -, das gar nicht in meiner Absicht lag. (Sie hatte meine Antwort nicht erwartet, die sie in Verlegenheit setzte.) Ich meinte nur, daß Sie sich nicht glücklich bei uns fühlen. Es ist ein schwieriger Gegenstand, über den nicht leicht zu sprechen ist: aber eine junge Frau kann das doch wohl gegenüber einer andern tun, – kurz, wir haben befürchtet, daß gewisse Familienverhältnisse, an denen niemand weniger schuld sein kann als Sie, auf Ihren Geist niederdrückend wirken möchten. Wenn dies der Fall ist, so lassen Sie uns bitten, daß Sie sich nicht zu sehr darüber grämen. Mein Gatte selbst, wie wohl bekannt ist, hatte früher eine sehr liebe Schwester, die nicht seine rechtmäßige Schwester war, die jedoch allgemein beliebt und geachtet war.«

Ich sah gleich, daß sie mich nur wegen dieser Verstorbenen aufgenommen hatte, wer diese auch war, nur um mir diese gegenüberzustellen und dadurch einen Vorteil über mich zu haben: ich sah darin, daß die Kinderfrau es wußte, eine Aufmunterung für sie, mich zu quälen, wie sie es getan hatte; und ich sah in dem Fernbleiben der Kinder den Ausdruck des unbestimmten Gefühls, daß ich nicht sei wie andere Leute. Ich verließ noch am selben Abend das Haus.

Nach ein oder zwei kurzen ähnlichen Erfahrungen, die hier zu erzählen unnütz wäre, trat ich in eine andere Familie, wo ich nur einen Zögling hatte: ein Mädchen von fünfzehn Jahren, die einzige Tochter des Hauses. Die Eltern waren ältliche Leute: Leute von Rang und Vermögen. Ein Neffe, den sie auferzogen, besuchte neben manchen andern Gästen das Haus häufig, und er begann, mir den Hof zu machen. Ich war entschlossen, ihn zurückzuweisen: denn ich hatte den festen Vorsatz, als ich in diese Familie eintrat, mich von niemand mitleidig und herablassend behandeln zu lassen. Aber er schrieb mir einen Brief. Es führte dazu, daß wir uns verlobten.

Er war ein Jahr jünger als ich und sah noch jünger aus, als diese Verlobung eingegangen wurde. Er war auf Urlaub von Indien, wo er einen Posten innehatte, der bald sehr einträglich zu werden versprach. In sechs Monaten wollten wir uns heiraten und dann nach Indien gehen. Ich sollte im Hause bleiben, und im Hause sollte auch die Hochzeit gefeiert werden. Niemand hatte etwas gegen die Sache einzuwenden.

Ich kann nicht verschweigen, daß er mich bewunderte: aber ich würde es gern, wenn ich es könnte. Eitelkeit ist bei dieser Erklärung nicht im Spiel, denn seine Bewunderung quälte mich. Er gab sich keine Mühe, sie zu verbergen: ja, er machte nur den Eindruck, als stellte er mich unter den reichen Leuten aus, um zu zeigen, daß er mich wegen meines Gesichts gekauft und seinen Kauf rechtfertigen wolle. Sie schätzten mich im stillen ab, wie ich sah, und waren neugierig, was wohl mein voller Wert wäre. Ich war entschlossen, sie es nicht wissen zu lassen. Ich war unbeweglich vor ihnen und stumm und hätte mich lieber von jedem von ihnen töten lassen, als daß ich mich zur Schau gestellt, um mir ihren Beifall zu erringen.

Er sagte mir, ich handle ungerecht gegen mich. Ich sagte ihm, das sei nicht der Fall, und gerade weil ich gegen mich gerecht sei und bis zum letzten Augenblick bleiben würde, wolle ich mich nicht herablassen, einen von ihnen zu gewinnen zu suchen. Er war betroffen und sogar verletzt, als ich hinzufügte, ich wünschte, er würde seine Neigung zu mir nicht so zur Schau tragen: aber er sagte, er wolle selbst diese ehrlichen Regungen seiner Liebe meinem Frieden opfern.

Unter diesem Vorwand begann er Vergeltung an mir zu üben. Ganze Stunden lang hielt er sich fern von mir, indem er mit jedermann eher als mit mir sprach. Ich saß halbe Abende lang allein und unbemerkt, während er mit seiner jungen Kusine, meinem Zögling, sich unterhielt. Während dieser Zeit las ich in den Augen der Leute, daß sie dachten, diese beiden paßten besser zusammen als er und ich. Ich ahnte ihre Gedanken und erwog sie lange bei mir, während ich so dasaß, bis ich fühlte, daß sein junges Aussehen mich lächerlich mache, und ich habe gegen mich gewütet, daß ich ihn jemals geliebt hatte.

Denn ich liebte ihn einst. So wenig er es verdiente und so wenig er an all diese Kämpfe dachte, die es mich kostete, – Kämpfe, die ihn hätten bis an mein Lebensende mir ganz zu eigen und dankbar machen sollen – liebte ich ihn. Ich ertrug es, daß seine Kusine ihn mir ins Gesicht lobte und zu glauben vorgab, daß es mir Freude mache, obgleich sie wohl wußte, daß es mir das Herz zerriß. Ich ertrug es um seinetwillen. Während ich in seiner Gegenwart dasaß und mir alles von ihm geschehene Unrecht, alle Vernachlässigungen ins Gedächtnis zurückrief und mir überlegte, ob ich nicht gleich aus dem Hause fliehen sollte, um es nie wieder zu sehen, – liebte ich ihn.

Seine Tante – man wolle sich erinnern, daß es meine Herrin war – trug absichtlich und wohlüberlegt zu meinen Prüfungen und Qualen bei. Es machte ihr Vergnügen, sich in Schilderungen unseres Lebens in Indien und des Hauses, das wir machen, und der Gesellschaft, die wir bei uns sehen würden, sobald er sein Avancement habe, zu ergehen. Mein Stolz empörte sich gegen dieses plumpe Hervorheben des Kontrastes, in dem mein Leben als Frau zu meiner gegenwärtigen abhängigen und untergeordneten Stellung stehen würde. Ich verbarg meine Entrüstung; aber ich zeigte ihr, daß ihre Absicht an mir nicht unerreicht bleibe, und bezahlte ihre Quälereien mit geheuchelter Demut. Was sie schildere, sei sicherlich zu viel Ehre für mich, sagte ich dann gewöhnlich. Ich fürchtete, einen so großen Wechsel der Verhältnisse nicht ertragen zu können, wenn man sich denke, eine Gouvernante, die Gouvernante ihrer Tochter, die zu einer so hohen Auszeichnung gelange! Sie war verlegen, und alle übrigen waren verlegen, wenn ich auf solche Weise antwortete. Sie wußten, daß ich sie vollständig verstand.

Gerade zu der Zeit, als meine Qual am höchsten gestiegen und ich am aufgebrachtesten gegen die Undankbarkeit meines Geliebten war – der sich so wenig um die zahllosen Kränkungen kümmerte, die ich um seinetwillen erfuhr, erschien Ihr teurer Freund, Mr. Gowan, in dem Hause. Er war mit demselben seit lange befreundet, aber auf Reisen gewesen. Er merkte mit einem Blick, wie es stand, und verstand mich.

Er war die erste Person, die mir je im Leben begegnet, die mich verstand. Er war nicht dreimal bei uns gewesen, als ich schon wußte, daß er jeder Regung meines Geistes folgte. In seiner kalten nachlässigen Weise, wie er sich gegen alle und gegen mich benahm und die ganze Sache behandelte, sah ich das deutlich. In seiner flüchtigen Beteurung der Bewunderung meines künftigen Gatten, in seinem Enthusiasmus über unsere Verbindung und unsere Aussichten, in seinem hoffnungsvollen Glückwunsch zu unserm künftigen Reichtum und seinen niedergeschlagenen Äußerungen über seine Armut – alle gleich hohl, ironisch und voll Spott – sah ich das klar. Er machte mich immer ungehaltener über mich und lehrte mich, mich verachten, indem er mir alles, was mich umgab, in einem neuen hassenswerten Lichte zeigte, während er sich beständig den Anschein gab, als stelle er sie mir in ihrem besten Lichte, zu meiner und seiner Bewunderung dar. Er war wie der aufgeputzte Tod in den holländischen Totentänzen; was für eine Gestalt es sein mochte, die er mit seinem Arm umfaßte, mochte sie jung oder alt sein, hübsch oder häßlich, ob er mit ihr tanzte, sang, spielte oder betete, sie bekam ein geisterhaftes Aussehen.

Sie werden begreifen, daß, wenn Ihr teurer Freund mir Komplimente machte, er mich wirklich bedauerte: daß, wenn er mich in meinem Kummer zu trösten suchte, er jede schmerzende Wunde bloßlegte: daß, wenn er erklärte, mein »getreuer Schäfer« zu sein, der verliebteste junge Mann mit dem zärtlichsten Herzen, das jemals geschlagen, er meine alte Besorgnis wieder wachrief, man mache mich lächerlich. Das waren keine großen Dienste, werden Sie sagen. Sie waren dennoch annehmbar für mich, weil sie das Echo meines eigenen Gefühls waren und meine eigene Ansicht bestätigten. Ich war bald gern in der Gesellschaft Ihres teuren Freundes, lieber als in jeder andern.

Als ich gewahr wurde (was fast sogleich geschah), daß Eifersucht daraus entstand, war mir diese Gesellschaft noch lieber. Hatte ich nicht selbst von Eifersucht leiden müssen und sollte ich allein leiden? Nein. Er sollte wissen, was es ist. Ich freute mich, daß er es erfahren sollte; ich freute mich, daß er es tief empfand, und ich hoffte es. Mehr noch. Er war zahm im Vergleich mit Mr. Gowan, der mich auf gleichem Fuß zu behandeln verstand und unsre elende Umgebung zu zergliedern wußte.

Das ging so fort, bis die Tante, meine Herrin, es übernahm, mit mir zu sprechen. Es sei kaum der Rede wert: sie wüßte, ich dächte nichts dabei: aber sie möchte von sich aus die Andeutung machen, und sie wisse, daß eine solche genüge, ob es nicht besser wäre, wenn ich etwas weniger mit Mr. Gowan verkehrte.

Ich fragte sie, wie sie für das, was ich meinte, stehen könne? Sie antwortete, sie könne gewiß dafür stehen, daß ich nichts Böses dabei denke. Ich dankte ihr, sagte jedoch, ich würde vorziehen, für mich selbst zu stehen und mir selbst Rede zu stehen. Ihre andern Diener würden ihr wahrscheinlich für ein gutes Zeugnis dankbar sein, aber ich brauchte keines.

So gab ein Wort das andere, und es bot sich die Veranlassung, sie zu fragen, wie sie wisse, daß es nur eine Andeutung von ihr bedürfe, um mich gehorchen zu machen? Ob sie meine Geburt oder meinen Lohn dabei in Anschlag bringe? Ich sei nicht mit Leib und Seele gekauft. Sie scheine zu glauben, daß ihr ausgezeichneter Neffe auf den Sklavenmarkt gegangen und sich eine Frau erhandelt habe.

Es würde wahrscheinlich früher oder später zu dem Ende gekommen sein, zu dem es kam, aber sie brachte die Sache sogleich zur Entscheidung. Sie sagte mir mit gemachtem Mitleid, daß ich ein unglückliches Temperament habe. Bei dieser Wiederholung der alten boshaften Beleidigung hielt ich nicht länger an mich, sondern setzte ihr alles auseinander, was ich von ihr wußte und gesehen, und was ich innerlich durchgemacht, seitdem ich diese verabscheuungswerte Stellung, mit ihrem Neffen verlobt zu sein, eingenommen hätte. Ich sagte ihr, Mr. Gowan sei mein einziger Trost in meiner Erniedrigung; ich hätte es zu lange ertragen und schüttle es zu spät ab; aber ich wolle nie wieder einen von ihnen zu Gesicht bekommen. Und dies geschah auch.

Ihr werter Freund folgte mir in meine Einsamkeit und war sehr drollig, wenn er über den Bruch des Verhältnisses sprach: obgleich ihm auch die ausgezeichneten Leute leid taten (in ihrer Art die besten, die er kannte) und die Notwendigkeit bedauerte, bloße Stubenfluren rädern zu müssen. Er beteuerte bald und weit aufrichtiger, als ich vermutete, daß er nicht wert sei, vor einer Frau von solchen Gaben und solcher Charakterkraft Gnade zu finden: aber – schon gut, schon gut! –

Ihr werter Freund amüsierte mich und amüsierte sich, solange er daran Geschmack fand; und dann erinnerte er mich, daß wir beide Leute von Welt seien und daß wir beide die Welt kennten, daß wir beide wüßten, es gebe keine Poesie auf Erden, daß wir beide darauf gefaßt seien, verschiedene Wege zu gehen, um unser Glück zu suchen wie vernünftige Menschen, und daß wir beide einsähen, wenn wir uns wieder einmal begegnen sollten, wir uns als die besten Freunde von der Welt begrüßen würden. So sagte er, und ich widersprach ihm nicht.

Es dauerte nicht lange, so entdeckte ich, daß er seiner gegenwärtigen Frau den Hof machte, und daß man mit ihr weggereist sei, um sie aus seinem Bereich zu bringen. Ich haßte sie damals, ganz wie ich sie jetzt noch hasse; und ich konnte deshalb natürlich nichts mehr wünschen, als daß sie ihn heirate. Aber ich hatte keine Ruhe mehr, ich mußte sie sehen – ich war so neugierig, daß ich fühlte, es sei einer der wenigen Genüsse, die mir noch geblieben wären. Ich machte einige kleine Reisen: reiste, bis ich mit ihr zusammenkam und mit ihr und ihnen reiste. Ihr teurer Freund war, wie ich glaube, Ihnen damals noch nicht bekannt, und er hatte Ihnen noch keinen jener ausgezeichneten Beweise seiner Freundschaft gegeben, mit denen er Sie seitdem beschenkte.

In dieser Gesellschaft befand sich ein Mädchen, dessen Lage in verschiedenen Beziehungen der meinen so ähnlich war, und in dessen Charakter ich mit Interesse und Freude viel von dem als mir eigentümlich bezeichneten Widerstand gegen anmaßende Gönnerschaft und Selbstsucht fand, die sich Freundlichkeit, Herablassung, Wohlwollen und andre schönen Namen beilegt. Ich hörte oft von ihr sagen, »daß sie ein unglückliches Temperament habe«. Da ich wohl wußte, was durch diese bequeme Phrase gesagt werden sollte, und da ich eine Gefährtin brauchte, die wußte, was ich wußte, und erfahren, was ich erfahren hatte, so kam ich auf den Gedanken, das Mädchen von ihrer Sklaverei und dem Gefühl ungerechter Behandlung zu befreien. Ich brauche Ihnen nicht zu erzählen, daß es mir gelang.

Wir haben die ganze Zeit zusammen gelebt und meine kleinen Mittel miteinander geteilt.

Zweiundzwanzigstes Kapitel.


Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Wer kommt so spät bei Nacht vorbei?

Arthur Clennam hatte seine nutzlose Expedition nach Calais inmitten eines großen Geschäftsandrangs gemacht. Eine gewisse barbarische Macht, mit bedeutenden Besitzungen auf der Landkarte, brauchte die Dienste von ein bis zwei Ingenieuren von rascher Erfindungsgabe und Entschlossenheit in der Durchführung: praktischen Männern, die die Menschen und Mittel, die ihr Scharfsinn für notwendig hielt, aus bestem Material, das sie finden konnten, zu machen imstande waren; und die so kühn und fruchtbar in der Verwendung solchen Stoffes zu ihrem Zweck waren als im Entwerfen ihrer Pläne selbst. Da diese Macht eine barbarische war, so kamen sie nicht auf den Gedanken, eine große Nationalsache in einem Circumlocution Office zu begraben, wie man starken Wein in einem Keller vom Licht abschließt, bis sein Feuer und seine Jugend verflogen und die Arbeiter, die im Weinberg gearbeitet und die Trauben gepreßt, zu Staub geworden sind. Mit charakteristischer Unwissenheit handelte diese Macht nach dem entschiedensten und energischsten Begriffe, »wie man’s machen müsse«, und zeigte nie die geringste Achtung vor der großen politischen Wissenschaft, »wie man’s nicht machen müsse«, oder beachtete sie auch nur im mindesten. Kurz, sie hatte eine barbarische Art, die letztere geheimnisvolle Kunst in der Person jedes erleuchteten Kopfes, der sie übte, totzuschlagen.

In dieser Richtung wurden die Männer, deren man bedurfte, gesucht und gefunden: was schon an und für sich ein höchst unzivilisiertes und unregelmäßiges Verfahren war. Als man sie gefunden, behandelte man sie mit großem Vertrauen und vieler Auszeichnung (was abermals die größte politische Unwissenheit bewies) und lud sie ein, sogleich zu kommen und zu tun, was ihnen als Aufgabe gestellt war. Kurz, man betrachtete sie als Männer, die etwas zu tun beabsichtigten, und die mit andern Männern einen Kontrakt eingehen, die etwas getan wissen wollten.

Daniel Doyce war einer von den Auserwählten. Man konnte nicht absehen, ob er Monate oder Jahre abwesend sein würde. Die Vorbereitungen zu seiner Abreise und die gewissenhafte Zusammenstellung aller Einzelheiten und Resultate ihres gemeinschaftlichen Geschäfts, damit er eine Übersicht habe, veranlaßte in kurzer Zeit große Arbeit, die Clennam Tag und Nacht beschäftigt hatte. Im ersten freien Augenblick war er über See gegangen und war ebenso bald wieder zurückgekehrt, um Doyce Lebewohl zu sagen.

Arthur legte ihm jetzt sorgfältig und genau den Stand ihrer Gewinne und Verluste, ihrer Verbindlichkeiten und Aussichten dar. Daniel sah alles in seiner geduldigen Weise durch und bewunderte es ganz außerordentlich. Er ging die Rechnungen durch, und sie erschienen ihm ein weit sinnreicherer Mechanismus, als er jemals einen konstruiert, und blieb dann betrachtend vor ihnen stehen und hielt den Hut in der Hand, als wenn er in die Betrachtung einer herrlichen Maschine versunken wäre.

»Es ist alles wunderschön, Clennam, so einfach und geordnet. Nichts kann einfacher sein. Nichts kann besser sein.«

»Ich freue mich, daß Sie der Sache Ihre Billigung zuteil werden lassen, Doyce. Was jedoch nun die Verwendung unseres Kapitals während Ihrer Abwesenheit betrifft und das Flüssigmachen der Summen, die das Geschäft von Zeit zu Zeit nötig hat –« Sein Associé unterbrach ihn.

»Was das betrifft und alles andere, so bleibt das Ihnen überlassen. Sie werden auch künftig in allen derartigen Dingen für uns beide handeln, wie Sie bisher getan, und meiner Seele eine Last abnehmen, um die sie sich bisher leichter gefühlt hat.«

»Obgleich, wie ich Ihnen oft sage«, versetzte Clennam, »Sie ganz ungerecht Ihre Fähigkeiten als Geschäftsmann herabsetzen.«

»Vielleicht wohl«, sagte Doyce lächelnd. »Und vielleicht auch nicht. Wie dem nun aber auch sei, ich habe einen Beruf, den ich gründlicher als dergleichen Sachen studiert, und ich tauge besser für diesen Beruf. Ich habe vollkommenes Vertrauen in meinen Associé gesetzt, und ich bin überzeugt, daß er tun wird, was das beste ist. Wenn ich ein Vorurteil in Beziehung auf Geld und Geldzahlen habe«, fuhr er fort, indem er den sprechenden Arbeiterdaumen auf den Revers des Rockes seines Associé legte, »so ist es gegen das Spekulieren. Ich glaube nicht, daß ich ein anderes habe. Ich möchte freilich behaupten, daß ich dieses Vorurteil habe allein deshalb, weil ich niemals ernstlich darüber nachgedacht habe.«

»Aber Sie sollten es kein Vorurteil nennen«, sagte Clennam. »Mein lieber Doyce, es ist der gesundeste Verstand.«

»Ich freue mich, daß Sie so denken«, versetzte Doyce.

»Eben jetzt, keine halbe Stunde, ehe Sie kamen, sagte ich dasselbe zu Pancks, der hier vorsprach. Wir waren beide der Ansicht, daß das Anlegen von Kapitalien in unsicheren Unternehmungen eine der gefährlichsten, wenn auch eine der gewöhnlichsten von den Torheiten ist, die häufig sogar den Namen Verbrechen verdienen.« »Pancks?« sagte Doyce, indem er seinen Hut hinten in die Höhe schob und mit einer vertrauensvollen Miene nickte. »Ja, ja, ja, das ist ein vorsichtiger Mann.«

»Allerdings, er ist ein sehr vorsichtiger Mann«, versetzte Arthur. »Ein wahres Muster von Vorsicht.«

Sie schienen beide aus dem vorsichtigen Charakter von Pancks weit mehr Befriedigung zu schöpfen, als man aus ihrem Gespräch schließen konnte.

»Und jetzt«, sagte Daniel, indem er auf seine Uhr blickte, »da Zeit und Flut auf niemand warten, mein wackerer Associé, und da ich bereit bin abzureisen, denn meine Bagage ist bereits vor der Tür unten, so lassen Sie mich Ihnen ein letztes Wort sagen. Sie sollten mir eine Bitte gewähren.«

»Jede Bitte, die Sie aussprechen. – Ausgenommen«, Clennam kam rasch mit seiner Ausnahme, denn er las rasch auf dem Gesicht seines Associé, »ausgenommen die, daß ich Ihre Erfindung auf sich beruhen lassen soll.«

»Das ist die Bitte, und Sie wissen sie schon im voraus«, sagte Doyce.

»So sage ich nein. Ich sage entschieden nein. Jetzt, da ich einmal begonnen, will ich einen entschiedenen Grund, eine verläßliche Darlegung, etwas, was wie eine wirkliche Antwort aussieht, von diesen Leuten haben.«

»Sie werden sie aber nicht erhalten«, versetzte Doyce, den Kopf schüttelnd. »Ich gebe Ihnen mein Wort, Sie bekommen sie nicht.«

»Wenigstens will ich es versuchen«, sagte Clennam. »Es wird mir keinen Kummer machen, wenn ich es versuche.«

»Davon bin ich nicht überzeugt«, versetzte Doyce, indem er ihm überredend die Hand auf die Schulter legte. »Es hat mir Kummer bereitet, Freund. Es hat mich alt, müde gemacht, es hat mich geärgert und enttäuscht. Es tut niemand gut, wenn seine Geduld erschöpft wird und er Unrecht leiden zu müssen glaubt. Ich meine selbst jetzt schon, daß nutzloses Warten auf Verzögerungen und Ausflüchte Ihnen etwas von der Elastizität genommen, die Sie früher besessen haben.«

»Familiensorgen mögen daran im Augenblick schuldig sein«, sagte Clennam, »aber nicht amtliche Quälereien. Noch nicht, ich bin noch nicht verwundet und verletzt.«

»Dann wollen Sie also meine Bitte nicht gewähren?«

»Entschieden nicht«, sagte Clennam. »Ich würde mich schämen, wenn ich mich so bald aus dem Felde schlagen ließe, wo ein weit älterer und weit näher bei der Sache interessierter Mann so lange und so tapfer ausgehalten hat.«

Da es unmöglich war, ihn andern Sinns zu machen, erwiderte Daniel Doyce den Druck seiner Hand, und nach einem Abschiedsblick in dem Kontor umher ging er mit ihm die Treppe hinab. Doyce wollte nach Southampton, um dort die kleine Zahl seiner Mitreisenden zu treffen; und ein Wagen stand an der Tür, wohl ausgestattet und gepackt, und bereit, ihn fortzufahren. Die Arbeiter standen an der Tür, um ihn abreisen zu sehen, und waren außerordentlich stolz auf ihn. »Glückliche Reise, Mr. Doyce!« sagte einer von ihnen, »wo Sie auch hingehen mögen, die Leute werden finden, daß sie einen Mann berufen, einen Mann, der seine Instrumente kennt und den seine Instrumente kennen, einen Mann, der will und der kann, und wenn das kein Mann ist, wo ist dann noch ein Mann!« Diese Rede, von einem sonst mürrischen Freiwilligen gehalten, der im Hintergrund stand, und dem man früher so etwas gar nicht zugetraut hatte, wurde mit drei lauten Cheers aufgenommen; und der Sprecher wurde dadurch in der Folge ein Mann von Ansehen und Bedeutung. Inmitten der drei Cheers sagte ihnen Daniel ein herzliches: »Lebet wohl, Ihr Lieben!« und der Wagen verschwand, als wenn die Erschütterung der Luft ihn aus dem Hofe zum blutenden Herzen hinausgeblasen hätte.

Mr. Baptist hatte als dankbarer Mensch, der einen Vertrauensposten einnahm, unter den Arbeitern gestanden und bei diesen Cheers so viel mitgejauchzt, als es einem Fremden überhaupt möglich ist. Denn niemand auf der Welt kann so »cheer« rufen wie die Engländer, die, wenn es ihnen ernst damit ist, so ihr Blut und Feuer zusammenraffen, daß man glauben möchte, ihre ganze Geschichte vom sächsischen Alfred bis auf unsere Tage brause mit allen ihren Bannern im Winde daher. Mr. Baptist war gewissermaßen vor dem Sturm einhergewirbelt worden und schöpfte ganz verwirrt Atem, als Clennam ihm winkte, er solle mit ihm hinaufkommen und Bücher und Papiere wieder an ihren Platz bringen.

Während der nach der Abreise eintretenden Stille – in jener ersten Leere, die immer auf jede Trennung folgt und eine Ahnung von der großen Trennung gibt, die beständig über der ganzen Menschheit schwebt – stand Arthur an seinem Pulte und sah träumerisch einem Sonnenstrahle nach. Aber seine freigewordene Aufmerksamkeit kehrte bald zu dem Gegenstand zurück, der seine Gedanken am meisten beschäftigte, und er begann zum hundertsten Male auf jedem Umstand zu verweilen, der in jener geheimnisvollen Nacht, als er den Mann bei seiner Mutter gesehen, sich seinem Gedächtnisse eingeprägt hatte. Wiederum stieß der Mann in der krummen Straße auf ihn, wiederum folgte er dem Mann und verlor ihn aus den Augen, wiederum fand er den Mann auf dem Hofe, nach dem Hause hinaufschauend, wiederum folgte er dem Mann und stand neben ihm auf den Stufen der Haustür.

»Wer kommt so spät bei Nacht vorbei?
Compagnon de la Majolaine;
Wer kommt so spät bei Nacht vorbei?
Immer froh!«

Es war nicht das erstemal, daß er sich das Liedchen aus dem Kinderspiel zurückrief, von dem jener Mann, als er neben ihm stand, diesen Vers gesummt hatte; aber er wußte so wenig, daß er es hörbar gesummt, daß er erschrak, als er den nächsten Vers hörte:

»Die Blüte aller Ritterschaft,
Compagnon de la Majolaine,
Die Blüte aller Ritterschaft,
Immer froh!«

Cavaletto hatte bescheiden die Worte und die Melodie ergänzt, da er geglaubt hatte, er habe abgebrochen, weil ihm die Fortsetzung unbekannt war.

»Ah! Sie kennen das Lied, Cavaletto?«

»Beim Bacchus, ja, Sir! Jedermann kennt es in Frankreich. Ich habe es oft von kleinen Kindern singen hören. Das letztemal, als ich es gehört«, sagte Mr. Baptist, früher Cavaletto, der immer zu seiner von Jugend auf gewohnten Konstruktion des Satzes zurückkehrte, wenn sein Gedächtnis sich der Heimat näherte, »war es von einer süßen kleinen Stimme. Einer kleinen, sehr hübschen, sehr unschuldigen Stimme. Altro!«

»Das letztemal, daß ich es gehört habe«, versetzte Arthur, »war es von einer Stimme, die ganz das Gegenteil von hübsch und ganz das Gegenteil von unschuldig war.« Er sagte dies mehr zu sich als zu seinem Gefährten und fügte mit jenes Mannes weitern Worten bei sich hinzu: »Tod meines Lebens, es liegt in meinem Charakter, ungeduldig zu sein.«

»Oh!« lief Cavaletto erstaunt, und alle Farbe war mit einem Male aus seinem Gesicht verschwunden.

»Was gibt es?«

»Sir! Sie wissen, wo ich dieses Lied zum letztenmal gehört habe?«

Mit der raschen Gebärdensprache des Italieners machten seine Hände den Umriß einer großen Habichtsnase, zerzausten seine Haare, machten seine Oberlippe dick, um einen vollen Schnurrbart anzudeuten, und warfen den schweren Zipfel eines eingebildeten Mantels über seine Schulter. Während er dies mit einer Schnelligkeit tat, die jedem unbegreiflich ist, der nicht einen italienischen Landmann beobachtet hat, zeigte er ein sehr merkwürdiges und falsches Lächeln. Die ganze Veränderung fuhr wie ein Blitz über ihn hin, und er stand im selben Augenblick wieder leichenblaß und erstaunt vor seinem Patron.

»Im Namen aller Wunder«, sagte Clennam, »was wollten Sie damit sagen? Kennen Sie einen Mann mit Namen Blandois?«

»Nein«, sagte Mr. Baptist, den Kopf schüttelnd.

»Sie haben eben einen Mann beschrieben, der dabei war, als Sie jenes Lied hörten, nicht wahr?«

»Ja!« sagte Mr. Baptist, fünfzigmal nickend.

»Und hieß er nicht Blandois?«

»Nein!« sagte Mr. Baptist. »Altro, Altro, Altro, Altro!« Er konnte mit der gleichzeitigen Bewegung seines Kopfes und seines rechten Zeigefingers nicht energisch genug von sich abweisen.

»Halt!« rief Clennam und breitete die Bekanntmachung auf seinem Pulte aus. »War es dieser Mann? Sie verstehen doch, was ich laut lese?«

»Ganz und gar. Vollkommen.«

»Aber sehen Sie zugleich hinein. Kommen Sie hierher und sehen Sie mir über die Schulter, während ich lese.«

Mr. Baptist näherte sich, folgte jedem Wort mit seinen raschen Augen, sah und hörte alles mit der größten Ungeduld; dann schlug er mit beiden Händen flach auf den Zettel, als wenn er in seiner Wut ein gefährliches Tier finge, und rief, indem er Clennam dabei fest ins Auge faßte: »Das ist der Mann! Sehen Sie ihn!«

»Das ist mir von unendlich größerer Wichtigkeit«, sagte Clennam äußerst aufgeregt, »als Sie sich denken können. Sagen Sie mir, wo Sie den Mann kennengelernt haben.«

Mr. Baptist, der das Papier sehr langsam und sehr ungern losließ und zwei bis drei Schritte zurücktrat, tat, als ob er seine Hände abstäubte, und versetzte sehr gegen seinen Willen:

»In Marsiglia – Marseilles.«

»Was war er?«

»Ein Gefangener und – Altro! Ich glaube ja! – ein«, Mr. Baptist trat näher, um ihm zuzuflüstern, »ein Mörder!«

Mr. Clennam fuhr zurück, als wenn das Wort ihm einen Schlag versetzt: so furchtbar ließ es ihm den Verkehr seiner Mutter mit diesem Mann erscheinen. Cavaletto sank auf ein Knie und bat ihn mit den lebhaftesten Gebärden, anzuhören, was ihn in solche schlechte Gesellschaft gebracht.

Er erzählte ihm vollkommen der Wahrheit gemäß, wie er durch ein kleines Schmuggelgeschäft in das Gefängnis geraten, wie er seinerzeit wieder frei geworden, und wie er sein früheres Tun und Treiben aufgegeben habe. Wie er in dem Wirtshaus zum Tagesanbruch in Chalons an der Saone von demselben Mörder, der damals den Namen Lagnier angenommen, obgleich er früher Rigaud geheißen, bei Nacht in seinem Bett aufgeweckt worden sei; wie der Mörder ihm vorgeschlagen, sie wollten gemeinschaftliche Sache machen; wie er solche Furcht und solchen Abscheu vor dem Mörder gehegt, daß er mit Tagesanbruch ihm entflohen sei, und wie ihn seitdem beständig die Angst gequält habe, dem Mörder wieder zu begegnen und von ihm als alter Bekannter angeredet zu werden. Als er dies mit großer Emphase und einem Nachdruck auf dem Worte Mörder, der seiner Muttersprache eigentümlich war, und der es Clennam nicht gerade weniger schrecklich machte, erzählt hatte, sprang er plötzlich wieder auf, stürzte auf den Zettel los und rief mit einer Heftigkeit, die bei jedem Nordländer unbedingt Wahnsinn gewesen wäre: »Sehen Sie hier den Mörder! Das ist derselbe!«

In seiner heftigen Aufregung vergaß er ganz die Tatsache, daß er kürzlich in London den Mörder gesehen hatte. Als er sich daran erinnerte, schöpfte Clennam anfangs Hoffnung, das Zusammentreffen möchte von späterem Datum sein als der nächtliche Besuch bei seiner Mutter, aber Cavaletto wußte zu genau Zeit und Ort, um einen Zweifel offen zu lassen, daß es vorher gewesen war.

»Hören Sie nun«, sagte Arthur mit großem Ernst. »Dieser Mann ist, wie wir hier gelesen haben, gänzlich verschwunden.«

»Das ist mir äußerst angenehm«, sagte Cavaletto, indem er seine Blicke dankbar zum Himmel erhob. »Tausend Dank dem Himmel! Verwünschter Mörder!«

»Nicht doch«, versetzte Clennam, »denn bis ich nicht etwas weiteres von ihm höre, habe ich keine ruhige Stunde.«

»Genug, Wohltäter; das ist etwas anderes. Bitte tausendmal um Entschuldigung.«

»Jetzt, Cavaletto«, sagte Clennam, indem er ihn sanft beim Arme umdrehte, daß sie sich in die Augen sehen konnten. »Ich bin überzeugt, daß Sie für das wenige, was ich für Sie tun konnte, der aufrichtigste und dankbarste Mensch sind.«

»Ich schwöre es«, rief der andere.

»Ich weiß es. Wenn Sie diesen Mann finden oder herausbringen, was aus ihm geworden ist, oder irgendeine spätere Kunde von ihm bekommen könnten, so würden Sie mir einen Dienst erweisen, der mir über jeden andern in der Welt ginge, und würden mich (mit weit mehr Grund) so dankbar gegen Sie machen, wie Sie es gegen mich sind.«

»Ich weiß nicht, wohin ich meine Blicke richten soll«, rief der kleine Mann, indem er Arthurs Hand in seiner Begeisterung küßte, «ich weiß nicht, wo beginnen. Ich weiß nicht, wohin gehen. Aber Mut! Genug! Es ist eins! Ich gehe noch diesen Augenblick.«

»Kein Wort davon mit jemand anderem als mir, Cavaletto!«

»Altro!« rief Cavaletto. Und war in größter Eile fort.