Einleitung.

Dickens hat seinem 1839 erschienenen Roman »Nicolaus Nickleby« selbst ein auch in unserer Ausgabe zum Abdruck kommendes Nachwort geschrieben, worin er mit echt englisch satirischem Humor bestätigt, daß die von ihm geschilderten Zustände im Privatschulwesen tatsächlich bestanden haben. Der heutige deutsche Leser würde erst recht sonst annehmen, daß so schreckliche Verhältnisse kaum möglich gewesen sein konnten. Aber in unserer Zeit, wo das Schulwesen durchweg unter Aufsicht des Staates steht, ist es schwer denkbar, daß früher auch auf dem Kontinent, auch in Deutschland Winkelschulen schlimmster Art existierten, die denen des Yorkshirer Schulmeisters Squeers kaum etwas nachgaben. Indem Dickens auf die Wunden der menschlichen Gesellschaft schonungslos hinwies, ward er ein sozialer Apostel, als der er sich auch in »Schwere Zeiten« und in gleichgerichteten anderen Werken gezeigt hat.

Man wird den Gehalt des Nickleby erst recht zu schätzen wissen, wenn man ihn aus dem Geist der Zeit, dem englischen Puritanismus heraus zu lesen versteht. Unserer ›aufgeklärteren‹, minder empfindsamen Welt von heute wird z. B. fast unbegreiflich erscheinen, wie hilflos zunächst ein junges Mädchen wie Käthchen der argen Welt gegenübersteht, in die sie durch Ralph Nickleby gestürzt wird. Das Mädchen von heute weiß sich anders zu helfen als Käthchen. Aber wir mögen bedenken, daß auch uns Deutschen der dem englischen Käthchen verwandte Typus Gretchens, den uns Goethes »Faust« schenkte, immer seltener, ja fremdartiger wird. Noch seltsamer mögen uns manche gesellschaftliche Zustände und Einrichtungen erscheinen, die aber eben aus dem Geist des Puritanertums begreiflich werden.

Die Puritaner bedeuteten zunächst eine von dem Genf Calvins beeinflußte Partei der Protestanten in England. Sie wollten innerhalb der anglikanischen Kirche die Reinheit (puritas) des evangelischen Christentums wiederherstellen, forderten Trennung der Kirche vom Staat und strengste Kirchenzucht. Die puritanische Gesinnung setzte sich im Zeitalter des großen Staatsmannes Cromwell durch; sie bedingte die straff disziplinierte Sittlichkeit Englands während der folgenden Jahrhunderte und hat in ihrer Strenge und Nüchternheit das meiste dazu beigetragen, daß England die Weltmachtstellung erlangte, die es heute besitzt. Anderseits aber drang die äußere Disziplinierung nicht überall durch. So kam es, daß Prüderie und Heuchelei, ein nur »sittlich tun als ob«, ein Nichtsehenwollen und Nichtsehenkönnen des Schlechten, ja ein gewisser Zynismus zu den schlimmsten Fehlern der englischen Gesellschaft wurden. Wie sich der englische Puritanismus zum Guten auswirken konnte, das zeigt bei Dickens das prachtvolle Kaufmannspaar, die Gebrüder Cheerible; und wie er sich zum Bösen wendet, das erweist an gleicher Stelle die Umwelt des Wucherers Ralph Nickleby. Auch das nichtswürdige Dulden von Privatschulen nach dem Muster eines Squeers wird so begreiflich. Ebenso erklärt sich aus dieser Geisteswelt die Sphäre der bald anmutenden, liebenswürdigen, bald beklemmenden, vorurteilsvoll sich zeigenden Moden und Launen der Frauenzimmerwelt, von der Dickens in unserem Roman die verschiedensten Charaktere darstellt: von dem keuschen (keusch im schönsten Sinne!) Käthchen bis zur konventionell aufgeplusterten, geschwätzigen Madame Nickleby, von der eingebildeten Thilda bis zu der liebenswürdigen, harmlosen kleinen Malerin. Als scharfblickender Frauenkenner zeichnet Dickens die einzelnen Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts und ihre ewigen Schwächen ersichtlich mit boshaftem Vergnügen.

Dickens Romane bewahren stets den Glauben an den endlichen Sieg des Guten. Sie überlasten anfangs oft geradezu den Leser mit den Schrecken des Bösen. Um so größer ist dann des Lesers Freude, wenn der Schurke endlich die verdiente Strafe erhält, und der strebende Brave – in unserm Fall der wackere Brausekopf, der gutherzige Jüngling Nicolaus Nickleby – den Lohn für sein Ausharren auf dem Pfad der Tugend erhält. –

Auch bei der Textrevision dieses Werkes habe ich Frau Clara Weinberg für getreue Mithilfe zu danken.

P. Th. H.