Dreiunddreißigstes Kapitel.


Dreiunddreißigstes Kapitel.

Zum Ende.

Die Veränderungen im Zimmer eines Fieberkranken sind langsam und schwankend; aber die Veränderungen in der fiebernden Welt sind rasch und unwiderruflich.

Es war Klein-Dorrits Los, für beide Arten von Veränderungen zu sorgen zu haben. Die Mauern des Marschallgefängnisses hüllten sie wieder während eines Teiles des Tages als ihr Kind in ihre Schatten ein, während sie für Clennam dachte, für ihn arbeitete und ihn nur verließ, um ihm ihre größte Liebe und Sorge zu weihen. Auch ihr Leben außerhalb des Gefängnisses machte drängende Anforderungen an sie, denen zu entsprechen ihre Geduld nicht müde wurde. Hier war Fanny, stolz, launenhaft, phantastisch, noch weiter in der Unfähigkeit vorgerückt, in Gesellschaft zu gehen, jener Unfähigkeit, die sie an jenem Abend des Schildpattmessers so sehr geärgert hatte; sie war entschlossen, immer des Trostes zu bedürfen, und entschlossen, keinen Trost anzunehmen, entschlossen, sich tief verletzt zu fühlen, und entschlossen, es nicht zu dulden, daß jemand die Kühnheit haben dürfte, dies zu glauben. Ferner ihr Bruder, ein schwacher, stolzer, berauschter, junger Greis, der vom Kopf bis zu den Füßen zitterte, so undeutlich sprach, als ob etwas von dem Geld, auf das er sich so viel zugute tat, ihm im Munde steckengeblieben und nicht mehr herauszubringen wäre, unfähig, irgend etwas in seinem Leben allein durchzuführen, und den Gönner seiner Schwester spielend, die er selbstsüchtig liebte (er hatte immer dieses negative Verdienst gehabt, der arme Tip mit seinem Unglücksstern!), weil er duldete, daß sie ihn führte. Ferner Mrs. Merdle in einer Trauerkleidung von Gaze – die ursprüngliche Haube war möglicherweise in einem Anfall von Schmerz zerrissen worden, hatte dagegen sicher einem sehr kleidsamen Artikel vom Pariser Markt Platz gemacht – mit Fanny in beständiges Kampfe und sie jede Stunde des Tages mit ihrem öden Jammer eingreifend. Ferner der arme Mr. Sparkler, der nicht wußte, wie er den Frieden zwischen ihnen aufrechterhalten sollte, aber bescheiden sich zu der Meinung neigte, daß sie nichts Besseres tun könnten als zuzugeben, daß sie beide zwei merkwürdig schöne Frauen seien, und daß keine einen Unsinn an sich habe – zum Dank für welche freundliche Empfehlung sie vereint furchtbar über ihn herfielen. Endlich Mrs. General, die aus fremden Ländern heimgekehrt war und jeden andern Tag einen Prunes- und Prismbrief sandte, worin sie um ein neues Zeugnis zum Zweck der Empfehlung für eine oder die andere erledigte Stelle bat. Über diese merkwürdige Dame möge zum Schluß noch bemerkt werden, daß sicher nie eine Name existiert hat, von deren überschwenglicher Befähigung für jede erledigte Stelle auf dieser Welt (wie aus der Wärme der Zeugnisse hervorging) so viele Leute so vollkommen überzeugt waren –- oder die so unglücklich war, einen so großen Kreis glühender und vornehmer Verehrer zu haben, die niemals Gelegenheit fanden, sie anzustellen.

In der ersten Aufregung, die der Tod Mr. Merdles veranlaßte, waren viele angesehene Personen ungewiß, ob sie Mrs. Merdle fallen lassen oder sie trösten sollten. Da es jedoch, um ihre eigne Sache in ein recht grelles Licht zu stellen, dienlich schien, sie als grausam hintergangen zu betrachten, so machten sie gnädigst dieses Zugeständnis und kannten sie auch ferner. Die Folge war, daß Mrs. Merdle, als eine Dame von Welt und feiner Erziehung, die der List eines gemeinen Barbaren (denn Mr. Merdle galt vom Scheitel bis zur Zehe als ein solcher, seit man seine Taschen leer gefunden hatte) zum Opfer gefallen war, um ihres Standes willen von ihrem Stande tapfer verteidigt werden mußte. Sie vergalt diese Treue, indem sie zu verstehen gab, daß sie gegen den verbrecherischen Schatten des Verstorbenen viel erzürnter war als jeder andere: so kam sie aus dem feurigen Ofen als eine weise Frau hervor und befand sich in diesem Zustand ausnehmend wohl.

Mr. Sparklers Lordschaft war glücklicherweise einer von den Ruheplätzen, auf denen man hoffen kann, sein ganzes Leben zu bleiben, es sei denn, daß Gründe vorhanden wären, ihn mit dem Barnacleschen Kran zu einer gewinnbringenderen Stellung emporzuheben. Dieser patriotische Diener hielt deshalb fest zu seiner Fahne (dem Banner mit den vier Ahnen) und war ein wahrer Nelson in der Art, wie er sie an den Mast nagelte. In die Früchte seiner Unerschrockenheit teilten sich Mrs. Sparkler und Mrs. Merdle, die verschiedene Stockwerke des vornehmen kleinen Tempels der Unbehaglichkeit bewohnten, dem der Geruch der vorgestrigen Suppe und der Kutschenpferde so treu blieb wie der Tod dem Menschen, und rüsteten sich zum Kampfe in den Schranken der Gesellschaft als geschworene Feinde. Und Klein-Dorrit, die der Entwicklung aller dieser Dinge zusah, mußte sich unwillkürlich besorgt fragen, in welche versteckte Ecke des vornehmen Haushaltes Fannys Kinder nach und nach gedrängt werden würden, und wer sich der kleinen ungeborenen Opfer annehmen würde.

Da Arthur viel zu krank war, als daß man hätte über aufregendere und beunruhigende Dinge mit ihm sprechen dürfen, und seine Genesung wesentlich von der Ruhe anhing, die man seiner Schwäche verschaffte, so war Klein-Dorrits einzige Stütze während dieser schweren Zeit Mr. Meagles. Er war noch immer auf Reisen im Ausland. Aber sie hatte durch seine Tochter, unmittelbar nachdem sie Arthur im Marschallgefängnis gesprochen, und seitdem öfters an ihn geschrieben, indem sie ihm ihre Sorgen über die Punkte mitteilte, die ihr am meisten am Herzen lagen, besonders aber über einen. Dieser eine Punkt war schuld, daß Mr. Meagles noch immer auf Reisen war, während seine Anwesenheit im Marschallgefängnis so viel Tröstliches gehabt hätte.

Ohne ihn ganz genau über das Wesen der Dokumente aufzuklären, die in Rigauds Hände gefallen, hatte Klein-Dorrit Mr. Meagles in allgemeinen Umrissen diese Geschichte mitgeteilt und ihm auch sein Schicksal erzählt. Die alten vorsichtigen Gewohnheiten von Schale und Schaufel zeigten Mr. Meagles sogleich die Wichtigkeit, wieder in den Besitz der Originalpapiere zu gelangen; deshalb schrieb er zurück an Klein-Dorrit, bekräftigte sie in dem dringenden Verlangen, das sie in dieser Richtung ausgesprochen, und fügte hinzu, daß er nicht nach England zurückkehren werde, ohne den Versuch gemacht zu haben, sie aufzufinden.

Mr. Henry Gowan war inzwischen zu der Ansicht gekommen, daß es angenehm für ihn sein würde, die Meagles nicht zu kennen. Er war so rücksichtsvoll in diesem Punkt, seiner Frau darüber keine besondern Vorschriften zu geben. Aber er äußerte Mr. Meagles gegenüber, daß es ihm dünke, als ob sie persönlich nicht füreinander taugten, und daß sie es für gut halten würde, wenn sie – höflich und ohne eine Szene oder etwas Derartiges – gegenseitig anerkennten, sie seien die besten Menschen von der Welt, die aber am besten täten, sich nicht zu sehen. Der arme Mr. Meagles, der ohnehin das Gefühl hatte, als mehre er das Glück seiner Tochter nicht, wenn er in ihrer Gegenwart so geringschätzig behandelt werde, sagte: »Gut, Henry! Sie sind der Gatte meiner Pet; Sie haben mich, wie es die Natur der Dinge mit sich bringt, ersetzt; wenn Sie es wünschen, gut!« Dieses Arrangement hatte den weiteren Vorteil, den Henry Gowan vielleicht nicht vorausgesehen hatte, daß Mr. und Mrs. Meagles, seitdem sie nur noch mit ihrer Tochter und deren kleinem Kinde verkehrten, noch freigebiger waren als zuvor; und daß sich sein Stolz noch besser mit Geld versehen sah, ohne der erniedrigenden Notwendigkeit ausgesetzt zu sein, zu wissen, woher es kam.

Mr. Meagles widmete sich natürlich, da die Sachen jetzt so lagen, mit großem Eifer der Beschäftigung, die sich ihm bot. Er wußte von seiner Tochter die verschiedenen Städte, die Rigaud seit längerer Zeit besucht, und in welchen Hotels er gewohnt hatte. Die Beschäftigung, der er sich widmete, war die, diese Orte mit aller Diskretion und so rasch es ging zu beweisen und, im Fall, daß jener irgendwo eine Rechnung unbezahlt und eine Kiste oder einen Pack statt der Bezahlung zurückgelassen, die Rechnung zu bezahlen und Kiste oder Pack mitzunehmen.

Ohne andre Begleitung als die seiner Frau trat Mr. Meagles seine Reise an und erlebte zahlreiche Abenteuer. Nicht die unbedeutendste der Schwierigkeiten war die, daß er nie verstand, was die Leute zu ihm sagten, und daß er unausgesetzt seine Nachforschungen unter Leuten anstellte, die nie wußten, was er zu ihnen sagte. Mit dem unerschütterlichen Vertrauen, daß die englische Sprache gewissermaßen die Muttersprache der ganzen Welt sei und daß die Leute sie aus reiner Einfalt nicht verständen, überhäufte Mr. Meagles die Hotelbesitzer mit den geläufigsten Reden, erging sich in lauten Auseinandersetzungen der verwickeltsten Art und wies Antworten in der heimischen Sprache aufs entschiedenste zurück, weil es lauter »dummes Zeug« sei. Bisweilen wurden Dolmetscher herbeigerufen, die Mr. Meagles in so volksmäßigen Ausdrücken anredete, daß sie augenblicklich zum Schweigen gebracht waren – was die Sache nur noch schlimmer machte. Reiflich erwogen jedoch steht zu bezweifeln, ob er viel verlor; denn, obgleich er kein Eigentum vorfand, fand er so viele Schulden und so vielerlei schlechte Gerüchte in Verbindung mit dem Namen – dem einzigen Wort, das er verständlich machen konnte, daß er fast überall mit beleidigenden Beschuldigungen bedrängt wurde. Nicht weniger denn viermal wurde die Polizei herbeigerufen, um Mr. Meagles bei ihr als Industrieritter, als Taugenichts und Dieb zu denunzieren; Schimpfwörter, die er mit der ruhigsten Fassung hinnahm (da er keine Idee davon hätte, was sie bedeuteten) – und dabei wurde er auf die schmählichste Weise nach Dampfbooten und Postwagen transportiert, nur, damit man ihn loswurde, wobei er, die Mutter am Arme führend, die ganze Zeit als redefertiger und heiterer Engländer unaufhörlich fortschwatzte.

Aber in seiner eigenen Sprache und in seiner eigenen Meinung war Mr. Meagles ein klarblickender, schlauer und ausdauernder Mann. Als er sich, wie er es nannte, bis Paris »durchgearbeitet« hatte, ohne etwas erreicht zu haben, war er noch nicht entmutigt. »Je näher ich seine Spur gegen England verfolge, siehst du, Mutter«, argumentierte Mr. Meagles, »desto näher bin ich wahrscheinlich seinen Papieren, mögen sie zum Vorschein kommen oder nicht. Denn es ist die einzige vernünftige Ansicht, die man haben kann, daß er sie irgendwo niedergelegt hat, wo sie vor den Leuten in England sicher sind, während sie für ihn doch immer leicht zugänglich bleiben, nicht wahr?«

In Paris fand Mr. Meagles einen Brief von Klein-Dorrit vor, der ihn erwartet hatte. In diesem erwähnte sie, daß sie mit Mr. Clennam ein paar Minuten über den Mann habe sprechen können, der unter den Ruinen begraben worden war; und daß auf ihre Mitteilung, sein Freund Mr. Meagles, der auf dem Wege zu ihm sei, habe ein Interesse, womöglich etwas über diesen Mann zu erfahren, Mr. Clennam ihr geantwortet habe, sie möge Mr. Meagles sagen, er sei mit Miß Wade bekannt gewesen, die in der und der Straße in Calais wohne. »Oh!« sagte Meagles.

So kurz darauf, wie es in jenen Tagen möglich war, wo man noch mit Eilwagen fuhr, zog Mr. Meagles die zersprungene Klinge an dem zersprungenen Tor, und es ging auf, und die Bauersfrau stand in dem dunklen Torweg und sagte in ihrem französischen Englisch: »Was gibt es, Sir? Zu wem wollen Sie?« Dieser Anrede Gerechtigkeit widerfahren lassend, murmelte Mr. Meagles vor sich hin, daß diese Leute von Calais doch einigen Verstand hätten und einigermaßen wüßten, was man von ihnen wolle; er gab deshalb zur Antwort: »Miß Wade, meine Liebe!« Sie führte ihn alsbald zu Miß Wade.

»Es ist lange her, daß wir uns begegneten«, sagte Mr. Meagles, indem er sich räusperte; »ich hoffe. Sie haben sich immer wohl befunden. Miß Wade?«

Ohne die Hoffnung auszusprechen, daß er oder sonst jemand sich wohl befunden, fragte ihn Miß Wade, welchem Umstand sie die Ehre verdanke, ihn wiederzusehen? Mr. Meagles sah inzwischen im ganzen Zimmer umher, ob er nichts in Form einer Kiste entdecke.

»Die Wahrheit zu sagen. Miß Wade«, sagte Mr. Meagles in gemütlichem, vertraulichem, wir wollen nicht sagen, schmeichelndem Ton, »es ist möglich, daß Sie imstande sind, etwas Licht auf eine Sache zu werfen, die bislang noch im Dunkel schwebt. Alles Unangenehme, was zwischen uns vorgekommen, ist hoffentlich vergessen. Es ist jedoch nicht mehr zu ändern. Sie erinnern sich meiner Tochter? Die Zeiten, ändern sich so! Sie ist jetzt Mutter!«

Mr. Meagles hätte in seiner Unschuld keine schlimmere Saite anschlagen können. Er wartete auf ein Wort der Teilnahme, aber er wartete vergebens.

»Das ist wohl nicht die Sache, wegen der Sie mit mir zu sprechen wünschen?« sagte sie nach einem kalten Schweigen.

»Nein, nein«, versetzte Mr. Meagles, »nein. Ich dachte. Ihr gutes Herz werde –«

»Ich dachte. Sie wüßten«, unterbrach sie ihn mit einem Lächeln, »daß auf mein gutes Herz nicht zu rechnen ist.«

»Sagen Sie das nicht«, versetzte Mr. Meagles; »Sie tun sich unrecht. Um jedoch auf die Sache selbst zu kommen« – denn er fühlte, daß er nichts gewonnen hatte, indem er sich auf einem Umwege zu nähern gesucht, – »ich hörte von meinem Freunde Clennam, der, wie Sie gewiß mit Bedauern hören werden, seit längerer Zeit sehr krank darniederliegt –«

Er hielt wieder inne, und sie schwieg abermals.

»– daß Sie einige Bekanntschaft mit einem gewissen Blandois gehabt haben, der kürzlich in London durch einen Unglücksfall getötet wurde. Ich bitte mich nicht mißzuverstehen! Ich weiß, daß es eine sehr oberflächliche Bekanntschaft war«, sagte Mr. Meagles, gewandt einer ungehaltenen Unterbrechung, die er drohen sah, vorbeugend. »Ich weiß das ganz gut. Ich weiß, es war eine oberflächliche Bekanntschaft. Aber die Frage ist die«, hier wurde Mr. Meagles‘ Stimme wieder zutraulich, »hinterließ er nicht auf seiner Reise nach England das letztemal eine Kiste mit Papieren oder einen Pack Papiere oder überhaupt Papiere in irgendeinem Behälter – kurz, Papiere bei Ihnen, mit der Bitte, sie bei Ihnen für kurze Zeit deponieren zu dürfen, bis er sie brauchte?«

»Die Frage ist?« wiederholte sie. »Wessen Frage ist das?«

»Meine Frage«, sagte Mr. Meagles. «Und nicht nur meine Frage, sondern Clennams Frage und anderer Leute Frage. Ich bin überzeugt«, fuhr Mr. Meagles fort, dessen Herz von Pet überströmte, »daß Sie kein unfreundliches Gefühl gegen meine Tochter hegen können; es ist unmöglich. Nun, denn! Es ist auch ihre Frage, weil eine intime Freundin nahe bei der Sache interessiert ist. Ich bin denn hierhergekommen, um Ihnen offen zu sagen, daß dies die Frage ist, und Sie zu fragen: Hat er etwas zurückgelassen?«

»Wahrhaftig«, erwiderte sie, »ich scheine die Zielscheibe der Nachfragen für jeden zu sein, der irgend etwas von einem Manne wissen will, den ich mal in meinem Leben gemietet und bezahlt habe.«

»Bitte«, warf Mr. Meagles ein, »fühlen Sie sich doch nicht verletzt, denn es ist die einfachste Frage in der Welt, die jedem Menschen vorgelegt werden könnte. Die Dokumente, um die es sich handelt, gehörten nicht ihm, waren auf unrechtmäßige Weise erlangt, können irgendeinmal einer unschuldigen Person, die sie aufbewahrte, Unannehmlichkeiten bereiten und werden von Leuten gesucht, denen sie wirklich gehören. Er kam auf der Reise nach London durch Calais, und es gibt Gründe, weshalb er sie nicht mit sich genommen haben dürfte, aber den Wunsch gehegt, sie beständig in der Hand zu haben, und sie nicht Leuten seines Schlages anvertrauen wollte. Ließ er sie hier? Ich erkläre, wenn ich wüßte, wie ich es vermeiden könnte, Sie zu verletzen, ich würde mir alle Mühe geben, es zu tun. Ich stelle die Frage persönlich, aber es ist nichts Persönliches in ihr. Ich würde sie jedermann vorlegen und habe sie bereits vielen Leuten vorgelegt. Hat er sie hier gelassen? Hat er überhaupt etwas hier gelassen?«

»Nein.«

»So wissen Sie unglücklicherweise nichts davon, Miß Wade?«

»Ich weiß nichts davon. Ich habe jetzt Ihre unerklärliche Frage beantwortet. Er hat sie nicht hier gelassen, und ich weiß nichts davon.«

»So!« sagte Mr. Meagles und stand auf. »Ich bedaure es sehr; nun ist die Sache abgemacht; und ich hoffe, es ist nicht viel Ungelegenheit damit. – Befindet sich Tattycoram wohl, Miß Wade?«

»Harriet, wohl? O ja!« »Da habe ich wieder etwas falsch gemacht«, sagte Mr. Meagles, als sie ihn auf diese Weise korrigierte. »Es scheint, als ob ich hier alles falsch machen müßte. Vielleicht, wenn ich mir die Sache zweimal überlegt, hätte ich ihr nicht den seltsam klingenden Namen gegeben. Aber wenn man mit jungen Leuten einen vertraulichen und scherzhaften Ton anschlagen will, so überlegt man sich’s nicht zweimal. Ihr alter Freund läßt ein freundliches Wort für sie zurück, Miß Wade, wenn Sie es für ratsam halten, es ihr zu sagen.«

Sie sagte nichts darauf, und Mr. Meagles verließ mit seinem ehrlichen Gesicht das dunkle Zimmer, wo es wie eine Sonne geglänzt, brachte es mit nach dem Hotel, wo er Mrs. Meagles gelassen und wo er den Bericht abstattete: »Geschlagen, Mutter; erfolglos!« Er nahm es mit nach dem nächsten Londoner Dampfschiff, das in derselben Nacht abfuhr, und dann nach dem Marschallgefängnis.

Der treue John hatte den Dienst, als Vater und Mutter gegen Abend sich an dem Pförtchen einfanden. Miß Dorrit, sagte er, sei nicht da; aber sie sei vormittags dagewesen und käme jeden Abend. Mr. Clennam erhole sich langsam, und Maggy und Mrs. Plornish und Mr. Baptist pflegten ihn abwechselnd. Miß Dorrit würde ganz gewiß noch kommen, ehe die Abendglocke läutete. Wenn sie Lust hätten, könnten sie in dem Zimmer, das der Marschall ihr oben eingeräumt, auf sie warten. In der Befürchtung, daß es Arthur schaden könnte, wenn er ihn unvorbereitet besuchte, nahm Mr. Meagles das Anerbieten an, und sie blieben allein in dem Zimmer und sahen durch das vergitterte Fenster in das Gefängnis hinab. Der enge Raum des Gefängnisses machte einen solchen Eindruck auf Mrs. Meagles, daß sie zu weinen anfing, und auf Mr. Meagles, daß er begann, nach Luft zu schnappen. Er ging keuchend im Zimmer auf und ab und verschlimmerte seinen Zustand noch, indem er sich eifrig mit dem Taschentuch fächerte, als er sich nach der aufgehenden Tür umsah.

»Ei, du Grundgütiger!« sagte Mr. Meagles, »das ist ja nicht Miß Dorrit! Sieh, Mutter, sieh! Tattycoram!«

Es war niemand anderes. Und in Tattycorams Armen befand sich eine eisenbeschlagene Kapsel von zwei Fuß im Quadrat. Solch eine Kapsel hatte Affery Flintwinch im ersten ihrer Träume in stiller Nacht unter des Doppelgängers Armen aus dem Hause gehen sehen. Diese stellte Tattycoram vor die Füße ihres alten Herrn auf den Boden; dann fiel Tattycoram auf ihre Knie und schlug mit den Händen darauf, indem sie halb triumphierend, halb verzweifelnd, halb lachend, halb weinend ausrief: »Verzeihung, guter Herr, nehmen Sie mich wieder an, gute Herrin, hier ist es!«

»Tatty!« rief Mr. Meagles.

»Was Sie suchen!« sagte Tattycoram. »Hier ist es! Ich wurde ins nächste Zimmer geschickt, daß ich Sie nicht sehen sollte. Ich hörte Sie danach fragen, ich hörte sie sagen, sie habe es nicht bekommen, während ich dabei war, wie er es daließ, und ich nahm den Kasten nachts, als ich zu Bett gehen sollte, und brachte ihn weg. Hier ist er!«

»Nun, mein Kind«, rief Mr. Meagles, atemloser denn zuvor, »wie kamst du denn herüber?«

»In demselben Boot mit Ihnen. Ich saß eingehüllt am andern Ende. Als Sie am Kai einen Wagen nahmen, nahm ich einen andern Wagen und folgte Ihnen hierher. Sie hätte den Kasten nie herausgegeben nach dem, was Sie zu ihr über das Verlangen sagten, das man danach hatte; sie würde ihn lieber ins Meer geworfen oder verbrannt haben. Aber hier ist er!«

Mit wunderbarem Frohlocken und Entzücken sagte das Mädchen das: Hier ist er!

»Das muß ich zu ihrer Verteidigung sagen, daß sie ihn durchaus nicht wollte; aber Blandois ließ ihn zurück, und ich wußte wohl, daß, nach dem, was Sie gesagt, und nachdem sie ihn verleugnet, sie ihn nie herausgegeben haben würde. Doch nun ist er hier! Lieber Herr, liebe Herrin, nehmen Sie mich wieder an und geben Sie mir den lieben alten Namen wieder! Lassen Sie dies für mich sprechen. Hier ist er!«

Vater und Mutter Meagles verdienten ihren Namen nie besser als in dem Augenblick, als sie das trotzige Findelkind wieder in ihren Schutz nahmen.

»Oh, ich bin so unglücklich gewesen«, rief Tattycoram, indem sie noch mehr weinte denn zuvor, »ich habe so unglückliche Tage verlebt und so viel Reue empfunden. Von dem ersten Augenblick, da ich sie sah, fürchtete ich mich vor ihr. Ich wußte, sie hatte eine Macht über mich erlangt, indem sie so scharf erkannte, was böse in mir war. Es brütete ein Wahnsinn in mir, und sie konnte ihn heraufbeschwören, sooft sie wollte. Ich dachte gewöhnlich, wenn ich in diesen Zustand verfiel, die Leute seien alle wegen meiner frühern Jugend mir feindlich gesinnt; und je freundlicher sie gegen mich waren, desto schlimmer fand ich sie. Ich setzte mir in den Kopf, daß sie über mich triumphierten, und daß sie mich neidisch auf sich machen wollten, während ich weiß – was ich selbst damals wußte, wenn ich ehrlich sein wollte –, daß sie nie an dergleichen gedacht. Und meine hübsche junge Herrin ist nicht so glücklich, als sie zu sein verdient, und ich bin von ihr weggelaufen. Für wie schlecht und roh sie mich halten muß! Aber wollen Sie ein Wort für mich bei ihr einlegen und sie bitten, so versöhnlich zu sein, als Sie beide sind? Denn ich bin nicht so schlecht, wie ich war«, sagte Tattycoram zu ihren Gunsten. »Ich bin sehr schlecht, aber doch nicht so schlecht wie ich war. Wahrhaftig nicht! Ich hatte die ganze Zeit Miß Wade vor Augen, als mein zur Reife gekommenes Ich – das alles nach der schlimmen Seite wendet und Gutes in Böses verwandelt hat. Ich habe sie die ganze Zeit vor mir gehabt, wie sie an nichts Vergnügen fand, als mich zu einem ebenso elenden, mißtrauischen und selbstquälerischen Wesen zu machen, wie sie selbst eines ist. Nicht daß ihr das große Mühe gekostet hätte«, rief Tattycoram in einem letzten Ausbruch reuevollen Schmerzes, »denn ich war so schlimm wie nur möglich. Ich will nur sagen, daß, nach dem, was ich durchgemacht, ich hoffe, nie wieder ganz so schlimm zu werden, und langsam Fortschritte zum Bessern zu machen glaube. Ich will mir alle Mühe geben. Ich will nicht bei fünfundzwanzig stehen bleiben, Sir. Ich will bis fünfundzwanzighundert, bis fünfundzwanzigtausend zählen!«

Die Tür öffnete sich wieder, und Tattycoram schwieg, und Klein-Dorrit trat ein, und Mr. Meagles brachte mit Stolz und Freude die Kiste herbei, und ihr sanftes Gesicht strahlte von Dank und Freude und Glück. Das Geheimnis war jetzt in Sicherheit! Sie konnte ihm ihren eigenen Anteil daran verschweigen; er sollte nie ihren Verlust erfahren; in spätern Zeiten sollte er alles wissen, was von Wichtigkeit für ihn sein konnte; aber er sollte niemals erfahren, was nur sie allein betraf. Das war alles vorbei, vergeben und vergessen.

»Nun, meine liebe Miß Dorrit«, sagte Mr. Meagles, »ich bin ein Geschäftsmann – oder war es wenigstens –, und ich will sogleich in dieser Richtung meine Maßregeln treffen. Wäre es nicht besser, wenn ich Arthur noch heute abend spräche?«

»Ich glaube nicht, daß es heute abend gut wäre. Ich will nach seinem Zimmer gehen und sehen, wie er sich befindet.«

»Da haben Sie ganz recht, meine Liebe«, sagte Mr. Meagles, »und deshalb bin ich ihm auch nicht näher gekommen als bis in dies ungemütliche Zimmer. Ich werde ihn wohl in der nächsten Zeit noch nicht zu sehen bekommen. Aber ich werde Ihnen auseinandersetzen, wenn Sie wiederkommen, was ich meine.«

Sie verließ das Zimmer. Mr. Meagles blickte ihr durch das Gefängnisgitter nach und sah sie aus dem Schließerhäuschen unten in den Gefängnishof treten. Dann sagte er sanft: »Tattycoram, komme einen Augenblick zu mir, mein gutes Kind.«

Sie trat zu ihm ans Fenster.

»Du siehst die junge Dame, die eben hier war – die kleine, stille, zarte Gestalt, die dort geht, Tatty? Sieh. Die Leute treten beiseite, um sie vorüberzulassen. Die Männer – sieh die armen, schäbigen Burschen – ziehen höflich vor ihr den Hut ab, und nun schlüpft sie dort in den Torweg. Siehst du sie, Tattycoram?«

»Ja, Sir.«

»Ich hörte sagen, Tatty, daß man sie einst gewöhnlich das Kind dieses Ortes hieß. Sie wurde hier geboren und lebte viele Jahre hier. Ich kann hier nicht atmen. Ein trauriger Ort, um hier geboren zu werden und aufzuwachsen, nicht wahr, Tattycoram?«

»Gewiß, Sir!«

»Wenn sie immer an sich gedacht und sich der Ansicht hingegeben, daß jedermann ihr den Ort entgelten lasse, ihn ihr zum Vorwurf mache und ihr vorhalte, so würde sie ein sehr gereiztes und wahrscheinlich nutzloses Dasein geführt haben. Aber ich habe mir sagen lassen, Tattycoram, daß ihr junges Leben voll tätiger Resignation, voll Güte und edler Dienstbereitwilligkeit gewesen sei. Soll ich dir sagen, was diese Augen, die soeben hier waren, meiner Meinung nach beständig als ihr Ziel betrachtet, um diesen Ausdruck zu bekommen?«

»Ja, wenn Sie so gut sein wollen, Sir.«

»Die Pflicht, Tattycoram. Fange frühzeitig damit an und erfülle sie nach strengem Gewissen; und nichts, in welchem Stande wir geboren sind oder in welcher Stellung wir leben, wird gegen uns vor dem Allmächtigen oder vor uns auftreten.«

Sie blieben am Fenster stehen, nachdem die Mutter zu ihnen getreten war, und bemitleideten die Gefangenen, bis man sie zurückkommen sah. Sie war bald in dem Zimmer und bat, Arthur, den sie ruhig und gefaßt verlassen hatte, diesen Abend nicht zu besuchen.

»Gut!« sagte Mr. Meagles heiter. »Ich zweifle nicht, daß es das beste ist. Ich werde Ihnen, meine süße Pflegerin, Grüße für ihn auftragen, und ich weiß, daß sie in keinen besseren Händen sein können. Ich reise morgen früh wieder ab.«

Klein-Dorrit fragte ihn verwundert: »Wohin?«

»Meine Liebe«, sagte Mr. Meagles, »ich kann nicht leben, ohne zu atmen. Dieser Ort hat mir den Atem benommen, und ich werde nicht früher aus voller Brust Luft schöpfen, als bis ich Arthur hier heraushabe.«

»Inwiefern ist das ein Grund, morgen früh wieder abzureisen?«

»Sie werden es gleich einsehen«, sagte Mr. Meagles. »Diese Nacht bleiben wir alle drei in einem City-Hotel. Morgen früh werden Mutter und Tattycoram hinunter nach Twickenham gehen, wo Mrs. Tickit, die mit Dr. Buchan neben sich am Wohnzimmerfenster sitzt, sie für ein paar Gespenster halten wird; und ich verreise wieder, um Doyce aufzusuchen. Wir müssen Dan hier haben. Ich will Ihnen sagen, meine Liebe, es ist unnütz, zu schreiben und Pläne zu machen und zu spekulieren über dies und das und jenes und alles aufs Ungewisse und unsichere, wir müssen Doyce hier haben. Vom morgenden Tag an, wenn die Sonne aufgeht, soll es meine Aufgabe sein, Doyce hierherzubringen. Es ist eine Kleinigkeit für mich, ihn ausfindig zu machen. Ich bin ein alter Reisender, und alle fremden Sprachen und Gebräuche sind mir gleich – ich habe nie etwas davon verstanden. Deshalb kann ich auch in keine Ungelegenheiten kommen. Gehen muß ich auf der Stelle, das ist klar; weil ich nicht leben kann, ohne frei zu atmen: und ich kann nicht frei atmen, bis Arthur aus diesem Marschallgefängnis heraus ist. Ich ersticke beinahe in diesem Augenblick und habe kaum Atem genug, um dies zu sagen und Ihnen diese kostbare Kiste die Treppe hinabzubringen.« Sie kamen in die Straße, als die Glocke zu läuten begann: Mr. Meagles trug die Kiste. Klein-Dorrit hatte keinen Wagen, was ihn ziemlich überraschte. Er rief eine Kutsche für sie herbei, und sie stieg ein; er stellte die Kiste neben sie, als sie sich gesetzt hatte. In ihrer Freude und Dankbarkeit küßte sie ihm die Hand.

»Das gefällt mir nicht, meine Liebe«, sagte Mr. Meagles. »Es widerstrebt meinem Gefühl von dem, was recht ist, daß Sie mir diese Huldigung erweisen – hier am Tore des Marschallgefängnisses.«

Sie beugte sich vor und küßte ihn auf die Wange.

»Sie erinnern mich an frühere Tage«, sagte Mr. Meagles und verfiel plötzlich in einen ernsteren Ton, »aber sie hat ihn sehr lieb und verbirgt seine Fehler und denkt, niemand sieht sie – und er hat außer allem Zweifel vornehme Verbindungen und ist von guter Familie.«

Es war der einzige Trost, den er für den Verlust seiner Tochter hatte, und wenn er ihn soviel wie möglich ausbeutete, wer könnte ihn darob tadeln?

Vierunddreißigstes Kapitel.


Vierunddreißigstes Kapitel.

Ende

An einem schönen Herbsttag lauschte der Gefangene im Marshalsea, noch schwach, aber sonst genesen, einer Stimme, die ihm vorlas. Es war ein froher Herbsttag, wo die goldenen Felder geerntet und wieder gepflügt werden, wo die Sommerfrüchte gereift und gebleicht sind, wo die grünen Gassen der Hopfenstangen von den fleißigen Lesern umgestürzt waren, wo die Äpfel in Büscheln rotbäckig und die Beeren der Eberesche purpurn zwischen dem gelben Laub hervorsahen. Im Walde konnte man schon Spuren des nahenden rauhen Winters sehen in den ungewohnten Öffnungen des Laubgewölbes, wo die Aussicht sich klar und bestimmt zeigte, ohne den Duft des schläfrigen Sommerwetters, der darauf lag wie der Reif auf einer Pflaume. Und auch am Strand schlummerte der Ozean nicht mehr in der Hitze; seine tausend funkelnden Augen standen offen, und sein ganzer Atem war freudiges Leben, von dem kühlen Sand am Ufer bis zu den kleinen Segeln am Horizont, die dahintrieben wie herbstlich gefärbte Blätter, die von den Bäumen herabwirbelten.

Unveränderlich und kahl, gleichgültig alle Jahreszeiten mit dem stieren, hagern Gesicht der Armut und Not ansehend, hatte das Gefängnis auch nicht eine Spur von all diesen Schönheiten an sich. Mochte blühen, was da wollte, seine Mauern und Gitter trugen immer dieselben toten Halme. Aber Clennam vernahm, während er der Stimme lauschte, die ihm vorlas, in ihr alles, was die große Natur schafft, alle die versöhnenden Lieder, die sie dem Menschen singt. An keiner andern Mutter Knie als an dem ihrigen hatte er je in der Jugend bei hoffnungsvollen Versprechungen, bei heitern Träumen, bei den reichen Ernten von Liebe und Demut verweilt, die in dem frühzeitig gepflegten Samen der Phantasie verborgen liegen; oder an den Eichen, die uns vor verheerenden Winden schützen und deren starke Wurzeln in dem Keim von Ammenstubeneicheln ruhen. Aber in den Tönen der Stimme, die ihm vorlas, lagen Erinnerungen an alte Empfindungen solcher Dinge und Echos jedes barmherzigen und liebevollen Geflüsters, das sich jemals in seinem Leben zu ihm geschlichen hatte. Als die Stimme schwieg, legte er die Hand über seine Augen und murmelte, daß das Licht ihn blende. Klein-Dorrit legte das Buch weg und stand sogleich auf, um das Fenster zu verhängen. Maggy saß an ihrem alten Platz bei der Arbeit. Als das Licht gedämpft war, rückte Klein-Dorrit den Stuhl näher zu ihm. »Das wird nun bald vorüber sein, lieber Mr. Clennam, Nicht nur sind Mr. Doyces Briefe an Sie so freundschaftlich und ermutigend, sondern Mr. Rugg sagt auch, seine Briefe an ihn äußerten sich hilfsbereit, und jedermann spreche (nachdem das bißchen Ärger vorüber ist) sich so rücksichtsvoll und gut über Sie aus, daß es jetzt bald vorüber sein werde.« »Liebes Mädchen. Teures Herz. Guter Engel!« »Sie sprechen viel zu gut von mir. Und doch ist es ein so süßes Gefühl für mich, Sie so warm von mir reden zu hören und dabei – zu sehen«, sagte Klein-Dorrit, indem sie ihre Augen zu ihm erhob, »wie es aus tiefster Seele kommt, daß ich nicht sagen kann: Tun Sie es nicht.« Er hob ihre Hand an seine Lippen. »Sie waren hier viele, viele Male, wo ich Sie nicht gesehen habe, Klein-Dorrit.« »Ja, ich war hier manchmal, ohne in dies Zimmer gekommen zu sein.« »Sehr oft?« »Ziemlich oft«, sagte Klein-Dorrit schüchtern. »Jeden Tag?« »Ich denke«, sagte Klein-Dorrit nach einigem Zögern, »daß ich wenigstens zweimal täglich hier war.« Er hätte die kleine leichte Hand loslassen können, nachdem er sie glühend geküßt, wenn sie nicht durch das zarte Verweilen, wo sie war, ihn aufzufordern schien, sie zu behalten. Er nahm sie in seine beiden Hände und legte sie sanft an seine Brust. »Liebe Klein-Dorrit, nicht nur meine Gefangenschaft ist es, die bald vorüber sein wird, sondern auch Ihr Opfer muß ein Ende nehmen. Wir müssen lernen, zu scheiden und unsere gesonderten Wege zu gehen. Sie haben nicht vergessen, was wir zusammen gesprochen haben, als Sie in die Heimat zurückkehrten?« »O nein, ich habe es nicht vergessen. Aber etwas – Sie fühlen sich heute recht wohl, nicht wahr?« »Recht wohl.«

Die Hand, die er hielt, näherte sich ein wenig mehr seinem Gesicht.

»Fühlen Sie sich stark genug, um zu erfahren, was für ein großes Vermögen ich erhalten?«

»Ich werde mich freuen, es zu vernehmen. Kein Vermögen kann zu groß oder zu gut für Klein-Dorrit sein.«

»Ich wartete lange auf den Augenblick, wo ich es Ihnen sagen könnte. Ich habe mich seit lange gesehnt, es Ihnen zu sagen. Wissen Sie ganz gewiß, daß Sie es nicht annehmen werden?« »Nie!«

»Sie wissen ganz gewiß, daß Sie nicht die Hälfte annehmen werden?«

»Nie, liebe Klein-Dorrit.«

Wie sie ihn so schweigend ansah, lag etwas in ihrem liebevollen Gesicht, das er nicht ganz verstand; ein Etwas, das in einem Augenblick hätte in Tränen ausbrechen können und dennoch glücklich und stolz war.

»Es wird Ihnen leid tun, zu hören, was ich Ihnen von Fanny zu sagen habe. Die arme Fanny hat alles verloren. Alles, was ihr Papa bei der Verheiratung gab, ist verloren, wie Ihr Geld verlorenging. Es befand sich in denselben Händen und ist verloren.«

Arthur war von dieser Nachricht mehr erschüttert als überrascht. »Ich hatte gehofft, es wäre nicht so schlimm«, sagte er, »aber ich hatte bei der Verwandtschaft zwischen ihrem Gatten und dem Bankerottierer einen schweren Verlust befürchtet.«

»Ja. Es ist alles verloren. Fanny tut mir sehr leid; sehr leid, sehr leid, sehr leid, die arme Fanny. Auch mein armer Bruder.«

»Hatte er gleichfalls Geld in diesen Händen?«

»Ja. Und es ist alles verloren. Wie groß glauben Sie wohl, daß mein eigenes Vermögen ist?«

Als Arthur, von einer neuen Ahnung erfaßt, sie fragend ansah, zog sie ihre Hand weg und legte ihr Gesicht an den Ort, wo jene geruht.

»Ich habe nichts in der Welt. Ich bin so arm, wie da ich hier gewohnt. Als Papa nach England herüberkam, vertraute er alles, was er besaß, denselben Händen an, und es ist alles verloren. Oh, liebster und bester Mann, wissen Sie jetzt ganz gewiß, daß Sie mein Vermögen nicht mit mir teilen wollen?«

In seine Arme geschlossen, an sein Herz gepreßt, mit seinen Mannestränen auf ihren Wangen, legte sie ihre zarte Hand um seinen Hals und schlang sie dort in die andere.

»Nie scheiden wir wieder, liebster Arthur; nie wieder bis zum letzten Augenblick! Ich war noch nie so reich, noch nie so stolz, noch nie so glücklich wie jetzt. Ich bin reich, da du mich nimmst, ich bin stolz, daß du mir entsagtest, ich bin glücklich, daß ich mit dir in diesem Gefängnis bin, wie ich glücklich sein würde, wenn ich mit dir hierher zurückkehren könnte, wenn es der Wille Gottes wäre, um dich mit all meiner Liebe und Wahrheit zu trösten und zu pflegen. Ich gehöre dir in allem und überall! Ich liebe dich von Herzen! Ich möchte lieber hier mein Leben mit dir verbringen und täglich in die Stadt gehen, um für unser Brot zu arbeiten, als das größte Vermögen haben, das man je gekannt, und die größte Dame sein, der man je gehuldigt hat. Oh, wenn der arme Papa jetzt nur wissen könnte, wie glücklich endlich mein Herz in diesem Zimmer ist, wo er so viele Jahre gelitten!«

Maggy hatte natürlich vom ersten Augenblick die Augen weit aufgerissen und sich die Augen lange vor diesen Worten ausgeweint. Maggy war jetzt so überglücklich, daß sie ihre kleine Mutter ungestüm umarmte und dann die Treppe hinuntertanzte, um irgend jemanden zu finden, dem sie ihres Herzens Freude mitteilen könnte. Wem konnte Maggy anders begegnen als Flora und Mr. Finchings Tante, die gerade im rechten Augenblick eintraten? Und wen anders konnte Klein-Dorrit infolge dieser Begegnung auf sich warten finden, als sie volle zwei bis drei Stunden später ausging?

Floras Augen waren ein wenig rot, und sie schien nicht sonderlich guter Stimmung. Mr. Finchings Tante war so steif, daß sie aussah, als ob man sie nicht mehr bewegen könnte, außer mit Anwendung von großen mechanischen Kräften. Ihr Hut stand hinten in schrecklicher Weise in die Höhe, und ihr steinharter Strickbeutel war so starr, als wäre er durch das Haupt der Medusa versteinert und hätte es jetzt eingepackt. Mit diesen imposanten Eigenschaften war Mr. Finchings Tante, die auf den Stufen der Amtswohnung des Marschalls saß, in jenen zwei bis drei Stunden den jüngern Bewohnern der Nachbarschaft ein großer Genuß gewesen, indem sie, die humoristischen Ausfälle derselben von Zeit zu Zeit mit der Spitze ihres Regenschirms zurückweisend, sich sehr erhitzt hatte.

»Ich fühle wirklich recht schmerzlich Miß Dorrit«, sagte Flora, »daß es als eine Zudringlichkeit erscheinen muß wenn ich Ihnen, die an Vermögen so weit über mir steht und der von der besten Gesellschaft so sehr gehuldigt wird, den Vorschlag mache sich mit mir an einen Ort zu begeben selbst wenn es kein Pastetenbäckerladen der weit unter Ihrer gegenwärtigen Stellung steht und ein hinteres Zimmer wäre obgleich ein höflicher Mann aber wenn ich um Arthurs willen – kann es nicht überwinden obgleich es unschicklicher ist als früher Doyce und Clennam – eine letzte Bemerkung machen eine letzte Erklärung abgeben möchte so würde vielleicht Ihr gutes Herz unter dem Vorwand von drei Nierenpasteten den bescheidenen Ort der Unterhaltung entschuldigen.«

Diese ziemlich dunkle Rede richtig auslegend, erwiderte Klein-Dorrit, daß sie ganz zu Floras Diensten stehe. Flora führte sie deshalb über die Straße nach dem fraglichen Pastetenbäckerladen; Mr. Finchings Tante schritt hinterher und setzte sich mit einer Beharrlichkeit, die einer bessern Sache wert gewesen, der Gefahr aus, überfahren zu werden.

Als die drei »Nierenpasteten«, die als Vorwand für die Unterhaltung dienen sollten, auf drei kleinen Zinnplatten vor sie gesetzt waren, jede Pastete oben mit einer Öffnung geziert, in die der höfliche Mann heiße Bouillon aus einer mit einer Schnauze versehenen Kanne goß, als ob er drei Lampen speiste, nahm Flora ihr Taschentuch heraus.

»Wenn die schönen Träume der Phantasie«, begann sie, »mir jemals vorgespiegelt daß wenn Arthur – kann es nicht überwinden bitte entschuldigen Sie mich – wieder frei wäre selbst eine Pastete die so wenig frisch ist wie die gegenwärtige und so wenig Niere hat daß sie in dieser Hinsicht wie eine zerhackte Muskatnuß aussieht würde nicht unannehmbar erscheinen wenn die Hand wahrer Achtung sie darböte so sind solche Träume längst dahin und alles ist vorbei aber da ich weiß daß zärtlichere Beziehungen in Aussicht stehen so bitte ich sagen zu dürfen daß ich von Herzen beiden alles Glück wünsche und an keinem von beiden im mindesten etwas auszusetzen habe es mag wohl peinlich sein zu wissen daß ehe die Hand der Zeit mich viel weniger schlanker als früher gemacht und bei der geringsten Anstrengung schrecklich rot namentlich nach dem Essen wo wie ich wohl weiß es die Form von Hitzblattern annahm es hätte geschehen können aber durch das Dazwischentreten der Eltern nicht geschah und es trat eine geistige Gefühllosigkeit ein bis Mr. Finching den geheimnisvollen Schlüssel brachte so möchte ich doch nicht ungroßmütig gegen beide sein und ich wünsche beiden von Herzen Glück.«

Klein-Dorrit nahm ihre Hand und dankte ihr für all ihre frühere Güte.

»Nennen Sie es nicht Güte«, versetzte Flora, indem sie ihr einen ehrlichen Kuß gab, »denn Sie waren immer das beste und liebste kleine Ding das je existierte wenn ich mir die Freiheit nehmen darf und selbst im Geldpunkte eine Ersparnis da Sie das Gewissen selbst waren obgleich ich hinzufügen muß viel angenehmer als meines jemals für mich war obschon ich hoffe daß es nicht mit größeren Sünden beladen sei als das von andern so habe ich es doch immer bereitwilliger gefunden einem das Leben unangenehm statt angenehm zu machen und offenbar das erstere lieber – aber ich schweife da wieder ab eine Hoffnung wünsche ich auszusprechen ehe die letzte Szene spielt und die ist daß ich hoffe um der alten Zeit und der alten Aufrichtigkeit willen soll Arthur erfahren daß ich ihn in seinem Unglück nicht verlassen habe sondern beständig dort aus- und eingegangen bin um mich zu erkundigen ob ich irgend etwas für ihn tun könnte und daß ich in dem Pastetenbäckerladen saß wo sie sehr höflich etwas Warmes für mich in einem Glase aus dem Hotel herbeiholten und es war wirklich sehr hübsch eine Stunde um die andere ihn über die Straße zu besuchen ohne daß er es wußte.« Flora hatte wirklich in diesem Augenblick Tränen in den Augen, und sie standen ihr sehr gut.

»Außerdem«, sagte Flora, »bitte ich Sie inständig als das herzigste Ding das es jemals gab die Vertraulichkeit einer Person zu entschuldigen die sich in ganz andern Kreisen bewegt wenn ich Sie bitte Arthur zu verstehen zu geben daß ich nach allem doch nicht wisse ob es lauter dummes Zeug zwischen uns war obgleich angenehm und auch versuchungsvoll und gewiß hat Mr. Finching eine Veränderung zuwege gebracht und nachdem der Zauber zerbrochen war konnte natürlich nichts herauskommen ohne ihn neu zu weben was zu verhindern sich verschiedene Umstände vereinigten von denen vielleicht nicht der unwichtigste der war daß es nicht sein sollte ich möchte jedoch nicht sagen daß ich nicht froh gewesen wenn es Arthur angenehm gewesen und sich im ersten Augenblick auf natürliche Weise gemacht hätte denn ich bin von lebhafter Natur und langweile mich zu Hause wo Papa gewiß der ärgerlichste Mensch von der Welt ist und sich auch seit der Zeit nicht gebessert da er von der Hand des Aufwieglers zu einem Wesen zusammengeschnitten worden ist wie ich in meinem ganzen Leben nichts Ähnliches sah; Eifersucht liegt jedoch nicht in meinem Charakter so wenig als Mißgunst obgleich ich viele Fehler habe.«

Ohne ganz imstande zu sein, Mrs. Finching durch dieses Labyrinth zu folgen, verstand Klein-Dorrit doch, was sie meinte, und übernahm mit herzlicher Bereitwilligkeit diesen Auftrag.

»Der verwelkte Kranz meiner Liebe«, sagte Flora mit großem Genuß, »ist nun zerrissen die Säule ist gefallen und die Pyramide steht verkehrt auf ihrem wie heißt es nur nennen Sie es nicht Unbeständigkeit nennen Sie es nicht Schwäche nennen Sie es nicht Torheit ich muß mich jetzt in die Einsamkeit zurückziehen und darf nicht mehr auf die Asche verschwundener Freuden blicken sondern mir nur noch die Freiheit nehmen für die Pasteten zu bezahlen die den bescheidenen Vorwand für unsere Unterhaltung gebildet haben und dann Ihnen auf ewig Lebewohl sagen!«

Mr. Finchings Tante, die ihre Pastete mit großer Feierlichkeit verzehrt und über einer herzzerreißenden Anklageschrift gebrütet hatte, seitdem sie zuerst die öffentliche Stellung auf den Stufen der Marschallswohnung eingenommen, ergriff nun diese Gelegenheit, folgende sibyllinischen Worte an die Witwe ihres verstorbenen Neffen zu richten.

»Bringt ihn her und ich will ihn zum Fenster hinauswerfen!«

Flora suchte vergeblich die ausgezeichnete Frau zu besänftigen, indem sie ihr erklärte, daß sie zum Essen nach Hause gingen. Mr. Finchings Tante bestand auf ihrem: »Bringt ihn her und ich will ihn zum Fenster hinauswerfen!« Nachdem sie dieses Verlangen unzählige Male mit einem festen und herausfordernden Blick auf Klein-Dorrit wiederholt hatte, faltete Mr. Finchings Tante die Arme und setzte sich in eine Ecke des Pastetenbäckerladens, indem sie sich standhaft weigerte, dort wegzugehen, bis »er hergebracht« wäre und sie ihn zum Fenster hinausgeworfen hätte.

In dieser Lage vertraute Flora Klein-Dorrit an, daß sie Mr. Finchings Tante so lebenskräftig und charakterfest seit Wochen nicht gesehen; daß sie es notwendig finde, vielleicht »stundenlang« hierzubleiben, bis die unerbittliche alte Frau besänftigt werden könnte, und daß sie am besten mit ihr fertig werden würde. Sie schieden deshalb in der freundschaftlichsten Weise und mit den freundlichsten Gefühlen von beiden Seiten.

Da Mr. Finchings Tante wie eine grollende Festung aushielt und Flora sich nach einer Erfrischung sehnte, so wurde ein Bote nach dem bereits erwähnten Glase in das Hotel geschickt, das später noch einmal gefüllt wurde. Mit Hilfe seines Inhalts, einer Zeitung und dem Abrahmen des Pastetenvorrats brachte Flora den übrigen Teil des Tages in vollkommen gutem Humor zu; obgleich sie bisweilen durch die Folge eines leeren Gerüchtes gequält wurde, das unter der leichtgläubigen Jugend der Nachbarschaft zirkulierte, daß nämlich eine alte Frau sich dem Pastetenbäcker zum Verarbeiten verkauft und jetzt in dem Pastetenladen sitze, beharrlich sich weigernd, ihren Kontrakt zu erfüllen. Dies zog so viele junge Leute beiderlei Geschlechts herbei und verursachte, als der Abend hereinbrach, so viel Störungen in dem Geschäft, daß der Pastetenhändler endlich mit seinem Vorschlag, Mr. Finchings Tante fortzuschaffen, sehr dringend wurde. Man brachte deshalb einen Wagen vor die Tür, in den einzusteigen sich diese merkwürdige Frau durch die gemeinschaftlichen Bemühungen des Pastetenhändlers und Floras endlich bewegen ließ. Obschon nicht ohne auch dann noch den Kopf zum Fenster hinauszustecken und zu verlangen, daß man ihn zu dem ursprünglich erwähnten Zwecke »herbeibringe«. Da sie bei diesen Worten giftige Blicke nach dem Marschallgefängnis schoß, so war man der Meinung, daß diese wunderbar konsequente Frau unter diesem »ihn« Arthur Clennam verstand. Dies ist jedoch bloße Vermutung; wer die Person war, die zur Beruhigung von Mr. Finchings Tante hätte hergebracht werden sollen und niemals hergebracht wurde, wird nie mit Bestimmtheit bekannt werden.

Die Herbsttage dauerten noch fort, und Klein-Dorrit kam jetzt nie nach dem Marschallgefängnis und ging nie weg, ohne ihn gesehen zu haben. Nein, nein, nein.

Eines Morgens, als Arthur horchte, ob die leichten Füße nicht kämen, die jeden Morgen beschwingt zu seinem Herzen kamen und den himmlischen Glanz einer neuen Liebe in das Zimmer brachten, wo die alte Liebe sich so eifrig gemüht und so treu gewesen, – eines Morgens, als er so lauschte, hörte er sie kommen, jedoch nicht allein.

»Lieber Arthur«, sagte ihre heiter klingende Stimme schon vor der Tür, »ich habe jemanden mitgebracht, darf ich ihn hereinführen?« Nach den Tritten hatte er geglaubt, es seien zwei mit ihr gekommen. Er antwortete »Ja«, und sie trat mit Mr. Meagles ein. Sonngebräunt und vergnügt sah Mr. Meagles aus, und er öffnete seine Arme und umschlang Arthur wie ein sonngebräunter und vergnügter Vater.

»Nun ist alles in Ordnung«, sagte Mr. Meagles nach einer Minute. »Nun ist alles vorbei. Arthur, mein lieber Junge, gestehen Sie nur, daß Sie mich früher erwartet haben.«

»Allerdings«, versetzte Arthur; »aber Amy sagte mir –« »Klein-Dorrit. Nie einen andern Namen.« (Sie war es, die ihm das zuflüsterte.)

» – aber meine Klein-Dorrit sagte mir, daß ich, ohne weitere Erklärung zu verlangen, Sie nicht eher erwarten sollte, als bis ich Sie sähe.«

»Und nun sehen Sie mich, mein Junge«, sagte Mr. Meagles und schüttelte ihm derb die Hand; »und nun sollen Sie alle und jede Erklärung haben. Ich war nämlich hier – kam direkt von den Alloners und Marschoners, sonst würde ich mich geschämt haben, Ihnen heute ins Gesicht zu sehen –, aber Sie waren damals nicht zu haben und ich mußte gleich wieder fort, um Doyces habhaft zu werden.«

»Der arme Doyce«!« seufzte Arthur. »Geben Sie ihm keine Namen, die er nicht verdient«, sagte Mr. Meagles. »Er ist nicht arm; er befindet sich in ganz guten Verhältnissen. Drüben auf dem Kontinent ist Doyce ein ganz wunderbarer Kerl. Ich versichere Sie, er zeigt dort, was er wert ist. Er ist auf seine Beine gefallen, dieser Dan. Wo sie etwas nicht getan haben wollen und einen Mann finden, der es tun kann, da ist er nicht auf dem rechten Fleck. Aber wo sie etwas getan haben wollen und den Mann finden, der es tut, da ist er auf dem rechten Fleck. Sie werden keine Veranlassung mehr haben, das Circumlocution Office zu belästigen. Ich will Ihnen ganz einfach sagen, Dan ist auch ohnehin vorwärtsgekommen.«

»Welch eine Last Sie mir vom Herzen nehmen!« rief Arthur. »Wie glücklich Sie mich machen!«

»Glücklich«, versetzte Mr. Meagles. »Sprechen Sie mir nicht von Glück, bis Sie Dan sehen. Ich versichere Sie, Dan leitet dort drüben Arbeiten und führt Werke aus, daß Ihnen die Haare zu Berge stünden, wenn Sie’s sähen. Er ist jetzt kein Verbrecher am Staate mehr, bewahre nicht! Er bekommt Medaillen und Bänder und Sterne und Kreuze, und ich weiß nicht was alles, wie ein geborner Edelmann. Aber Sie dürfen hier in England nicht davon sprechen.«

»Warum nicht?«

»Nun, Sie wissen ja!« sagte Mr. Meagles, indem er sehr ernst den Kopf schüttelte, »er muß, wenn er hier herüberkommt, alle diese Sachen hinter Schloß und Riegel verbergen. Es geht hier nicht. In dieser speziellen Sache ist Britannia wie eine

Klein-Dorrit im Brautkleide

Britannia in der Speisenkammer – will ihren Kindern selbst keine solche Auszeichnung geben und will sie auch nicht zeigen lassen, wenn andre Länder sie geben. Nein, nein, Dan!« sagte Mr. Meagles wieder kopfschüttelnd. »Das ginge hier nicht.«

»Wenn Sie mir das Doppelte meines Verlustes gebracht hätten«, rief Arthur!, »so würden Sie mir (außer um Doyces willen) nicht solche Freude gemacht haben als durch diese Nachricht.«

»Nun, natürlich, natürlich«, stimmte Mr. Meagles bei. »Natürlich weiß ich das, mein Bester, und deshalb mußte ich auch gleich im ersten Augenblick damit herausplatzen. Aber um wieder darauf zurückzukommen, daß ich Doyces habhaft zu werden suchte. Ich fand Doyce. Ich stieß auf ihn unter einem Haufen jener schmutzigen braunen Hände in Frauennachtmützen, die ihnen viel zu groß sind und sich Araber heißen, oder irgendein solcher verzettelter Stamm sind. Sie kennen sie ja! Nun! Er kam direkt auf mich zu, und ich ging direkt auf ihn zu, und so sind wir beide zurückgekommen.« »Doyce in England?« rief Arthur.

»Da haben wir’s«, sagte Mr. Meagles und breitete seine Arme auseinander. »Ich bin der ungeeignetste Mensch zu einer solchen Geschichte. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn ich Diplomat gewesen wäre – vielleicht hätt‘ ich’s recht, gemacht! Das Lange und das Kurze von der Sache ist, Arthur, daß wir beide seit vierzehn Tagen in England sind. Und wenn Sie weiter fragen, wo Doyce jetzt ist, nun, so lautet meine einfache Antwort: – Hier ist er! Und nun kann ich endlich wieder atmen!«

Doyce sprang hinter der Tür hervor, ergriff Arthur bei beiden Händen und sagte das übrige selbst.

»Meine Sache, die ich vorbringen wollte, hat nur drei Teile, mein lieber Clennam«, sagte Doyce, indem er sie nebeneinander mit seinem plastischen Daumen auf die Fläche seiner Hand zeichnete, »und sie sind bald abgemacht. Erstlich nicht ein Wort von dem, was geschehen ist. Es war ein Irrtum in Ihrer Berechnung. Ich weiß, was das heißen will. Es greift die ganze Maschine an, die infolgedessen nicht gehen kann. Sie werden aus dem gemachten Fehler Nutzen ziehen und ihn zum zweiten Male vermeiden. Ich habe selbst bei der Konstruktion Ähnliches getan. Jeder Fehler lehrt uns etwas, wenn wir lernen wollen; und Sie sind ein viel zu verständiger Mann, um nicht aus diesem Fehler zu lernen. Soviel fürs erste. Zweitens. Ich bedauerte, daß Sie es sich so sehr zu Herzen genommen und sich so schwere Vorwürfe gemacht haben. Ich reiste Tag und Nacht, um mit der Unterstützung unseres Freundes die Sache in Ordnung zu bringen, als ich unserem Freunde begegnete, wie er Ihnen sagte. Drittens: Wir beide waren der Ansicht, daß, nach dem, was Sie gelitten haben, nach Ihrem Kummer und nach Ihrer Krankheit, es eine angenehme Überraschung für Sie sein würde, wenn wir uns soweit still verhalten könnten, bis wir alles ohne Ihr Wissen arrangiert und dann kämen und sagten, daß das Geschäft Ihrer jetzt mehr bedurfte denn je und daß uns beiden als Kompagnons eine neue und glückliche Karriere offenstünde. Dies ist das Dritte. Aber Sie wissen, daß wir immer etwas für die Friktion zugeben, und deshalb habe ich noch einen freien Raum übrig. Mein lieber Clennam, ich setze mein ganzes Vertrauen auf Sie; Sie haben es in Händen, mir ebenso nützlich zu sein, wie ich es in meinen Händen habe oder hatte, Ihnen nützlich zu sein: Ihr alter Platz erwartet Sie und bedarf Ihrer sehr: es gibt nichts, was Sie nur eine halbe Stunde länger hier festhalten könnte.« Es trat eine Pause ein, die nicht früher unterbrochen wurde, als bis Arthur einige Zeit, den Rücken ihnen zugekehrt, am Fenster gestanden und seine künftige kleine Frau zu ihm getreten und bei ihm geblieben war. »Ich machte vorhin eine Bemerkung«, sagte Daniel Doyce, »die ich nun für nicht ganz richtig zu halten geneigt bin. Ich sagte, es gebe nichts, was Sie eine halbe Stunde länger hier festhalten könnte. Täusche ich mich, wenn ich vermute, daß Sie lieber bis morgen früh hierbleiben möchten? Errate ich, ohne sonderlich klug zu sein, wohin Sie direkt aus diesen Mauern und diesem Zimmer gehen möchten?« »Ja, Sie erraten es«, versetzte Arthur. »Es war unser liebster Wunsch.« »Gut denn!« sagte Doyce. »Wenn diese junge Dame mir die Ehre erzeigen will, mich für vierundzwanzig Stunden als ihren Vater zu betrachten, und mit mir nach der St. Paulskirche fahren will, so glaube ich sagen zu können, was wir dort wollen.« Klein-Dorrit und er verließen bald darauf das Zimmer, und Mr. Meagles blieb noch einen Augenblick zurück, um seinem Freunde ein Wort zu sagen. »Ich glaube, Arthur, Sie werden morgen Mutter und mich nicht brauchen; wir wollen wegbleiben. Es möchte Mutter an Pet erinnern; sie ist eine weichherzige Frau, sie bleibt am besten auf dem Landhaus, und ich bleibe bei ihr und leiste ihr Gesellschaft.« Damit schieden sie vorderhand. Und der Tag endigte und die Nacht endigte und der Morgen kam und Klein-Dorrit, einfach gekleidet wie gewöhnlich und ohne andre Begleitung als Maggy, erschien mit dem Sonnenschein im Gefängnis. Wo in der Welt war ein Zimmer so voll stiller Freude! »Mein liebes Kind«, sagte Arthur. »Warum zündet Maggy Feuer an? Wir gehen ja im nächsten Augenblick.« »Ich bat sie darum. Ich habe mir das in den Kopf gesetzt. Ich möchte, daß du mir etwas verbrennest.« »Was?« »Nur dies zusammengelegte Papier. Wenn du es eigenhändig in das Feuer werfen würdest, so wie es ist, so ist meine Grille befriedigt.« »Abergläubisch, liebe Klein-Dorrit. Ist es ein Zauber?« »Es ist alles, was du willst, mein Lieber«, antwortete sie, indem sie mit strahlenden Augen lachte und sich auf die Zehenspitzen erhob, um ihn zu küssen, »wenn du nur meiner Laune genügst, sowie das Feuer in die Höhe flackert.«

So standen sie vor dem Feuer und warteten; Clennam hatte den Arm um sie geschlungen, während das Feuer, wie es oft an diesem Ort getan, in Klein-Dorrits Augen glänzte. »Brennt es schon stark genug?« sagte Arthur. »Vollkommen stark genug«, sagte Klein-Dorrit. »Müssen bei dem Zauber auch Worte gesprochen werden?« fragte Arthur, während er das Papier über die Flamme hielt. – »Du kannst sagen (wenn du nichts dawider hast): ›Ich liebe dich!‹«, antwortete Klein-Dorrit. So sagte er denn diese Worte, und das Papier loderte auf.

Sie gingen sehr still über den Hof; denn niemand war da, obgleich viele Köpfe verstohlen aus den Fenstern guckten. Nur ein vertrautes Gesicht befand sich in dem Schließerstübchen. Als sie beide es angeredet und viele freundliche Worte mit ihm gewechselt hatten, wandte sich Klein-Dorrit noch einmal, zum letzten Male, nach ihm um, bot ihm ihre Hand und sagte: »Leben Sie wohl, guter John! Ich hoffe. Sie werden sehr glücklich werden. Sie lieber Mensch!«

Dann schritten sie die Stufen der nahen St. Georgskirche hinauf und traten an den Altar, wo Daniel Doyce in seiner Funktion als Vater ihrer wartete. Dort stand auch Klein-Dorrits alter Freund, der ihr das Begräbnisregister als Pfühl gegeben: voll von Bewunderung, daß sie doch noch zu ihnen käme, um sich trauen zu lassen.

Und sie wurden getraut, während die Sonne durch die gemalte Gestalt unseres Erlösers im Fenster auf sie herabschien. Und sie traten in dasselbe Zimmer, wo Klein-Dorrit nach ihrer Abendgesellschaft geschlummert hatte, um dort in das Trauungsregister sich einzuzeichnen. Dort sah Mr. Pancks (bestimmt, erster Kommis bei Doyce und Clennam und später Geschäftsteilhaber zu werden), den Aufwiegler im friedlichen Freund aufgehen lassend, zur Tür herein, um Zeuge des Aktes zu sein, während er in seiner Galanterie Flora am einen Arm und Maggy am andern führte, mit einem Hintergrunde von John Chivery und dessen Vater und andern Schließern, die auf einen Augenblick herübergelaufen waren und das väterliche Marschallgefängnis verlassen hatten, um sein glückliches Kind zu sehen. Flora zeigte nicht die geringste Spur eines eingezogenen Lebens, trotz ihrer neulichen Erklärung, sondern sah im Gegenteil ungemein frisch und munter aus und hatte eine große Freude an der Zeremonie, wenn auch in einer etwas aufgeregten Weise.

Klein-Dorrits alter Freund hielt das Tintenfaß, während sie ihren Namen unterschrieb, und der Küster hielt einen Augenblick inne, als er dem guten Geistlichen den Chorrock abnahm, und alle Zeugen waren mit größtem Interesse bei der Handlung. »Denn Sie müssen wissen«, sagte Klein-Dorrits alter Freund, »diese junge Dame ist eine von unsern Merkwürdigkeiten und ist jetzt bei dem

Nach dem Trauungsprotokoll.

dritten Bande unserer Register angekommen. Ihre Geburt steht in dem, was ich den ersten Band nenne; sie lag auf diesem Boden mit ihrem hübschen Köpfchen auf dem, was ich den zweiten Band nenne; und nun schrieb sie ihren kleinen Namen als Braut in das, was ich den dritten Band nenne, nun.«

Sie traten alle auf die Seite, als das Einschreiben vorüber war, und Klein-Dorrit und ihr Gatte gingen allein aus der Kirche hinweg. Einen Augenblick blieben sie auf den Stufen des Portals stehen, schauten in die frische Perspektive der Straße, die im Morgenstrahl der Herbstsonne glänzte, und stiegen dann hinab.

Stiegen hinab in ein bescheidenes Leben voll Nützlichkeit und Glück. Stiegen hinab, um mit der Zeit Fannys vernachlässigten Kindern keine geringere mütterliche Sorgfalt zu widmen als ihren eigenen und diese Dame statt dessen immer und ewig in Gesellschaft gehen zu lassen. Stiegen hinab, um noch einige wenige Jahre Tip zu pflegen, der sich niemals Gewissensbisse über die großen Opfer machte, die er als Ersatz für die Reichtümer verlangte, die er ihr gegeben haben würde, wenn er sie selbst gehabt, und der liebevoll seine Augen vor dem Marschallgefängnis und allen seinen am Wachstum verhinderten Früchten schloß. Sie stiegen still hinab in die lärmenden Straßen, unzertrennlich und glücklich, und wie sie im Sonnenschein und im Schatten dahingingen, eilten und stürmten die Lärmenden und die Geschäftigen, die Anmaßenden und die Eigensinnigen und die Eitlen ungestüm an ihnen vorüber und machten ihr gewöhnliches Getöse.

Viertes Kapitel.


Viertes Kapitel.

Ein Brief von Klein-Dorrit.

Lieber Mr. Clennam!

Ich schreibe Ihnen aus meinem Zimmer in Venedig, in der Erwartung, daß es Sie freuen werde, von mir zu hören. Aber ich weiß, es kann Ihnen keine so große Freude bereiten, von mir zu hören, als mir, Ihnen zu schreiben; denn alles um Sie her ist, wie Sie es zu sehen gewohnt sind, und Sie vermissen nichts – wenn nicht mich, was nur auf Augenblicke und höchst selten der Fall sein mag –, während alles in meinem jetzigen Leben so fremdartig ist und ich so viel vermisse.

Klein-Dorrit in Venedig.

Als wir in der Schweiz waren, was mich jetzt schon dünkt, als wäre es vor Jahren gewesen, obgleich es nur wenige Wochen her ist, traf ich die junge Mrs. Gowan, die, wie wir, sich auf einem Bergausflug befand. Sie sagte mir, sie sei sehr wohl und sehr glücklich. Sie trug mir auf, Ihnen zu sagen, daß sie Ihnen herzlich für Ihre Teilnahme danke und Sie nie vergessen werde. Sie sprach sehr vertraulich mit mir, und ich liebte sie beinahe im ersten Augenblick, als ich mit ihr sprach. Aber dabei ist nichts zu verwundern: wer müßte nicht ein so schönes und gewinnendes Wesen lieben! Ich würde über keinen erstaunen, der sie liebte. Nein, wahrhaftig nicht.

Es wird Ihnen hoffentlich keinen Kummer bereiten – denn ich erinnere mich, daß Sie sagten, Sie hätten das Interesse eines wahren Freundes für sie –, wenn ich Ihnen sage, ich wünschte, sie hätte einen Mann geheiratet, der besser für sie paßte. Mr. Gowan scheint sie zu lieben, und natürlich liebt auch sie ihn sehr, aber mir kam es vor, als wenn er es nicht ernst genug meinte, – ich meine nicht in dieser Hinsicht, ich meine im ganzen. Ich konnte mir’s nicht aus dem Kopf bringen, daß, wenn ich Mrs. Gowan wäre (welcher Tausch würde das sein und wie müßte ich mich ändern, um ihr zu gleichen), ich mich allein und verlassen fühlen würde, weil mir jemand fehlte, der fest und beharrlich im Entschlüsse wäre. Mir kam es sogar vor, al« wenn sie diesen Mangel etwas fühlte, jedoch ohne es genau zu wissen. Aber lassen Sie sich dadurch nicht beunruhigen, denn sie war »sehr wohl und sehr glücklich«. Und sie sah außerordentlich hübsch aus.

Ich hoffe, sie in kurzer Zeit wiederzusehen und erwarte sie sogar seit einigen Tagen hier. Ich werde ihr stets so freundlich um Ihretwillen zugetan sein wie ich kann. Lieber Mr. Clennam, Sie werden wohl wenig daran denken, daß Sie mir ein Freund gewesen sind, wie ich keinen andern hatte (nicht daß ich jetzt welche hätte: denn ich habe keine neuen Freundschaften geschlossen), ich denke viel daran und kann es nicht vergessen.

Ich möchte wohl wissen – aber es ist am besten, wenn mir niemand schreibt –, wie sich Mr. und Mrs. Plornish bei dem Geschäft befinden, das ihnen mein lieber Vater gekauft, und ob der alte Mr. Nandy glücklich bei ihnen und seinen zwei Enkeln lebt und immer und immer wieder seine alten Lieder singt. Ich kann die Tränen nicht zurückhalten, wenn ich an meine arme Maggy denke und die Leere, die sie anfangs ohne ihr Mütterchen gefühlt haben muß, so freundlich sie auch alle gegen sie sind. Wollen Sie sie besuchen und ihr unter dem Siegel der Verschwiegenheit mit meinen besten Grüßen sagen, daß sie unsere Trennung nicht inniger beklagt haben kann als ich? Und wollen Sie ihnen allen sagen, daß ich jeden Tag an sie gedacht habe, daß mein Herz treu an ihnen hängt, wie ich auch sein mag? Oh, wenn Sie wissen könnten, wie treu, Sie würden mich beinahe bemitleiden, daß ich so fern und so reich bin.

Sie werden sich gewiß freuen zu erfahren, daß mein lieber Vater sehr wohl ist und daß all diese Veränderungen sehr wohltätig auf ihn einwirkten, und daß er ganz anders ist als damals, da Sie ihn noch häufig besuchten. Auch mit meinem Onkel, glaube ich, ist eine Veränderung zum Bessern vorgegangen, wenn er sich auch früher nie beklagte und über das Jetzt nicht gerade in Entzücken gerät. Fanny ist sehr anmutig, lebhaft und gewandt. Es steht ihr ganz natürlich, die Lady zu spielen, sie hat sich an unser neues Glück mit wunderbarer Leichtigkeit gewöhnt.

Das erinnert mich daran, daß es mir nicht so leicht wird und daß ich bisweilen ganz daran verzweifle. Ich finde, daß ich das nicht lernen kann. Mrs. General ist immer mit uns, und wir sprechen Französisch und sprechen Italienisch, und sie gibt sich Mühe, uns auf mancherlei Weise zu bilden. Wenn ich sage, wir sprechen Französisch und Italienisch, so meine ich, sie tun’s. Was mich betrifft, so bin ich so langsam, daß ich kaum weiter komme. Sobald ich Pläne zu entwerfen, nachzudenken und Versuche zu machen beginne – geht all mein Planentwerfen, Nachdenken und Versuchemachen in alten Geleisen, und ich fange wieder an, um die Kosten des Tages und um meinen Vater und meine Arbeit zu sorgen, und dann erinnere ich mich wieder, daß keine solchen Sorgen mehr existieren, und das ist mir an und für sich so neu und unwahrscheinlich, daß ich mich dem Grübeln ergebe. Ich hätte nicht den Mut, das gegen irgend jemanden als gegen Sie zu erwähnen.

Dasselbe ist mit all diesen neuen Ländern und wunderbaren Szenen der Fall. Sie sind sehr schön und setzen mich in Erstaunen, aber ich bin nicht gesammelt genug, nicht vertraut genug mit mir, wenn Sie verstehen können, was ich damit meine – all das Vergnügen aus ihnen zu schöpfen, das ich haben könnte. Was ich vor ihnen kennenlernte, vermischt sich überdies mit ihnen so seltsam. Zum Beispiel, als wir in den Bergen waren, war mir’s oft (ich zögere, selbst Ihnen so lächerliche Geschichten zu erzählen, Mr. Clennam), als wenn das Marschallgefängnis hinter diesem großen Felsen sein müßte, oder als wenn das Zimmer von Mrs. Clennam, wo ich so manchen Tag gearbeitet und wo ich Sie zum ersten Male sah, jenseits dieses Schneefeldes sein müßte. Erinnern Sie sich jener Nacht, als ich mit Maggy nach Ihrer Wohnung in Covent Garden kam? Es war oft und häufig, als wenn ich jenes Zimmer vor mir sähe und es meilenweit neben unsrem Wagen herginge, wenn ich zum Fenster hinaus in die Dunkelheit sah. Wir waren jene Nacht ausgeschlossen und saßen an dem eisernen Tor und gingen umher bis zum Morgen. Ich sehe oft zu den Sternen empor, namentlich von dem Balkon dieses Zimmers aus, und glaube wieder in jener Straße zu sein, mit Maggy ausgeschlossen. Das gleiche ist mit den Menschen der Fall, die ich in England zurückgelassen. Wenn ich hier in einer Gondel umherfahre, überrascht es mich oft selbst, daß ich, in andre Gondeln blickend, sie zu sehen hoffte. Es würde mir eine unendliche Freude bereiten, sie zu sehen, aber ich glaube nicht, daß es mich anfangs sehr überraschen würde. In meinen träumerischen Stunden ist es mir, als wenn sie überall sein müßten; und ich meine ihre lieben Gesichter auf Brücken und Quais zu sehen.

Eine andre Schwierigkeit, die ich habe, wird Ihnen sehr seltsam erscheinen und erscheint mir sogar so: ich fühle oft das alte traurige Mitleid mit – ich brauchte das Wort nicht zu schreiben – mit ihm. Obgleich er in ganz andrer Lage ist, und so unaussprechlich glücklich und dankbar ich bin, daß ich das weiß, drängt sich das alte kummervolle Gefühl des Mitleids mir bisweilen mit solcher Heftigkeit auf, daß ich wünsche, ich könnte meinen Arm um seinen Hals schlingen, ihm sagen, wie ich ihn liebe, und einige Zeit an seiner Brust weinen. Ich würde dann wieder froh und stolz und glücklich sein. Aber ich weiß, daß ich das nicht tun darf, daß er es nicht gern sähe, daß Fanny ärgerlich würde und Mrs. General aufstaunen müßte, und so beruhige ich mich wieder. Aber wenn ich das tue, kämpfe ich mit dem Gefühl, daß ich eine Kluft zwischen mir und ihm entstehen sehen muß, und daß er mitten unter all seinen Dienern und Untergebenen verlassen ist und ich ihm fehle.

Lieber Mr. Clennam, ich habe viel von mir geschrieben, aber ich muß noch etwas mehr schreiben; denn das, woran mir am meisten lag, daß es in diesem schwachen Briefe eine Stelle finde, müßte sonst ausbleiben. Bei all diesen meinen törichten Gedanken, die ich so kühn war. Ihnen zu bekennen, weil ich weiß, daß Sie allein mich verstehen, wenn irgend jemand dazu imstande ist, und mehr Nachsicht gegen mich haben werden, als irgend jemand sonst, wenn Sie es nicht können – bei all diesen törichten Gedanken ist einer, der kaum je – nie – aus meinem Gedächtnis schwinden wird, und dieser ist, daß ich hoffe, Sie werden bisweilen in einem stillen Augenblick an mich denken. Ich muß Ihnen sagen, daß ich in dieser Beziehung beständig, seit ich fort bin, eine Angst habe, die ich mir um jeden Preis vom Herzen zu schaffen wünsche. Ich fürchtete, Sie möchten mich in einem neuen Licht, als ein neues Wesen betrachten. Tun Sie das nicht – ich könnte es nicht ertragen – es würde mich unglücklicher machen, als Sie vermuten. Um was ich Sie bitten und ersuchen möchte, ist, daß Sie nie an mich als an die Tochter eines reichen Mannes denken; daß Sie nie an mich denken, als ob ich besser gekleidet wäre, besser lebte, denn da ich Sie zum ersten Male sah. Daß Sie sich meiner nur als des dürftig gekleideten Mädchens erinnern, das Sie mit so viel Zärtlichkeit beschützt, von dessen fadenscheinigem Kleid Sie den Regen abgehalten und dessen nasse Füße Sie an Ihrem Kamin getrocknet haben. Daß Sie an mich und meine wahre Liebe und innige Dankbarkeit (wenn Sie überhaupt an mich denken) immer und ohne Veränderung gedenken, als an

Ihr armes Kind Klein-Dorrit.

PS. Besonders erinnern Sie sich, daß Sie wegen Mrs. Gowan nicht unruhig sein dürfen. Ihre Worte waren: »Sehr wohl und sehr glücklich.« Und sie sah außerordentlich hübsch aus.

Fünftes Kapitel.


Fünftes Kapitel.

Es ist nicht richtig irgendwo.

Die Familie war ein bis zwei Monate in Venedig gewesen, als Mr. Dorrit, der viel unter Grafen und Marquis verkehrte und nur wenig übrige Zeit hatte, sich vornahm, eine Stunde an einem besondern Tage zu dem Zweck zu erübrigen, um eine Konferenz mit Mrs. General zu halten.

Als die Zeit, die er sich in Gedanken reserviert hatte, gekommen war, schickte er Mr. Tinkler, seinen Kammerdiener, nach Mrs. Generals Zimmer, (das ungefähr ein Dritteil der Grundfläche des Marschallgefängnisses eingenommen haben würde), um dieser Dame seine Empfehlung zu sagen und sie wissen zu lassen, daß er wünsche, sie möge ihm die Gefälligkeit einer Unterredung mit ihr gönnen. Da es die Zeit des Vormittags war, in der die verschiedenen Glieder der Familie auf ihren besondern Zimmern Kaffee tranken, etwa zwei Stunden, ehe man sich in einer verblichenen Halle, die ehemals prächtig gewesen, nun aber die Beute wässriger Dünste und steter Melancholie war, zum Frühstück versammelte, so konnte der Kammerdiener bei Mrs. General vorkommen. Der Abgesandte fand sie auf einem kleinen viereckigen Teppich, der so außerordentlich winzig war im Vergleich mit dem Umfang ihres steinernen und marmornen Fußbodens, daß es aussah, als ob sie ihn ausgebreitet, um eine Paar neuer, im Laden gekaufter Schuhe darauf anzuprobieren, oder als wenn sie in den Besitz des bezauberten Stückes Teppich gekommen, der von einem der drei Prinzen in Tausend und eine Nacht für vierzig Beutel gekauft worden war, – und nun auf ihren Wunsch hin, in diesem Augenblick, auf demselben in einen Salon eines Palastes getragen wäre, der in gar keiner Beziehung zu ihr stand.

Da Mrs. General dem Abgesandten, die leere Kaffeetasse niedersetzend, antwortete, sie beabsichtige sich augenblicklich nach dem Zimmer von Mr. Dorrit zu begeben, um ihm die Mühe, zu ihr zu kommen, zu ersparen (was er ihr in seiner Galanterie vorgeschlagen), so stieß der Abgesandte die Tür auf und begleitete Mrs. General zu seinem Herrn. Es war wirklich ein weiter Weg über geheimnisvolle Treppen und Gänge von Mrs. Generals Zimmer nach Mr. Dorrits Gemach: ersteres wurde durch eine enge Seitenstraße, mit einer niedern finstern Brücke, und kerkerartige gegenüberliegende Häuser verdunkelt, deren Mauern mit Tausenden von abwärts gehenden Flecken und Streifen beschmiert waren, als wenn jede baufällige Öffnung in denselben Tränen von Rost seit Jahrhunderten in das Adriatische Meer geweint hatte: das letztere hatte so viel Fenster wie eine ganze englische Hausfront, die Aussicht auf herrliche Kirchtürme, die aus dem Wasser, das sie widerspiegelte, in den klaren blauen Himmel emporstiegen, und man hörte das gedämpfte Gemurmel des großen Kanals, der die Torwege umspüte und auf dem die Gondoliere auf einen Befehl harrten, indem sie träge zwischen dem kleinen Wald von Pfählen hin und her schwammen.

Mr. Dorrit, der einen glänzenden Morgenrock und eine elegante Mütze trug – die schlafende Raupe, die so lange ihre Zeit unter den Kollegen ausgehalten, hatte sich in einen seltenen Schmetterling verwandelt –, erhob sich, um Mrs. General zu empfangen. Einen Stuhl für Mrs. General. Einen bequemeren Stuhl, Sir; was tun Sie, was machen Sie, was wollen Sie? Nun, verlassen Sie uns!

»Mrs. General«, sagte Mr. Dorrit, »ich nahm mir die Freiheit –«

»Nicht doch!« warf Mrs. General ein. »Ich stand ganz zu Ihrem Befehl. Ich hatte meinen Kaffee getrunken.«

»Ich nahm mir die Freiheit«, wiederholte Mr. Dorrit, mit der vornehmen Selbstgefälligkeit eines Mannes, der über jede Verbesserung erhaben ist, »mir die Gunst einer kleinen Privatunterhaltung mit Ihnen zu erbitten, – weil mir meine – ha – meine jüngere Tochter ziemlich viel Sorge macht. Sie werden einen großen Unterschied im Temperament zwischen meinen zwei Töchtern bemerkt haben, Madame?«

Mrs. General antwortete, indem sie die behandschuhten Hände ineinanderlegte (sie war nie ohne Handschuhe, und diese waren nie schmutzig und immer sehr anliegend): »Es ist allerdings ein großer Unterschied.«

»Darf ich Sie um die Gefälligkeit ersuchen, mir Ihre Ansicht darüber mitzuteilen?« sagte Mr. Dorrit mit einer Herablassung, die mit majestätischer Ruhe wohl vereinbar war.

»Fanny«, versetzte Mrs. General, »hat Charakterstärke und Selbstvertrauen; Amy beides nicht.«

Nicht? Oh, Mrs. General, fragen Sie die Steine und Gitter des Marschallgefängnisses. Oh, Mrs. General, fragen Sie die Putzmacherin, die sie nähen lehrte, und den Tanzmeister, der ihre Schwester im Tanzen unterwies. Oh, Mrs. General, Mrs. General, fragen Sie mich, ihren Vater, was ich ihr schuldig bin; und hören Sie mein Zeugnis über das Leben dieses schwächlichen, kleinen Geschöpfes von ihrer Kindheit an!

Keine solche Beschwörung kam Mr. Dorrit in den Sinn. Er blickte Mrs. General an, die in ihrer gewöhnlichen aufrechten Haltung auf ihrem Wagensitz hinter ihren Anstandsgefühlen saß, und sagte in gedankenvoller Weise: »Richtig, Madame.«

»Merken Sie wohl«, sagte Mrs. General, »ich möchte nicht so verstanden werden, als wollte ich sagen, es sei nichts an Fanny zu tadeln. Es ist vielleicht nur zuviel Material vorhanden.«

»Wollen Sie so freundlich sein, Madame«, sagte Mr. Dorrit, »sich etwas – ha – deutlicher auszusprechen. Ich verstehe nicht ganz, was das heißen soll, es sei bei meiner älteren Tochter zuviel Material vorhanden. Was für Material?« »Fanny«, versetzte Mrs. General, »bildet sich gegenwärtig zuviel Meinungen. Vollendete Erziehung bildet keine und ist nur demonstrativ.«

Damit er nicht in Verdacht käme, als mangelte ihm die vollendete Erziehung, beeilte sich Mr. Dorrit zu erwidern: »Ganz gewiß, Madame, Sie haben recht.« Mrs. General antwortete in ihrer apathischen und ausdruckslosen Weise: »Ich glaube wenigstens.«

»Aber Sie wissen, meine liebe Madame«, sagte Mr. Dorrit, »daß meine Töchter das Unglück hatten, ihre tief beweinte Mutter zu verlieren, als sie noch sehr jung waren; und daß sie infolge des Umstandes, der mich erst spät in den Besitz meines rechtmäßigen Erbes setzte, bei mir, einem verhältnismäßig armen, wenn auch immerhin stolzen Gentleman, ein – ha – zurückgezogenes Leben geführt!«-

»Ich lasse diesen Gesichtspunkt nicht aus den Augen«, sagte Mrs. General.

»Madame«, fuhr Mr. Dorrit fort, »wegen meiner Tochter Fanny habe ich, solange sie unter der gegenwärtigen Leitung steht und solch ein Beispiel beständig vor Augen hat –«

Mrs. General schloß ihre Augen.

»– keine Besorgnisse. Fanny besitzt einen bildungsfähigen Charakter. Aber meine jüngere Tochter, Mrs. General, flößt mir vielfache Besorgnisse ein und quält meine Gedanken. Ich muß Ihnen sagen, daß sie immer mein Liebling war.«

»Diese Vorliebe«, sagte Mr«. General, »kommt nicht in Anrechnung.«

»Ha – nicht«, stimmte Mr. Dorrit zu. »Nicht. Nun macht es mir aber Verdruß, daß ich bemerken muß, daß Amy sozusagen nicht zu den Unsrigen zählt. Es liegt ihr nichts daran, mit uns umherzugehen; sie existiert für die Gesellschaft, die wir hier haben, gar nicht; unser Geschmack harmoniert offenbar nicht mit dem ihrigen. Was«, sagte Mr. Dorrit, mit richterlicher Feierlichkeit summierend, »kurz so viel heißen will, als ob etwas nicht richtig sei bei – ha – Amy.«

»Sollen wir nicht zu der Vermutung hinneigen«, sagte Mr«. General mit einem leichten Pinsel voll Firnis, »daß der Neuheit der Lage einige Rechnung zu tragen ist?«

»Entschuldigen Sie, Madame«, bemerkte Mr. Dorrit ziemlich lebhaft. »Die Tochter eines Gentleman, wenn er auch – ha – zu einer Zeit verhältnismäßig weit entfernt vom Überfluß war – verhältnismäßig – und sie selbst in – hm – großer Zurückgezogenheit aufwuchs, muß diese Lage nicht so unbedingt neu finden.«

»Richtig«, sagte Mrs. General, »richtig.«

»Deshalb, Madame«, sagte Mr. Dorrit, »nahm ich mir die Freiheit«, (er legte ein großes Gewicht auf diese Phrase und wiederholte sie, als wollte er sich mit höflicher Bestimmtheit ausgebeten haben, daß ihm nicht abermals widersprochen werde), »ich nahm mir die Freiheit, Sie um diese Unterredung zu bitten, um Ihnen die Sache vorzutragen und Ihren Rat zu vernehmen.«

»Mr. Dorrit«, sagte Mrs. General, »ich sprach zu verschiedenen Malen, seit wir hier wohnen, mit Amy im allgemeinen über die Bildung des Betragens. Sie drückte mir ihr großes Staunen über Venedig aus. Ich sagte ihr, daß es besser sei, nicht zu staunen. Ich deutete darauf hin, daß der berühmte Mr. Eustace, der klassische Tourist, nicht viel davon hielt und daß er den Rialto, sehr zu dessen Nachteil, mit den Westminster- und Blackfriars-Brücken verglich. Ich brauche, nach dem, was Sie selbst gesagt, nicht hinzuzufügen, daß ich mit meinen Argumenten keinen großen Erfolg erzielte. Sie erzeigen mir die Ehre, mich um meinen Rat zu befragen. Es erscheint mir immer (sollte es eine grundlose Annahme sein, so bitte ich um Entschuldigung), als wenn Mr. Dorrit gewöhnt gewesen wäre, Einfluß auf den Willen anderer zu üben.«

»Hm – Madame«, sagte Mr. Dorrit, »ich stand an der Spitze einer – ha – einer beträchtlichen Gesellschaft. Sie haben recht, wenn Sie vermuten, daß ich an eine einflußreiche Stellung gewöhnt bin.«

»Ich bin glücklich«, versetzte Mrs. General, »meine Ansicht so bestätigt zu sehen. Ich möchte deshalb mit um so größerer Zuversicht raten, daß Mr. Dorrit selbst mit Amy spreche und ihr seine Beobachtungen und Wünsche mitteile. Da sie überdies sein Liebling ist und ohne Zweifel sehr an ihm hängt, so wird sie auch um so sicherer seinem Einflusse offen stehen.«

»Ich hatte Ihren Wink geahnt, Madame«, sagte Mr. Dorrit, »war jedoch nicht sicher – ha –, ob ich nicht – hm – dadurch Übergriffe –«

»Auf mein Terrain machen, Mr. Dorrit?« sagte Mrs. General freundlich. »Sprechen Sie nicht davon.«

»Dann, Madame«, fuhr Mr. Dorrit fort, indem er seinem Kammerdiener läutete, »dann will ich sogleich nach ihr schicken.«

»Wünscht Mr. Dorrit, daß ich bleibe?«

»Vielleicht, wenn Sie nichts anderes zu tun haben, werden Sie mir eine oder zwei Minuten schenken –«

»Gewiß.«

Tinkler, der Kammerdiener, wurde beauftragt. Miß Amys Mädchen zu suchen und diesem untergeordneten Wesen zu sagen, daß sie Miß Amy davon in Kenntnis setze, Mr. Dorrit wünsche, sie in seinem Zimmer zu sprechen. Mr. Dorrit sah Tinkler streng an, während er ihm diesen Auftrag erteilte, und hatte einen argwöhnischen Blick auf ihn geheftet, bis er zur Türe hinaus war; denn er mißtraute ihm, er möchte etwas, was der Familienwürde Eintrag tun könnte, im Sinne haben; er möchte von einem kollegialen Scherz Wind bekommen haben, ehe er in seinen Dienst kam, und nun im gegenwärtigen Augenblick zu seinem Hohn die Erinnerung wieder auffrischen. Hätte Tinkler zufällig gelacht, wenn auch noch so flüchtig und unschuldig, würde doch Mr. Dorrit bis zu seiner Todesstunde nichts davon haben überzeugen können, daß dies nicht der Fall gewesen. Da Tinkler jedoch zufällig, und zu seinem großen Glück, gerade ein ernstes und ruhiges Gesicht machte, so entging er der geheimen Gefahr, die ihm drohte. Und da er bei seiner Wiederkunft – als Mr. Dorrit ihn ansah – Miß Amy meldete, als käme sie zu einem Leichenbegängnis, so machte er auf Mr. Dorrit den allgemeinen Eindruck eines ordentlichen Jungen, der im Studium seines Katechismus von seiner verwitweten Mutter erzogen worden.

»Amy«, sagte Mr. Dorrit, »du warst gerade der Gegenstand einer Unterredung zwischen mir und Mrs. General. Wir sind beide der Ansicht, daß du dich hier nicht heimisch fühlst. Ha – wie kommt das?«

Eine Pause.

»Ich glaube, Vater, ich brauche etwas Zeit.«

»Papa ist eine bessere Anredeweise«, bemerkte Mrs. General. »Vater ist etwas gewöhnlich, meine Liebe. Das Wort Papa gibt überdies den Lippen eine hübsche Form. Papa, potatoes, poultry, prunes und prism sind lauter gute Worte für die Lippen: namentlich prunes und prism. Sie werden es für die Bildung Ihres Benehmens sehr zweckdienlich finden, wenn Sie bisweilen in Gesellschaft, zum Beispiel beim Einritt in ein Zimmer, vor sich hin sagen: Papa, potatoes, poultry, prunes und prism.«

»Bitte, mein Kind«, sagte Mr. Dorrit, »höre auf die Vorschriften von Mrs. General.«

Die arme Klein-Dorrit versprach, mit einem ziemlich flüchtigen Blick auf die große Lackiererin, es zu versuchen.

»Du sagst, Amy«, fuhr Mr. Dorrit fort, »daß du Zeit zu brauchen glaubst. Zeit, wozu?«

Ein zweite Pause.

»Um mich an mein neues Leben zu gewöhnen, das war alles, was ich meinte«, sagte Amy, indem ihr liebevoller Blick auf ihrem Vater ruhte, den sie in ihrem Eifer, Mrs. General zu folgen und ihm zu Gefallen zu sein, nahe daran gewesen, als poultry, wenn nicht gar als prunes und prism anzureden.

Mr. Dorrit krauste die Stirn und schien nichts weniger als erfreut. »Amy«, versetzte er, »es scheint mir, offen gesagt, als wenn du reichlich Zeit gehabt hättest. Ha – du setzest mich in Erstaunen, du enttäuschst meine Erwartungen. Fanny hat all die kleinen Schwierigkeiten überwunden, und – hm – warum du nicht auch?«

»Ich hoffe, es wird bald besser gehen«, sagte Klein-Dorrit.

»Ich hoffe auch«, versetzte ihr Vater. »Ich hoffe wahrhaftig recht von Herzen, Amy. Ich schickte nach dir, um dir zu sagen, – hm – dir recht eindringlich, und zwar in Gegenwart von Mrs. General, der wir alle zu so großem Danke verpflichtet sind, daß sie bei dieser und ähnlichen Gelegenheiten zugegen ist«, Mrs. General schloß ihre Augen, »zu sagen, daß ich – hm – gar nicht zufrieden mit dir bin. Du machst Mrs. Generals Arbeit zu einer sehr undankbaren. Du – ha – setzt mich in große Verlegenheit. Du warst stets (wie ich Mrs. General mitgeteilt habe) mein Liebling; ich habe dich immer – hm – als Freundin und Gesellschafterin um mich gehabt: dafür bitte ich – ha – bitte – ha – ich dich, daß du dich besser den – hm – Umständen anbequemst und pflichtgetreuer tust, was – deine Stellung verlangt.«

Mr. Dorrit sprach sogar noch etwas abgebrochener als sonst, da ihn der Gegenstand aufregte und er einen besonderen Nachdruck in seine Worte legen wollte.

»Ich bitte dich«, wiederholte er, »daß du dies im Auge behältst und dir ernstlich Mühe gibst, dich in einer Weise zu benehmen, die einerseits für deine Stellung als – ha – Miß Amy Dorrit paßt, anderseits mir und Mrs. General Befriedigung gewährt.«

Diese Dame schloß die Augen wieder, als sie abermals sich erwähnen hörte; dann, sie langsam öffnend und aufschlagend, fügte sie diese Worte hinzu:

»Wenn Miß Amy Dorrit auf die Bildung einer standesgemäßen Außenseite bedacht sein und meine arme Unterstützung dabei annehmen will, so wird Mr. Dorrit fortan keinen Grund zu Besorgnissen mehr haben. Darf ich diese Gelegenheit ergreifen zu bemerken, daß es zum Beispiel nicht sonderlich fein ist, Vagabunden solche Aufmerksamkeit zu schenken, wie ich es eine mir sehr liebe junge Freundin tun sah? Man steht solche Leute nicht an. Man sollte überhaupt nie etwas Unangenehmes ansehen. Namentlich da eine solche Gewohnheit einer anmutigen Gleichmütigkeit des Gesichtsausdrucks im Wege steht, die mehr als alles ein Zeugnis guter Erziehung ist, scheint es kaum mit seiner Bildung vereinbar zu sein. Ein wirklich feingebildeter Geist wird immer den Anschein haben, als ob er gar nichts von der Existenz von Dingen wüßte, die nicht vollkommen schön, gefällig und angenehm sind.« Nachdem Mrs. General diesen erhabenen Gedanken zum besten gegeben, machte sie eine rauschende Verbeugung und verließ das Zimmer mit einem Ausdruck des Mundes, als ob auf ihren Lippen die Worte prunes und prism schwebten.

Klein-Dorrit mochte sprechen oder schweigen, sie behielt ihren ruhigen Ernst und ihren liebevollen Blick. Er hatte sich bis jetzt, mit Ausnahme eines flüchtigen Augenblicks, noch nicht umwölkt. Aber nun, da sie allein mit ihrem Vater war, bewegten sich die Finger ihrer leicht gefalteten Hände etwas unruhig, und in ihrem Gesicht lag eine unterdrückte Aufregung.

Nicht ihr selbst galt diese. Sie mochte sich wohl leicht verwundet fühlen, aber ihre Sorge galt nicht ihr selbst. Ihre Gedanken richteten sich wie immer auf ihn. Eine schwache Ahnung, die, seit sie reich geworden, auf ihr gelastet, daß sie selbst jetzt nie mehr die Freude haben sollte, ihn zu sehen, wie er ehedem, vor den Toren des Gefängnisses wartete, hatte mit der Zeit Gestalt bekommen. Sie fühlte, daß in dem, was er soeben zu ihr gesagt, und in seinem ganzen Benehmen gegen sie der wohlbekannte Schatten der Mauern des Marschallgefängnisses auf ihm ruhe. Er nahm jetzt eine neue Gestalt an, aber es war der alte traurige Schatten. Sie begann sich schmerzlich ungern einzugestehen, daß sie nicht stark genug sei, die Furcht von sich fernzuhalten, daß kein noch so langer Zeitraum im Menschenleben jenes Vierteljahrhundert hinter den Gefängnisriegeln zu verwischen vermöge. Sie konnte ihm darob keinen Vorwurf machen; kein Tadel drängte sich auf ihre Lippen, kein andres Gefühl lebte in ihrem treuen Herzen als innige Teilnahme und grenzenlose Zärtlichkeit.

Das war der Grund, weshalb sie, selbst jetzt, da er vor ihr auf seinem Sofa saß, in dem glänzenden Lichte eines herrlichen italienischen Tages, – draußen die wundervolle Stadt und drinnen die Pracht eines alten Palastes – ihn in dem wohlbekannten Dunkel seiner Marschallgefängniswohnung zu erblicken glaubte und ihren Sitz neben ihm einzunehmen und ihn zu trösten und wieder voll Zutraulichkeit gegen ihn und voll Dienstbarkeit für ihn zu sein wünschte. Wenn er ahnte, was in ihren Gedanken vorging, so standen die seinen nicht im Einklang damit. Nachdem er sich auf seinem Sitz mehrmals hin und her bewegt, stand er auf und ging mit sehr unzufriedenem Ausdruck im Gesicht auf und ab.

»Willst du mir noch irgend etwas anderes sagen, lieber Vater?«

»Nein, nein. Nichts sonst.«

»Ich bedaure sehr, daß du nicht mit mir zufrieden bist. Ich hoffe, du denkst jetzt nicht mit Kummer an mich. Ich will mir mehr denn je Mühe geben, mich, wie es dein Wunsch ist, an meine Umgebung anzupassen – denn ich habe wahrhaftig die ganze Zeit her mir alle Mühe gegeben; es ist mir freilich, ich weiß es, nicht gelungen.«

»Amy«, versetzte er, sich plötzlich nach ihr umwendend. »Du – ha – verletzt mich fort und fort.«

»Ich dich verletzen, Vater! Ich!«

»Es gibt einen – hm – einen Punkt«, sagte Mr. Dorrit, indem er dabei an der ganzen Decke umhersah und dem aufmerksamen, schmerzlich bewegten und doch klaglosen Gesicht keinen Blick gönnte, »einen peinlichen Punkt, eine Reihe von Erlebnissen, die ich – ha – gänzlich aus dem Gedächtnis gelöscht wissen möchte. Deine Schwester hat dies begriffen und eingesehen und dich bereits darüber in meiner Gegenwart zur Rede gestellt; dein Bruder hat es eingesehen. Jedermann – ha, hm – hat es eingesehen, wer nur irgend Zartgefühl und Takt besitzt, nur du – ha – es tut mir leid, daß ich es sagen muß – nur du willst es nicht begreifen. Du, Amy, – hm – du allein und nur du – rührst diesen Punkt beständig wieder auf, wenn auch nicht gerade in Worten.«

Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. Sie tat nichts weiter. Sie berührte ihn sanft. Die zitternde Hand sagte vielleicht mit —Text fehlt— an meine vielen Sorgen!« Aber sie selbst sagte nicht eine Silbe.

Es lag in dieser Berührung der Hand ein Vorwurf, den sie nicht geahnt, sonst würde sie sie zurückgezogen haben. Er begann sich zu rechtfertigen: in einer erhitzten, unbeholfenen und ärgerlichen Weise, die doch nicht« besagen wollte.

»Ich war all diese Jahr« dort. Ich war – ha – allgemein als die wichtigste Person jenes Platzes anerkannt. Ich – hm – war Ursache, daß du dort Ansehen genossest, Amy. Ich – ha, hm – gab meiner Familie dort eine Stellung. Ich verdiene Erkenntlichkeit. Ich verlange Erkenntlichkeit. Ich sage, tilge es von der Oberfläche der Erde und beginne ein neues Leben, Ist das viel? Ich frage, ist das viel?«

Er sah sie nicht einmal an, während er sie in dieser Weise quälte, gestikulierte dabei jedoch in der leeren Luft herum, als wenn er’s mit Gespenstern der Vergangenheit zu tun hätte.

»Ich habe viel gelitten. Ich weiß wahrscheinlich besser als irgend jemand, was ich gelitten, ha – ich sage, mehr als irgend jemand. Wenn ich das von mir wälzen kann, wenn ich die Male meiner Wunden vertilgen kann und mich vor die Welt als ein – ha – flecken- und makelloser Gentleman hinzustellen vermag –, so läßt sich doch wohl mit vollem Recht erwarten – ich sage es noch einmal, mit vollem Recht erwarten –, daß meine Kinder – hm – dasselbe tun und diese verwünschte Erfahrung von der Oberfläche der Erde vertilgen!«

Trotz seines erhitzten Zustandes sprach er all diese ungehaltenen Worte mit sorgfältig gedämpfter Stimme, damit der Kammerdiener nichts höre.

»Wie sich’s gebührt, tun sie es. Deine Schwester tut es. Dein Bruder tut es. Du allein, mein Liebling, die ich zur Freundin und Gesellschafterin meines Lebens machte, als du noch ein – hm – bloßes Kind warst, du tust es nicht. Du allein sagst, du könntest es nicht tun. Ich versehe dich mit der besten Stütze, um es tun zu können. Ich gebe dir eine vollendete und außerordentlich fein erzogene Dame – ha – Mrs. General, zur Gesellschaft, um dies zu ermöglichen. Ist es zu verwundern, daß ich ungehalten bin? Soll ich mich gar noch entschuldigen, daß ich mein Mißvergnügen darüber ausspreche? Nein!«

Trotzdem fuhr er fort, sich zu entschuldigen, ohne daß sich jedoch seine Hitze gelegt hätte.

»Ich bin stets dafür besorgt, ehe ich mein Mißfallen ausdrücke, zuvor die Bestätigung bei dieser Dame einzuholen. Natürlich – hm – apelliere ich innerhalb bestimmten Grenzen, sonst – ha – würde ich dieser Dame zu lesen ermöglichen, was ich ausgewischt zu wissen wünsche. Bin ich egoistisch? Beklage ich mich um meiner selbst willen? Nein. Nein. Vornehmlich um – ha, hm – deinetwillen, Amy.« Diese Worte schienen in der Art, wie er sie vorbrachte, erst in diesem Augenblick in seinem Innern aufgestiegen zu sein.

»Ich sagte, ich sei verletzt worden. Das bin ich auch. Ja, ich – ha – bin entschlossen, es zu sein, was auch für das Gegenteil vorgebracht worden. Es verletzt mich, daß meine Tochter, die in dem – hm – Schoß des Glückes sitzt, in stiller Zurückgezogenheit sich ihren Träumereien hingibt und damit sagt, daß sie der hohen Stellung ihres Vermögens und Rangs nicht gewachsen sei, Es verletzt mich, daß sie – ha – systematisch das wieder auffrischt, was die andern aus der Erinnerung getilgt, und daß sie – ich hätte beinahe gesagt, ängstlich darauf bedacht scheint, der reichen und vornehmen Welt zu offenbaren, sie sei an einem Orte – ha – geboren und aufgewachsen, den zu nennen mir zuwider ist. Aber es ist kein Widerspruch darin, nicht der geringste, wenn ich mich verletzt fühle und mich doch vornehmlich deinetwegen beklage, Amy. Ich beklage mich, ich wiederhole es. Um deinetwillen wünsche ich, daß du dir unter den Auspizien von Mrs. General eine – ha – Außenseite bildest. Um deinetwillen wünsche ich, daß du dir – ha – eine echt gesellschaftliche Bildung erwirbst und (um mit den treffenden Worten von Mrs. General zu sprechen) allem fremd bleibest, was nicht schön, angenehm und gefällig ist.«

Den letzten Passus seiner Rede hatte er ruckweise wie einen schlecht geordneten Alarm zu Tag gebracht, Amys Hand lag noch immer auf seinem Arm. Er schwieg; und nachdem er noch einmal eine Zeitlang an der Decke umhergeschaut, blickte er wieder auf sie herab. Ihr Kopf hatte sich gesenkt, und er konnte ihr Gesicht nicht sehen: aber die Berührung ihrer Hand war zärtlich und ruhig, und in dem Ausdruck ihrer gebeugten Gestalt lag kein Vorwurf –, sondern nur Liebe. Er begann zu weinen wie in jener Nacht im Gefängnis, wo sie später bis zum Morgen an seinem Bette gesessen; dann rief er, er sei eine arme Ruine, ein armer, unglücklicher Mann inmitten seines Reichtums und umschlang sie mit seinen Armen. »Ruhig, ruhig, mein lieber Vater! Küsse mich!« war alles, was sie sagte. Seine Tränen waren bald getrocknet, viel rascher als bei jener früheren Gelegenheit, und er benahm sich im nächsten Augenblick sehr hochfahrend gegen seinen Kammerdiener, um sich dafür zu rächen, daß er welche vergossen hatte.

Mit einer bemerkenswerten Ausnahme, die an ihrem Platze erwähnt werden wird, war dies von dem Tage ab, da er frei und reich ward, das einzige Mal, daß er zu seiner Tochter Amy von vergangenen Zeiten sprach.

Aber nun war die Stunde des Frühstücks herangerückt; und mit ihr erschienen Miß Fanny, die aus ihrem Zimmer kam, und Mr. Edward, der von seinem Zimmer kam. Diese beiden vornehmen Personen waren wegen der späten Stunde etwas schlimmer daran. Miß Fanny war das Opfer der unersättlichen Manie, immer, wie sie es nannte, »in Gesellschaft zu gehen«, und wäre zu jedermann zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang hingegangen, wenn ihr so viele Gelegenheiten zu Gebote gestanden hätten. Auch Mr. Edward hatte ausgebreitete Bekanntschaften und war gewöhnlich den größten Teil der Nacht (meist in Spielklubs und andern ähnlicher Art) in Anspruch genommen. Dieser Gentleman hatte nämlich, als seine Vermögensverhältnisse sich veränderten, den großen Vorteil, daß er bereits für die höchsten Gesellschaften vorbereitet war und wenig zu lernen brauchte: so viel verdankte er dem glücklichen Umstand, der ihn mit dem Pferdehandel und Billardmarkieren bekannt gemacht.

Beim Frühstück erschien auch Mr. Frederick Dorrit. Da der alte Gentleman den höchsten Stock des Palastes bewohnte, wo er sich im Pistolenschießen hätte üben können, ohne daß die andern Bewohner des Hauses es auch nur bemerkt hätten, so hatte seine jüngere Nichte den Mut gefaßt, den Vorschlag zu machen, man solle ihm seine Klarinette zurückgeben, die Mr. Dorrit zu konfiszieren befohlen, die sie jedoch aufzubewahren gewagt. Trotz einiger Einwendungen von Miß Fanny, daß es ein gemeines Instrument sei und daß sie den Ton desselben verabscheue, wurde doch die Konzession gemacht. Aber man machte auch die Entdeckung, daß er des Instrumentes satt war und es nie spielte, nun da es nicht länger das Mittel für ihn war, sein Brot damit zu erwerben. Er hatte unmerklich eine neue Liebhaberei bekommen: nämlich in die Gemäldegalerien zu schlendern: dabei hatte er immer seine zusammengedrückte Papiertüte mit Schnupftabak in der Hand (zum großen Unwillen von Miß Fanny, die den Vorschlag gemacht, ihm eine goldene Dose zu kaufen, damit die Familie nicht in Mißkredit gerate, die er jedoch entschieden zu tragen ausgeschlagen hatte, als sie gekauft war). Er brachte ganze Stunden vor den Bildern berühmter Venezianer zu. Es blieb unentschieden, was seine geblendeten Augen in denselben sahen; ob er ein Interesse an ihnen, als bloß Gemälden hatte, oder ob er sie unklar mit einer Herrlichkeit identifizierte, die vorüber war, wie die Stärke seines eignen Geistes. Aber er machte ihnen mit großer Pünktlichkeit seine Aufwartung und schöpfte offenbar Vergnügen aus diesem Treiben. Nach den ersten wenigen Tagen nahm Klein-Dorrit zufällig an einem dieser Besuche teil: und es mehrte seinen Genuß so sichtlich, daß sie ihn später oft begleitete, und das größte Vergnügen, für das sich der alte Mann seit seinem Ruin empfänglich zeigte, erwuchs ihm aus diesen Gängen, bei denen er ihr gewöhnlich einen Stuhl von Bild zu Bild trug und trotz aller Einwendungen hinter ihr stand, und sie schweigend den edeln Venezianern vorstellte.

Bei diesem Familienfrühstück erwähnte er zufällig, daß er am vorhergehenden Tage in einer Galerie die Dame und den Herrn gesehen hatte, die sie auf dem St. Bernhard getroffen. »Ich vergesse den Namen«, sagte er. »Du wirst dich wohl derselben erinnern, William? Oder du, Edward?« »Ich erinnere mich ihrer allerdings sehr gut«, sagte der letztere.

»Ich begreife das«, bemerkte Miß Fanny, mit einem Schütteln ihres Kopfes und einem Blick auf ihre Schwester. »Aber sie wären nicht wieder in unserem Gedächtnis aufgetaucht, glaube ich, wenn Onkel nicht über sie gestolpert wäre.«

»Meine Liebe, was für ein seltsamer Ausdruck«, sagte Mrs. General. »Ihnen nicht unvermutet begegnet oder – sie zufällig erwähnt hätte, wäre besser.«

»Ich danke Ihnen, Mrs. General«, versetzte die junge Dame, »nein, ich bin aber anderer Meinung. Überhaupt ziehe ich meinen eigenen Ausdruck vor.«

Dies war immer die Art, wie Miß Fanny eine Verbesserung von Mrs. General hinnahm. Aber sie bewahrte sie stets sorgfältig in ihrem Gedächtnis und brachte sie bei einer andern Gelegenheit an.

»Ich würde unsre Begegnung mit Mr. und Mrs. Gowan erwähnt haben, Fanny«, sagte Klein-Dorrit, »auch wenn Onkel es nicht getan hätte. Ich habe euch seit der Zeit, wie ihr wißt, kaum gesehen. Ich meinte beim Frühstück davon gesprochen zu haben, weil ich Mrs. Gowan einen Besuch zu machen und näher mit ihr bekannt zu werden wünsche, wenn Papa und Mrs. General nichts dagegen einzuwenden haben.«

»Wahrhaftig, Amy«, sagte Fanny, »es sollte mich freuen, wenn du zuletzt noch den Wunsch aussprächest, mit allen Leuten in Venedig näher bekannt werden zu wollen. Es bleibt freilich eine Frage, ob Mr. und Mrs. Gowan sehr wünschenswerte Bekanntschaften sind.«

»Ich sprach von Mrs. Gowan, meine Liebe.«

»Allerdings«, sagte Fanny. »Aber du kannst sie, soviel ich weiß, nicht ohne einen Akt des Parlamentes von ihrem Manne trennen.«

»Glaubst du, Papa«, fragte Klein-Dorrit mit schüchternem Zögern, »daß sich irgend etwas gegen meinen Besuch bei Mrs. Gowan einwenden lasse?«

»Nein«, versetzte er. »Ha – ich – was ist Mrs. Generals Ansicht?«

Mrs. Generals Ansicht war, daß, sofern sie nicht die Ehre habe, die Dame und den Herrn zu kennen, sie auch nicht in der Lage sei, diese Angelegenheit zu firnissen. Sie könne nur die Bemerkung machen, als einen Grundsatz, der bei allem Firnissen beobachtet werden müsse, daß sehr viel davon abhänge, von welcher Seite die genannte Dame an eine Familie empfohlen werde, die eine so hervorragende Nische im sozialen Tempel einnehme wie die Familie Dorrit.

Bei dieser Bemerkung verfinsterte sich das Gesicht von Mr. Dorrit bedeutend. Er war bereits im Begriff (da die Empfehlung mit einer aufdringlichen Persönlichkeit namens Clennam in Verbindung stand, deren er sich nur unklar aus einer früheren Zeit erinnerte), dem Namen Gowan eine schwarze Kugel zu geben, als Edward Dorrit, Esquire sich, das Glas im Auge, in die Unterhaltung mischte und die vorläufige Bemerkung: »Ich sage – he da! Geht hinaus, nicht wahr?« zum besten gab. Diese Bemerkung war an zwei Männer gerichtet, die die Tische herbeitrugen, und konnte als eine höfliche Aufforderung gelten, ihre Dienste für einen Augenblick zu suspendieren.

Nachdem die Diener der Aufforderung Genüge geleistet, fuhr Edward fort:

»Vielleicht ist es eine Klugheitsmaßregel, euch alle wissen zu lassen, daß Mrs. und Mr. Gowan – für die, oder wenigstens für welch letztern ich sehr eingenommen zu sein nicht in den Verdacht geraten kann – mit Leuten von Bedeutung in Verbindung stehen, wenn das einen Unterschied macht.«

»Das, möchte ich behaupten«, bemerkte die schöne Firnisserin, »gibt den bedeutendsten Ausschlag, Die fragliche Verbindung, wenn es wirklich Leute von Bedeutung und Ansehen sind –«

»Was das betrifft«, sagte Edward Dorrit, »so will ich Ihnen die Mittel an die Hand geben, selbst zu urteilen. Sie kennen vielleicht den berühmten Namen Merdle?«

»Den großen Merdle?« rief Mrs. General.

» Den Merdle!« sagte Edward Dorrit, Esquire. »Sie sind mit ihm bekannt. Mrs. Gowan – ich meine die Witwe, meines höflichen Freundes Mutter – ist die intime Freundin von Mrs. Merdle, und ich weiß, diese beiden stehen auf ihrer Besuchsliste.«

»Wenn dem so ist, bedarf es keiner bessern Garantie mehr«, sagte Mrs. General, indem sie ihre Handschuhe erhob und ihr Haupt senkte, als ob sie irgendeinem sichtbaren geschnitzten Bilde ihre Huldigung darbrächte.

»Ich bitte meinen Sohn zu fragen, aus Gründen der – ha – Neugier«, bemerkte Mr. Dorrit mit einer entschiedenen Änderung in seinem Wesen, »wie er in den Besitz dieser – hm – rechtzeitigen Kenntnis kommt?«

»Es ist keine lange Geschichte, Sir«, versetzte Edward Dorrit, Esquire, »und Sie sollen es auf der Stelle erfahren. Erstens ist Mrs. Merdle die Dame, mit der Sie die Unterredung hatten, in, wie heißt es nur?«

»Martigny«, warf Miß Fanny mit unendlich matter Miene ein.

»Martigny«, bejahte ihr Bruder, mit einem leichten Nicken und einem leichten Blinzeln: Miß Fanny wurde darüber etwas verlegen, lachte und errötete.

»Wie ist das möglich, Edward?« sagte Mr, Dorrit. »Du teiltest mir doch mit, daß der Name des Herrn, mit dem du verhandelt, Sparkler sei. Wahrhaftig, du zeigtest mir ja seine Karte. Hm. Sparkler.«

»Allerdings, Vater; aber daraus folgt ja nicht, daß seiner Mutter Name der gleiche sein muß. Mrs. Merdle war bereits früher verheiratet, und er ist ihr Sohn. Sie ist jetzt in Rom, wo wir wahrscheinlich mehr von ihr erfahren werden, da du den Winter über dort zu bleiben gedenkst. Sparkler ist soeben hier angekommen. Ich brachte die letzte Nacht in Gesellschaft von Sparkler zu, Sparkler ist im ganzen ein sehr guter Junge, obgleich in einer Beziehung ein langweiliger, unausstehlicher Mensch: denn er ist schrecklich verliebt in eine gewisse junge Dame.« Bei diesen Worten sah Edward Dorrit, Esquire, Miß Fanny durch sein Monokel über den Tisch hinüber an, »Wir tauschten zufällig diese Nacht gegenseitig Bemerkungen über unsere Reise aus, und ich erhielt auf diese Weise die Kunde von Sparkler, die ich euch soeben mitgeteilt habe.« Hier brach er ab, beobachtete jedoch Miß Fanny unaufhörlich durch sein Glas, wobei sich sein Gesicht, nicht gerade zur Vermehrung seiner Schönheit, teilweise durch das Festhalten des Glases im Äuge, teilweise durch die große Schlauheit seines Lächelns bedeutend verzog.

»Unter diesen Umständen«, sagte Mr. Dorrit, »glaube ich ebensosehr die Gefühle von – ha – Mrs, General als meine eigenen auszudrücken, wenn ich sage, daß kein Hindernis vorhanden ist, sondern – ha, hm – gerade das Gegenteil obwaltet, deinem Wunsche zu entsprechen, Amy, Ich glaube sogar – ha –, diesen Wunsch freudig begrüßen zu müssen«, sagte Mr. Dorrit, mit ermutigendem und vergebendem Ton, »und zwar als ein günstiges Omen. Es ist ganz hübsch, wenn du diese Leute kennst. Es ist ganz passend. Mr. Merdle ist ein – ha – weltberühmter Name. Mr. Merdles Unternehmungen sind außerordentlich. Sie bringen ihm so große Summen Geldes, daß sie als – hm – Nationalwohltaten betrachtet werden. Mr. Merdle ist der Mann unsrer Zeit. Der Name Merdle ist der Name des Jahrhunderts. Bitte, erweise um meinetwillen Mr. und Mrs. Gowan alle Artigkeiten, denn wir wollen – ha – wir wollen sie mit Aufmerksamkeit behandeln.«

Dieses großartige Zugeständnis von Mr. Dorrits Anerkennung machte der Sache ein Ende. Man hatte nicht bemerkt, daß der Oheim seinen Teller weggestoßen und sein Frühstück vergessen hatte; aber man achtete überhaupt wenig auf ihn, nur Klein-Dorrit tat es. Die Diener wurden hereingerufen, und das Mahl ging seinem Ende zu. Mrs, General stand auf und verließ den Tisch. Klein-Dorrit stand auf und verließ den Tisch. Als Edward und Fanny über denselben hinüber plaudernd zusammen sitzenblieben und Mr. Dorrit, Feigen essend und eine französische Zeitung lesend, gleichfalls sitzenblieb, zog der Onkel plötzlich die Aufmerksamkeit von allen dreien auf sich, indem er sich erhob, mit seiner Hand auf den Tisch schlug und ausrief: »Bruder! Ich protestiere dagegen!«

Wenn er in einer unbekannten Sprache eine Rede gehalten und dann auf der Stelle den Geist aufgegeben, er hätte seine Zuhörer in nicht größeres Erstaunen setzen können. Die Zeitung entfiel Mr. Dorrits Händen, und er saß, eine Feige nach dem Mund führend, wie versteinert da.

»Bruder«, sagte der alte Mann, indem er seiner zitternden Stimme eine überraschende Energie verlieh, »ich protestiere dagegen! Ich liebe dich! Du weißt, ich liebe dich von Herzen. Seit vielen Jahren war ich dir niemals auch nur mit einem einzigen Gedanken untreu! So schwach ich bin, würde ich jeden, der je schlecht von dir gesprochen, zu Boden geschmettert haben. Aber Bruder, Bruder, Bruder, ich protestiere dagegen!«

Es war merkwürdig zu sehen, welch heftigen Ausbruchs von Eifer dieser gebrochene Mann fähig war. Seine Augen funkelten, sein graues Haar stand zu Berge, Spuren von Willen, die seit fünfundzwanzig Jahren verschwunden waren, traten wieder auf Gesicht und Stirn hervor, und in seiner Hand lag eine Energie, die ihre Aktion kraftvoll machte.

»Mein lieber Frederick!« rief Mr. Dorrit matt. »Was ist nicht recht? Was gibt es denn?«

»Wie kannst du das wagen?« sagte der alte Mann, indem er sich zu Fanny hinwandte. »Hast du denn kein Gedächtnis? Hast du kein Herz?«

»Onkel!« rief Fanny erschrocken und in Tränen ausbrechend, »warum greifst du mich in dieser grausamen Weise an? Was habe ich getan?«

»Getan«, versetzte der alte Mann, auf ihrer Schwester Platz deutend, »wo ist deine liebevolle, unschätzbare Freundin? Wo ist dein aufopfernder Schutzengel? Wo ist die, die dir mehr als Mutter war? Wie kannst du es wagen, ein Vorrecht gegenüber all diesen in deiner Schwester vereinigten Eigenschaften geltend zu machen? Schäme dich, falsches Mädchen, schäme dich!«

»Ich liebe Amy«, rief Fanny schluchzend und weinend, »ich liebe sie wie mein Leben – mehr als mein Leben. Ich verdiene nicht, daß man mich so behandelt. Ich bin so dankbar gegen Amy und habe Amy so lieb, wie es menschenmöglich ist. Ich wollte, ich wäre tot. Doch nie wurde so schlimm mit mir umgegangen. Und nur, weil ich für den Ruf der Familie besorgt bin.«

»Zum Teufel mit dem Ruf der Familie!« rief der alte Mann mit größter Wut und Entrüstung. »Bruder, ich protestiere gegen jeden von uns hier, der erfahren hat, was wir erfahren und gesehen, was wir gesehen, und sich doch etwas erlaubt, was Amy auch nur einen Moment nachteilig sein oder sie nur einen Moment kränken könnte. Wir müssen wissen, daß es eine schlechte Anmaßung ist, da sie diese Wirkung hat. Es müßte ein Gericht über uns herbeiführen. Bruder, ich protestiere dagegen im Namen Gottes!«

Die Art, wie er seine Faust emporhob und auf den Tisch fallen ließ, war die eines Grobschmieds. Nach einer kurzen Pause trat wieder seine gewöhnliche Mattigkeit ein. Er ging in seinem bekannten schlürfenden Schritte zu seinem Bruder hin, legte die Hand auf seine Schulter und sagte in milderem Ton: »William, mein Lieber, ich fühle mich verpflichtet, es zu sagen; vergib mir, denn ich fühle mich verpflichtet, es zu sagen!« und dann verließ er in seiner gebeugten Haltung die Palasthalle, gerade wie wenn er das Marschallgefängnis verließe.

Die ganze Zeit über hatte Fanny geschluchzt und geweint und tat dies noch. Edward hatte nur einen Augenblick voll Erstaunen den Mund geöffnet und dann die Lippen geschlossen: er begnügte sich, die Sprechenden anzustarren. Mr. Dorrit fühlte sich ebenfalls sehr mißgestimmt und ganz außerstande, sich irgendwie zu verteidigen. Fanny war die erste, die das Wort ergriff.

»Ich wurde nie, nie so behandelt!« schluchzte sie. »Es ist mir noch nichts so Unfreundliches und Ungerechtfertigtes, so abscheulich Heftiges und Grausames vorgekommen! Die liebe, gute, ruhige, kleine Amy selbst, was würde sie fühlen, wenn sie ahnen könnte, daß sie das unschuldige Mittel gewesen, mich so grausam zu behandeln! Aber ich werde es ihr nie sagen. Nein, das gute Ding, ich werde es ihr nicht sagen!«

Das veranlaßte Mr. Dorrit, sein Schweigen zu brechen.

»Meine Liebe«, sagte er, »ich – ha – billige deinen Entschluß. Es wird – ha, hm – weit besser sein, nicht davon mit Amy zu sprechen. Es möchte – ha, hm – sie betrüben. Ha. Gewiß, es würde sie sehr betrüben. Es ist klug und billig, das zu vermeiden. Wir wollen es bei uns behalten.«

»Aber die Grausamkeit des Onkels!« rief Miß Fanny. »Oh, ich kann die mutwillige Grausamkeit des Onkels nie vergeben!«

»Meine Liebe«, sagte Mr. Dorrit, indem er seinen gewöhnlichen Ton wiederfand, obwohl er ungewöhnlich blaß blieb, »ich muß dich bitten, nicht in diesem Ton zu sprechen. Du mußt dich besinnen, daß dein Onkel nicht mehr ist – ha –, was er früher war. Du mußt dich erinnern, daß der Zustand deines Onkels – hm – große Nachsicht von unsrer Seite verlangt, große Nachsicht.«

»Ich bin überzeugt«, rief Fanny traurig, es ist nicht mehr als billig, daß man annimmt, es muß etwas nicht richtig bei ihm sein, sonst könnte er nicht gerade mich von allen Leuten so angegriffen haben.«

»Fanny«, versetzte Mr. Dorrit in äußerst brüderlichem Ton, »du weißt, was dein Onkel bei allen seinen unzähligen guten Eigenschaften für ein – hm – Wrack ist: und ich bitte dich, bei der Liebe, die ich für ihn hege, und bei der Treue, die ich ihm, wie du weißt, stets gezeigt habe, deine Schlüsse für dich zu ziehen und meine brüderlichen Gefühle zu schonen.«

Damit endigte die Szene; Edward Dorrit hatte während der ganzen Zeit nicht ein Wort gesprochen, sondern nur immer verblüfft und unschlüssig die Sprechenden angestarrt. Miß Fanny verursachte ihrer Schwester an jenem Tage mannigfache liebevolle Unbehaglichkeit, indem sie den größten Teil dieses Tages in heftige Umarmungen ausbrach, ihrer Schwester Broschen schenkte und wünschte, sie selbst wäre tot.

Sechstes Kapitel.


Sechstes Kapitel.

Etwas richtig irgendwo.

In dem schwankenden Zustande von Mr. Henry Gowan sich zu befinden, eine der beiden Mächte mit Abneigung verlassen zu haben, dabei aber die nötigen Eigenschaften zu entbehren, um Förderung durch eine andere zu finden, und verstimmt und beide verwünschend auf neutralem Boden sich umherzutreibcn, das heißt sich in einer für das Gemüt höchst verderblichen Lage befinden, die die Zeit schwerlich bessern wird. Die schlimmste Art von Summe, die in der Alltagswelt zusammengebracht wird, ist die von kranken Arithmetikern berechnete, die bei den Verdiensten und Erfolgen anderer die Subtraktion anwenden und bei ihren eigenen niemals die Addition.

Und dann die Gewohnheit, eine Art von Ersatz in dem mißvergnügten Schwatzen von Enttäuschung zu finden, ist ein gewöhnliches Zeichen der Verdorbenheit. Daraus entsteht dann bald eine gewisse Art von träger Nachlässigkeit und Gleichgültigkeit gegen den Bestand der Dinge. Würdige und nützliche Dinge durch unwürdige und unnützliche herunterzusetzen, ist eines von den verkehrten Vergnügen dieser Leute; und man kann mit der Wahrheit auf keinerlei Weise spielen, ohne daß sie dabei verlöre.

In seinen Aussprüchen über Werke der Malerei, die alles Verdienstes entbehrten, war Gowan der liberalste Mensch, den man sich denken kann. Er erklärte gewöhnlich, solch ein Mann habe mehr Kraft in seinem kleinen Finger (vorausgesetzt er hatte keine) als ein anderer (vorausgesetzt, er hatte viel) in seinem ganzen Geist und Körper. Wenn jedoch der Einwurf gemacht wurde, das Empfohlene sei Plunder, so antwortete er in bezug auf seine Kunst: »Mein Lieber, was produzieren wir alle anderes als Plunder? Ich produziere nichts anderes und mache Ihnen das offenherzige Geständnis davon zum Geschenk.«

Mit seiner Armut zu prahlen, war eine weitere Eigenheit seines niedergedrückten Zustandes. Freilich lag darin immer die versteckte Absicht anzudeuten, daß er reich sein sollte; gerade wie er gewöhnlich öffentlich die Barnacles pries und verschrie, damit man nicht vergesse, daß er zu ihrer Familie gehöre. Kurz, diese beiden Dinge waren sehr oft auf seinen Lippen, und er behandelte sie so geschickt, daß er sich hätte einen ganzen Monat lang loben können und doch keinen halb so bedeutenden Mann aus sich gemacht hätte, wie es ihm durch die leichtfertige Verkleinerung seiner Ansprüche auf die Anerkennung der Menschen gelang.

Gerade aus dieser Art, so von oben herab über sich zu sprechen, merkte man überall, wohin er mit seiner Frau kam, sehr bald, daß er gegen die Wünsche seiner übermütigen Verwandten geheiratet und viel zu tun hatte, daß sie sie duldeten. Er wies nie darauf hin, sondern schien im Gegenteil diese Idee zu verspotten. Aber es geschah, daß trotz all der Mühe, die er sich gab, sich herunterzusetzen, er doch immer die höhere Stellung bewahrte. Seit den Tagen ihrer Flitterwochen empfand es Winnie Gowan, daß man sie gewöhnlich als die Frau eines Mannes betrachtete, der durch die Heirat mit ihr herabgestiegen war, dessen ritterliche Liebe zu ihr jedoch diese Ungleichheit verwischt hatte.

Nach Venedig waren sie von Monsieur Blandois aus Paris begleitet worden, und in Venedig war Monsieur Blandois von Paris sehr viel in Gowans Gesellschaft. Als sie zum erstenmal mit diesem galanten Mann in Genf zusammengetroffen waren, war Gowan unentschieden, ob er abstoßend oder freundlich gegen ihn sein sollte, und blieb vierundzwanzig Stunden so unentschieden, was zu tun, daß er bereits ein Fünffrankenstück mit den Worten: »Rückseite, Fußtritt; Kopfseite, Entgegenkommen«, in die Höhe zu schleudern und sich der Stimme des Orakels zu unterwerfen im Begriff stand. Es geschah jedoch, daß seine Frau einen Widerwillen gegen den einschmeichelnden Blandois bekundete und daß die Wage der Stimmung im Hotel gegen ihn war. Daraufhin beschloß Gowan, freundlich gegen ihn zu sein.

Warum diese Verkehrtheit, wenn nicht in einer edlen Absicht? – dies war jedoch nicht der Fall. Warum aber befaßte sich Gowan, der doch weit über Blandois von Paris stand und diesen einnehmenden Mann in Stücke zu schlagen und den Stoff herauszubringen imstande gewesen, aus dem er gemacht war, warum befaßte er sich mit einem solchen Mann? Fürs erste widersetzte er sich dem ersten eignen Wunsche, den er bei seiner Frau fand, weil ihr Vater seine Schulden bezahlt und er wünschen mußte, die erste Gelegenheit zu ergreifen, seine Unabhängigkeit zur Geltung zu bringen. Zweitens widersetzte er sich dem vorwaltenden Gefühl, weil er bei mancherlei Fähigkeiten, etwas anderes zu sein, ein boshafter Mensch war. Er fand ein Vergnügen daran, zu erklären, daß ein Höfling, mit den feinen Manieren von Blandois, in jedem gebildeten Lande es zu der größten Stellung bringen müßte. Er fand ein Vergnügen daran, Blandois als den Typus der Eleganz auszugeben und ihn als Satire auf andere, die sich auf ihre persönlichen Gaben viel zugute taten, hinzustellen. Er versicherte feierlich und ernstlich, Blandois‘ Verbeugung sei vollendet, sein Benehmen unwiderstehlich und die malerische leichte Haltung desselben (wenn sie nicht eine angeborene Gabe und daher unverkäuflich wäre) nicht für hunderttausend Franken zu teuer erworben. Das Übertriebene in dem Benehmen des Mannes, das wir als ihm und jedem derartigen Menschen so eigentümlich gefunden hatten, wie die Sonne diesem System, welcher Art auch seine ursprüngliche Erziehung gewesen sein mag, war Gowan als eine Karikatur erwünscht, da sie ihm eine humoristische Quelle bot, die er stets zur Hand hatte, um eine Menge von Leuten lächerlich zu machen, die mehr oder weniger trieben, was Blandois übertrieb. Deshalb war er ihm willkommen; und gleichgültig diese Neigung durch die Gewohnheit mehrend und wohl auch an seiner Unterhaltung sich amüsierend, kam er nach und nach dazu, ihn beständig um sich haben zu müssen. Und dies, obgleich er vermutete, daß er von den Kniffen lebe, die er an Spieltischen und dergleichen entwickelte: obgleich er ferner vermutete, daß er ein Feigling sei, während er selbst unternehmend und mutig war; obgleich er endlich ganz genau wußte, daß Minnie ihn nicht leiden mochte, und obgleich er ihm im Herzen so gleichgültig war, daß, wenn er ihr die geringste fühlbare persönliche Ursache gegeben habe, ihn mit Verachtung zu strafen, er sich kein Gewissen daraus gemacht, ihn aus dem höchsten Fenster von Venedig in das tiefste Wasser der Stadt hinabzustürzen.

Klein-Dorrit hätte so gerne Mrs. Gowan ihren Besuch allein abgestattet. Da Fanny jedoch, die sich von ihres Onkels Protest noch nicht ganz erholt hatte, obgleich es vierundzwanzig Stunden her war, ihre Begleitung lebhaft aufdrang, stiegen die beiden Schwestern miteinander in eine der Gondeln unter ihres Vaters Fenster und begaben sich, in Begleitung des Kuriers, in pomphaftem Aufzug nach Mrs. Gowans Wohnung. Der Pomp war wirklich zu groß für jene Wohnung, die, wie Fanny klagte, »schrecklich abgelegen war« und sie durch ein Labyrinth von engen Wasserstraßen führte, die dieselbe Dame zu »elenden Gossen« herabwürdigte.

Das Haus, das auf einer kleinen verlassenen Insel lag, sah aus, als ob es irgendwo weggebrochen und an seinen gegenwärtigen Ankerplatz durch den Zufall geführt worden wäre, und zwar in Begleitung eines Weinstockes, der beinahe ebensosehr des Aufrichtens bedurfte, wie die armen Teufel, die unter seinen Blättern lagen. Die Staffage des Bildes bestand aus einer von Schutthaufen und Baugerüsten umgebenen Kirche, die so lange der vermutlichen Wiederherstellung harrte, daß das Baumaterial zur Wiederherstellung hundert Jahre alt schien und selbst in Verfall geraten war: einer Menge Wäsche, die zum Trocknen aufgehängt worden; einer Anzahl von Häusern, die miteinander uneinig und wunderlich aus der rechtwinkligen Stellung gerückt waren, wie wurmstichige, voradamitische Käse in phantastischen Gestalten und voll von Milben; und einem fieberhaften Wirrwarr von Fenstern mit ihren Gitterblenden, die alle seitwärts hingen und aus denen meist etwas Schmutziges und Schmieriges herausflatterte.

Im ersten Stockwerk des Hauses war eine Bank – für einen englischen Geschäftsmann, der allen Menschen Gesetze nach den Gewohnheiten einer britischen Stadt vorschreibt, eine befremdliche Erscheinung: zwei magere Kommis standen wie zwei getrocknete Dragoner in grünen Samtmützen mit goldenen Troddeln und großen Bärten hinter einem kleinen Schreibpult in einem kleinen Zimmer, das keinen andern sichtbaren Gegenstand enthielt als eine leere eiserne Geldkasse, deren Deckel offen stand, einen Wasserkrug und Papiertapeten mit Rosengirlanden. Diese Kommis durften jedoch, bei einer rechtmäßigen Forderung, nur die Hände ausstrecken, um unerschöpfliche Massen von Fünffrankenstücken zutage zu fördern. Unter der Bank war eine Reihe von drei bis vier Zimmern mit vergitterten Fenstern, die das Aussehen eines Gefängnisses für verbrecherische Ratten hatte. Über der Bank befand sich die Wohnung von Mr. Gowan.

Obgleich die Wände geschwärzt waren, als wenn Missionslandkarten daraus hervorkämen, um geographische Kenntnisse zu verbreiten; obgleich die alten Möbel zum Teil verschossen und muffig waren und der vorherrschende venezianische Geruch von eingedrungenem Wasser und Ebbe auf einem Ufer voll Unkraut sehr stark war, so sah der Ort doch besser von innen aus, als er versprach. Die Tür öffnete ein lächelnder Mann, der wie ein gebesserter Meuchelmörder aussah – ein für kurze Zeit angenommener Diener –, der sie in das Zimmer führte, wo Mrs. Gowan saß, indem er meldete, zwei schöne Engländerinnen wollten Mistreß besuchen.

Mrs. Gowan, die mit Nähen beschäftigt war, legte ihre Arbeit in einen bedeckten Korb und stand etwas rasch auf. Miß Fanny war ausnehmend höflich gegen sie und sagte die gewöhnlichen Nichtigkeiten mit der Fertigkeit einer Vielgeübten.

»Papa bedauerte außerordentlich«, fuhr Fanny fort, »heute in Anspruch genommen zu sein (er ist hier so viel in Anspruch genommen, da unsre Bekanntschaft so schrecklich groß ist!), und hat mir besonders aufgetragen, seine Karte für Mr. Gowan mitzunehmen. Um mich sicher eines Auftrags zu entledigen, den er mir wenigstens ein dutzendmal anempfohlen, erlauben Sie mir mein Gewissen zu entlasten, indem ich die Karte sogleich auf den Tisch niederlege.«

Das tat sie denn auch mit der Gewandtheit einer Vielgeübten.

»Wir waren außerordentlich entzückt«, sagte Fanny, »zu erfahren, daß Sie die Merdles kennen. Wir hoffen, dadurch wieder eine Möglichkeit gefunden zu haben, mit denselben zusammenzukommen.«

»Sie sind«, sagte Mrs. Gowan, »mit Mr. Gowans Familie befreundet. Ich hatte bis jetzt noch nicht das Vergnügen, die persönliche Bekanntschaft von Mrs. Merdle zu machen, aber ich vermute, daß ich ihr in Rom werde vorgestellt werden.«

»So?« versetzte Fanny, mit einem Schein von liebenswürdiger Beiseitesetzung ihrer Überlegenheit. »Ich hoffe, Sie werden Gefallen an ihr finden.«

»Sie kennen sie wohl sehr gut?«

»Nun, Sie wissen«, sagte Fanny mit einer kecken Bewegung ihrer hübschen Schultern, »in London kennt man jeden Menschen. Wir trafen auf der Reise hierher mit ihr unterwegs zusammen, und, offen gesagt, Papa war anfangs etwas böse mit ihr, weil sie eines von den Zimmern in Beschlag genommen, die unsere Leute für uns bestellt hatten. Das ging jedoch rasch vorüber, und wir waren bald alle wieder gute Freunde.«

Obwohl der Besuch Klein-Dorrit bislang noch keine Gelegenheit gegeben, mit Mrs. Gowan zu sprechen, herrschte doch ein schweigendes Einvernehmen zwischen beiden, bei dem sie ihren Zweck ebensogut erreichten. Sie betrachtete Mrs. Gowan mit lebhaftem und unverändertem Interesse. Der Klang ihrer Stimme drang ihr bis in die Seele. Nichts in ihrer ganzen Umgebung, oder was auch nur in geringster Beziehung zu ihr stand, entging Klein-Dorrit. Rascher denn irgendwo sonst – einen Ort ausgenommen – bemerkte sie hier die unbedeutendste Sache.

»Sie waren doch ganz wohl«, sagte sie jetzt, »seit jener Nacht?«

»Ganz wohl, meine Liebe. Und Sie?«

»Oh, ich bin immer wohlauf«, sagte Klein-Dorrit schüchtern. »Ich – ja, ich danke.«

Es war kein anderer Grund für ihr plötzliches Stocken und Abbrechen vorhanden, als daß Mrs. Gowan ihre Hand ergriffen hatte, während sie sprach, und ihre Blicke sich begegneten. Ein tiefbesorgter Ausdruck in den großen sanften Augen von Mrs. Gowan hatten Klein-Dorrit einen Moment stutzen machen.

»Sie wissen nicht, daß Sie ein Liebling meines Mannes sind, und daß ich beinahe Ursache hätte, eifersüchtig zu sein?« sagte Mrs. Gowan.

Klein-Dorrit errötete und schüttelte den Kopf.

»Er wird Ihnen sagen, falls er Ihnen sagt, was er mir sagt, daß Sie ruhiger und hilfsbereiter seien als irgendein weibliches Wesen, das er je gesehen.«

»Er spricht viel zu gut von mir«, sagte Klein-Dorrit.

»Das bezweifle ich; aber ich bezweifle nicht, daß es meine Pflicht ist, ihn von Ihrer Anwesenheit in Kenntnis zu setzen. Er würde es mir nie vergeben, wenn ich Sie – und Miß Dorrit gehen ließe, ohne es ihm gesagt zu haben. Darf ich? Sie werden die Unordnung und den Mangel an Komfort in dem Atelier eines Malers entschuldigen?«

Diese Fragen wurden an Miß Fanny gerichtet, die freundlich zur Antwort gab, daß es sie überaus interessieren und entzücken werde. Mrs, Gowan ging nach der Tür, sah hinein und kam zurück. »Erzeigen Sie Henry die Freundlichkeit einzutreten«, sagte sie. »Ich wußte, daß es ihn freuen würde!«

Das erste, was Klein-Dorrit, die vorausging, ins Auge fiel, war Blandois von Paris in einem großen Mantel und in einem etwas herabhängenden Hute. Er stand auf einer Erhöhung in einer Ecke, wie er auf dem großen St. Bernhard gestanden, als die Warnungspfosten alle nach ihm hinaufzeigten. Sie fuhr vor dieser Gestalt zurück, als er sie freundlich angrinste.

»Fürchten Sie sich nicht«, sagte Gowan, von seiner Staffelei hinter der Tür auf sie zukommend. »Es ist nur Blandois. Er dient mir heute als Modell. Ich mache eine Studie von ihm. Es erspart mir Geld, ihn so zu verwenden. Wir armen Maler haben nichts zu vergeuden.«

Blandois von Paris nahm seinen ins Gesicht gedrückten Hut ab und grüßte die Damen, ohne aus seinem Winkel hervorzukommen.

»Bitte tausendmal um Vergebung«, sagte er. »Aber der Professor hier ist so unerbittlich gegen mich, daß ich mich nicht zu bewegen wage.«

»Nun, so bewegen Sie sich nicht«, sagte Gowan kalt, als die Schwestern an die Staffelei traten. »Lassen Sie die Damen wenigsten« das Original der Sudelei sehen, damit sie wissen, was sie vorstellt. Da steht er, sehen Sie. Ein Bravo, der auf seine Beute harrt, ein vornehmer Nobili, der sein Land retten will, ein Engelsbote, der irgend jemandem etwas Gutes zu erweisen wünscht – wem von allen er am meisten ähnlich ist!«

»Sagen Sie, Professore mio, ein armer Gentleman, der der Anmut und Schönheit seine Huldigung darbringen will«, bemerkte Blandois.

»Oder sagen Sie Cattivo Sogetto mio«, versetzte Gowan, indem er das gemalte Gesicht mit einem Pinsel an dem Punkte berührte, wo das wirkliche Gesicht sich bewegt hatte, »ein Mörder nach der Tat. Zeigen Sie Ihre weiße Hand, Blandois. Stecken Sie sie aus dem Mantel heraus. Halten Sie nun still.«

Blandois‘ Hand war unruhig; er lachte, und das mußte sie natürlich bewegen.

»Er war vorher in einem Handgemenge mit einem andern Mörder oder mit einem Opfer, wie Sie bemerken«, sagte Gowan, indem er die Hand mit einigen raschen, ungeduldigen und oberflächlichen Strichen andeutete, »und das sind die Zeichen davon. Heraus mit der Hand aus dem Mantel! Corpo di San Marco, woran denken Sie!«

Blandois von Paris schüttelte sich wieder vor Lachen, so daß auch seine Hand sich wieder mehr bewegte. Dann erhob er sie, um seinen Schnurrbart zu drehen, der ein feuchtes Aussehen hatte, und nun stand er in der gewünschten Stellung; seine Haltung hatte wieder etwas Renommistisches.

Sein Gesicht war so nach der Stelle gekehrt, wo Klein-Dorrit bei der Staffelei stand, daß er sie scharf ins Auge fassen konnte. Nachdem sie einmal von seinen eigentümlichen Augen gefesselt war, konnte sie die ihren nicht mehr losreißen, und sie sahen sich die ganze Zeit unbeweglich an. Sie zitterte jetzt; Gowan, der dies fühlte und glaubte, sie fürchte sich vor dem großen Hund neben ihr, dessen Kopf sie mit ihrer Hand gestreichelt, und der gerade ein dumpfes Knurren hatte hören lassen, blickte sie an und sagte: »Er tut Ihnen nichts, Miß Dorrit.«

»Ich fürchte mich nicht vor ihm«, versetzte sie in demselben Atem; »aber sehen Sie ihn an!« In einem Nu hatte Gowan seinen Pinsel auf den Boden geworfen und den Hund mit beiden Händen am Halsband ergriffen.

»Blandois! Wie können Sie ein solcher Narr sein und ihn reizen! Beim Himmel und dem andern Orte, er reißt Sie in Stücke! Leg dich! Lion! Willst du mich hören, Rebelle!«

Der große Hund, der es nicht achtete, daß er von seinem Halsband halb erwürgt wurde, stemmte sich mit der ganzen Kraft seines Körpers gegen seinen Herrn, um durch das Zimmer zu springen. Er hatte sich gerade zum Sprung geduckt, als ihn sein Herr ergriffen.

»Lion! Lion!« Er stand auf seinen Hinterbeinen, und Herr und Hund rangen miteinander. »Zurück! Leg dich, Lion! Gehen Sie ihm aus dem Gesicht, Blandois! Was zum Teufel haben Sie in dem Hund beschworen?«

»Ich habe ihm nichts getan!«

»Gehen Sie ihm aus dem Gesicht, ich kann das wilde Tier sonst nicht halten! Verlassen Sie das Zimmer. Bei meiner Seele, er bringt Sie um!«

Der Hund machte mit wildem Gebell noch eine Anstrengung, als Blandois verschwand: und als der Hund sich beruhigte, warf ihn sein Herr, kaum weniger zornig als der Hund, mit einem Schlag auf den Kopf zu Boden und gab ihm, indem er über ihm stand, viele harte Stöße mit seinem Stiefelabsatz, so daß sein Maul augenblicklich blutete.

»Nun geh in die Ecke und lege dich nieder«, sagte Gowan, »oder ich packe dich und erschieße dich!«

Lion tat, wie man ihm befohlen, und legte sich, indem er sein Maul und seine Brust leckte. Lions Herr hielt einen Augenblick inne, um zu Atem zu kommen, und wandte sich, nachdem er seine gewöhnliche Kälte wieder erlangt, an seine erschrockene Frau und die Damenbesuche. Das ganze Ereignis hatte wohl nicht zwei Minuten gedauert.

»Nun, nun, Minnie! Du weißt, er ist immer gutmütig und leicht zu behandeln. Blandois muß ihn gereizt haben – ihm Gesichter geschnitten haben. Der Hund hat seine Sympathien und Antipathien, und Blandois ist kein großer Liebling von ihm: aber du wirst ihm sicherlich das Zeugnis geben, Minnie, daß er noch niemals vorher so war.«

Minnies Aufregung war zu groß, um etwas sagen zu können, das einer Antwort ähnlich gesehen: Klein-Dorrit war bereits bemüht, sie zu beruhigen: Fanny, die zwei- oder dreimal laut aufgeschrien hatte, hielt Gowans Arm, um sich zu schützen: Lion, der sich tief schämte, daß er so große Unruhe verursacht, kam geduckt bis zu den Füßen seiner Herrin herangeschlichen.

»Du wütendes Tier«, sagte Gowan, indem er ihn wieder mit den Füßen stieß. »Du sollst deine Strafe dafür haben.« Und er stieß ihn wieder und immer wieder.

»Oh, bitte, strafen Sie ihn nicht«, rief Klein-Dorrit. »Tun Sie ihm nicht weh. Sehen Sie, wie zahm er ist.« Auf ihre Bitte schonte ihn Gowan: und er verdiente ihre Einsprache: denn er war wirklich so demütig, so reuevoll und unglücklich, wie ein Hund nur sein konnte.

Es war nicht leicht, nach dieser gewaltsamen Unterbrechung wieder ins rechte Geleise zu kommen und den Besuch in die frühere Stimmung zu versetzen, selbst wenn Fanny, im besten Fall, die geringste Sache gewesen, die im Wege gelegen. Während des Verlaufs der Unterhaltung, ehe die Schwestern gingen, glaubte Klein-Dorrit die Bemerkung zu machen, daß Mr. Gowan seine Frau, bei all seiner Liebe, doch zu sehr wie ein hübsches Kind behandle. Er schien die Tiefe des Gefühls so wenig zu ahnen, die sie unter dieser Oberfläche verborgen wußte, daß sie zweifelte, ob in ihm solche Tiefen verborgen seien. Sie hätte gerne gewußt, ob sein Mangel an Ernst das natürliche Resultat seines Mangels an solchen Eigenschaften sei, und ob es mit Menschen wie mit Schiffen ergehe, daß ihre Anker in zu seichten und felsigen Wassern keinen Halt haben und sie deshalb überall herumtrieben.

Er begleitete sie die Treppe hinab, indem er sich scherzend wegen der armseligen Quartiere entschuldigte, auf die so arme Leute wie er angewiesen seien, und bemerkte, daß, wenn die hohen und mächtigen Barnacles, seine Verwandten, die sich derselben schämen würden, ihn besser ausstatteten, er besser wohnen würde, um sie zu verbinden. Um Ufer des Wassers wurden sie von Blandois begrüßt, der ziemlich weiß nach seinem letzten Abenteuer aussah, der sich aber trotzdem wenig daraus machte und bei der Erwähnung Lions lachte.

Die Schwestern fuhren so pomphaft, wie sie gekommen, wieder ab, während die beiden Männer unter dem Stückchen Weingelände am Dammweg stehenblieben. Gowan streute, in Gedanken versunken, das Weinlaub in das Wasser, und Blandois zündete sich eine Zigarre an. Sie waren erst wenige Minuten gefahren, als Klein-Dorrit bemerkte, daß Fanny sich mehr in die Brust warf, als für die Gelegenheit erforderlich schien, und indem sie durch das Fenster und durch die offne Tür sich nach der Ursache umsah, gewahrte sie eine andre Gondel, die offenbar der ihrigen folgte.

Da diese Gondel auf verschiedene künstliche Weise ihre Fahrt mitmachte, indem sie bald an ihnen vorüberschoß und dann wartete, um sie vorbei zu lassen, bald, wenn der Weg breit genug war, dicht neben ihnen fuhr, bald endlich dicht hinter ihnen drein folgte und da Fanny nach und nach offen mit jemandem in der andern Gondel kokettierte, während sie gleichzeitig volle Harmlosigkeit heuchelte, fragte Klein-Dorrit endlich, wer er sei.

Worauf Fanny die kurze Antwort gab: »Jener Laffe!«

»Wer?« sagte Klein-Dorrit.

»Mein liebes Kind«, versetzte Fanny (in einem Ton, dem man anmerkte, daß sie vor ihres Onkels Protest statt dessen ›du kleine Törin‹ gesagt haben würde), »wie langsam du doch begreifst! Der junge Sparkler!« Sie ließ das Fenster neben sich herab, lehnte sich zurück und legte den Ellbogen nachlässig hinaus, indem sie sich mit einem reichen spanischen Fächer von Schwarz und Gold Luft zufächelte. Als die begleitende Gondel wieder vorübergeschwebt war, wobei man einen flüchtigen Schein von einem Auge im Fenster beobachten konnte, lachte Fanny kokett und sagte: »Hast du je einen solchen Narren gesehen, meine Liebe?«

»Glaubst du, er beabsichtige, dir auf dem ganzen Wege zu folgen?« fragte Klein-Dorrit.

»Mein kostbares Kind«, versetzte Fanny, »ich kann unmöglich sagen, was ein Narr in einem verzweifelten Zustand tut, aber ich halte es für wahrscheinlich. Es ist keine so große Entfernung, Ganz Venedig, glaube ich, würde es kaum sein, wenn er schon nach einem flüchtigen Blick von mir sich sterblich sehnt.«

»Und tut er das?« fragte Klein-Dorrit in größter Einfalt.

»Nun, meine Liebe, das ist wirklich eine schwer für mich zu beantwortende Frage«, sagte ihre Schwester. »Ich glaube allerdings. Du würdest besser Edward fragen. Er sagte, glaube ich, zu Edward, er würde das tun. Ich höre, er macht förmliches Aufsehen auf dem Kasino und dergleichen Orten, durch die Art, wie er von mir spricht. Aber du fragst besser Edward, wenn du es wissen willst.«

»Ich wundre mich, daß er uns nicht besucht«, sagte Klein-Dorrit nach kurzem Sinnen.

»Meine liebe Amy, dein Staunen wird bald zu Ende sein, wenn ich recht unterrichtet bin. Ich wäre durchaus nicht überrascht, wenn er uns heute besuchte. Ich vermute, er ist uns bloß deshalb gefolgt, um sich Mut zu machen.«

»Wirst du ihn sehen?«

»Wahrhaftig, mein Liebling«, sagte Fanny, »je nach Umständen. Hier ist er wieder. Sieh ihn nur an. Oh, du Einfaltspinsel!«

Mr. Sparkler machte unleugbar einen jämmerlichen Eindruck; sein Auge in dem Fenster sah wie eine Blase im Glase aus, und seine Barke plötzlich halten zu lassen, gab’s auch auf der Welt keinen Grund als den wirklichen und wahren.

»Wenn du mich fragst, ob ich ihn sehen werde, meine Liebe«, sagte Fanny, beinahe ebenso gelassen in der anmutigen Nachlässigkeit ihrer Haltung wie Mrs. Merdle selbst, »was meinst du damit?«

»Ich meine«, sagte Klein-Dorrit, »ich denke, ich meine, was du meinst, liebe Fanny.«

Fanny lachte wieder auf eine ebenso herablassende als schalkhafte und freundliche Art und sagte, indem sie ihren Arm liebevoll scherzend um ihre Schwester schlang:

»Nun, sage mir, kleiner Liebling. Als wir diese Frau in Martigny sahen, wie glaubst du wohl, daß sie es sich aus dem Sinn geschafft. Sahst du, wozu sie sich augenblicks entschloß?«

»Nein, Fanny.« »Dann will ich dir’s sagen. Sie nahm sich vor: ich will bei so veränderten Umständen nie auf jene Begegnung wieder zurückkommen und mir den Gedanken aus dem Sinn schlagen, daß das dieselben Mädchen sind. Das ist ihre Art, wie sie sich aus einer Schwierigkeit hilft. Was sagte ich dir, als wir damals aus Harley Street weggingen? Sie ist so unaufrichtig und falsch, wie nur irgendein Weib auf der Welt ist. Aber bezüglich der ersteren Fähigkeit, meine Liebe, soll sie Leute finden, die es mit ihr aufnehmen können.«

Eine bezeichnende Wendung des spanischen Fächers gegen Fannys Busen zeigte höchst ausdrucksvoll, wo solch ein Wesen gefunden werden sollte.

»Nicht genug damit«, fuhr Fanny fort, »sondern sie gibt dem jungen Sparkler dieselbe Instruktion und läßt ihn mir nicht früher folgen, bis sie es ihm in seinen lächerlichsten aller lächerlichen Schädel (denn man kann nicht sagen Kopf) gebracht hat, daß er sich den Anschein geben müsse, als ob er sich zum ersten Male in jenem Wirtshaushof in mich verliebt.«

»Warum?« fragte Klein-Dorrit.

»Warum? Du mein Gott, mein liebes Kind!« (wieder in dem Ton von ›du beschränktes kleines Geschöpf‹) »wie kannst du fragen? Siehst du nicht, daß ich eine ziemlich wünschenswerte Partie für einen solchen Schädel bin? Und siehst du nicht, daß sie die Täuschung uns zuschiebt und sich den Anschein gibt, während sie es von ihren Schultern wälzt (sehr schöne Schultern sind es, das muß ich sagen)«, bemerkte Miß Fanny selbstgefällig auf sich herabblickend, »als ob sie unsren Gefühlen Rechnung trüge?«

»Aber wir können ja zu der einfachen Wahrheit zurückgehen.«

»Ja, doch wenn’s gefällig, so wollen wir nicht«, warf Fanny ein. »Nein; ich werde mir das nicht einfallen lassen, Amy. Ich gebe mir nicht den Schein, sondern sie, und sie soll genug davon haben.«

In der triumphierenden Aufregung ihrer Gefühle umschlang Miß Fanny, während sie ihren spanischen Fächer mit der einen Hand bewegte, den Leib ihrer Schwester mit der andern, als wenn sie Mrs. Merdle erdrücken wollte.

»Nein«, wiederholte Fanny. »Sie soll mich in ihren Fußstapfen finden. Sie schlug diesen Weg ein, und ich werde ihr folgen. Und wenn mir das Glück beisteht, werde ich in der Bekanntschaft dieser Frau solange Fortschritte zu machen suchen, bis ich ihrem Mädchen vor ihren Augen zehnmal so schöne Arbeiten meines Kleidermachers geschenkt habe, wie sie mir früher von dem ihrigen zukommen ließ.«

Klein-Dorrit schwieg: sie hatte das Gefühl, daß man sie doch in keiner Frage, die sich auf die Familienwürde bezog, hören würde, und wollte auch die kaum erst und unerwartet wiedergewonnene Gunst ihrer Schwester nicht schon einbüßen. Sie konnte es nicht billigen, schwieg jedoch. Fanny wußte wohl, woran sie dachte; so wohl, daß sie sie alsbald fragte. Ihre Antwort war: »Beabsichtigst du, Mr. Sparkler zu ermutigen, Fanny?«

»Ich ermutigen?« sagte ihre Schwester verächtlich lächelnd. »Das hängt davon ab, wie du das Wort ermutigen auffassest. Ich will einen Sklaven aus ihm machen.«

Klein-Dorrit sah sie ernst und ungewiß an, aber Fanny war nicht so leicht einzuschüchtern. Sie legte ihren Fächer von Schwarz und Gold zusammen und tätschelte damit die Nase ihrer Schwester. Sie hatte in diesem Augenblick ganz das Aussehen einer stolzen Schönheit und eines großen Geistes, der mit einer Unbeholfenen spielt und sie spielend unterrichtet.

»Ich will machen, daß er hebt und trägt, wie ich will, meine Liebe, und daß er sich ganz und gar mir unterwirft. Und wenn seine Mutter sich nicht auch mir unterwirft, so wird es nicht meine Schuld sein.«

»Glaubst du – liebe Fanny, sei nicht böse, wir sind jetzt so behaglich beieinander – glaubst du, das Ende von alledem absehen zu können?«

»Ich kann nicht sagen, daß ich schon so weit voraussehe, meine Liebe«, antwortete Fanny mit der größten Gleichgültigkeit: »das hat noch gute Zeit. Das ist mein Plan. Und dieser hat mich soviel Zeit gekostet, daß wir hier vor unsrem Hause sind. Und der junge Sparkler steht vor der Tür, um zu fragen, wer zu Hause sei. Natürlich durch den reinsten Zufall.«

Wirklich stand auch der junge Herr aufrecht in seiner Gondel, mit dem Visitenkartentäschchen in der Hand, und schien eine Frage an einen der Diener zu richten. Dieses Zusammentreffen von Umständen war die Ursache, daß er augenblicklich darauf sich vor den jungen Damen in einer Positur zeigte, die in alten Zeiten als keine günstige Vorbedeutung für sein Anliegen betrachtet worden wäre; denn die Gondeliere der jungen Damen, die durch die Jagd etwas ungehalten wurden, brachten ihr Boot so hübsch in Kollision mit der Barke des Mr. Sparkler, daß sie diesen Gentleman wie einen großen Kegel umwarfen, wodurch er in den Fall kam, dem Gegenstand seiner innigsten Wünsche die Sohlen seiner Schuhe darzubieten, während die edleren Teile seines Körperbaus am Boden seines Bootes in den Armen einer seiner Leute sich abmühten.

Als Miß Fanny jedoch mit großer Bestürzung fragte, ob der Gentleman sich weh getan, stand Mr. Sparkler schneller wieder auf, als man erwarten konnte, und stotterte errötend: »Durchaus nicht.« Miß Fanny erinnerte sich nicht, ihn jemals früher gesehen zu haben, und ging, mit einer flüchtigen Verbeugung an ihm vorüber: da nannte er seinen Namen. Auch dann kostete es ihr noch große Mühe, ihr Gedächtnis aufzufrischen, bis er endlich erklärte, er habe die Ehre gehabt, sie in Martigny zu sehen. Da erinnerte sie sich seiner und sprach die Hoffnung aus, daß seine Mutter wohl sei. »Ich danke«, stotterte Mr. Sparkler, »sie ist ungemein wohl – wenigstens nur unpäßlich.«

»In Venedig?«

»In Rom«, antwortete Mr. Sparkler. »Ich bin allein hier, allein. Ich kam, um Mr. Edward Dorrit zu besuchen. Und auch Mr. Dorrit, gewiß. Die ganze Familie, kann ich versichern.«

Anmutig sich zu den Dienern wendend, fragte Miß Fanny, ob ihr Papa und Bruder zu Hause seien? Da die Antwort lautete, sie seien beide zu Hause, so bot Mr. Sparkler respektvollst seinen Arm an. Miß Fanny nahm ihn und wurde von Mr. Sparkler die große Treppe hinaufgeleitet. Glaubte Mr. Sparkler noch (woran kein Grund zu zweifeln), daß sie keinen Unsinn an sich habe, so täuschte er sich ziemlich bedeutend.

Nachdem sie in ein modriges Empfangszimmer gekommen, wo die fadenscheinigen Vorhänge von einem traurigen Meergrün so gebleicht und verschossen waren, daß sie aussahen, als ob sie auf Verwandtschaft mit herrenlosem Seegrase Anspruch machten, das unter den Fenstern umhertrieb oder sich an die Mauern anklammerte und um seine eingesperrten Verwandten weinte, schickte Miß Fanny nach ihrem Vater und Bruder. Bis diese erschienen, stellte sie sich auf einem Sofa zu großem Vorteil zur Schau aus und vollendete Mr. Sparklers Eroberung durch einige Bemerkungen über Dante, – von dem dieser Gentleman nur so viel wußte, daß er ein exzentrischer Mann, in der Art eines Old fellow, war, der gewöhnliche Blätter um sein Haupt trug und aus einem unerklärlichen Grunde vor der Kathedrale von Florenz saß.

Mr. Dorrit bewillkommnete den Fremden mit der größten Zuvorkommenheit und den höflichsten Manieren. Er fragte besonders nach Mrs. Merdle und auch besonders nach Mr. Merdle. Mr. Sparkler sagte, oder zerrte es vielmehr in kleinen Stücken am Halstuche heraus, daß Mrs. Merdle, nachdem sie ihres Landaufenthaltes und auch ihres Hauses in Brigthon überdrüssig geworden und natürlich, wie man sich denken könne, nicht imstande gewesen wäre, in London zu bleiben, wenn keine Seele mehr da sei, und da sie auch dieses Jahr keine Lust gehabt, die Leute auf dem Lande zu besuchen, beschlossen habe, sich nach Rom zu begeben, wo eine Frau wie sie, von sprichwörtlich feinem Wesen und ohne Unsinn an sich, unbedingt eine große Akquisition für die Gesellschaft sein müsse. Mr. Merdle sei den Leuten in der City und an den übrigen Plätzen so unentbehrlich und sei ein so außerordentliches Phänomen als Kaufmann und Bankier, daß Mr. Sparkler zweifle, ob das Geldsystem des Landes ihn entbehren könne; obgleich Mr. Sparkler nicht verbarg, daß ihm seine Arbeit bisweilen über den Kopf wachse, und daß es besser für ihn wäre, wenn er sich zuweilen für einige Zeit auf einen ganz neuen Schauplatz und in ein andres Klima begäbe. Was ihn selbst betreffe, teilte Mr. Sparkler der Familie Dorrit mit, daß er in ganz besonderen Geschäften sich überall dahin begebe, wohin sie gingen.

Diese ungeheure Rede erforderte Zeit, aber sie wurde doch zustande gebracht. Nachdem sie zu Ende war, sprach Mr. Dorrit die Hoffnung aus, daß Mr. Sparkler bald mal mit ihnen zu Mittag speise. Mr. Sparkler nahm diesen Gedanken so freundlich auf, daß Mr. Dorrit ihn fragte, was er heute zum Beispiel zu tun beabsichtige? Da er heute nichts zu tun beabsichtigte (seine gewöhnliche Beschäftigung und eine solche, für die er besonders befähigt war), nahm man ihn alsbald in Beschlag und verpflichtete ihn, die Damen am Abend in die Oper zu begleiten.

Zur Zeit des Diners tauchte Mr. Sparkler aus dem Meer auf wie der Sohn der Venus, der seiner Mutter nachschwimmt, und gab sich ein glänzendes Ansehen, als er die große Treppe hinaufstieg. Wenn Fanny morgens reizend ausgesehen, so war sie es jetzt dreifach, denn sie hatte sich in die Farben gekleidet, die ihr am besten standen, und hatte dabei eine Nachlässigkeit über sich ergossen, die Mr. Sparklers Fesseln verdoppelte und sie noch fester nietete.

»Ich höre. Sie sind mit – ha – Mr. Gowan bekannt, Mr. Sparkler«, sagte der Wirt während des Essens. »Mit Mr. Henry Gowan?«

»Allerdings, mein Herr, sehr gut«, versetzte Mr. Sparkler. »Seine Mutter und meine Mutter sind gute alte Bekannte.«

»Wenn ich daran gedacht hätte, Amy«, sagte Mr. Dorrit mit so vornehmer Gönnermiene, als die von Lord Decimus selbst, »so hättest du ein Billett an sie schicken und sie zum Essen einladen können. Einige von unsern Leuten hätten sie – ha – holen und wieder nach Hause bringen können. Wir hätten eine Gondel zu diesem Zweck reservieren können. Bedaure, es vergessen zu haben. Bitte, erinnere mich morgen daran.«

Klein-Dorrit war etwas zweifelhaft, wie Henry Gowan ihre Gönnerschaft aufnehmen möchte; sie versprach jedoch, nicht zu vergessen, daran zu erinnern,

»Bitte, malt Mr. Henry Gowan – ha – Porträts?«

Mr. Sparkler vermutete, daß er alles malen werde, wozu er Auftrag bekäme.

»Er geht also nicht seinen besonderen Gang«, sagte Mr. Dorrit.

Mr. Sparkler, den die Liebe angespornt, den glänzenden Geist zu spielen, antwortete, zu einem besonderen Gang müsse man ein besonderes Paar Schuhe haben: wie zum Beispiel zum Schießen Schießstiefel, zum Kolbenspiel Kolbenstiefel. Er glaube dagegen, daß Henry Gowan keine besonderen Stiefel habe.«

»Keine Spezialität?« sagte Mr. Dorrit.

Da dies ein sehr langes Wort für Mr. Sparkler und sein Geist durch die letzte Anstrengung erschöpft war, antwortete er: »Nein, ich danke Ihnen. Ich nehme das selten.« »Gut!« sagte Mr. Dorrit. »Es wäre mir sehr angenehm, einem Manne von so großen Verbindungen einen – ha – Beweis meines Wunsches zu geben, seine Interessen zu fördern und die – hm – Keime seines Genies zu entfalten. Ich denke, ich sollte Mr. Gowan auffordern, mein Bild zu malen. Wenn der Erfolg gegenseitig – ha – ein zufriedenstellender wäre, würde ich ihn später auffordern, seine Hand an meiner Familie zu versuchen.«

Dieser ausgesucht kühne und originelle Gedanke brachte Mr. Sparkler auf den weitern, daß hier die Gelegenheit geboten wäre, zu sagen, es sei jemand in der Familie (auf das »jemand« mußte mit der größten Emphase der Nachdruck gelegt werden), dem kein Maler gerecht werden könne. Da es ihm jedoch an einer Form des Ausdrucks dafür fehlte, kehrte der Gedanke wieder in die Wolken zurück.

Dies war um so mehr zu bedauern, als Miß Fanny den Einfall mit dem Porträt lebhaft applaudierte und ihren Papa ihn bald zu verwirklichen drängte. Sie vermute, sagte sie, daß Mr. Gowan bessere und bedeutendere Gelegenheiten sich habe entgehen lassen, als er seine hübsche Frau geheiratet: und Liebe, in einer Hütte Bilder malend für das liebe Brot, sei ein so entzückender, interessanter Gedanke, daß sie Papa bäte, ihm den Auftrag zu geben, um zu beweisen, ob er ein ähnliches Bild malen könne oder nicht: obgleich sie und Amy wußten, daß er es konnte, da sie gerade heute eine sprechende Ähnlichkeit auf seiner Staffelei gesehen und Gelegenheit gehabt hätten, sie mit dem Original zu vergleichen. Diese Bemerkungen brachten Mr. Sparkler (wie es vielleicht in der Absicht lag) fast von Sinnen: denn während sie auf der einen Seite Miß Fannys Empfänglichkeit für zartere Empfindungen an den Tag legten, zeigte sie solch unschuldige Unbewußtheit seiner Bewunderung, daß seine Augen sich vor Eifersucht auf einen unbekannten Rivalen im Kopf hin und her drehten.

Nach Tische stieg man wieder auf das Meer und heraus aus demselben bei der Treppe des Opernhauses: voran ging einer ihrer Gondoliere, wie ein dienender Triton, mit einer großen leinenen Laterne: so traten sie in ihre Loge, und für Mr. Sparkler begann ein Abend voll Kampf. Da das Theater dunkel und die Loge hell war, so kamen mehrere Besuche während der Vorstellung: Fanny interessierte sich so lebhaft für diese Besuche und warf sich während des Gesprächs mit denselben in so reizende Attitüden, da sie kleine Vertraulichkeiten mit denselben hatte und kleine Streite über dir Identität dieser und jener Persönlichkeit in entfernten Logen führte, daß der unglückliche Sparkler alle Menschen haßte. Zweierlei tröstete ihn am Schlusse des Stücks. Sie gab ihm ihren Fächer, um ihn zu halten, während sie ihren Mantel umwarf, und es war sein glückliches Privilegium, ihr seinen Arm zu geben, während sie wieder die Treppe hinabgingen. Diese ermutigenden Brocken, dachte Mr. Sparkler, würden ihn aufrechterhalten: und es ist nicht unmöglich, daß Miß Dorrit ebenso dachte. Der Triton mit seinem Licht stand an der Logentür bereit, und andre Tritonen standen an andern Logen gleichfalls bereit. Der Dorritsche Triton hielt seine Laterne tief, um ihnen die Stufen zu zeigen, und Mr. Sparkler legte eine neue schwere Last von Fesseln an seine frühere, als er ihren glänzenden Fuß neben seinem die Treppen hinabtänzeln sah. Unter den Wartenden befand sich Blandois von Paris. Er sprach und ging neben Fanny her.

Klein-Dorrit ging voraus mit ihrem Bruder und Mrs. General (Mr. Dorrit war zu Hause geblieben): am Rande des Quais jedoch kamen sie alle zusammen. Sie erstaunte, Blandois wieder dicht neben sich zu sehen: er half Fanny in das Boot.

»Gowan hatte einen Verlust«, sagte er, »seit er so glücklich war, heute mit einem Besuch von schönen Damen beehrt zu werden.«

»Einen Verlust?« wiederholte Fanny, die von dem seiner holden Last beraubten Sparkler verlassen war und ihren Sitz einnahm.

»Einen Verlust«, sagte Blandois. »Seinen Hund, Lion.«

Klein-Dorrits Hand lag in der seinen, als er sprach.

»Er ist tot«, sagt« Blandois.

»Tot?« wiederholte Klein-Dorrit. »Das edle Tier?«

»Allerdings, meine Damen!« sagte Blandois lächelnd und die Achseln zuckend, »es hat jemand das edle Tier vergiftet. Er ist so tot wie die Dogen!«

Neunundzwanzigstes Kapitel.


Neunundzwanzigstes Kapitel.

Eine Bitte im Marschallgefängnis.

Bitterer Kummer und Reue sind schlechte Gesellen für einen Gefangenen. Den ganzen Tag vor sich hinbrüten und bei Nacht wenig ruhen kann einen Mann nicht gegen das Elend wappnen. Am nächsten Morgen fühlte Clennam, daß seine Gesundheit schwächer wurde, wie sein Mut bereits gesunken war, und daß die Last, unter der er seufzte, ihn erdrücken mußte.

Eine Nacht um die andere war er um zwölf oder ein Uhr von seinem Jammerlager aufgestanden und hatte sich an sein Fenster gesetzt, um die trübe brennenden Lampen im Hofe unten zu beobachten und auf den ersten bleichen Schimmer des Tags zu harren, stundenlang, ehe es möglich war, daß dieser am Himmel sich zeigte. Jetzt, da die Nacht kam, konnte er sich nicht mal überreden, sich auszukleiden.

Denn es stellte sich eine brennende Unruhe, eine qualvolle Ungeduld, wie das Gefängnis sie hervorbringt, und die Überzeugung ein, daß das Herz hier ihm brechen und er hier sterben müßte, was ihm unbeschreibliche Leiden verursachte. Sein Widerwille und Abscheu gegen diesen Ort wurde so groß, daß es ihm Mühe kostete, darin Atem zu holen. Das Gefühl zu ersticken bemächtigte sich seiner oft so gewaltig, daß er am Fenster stehenblieb und, den Hals haltend, nach Luft seufzte. Zu gleicher Zeit erweckte die Sehnsucht nach anderer Luft und das Verlangen, außerhalb dieser öden weißen Mauer sich bewegen zu können, ein Gefühl in ihm, als wenn ihn die Inbrunst dieses Wunsches wahnsinnig machen müßte.

Viele andere Gefangene hatten vor ihm ähnliche Gefühle gehabt, aber die Heftigkeit und Dauer derselben hatte sie abgestumpft, was auch bei ihm der Fall wurde. Dazu genügten zwei Nächte und ein Tag. Es kam wohl hier und da wieder, aber weit schwächer und auch in größeren Zwischenräumen. Eine traurige Ruhe folgte auf diesen Zustand, und schon um die Mitte der Woche war er in die Abgespanntheit eines langsam schleichenden Fiebers versunken.

Da Cavaletto und Pancks fort waren, hatte er keinen andern Besuch zu fürchten als Mr. und Mrs. Plornish. Sein Bemühen betreffs dieses würdigen Paares war, daß es ihm nicht zu nahe komme; denn in der krankhaften Stimmung seiner Nerven suchte er allein zu sein und von der Pein, daß man ihn in diesem gedrückten und schwachen Zustand sehe, verschont zu werden. Er schrieb einen Brief an Mrs. Plornish, worin er mitteilte, daß er von seinen Angelegenheiten in Anspruch genommen und durch die Notwendigkeit, sich ihnen ganz und gar zu widmen, sich gezwungen sehe, einige Zeit auf das Vergnügen verzichten zu müssen, sich durch den Anblick ihres freundlichen Gesichts zu zerstreuen. Wenn der junge John, der täglich zu einer gewissen Stunde, wo die Schließer abgelöst wurden, hereinsah, sich bei ihm erkundigte, ob er etwas für ihn besorgen könnte, tat er immer, als ob er mit Schreiben beschäftigt wäre, und antwortete mit einem freundlichen »Nein.« Der Gegenstand ihrer einzigen langen Unterredung war nie mehr mit einem Wort berührt worden. Durch alle diese Wandlungen des Unglücks hindurch hatte Clennam ihn nicht einen Augenblick aus dem Auge verloren.

Der sechste Tag der erwähnten Woche war ein feuchter, heißer, nebliger Tag. Es war, als nähme die Armut, die Schäbigkeit und der Schmutz in der schwülen Atmosphäre zu. Mit einem brennenden Kopf und müdem Herzen hatte Clennam die traurige Nacht durchwacht, indem er dem Tröpfeln des Regens auf das Hofpflaster gelauscht und an das sanftere Rieseln auf den Boden im Freien gedacht hatte. Ein trüber Kreis von gelbem Nebel war statt der Sonne am Himmel aufgestiegen, und er hatte den trüben Schein beobachtet, den er auf die Mauer warf und der wie ein Stück Gefängnislumpen aussah. Er hatte das Öffnen der Türen, das Hereinschlürfen der schlechten Schuhe, die draußen gewartet hatten, das Kehren und Pumpen und das Hin- und Hergehen gehört, womit der Gefängnismorgen gewöhnlich anfängt. Er fühlte sich so schwach und krank, daß er oftmals innehalten mußte,

Clennam im Schuldgefängnis.

während er sich wusch, und war endlich nach seinem Stuhl am offenen Fenster hingekrochen. Dort saß er schlummernd, während die alte Frau, die sein Zimmer aufräumte, ihre Morgengeschäfte besorgte.

Halb wirr durch den Mangel an Schlaf und Nahrung (sein Appetit und sogar sein Geschmack waren ganz verlorengegangen) war er sich zwei- oder dreimal im Verlauf der Nacht bewußt geworden, daß er an Sinnestäuschungen litt. Er hatte durch die warme Nachtluft Bruchstücke von Liedern und Melodien klingen hören, von denen er wußte, daß sie gar nicht existierten. Jetzt, da er in einem Zustand der Erschöpfung halb im Schlummer lag, vernahm er sie wieder. Stimmen schienen ihn anzureden, und er antwortete ihnen und fuhr auf.

Schlummernd und träumend, ohne die Kraft, die Zeit zu berechnen, so daß eine Minute eine Stunde und eine Stunde eine Minute hätte sein können, schlich sich dies Bild eines Gartens in seine Phantasie, eines Blumengartens, dessen Düfte ein feuchter bunter Wind auf sanften Schwingen trug. Es kostete ihn eine so schmerzliche Anstrengung, den Kopf aufzurichten, um sich darüber ins reine zu setzen oder überhaupt ins reine zu kommen, daß jene Vorstellung von dem Garten ihm eine alte und lustige erschien, als er sich umsah. Neben der Teetasse auf seinem Tische sah er einen blühenden Strauß; eine prächtige Handvoll der auserlesensten und lieblichsten Blumen.

Noch nie war etwas in seinen Augen so schön erschienen. Er nahm sie in die Hand, schlürfte ihren Duft ein, hielt sie an seine heiße Stirn, legte sie nieder und breitete seine trocknen Hände darüber, als wollte er die wohltuende Wärme eines Feuers genießen. Erst als er sich desselben einige Zeit erfreut hatte, fragte er sich, wer sie wohl geschickt, und öffnete seine Tür, um die Frau zu fragen, wie sie in ihre Hände gekommen. Aber sie war fort und schien schon lange gegangen zu sein; denn der Tee, den sie für ihn auf dem Tische gelassen, war kalt. Er wollte eine Tasse trinken, aber er konnte den Geruch desselben nicht ertragen; deshalb kroch er nach seinem Stuhl am offenen Fenster zurück und stellte die Blumen auf den kleinen runden Tisch aus alten Zeiten.

Als die erste Schwäche, die eine Folge seines Herumgehens gewesen, ihn verlassen hatte, verfiel er wieder in seinen früheren Zustand. Eine von den nächtlichen Melodien spielte in dem Wind, als die Tür seines Zimmers sich einem leichten Druck zu öffnen und nach einer kurzen Pause eine stille Gestalt in einem schwarzen Mantel auf der Schwelle zu stehen schien. Es war, als ob sie den Mantel fallen ließe, und dann schien es seine Klein-Dorrit in ihrem alten, abgeschabten Kleid zu sein. Sie schien zu zittern und ihre Hände zu falten und zu lächeln und in Tränen auszubrechen.

Er raffte sich auf und rief. Und dann sah er in dem liebevollen, mitleidigen, kummervollen, teuren Gesicht als wie in einem Spiegel, wie verändert er war. Sie kam auf ihn zu, und die Hände auf seine Brust legend, daß er sitzenbleibe, und vor ihm auf den Boden kniend und die Lippen zu ihm erhebend, um ihn zu küssen, und mit ihren Tränen ihn befeuchtend, wie der Regen vom Himmel die Blumen befeuchtet, rief ihn Klein-Dorrit, die leibhaftig vor ihm lag, bei seinem Namen.

»Oh, mein bester Freund! Lieber Mr. Clennam, lassen Sie mich keine Tränen sehen! Wenn Sie nicht gar aus Freude weinen, mich zu sehen. Ich hoffe, das ist der Fall! Ihr armes Kind ist wieder da!«

So treu, so zärtlich, so unverdorben vom Glück. Im Klang ihrer Stimme, im Licht ihrer Augen, in der Berührung ihrer Hände so engelhaft tröstend und wahr!

Als er sie küßte, sagte sie zu ihm: »Niemand hat mir gesagt, daß Sie krank seien«, und ihren Arm sanft um seinen Arm schlingend, zog sie seinen Kopf an ihre Brust, legte ihre Hand auf sein Haupt, ließ ihre Wange auf dieser Hand ruhen und liebkoste ihn so zärtlich und, Gott weiß, so unschuldig, wie sie ihren Vater in demselben Zimmer geliebkost hatte, als sie noch ein kleines Kind gewesen und alle die Pflege von andern bedurft hätte, die sie ihnen angedeihen ließ.

Als er sprechen konnte, sagte er: »Ist es möglich, daß Sie zu mir kommen? Und in diesem Kleid?«

»Ich hoffte, Sie würden mich in diesem Kleid lieber sehen als in jedem andern. Ich habe es immer zur Erinnerung aufbewahrt; obgleich ich die Erinnerung nicht brauche. Ich bin nicht allein, wie Sie sehen. Ich habe eine alte Freundin mit mir gebracht.«

Als er sich umsah, erblickte er Maggy in ihrer großen Haube, die sie schon lange nicht mehr getragen, mit einem Korb am Arm wie in früheren Tagen, und ganz vergnügt vor sich hin lachend.

»Erst gestern abend bin ich mit meinem Bruder in London angekommen. Ich schickte fast unmittelbar nach unserer Ankunft zu Mrs. Plornish, um von Ihnen zu hören und Sie meine Ankunft wissen zu lassen. Da hörte ich, daß Sie hier seien. Haben Sie vielleicht während der Nacht an mich gedacht? Ich glaube fast, daß Sie ein wenig an mich gedacht haben. Ich habe so besorgt an Sie gedacht, und es schien mir so lange, bis der Morgen anbrach.«

»Ich habe an Sie gedacht« – er stockte, da er nicht wußte, wie er sie nennen sollte. Sie merkte es augenblicklich.

»Sie haben mich noch nicht bei meinem rechten Namen genannt. Sie wissen, was stets mein rechter Name bei Ihnen war.«

»Ich habe jeden Tag, jede Stunde, jede Minute an Sie gedacht, Klein-Dorrit, seit ich hier bin.«

»Wirklich! Wirklich!«

Er sah die helle Freude auf ihrem Gesicht und die Röte, die darüber hinflammte, mit einem Gefühl der Scham. Er, ein gebrochner, bankerotter, kranker, entehrter Gefangener! »Ich war schon hier, ehe das Tor aufging, aber ich fürchtete mich, so geradezu zu Ihnen zu kommen. Ich hätte im ersten Augenblick mehr geschadet als genützt; denn das Gefängnis kam mir so vertraut und doch so fremd vor, und es rief so viele Erinnerungen an meinen armen Vater und auch an Sie in mir wach, daß ich anfangs ganz überwältigt davon war. Aber wir gingen zu Mr. Chivery, ehe wir hierher an das Tor kamen, und er brachte uns herein und schloß uns Johns Zimmer auf – Sie wissen, mein armes, altes Zimmer –, und wir warteten dort ein wenig. Ich brachte die Blumen an die Tür, aber Sie hörten mich nicht.«

Sie sah etwas frauenhafter als vor ihrer Reise aus, und die reifende Berührung der italienischen Sonne war auf ihrem Antlitz sichtbar. Im übrigen war sie jedoch ganz unverändert. Denselben tiefen, scheuen Ernst, den er immer und nie ohne Rührung an ihr bemerkt, fand er auch jetzt noch. Wenn dieser Ernst eine neue Bedeutung hatte, die ihm tief ins Herz drang, so lag die Veränderung in seiner Auffassung, nicht in ihr.

Sie nahm ihren alten Hut ab und hing ihn an die alte Stelle und fing an, mit Maggys Hilfe das Zimmer so frisch und sauber zu machen, wie es nur möglich war, und es mit wohlriechendem Wasser zu besprengen. Als dies geschehen, wurde der Korb, der mit Trauben und anderem Obst gefüllt war, ausgepackt und sein Inhalt geräuschlos untergebracht. Als auch dies geschehen war, wurde Maggy mit einigen zugeflüsterten Worten weggeschickt, um jemanden anders wegzuschicken, der den Korb wieder vollfüllen sollte. Dieser kam auch bald wieder mit neuen Vorräten, aus denen zuerst ein kühlendes Getränk und Gelee und weiter ein gebratenes Huhn und Wein und Wasser herausgenommen wurden. Nachdem diese verschiedenen Anordnungen getroffen waren, nahm sie ihr altes Nähkistchen heraus, um ihm einen Vorhang für sein Fenster zu machen; und so sah er Klein-Dorrit, während er ruhig in seinem Stuhl saß, ruhig in seinem Zimmer walten und arbeiten, eine Ruhe, die sich auch über das sonst so geräuschvolle Gefängnis zu verbreiten schien.

Das bescheidene Köpfchen wieder über die Arbeit herabgebeugt und die flinken Finger geschäftig an ihrer alten Arbeit zu sehen – obgleich sie nicht so in die Arbeit vertieft war, daß ihre teilnahmsvollen Blicke sich nicht zu ihm erhoben und, wenn sie sich senkten, Tränen zeigten – so getröstet und gestärkt zu werden und zu glauben, daß alle Hingebung dieser großen Natur in seinem Unglück ihm zugewandt sei, um ihren unerschöpflichen Reichtum von Güte über ihn auszuschütteln, machte Clennams zitternde Stimme oder Hand nicht ruhiger und stärkte ihn nicht in seiner körperlichen Schwäche. Aber es flößte ihm eine moralische Kraft ein, die mit seiner Liebe wuchs. Und wie zärtlich er sie jetzt liebte, vermögen Worte nicht auszudrücken.

Wie sie so nebeneinander saßen, in dem Schatten der Mauer, fiel der Schatten wie Licht auf ihn. Sie wollte ihn nicht viel sprechen lassen, und er legte sich in seinen Stuhl zurück und blickte sie an. Dann und wann stand sie auf und gab ihm ein Glas zum Trinken oder strich die Stelle glatt, wo sein Kopf ruhte; dann kehrte sie still zu ihrem Sitz zurück und beugte sich wieder über ihre Arbeit.

Der Schatten bewegte sich mit der Sonne, aber sie wich nicht von seiner Seite, außer wenn sie ihm etwas bringen wollte. Sie war jetzt mit ihrer Arbeit fertig, und ihre Hand, die, seitdem sie ihm zum letzten Male etwas gereicht, auf dem Arm des Stuhles zitternd geruht hatte, weilte noch darauf. Er legte seine Hand darauf, und sie faßte sie mit bebendem Flehen.

»Lieber Mr. Clennam, ich muß Ihnen etwas sagen, ehe ich gehe. Ich habe es von Stunde zu Stunde verschoben, aber nun muß ich es sagen.«

»Auch ich, liebe Klein-Dorrit. Auch ich habe aufgeschoben, was ich sagen mußte.«

Sie bewegte ängstlich besorgt ihre Hand nach seinen Lippen, als wollte sie ihn zum Schweigen bringen; dann ließ sie sie zitternd wieder sinken.

»Ich verlasse England nicht wieder. Mein Bruder hat die Absicht, aber ich nicht. Er war immer sehr anhänglich an mich, und er ist jetzt so dankbar gegen mich – viel zu dankbar, denn es ist nur, daß ich zufällig während seiner Krankheit bei ihm war –, daß er sagt, es soll ganz in meinem Willen stehen, zu bleiben, wo es mir am besten gefällt, und zu tun, was mir am besten gefällt. Er wünsche mich nur glücklich zu wissen, sagt er.«

Ein heller Stern glänzte am Himmel. Sie blickte zu ihm auf, während sie sprach, als wäre es der inbrünstige Vorsatz ihres Herzens, der über ihr erglänzte.

»Sie werden sich denken können, ohne daß ich es Ihnen zu sagen brauche, daß mein Bruder hierher gereist ist, um das Testament meines lieben Vaters zu eröffnen und von seinem Vermögen Besitz zu ergreifen. Er sagt, wenn ein Testament vorhanden wäre, würde ich gewiß reich bedacht sein; und wenn keines vorhanden sei, wolle er mich reich machen.«

Er wollte sprechen, aber sie hob wieder ihre zitternde Hand empor, und er schwieg.

»Ich wüßte nicht, was mit dem Gelde tun, und wünschte mir keines. Es wäre durchaus ohne Wert für mich, außer um Ihretwillen. Ich könnte unmöglich reich sein, solange Sie hier sind. Ich wäre im Gegenteil immer unsagbar arm, wenn Sie hier in Not schmachten. Wollen Sie mir erlauben, alles, was ich habe, Ihnen zu leihen? Wollen Sie mir gestatten, es Ihnen zu geben? Wollen Sie mir erlauben, Ihnen zu zeigen, daß ich nie vergessen habe und nie vergessen kann, wie Sie mich zu der Zeit, da dies meine Heimat war, beschützt haben? Lieber Mr. Clennam, machen Sie mich zum glücklichsten Menschen von der Welt, indem Sie Ja sagen. Machen Sie mich so glücklich, wie ich es sein kann, solange Sie hier bleiben, indem Sie mir heute abend noch keine Antwort geben und mich mit der Hoffnung von hier fortgehen lassen, daß Sie die Sache sich freundlich überlegen wollen; und daß Sie mir um meinetwillen – nicht um Ihretwillen, sondern um meinetwillen, einzig um meinetwillen! – die größte Freude machen würden, die ich je auf Erden erleben kann, die Freude, zu wissen, daß ich Ihnen einen Dienst geleistet habe, und daß ich etwas von der großen Schuld meiner Liebe und Dankbarkeit abgetragen. Ich kann nicht sagen, was ich sagen möchte. Ich kann Sie hier nicht besuchen, wo ich so lange gewohnt, ich kann nicht hier an Sie denken, wo ich Sie so viel gesehen habe, und so ruhig und trostvoll sein, wie ich sollte. Meine Tränen drängen sich unwillkürlich hervor. Ich kann sie nicht zurückhalten. Aber bitte, bitte, bitte, wenden Sie sich jetzt in Ihrem Kummer nicht von Ihrer Klein-Dorrit! Bitte, bitte, bitte! ich flehe Sie aus tiefstem bekümmertstem Herzen an, mein Freund – Sie Lieber! – nehmen Sie alles, was ich habe, und machen Sie es zu einem Segen für mich!«

Der Stern hatte bis jetzt auf ihr Gesicht geschienen, aber ihr Gesicht sank nun auf ihre und seine Hand.

Es war dunkler geworden, als er sie in seinem Arme aufrichtete und ihr mit sanftem Tone antwortete:

»Nein, liebe Klein-Dorrit. Nein, mein Kind. Ich darf nicht von einem solchen Opfer hören. Freiheit und Hoffnung um solchen Preis wären so teuer erkauft, daß ich nie ihre Last, nie den Vorwurf, sie zu besitzen, tragen könnte. Aber mit welch heißem Danke und welch inniger Liebe ich dies sage, mag der Himmel mir bezeugen!«

»Und doch wollen Sie nicht gestatten, Ihnen in Ihrem Unglück treu zu bleiben?«

»Sagen Sie, liebste Klein-Dorrit, und doch will ich versuchen, Ihnen treu zu bleiben. Wenn in vergangenen Tagen, wo dies Ihre Heimat und dies Ihr Kleid war, ich mich selbst besser verstanden (ich spreche nur von mir selbst) und die Geheimnisse meiner Brust deutlicher gelesen hätte; wenn ich trotz meiner Zurückhaltung und meines Mißtrauens gegen mich ein Licht erkannt hätte, das ich jetzt hell leuchten sehe, wo es weit entfernt von mir ist und meine schwachen Füße es nicht mehr einholen können; wenn ich damals gewußt und Ihnen gesagt hätte, daß ich Sie liebe und ehre, nicht als das arme Kind, als das ich Sie zu betrachten gewohnt war, sondern als eine Frau, deren wackere Hand mich weit über mich selbst erheben und mich zu einem weit glücklicheren und bessern Mann machen konnte; wenn ich so die Gelegenheit benutzt hätte, die nun nicht zurückzurufen ist, – wie ich wünsche, daß ich’s getan, und wie sehr ich das wünsche! – und wenn uns damals etwas fern voneinander gehalten hätte, wo ich mich in mäßigem Wohlstand befand, während Sie arm waren; da würde ich Ihr edles Anerbieten Ihres Vermögens, liebstes Mädchen, mit andern Worten angenommen haben und hätte doch erröten müssen, es anzurühren. Aber wie es jetzt ist, darf ich es nie anrühren, nie!«

Sie bat ihn ergreifender und inniger mit ihrer kleinen bittenden Hand, als sie es mit Worten hätte tun können.

»Ich bin genug mit Schmach beladen, meine liebe Klein-Dorrit. Ich darf nicht so tief sinken und Sie – ein so liebes, edles, gutes Wesen – mit mir hinabziehen. Gott segne Sie, Gott lohne Ihnen! Es ist vorbei!«

Er schloß sie in seine Arme, als wenn sie seine Tochter wäre.

»Immer so viel älter, so viel rauher, so viel weniger wert, müssen wir beide selbst das vergessen, was ich war, und Sie dürfen mich nur sehen, wie ich jetzt bin. Ich drücke diesen Scheidekuß auf Ihre Wange, mein Kind – das mir hätte näher stehen, aber nie lieber sein können – ich, ein zu Grunde gerichteter Mann, der weit ab von Ihnen steht, für immer von Ihnen getrennt, dessen Laufbahn beinahe zu Ende ist, während die Ihre eben beginnt. Ich habe nicht den Mut zu verlangen, daß Sie mich in meiner Erniedrigung vergessen; aber ich bitte Sie, meiner nur so zu gedenken, wie ich bin.«

Die Glocke begann zu läuten, zum Zeichen, daß die Fremden sich aus dem Gefängnis zu entfernen hatten. Er nahm ihren Mantel von der Wand und legte ihn zärtlich besorgt um ihre Schulter.

»Noch ein Wort, Klein-Dorrit. Ein hartes Wort für mich, aber ein notwendiges. Die Zeit, wo Sie und dies Gefängnis etwas miteinander gemein hatten, ist längst vorbei. Verstehen Sie mich?«

»Oh, Sie werden mir doch nicht sagen wollen, daß ich nicht wiederkommen soll«, rief sie, bitterlich weinend und ihre gefalteten Hände zu ihm aufhebend. »Sie werden mich gewiß nicht so verlassen!«

»Ich würde es sagen, wenn ich könnte; aber ich habe nicht den Mut, dieses liebe Gesicht so ganz von mir zu verbannen und auf alle Hoffnung, es wiederzusehen, zu verzichten. Aber kommen Sie nicht bald, kommen Sie nicht oft. Es ist ein verpesteter Ort, und ich weiß wohl, daß die Ansteckung mir anklebt. Sie gehören in eine heiterere und bessere Umgebung. Sie dürfen nicht hierher zurückschauen, meine Klein-Dorrit; Sie müssen auf ganz andere und glücklichere Pfade blicken. Noch einmal, Gott segne Sie auf denselben! Gott lohne Ihnen!«

Maggy, die sehr traurig gestimmt wurde, rief in diesem Augenblick: »Oh, bring‘ ihn in ein Spital. Er wird nie wieder wie früher werden, wenn man ihn nicht in ein Spital bringt. Und dann kann die kleine Frau, die immer an ihrem Rade spann, an den Schrank gehen mit der Prinzessin und sagen: Für wen bewahrt Ihr das Hühnchen auf? Und dann können sie es herausnehmen und ihm geben und alle glücklich sein!« Die Unterbrechung kam zur rechten Zeit! denn die Glocke hatte beinahe zu Ende geläutet. Arthur wickelte sie noch einmal sorgfältig in ihren Mantel, gab ihr seinen Arm (obgleich er ohne ihren Besuch beinahe zu schwach zum Gehen gewesen wäre) und führte sie die Treppe hinab. Sie war der letzte Besuch, der zum Schließerstübchen hinausging, und das Tor fiel schwer und hoffnungslos hinter ihr ins Schloß.

Mit dem Grabeston, der damit in Arthurs Herz klang, kehrte auch sein Gefühl der Schwäche zurück. Es war eine mühselige Reise die Treppe hinauf in sein Zimmer, und er betrat den dunklen einsamen Raum in unaussprechlich elender Stimmung.

Als es beinahe Mitternacht und im Gefängnis längst still geworden war, hörte man ein vorsichtiges Krachen die Treppe heraufkommen und ein vorsichtiges Klopfen eines Schlüssels an der Tür. Es war der junge John. Er schlüpfte auf Socken herein und hielt die Tür zu, während er flüsternd sprach:

»Es ist gegen alle Vorschriften, aber es ist mir einerlei. Ich war entschlossen, mir Bahn zu brechen und zu Ihnen zu kommen.«

»Was gibt es?«

»Nichts gibt’s, Sir. Ich wartete auf dem Hofe auf Miß Dorrit, bis sie herauskam. Ich dachte, es würde Ihnen angenehm sein, wenn jemand auf sie achtgebe.«

»Danke, danke! Sie führten sie nach Hause, John?«

»Ich begleitete sie bis in ihr Hotel. Dasselbe, in dem auch Mr. Dorrit gewohnt hatte. Miß Dorrit sprach auf dem ganzen Wege so freundlich mit mir, daß ich vor Freuden außer mir war. Warum glauben Sie wohl, daß sie ging, statt zu fahren?«

»Ich weiß es nicht, John.«

»Um von Ihnen zu reden. Sie sagte zu mir: ›John, Sie waren immer ein Ehrenmann, und wenn Sie mir versprechen, daß Sie für ihn sorgen wollen und es ihm nie an Hilfe und Trost fehlen lassen werden, wenn ich nicht um ihn bin, so wird mein Gemüt beruhigt sein.‹ Ich versprach es ihr. Und ich will Ihnen zur Seite sein in alle Ewigkeit«, sagte John Chivery.

Tief gerührt bot Clennam dem ehrlichen Menschen die Hand.

»Ehe ich sie nehme«, sagte John, indem er sie ansah, ohne die Tür zu verlassen, »müssen Sie erst raten, welche Botschaft mir Miß Dorrit gegeben hat.«

Clennam schüttelte den Kopf.

»›Sagen Sie ihm‹, wiederholte John mit deutlicher, obgleich zitternder Stimme, ›daß seine Klein-Dorrit ihm ihre nimmer aufhörende Liebe sendet.‹ Jetzt ist’s heraus. Habe ich redlich gehandelt?«

»Gewiß, gewiß!«

»Wollen Sie Miß Dorrit sagen, daß ich redlich gehandelt habe, Sir?«

»Das will ich.« »Hier ist meine Hand, Sir«, sagte John, »und ich will Ihnen zur Seite sein in alle Ewigkeit.«

Nach einem herzlichen Händedruck verschwand er mit demselben vorsichtigen Schritt, schlich ohne Schuhe über das Pflaster des Hofes, schloß das Tor hinter sich und ging nach dem Vordergebäude, wo er seine Schuhe gelassen hatte. Wäre dieser Weg mit glühenden Pflugscharen gepflastert gewesen, so ist doch nicht unwahrscheinlich, daß John um desselben Zweckes willen ihn mit der gleichen Hingebung gegangen wäre.

Drittes Kapitel.


Drittes Kapitel.

Auf dem Wege.

Die helle Morgensonne blendete die Augen, der Schnee hatte aufgehört, die Nebel waren verschwunden, die Bergluft war so klar und leicht, daß das neue Gefühl des Atmens wie das Eintreten in ein neues Dasein erschien. Um die Täuschung zu mehren, schien selbst der feste Boden verschwunden und der Berg eine leuchtende Wüste ungeheurer weißer Haufen und Massen, eine schwimmende Wolkenregion zwischen dem blauen Himmel oben und der Erde tief unten.

Einige dunkle Flecken auf dem Schnee, wie Knoten an einer kleinen Schnur, am Klostertor beginnend und sich in gebrochenen Stücken, die noch nicht zusammengebunden waren, fortziehend, wanden sich an dem Abhang hinab und zeigten, wie die Brüder bereits an verschiedenen Punkten beschäftigt waren, den Pfad zu bahnen. Schon hatte der Schnee begonnen, um das Tor her unter den Füßen aufzutauen. Geschäftig wurden Maulesel herausgeschafft, an die Ringe in der Mauer gebunden und beladen; Glockenriemen wurden umgeschnallt, Lasten festgebunden: die Stimmen der Treiber und Reiter klangen harmonisch. Einige von den Frühesten hatten sogar bereits ihre Reise wieder angetreten, und sowohl auf dem flachen Berggipfel bei dem dunkeln Wasser in der Nähe des Klosters als auf dem Wege, auf dem man gestern bergan geklettert war, sah man kleine sich bewegende Gestalten von Menschen und Maultieren, durch den ungeheuren Raum zu Zwergen zusammengeschrumpft, unter dem hellen Klang der Glöckchen und angenehmem, harmonischem Geplauder hinziehen.

Im Speisezimmer vom vergangenen Abend war ein neues Feuer auf der federartigen Asche des alten aufgetürmt und schien auf das einfache Frühstück, das aus Brot, Butter und Milch bestand. Es beschien auch den Kurier der Familie Dorrit, der für seine Gesellschaft Tee aus einem Vorrat bereitete, den er, nebst noch einigen andern kleinen Vorräten, mitgebracht hatte, die hauptsächlich für die große unbequeme Masse angelegt waren. Mr. Gowan und Blandois von Paris hatten bereits gefrühstückt und gingen, ihre Zigarre rauchend, am See auf und nieder.

»Gowan, hm?« murmelte Tip, sonst Edward Dorrit, Esquire, die Blätter des Buches umdrehend, als der Kurier gegangen war. »Gowan ist also der Name eines Laffen, das ist alles, damit Punktum! Wenn es sich der Mühe für mich lohnte, wollt‘ ich ihn tüchtig an der Nase herumführen. Aber es lohnt sich der Mühe nicht – das ist ein Glück für ihn. Wie befindet sich seine Frau, Amy? Ich glaube, du kennst sie. Du kennst ja Dinge der Art.«

»Sie befindet sich besser, Edward. Aber sie gehen heute noch nicht.«

»Oh! Sie gehen heute noch nicht? Das ist ein Glück für diesen Menschen,« sagte Tip, »er und ich möchten sonst in Kollision kommen.«

»Man halt es hier für besser, daß sie heute noch ruhig liegenbleibt und sich nicht anstrengt und durch den Ritt hinab erschüttert wird, bis sie sich morgen ganz wohl befindet.«

»Meinetwegen. Aber du sprichst ja, als ob du ihre Krankenwärterin gewesen wärest. Du bist doch nicht wieder (Mrs. General ist nicht hier) in deine alten Gewohnheiten zurückgefallen, Amy?«

Er tat diese Frage mit einem listig beobachtenden Blick auf Fanny und auf seinen Vater.

»Ich war bloß bei ihr, um sie zu fragen, ob ich für sie nichts tun könne, Tip,« sagte Klein-Dorrit.

»Du brauchst mich nicht Tip zu nennen, Amy,« versetzte der junge Mann mit gerunzelter Stirn, »denn das ist eine alte Gewohnheit, die du aufgeben mußt.«

»Ich wollt‘ es auch nicht sagen, lieber Edward. Ich vergaß es. Es war einst so natürlich, daß es mir im Augenblick das rechte Wort schien.«

»O ja!« fiel Miß Fanny ein. »Natürlich und rechtes Wort und einst, und wie das alles heißt. Unsinn, du kleines Ding! Ich weiß ganz wohl, weshalb du solch ein Interesse an dieser Mrs. Gowan nimmst. Du kannst mich nicht täuschen.«

»Ich will es auch nicht, Fanny. Sei nicht böse.«

»O, böse!« versetzte die junge Dame auffahrend. »Ich habe keine Geduld« (was auch wirklich der Fall war).

»Bitte, Fanny«, sagte Mr. Dorrit, die Augenbrauen aufziehend, »was meinst du? Erkläre dich.«

»Oh! sei ruhig, Vater,« versetzte Miß Fanny, »es ist nicht der Rede wert. Amy wird mich verstehen. Sie kannte diese Mrs. Gowan oder wußte von ihr, schon vor dem gestrigen Abend, und sie wird es wohl auch eingestehen, daß dies der Fall.«

»Mein Kind,« sagte Mr. Dorrit, sich an seine jüngere Tochter wendend, »hat deine Schwester – irgend – ha – irgendeinen Grund zu dieser seltsamen Behauptung?«

»Wie weichherzig wir auch sind,« fiel Miß Fanny ein, ehe sie antworten konnte, »wir schleichen doch nicht in die Zimmer der Leute auf den Spitzen der Berge und sitzen halbtot vor Kälte bei den Leuten, wenn wir sie nicht vorher schon kennen. Ist es nicht schwer zu ahnen, wessen Freundin Mrs. Gowan sei?«

»Wessen Freundin?« fragte der Vater.

»Papa, ich bedaure, sagen zu müssen,« versetzte Miß Fanny, der es indessen gelungen war, sich in den Zustand der Beleidigten und Geärgerten hineinzustacheln, was sie oft mit großer Anstrengung tat, »daß ich glaube, sie ist eine Freundin jener aus vielen Gründen widerwärtigen und unangenehmen Person, die uns seinerzeit beleidigte. Sie benahm sich mit jenem vollständigen Mangel an Delikatesse, die unsere Erfahrung von ihm erwartet hätte. Sie kränkte aus so öffentliche und absichtliche Weise bei einer Gelegenheit, auf die wir, nach unserer Verabredung, durchaus nicht mehr anspielen wollen.«

»Amy, mein Kind,« sagte Mr. Dorrit, milde Strenge mit würdevoller Liebe mäßigend, »ist das der Fall?«

Klein-Dorrit antwortete sanft, ja, es sei der Fall.

»Ja, es ist der Fall!« rief Miß Fanny. »Natürlich! Ich sagte es ja. Und jetzt, Papa, erkläre ich, ein für allemal (diese junge Dame hatte die Gewohnheit, dasselbe jeden Tag ihres Lebens und oft siebenmal an einem Tag ein für allemal zu erklären), daß das schändlich ist! Ich erkläre ein für allemal, daß dieser Sache ein Ende gemacht werden sollte. Nicht genug, daß wir durchgemacht haben, was nur wir wissen. Wir müssen es uns auch noch von der, die unsre Gefühle am meisten schonen sollte, beharrlich und systematisch ins Gesicht schleudern lassen? Sollen wir unser ganzes Leben lang diesem unnatürlichen Benehmen ausgesetzt sein? Sollen wir niemals vergessen dürfen? Ich sage noch einmal, es ist unerhört!«

»Nun, Amy,« bemerkte ihr Bruder, den Kopf schüttelnd, »du weißt, ich stehe immer auf deiner Seite, wo ich kann, und bei den meisten Gelegenheiten. Aber ich muß sagen, ich halte es wahrhaftig für eine ziemlich unerklärliche Art, deine schwesterliche Liebe zu zeigen, daß du einen Mann beschützest, der mich auf die ungesittetste Weise behandelte, in der man einen andern behandeln kann. Und der«, fügte er überzeugend hinzu, »ein sehr niedriggesinnter Schuft sein muß, sonst hätte er sich nicht so gegen mich benehmen können, wie er es tat.«

»Und bedenkt,« sagte Miß Fanny, »bedenkt wohl, was das mit sich führt! Können wir erwarten, daß uns unsre Diener respektieren? Nie. Da sind zwei Kammermädchen, und Papas Kammerdiener, und ein Diener, und ein Kurier und alle Arten von Dienerschaft; und umgeben von diesen müssen wir eins von den Unsrigen mit einem Glase kalten Wasser, wie einen Diener umherlaufen sehen. Wahrhaftig,« sagte Miß Fanny, »ein Polizeidiener könnte, wenn ein Bettler in der Straße einen Anfall bekommt, nicht anders mit seinem Glase einherrennen, als Amy es in diesem Jimmer gestern Abend vor unsren Augen getan hat!«

»Ich wollte darauf kein so großes Gewicht legen«, bemerkte Mr. Edward. »Aber dein Clennam, wie er sich zu nennen beliebt, das ist etwas anderes.«

»Er gehört dazu«, versetzte Miß Fanny, »und zu allem andern. Er drängte sich in erster Linie uns auf. Wir haben nie nach ihm verlangt. Ich zeigte ihm stets, daß ich mit dem größten Vergnügen auf seine Gesellschaft verzichten würde. Und dann beleidigt er unsre Gefühle auf so gröbliche Weise, was er nie getan haben könnte oder würde, wenn es ihm nicht Vergnügen gemacht hätte, uns bloßzustellen; und dann müssen wir uns noch zum Dienste seiner Freunde herabwürdigen lassen! Ich wundre mich auch nicht über das Benehmen Mr. Gowans. Was ließ sich erwarten, da er unser früheres Mißgeschick kannte und sich gerade im Augenblick daran weidete.«

»Vater – Edward – wahrhaftig nicht!« verteidigte sich Klein-Dorrit. »Weder Mr. noch Mrs. Gowan hatten je unsere Namen gehört. Sie wußten und wissen durchaus nichts von unsrer Geschichte.«

»Um so schlimmer«, warf Fanny ein, entschlossen, nichts zuzugeben, was ihren Angriff hätte abschwächen können, »denn dann hast du keine Entschuldigung. Wenn sie uns gekannt hätten, hättest du dich berufen fühlen können, sie zu versöhnen. Das wäre ein schwacher und lächerlicher Mißgriff gewesen: aber ich kann einen Mißgriff entschuldigen, während ich eine absichtliche und überlegte Erniedrigung derer, die uns am nächsten und teuersten sein sollten, nicht entschuldigen kann. Nein. Ich kann das nicht entschuldigen. Ich kann es nur anklagen.«

»Ich beleidige dich nie mit Wissen, Fanny«, sagte Klein-Dorrit, »obgleich du so hart gegen mich bist.«

»Dann solltest du vorsichtiger sein, Amy«, versetzte ihre Schwester. »Wenn du solche Sachen durch Zufall tust, so solltest du vorsichtiger sein. Wenn ich etwa an einem gewissen Platz und unter gewissen Umständen geboren wäre, die mein Bewußtsein von Anstand beeinträchtigen, ich glaube, ich würde mich dann für verbunden halten, bei jedem Schritt zu überlegen: ›Werde ich unbewußterweise irgendeinen näheren oder entfernteren Verwandten kompromittieren?‹ Das ist es, glaube ich, was ich tun würde, wenn es mein Fall wäre.«

Mr. Dorrit trat nun dazwischen, um zu gleicher Zeit dieser peinlichen Unterhaltung ein Ende zu machen und ihrer Moral durch seine Weisheit die Krone aufzusetzen.

»Meine Liebe«, sagte er zu seiner jüngern Tochter, »ich bitte dich, erwidere nichts mehr. Deine Schwester drückt sich etwas streng aus, hat aber ziemlich recht. Du mußt eine – hm – eine große Stellung ausfüllen. Die große Stellung nimmst nicht du allein ein, Sondern auch –ha – ich – und – ha, hm – wir alle. Alle. Es ist nun die Aufgabe aller Menschen in einer bedeutenden Stellung, und insbesondere dieser Familie, aus Gründen, bei denen ich – ha – nicht verweilen will, sich Achtung zu verschaffen. Immer darauf bedacht zu sein, sich die Achtung der Menschen zu erwerben. Untergeordnete Menschen müssen, damit sie uns respektieren, – ha – in Entfernung gehalten werden und – hm – niedergehalten werden. Nieder. Deshalb ist es von höchster Wichtigkeit, daß du dich keinen Bemerkungen unsrer Dienerschaft aussetzest, indem du dich etwa ihrer Dienste entschlagen und dieselben selbst verrichtet zu haben scheinst.«

»Nun, wer sollte daran zweifeln?« rief Miß Fanny. »Das ist die Essenz von allem.« »Fanny«, versetzte ihr Vater in feierlichem Tone, »erlaube mir, meine Liebe. Wir kommen jetzt zu – ha – Mr. Clennam. Ich gestehe offen, Amy, daß ich die Gefühle deiner Schwester nicht teile, – das heißt nämlich – hm – in Beziehung auf Mr. Clennam. Ich begnüge mich, dieses Individuum als einen – ha – im allgemeinen – wohlgesitteten Mann zu betrachten. Hm. Einen wohlgesitteten Mann. Auch will ich nicht untersuchen, ob Mr. Clennam sich je meiner Gesellschaft –hm – aufgedrängt. Er wußte, daß – hm – meine Gesellschaft gesucht war, und der Grund, weshalb er es getan hat, mag sein, daß er mich als einen öffentlichen Charakter betrachtete. Aber es gab Umstände im Geleite – ha – meiner geringen Bekanntschaft mit Mr. Clennam (sie war sehr gering), die«, hier wurde Mr. Dorrit außerordentlich ernst und feierlich, »es höchst unzart für Mr. Clennam machen würden, – ha – den Verkehr mit mir oder irgendeinem Glied meiner Familie unter den bestehenden Umständen wieder anzuknüpfen. Wenn Mr. Clennam Zartheit genug besitzt, das Unpassende jedes derartigen Versuches zu begreifen, so bin ich als Mann von Ehre verpflichtet, dieses Zartgefühl auf seiner Seite zu respektieren. Wenn aber auf der andern Seite Mr. Clennam diese Delikatesse nicht besitzt, so kann ich keinen Augenblick – ha – mit einem so ungebildeten Menschen im geringsten Verkehr stehen. In beiden Fällen würde es scheinen, als ob Mr. Clennam ganz und gar nicht in Betracht käme und wir nichts mit ihm oder er mit uns zu tun hätte. Ha – Mrs. General!«

Das Eintreten der Dame, die er ankündigte und die ihren Platz beim Frühstück einnehmen wollte, machte der Diskussion ein Ende. Kurz darauf kündigte der Kurier an, daß der Kammerdiener, der Diener, die beiden Kammermädchen, die vier Führer und die vierzehn Maultiere bereitständen: die Frühstücksgesellschaft brach deshalb auf, um sich vor dem Klostertore zu der Kalvalkade zu gesellen.

Mr. Gowan stand in der Ferne mit Zigarre und Bleistift, aber Mr. Blandois war an Ort und Stelle, um den Damen seinen Respekt zu bezeugen. Als er höflich seinen ins Gesicht hereingedrückten Hut vor Klein-Dorrit abnahm, war es ihr, als ob er einen noch unheimlicheren Blick hätte, wie er so schwarz und in den Mantel gehüllt im Schnee dastand, als vergangene Nacht, wo ihn das helle Kaminfeuer beleuchtete. Da jedoch ihr Vater und ihre Schwester seine Huldigung mit einigem Wohlwollen aufnahmen, faßte sie sich, um ihr Mißtrauen nicht zu zeigen, damit es nicht wieder einen Beweis des Makels liefere, der von ihrer Gefängnisgeburt stamme.

Nichtsdestoweniger sah sie sich, solange sie den rauhen Weg hinabritten und das Kloster noch sichtbar war, mehr als einmal um und gewahrte, wie Mr. Blandois, hinter dem der Klosterrauch senkrecht und hoch aus den Kaminen in einer goldenen Hülle emporstieg, immer noch auf einem hervorragenden Punkte dastand und ihnen nachblickte. Lange, nachdem er nur wie ein schwarzer Stock im Schnee aussah, war es ihr, als ob sie noch immer sein Lächeln, die gebogene Nase und die Augen sehen könnte, die so nahe beieinander standen. Und noch später, als das Kloster verschwunden war und einige leichte Morgenwolken den Paß unter denselben verschleierten, schienen die Skelettarme am Wege alle nach ihm hinaufzudeuten.

Trügerischer denn Schnee, vielleicht kälter an Herz und schwerer schmelzend, verschwand Blandois von Paris nach und nach aus ihrem Gedächtnis, als sie in die milderen Regionen kamen. Die Sonne war wieder warm; die Ströme, die von den Gletschern und Schneeklüften herabrauschten, boten wieder frischen Trunk: sie ritten wieder zwischen den Pinien, den Felsbächen, über die grünen Höhen und durch die Täler, an den hölzernen Sennhütten und an den rohen Zickzackgehängen des Schweizerlandes hin. Bisweilen wurde der Weg so breit, daß sie und ihr Vater nebeneinander reiten konnten. Und dann ihn anzublicken, wie er in Pelz und prachtvolles Tuch gehüllt, reich, frei, von vielen Dienern begleitet und bedient, die Augen weit in der Herrlichkeit der Landschaft umherschweifen ließ, während keine elende Scheidewand den Blick verdunkelte und ihren Schatten darauf warf, – das war genug für sie.

Ihr Onkel war so weit aus dem früheren Schatten herausgetreten, daß er die Kleider trug, die man ihm gab, und einige Waschungen als Opfer für den Ruf der Familie vornahm und mitging, wohin man ihn führte, mit einer gewissen geduldigen naiven Freude, die auszudrücken schien, daß die Luft und der Wechsel ihm wohltue. In jeder andern Beziehung, eine ausgenommen, gab und spiegelte er kein andres Licht von sich als das, das von seinem Bruder ausstrahlte. Seines Bruders Größe, Reichtum, Freiheit und Herrlichkeit gefiel ihm ohne irgendwelche Rücksicht auf sich. Still und in sich gekehrt, hatte er keine Sprache, wenn er seinen Bruder sprechen hören konnte; keinen Wunsch, selbst bedient zu werden, so daß die Diener nur mit seinem Bruder zu tun hatten. Die einzige bemerkenswerte Neuerung, die in ihm vorging, war sein verändertes Benehmen gegen seine jüngere Nichte. Jeden Tag verfeinerte es sich mehr zu einem ausgeprägten Respekt, wie man ihn selten beim Alter gegenüber der Jugend steht, und noch seltener, möchte man sagen, von einem Takt, ihm den richtigen Ausdruck zu geben, begleitet findet. Sooft Miß Fanny ein für allemal erklärte, pflegte er die nächste Gelegenheit zu ergreifen, sein graues Haupt vor seiner jüngern Nichte zu entblößen, oder er half ihr aufsteigen, oder hob sie in den Wagen, oder erwies ihr sonst mit der tiefsten Ehrerbietung eine Aufmerksamkeit. Und doch erschien alles dies nie am unrechten Ort angebracht oder gezwungen, sondern immer herzlich einfach, natürlich und ungekünstelt. Auch gab er niemals zu, selbst wenn sein Bruder ihn dazu aufforderte, daß man ihm vor ihr einen Platz anwies oder daß er in irgend etwas den Vorrang vor ihr habe. So eifersüchtig war er darauf, daß man sie respektiere, daß er eben auf dem Ritt vom großen St. Bernhard herab plötzlich ganz heftig und ungehalten wurde, als er sah, daß der Diener, obgleich er ganz nahe dabei war, als sie abstieg, ihr den Steigbügel zu halten versäumte; und das ganze Gefolge geriet in grenzenloses Erstaunen, als er auf einem starrköpfigen Maultier, einen Angriff auf ihn machte, ihn in eine Ecke ritt und ihm drohte, ihn totzutreten.

Es war eine hochnoble Gesellschaft, und die Wirte stritten sich um sie. Wohin sie kamen, war ihre Wichtigkeit in der Person des vorausreitenden Kuriers ihnen vorangeeilt, um zu sehen, ob die Staatszimmer in Bereitschaft seien. Er war der Herold der Familienprozession. Dann kam der große Reisewagen, der innen enthielt: Mr. Dorrit, Miß Dorrit, Miß Amy Dorrit und Mrs. General; außen saß einer der Diener und (bei schönem Wetter) Edward Dorrit, Esquire, für den der Bock reserviert war. Dann kam der kleine Reisewagen mit Frederick Dorrit, Esquire, und einem leeren Platze für Edward Dorrit, bei schlechtem Wetter. Dann kam der Gepäckwagen mit der übrigen Dienerschaft, dem schweren Gepäck, und soviel er von dem Schmutz und Staub tragen konnte, den die andern Wagen hinter sich ließen.

Diese Wagen schmückten den Hof des Hotels in Martigny, als die Familie von ihrer Bergtour zurückkehrte. Es waren noch andere Wagen vorhanden, da viele Reisende sich unterwegs befanden. Von der zusammengeflickten italienischen Vettura – die wie der Stuhl einer Schaukel von einem italienischen Jahrmarkt aussah, den man auf ein hölzernes Speisenbrett mit Rädern gestellt hat, während sich obendrüber ein zweites hölzernes Speisenbrett ohne Räder befand – bis hinauf zum schöngebauten englischen Wagen. Aber etwas anderes schmückte noch das Hotel, was Mr. Dorrit nicht ausbedungen hatte. – Zwei fremde Reisende nämlich schmückten eines seiner Zimmer.

Der Hotelbesitzer schwor, den Hut in der Hand, dem Kurier, daß er vernichtet, daß er trostlos, daß er tief bekümmert, daß er das elendeste und unglücklichste aller Tiere sei, daß er den Kopf eines hölzernen Schweins habe. Er würde das niemals zugegeben haben, sagte er, aber die feine Dame habe ihn so inständig gebeten, ihr das Zimmer nur für eine kleine halbe Stunde zum Dinieren einzuräumen, daß er sich habe herumbringen lassen. Die kleine halbe Stunde sei vorüber, die Dame und der Herr nehmen ihr kleines Dessert ein und eine halbe Tasse Kaffee, die Rechnung sei bezahlt, die Pferde befohlen, sie würden augenblicklich abreisen; aber ein unglückliches Schicksal und der Fluch des Himmels wolle, daß sie noch nicht fort seien.

Nichts konnte die Entrüstung Mr. Dorrits übersteigen, als er sich am Fuße der Treppe umwandte und diese Entschuldigungen vernahm. Es war ihm, als ob die Würde der Familie von den Händen eines Meuchelmörders getroffen worden. Er hatte ein Gefühl seiner Würde, das von der ausgesuchtesten Art war. Er konnte einen Angriff auf dieselbe entdecken, wo kein Mensch sonst auch nur das geringste merkte. Sein Leben wurde zu einem unaufhörlichen Kampf durch die Masse von Seziermessern, die er beständig mit der Sezierung seiner Würde beschäftigt wähnte.

»Ist es möglich, mein Herr«, sagte Mr. Dorrit tief errötend, »daß (Sie – ha – die Kühnheit gehabt haben, eines von meinen Zimmern zur Verfügung einer andern Person zu stellen?«

Er bitte tausendmal um Entschuldigung. Es sei des Wirtes größtes Unglück, sich von dieser nur allzu vornehmen Dame haben überreden zu lassen. Er bitte Monseigneur nicht ungehalten zu sein. Er verlasse sich auf Monseigneurs Nachsicht. Wenn Monseigneur die ausgezeichnete Gnade haben wollte, den andern besonders für ihn hergerichteten Salon nur für fünf Minuten einzunehmen, so würde alles gut sein.

»Nein, Sir«, sagte Mr. Dorrit, »Ich will gar keinen Salon einnehmen. Ich werde Ihr Haus verlassen, ohne zu essen oder zu trinken oder einen Fuß hineinzusetzen. Wie können Sie es wagen, so zu handeln. Wer bin ich, daß Sie –ha – mich von andern Gentlemen absondern?«

Ach! Der Wirt rief das ganze Weltall zu Zeugen auf, daß Monseigneur der liebenswürdigste Mann des ganzen Adels, der bedeutendste, achtungswerteste und geachtetste Mann sei. Wenn er Monseigneur von andern absondere, so geschehe es bloß, weil er ausgezeichneter, geschätzter, edler und berühmter sei.

»Sagen Sie mir dergleichen nicht ins Gesicht«, versetzte Mr. Dorrit in großer Hitze. »Sie haben mich beleidigt. Sie haben Beschimpfungen auf mich gehäuft. Wie können Sie das wagen? Erklären Sie sich!«

Ach, gerechter Himmel, wie könnte der Wirt sich erklären, da er nichts mehr zu erklären hatte, sondern sich nur noch entschuldigen und sein Vertrauen auf die wohlbekannte Großmut von Monseigneur setzen könnte!

»Ich sage Ihnen, Sir«, versetzte Mr. Dorrit, zitternd vor Zorn, »daß Sie mich von andern Gentlemen absondern; daß Sie Unterschiede zwischen mir und andern Gentlemen von Vermögen und Stellung machen. Ich frage Sie, warum? Ich wünsche zu wissen, mit welchem Recht, mit welchem – ha – Recht? Antworten Sie, mein Herr. Erklären Sie sich. Antworten Sie, warum?«

Der Wirt müsse sich die Freiheit nehmen, dem Herrn Kurier zu bemerken, daß der sonst so gnädige Monseigneur sich ohne Grund ereifere. Es sei keine Ursache vorhanden. Der Herr Kurier möge Monseigneur vorstellen, daß er sich täusche, wenn er glaube, es sei irgendein Grund vorhanden als der, den sein ergebener Diener bereits ihm mitzuteilen die Ehre gehabt. Die außerordentlich vornehme Dame –

»Genug!« rief Mr. Dorrit. »Schweigen Sie. Ich will nichts mehr von dieser außerordentlich vornehmen Dame hören. Sehen Sie diese Familie an – meine Familie – eine vornehmere Familie als irgendwelche Dame. Sie haben diese Familie mit Mißachtung behandelt. Sie waren unverschämt gegen diese Familie. Ich werde Sie ruinieren. Ha – schicken Sie nach den Pferden. Packen Sie die Wagen, ich werde keinen Fuß mehr in dieses Mannes Haus setzen.«

Niemand hatte sich in diesen Streit gemischt, der über die französischen Sprachkräfte Edward Dorrits Esq. ging und kaum im Bereich von denen der Damen lag. Miß Fanny jedoch unterstützte jetzt ihren Vater mit großer Bitterkeit, indem sie in ihrer heimischen Sprache erklärte, daß es ganz klar sei, hinter dieses Mannes Impertinenz laure etwas ganz Bestimmtes; und sie betrachte es für wichtig, daß er durch irgendwelche Mittel gezwungen werde, den Grund anzugeben, weshalb er einen Unterschied zwischen dieser Familie und andern reichen Familien mache. Was die Ursache seiner Vermessenheit sein könne, wisse sie sich nicht zu erklären; aber Gründe müsse er haben und man solle sie aus ihm herauspressen.

Alle Führer, Maultiertreiber und Müßiggänger im Hofe hatten bei der heftigen Verhandlung zugehört und waren sehr verblüfft, als der Kurier nun die Wagen hinauszuschaffen sich mühte. Mit Hilfe von einigen Dutzend Leuten an jedem Rade geschah dies mit großem Geräusch; dann machte man sich wieder ans Aufladen, bis die Pferde vom Posthause kamen.

Da der Wagen der sehr vornehmen englischen Dame bereits angeschirrt an dem Tor des Hotels stand, war der Wirt hinaufgeschlichen, um ihr seinen fatalen Fall mitzuteilen. Dies erfuhr der Hof, indem er jetzt mit dem Herrn und der Dame die Treppe herabkam und auf die beleidigte Majestät von Mr. Dorrit mit einer bezeichnenden Bewegung der Hand hindeutete.

»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte der Herr, indem er sich von der Dame losmachte und näher kam. »Ich bin ein Mann von wenig Worten und habe kein Talent zum Erklären – aber die Dame hier wünscht sehr, daß jeder Spektakel vermieden würde. Die Lady – meine Mutter – wünscht wegen des Vorgefallenen, daß ich sagen soll, sie hoffe, es werde keinen Spektakel geben.«

Mr. Dorrit, der im Gefühle der Kränkung noch immer zitterte, grüßte den Herrn und die Dame in einer sehr fremden, abweisenden unnahbaren Weise.

»Nein, aber wahrhaftig – hier, alter Junge; Sie!« Das war die Art des jungen Mannes, wie er sich an Edward Dorrit Esquire wandte, den er als einen großen, von der Vorsehung ihm zugesandten Befreier aus der Verlegenheit packte. »Wir zwei wollen die Sache miteinander zurechtlegen. Die Dame wünscht so sehr, daß es keinen Spektakel gebe.«

Edward Dorrit Esquire, der am Knopf etwas auf die Seite gezogen worden, nahm einen diplomatischen Gesichtsausdruck an, indem er antwortete: »Sie müssen doch gestehen, wenn Sie eine Partie Zimmer vorausbestellen lassen und dieselben Ihnen gehören, es nicht angenehm ist, andre Leute in denselben zu finden.«

»Ja«, sagte der andre, »allerdings. Ich gebe es zu. Wir zwei wollen die Sache jedoch miteinander zurechtlegen und den Spektakel vermeiden. Der Fehler liegt durchaus nicht an diesem Laffen, sondern an meiner Mutter. Eine sehr feine Frau, die bei Gott keinen Unsinn an sich hat – und sehr gebildet – sie war zuviel für diesen Laffen. Steckte ihn förmlich in die Tasche.«

»Wenn das der Fall –« begann Edward Dorrit Esquire.

»Ich versichere Sie, auf Ehre, das ist der Fall. Warum deshalb«, sagte der andere, seine frühere gewichtige Stellung wieder einnehmend, »warum Spektakel?«

»Edmund«, sagte die Dame vom Tor aus, »ich hoffe, du hast zur Beruhigung des Herrn und seiner Familie erklärt, daß dieser höfliche Wirt keinen Tadel verdient?«

»Versichere Sie, Madame«, versetzte Edmund, »ich werde ganz lahm vor Anstrengung.« Dann sah er Edward Dorrit Esquire einige Sekunden lang an und fügte mit einem Ausbruch von Vertraulichkeit hinzu: »Alter Junge! Ist jetzt alles in Ordnung?«

»Ich glaube«, sagte die Dame, anmutig einen Schritt oder zwei auf Mr. Dorrit zuschreitend, »es ist besser, wenn ich selbst sage, daß ich diesen Mann versicherte, ich werde alle Folgen auf mich nehmen, die daraus entstehen könnten, daß ich eines von den Zimmern eines Fremden, während seiner Abwesenheit, für die lange (oder kurze) Dauer meines Diners in Beschlag nahm. Ich hatte keine Ahnung, daß der rechtmäßige Inhaber dieser Zimmer so bald zurückkommen würde. Auch hatte ich keine Ahnung, daß er schon angekommen, sonst würde ich mich beeilt haben, mein mit Unrecht in Beschlag genommenes Zimmer zurückzugeben und mich zu erklären und zu entschuldigen. Ich glaube, indem ich dies sage –«

Einen Augenblick lang stand die Dame mit dem Glas an dem Auge betroffen und sprachlos vor den beiden Miß Dorrit. In diesem Augenblick hielt Miß Fanny im Vordergrund einer großen malerischen Stellung, die die Familie, die Familienwagen und die Familiendiener bildeten, ihre Schwester fest unter dem Arm, um sie an Ort und Stelle zu fesseln, und mit dem andern Arm fächelte sie sich mit stolzer Miene und betrachtete die Dame nachlässig von Kopf bis zu Fuß.

Die Dame, die sich rasch wieder faßte – denn es war Mrs. Merdle, die nicht leicht aus der Fassung zu bringen war – fügte nun hinzu, sie glaube, indem sie dies sage, ihre Kühnheit zu entschuldigen und diesen gebildeten Wirt wieder in den Besitz der Gunst zu setzen, die ihm von so hohem Wert sei. Mr. Dorrit, auf dessen Altar all dies eitel Weihrauch war, gab eine gnädige Antwort und sagte, seine Leute sollten – ha – seine Pferde wieder abbestellen, – er wolle – hm – über das hinwegsehen, was er anfangs für eine Beleidigung gehalten, jetzt aber für eine Ehre ansehe. Daraufhin neigte sich der Busen vor ihm; und die Besitzerin warf mit einer wundervollen Beherrschung ihrer Züge den beiden Schwestern, als jungen Damen von Vermögen, für die sie sehr eingenommen war und die sie nie zuvor das Glück gehabt zu sehen, ein gewinnendes Lächeln zum Abschied zu.

Anders benahm sich Mr. Sparkler. Dieser junge Mann, dessen Blicke zu gleicher Zeit wie die seiner Lady-Mutter gefesselt wurden, konnte sich um keinen Preis wieder von den Fesseln losmachen, sondern starrte unverwandt auf die ganze Gesellschaft mit Miß Fanny im Vordergrund. Als seine Mutter sagte: »Edmund, wir sind nun fertig: gib mir deinen Arm«; schien er, nach der Bewegung seiner Lippen, mit einer Bemerkung zu antworten, die ungefähr die Worte enthielt, in denen seine glänzenden Talente sich zumeist äußerten, aber er entspannte keinen Muskel. So steif und starr war seine Gestalt, daß es schwierig gewesen wäre, ihn hinlänglich zu beugen, um ihn in die Wagentür zu bringen, wenn er nicht von drinnen zu rechter Zeit eine mütterlichen Ruck bekommen hätte. Er war kaum im Wagen, als das Kissen an dem kleinen Fenster hinten verschwand und sein Auge den Platz desselben beschlagnahmte. Dort blieb es so lange, als man einen so kleinen Gegenstand unterscheiden konnte, und wahrscheinlich noch weit länger, und starrte (wie wenn einem Stockfisch etwas unaussprechlich Überraschendes begegnet), einem schlechtgemalten Auge in einem großen Armband ähnlich, in die Ferne.

Diese Begegnung war für Miß Fanny so angenehm, und sie dachte später so viel mit wahrer Siegesfreude daran, daß ihre Härten sich außerordentlich milderten. Als die Prozession am nächsten Tag wieder im Gange war, nahm sie ihren Platz in derselben mit einer ihr sonst fremden Heiterkeit ein und zeigte wirklich eine so glückliche Laune, daß Mrs. General ziemlich überrascht aussah.

Klein-Dorrit war froh, daß man keinen Fehler an ihr fand und daß Fanny heiter war: ihr Teil an der Prozession war jedoch ein stilles sinnendes Träumen. Wenn sie so ihrem Vater in dem Reisewagen gegenübersaß und an das alte Zimmer im Marschallgefängnis dachte, so erschien ihr das gegenwärtige Leben wie ein Traum. Alles, was sie sah, war neu und herrlich, aber es war nicht wirklich. Es war ihr, als wenn diese Visionen von Bergen und malerischen Gegenden jeden Augenblick verschwinden und der Wagen, plötzlich um eine Ecke biegend, mit einem Stoß vor dem alten Gefängnistor stehen könnte.

Nichts zu arbeiten zu haben war seltsam, aber nicht halb so seltsam, als in einer Ecke zu sitzen, wo sie für niemanden zu denken, nichts auszusinnen und auszurichten, keine Sorgen von andern auf sich zu übernehmen hatte. Seltsam wie das war, war es doch noch weit seltsamer, einen Raum zwischen sich und dem Vater zu sehen, wo andere sich damit beschäftigten, für ihn zu sorgen und wo man sie gar nicht erwartete. Anfangs war dies mit ihrer alten Erfahrung so widerstreitend, mehr noch als die Berge, daß sie außerstande gewesen war, darauf zu verzichten, und versucht hatte, ihren alten Platz neben ihm zu behaupten. Aber er hatte allein mit ihr gesprochen und ihr gesagt: daß Leute – ha – Leute in einer höheren Stellung ängstlich gewissenhaft von ihren Untergebenen Respekt verlangen müßten; und daß es für sie, seine Tochter, Miß Amy Dorrit, von der einzig noch existierenden Linie der Dorrits von Dorsetshire, unvereinbar mit jener Stellung wäre, dafür zu gelten, daß sie die Funktionen – ha – eines Kammerdieners versehe. Deshalb müsse er ihr seine väterliche – hm – streng verschärfte Mahnung erteilen, sich zu erinnern, daß sie eine Dame, die sich nun mit – hm – dem gebührenden Stolz zu benehmen und den Rang einer Dame aufrechtzuerhalten habe. Deshalb fordre er von ihr, daß sie sich solchen Tuns enthalte – ha –, das unangenehme und nachteilige Bemerkungen hervorrufen könnte. Sie hatte ohne Murren auf sein Wort gehorcht. Es war dahin gekommen, daß sie jetzt in einer Ecke des üppigen Wagens, die kleinen Hände vor sich faltend, saß, selbst von dem äußersten Punkt ihres früheren Platzes weggerückt, den ihr Fuß aufzugeben lange gezögert hatte.

Von dieser Stellung aus erschien ihr alles, was sie sah, traumhaft! je überraschender die Szenen, desto mehr glichen sie der Traumhaftigkeit ihres eignen innern Lebens, durch dessen öde Räume sie den ganzen Tag schritt. Die Abgründe des Simplon, seine ungeheuren Tiefen und donnernden Wasserfälle, der herrliche Weg, die gefährlichen Punkte, wo ein loses Rad oder ein strauchelndes Pferd den Untergang brachte, das Hinabsteigen nach Italien, das Aufgehen des schönen Landes, als die rauhe Bergschlucht sich erweiterte und sie aus dem düstern und dunkeln Gefängnis herausließ – alles war ein Traum – nur das alte elende Marschallgefängnis eine Wirklichkeit. Ja, selbst das alte elende Marschallgefängnis war bis auf den Grund niedergerissen, wenn sie es sich ohne ihren Vater malte. Sie konnte kaum glauben, daß die Gefangenen noch in dem engen Hofe weilten, daß die elenden Räume noch immer alle besetzt waren und daß der Schließer noch immer in dem Pförtnerstübchen stehe und die Leute aus- und einlasse – alles, wie sie wohl wußte, daß es noch war.

Mit einer Erinnerung an ihres Vaters altes Leben im Gefängnis, die schwer wie eine traurige Weise auf ihr lastete, erwachte Klein-Dorrit gewöhnlich aus einem Traum von ihrem Geburtsort zu dem Traum eines ganzen Tages. Das gemalte Zimmer, in dem sie erwachte, oft ein ehemaliges Prunkzimmer in einem verfallenen Palaste, eröffnete diesen Traum; wildes rotes Herbstweinlaub hing über die Fenster herab, Orangenbäume standen auf der zerrissenen weißen Terrasse vor dem Fenster, eine Gruppe von Mönchen und Bauern ging durch die Straße einher. Elend und Pracht stritten sich auf jedem Fleck Erde, gleichviel unter welcher Gestalt, rings umher um den Vorrang, und das Elend warf die Pracht mit der Stärke des Schicksals zu Boden. Diesem Eingang folgte ein Labyrinth von kahlen Gängen und pfeilertragenden Galerien, während die Familienprozession sich bereits in dem viereckigen Hof zur Abfahrt rüstete, nachdem die Wagen und das Gepäck für die Tagreise von den Dienern zusammengebracht worden. Dann das Frühstück in einem andern gemalten Zimmer, mit feuchten Flecken und von traurigem Aussehen; und dann die Abreise, die für ihre Schüchternheit und das Gefühl, nicht vornehm genug für ihren Platz bei den Zeremonien zu sein, immer eine unbehagliche Sache war. Denn dann erschien der Kurier (der ein Fremder von hoher Auszeichnung im Marschallgefängnis gewesen wäre), um anzuzeigen, daß alles in Bereitschaft sei. Dann hüllte ihres Vaters Kammerdiener ihn mit großem Pomp in seinen Reiserock; dann bedienten sie Fannys Mädchen und ihr eigenes Mädchen (die für Klein-Dorrit eine schwere Last war, sie weinte anfangs über sie, da sie gar nicht wußte, was mit ihr anfangen); dann vollendete ihres Bruders Diener den Anzug seines Herrn; dann gab ihr Vater Mrs. General den Arm, und ihr Onkel gab ihr den seinen, und begleitet von dem Wirt und der Dienerschaft des Hotels rauschten sie die Treppe hinab. Dort war gewöhnlich eine Masse Menschen versammelt, um sie einsteigen zu sehen, was sie dann auch unter vielem Verbeugen, Bitten, Pferdebäumen, Knallen und Knarren taten; und dann ging’s toll durch die engen, übelriechenden Straßen und zum Stadttor hinaus.

Unter den Traumerscheinungen des Tages waren gewöhnlich Wege, wo das glänzend rote Weinlaub sich wie Girlanden meilenlang an den Bäumen hinzog: Olivenwälder, weiße Dörfer und Städte an Hügel gelehnt, lieblich von außen, aber schrecklich in ihrem Schmutz und ihrer Armut im Innern; Kreuze am Wege; tiefblaue Seen mit schönen Inseln und Gruppen von Booten mit Zelten von glänzenden Farben und Segeln von schönen Formen; massenhafte Gebäude, die in Staub zerfielen; hängende Gärten, wo das wuchernde Gestrüpp so stark geworden, daß seine Stämme wie eingetriebene Keile die Bogen gesprengt und die Mauer zerrissen hatten; steinerne terrassenförmige Gänge, wo die Eidechsen in und aus allen Ritzen krochen; Bettler von allen Arten und überall; bemitleidenswert, malerisch, hungrig, lustig; Bettelkinder und alte Bettler. Oft erschienen ihr an Posthäusern und andern Haltplätzen diese elenden Geschöpfe das einzige Wirkliche des Tages, und manchmal, wenn das Geld, das sie mitgebracht hatten, um es ihnen zu geben, alles verschenkt war, saß sie mit gefalteten Händen gedankenvoll da, nach einem winzig kleinen Mädchen hinblickend, das seinen greisen Vater führte, als wenn dieser Anblick sie an etwas aus längst vergangenen Tagen erinnerte.

Dann gab es wieder Orte, wo sie die ganze Woche in glänzenden Zimmern zusammenwohnten, jeden Tag Gastmähler hatten, unter Haufen von Wundern ausfuhren, zwischen Meilen von Palästen hingingen und in dunkeln Winkeln von großen Kirchen weilten; wo es blinkende Lampen von Gold und Silber zwischen Pfeilern und Bogen gab, kniende Gestalten in der Nähe von Beichtstühlen und auf dem Pflaster umherschwärmten: wo Dampf und Geruch von Weihrauch webte: wo man Gemälde, phantastische Bilder, festlich geschmückte Altäre, große Höhen und Entfernungen sah, alles durch buntes Glas sanft beleuchtet und die massiven Vorhänge, die an den Türen hingen. Von den Städten kamen sie wieder auf Wegen mit Wein und Oliven durch schmutzige Dörfer, wo keine Hütte war ohne ein Loch in der trüben Wand, kein Fenster mit einem ganzen Zoll Glas oder Papier; wo nichts zu sein schien, was das Leben erträglich machte, nichts zu essen, nichts zu tun, nichts zu schaffen, nichts zu hoffen, wo man nichts tun konnte als sterben.

Dann kamen sie wieder in ganze Städte von Palästen, deren rechtmäßige Einwohner alle verbannt, und die alle in Kasernen verwandelt waren; Scharen von müßigen Soldaten lehnten aus den Staatsfenstern, wo ihre Ausrüstung an der marmornen Architektur zum Trocknen aufgehängt war. Die Soldaten sahen wie Heere von Ratten aus, die (glücklicherweise) die Stützen der Gebäude wegfraßen, die bald mit ihnen über die Häupter der andern Schwärme von Soldaten, und der Schwärme von Priestern, und der Schwärme von Spionen noch, die die unheimliche Bevölkerung bildeten und sich, dem Untergang verfallen, in den Straßen unten umhertrieben, hereinbrechen mußten.

Durch solche Szenen bewegte sich die Reisegesellschaft bis nach Venedig. Hier zerstreute sie sich für einige Zeit, da sie in Venedig einige Monate bleiben wollte, in einem Palast (der sechsmal so groß war wie das ganze Marschallgebäude) am Canal Grande.

In diesem alles Frühere krönenden Traum, wo alle Straßen mit Wasser gepflastert waren und die Totenstille bei Tag und Nacht nur durch das dumpfe Läuten der Kirchenglocken, das Rauschen des Wassers und den Ruf der Gondoliere unterbrochen wurde, die um die Ecken der fließenden Straßen bogen, saß Klein-Dorrit, ganz in Gedanken versunken, da ihre Arbeit getan war, und sinnend da. Die Familie begann ein heiteres Leben, ging da und dorthin und verwandelte Nacht in Tag; aber sie scheute sich, an ihren Freuden teilzunehmen, und verlangte nur, allein bleiben zu dürfen.

Bisweilen stieg sie auch in eine der Gondeln, die immer in Bereitschaft standen und an gemalte Pfosten vor der Tür angelegt waren, – wenn sie sich von der aufdringlichen Bedienung ihres Kammermädchens, die mehr ihre Herrin, und zwar eine sehr harte, war, losmachen konnte – und ließ sich durch die ganze seltsame Stadt fahren. Gesellschaften in andern Gondeln begannen einander zu fragen, wer das kleine einsame Mädchen sei, an dem sie vorüberkamen, und das mit gefalteten Händen in ihrem Boote sitze und so nachdenklich und staunend umherblicke. Nicht entfernt ahnend, daß es irgend jemand für der Mühe wert halte, von ihrem Tun Notiz zu nehmen fuhr Klein-Dorrit in ihrer ruhigen, schüchternen, in sich gekehrten Weise in der Stadt umher. Aber ihr Lieblingsplätzchen war der Balkon ihres Zimmers, der auf den Kanal hinausging, mit andern Balkonen darunter und keinem darüber. Er war massiv von Stein, durch die Zeit geschwärzt und von jener wunderlich phantastischen Bauart, die vom Osten mit andern wunderlich phantastischen Dingen herüberkam; und Klein-Dorrit sah wirklich sehr klein aus, wenn sie sich über das breite Geländer hinauslehnte und hinabschaute. Da sie namentlich abends keinen Ort so sehr liebte wie den Balkon, so fiel sie bald auf, und manche Augen in den vorüberfahrendcn Gondeln erhoben sich zu ihr und manche Leute sagten: »Da ist wieder die kleine Gestalt der jungen Engländerin, die immer allein ist.«

Solche Leute waren für die kleine Gestalt der jungen Engländerin keine wirklichen Personen; sie waren ihr ja alle unbekannt. Sie beobachtete den Sonnenuntergang mit seinen langen purpurnen und roten Linien, seinem Flammenbrand, der hoch in die Wolken schlug und die Gebäude mit solcher Glut, ihre Struktur mit solchem Licht übergoß, daß es aussah, als wenn die dicken Wände durchsichtig und von innen erhellt wären. Sie sah, wie diese Pracht unterging; und dann, wenn sie einige Zeit auf die schwarzen Gondeln unten hinabgeblickt, die Gäste zu Musik und Tanz führten, erhob sie die Augen zu den leuchtenden Sternen. War nicht in ihrem eignen früheren Leben eine Gesellschaft, auf die die Sterne schienen? Oh, an jenes alte Tor jetzt zu denken!

Sie dachte dann gewöhnlich an jenes alte Tor, und wie sie dort gesessen in der Totenstille der Nacht, Maggys Haupt als Kopfkissen dienend; und an andre Plätze und andre Szenen, deren Erinnerung sich an jene vergangene Zeiten knüpfte. Und dann lehnte sie sich an den Balkon und sah darüber hinaus auf das Wasser, als wenn das alles unten vor ihr läge. Wenn sie so weit gekommen, schaute sie sinnend auf die Strömung, als wenn sie, in der allgemeinen Vision, austrocknen und ihr das Gefängnis und sie selbst und das alte Zimmer und die alten Insassen und die alten Besuche zeigen würde: lauter dauernde Wirklichkeiten, die sich nicht verändert hatten.

Dreißigstes Kapitel.


Dreißigstes Kapitel.

Abschließen.

Der letzte Tag der erwähnten Woche beschien die Riegel des Marschallgefängnistores. Die eisernen Bänder, die die ganze Nacht, seit das Tor hinter Klein-Dorrit ins Schloß gefallen war, schwarz ausgesehen, verwandelten sich im Glanze der frühen Morgensonne in goldene Bänder. Quer über die Stadt, über ihre wirren Dächer, durch die offene Ornamentik ihrer Kirchtürme schlugen die langen glänzenden Sonnenstrahlen die Riegel des Gefängnisses dieser niederen Welt.

Den ganzen Tag blieb das alte Haus hinter dem Torweg von Besuchen verschont. Als die Sonne jedoch herabsank, traten drei Männer in den Torweg und schritten auf das verwitterte Haus zu.

Rigaud war der erste und ging rauchend allein. Mr. Baptist war der zweite und schlenderte, nicht rechts, nicht links blickend, hinter ihm drein. Mr. Pancks war der dritte; er trug seinen Hut unter dem Arm, um sein starres Haar frei emporstehen zu lassen, da das Wetter außerordentlich heiß war. Sie kamen alle an der Haustreppe zusammen.

»Ihr beiden Verrückten!« sagte Rigaud, indem er sich umsah. »Geht noch nicht!«

»Das ist auch nicht unsere Absicht«, sagte Mr. Pancks.

Rigaud pochte laut, indem er ihm einen finstern Blick als Anerkennung seiner Antwort zuwarf. Er hatte sich etwas angetrunken, um sein Spiel auszuspielen, und harrte ungeduldig auf den Beginn. Er hatte kaum einmal gepocht, daß es lang nachtönte, als er wieder nach dem Klöpfel griff und zum zweitenmal pochte. Dies war noch nicht zu Ende, als Jeremiah Flintwinch die Tür öffnete und sie alle in die steinerne Halle hineinstürmten. Rigaud stieß Mr. Flintwinch auf die Seite und eilte die Treppe hinauf. Seine beiden Gefährten folgten ihm, Mr. Flintwinch diesen, und zuletzt traten sie alle hastig in das stille Zimmer von Mrs. Clennam. Es befand sich in seinem gewöhnlichen Zustand, nur daß eines von den Fenstern weit offen war. Affery saß auf ihrem altvaterischen Fenstersitz und stopfte einen Strumpf. Die gewöhnlichen Gegenstände befanden sich auf dem kleinen Tisch: das gewöhnliche herabgebrannte Feuer flackerte auf dem Kaminrost; auf dem Bette lag das gewöhnliche Bahrtuch: und die Herrin von alledem saß auf ihrem schwarzen bahrenartigen Sofa und stützte sich auf das schwarze eckige Polster, das wie der Block des Henkers aussah.

Und doch war eine unbeschreiblich eigentümliche Luft in dem Zimmer, als wenn sie für eine besondere Gelegenheit gespannt wäre. Woher das kam – da jeder kleine Gegenstand den Platz einnahm, den er seit Jahren eingenommen – konnte niemand sagen, wenn er die Herrin nicht aufmerksam beobachtet hätte, und zwar überdies ausgerüstet mit einer genauen Kenntnis des Gesichts, wie es früher war. Obgleich ihr unveränderliches schwarzes Kleid in jeder Falte noch wie früher lag und ihre unveränderliche Haltung streng beibehalten war, trat ein neuer, an sich unbedeutender Zug in ihrem Gesicht und eine Zusammenziehung der düstern Stirn so scharf hervor, daß dieser Ausdruck sich gleichsam der ganzen Umgebung mitteilte.

»Wer ist das?« sagte sie erstaunt, als die beiden Gefährten eintraten. »Was wollen diese Leute hier?«

»Wer dies sei, verehrte Frau?« versetzte Rigaud. »Nun, das sind Freunde Ihres gefangensitzenden Sohnes. Und was sie wollen, fragen Sie? Zum Teufel, Madame, ich weiß es nicht. Sie werden am besten tun, wenn Sie sie fragen.«

»Sie wissen, Sie sagten uns an der Tür unten, wir sollten noch nicht gehen«, warf Pancks ein.

»Und Sie wissen, Sie sagten mir an der Tür, es sei auch nicht Ihre Absicht zu gehen«, versetzte Rigaud. »Mit einem Worte, Madame, erlauben Sie mir, Ihnen zwei Spione des Gefangenen – verrückte Menschen, aber Spione – vorzustellen. Wenn Sie wünschen, daß sie während unserer kurzen Verhandlung hierbleiben sollen, so sagen Sie es. Es gilt mir gleich.«

»Warum sollte ich wünschen, daß sie hierbleiben?« sagte Mrs. Clennam. »Was habe ich mit ihnen zu schaffen?«

»Dann, teuerste Frau«, sagte Rigaud, indem er so schwer in einen Armstuhl niederfiel, daß das alte Zimmer zitterte, »dann werden Sie gut daran tun, wenn Sie sie entlassen. Es ist Ihre Sache. Sie sind nicht meine Spione, nicht meine Spitzbuben.«

»Hören Sie, Mr. Pancks«, sagte Mrs. Clennam, indem sie zornig die Augenbrauen gegen ihn senkte. »Sie Buchhalter von Casby! Gehen Sie Ihres Prinzipals und Ihren eigenen Geschäften nach. Gehen Sie. Und nehmen Sie den andern Mann mit sich.«

»Danke, Madame«, versetzte Mr. Pancks, »ich freue mich, sagen zu können, ich finde kein Hindernis für unsern Weggang mehr. Wir haben getan, was wir für Mr. Clennam zu tun uns verpflichteten. Seine beständige Sorge (die ihn noch mehr drückte, als er Gefangener wurde) war die, daß dieser angenehme Mensch hierhergebracht werde, an den Ort, von dem er verschwunden ist. Hier ist er nun – wir haben ihn zurückgebracht. Und ich sage es ihm in sein häßliches Gesicht«, fügte Mr. Pancks hinzu, »daß meiner Ansicht nach die Welt ebensogut bestehen könnte, wenn er ganz aus ihr verschwände.«

»Sie werden nicht nach Ihrer Ansicht gefragt«, antwortete Mrs. Clennam. »Gehen Sie.«

»Ich bedauere, Sie nicht in besserer Gesellschaft lassen zu können«, sagte Pancks, »und bedauere außerdem, daß Mr. Clennam nicht zugegen sein kann. Es ist meine Schuld, daß dies der Fall ist.«

»Sie meinen, seine eigene?« versetzte sie.

»Nein, ich meine, die meinige, Madame«, sagte Pancks, »denn es war mein Unglück, daß ich ihn zu dieser verderblichen Geldanlage veranlaßte.« (Mr. Clennam hielt immer noch an diesem Worte fest und sagte nie Spekulation.) »Obgleich ich durch Zahlen beweisen kann«, fügte Mr. Pancks mit kummervollem Ausdruck des Gesichts hinzu, »daß es eigentlich aller Berechnung nach eine günstige Geldanlage hätte sein sollen. Ich habe die Sache, seitdem sie fehlgeschlagen ist, Tag für Tag berechnet und wieder berechnet, und sie geht immer – als Zahlenfrage betrachtet – siegreich aus der Berechnung hervor. Hier ist nicht Zeit und Ort«, fuhr Mr. Pancks mit einem sehnsüchtigen Blick in seinen Hut fort, in dem seine Berechnungen lagen, »um auf Zahlen einzugehen, aber die Zahlen lassen sich nicht bestreiten. Mr. Clennam müßte jetzt in seinem Wagen mit zwei Pferden sitzen, und ich müßte drei- bis fünftausend Pfund verdient haben.«

Mr. Pancks strich sein Haar mit einem Ausdruck der Zuversichtlichkeit, der kaum hätte intensiver sein können, wenn er jenes Geld in der Tasche gehabt hätte, in die Höhe. Diese unwiderleglichen Zahlen waren die Beschäftigung jedes freien Augenblicks gewesen, seit er sein Geld verloren, und sollten ihn bis an das Ende seiner Tage trösten.

»Genug jedoch davon«, sagte Mr. Pancks. »Altro, alter Junge. Sie haben die Zahlen gesehen und Sie wissen, wie sie herauskommen.« Mr. Baptist, der nicht das geringste Rechentalent besaß, sich in solcher Weise zu entschädigen, nickte und zeigte, dabei die glänzendsten Zähne.

Mr. Flintwinch hatte ihn inzwischen angesehen und sagte jetzt zu ihm:

»Oh! Sind Sie es? Ich dachte, ich erinnerte mich Ihres Gesichts, aber ich war meiner Sache nicht gewiß, bis ich Ihre Zähne sah. Ah! ja, Sie sind’s. Dieser dienstfertige Flüchtling war es«, sagte Jeremiah zu Mrs. Clennam, »der an die Tür pochte in der Nacht, als Arthur und Chatterbox hier waren, und der einen ganzen Katechismus von Fragen wegen Mr. Blandois an mich richtete.«

»Das ist wahr«, bestätigte Baptist freundlich. »Und sehen Sie nun, Padron! Ich habe ihn daraufhin wirklich gefunden.«

»Ich hätte nichts dagegen gehabt«, versetzte Mr. Flintwinch, »wenn Sie daraufhin wirklich den Hals gebrochen hätten.« »Und jetzt«, sagte Mr. Pancks, dessen Auge oft verstohlen nach dem Fenstersitz und dem Strumpf hinübergeblickt hatte, der dort gestopft wurde, »jetzt habe ich nur ein Wort zu sagen, ehe ich gehe. Wenn Mr. Clennam hier wäre – aber unglücklicherweise, obgleich er diesem Herrn so weit zuvorgekommen, daß er ihn wider Willen an diesen Ort schaffte, ist er krank und im Gefängnis – krank und im Gefängnis, der arme Junge – wenn er hier wäre«, sagte Mr. Pancks, indem er einen Schritt seitwärts nach dem Fenstersitz machte und seine rechte Hand auf den Strumpf legte, »würde er sagen: ›Affery, erzählen Sie Ihre Träume!‹«

Mr. Pancks hielt seinen rechten Zeigefinger zwischen seine Nase und den Strumpf, mit dem gespenstischen Ausdruck der Mahnung, drehte sich um, dampfte hinaus und nahm Mr. Baptist ins Schlepptau. Man hörte die Haustür hinter ihnen ins Schloß fallen, hörte ihre Tritte auf dem dumpfen Pflaster des hallenden Hofes, und noch hatte niemand ein Wort gesprochen, Mrs. Clennam und Jeremiah hatten einen Blick gewechselt und sahen dann unverrückt auf Affery, die eifrig mit dem Stopfen des Strumpfes beschäftigt dasaß.

»Nun!« sagte Mr. Flintwinch endlich, indem er sich um ein bis zwei Kurven nach dem Fenstersitz zu höherschraubte und sich die Hände an seinem Frackflügel rieb, als wenn er sich etwas mit ihnen zu unternehmen rüstete: »Es wäre besser, wenn wir mit dem, was unter uns zu verhandeln ist, sogleich begännen, ohne weiter Zeit zu verlieren. Affery, Frau, mache, daß du fortkommst!«

In einem Augenblick hatte Affery den Strumpf beiseite gelegt, war aufgesprungen, hatte die Fensterbank mit der rechten Hand angefaßt, das rechte Knie auf den Fenstersitz gestemmt und schwang nun die linke Hand, um den erwarteten Angriff abzuwehren.

»Nein, ich will nicht, Jeremiah – nein, ich will nicht – nein, ich will nicht! Ich will nicht gehen, ich will hierbleiben. Ich will alles hören, was ich noch nicht weiß, und alles sagen, was ich weiß. Ich will’s, wenn ich darum stürbe! Ich will’s, ich will’s, ich will’s, ich will’s!«

Mr. Flintwinch, der vor Staunen und Entrüstung ganz starr war, befeuchtete die Finger der einen Hand an seinen Lippen, beschrieb mit ihnen einen Kreis im Innern der andern Hand und bewegte sich mit einem drohenden Grinsen auf seine Frau zu, indem er eine Bemerkung hervorjapste, von der in seinem heftigen Zorn nur die Worte: »Solch eine Dosis!« vernehmbar waren.

»Nicht einen Schritt näher, Jeremiah!« rief Affery, die nicht aufhörte, in der Luft umherzufahren. »Nicht einen Schritt näher, oder ich rufe die Nachbarschaft herbei! Ich springe zum Fenster hinaus! Ich schreie Feuer und Mord! Ich wecke die Toten auf! Bleib, wo du bist, oder ich schreie so laut, daß die Toten aufwachen!«

Die entschiedene Stimme von Mrs. Clennam rief: »Halt!« Jeremiah hatte bereits innegehalten. »Es ist gut, Flintwinch. Lassen Sie sie gehen. Affery, empörst du dich nach so vielen Jahren gegen mich!«

»Ja, wenn das Empörung heißt, zu hören, was ich nicht weiß, und zu sagen, was ich weiß. Ich habe nun einmal begonnen und kann nicht zurückgehen. Ich bin entschlossen, die Sache durchzuführen. Ich will es durchführen, ich will, ich will, ich will! Wenn das Empörung heißt, ja: ich empöre mich gegen die beiden Gescheiten. Ich sagte Arthur, als er in die Heimat zurückkehrte, er solle gegen Sie auftreten. Ich sagte ihm, wenn ich mich meines Lebens bei Ihnen fürchte, so sei das kein Grund für ihn. Alle möglichen Dinge sind seitdem geschehen, und ich will nicht, daß mich Jeremiah zu Boden schmettert, noch die Augen mir ausreißt, noch mich schreckt, noch mich zu irgend etwas mißbraucht. Ich will es nicht, ich will es nicht, ich will es nicht! Ich will für Arthur auftreten, solange er nichts hat und krank ist und gefangensitzt und nicht selbst für sich eintreten kann. Ich will, ich will, ich will, ich will!«

»Wie kannst du wissen, du Haufen von Konfusion«, fragte Mrs. Clennam streng, »daß du durch die Art, wie du verfährst, Arthur auch wirklich dienst?«

»Ich weiß nichts ganz gewiß«, sagte Affery; »und wenn Sie je ein wahres Wort in Ihrem ganzen Leben gesprochen, so ist es das, daß Sie mich einen Haufen Konfusion heißen, denn Sie beide Gescheite haben Ihr möglichstes getan, um mich dazu zu machen. Sie haben mich verheiratet, ob ich wollte oder nicht, und haben mich recht hübsch seit dieser Zeit in einem Traum und in einer Furcht erhalten, wie solche bis jetzt unerhört war. Was können Sie anderes von mir erwarten, als daß ich ein Haufen Konfusion bin? Sie wollten mich zu einem solchen machen, und es ist Ihnen gelungen; aber ich will nicht länger die Unterwürfige spielen; nein, ich will nicht, ich will nicht, ich will nicht, ich will nicht!« Sie schlug immer noch in der Luft herum, um jede Annäherung unmöglich zu machen.

Nachdem sie sie schweigend angesehen hatte, wandte sich Mrs. Clennam an Rigaud. »Sie sehen und hören dieses törichte Geschöpf. Haben Sie etwas dagegen, daß eine solche verwirrte Person bleibt, wo sie ist?«

»Ich, Madame?« versetzte er. »Ich? Das ist Ihre Sache.«

»Ich habe nichts dagegen«, sagte sie finster. »Es bleibt wenig anderes übrig. Flintwinch, die Sache drängt.«

Mr. Flintwinch antwortete, indem er einen Blick furchtbarer Rache auf seine Frau warf und, wie um sich zu halten, damit er nicht auf sie losfahre, seine verschränkten Arme in die Brust seiner Weste steckte und, sein Kinn ganz nahe an den Ellbogen, in einer Ecke stand, indem er Rigaud so in der wunderlichsten Stellung beobachtete. Rigaud dagegen stand auf aus seinem Stuhl und setzte sich auf den Tisch, indem er die Füße baumeln ließ. In dieser bequemen Stellung sah er in Mrs. Clennams gesetztes Gesicht, während sein Bart sich bäumte und seine Nase darüber herabkam. »Madame, ich bin ein Gentleman –«

»Von dem«, unterbrach sie ihn in ihrem gemessenen Ton, »von dem ich entehrende Dinge wie Gefangenschaft in Frankreich und Anklage auf Mord vernommen.«

Er warf ihr mit übertriebener Galanterie eine Kußhand zu. »Ganz richtig. Genau so war es. Und noch dazu an einer Dame! Welche Abgeschmacktheit! Wie unglaublich! Ich hatte damals die Ehre, mich großen Erfolgs rühmen zu können: ich hoffe, daß dies jetzt wieder der Fall sein wird. Ich küsse Ihnen die Hand, Madame. Ich bin ein Gentleman (wollt‘ ich bemerken), der, wenn er sagt: ›Ich will diese oder jene Angelegenheit in dieser Sitzung zum Abschluß bringen‹, sie auch wirklich zum Abschluß bringt. Ich erkläre Ihnen, daß wir heute unsere letzte Sitzung wegen unseres kleinen Geschäfts halten. Sie haben doch die Güte, meinen Worten zu folgen und zu begreifen?«

Sie heftete ihre Augen auf ihn, während sich ihre Stirn runzelte, und sagte: »Ja«.

»Ferner bin ich ein Gentleman, der mit dem rein kaufmännischen Geschäftsbetrieb nicht vertraut ist, der aber immerhin Sinn für das Geld hat, da es ihm die Mittel bietet, sich Vergnügen zu verschaffen. Sie haben doch die Güte, meinen Worten zu folgen und zu begreifen?«

»Kaum nötig zu fragen, möchte man sagen. Ja.«

»Ferner bin ich ein Gentleman von der sanftesten und zartesten Gemütsart, der jedoch, wenn man seinen Spaß mit ihm treiben will, wütend wird. Edle Naturen werden in solchen Fällen immer wütend. Ich besitze eine edle Natur. Wenn der Löwe gereizt ist – das heißt, wenn ich wütend werde –, so liegt mir die Befriedigung meines Rachedurstes so sehr am Herzen wie das Geld. Sie haben doch die Güte, meinen Worten zu folgen und zu begreifen?«

»Ja«, antwortete sie etwas lauter als früher.

»Lassen Sie sich nicht durch mich aus Ihrer Ruhe bringen, bitte, verhalten Sie sich ganz ruhig. Ich sagte, wir seien jetzt zu unserer letzten Sitzung gekommen. Erlauben Sie mir, die beiden früheren Sitzungen kurz zu vergegenwärtigen.«

»Es ist nicht nötig.«

»Tod und Teufel, Madame«, brach er los, »ich will aber! Außerdem ebnet es den Weg. Die erste Sitzung war sehr beschränkt. Ich hatte die Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen – meine Briefe zu übergeben; ich bin ein Industrieritter, wenn Sie wollen, Madame, aber meine feinen Manieren hatten mir, der vieler Sprachen mächtig ist, unter Ihren Landsleuten, die so steif sind wie ihre gegenseitige Steifheit, gegenüber einem Fremden von feinen Manieren jedoch gern etwas ungezwungener werden, mir so viel Erfolge verschafft und mich zwei bis drei Kleinigkeiten in diesem ehrenwerten Hause herausfinden lassen«, – er blickte im Zimmer umher und lächelte – »daß ich wußte, was nötig war, um mich zu vergewissern und zu überzeugen, daß ich das ausgezeichnete Vergnügen habe, die Bekanntschaft der Dame zu machen, die ich suchte. Dies gelang mir. Ich gab unserm teuren Flintwinch mein Ehrenwort, daß ich zurückkehren wolle. Ich reiste gnädigst ab.«

Sie gab weder ihre Zustimmung zu erkennen, noch machte sie Einwendungen. Er mochte innehalten oder sprechen, ihr Gesicht zeigte ihm immer dieselbe aufmerksame gerunzelte Stirn und machte den früher erwähnten Eindruck auf ihn, daß sie alle ihre Kraft für die Verhandlung zusammengenommen.

»Ich sage, ich reiste gnädigst ab, weil es gnädig war, wegzugehen, ohne eine Dame in Aufruhr zu bringen. Moralisch gnädig zu sein, nicht weniger denn physisch, ist eine Eigenschaft des Charakters von Rigaud Blandois. Auch war es schlau: da ich Sie verließ, während über Ihnen eine Gefahr schwebte, mußten Sie mich ja an irgendeinem Tag mit einiger Angst erwarten. Aber Ihr Sklave ist schlau. Beim Himmel, Madame, schlau! Kehren wir zur Sache zurück. An jenem unbestimmten Tage habe ich wieder die Ehre, mich nach Ihrer Wohnung zu begeben. Ich gebe zu verstehen, daß ich etwas zu verkaufen habe, das, wenn es nicht gekauft wird, die Dame, die ich so hoch schätze, kompromittieren muß. Ich erkläre mich im allgemeinen. Ich verlange – ich glaube, es waren tausend Pfund. Wollen Sie mich berichtigen?«

So zu sprechen genötigt, antwortete sie mit einigem Zwang: »Sie verlangten tausend Pfund.«

»Jetzt verlange ich zweitausend. Das sind die üblen Folgen des Zögerns. Aber noch einmal darauf zurückzukommen. Wir sind nicht eines Sinnes in dieser Sache; wir differieren. Ich scherze gern; Scherz ist eine Eigenschaft meines liebenswürdigen Charakters. Im Scherz gesprochen, mir wird wie einem zumute, der ermordet und versteckt worden ist. Denn es mag für Madame nur die halbe Summe wert sein, von dem Verdacht, den mein drolliger Gedanke erweckt, gereinigt zu werden. Zufall und Spione mischen sich darein, verderben meinen Scherz und verderben die Frucht, vielleicht – wer weiß? nur Sie und Flintwinch – gerade, wenn sie reif ist. Deshalb, Madame, bin ich zum letzten Male hier. Hören Sie! Entschieden zum letzten Male!«

Während er mit seinen schlenkernden Stiefelabsätzen an die Klappe des Tisches schlug und ihrem finsteren Gesicht mit einem unverschämten Blick begegnete, begann er einen stolzeren Ton anzuschlagen.

»Bah! Warten Sie einen Augenblick! Lassen Sie uns Schritt für Schritt vorgehen. Hier ist meine Wirtshausrechnung, die vertragsmäßig bezahlt werden muß. Fünf Minuten später sind wir vielleicht im bittersten Streite begriffen. Ich will es nicht bis dahin anstehen lassen. Sie möchten mich sonst darum betrügen. Bezahlen Sie die Rechnung. Zählen Sie mir das Geld vor.«

»Nehmen Sie sie aus seiner Hand und bezahlen Sie, Flintwinch«, sagte Mrs. Clennam. Er warf sie Mr. Flintwinch ins Gesicht, als der alte Mann näher trat, um sie in Empfang zu nehmen: dann streckte er seine Hand aus und wiederholte geräuschvoll: »Bezahlen Sie! Geben Sie das Geld! Gutes Geld!«

Jeremiah hob die Rechnung auf, sah mit blutunterlaufenem Auge nach der Summe, nahm einen kleinen Kanevasbeutel aus der Tasche und zahlte ihm den Betrag in die Hand.

Rigaud klimperte mit dem Geld, wog es in seiner Hand, warf es etwas in die Höhe, fing es wieder auf und klimperte noch einmal.

»Der Klang dieses Geldes ist für den kühnen Rigaud Blandois wie der Genuß von frischem Fleisch für den Tiger, So sagen Sie denn, Madame. Wieviel?«

Er drehte sich rasch mit einer drohenden Bewegung der vollen Hand, die das Geld einschloß, nach ihr um, als ob er die Absicht hätte, sie damit zu schlagen.

»Ich sage Ihnen noch einmal, wie ich Ihnen früher schon sagte, daß wir hier nicht so reich sind, wie Sie wohl von uns vermuten, und daß Ihr Verlangen unmäßig ist. Ich habe die Mittel nicht gegenwärtig, um einem solchen Verlangen zu genügen, selbst wenn ich es zu erfüllen auch noch so geneigt wäre.«

»Wenn!« rief Blandois. »Hört diese Dame mit ihrem ›Wenn‹! Wollen Sie damit sagen, daß Sie nicht dazu geneigt sind?«

»Ich will sagen, wie die Sache sich mir darstellt, nicht wie Ihnen.«

»So sagen Sie denn, ob Sie geneigt sind. Rasch. Kommen Sie zu dem Punkt, ob Sie geneigt sind, und ich weiß, was zu tun ist.«

Sie antwortete nicht rascher und nicht langsamer. »Es scheint, Sie seien in den Besitz eines Papiers – oder mehrerer Papiere – gekommen, die ich allerdings wieder an mich zu bringen geneigt bin.«

Rigaud trommelte laut lachend mit den Absätzen an dem Tisch und klimperte mit seinem Geld. »Ich denke wohl! Ich glaube, daß das Ihre Absicht ist.«

»Das Papier mag für mich eine Summe Geldes wert sein, ich kann nicht sagen, wieviel oder wie wenig.«

»Was zum Teufel?« fragte er wild. »Nicht mal, nachdem ich Ihnen eine Woche Bedenkzeit gegeben?«

»Nein! Ich werde nicht aus meinen schwachen Mitteln – denn ich sage Ihnen noch einmal, wir sind hier arm und nicht reich – Ihnen einen Preis für eine Macht bestimmen, deren volle und schlimmste Tragkraft ich nicht kenne. Es ist zum dritten Male, daß Sie bloß andeuten und drohen. Sie müssen sich genau erklären, oder Sie mögen gehen, wohin Sie wollen, und tun, was Sie wollen. Es ist besser, auf einmal zerrissen zu werden, als die Maus für die Laune einer solchen Katze zu sein.«

Er sah sie mit seinen Augen, die viel zu nahe beieinander standen, so gefühllos an, daß der unheimliche Blick des einen, der sich mit dem des andern kreuzte, die Brücke seiner gebogenen Nase zu verschieben schien. Nachdem er sie lange angesehen hatte, sagte er, sein höllisches Lächeln fortsetzend:

»Sie sind eine kühne Frau!«

»Ich bin eine entschlossene Frau.«

»Das waren Sie immer. Wie? Das war sie immer; nicht wahr, mein kleiner Flintwinch?«

»Flintwinch, sprechen Sie nichts mit ihm. Es ist an ihm, hier und jetzt alles zu sagen, was er sagen kann; oder er mag fortgehen und tun, was er kann. Sie wissen, daß das unser Entschluß ist. Lassen Sie ihn nun tun, was ihm beliebt.«

Sie wich seinem scheelen Blick nicht aus und vermied ihn nicht. Er richtete ihn wieder auf sie, aber sie blieb unverwandt in der Stellung, die sie einmal gewählt. Er verließ den Tisch, stellte einen Stuhl an das Sofa, setzte sich darein und lehnte den Arm auf jenes, dicht neben den ihren, den er mit seiner Hand berührte; ihr Gesicht war immer finster, aufmerksam und ruhig.

»Es ist also Ihr Wunsch, Madame, daß ich ein Stück Familiengeschichte in dieser kleinen Familienversammlung erzähle«, sagte Rigaud, mit einer warnenden Bewegung seiner gelenkigen Finger auf ihrem Arm. »Ich bin ein wenig Arzt. Lassen Sie mich Ihren Puls fühlen.«

Sie gestattete es, daß er ihr Gelenk in seine Hand nahm. Dann fuhr er fort, während er dieses hielt:

»Eine Geschichte von einer seltsamen Heirat und einer seltsamen Mutter, und einer Rache und einer Unterschlagung. – Ei, ei, ei! Der Puls schlägt wunderlich! Es scheint mir, daß er sich verdoppelt, während ich ihn in der Hand halte. Kommt dieser Wechsel in Ihrer Krankheit gewöhnlich vor, Madame?«

Es war ein Kampf in ihrem gelähmten Arm, als sie ihn wegzog, aber es war kein Kampf in ihrem Gesicht. Auf seinem Gesicht spielte sein eigentümliches Lächeln.

»Ich habe ein abenteuerliches Leben geführt. Ich bin ein abenteuerlicher Charakter. Ich habe manche Abenteurer gekannt, interessante Menschen – liebenswürdige Gesellschaft. Einem von ihnen verdanke ich meine Wissenschaft und meine Beweise – ich wiederhole es, schätzbarste Dame, – Beweise – von der reizenden kleinen Familiengeschichte, die ich nun zu erzählen im Begriff bin. Sie werden entzückt sein darüber. Bah, bah! Ich vergesse. Man muß einer Geschichte auch einen Namen geben. Soll ich sie die Geschichte eines Hauses nennen? Aber nein! Es gibt so viele Häuser. Soll ich sie die Geschichte dieses Hauses heißen?«

Über das Sofa gelehnt, auf zwei Beinen seines Stuhles und seinem linken Ellbogen sich wiegend, mit der Hand ihren Arm berührend, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen; die Beine kreuzend, während seine rechte Hand bald sein Haar in Ordnung brachte, bald seinen Bart, bald seine Nase strich und, was sie auch tun mochte, eine drohende Haltung hatte, grob, unverschämt, raubsüchtig, grausam und eindringlich setzte er seine Erzählung gemächlich fort. »Kurz, ich nenne sie die Geschichte dieses Hauses. Ich beginne: Es wohnen hier, wollen wir annehmen, ein Onkel und ein Neffe. Der Onkel, ein strenger, alter Mann von starkem Charakter; der Neffe, gewöhnlich schüchtern, gedrückt und unter einem Zwange lebend.« Mrs. Affery, die in ihrem Fenstersitz ganz Auge und Ohr war und, an ihrem Schürzenende nagend, von Kopf bis zu Fuß zitterte, rief, als er dies sagte: »Jeremiah, komm mir nicht nahe! Ich habe in meinen Träumen von Arthurs Vater und seinem Onkel gehört! Er spricht von diesen. Es war, bevor ich hierherkam; aber ich hörte in meinen Träumen, daß Arthurs Vater ein armer, unselbständiger, eingeschüchterter Mensch war, dem man nichts als sein armseliges Waisenbewußtsein gelassen, als er noch jung war, und der bei der Wahl seiner Frau keine Stimme hatte; denn sein Onkel wählte sie für ihn. Da sitzt sie! Ich hörte es in meinen Träumen, und Sie sagten es ja auch zu ihr.« Während Mr. Flintwinch mit der Faust ihr drohte und Mrs. Clennam sie anstarrte, warf Rigaud ihr eine Kußhand zu. »Ganz richtig, liebe Madame Flintwinch, Sie haben ein Talent für das Träumen.« »Ich will nicht von Ihnen gelobt sein«, versetzte Affery. »Ich habe überhaupt nichts mit Ihnen zu schaffen. Aber Jeremiah sagt, es seien Träume, und ich will sie Ihnen als solche erzählen!« Dabei steckte sie wieder ihre Schürze in den Mund, als ob sie eines andern Mund stopfte – vielleicht den von Jeremiah, der mit Drohungen zitterte, als wenn er schrecklich fröre. »Unsere liebe Madame Flintwinch«, sagte Rigaud, »entfaltet plötzlich eine solche Feinfühligkeit und Geistigkeit, daß sie ein wahres Wunder ist. Ja. So ist die Geschichte. Der Herr Onkel befiehlt dem Neffen zu heiraten. Dieser Herr sagt wirklich zu ihm: ›Mein Neffe, ich führe dich zu einer Dame von starkem Charakter, ganz wie ich selbst; einer entschlossenen Dame, einer ernsten Dame, einer Dame, deren Wille den Schwachen zu Staub zerdrücken kann; einer Dame ohne Mitleid, ohne Liebe, unversöhnlich, rachsüchtig, kalt wie Stein, aber ungestüm wie das Feuer.‹ Ha, welche Seelenstärke! Ha, welche Überlegenheit an geistiger Kraft! Wahrhaftig, ein stolzer und edler Charakter, den ich in den angeführten Worten des Herrn Onkels beschreibe. Ha, ha, ha! Tod meiner Seele, ich liebe diese süße Dame.« Mr. Clennams Gesicht hatte einen andern Ausdruck angenommen. Es hatte sich sichtlich dunkler gefärbt, und die Stirn war mehr zusammengezogen als gewöhnlich. »Madame, Madame«, sagte Rigaud, indem er sie auf den Arm streichelte, als wenn seine grausame Hand ein musikalisches Instrument probierte, »ich merke, daß ich Sie interessiere. Ich merke, daß ich Ihre Teilnahme rege mache. Lassen Sie uns fortfahren.« Er mußte jedoch die sich senkende Nase und den sich bäumenden Schnurrbart zuvor mit der weißen Hand einen Augenblick bedecken, ehe er fortfahren konnte; so sehr freute er sich über die Wirkung, die seine Worte hervorbrachten.

»Da der Neffe, wie die erleuchtete Madame Flintwinch bemerkte, ein armer Teufel war, dem man durch Furcht und Hunger nichts als sein armseliges Waisenbewußtsein gelassen, – so verbeugt sich der Neffe und gibt die Antwort: ›Mein Onkel, Sie haben zu befehlen, tun Sie, wie Ihnen beliebt!‹ Der Herr Onkel tut, wie ihm beliebt. Ganz wie von jeher. Die glückversprechende Heirat findet statt; die Neuverheirateten kommen in dieses reizende Haus; die Dame, wollen wir annehmen, wird von Flintwinch empfangen. Hm, alter Intrigant?«

Jeremiah, der seine Augen auf seine Herrin geheftet hatte, antwortete nicht. Rigaud sah bald den einen, bald den andern an, strich an seiner häßlichen Nase und schnalzte mit der Zunge.

»Die Dame macht ehestens eine eigentümliche und beunruhigende Entdeckung; voll Zorn, voll Eifersucht, voll Rache entwirft sie – beachten Sie wohl, Madame! – einen Racheplan, dessen ganze Schwere sie scharfsinnigerweise ihren vernichteten Gatten sowohl selbst zu tragen, als auch auf ihre Feindin zu werfen zwingt. Welch überlegener Geist!«

»Laß ihn nicht weiter sprechen, Jeremiah!« rief Affery mit Herzklopfen, indem sie die Schürze wieder aus dem Munde zog. »Aber es war einer meiner Träume, daß du ihr sagtest, als du eines Winterabends mit ihr in der Dunkelheit strittest – sie saß hier, und du sahst sie an –, sie hätte von Arthur, als er nach Hause kam, es durchaus nicht dulden sollen, daß er auch nur den leisesten Verdacht auf seinen Vater werfe; sie habe immer die Stärke und die Macht gehabt; und sie hätte Arthur gegenüber für seinen Vater kräftiger auftreten sollen. In demselben Traume sagtest du zu ihr, sie sei nicht – nicht, ich weiß nicht was, denn sie fuhr heftig auf und brachte dich zum Schweigen. Du kennst den Traum so gut wie ich. Es war damals, als du mit dem Licht in der Hand die Treppe herabkamst und mir die Schürze vom Kopfe rissest; damals, als du mir sagtest, ich hätte geträumt, und als du nicht an das Geräusch glauben wolltest.« Nach diesem Ausbruch steckte Affery wieder die Schürze in den Mund; dabei hielt sie immer die Fensterbank fest und kniete auf dem Fenstersitz, bereit, jeden Augenblick aufzuschreien oder loszufahren, wenn ihr Herr und Meister sich näherte.

Rigaud hatte von alledem nicht ein Wort verloren.

»Haha!« rief er, die Augenbrauen emporziehend, seine Arme kreuzend und im Stuhl sich zurücklehnend. »Ganz gewiß, Madame, Flintwinch ist ein Orakel! Wie sollen wir das Orakel erklären. Sie und ich und der alte Intrigant? Er sagte, Sie seien nicht –? Und Sie fuhren heftig auf und brachten ihn zum Schweigen! Was ist das, was Sie nicht waren? Was ist das, was Sie nicht sind? Sprechen Sie, Madame!«

Bei diesem frechen Spott atmete sie schwerer, und ihr Mund war unruhig. Ihre Lippen zitterten und öffneten sich, obgleich sie sich die größte Mühe gab, sie ruhig zu halten.

»Nun, Madame! Sprechen Sie! Unser alter Intrigant sagte, Sie seien nicht – und Sie brachten ihn zum Schweigen. Er war im Begriff zu sagen, Sie seien nicht – was? Ich weiß es bereits, aber ich verlange etwas Vertrauen von Ihrer Seite. Nun denn? Sie seien nicht, was?«

Sie versuchte, sich wieder zusammenzunehmen, brach aber ungestüm in die Worte aus: »Nicht Arthurs Mutter!«

»Gut«, sagte Rigaud. »Sie sind gehorsam.«

Der gesetzte Ausdruck ihres Gesichte war durch den Ausbruch ihrer Leidenschaft verschwunden, und aus jeder Falte ihres Gesichts brach das so lange zurückgehaltene dampfende Feuer, als sie ausrief: »Ich will es selbst sagen! Ich will es nicht von Ihren Lippen hören, da sonst der Flecken Ihrer Bosheit daran klebt. Wenn es einmal an den Tag kommen muß, will ich, daß man es in dem Licht sehe, in dem ich stand. Kein Wort mehr. Hören Sie mich!«

»Wenn Sie nicht eine halsstarrigere und hartnäckigere Frau sind, als ich Sie kenne«, warf Mr. Flintwinch ein, »so würden Sie besser daran tun, wenn Sie Mr. Rigaud, Mr. Blandois, Mr. Beelzebub es auf seine Weise sagen ließen. Was hat es zu bedeuten, wenn er alles weiß?«

»Er weiß nicht alles.«

»Er weiß alles, woran ihm zu wissen liegt«, drängte Mr. Flintwinch mürrisch.

»Er kennt mich nicht.«

»Was glauben Sie denn, daß er sich um Sie kümmern werde, Sie eingebildete Frau?« sagte Mr. Flintwinch.

»Ich sage Ihnen, Flintwinch, ich will sprechen. Ich sage Ihnen, da es so weit gekommen, so will ich es mit meinen eigenen Lippen sagen und mich ganz und gar aussprechen. Habe ich nichts in diesem Zimmer gelitten, keine Entbehrung, keine Gefangenschaft, um mich zuletzt dazu herbeizulassen, daß man mich durch ein solches Glas wie dieses betrachte! Können Sie ihn sehen? Können Sie ihn hören? Wenn Ihre Frau hundertmal so undankbar wäre, wie sie ist, wenn ich tausendmal weniger Hoffnung hätte, als ich wirklich habe, sie zum Schweigen zu bringen, wofern dieser Mann zum Schweigen gebracht ist, so würde ich es doch lieber selbst sagen, ehe ich die Qual ertrüge, es vom ihm zu hören.«

Rigaud schob seinen Stuhl etwas zurück; streckte seine Füße gerade vor sich aus und saß mit gekreuzten Armen ihr gegenüber.

»Sie wissen nicht, was es heißt«, fuhr sie, an ihn gewandt, fort, »streng und hart erzogen zu werden. Ich wurde so erzogen. Ich kannte keine Jugend irdischer Heiterkeit und Lust. Ich kannte nur Tage heilsamer Unterdrückung, Züchtigung und Furcht. Die Verdorbenheit unsrer Herzen – das Böse unsres Treibens, der Fluch, der auf uns lastet, die Schrecken, die uns umgeben – das waren die Gedanken, mit denen meine Kindheit beschäftigt wurde. Sie bildeten meinen Charakter und erfüllten mich mit Abscheu vor denen, die Böses tun. Als der alte Mr. Gilbert Clennam seinen verwaisten Neffen meinem Vater als Gatten für mich vorschlug, wies mich mein Vater nachdrücklich darauf hin, daß seine Erziehung wie die meine von der größten Strenge geleitet gewesen sei. Er sagte mir, daß, abgesehen von der Zucht, in der sein Geist gehalten worden, er in einem sparsamen Hause gelebt habe, wo Schwelgerei und Heiterkeit unbekannte Gäste seien, und wo jeder Tag wie der vorhergehende ein Tag voll Mühe und Last war.

Er sagte mir, er sei ein Mann bei Jahren gewesen, ehe sein Onkel ihn als solchen anerkannt, und daß von seiner Schulzeit bis zu jener Stunde seines Onkels Dach ein Heiligtum für ihn gewesen, das die ansteckende Hand der Irreligiosität und des Leichtsinns nicht berührte. Als ich ein Jahr nach unsrer Hochzeit entdeckte, daß mein Gatte gegen Gott gesündigt und mich beschimpft, indem er einem verbrecherischen Geschöpf meine Stelle eingeräumt, konnte ich da zweifeln, daß es mir auferlegt sei, diese Entdeckung zu machen, und daß es mir bestimmt sei, die strafende Hand an dieses verdorbene Geschöpf zu legen? Sollte ich in einem Augenblick – nicht die mir widerfahrene Unbill – was war ich! – sondern all den Abscheu vor der Sünde und all den Kampf gegen sie, in dem ich erzogen wurde, vergessen?«

Sie legte ihre zornige Hand auf die Uhr, die auf dem Tisch lag.

»Nein! ›Vergiß nicht!‹ Die Initialen dieser Worte stehen jetzt hier innen und standen damals hier innen. Es war mir bestimmt, den alten Brief zu finden, der darauf Bezug hatte und mir sagte, was sie bedeuten sollten, und wessen Arbeit sie waren, und weshalb sie gestickt wurden; jener Brief lag bei dieser Uhr in seiner geheimen Schieblade. Wäre es mir nicht bestimmt gewesen, ich hätte die Entdeckung nicht gemacht. ›Vergiß nicht.‹ Es sprach zu mir wie eine Stimme aus einer Zorneswolke. Vergiß nicht die Todsünde. Vergiß nicht die dir bestimmte Entdeckung. Vergiß nicht das dir bestimmte Leiden. Ich habe nicht vergessen. Was ist die mir widerfahrene Unbill, von der ich sprach? Meine Unbill! Ich war ja nur eine Dienerin und ein Werkzeug. Welche Macht hätte ich über sie haben können, wenn sie nicht in den Banden ihrer Sünde gelegen und mir ausgeliefert gewesen wären!«

Mehr als vierzig Jahre waren über das graue Haupt dieser entschlossenen Frau seit der Zeit hingegangen, von der sie sprach. Mehr als vierzig Jahre unausgesetzten Kämpfens und Ringens, und es ging ein Geflüster, daß, welchen Namen sie auch ihrem rachesüchtigen Stolz und Grimm geben mochte, nichts in alle Ewigkeit ihre Natur zu ändern imstande sein würde. Nachdem jedoch diese vierzig Jahre vorübergegangen waren und diese Nemesis ihr nun ins Gesicht schaute, beharrte sie dennoch bei ihrer alten Gottlosigkeit – verdrehte die Ordnung der Schöpfung und blies ihren Atem einem Lehmbilde ihres Schöpfers ein. Wahrlich, wahrlich, viele Reisende haben viele ungeheuerliche Idole in vielen Ländern gesehen; aber kein menschliches Auge sah je keckere, gröbere und widrigere Bilder der göttlichen Natur, als wir Staubgeborene aus unsern schlechten Leidenschaften uns zum Bilde schaffen.

»Als ich ihn zwang, mir ihren Namen und ihre Wohnung zu nennen«, fuhr sie in der vollen Entrüstung ihrer Verteidigung fort; »als ich ihr Vorwürfe machte und sie, ihr Gesicht bedeckend, mir zu Füßen fiel, war es da meine Kränkung, wegen der ich mich erhob, waren es meine Vorwürfe, die ich auf sie schleuderte? Die, die in alten Zeiten auserwählt wurden, zu gottlosen Königen zu gehen und sie anzuklagen – waren das nicht Werkzeuge und Diener? Und hatte ich Unwürdige und weit unter ihnen Stehende keine Sünde zu bekennen? Als sie mir ihre Jugend vorhielt und sein elendes und hartes Leben (das war ihr Ausdruck für die tugendhafte Erziehung, die er Lügen gestraft hatte) und die entweihte Hochzeitszeremonie, die sie im geheimen begangen, und die Schrecken des Mangels und der Schande, die über ihnen geschwebt, als ich zuerst die Mission erhielt, das Werkzeug ihrer Züchtigung zu werden, und die Liebe vorhielt (denn sie gebrauchte das Wort, als sie zu meinen Füßen lag), um deretwillen sie ihn verlassen und ihn mir wieder geschenkt, war es da mein Feind, der mein Schemel wurde, waren es die Worte meines Zornes, die sie niederschmetterten und erbeben machten? Nicht mir darf diese Strenge zugemessen werden; nicht mir die Qual der Sühne!«

Manches Jahr war gekommen und gegangen, seit sie den freien Gebrauch ihrer Finger besessen; aber es war bemerkenswert, daß sie bereits mehr als einmal mit ihrer geballten Hand kräftig auf den Tisch geschlagen hatte, und daß sie bei diesen Worten ihren Arm in die Luft erhob, als wenn dies eine gewöhnliche Gebärde für sie wäre.

»Und was war die Reue, die ich ihrem harten Herzen und ihrer schwarzen Verdorbenheit abringen konnte? Ich rachsüchtig und unversöhnlich? Es mag Leuten wie Ihnen, die keine Gerechtigkeit, keine Mission als die des Satans kennen, so erscheinen. Lachen Sie; aber ich will gekannt sein, wie ich mich kenne und wie Flintwinch mich kennt, obgleich ich es nur mit Ihnen und dieser einfältigen Person zu tun habe.«

»Fügen Sie hinzu, mit sich selbst, Madame«, sagte Rigaud. »Ich habe meine bescheidene Vermutung, daß Madame bemüht ist, sich vor sich selbst zu rechtfertigen.«

»Das ist falsch. Dem ist nicht so. Ich brauche das nicht«, sagte sie mit großer Energie und Entrüstung.

»Wirklich!« versetzte Rigaud. »Ha!«

»Ich frage, was war die tatsächliche Buße, die man von ihr verlangte? ›Sie haben ein Kind; ich habe keines. Sie lieben dieses Kind, geben Sie es mir. Es soll glauben, daß es mein Sohn, und jedermann soll glauben, daß es mein Sohn ist. Um Sie vor Bloßstellung zu sichern, soll sein Vater schwören, daß er Sie nie wiedersehen noch mit Ihnen verkehren wolle; und um auch ihn davor zu sichern, daß ihn sein Onkel nicht enterbe und sein Kind ein Bettler werde, sollen Sie schwören, keines von beiden je wiederzusehen oder mit ihnen zu verkehren. Wenn dies geschehen und Sie auf die von meinem Manne bezogenen Mittel verzichtet haben, übernehme ich Ihren Unterhalt. Sie mögen dann, während Ihr Aufenthaltsort unbekannt ist, wenn Sie wollen, die Lüge hinterlassen, daß Sie einen guten Namen verdienen, und ich werde nicht widersprechen.‹ Das war alles. Sie hatte ihre sündige und schmachvolle Neigung zu opfern; nicht mehr. Sie konnte die Last ihrer Schuld im stillen tragen, und ihr Herz konnte im stillen brechen. Durch solchen Schmerz in diesem Leben aber (der, sollt‘ ich denken, leicht genug für sie war) die Erlösung von dem ewigen Verderben sich erkaufen, wenn es ihr möglich wäre. Wenn ich sie hienieden strafte, öffnete ich ihr nicht einen Weg für das Jenseits? Wenn sie sich von unersättlicher Rache und unlöschbaren Feuern umgeben sah, waren diese mein? Wenn ich ihr damals und später mit den Schrecken drohte, die sie umringten, hielt ich sie in meiner rechten Hand?«

Sie drehte die Uhr auf dem Tische, öffnete sie und blickte mit ungemildertem Ausdruck auf die darinstehenden Buchstaben.

»Sie vergaßen sich nicht. Es ist solchen Sünden eigentümlich, daß die Sünder nicht imstande sein sollen zu vergessen. Wenn die Gegenwart Arthurs für seinen Vater ein täglicher Vorwurf war und die Abwesenheit Arthurs ein täglicher Stachel für seine Mutter, so war dies die gerechte Fügung Jehovas. Ebensogut könnte es mir zur Last gelegt werden, daß der Stachel des erwachten Gewissens sie wahnsinnig machte, und daß es der Wille des Lenkers aller Dinge war, daß sie in diesem Zustand viele Jahre lebte. Ich opferte mich, den sonst verlorenen Knaben zu beanspruchen, ihm den Namen ehrlicher Geburt zu geben; ihn in Furcht und Zittern zu erziehen, in einem Leben werktätiger Zerknirschung für die Sünden, die schwer auf seinem Haupt lasteten, ehe er in diese verdammte Welt trat. War das grausam? Litt ich nicht ebenfalls unter den Folgen der ursprünglichen Schande, an der ich keine Mitschuld trug? Arthurs Vater und ich lebten nicht geschiedener voneinander zu der Zeit, da die halbe Erde zwischen uns lag, denn da wir zusammen in diesem Hause wohnten. Er starb und schickte mir diese Uhr mit ihrem ›Vergiß nicht‹. Ich vergesse nicht, obgleich ich diese Worte nicht lese, wie er sie las. Ich lese aus denselben heraus, daß es meine Mission war, dies zu tun. Ich habe diese Buchstaben so gelesen, seit die Uhr auf diesem Tisch liegt. Und ich las sie ebenso deutlich, als sie Tausende von Meilen entfernt waren.«

Als sie das Uhrgehäuse mit jener Freiheit des Gebrauchs der Finger, von der sie kein Bewußtsein zu haben schien, in die Hand nahm und mit den Augen sich darüber herabbeugte, als wollte sie sie herausfordern, sich zu bewegen, rief Rigaud mit lautem und verächtlichem Schnalzen seiner Finger: »Nun, Madame, vorwärts. Die Zeit verfliegt. Vorwärts, Frau des Mitleids, es muß sein! Sie können nichts sagen, was ich nicht wüßte, kommen Sie zu dem gestohlenen Gelde, oder ich werde es tun. Tod meiner Seele, ich habe genug von Ihrem übrigen Geschwätz gehört. Kommen Sie sogleich zu dem gestohlenen Gelde!«

»Schurke, der Sie sind!« antwortete sie, und dabei faßten ihre Hände an ihren Kopf. »Durch welch unglückseligen Irrtum Flintwinchs, durch welche Unvorsichtigkeit seinerseits, da er die einzige damit vertraute und dabei helfende Person war, durch wessen und was für eine Sammlung der Asche eines verbrannten Papieres Sie in den Besitz einer Urkunde gekommen sind, weiß ich so wenig, als wie Sie zu der übrigen Macht an diesem Ort gelangten –«

»Und doch habe ich das wunderliche Glück, an einem nur mir bekannten geeigneten Ort eben diesen kleinen Anhang zu dem Testament von Monsieur Gilbert Clennam zu besitzen, geschrieben von einer Dame und bezeugt von eben dieser Dame und auch dem alten Intriganten! Ah, bah, alter Intrigant, alte krumme Puppe! Madame, lassen Sie uns fortfahren. Die Zeit drängt. Sie oder ich müssen die Sache zu Ende bringen!«

»Ich!« antwortete sie mit gesteigerter Entschiedenheit, wenn eine solche möglich, »ich, weil ich es nicht ertragen werde, mich mit Ihrer abscheulichen Verzerrung meines Bildes vor mir selbst oder einem andern zu zeigen. Sie, mit Ihren Ränken aus abscheulichen fremden Gefängnissen und Galeeren, würden das Geld als meine Triebfeder hinstellen. Es war nicht das Geld.«

»Oho, oho, oho! Ich verzichte für den Augenblick auf meine Höflichkeit und sage: ›Lügen, Lügen, Lügen.‹ Sie wissen, Sie unterschlugen die Urkunde und behielten das Geld.«

»Nicht um des Geldes willen, Schurke!« Sie machte eine Anstrengung, als wenn sie auffahren und in ihrer Entrüstung sich auf ihre lahmen Füße erheben wollte. »Wenn Gilbert Clennam, geistig und körperlich schwach geworden, im Begriff zu sterben und in dem Wahn einer gerührten Stimmung gegenüber einem Mädchen, von dem er gehört, daß sein Neffe einst eine Neigung für sie gehabt, die er in ihm unterdrückt, und daß das Mädchen später in Melancholie und geistiger Zerrüttung untergegangen – wenn er, sage ich, in diesem Zustand der Schwäche mir, deren Leben sie durch ihre Sünde verdunkelt und der es auferlegt war, ihre Gottlosigkeit von ihrer eigenen Hand und ihren eigenen Lippen zu erfahren, ein Legat diktierte, das als eine Entschädigung für vermeintlich unverdientes Leiden gelten sollte, war in diesem Falle kein Unterschied zwischen meiner Widersetzlichkeit gegen diese Ungerechtigkeit und der bloßen Gier nach dem Geld – einer Sache, die Sie und Ihre Kameraden in den Gefängnissen jedermann stehlen?«

»Die Zeit drängt. Bedenken Sie das!«

»Wenn dieses Haus vom Dach bis zum Boden brennte«, entgegnete sie, »würde ich darin bleiben, um mich dagegen zu wehren, daß meine gerechten Motive nicht mit denen von Meuchelmördern und Dieben verwechselt werden.«

Rigaud schnalzte ihr höhnisch in das Gesicht. »Tausend Guineen, für die kleine Schönheit, die Sie langsam zu Tode gehetzt. Tausend Guineen für die jüngste Tochter, die ihr Beschützer im fünfzigsten Jahre hätte, oder (wenn er keinen hätte) für die jüngste Tochter des Bruders, wenn sie mündig wäre, als Anerkennung seiner uneigennützigen Protektion, die er einer freundelosen jungen Waise angedeihen ließ. Zweitausend Guineen. Wie! Sie werden doch endlich zu dem Gelde kommen?«

»Dieser Beschützer«, fuhr sie ungestüm fort, als er sie wieder unterbrach.

»Namen! Nennen Sie ihn Mr. Frederick Dorrit. Keine ausweichenden Redensarten mehr!«

»Dieser Frederick Dorrit war der Anfang von all dem Unglück. Wenn er kein Musiker gewesen wäre und in jenen Tagen seiner Jugend und seines Glückes nicht ein üppiges Haus geführt hätte, wo Sänger und Musiker und solche Kinder des Satans ihren Rücken dem Licht und ihr Gesicht der Finsternis zugekehrt, so wäre sie wohl in ihrer untergeordneten Stellung verblieben und nicht aus ihr hervorgehoben worden, um wieder hinabgeschleudert zu werden. Doch nein. Der Satan kam zu diesem Frederick Dorrit und sagte ihm, er sei ein Mann von unschuldigem und lobenswertem Sinn, der edle Handlungen zu tun imstande wäre, und hier sei ein armes Mädchen mit Talent für den Gesang. Da muß er sie in Unterricht nehmen. Da wird Arthurs Vater, der sich auf den Pfaden rauher Tugend schon lange nach den verruchten Schlingen gesehnt, die man Künste nennt, mit ihr bekannt. Und so trägt eine schamlose Waise, die zur Sängerin abgerichtet wird, durch die Vermittlung dieses Frederick Dorrit den Sieg über mich davon, und ich bin gedemütigt und hintergangen! Nicht ich, soll das heißen«, fügte sie rasch hinzu, während Röte ihr Gesicht übergoß, »ein größerer als ich. Was bin ich?«

Jeremiah Flintwinch, der immer näher zu ihr hinkam und jetzt dicht bei ihr stand, ohne daß sie es wußte, machte ein besonders schiefes, vorwurfsvolles Gesicht, als sie dies sagte, und zupfte außerdem an seinen Gamaschen, als wenn diese die Stellung kleiner Bärte an seinen Beinen einnähmen.

»Kurz«, fuhr sie fort, »denn ich bin zu Ende mit dieser Angelegenheit und werde nicht weiter darüber sprechen, und auch Sie sollen nicht weiter darüber sprechen; alles, was noch bleibt, ist zu entscheiden, ob die Kenntnis dieser Dinge unter uns, die wir hier anwesend sind, bleiben kann: kurz, als ich jenes Papier mit Wissen von Arthurs Vater unterschlug –«

»Aber nicht mit seiner Zustimmung, werden Sie wissen«, sagte Mr. Flintwinch.

»Wer sagte, mit seiner Zustimmung?« Sie erschrak, Jeremiah so nahe bei sich zu sehen, und hielt den Kopf zurück, indem sie ihn mit wachsendem Mißtrauen ansah. »Sie waren oft genug zwischen uns, wenn er wollte, daß ich es herausgebe, und ich nicht wollte, um mir zu widersprechen, wenn ich sagte, mit seiner Zustimmung. Ich sagte, als ich jenes Papier unterschlug, tat ich nichts, es zu vernichten, sondern bewahrte es auf, in diesem Hause, viele Jahre lang. Da das übrige Vermögen Gilberts Arthurs Vater zufiel, konnte ich jederzeit, ohne mehr als die beiden Summen in Zweifel zu stellen, behaupten, ich hätte es gefunden. Aber abgesehen davon, daß ich eine solche Behauptung durch eine direkte Falschheit hätte unterstützen müssen (eine große Verantwortung), sah ich keinen neuen Grund, während meiner ganzen Prüfungszeit, das Papier ans Licht zu bringen. Es war eine Strafe für die Sünde; die schlimme Folge eines Betrugs. Ich tat, was mir zu tun bestimmt war, und ich habe getragen innerhalb dieser vier Wände, was mir zu tragen bestimmt war. Als das Papier endlich – wie ich glaubte – in meiner Gegenwart vernichtet wurde, war sie lange tot, und ihr Beschützer, Frederick Dorrit, war verdienterweise lange schon ruiniert und kindisch. Er besaß keine Tochter. Ich hatte die Nichte schon früher gefunden, und was ich für sie tat, war besser als das Geld, von dem sie keinen Nutzen gehabt.« Sie fügte einen Augenblick später, als spräche sie mit der Uhr, hinzu: »Sie selbst war unschuldig, und ich würde nicht versäumt haben, es ihr bei meinem Tode zu hinterlassen«: dabei sah sie auf die Uhr.

»Soll ich Sie an etwas erinnern, würdige Frau?« sagte Rigaud. »Das kleine Papier befand sich in diesem Hause an jenem Abend, als unser Freund, der Gefangene – der Gefängnisfreund meiner Seele – von fernen Ländern heimkehrte. Soll ich Sie noch an etwas Weiteres erinnern? Der kleine Singvogel, der nie flügge ward, wurde lange von einem durch Sie bestellten Wächter im Käfig gehalten, der auch unsrem alten Intriganten hier wohlbekannt ist. Sollten wir unsern alten Intriganten zwingen, uns zu sagen, wo er ihn zuletzt sah?«

»Ich will es Ihnen sagen!« rief Affery, die Schürze aus ihrem Munde nehmend. »Es war der erste aller meiner Träume. Jeremiah, wenn du mir jetzt zu nahe kommst, schreie ich, daß man es bei St. Pauls hört! Die Person, von der dieser Mann sprach, war Jeremiahs eigener Zwillingsbruder; er war in totenstiller Nacht hier, in jener Nacht, als Arthur heimkehrte, und Jeremiah gab ihm mit eigner Hand dieses Papier, von dem ich nichts weiter weiß, und er trug es in einer eisernen Kapsel weg. – Hilfe! Mörder! schützt mich vor Jere – mi – ah!«

Mr. Flintwinch war auf sie zugestürzt, aber Rigaud hatte ihn noch zur rechten Zeit am Arme gegriffen. Nachdem er einen Augenblick mit ihm gerungen, ließ Flintwinch los und steckte seine Hände in seine Taschen.

»Wie!« rief Rigaud spottend, indem er ihn mit seinem Ellbogen zurückstieß, »Eine Dame angreifen, die ein solches Talent für das Träumen besitzt? Ha, ha, ha! Sie wird eine Quelle des Reichtums für Sie werden, wenn Sie sie öffentlich zeigen. Alles, was sie träumt, trifft ein. Ha, ha, ha! Sie sehen ihm so ähnlich, kleiner Flintwinch. So ähnlich, als ich ihn kennenlernte (da ich zuerst englisch für ihn mit dem Wirt sprach), in der Schenke zu den drei Billards, in der kleinen Straße mit den hohen Dächern an dem Kai von Antwerpen. Ach, er war ein tüchtiger Junge im Trinken! Und ein tüchtiger Junge im Rauchen! Er wohnte in einem hübschen möblierten Junggesellenlogis im fünften Stock, über dem Holz- und Kohlenhändler und dem Frauenschneider und dem Stuhlmacher und dem Böttcher – dort kannte ich ihn, und dort machte er bei seinem Kognak und seinem Tabak zwölf Schläfchen des Tages und hatte jeden Tag seine Ohnmacht, bis er einst eine Ohnmacht zuviel hatte und zum Himmel emporstieg. Ha, ha, ha! Was tut das zur Sache, wie ich von den Papieren in seiner eisernen Kapsel Besitz nahm? Vielleicht vertraute er sie meinen Händen an, um sie Ihnen zu geben; vielleicht war die Kapsel geschlossen, und meine Neugierde wurde dadurch gereizt, vielleicht unterschlug ich sie. Ha, ha, ha! Was hat es auch zu sagen, wenn ich sie noch ganz besitze? Wir sind hier nicht so eigen; hm, Flintwinch? Wir sind hier nicht so eigen; nicht wahr, Madame?«

Mr. Flintwinch hatte sich mit boshaften Gegenstößen seiner Ellbogen in seinen Winkel zurückgezogen, wo er jetzt, atemholend und Mrs. Clennams Blicke erwidernd, mit den Händen in den Taschen stand.

»Ha, ha, ha! Was ist das?« rief Rigaud. »Es scheint, als kennten Sie sich gegenseitig nicht. Erlauben Sie mir, Madame Clennam, die unterschlägt, Mr. Flintwinch, der betrügt, vorzustellen.«

Mr. Flintwinch, der eine Hand aus der Tasche zog, um sich am Kinn zu kratzen, trat in dieser Haltung einen Schritt vor, während er immer noch Mrs. Clennams Blick erwiderte, und sagte zu ihr:

»Ich weiß, was Sie damit sagen wollen, daß Sie die Augen so weit aufreißen, aber Sie brauchen sich die Mühe nicht zu nehmen, weil ich mich nicht darum kümmere. Ich habe Ihnen seit vielen Jahren gesagt, daß Sie eine der starrsinnigsten und hartnackigsten Frauen seien. Das sind Sie. Sie nennen sich demütig und sündenvoll, aber Sie sind die anmaßendste Frau Ihres Geschlechts. Das sind Sie. Ich habe Ihnen ab und zu, wenn wir miteinander grollten, gesagt, daß Sie möchten, alles solle sich Ihnen fügen, aber ich wollte mich Ihnen nicht fügen, daß Sie gern jeden Menschen bei lebendigem Leibe verschlängen, aber ich wollte mich nicht bei lebendigem Leibe verschlingen lassen. Warum vernichteten Sie das Papier nicht, als Sie zum ersten Male Hand an dasselbe legten? Ich riet Ihnen dazu: aber nein, es ist nicht Ihre Sache, Rat anzunehmen. Sie mußten es freilich statt dessen aufbewahren. Vielleicht werden Sie es zu einer andern Zeit zum Vorschein bringen. Als ob ich es nicht besser wüßte. Ich denke, ich sehe Ihren Stolz noch das Papier selbst auf die Gefahr hin zum Vorschein bringen, daß Sie in den Verdacht geraten, es zurückbehalten zu haben. Aber das ist die Art, wie Sie sich selbst betrügen. Gerade wie Sie sich auch betrügen, indem Sie vorgeben, Sie tun all das nicht, weil Sie eine harte Frau sind, ganz Stolz und Haß und Gewalt und Unversöhnlichkeit, sondern weil Sie eine Dienerin und ein Werkzeug seien, dem diese Mission zuteil geworden. Wer sind Sie denn, daß Sie eine solche Mission erhalten haben sollten? Es mag das für Sie Religion sein, für mich sind es Possen. Und um Ihnen die ganze Wahrheit zu sagen, da ich mal im Zuge bin«, fuhr Mr. Flintwinch fort, indem er die Arme übereinander kreuzte und das vollendete Bild eines gereizten Murrkopfs darbot, »Sie haben mich förmlich geraspelt – geraspelt, sage ich, in den letzten vierzig Jahren – indem Sie sich auf einen so hohen Standpunkt selbst mir gegenüber stellten, der die Sache doch besser kennt. Nie Absicht war freilich allein die, mich um so tiefer zu stellen. Ich bewundre Sie sehr; Sie sind eine Frau von starkem Kopf und großem Talent; aber der stärkste Kopf und das größte Talent kann einen Mann nicht vierzig Jahre lang raspeln, ohne ihn zu reizen. Ich kümmere mich nichts darum, was für Blicke Sie mir zuwerfen. Ich komme jetzt zu dem Papier, und merken Sie nun, was ich sage. Sie brachten es irgendwohin auf die Seite, hielten aber den Art, wo Sie es versteckt, geheim. Sie waren damals noch eine rüstige Frau, und wenn Sie das Papier brauchten, konnten Sie es jeden Augenblick holen. Aber merken Sie wohl! Es kommt eine Zeit, wo Sie gelähmt sind wie jetzt: und wenn Sie dann das Papier brauchen, können Sie es nicht holen. So liegt es lange Jahre an dem verborgenen Platz. Zuletzt, da wir Arthurs Heimkehr jeden Tag erwarten und jeder Tag ihn bringen kann, da sich ferner unmöglich sagen läßt, wie er das Haus durchstöbern wird, mache ich Ihnen fünftausendmal den Vorschlag, wenn Sie das Papier nicht holen könnten, wolle ich es holen, um es in das Feuer zu werfen. Doch nein – niemand als Sie weiß, wo es ist, und das ist eine Macht; geben Sie sich so bescheidene Namen wie Sie wollen, ich heiße Sie einen weiblichen Luzifer in der Gier nach Macht! An einem Sonntagabend kommt Arthur zurück. Er ist noch nicht zehn Minuten in diesem Zimmer, so spricht er von seines Vaters Uhr. Sie wissen wohl, daß das ›Vergiß nicht‹ zu der Zeit, da sein Vater jene Uhr Ihnen sandte, nur so viel bedeuten konnte als, da alles übrige vorüber und vergessen ist, so vergiß die Vernichtung des Papiers nicht. Es herausgeben! Arthurs Benehmen hat Sie ein wenig erschreckt, und das Papier soll nun verbrannt werden. Ehe diese tolle Dirne und Jesabel«, grinste Mr. Flintwinch seine Frau an, »Sie zu Bett gebracht hat, sagen Sie mir deshalb endlich, wohin Sie das Papier getan, nämlich unter die alten Lagerbücher im Keller, wohin Arthur schon am nächsten Morgen kommt, als er im Hause herumstöbert. Aber an einem Sonntagabend soll es nicht verbrannt werden. Nein, Sie sind streng; wir müssen bis über zwölf warten, um in den Montag hineinzukommen. Das geht mir denn doch zu weit, das reizt mich, und da ich etwas ärgerlich bin und nicht so streng als Sie, so werfe ich vor zwölf Uhr einen Blick in das Dokument, um mein Gedächtnis bezüglich seines Aussehens zu erfrischen, lege eines von den vielen alten, vergilbten Papieren im Keller gerade wie das Dokument zusammen und mache später, als es Montagmorgen geworden und ich bei dem Scheine Ihrer Lampe von dem Bett, in dem Sie liegen, nach diesem Kamingitter gehen soll, einen kleinen Tausch, wie etwa ein Zauberer, und verbrenne das falsche Papier. Mein Bruder Ephraim, der Irrenpfleger (ich wünschte, er hätte sich selbst in die Zwangsjacke gesteckt), hatte seit dem großen einträglichen Auftrage, mit dem Sie ihn betrauten, gar mancherlei Aufträge, aber er spann trotzdem keine Seide. Seine Frau starb (das hatte gerade nichts zu bedeuten, die meine hätte statt ihrer gern sterben können), er spekulierte unglücklich mit den Irren und verwickelte sich in allerlei Schwierigkeiten, indem er einem Patienten zu sehr zusetzte, um ihn zur Vernunft zu bringen, und geriet darüber in Schulden. Er machte sich mit dem, was er aufbringen konnte, und einer Kleinigkeit von mir aus dem Staube. Er war an jenem Montagmorgen in der Frühe hier, um die Abfahrt des Schiffes abzuwarten; kurz, er ging nach Antwerpen, wo er (ich fürchte, Sie werden sich ärgern, wenn ich es sage: Hol‘ ihn der Teufel!) die Bekanntschaft dieses Herrn machte. Er hatte einen weiten Weg gemacht, und ich glaubte damals, er sei nur schläfrig: aber jetzt vermute ich, er war betrunken. Als Arthurs Mutter unter seiner und seiner Frau Obhut stand, schrieb sie immer und in einem fort – meist Briefe mit Bekenntnissen, die an Sie gerichtet waren und Bitten um Ihre Verzeihung enthielten. Mein Bruder hatte mir von Zeit zu Zeit Stöße von solchen Papieren eingehändigt. Ich dachte, ich könnte sie ebensogut für mich behalten, als sie auch lebendig verschlingen zu lassen; deshalb bewahrte ich sie in einer Kapsel auf und durchblätterte sie, wenn ich in der Stimmung dazu war. Überzeugt, daß es rätlich sei, das Papier fortzuschaffen, wenn Arthur nicht dahinterkommen sollte, legte ich es in dieselbe Kapsel, schloß das Ganze mit zwei Schlössern und übergab es meinem Bruder, daß er es mit sich nehme und aufbewahre, bis ich ihm schriebe. Ich schrieb ihm darüber, aber erhielt nie eine Antwort. Ich wußte nicht, was ich daraus machen sollte, bis dieser Herr uns mit seinem ersten Besuch beehrte. Natürlich begann ich nun auf die Vermutung zu kommen, wie all das zusammenhing: und ich brauchte seine Erklärung nicht, um zu verstehen, wie er aus meinen Papieren und Ihrem Papier und dem Kognak- und Tabaksgeschwatze meines Bruders (ich wollte, er hätte sich knebeln müssen) zu seiner Wissenschaft kam. Ich habe jetzt nur eines noch zu sagen. Sie hartnäckige Frau, und das ist, daß ich mir nie klar wurde, ob ich Ihnen mit dem Dokument einen Kummer bereitet haben möchte oder nicht – ich glaube nicht –, und daß ich ganz damit zufrieden war, daß ich wußte, ich hatte den Vorteil über Sie errungen und hielt Sie in meiner Hand. Unter den gegenwärtigen Umständen habe ich Ihnen keine Erklärung mehr zu geben bis morgen abend um diese Stunde. Deshalb mögen Sie Ihre Augen gegen jemand andern aufreißen«, sagte Mr. Flintwinch, indem er seine Rede mit einer Steigerung schloß, »denn es ist unnütz, sie gegen mich aufzureißen.«

Sie wandte sich langsam weg, als er geschlossen hatte, und senkte ihre Stirn auf ihre Hand. Ihre andre Hand drückte sie schwer auf den Tisch, und wieder war die seltsame Unruhe bei ihr zu bemerken, als beabsichtigte sie aufzustehen.

»Diese Kapsel kann nie und nirgend so teuer verkauft werden wie hier. Dieses Geheimnis kann Ihnen nie den gleichen Nutzen bringen, wenn Sie es an jemand anderen verkaufen, als wenn Sie es an mich verkaufen. Aber ich habe im Augenblick nicht die Mittel, die Summe aufzutreiben, die Sie verlangten. Ich war in meinen Geschäften nicht glücklich. Was wollen Sie jetzt und was später, und wie kann ich mich Ihrer Verschwiegenheit versichern?«

»Mein Engel«, versetzte Rigaud, »ich sagte, was ich verlange, und die Zeit drängt. Ehe ich hierherkam, deponierte ich Abschriften der wichtigsten unter diesen Papieren in einer andren Hand. Verzögern Sie den Abschluß, bis das Tor des Marschallgefängnisses sich für die Nacht geschlossen hat, und es wird zu spät sein. Der Gefangene wird dann die Papiere gelesen haben.«

Sie legte wieder ihre beiden Hände an den Kopf, stieß einen lauten Seufzer aus und fuhr in die Höhe. Sie schwankte einen Augenblick, als wollte sie fallen: dann stand sie fest.

»Sagen Sie, was Sie damit meinen. Sagen Sie, was Sie damit meinen, Mann!«

Vor dieser geisterhaften Gestalt, die man so lange nicht mehr in dieser aufrechten Stellung gesehen, in der sie wie erstarrt war, fuhr Rigaud zurück und dämpfte seine Stimme. Es war für alle drei, als wenn eine tote Frau auferstanden wäre.

»Miß Dorrit«, antwortete Rigaud, »die kleine Nichte von Monsieur Frederick, den ich jenseits des Meeres kannte, ist um die Person des Gefangenen. Miß Dorrit, die kleine Nichte von Monsieur Frederick, pflegt in diesem Augenblick den Gefangenen, der krank ist. Für sie hinterließ ich in eigner Person auf dem Wege hierher ein Paket in dem Gefängnis, nebst einem Brief mit Instruktionen

Die gelähmte Mrs. Clennam steht auf und geht.

›in seinen Angelegenheiten‹ – und in seinen Angelegenheiten wird sie gern zu allem bereit sein – welches Paket sie aufbewahren und nicht erbrechen solle, für den Fall, daß es vor dem Torschluß reklamiert würde; im Fall dies jedoch vor dem Läuten der Gefängnisglocke nicht geschähe, es ihm zu geben; es enthält eine zweite Abschrift für sie selbst, die er ihr geben soll. Ja! Ich halte mich unter euch nicht mehr sicher, nachdem wir so weit gediehen sind; deshalb habe ich mein Geheimnis verdoppelt. Was im übrigen das betrifft, Madame, daß es mir nirgends einen solchen Nutzen abwerfen kann als hier, so sagen Sie denn, haben Sie den Preis bestimmt und festgesetzt, den die kleine Nichte – um seinetwillen – geben wird, um es zu vertuschen? Noch einmal sage ich Ihnen, die Zeit drängt. Ist das Paket vor dem Läuten der Glocke zu Nacht nicht reklamiert, so können Sie es nicht mehr kaufen. Ich verkaufe dann an das kleine Mädchen!«

Noch einmal sah man einen Kampf und Aufruhr in ihr, dann eilte sie nach einem Kabinett, riß die Tür auf, nahm eine Kapuze oder einen Schal heraus und warf ihn über den Kopf. Affery, die sie erschrocken beobachtet hatte, stürzte nach der Mitte des Zimmers, wo ihre Herrin stand, erfaßte ihr Kleid und rutschte auf den Knien zu ihr.

»Bleiben Sie, bleiben Sie, bleiben Sie! Was wollen Sie tun? Wohin gehen Sie? Sie sind eine furchtbare Frau, aber ich hege keine Feindschaft gegen Sie. Ich kann dem armen Arthur jetzt nicht nützlich sein, das sehe ich; und Sie brauchen sich nicht vor mir zu fürchten. Ich will Ihr Geheimnis bewahren. Gehen Sie nicht aus, Sie sterben auf der Straße. Versprechen Sie mir nur, wenn es sich um die Arme handelt, die hier im geheimen eingesperrt ist, lassen Sie mich sie pflegen und für sie sorgen. Versprechen Sie mir nur das, und Sie brauchen sich nicht vor mir zu fürchten.«

Mrs. Clennam stand mitten in ihrer ungestümsten Hast einen Augenblick still und sagte in finsterem Erstaunen:

»Hier eingesperrt? Sie ist seit zwanzig Jahren und länger tot. Frage Flintwinch – frage ihn. Sie können beide sagen, daß sie starb, als Arthur auf Reisen ging,«

»Um so schlimmer«, sagte Affery mit einem Schauer, »denn sie geht dann als Gespenst im Hause umher. Wer sonst als sie raschelt hier herum und macht Zeichen, indem sie sanft Staub fallen laßt? Wer sonst als sie geht aus und ein und macht lange krumme Striche an die Wände, wenn wir alle zu Bett sind? Wer sonst als sie hält die Türen zuweilen fest? Aber gehen Sie nicht fort – gehen Sie nicht fort! Mistreß, Sie werden auf der Straße sterben!«

Ihre Herrin machte einfach ihr Kleid von den bittenden Händen los, sagte zu Rigaud: »Warten Sie hier, bis ich zurückkomme!« und stürzte aus dem Zimmer. Sie sahen sie vom Fenster aus, wie sie ungestüm durch den Hof und zum Torweg hinauseilte. Einige Augenblicke standen die Zurückbleibenden bewegungslos da. Affery war die erste, die sich rührte: händeringend folgte sie ihrer Herrin. Nach ihr zog sich Jeremiah Flintwinch langsam nach der Tür zurück und schlich sich, die eine Hand in der Tasche, mit der andern das Kinn reibend, in seiner verstohlenen Weise und still hinaus. Rigaud, der allein zurückgeblieben, setzte sich auf die Fensterbank ans offene Fenster in seiner alten Positur wie ehedem in dem Gefängnis zu Marseille. Er legte seine Zigarette und seine Zündholzschachtel neben sich und begann zu rauchen.

»Puh! Beinahe so düster wie das alte höllische Gefängnis. Wärmer, aber beinahe so trübselig. Warten, bis sie zurückkommt? Ja, gewiß; aber wohin ist sie gegangen und wie lange wird sie fortbleiben? Gleichgültig! Rigaud Lagnier Blandois, mein liebenswürdiges Ich, du wirst dein Geld bekommen. Du wirst dich bereichern. Du hast als Gentleman gelebt; du wirst als Gentleman sterben. Du triumphierst, mein kleiner Junge; aber es liegt in deinem Charakter, zu triumphieren. Uf!«

In der Stunde seines Triumphes bäumte sich sein Schnurrbart, und seine Nase senkte sich, während er einen großen Balken über seinem Kopf mit besonderem Vergnügen beäugelte.

Einunddreißigstes Kapitel.


Einunddreißigstes Kapitel.

Abgeschlossen.

Die Sonne war untergegangen, und die Straßen in ihrem staubigen Zwielicht waren düster, als die Gestalt, die für sie so lange schon eine ungewöhnliche Erscheinung war, durch sie dahineilte. In der unmittelbaren Umgebung des alten Hauses zog sie wenig Aufmerksamkeit auf sich, denn es trieben sich dort nur wenige Leute umher, die sie hätten bemerken können; als sie jedoch vom Flusse heraufkam und durch die krummen Straßen ging, die nach der London Bridge führen, und die große Hauptstraße betrat, wurde sie von Staunen umringt.

Entschlossen und wilden Blickes, raschen Fußes und doch schwach und unsicher, auffallend gekleidet in ihrem schwarzen Anzug und mit der flüchtig übergeworfenen Kopfbedeckung, hager und leichenblaß eilte sie durch die Masse, ihrer so wenig achtend wie ein Schlafwandler. Auffallender noch durch die Scheidewand zwischen ihr und der Menge, unter der sie sich befand, als wenn sie auf einen Sockel gehoben gewesen, um gesehen zu werden, zog die Gestalt aller Augen auf sich. Müßiggänger richteten ihre Aufmerksamkeit auf sie; geschäftige Leute, die an ihr vorüberkamen, gingen langsam, um ihr nachzusehen; wo zwei und zwei beisammenstanden, flüsterten sie einander zu und machten sich auf die gespenstische Frau aufmerksam, die vorüberkam; und die Schleppe dieser Gestalt schien, während sie so vorübereilte, einen Wirbel aufzutreiben, der die Müßigsten und Neugierigsten nach sich zog.

Schwindlig gemacht durch das stürmische Eindringen dieser Masse von gaffenden Gesichtern in ihre viele Jahre verschlossene Zelle, durch das verwirrende Gefühl, in der Luft zu sein, und durch das noch verwirrendere Gefühl, auf den Füßen zu stehen, durch die unerwartete Veränderung, die mit halb in ihren Erinnerungen lebenden Gegenständen vorgegangen war, und den Mangel an Ähnlichkeit zwischen den willkürlich zu gestaltenden Bildern, die ihre Phantasie sich oft von dem Leben entworfen, von dem sie ausgeschlossen war, und dem überwältigenden Drängen und Treiben der Wirklichkeit, ging sie ihres Weges dahin, mehr als wäre sie von zerstreuenden Gedanken als von leibhaft beobachtenden Menschen umgeben. Nachdem sie jedoch über die Brücke und noch eine Strecke weiter geradeaus gegangen, fiel ihr ein, daß sie nach der Richtung fragen müsse; und erst jetzt, als sie stehenblieb und nach einem Orte sich umsah, wo sie fragen könnte, sah sie sich von neugierigen Blicken umgeben.

»Warum drängt ihr euch um mich?« fragte sie zitternd.

Keiner von denen, die um sie her standen, antwortete; aber aus dem Kreis der Entfernterstehenden ertönte der gelle Ruf: »Weil Sie verrückt sind!«

»Ich bin so gesund wie jeder andere. Ich wünsche nach dem Marschallgefängnis zu kommen.«

Der gelle Ruf der Entfernterstehenden versetzte: »Wenn nichts anderes, würde uns das beweisen, daß Sie verrückt sind, denn das Gefängnis liegt gerade gegenüber!«

Ein kleiner, sanfter, ruhig aussehender junger Mann drängte sich durch die Masse zu ihr, als auf diese Antwort ein Zischen entstand, und sagte: »Verlangten Sie nicht nach dem Marschallgefängnis zu kommen? Ich gehe gerade in Geschäften dahin. Kommen Sie mit mir.«

Sie legte die Hand auf seinen Arm, und er führte sie über den Weg, während die Masse, die etwas ungehalten war, daß man ihr das Schauspiel zu entziehen im Begriff stand, sich vorn und hinten und auf beiden Seiten herandrängte und einen Aufenthalt in Bedlam empfahl. Nach einem kurzen Gedränge in dem äußeren Hofe öffnete sich das Gefängnistor und schloß sich hinter ihnen. Im Pförtnerstübchen, das im Gegensatz zu dem Geräusch draußen ein Ort der Ruhe und des Friedens zu sein schien, stritt bereits eine gelbe Lampe mit dem Gefängnisschatten.

»Nun John«, sagte der Schließer, der sie eingelassen. »Was gibt es?«

»Nichts, Vater; diese Dame wußte den Weg nicht und wurde von den Straßenjungen gehetzt. Zu wem wollten Sie, Madame?«

»Zu Miß Dorrit. Ist sie hier?«

Des jungen Mannes Interesse wuchs bei diesen Worten. »Ja, sie ist hier. Wie ist wohl Ihr Name?« »Mrs. Clennam.«

»Mr. Clennams Mutter?« fragte der junge Mann.

Sie preßte ihre Lippen zusammen und zögerte. »Ja, Sie würden besser daran tun, wenn Sie sagten, es sei seine Mutter.«

»Sehen Sie«, sagte der junge Mann, »da die Familie des Marschalls im Augenblicke auf dem Lande ist, so hat der Marschall Miß Dorrit eines von den Zimmern in seinem Hause gegeben, um es zu benutzen, wenn sie Lust hätte. Würden Sie es nicht für besser halten, wenn Sie dahin gingen und ich Miß Dorrit zu Ihnen brächte?«

Sie gab ihre Zustimmung zu erkennen, und er schloß eine Tür auf und führte sie eine Seitentreppe hinauf in ein Wohnhaus. Dort zeigte er ihr ein halbdunkles Zimmer und verließ sie. Das Zimmer ging auf den halbdunklen Gefängnishof hinab, wo die Insassen da und dort auf- und abschlenderten, zu den Fenstern herauslehnten, soweit es möglich, abgesondert von den andern, mit abschiednehmenden Freunden sprachen und im allgemeinen ihre Gefangenschaft, so gut es ging, hinbrachten. Es war ein Sommerabend. Die Luft war schwer und heiß, die Enge und Abgeschlossenheit des Raumes drückend, und draußen hörte man den Lärm freier Stimmen, wie man die wirre Erinnerung solcher Töne bei Kopf- und Herzweh hat. Sie stand an dem Fenster und schaute verwirrt gleichsam aus ihrem eigenen Gefängnis in dieses andere Gefängnis, als ein oder zwei sanfte Worte der Ueberraschung sie aufschreckten und Klein-Dorrit vor ihr stand.

»Ist es möglich, Mrs. Clennam, daß Sie sich so glücklich erholt haben, um –«

Klein-Dorrit hielt inne, denn es lag weder Glück noch Gesundheit in dem Gesicht, das sich ihr zuwandte.

»Das ist keine Erholung; es ist keine Stärke; ich weiß nicht, was es ist.« Mit einem unruhigen Wink ihrer Hand wies sie das alles von sich ab. »Es wurde Ihnen ein Päckchen überbracht, das Sie Arthur geben sollten, wenn es nicht vor Torschluß heute abend reklamiert würde.«

»Ja.«

»Ich reklamiere es.«

Klein-Dorrit zog es aus ihrem Busen und gab es ihr in die Hand, die ausgestreckt blieb, nachdem sie es empfangen hatte.

»Haben Sie eine Ahnung von seinem Inhalt?«

Eingeschüchtert durch die Anwesenheit dieser Frau, die eine neue Bewegkraft in sich hatte, die nicht Stärke sein sollte, und auf die zu blicken so unheimlich war, als wenn ein Bild oder eine Statue lebendig würde, antwortete Klein-Dorrit: »Nein!«

»Lesen Sie.«

Klein-Dorrit nahm das Päckchen aus der noch immer ausgestreckten Hand und erbrach das Siegel. Mrs. Clennam gab ihr dann das innere Päckchen, das an sie selbst adressiert war, und behielt das andre. Der Schatten der Mauer und der Gefängnisbauten, die das Zimmer schon am Mittag verdüsterten, machten es bei der rasch zunehmenden Dämmerung zu dunkel, wenn man nicht am Fenster stand. Im Fenster, wo ein Streifen von dem hellen Sommerabendglanze auf sie fallen konnte, stand Klein-Dorrit und las. Nach einem kurzen Ausruf des Staunens und Schreckens las sie still weiter. Als sie zu Ende war, sah sie sich um, und ihre alte Herrin beugte sich vor ihr.

»Sie wissen jetzt, was ich getan habe.«

»Ich glaube. Ich fürchte, obgleich mein Gemüt so aufgeregt und schmerzerfüllt ist und so viel Mitleid fühlt, daß es nicht imstande war, alles ganz zu fassen, was ich gelesen!« sagte Klein-Dorrit mit zitternder Stimme.

»Ich will Ihnen ersetzen, was ich Ihnen vorenthalten habe. Vergeben Sie mir. Können Sie mir vergeben?«

»Ich kann, und der Himmel weiß, ich tue es auch! Küssen Sie mein Kleid nicht, und knien Sie nicht vor mir. Sie sind zu alt, um vor mir zu knien; ich vergebe Ihnen, frei und ungezwungen, auch ohne das.«

»Ich habe noch mehr von Ihnen zu fordern.«

»Nicht in dieser Stellung«, sagte Klein-Dorrit. »Es ist unnatürlich, Ihr graues Haar tiefer als das meine zu sehen. Bitte, stehen Sie auf; lassen Sie mich Ihnen helfen.« Damit hob sie sie auf und stand etwas gebeugt vor ihr, sah sie jedoch ernst an.

»Die große Bitte, die ich an Sie richte (es bleibt noch eine andre, die aus ihr erwächst), die große Bitte, die ich an Ihr mitleidiges und liebevolles Herz richte, ist, daß Sie dies nicht früher Arthur mitteilen, als bis ich tot bin. Wenn Sie, nachdem Sie sich die Sache einige Zeit überlegt, der Ansicht sind, es könne ihm irgendwie von Nutzen sein, es zu wissen, solange ich noch lebe, so sagen Sie es ihm. Aber Sie werden nicht dieser Ansicht sein; und wollen Sie in solchem Falle mir versprechen, mich zu schonen, bis ich tot bin?«

»Ich bin so niedergeschlagen, und was ich gelesen, hat mich so verwirrt in meinen Gedanken«, versetzte Klein-Dorrit, »daß ich kaum eine bestimmte Antwort zu geben imstande bin. Wenn ich völlig überzeugt wäre, daß die Bekanntschaft mit dieser Sache Mr. Clennam von keinem Nutzen wäre –«

»Ich weiß, Sie hängen an ihm und werden die erste Rücksicht auf ihn nehmen. Es ist recht und billig, daß Sie das tun; ich wünsche das selbst. Aber wenn Sie sein Interesse berücksichtigt haben und noch finden, daß Sie mich für die kurze Zeit, die ich auf Erden zubringe, schonen können, wollen Sie es dann tun?«

»Ja.«

»Gott segne Sie!«

Sie stand im Schatten, so daß sie Klein-Dorrit, die im Lichte stand, nur wie eine verschleierte Gestalt erschien; aber der Klang ihrer Stimme, als sie diese drei Worte des Dankes sagte, war zu gleicher Zeit inbrünstig und gebrochen. Gebrochen durch die Rührung, die ihren starren Augen so ungewohnt war als Bewegung ihren starren Gliedern. »Sie werden sich vielleicht wundern«, sagte sie in kräftigerem Tone, »daß ich es leichter nehme, von Ihnen gekannt zu sein, der ich Unrecht zugefügt habe, als dem Sohne meiner Feindin, die mir Unrecht zugefügt. Denn sie hat mir Unrecht zugefügt! – Sie sündigte nicht allein furchtbar gegen den Herrn, sondern sie fügte mir Unrecht zu. Wie sich Arthurs Vater gegen mich benahm, das war ihre Schuld. Von unsrem Hochzeitstage an war ich sein Schrecken, und dazu machte sie mich. Ich war die Geißel für beide, und daran ist sie schuld. Sie lieben Arthur (ich kann die Röte auf Ihren Wangen sehen!), und Sie werden bereits gedacht haben, er sei so barmherzig und freundlich wie Sie, warum ich mich deshalb nicht so gut an ihn als an Sie gewandt habe. War das nicht Ihr Gedanke?«

»Kein Gedanke«, sagte Klein-Dorrit, »kann meinem Herzen ganz fremd sein, der aus dem Bewußtsein entspringt, daß man auf Mr. Clennam immer vertrauen könne, weil er freundlich, edel und gut ist.«

»Ich zweifle nicht daran. Aber Arthur ist die einzige Person auf der Welt, vor der ich dies verbergen möchte, solange ich noch lebe. Ich erzog ihn in den frühesten Tagen seiner Erinnerung mit züchtigender Hand. Ich war streng gegen ihn, da ich wußte, daß die Vergehen der Eltern an ihren Nachkommen heimgesucht werden und daß ein Zorneszeichen ihm bei seiner Geburt aufgeprägt wurde. Ich sah, wenn ich mit ihm und seinem Vater zusammen war, wie die Schwäche seines Vaters ihn von diesen Fesseln loszubinden sich sehnte; und drängte diesen Wunsch zurück, damit das Kind in Banden und Druck frei zu werden lerne. Ich sah, wie er mit seiner Mutter Gesicht scheu von seinen kleinen Büchern zu mir aufblickte und mich in dem Ton seiner Mutter, der mich hart machte, zu erweichen suchte.«

Der Schauer ihrer Zuhörerin machte, daß sie den Fluß ihrer mit einer durch den Blick auf die Vergangenheit düster klingenden Stimme vorgebrachten Worte für einen Augenblick unterbrach.

»Es geschah um seinetwillen. Nicht um mich für das mir angetane Unrecht zu rächen. Was war ich und was wollte es heißen gegenüber dem Fluch des Himmels! Ich sah das Kind heranwachsen, nicht zu hoher Frömmigkeit (dazu lag das Vergehen seiner Mutter zu schwer auf ihm), doch zu Rechtschaffenheit und Aufrichtigkeit und Demut gegen mich. Er liebte mich nicht, wie ich mir einst die schwache Hoffnung gemacht – so schwach sind wir, und so streiten die verdorbenen Neigungen unseres Fleisches mit unserer Aufgabe, unserer Mission: aber er achtete mich und ordnete sich treulich mir unter. Er tut es noch bis auf diese Stunde. Mit einem leeren Platze in seinem Herzen, dessen Bedeutung er nie gekannt, hat er sich von mir abgewandt und ist seinen gesonderten Weg gegangen; aber auch dies tat er rücksichtsvoll und mit Ehrerbietung. Das waren seine Beziehungen zu mir. Die Ihrigen waren schwächere und von nicht so altem Datum. Wenn Sie mit Ihrer Näharbeit in meinem Zimmer saßen, fürchteten Sie sich vor mir, aber Sie waren der Ansicht, ich wolle Ihnen eine Güte erzeigen. Nun sind Sie besser unterrichtet und wissen, daß ich Ihnen ein Unrecht zugefügt. Ihre Mißdeutung und Ihr Mißverstehen der Ursachen und Gründe, deretwegen ich dies getan, ist leichter zu ertragen, als es das seinige wäre. Ich möchte um keinen Preis der Welt, daß er einen Augenblick, wenn auch blindlings, mich von dem Standpunkt herabriß, den ich sein ganzes Leben ihm gegenüber eingenommen, mir seinen Respekt entzöge, daß ich mich entdeckt und bloßgestellt sähe. Mag es geschehen, wenn es geschehen soll, aber nur lassen Sie mich nicht mehr leben, um es zu sehen. Lassen Sie mich immer fühlen, solange ich lebe, daß ich vor seinem Antlitz sterbe und gänzlich vor ihm zugrunde gehe wie einer, den der Blitz verzehrt oder ein Erdbeben verschlingt.«

Ihr Stolz trat mächtig zutage, und die Qualen, die der Stolz und ihre alten Leidenschaften ihr verursachten, waren peinlicher denn sonst, als sie diese Worte sprach. Nicht geringer aber, als sie hinzufügte:

»Auch jetzt noch sehe ich Sie vor mir beben, als wenn ich grausam gewesen wäre.«

Klein-Dorrit konnte dem nicht widersprechen. Sie suchte es nicht zu zeigen, aber sie schauerte bei dem Gedanken an den Gemütszustand, unter dessen Druck sie so lange geseufzt. Der Gedanke drängte sich ihrer einfachen Natur ohne Sophisterei in seiner ganzen Peinlichkeit auf.

»Ich habe getan«, sagte Mrs. Clennam, »was mir zu tun bestimmt war. Ich habe mich gegen das Böse gestemmt; nicht gegen das Gute. Ich war ein Werkzeug der Strenge gegen die Sünde. Haben nicht zu allen Zeiten bloße Sünder wie ich die Mission erhalten, die Sünde in den Staub zu beugen?«

»Zu allen Zeiten?« wiederholte Klein-Dorrit.

»Hätte ich, selbst wenn das mir zugefügte Unrecht bei mir in den Vordergrund getreten wäre und meine eigne Rache die Triebfeder meines Handelns gewesen, keine Rechtfertigung gefunden? Keine in jenen alten Zeiten, wo der Unschuldige mit dem Schuldigen unterging, tausend gegen einen? Wo der Zorn dessen, der das Ungerechte haßte, nicht einmal in Blut erlosch und doch Gnade fand?«

»Oh, Mrs. Clennam, Mrs. Clennam«, sagte Klein-Dorrit, »Gefühle des Zornes und Taten der Unversöhnlichkeit sind kein Trost und keine Richtschnur für Sie und mich. Mein Leben verfloß in diesem armseligen Gefängnis, und mein Unterricht war sehr mangelhaft; aber lassen Sie mich Sie bitten, späterer und besserer Tage zu gedenken. Lassen Sie sich einzig leiten durch den Heiler der Kranken, den Erretter vom Tode, den Freund aller Bekümmerten und Verlorenen, den geduldigen Meister, der Tränen des Mitleids über unsre Schwächen vergoß. Wir können nur auf dem rechten Wege sein, wenn wir alles übrige wegwerfen und alles im Gedanken an ihn tun. Keine Rache ist möglich, wenn wir ihm folgen und keine andren Fußstapfen als die seinen suchen; des bin ich gewiß!«

In dem sanften Lichte des Fensters, wie sie von dem Schauplatz ihrer ersten Prüfungen zu dem glänzenden Himmel aufschaute, stand sie in keinem grelleren Gegensatz zu der schwarzen Gestalt im Schatten als das Leben, und die Überzeugung, auf die sie baute, zu der Geschichte dieser Gestalt, die langsam ihr Haupt senkte und kein Wort sprach. So blieb sie, bis das erste Zeichen der Glocke ertönte.

»Horch!« rief Mrs. Clennam, aus ihrem Sinnen auffahrend. »Ich sagte, ich habe noch eine andre Bitte. Es ist eine Bitte, die keinen Verzug gestattet. Der Mann, der Ihnen das Päckchen brachte und die Beweise in Händen hat, befindet sich gegenwärtig in meinem Hause und will erkauft sein. Ich kann die Sache Arthur nur dadurch geheimhalten, daß ich diesen Mann erkaufe. Er verlangt eine große Summe; mehr, als ich für den Augenblick zusammenbringen kann, um ihn zu bezahlen. Er will nichts von einem Nachlaß wissen, denn er droht, wenn die Sache mit mir nicht ins reine komme, zu Ihnen zu gehen. Wollen Sie mit mir kommen und ihm zeigen, daß Sie die Sache bereits wissen? Wollen Sie mit mir kommen und ihn zu überreden suchen? Wollen Sie mit mir kommen und mir gegen ihn beistehen? Verweigern Sie mir nicht, was ich in Arthurs Namen bitte, obgleich ich es nicht um Arthurs willen zu bitten wage!«

Klein-Dorrit sagte bereitwillig zu. Sie eilte für einige Augenblicke nach dem Gefängnis, kehrte zurück und sagte, sie sei bereit zu gehen. Sie gingen über eine andre Treppe weg und vermieden das Schließerstübchen; als sie über den vordern Hof kamen, war alles still und öde, und sie traten auf die Straße.

Es war einer jener Sommerabende, wo keine größere Dunkelheit eintritt als ein langandauerndes Zwielicht. Die Aussicht auf Straße und Brücke war klar und der Himmel rein und schön. Die Leute standen und saßen an ihren Türen, spielten mit ihren Kindern und freuten sich des Abends; andere gingen spazieren, um Luft zu schöpfen; die Last des Tages hatte sich beinahe selbst erschöpft, und wenige, außer ihnen, hatten Eile. Als sie über die Brücke gingen, sahen die klarumrissenen Glockentürme der zahlreichen Kirchen aus, als ob sie aus der Dunkelheit herausgetreten, die sie gewöhnlich umhüllte, und näher gekommen wären. Der Rauch, der zum Himmel aufstieg, hatte seine schmutzige Farbe verloren und ein glänzendes Aussehen angenommen. Die Schönheit des Sonnenuntergangs war noch auf dem in friedlicher Ruhe mit leichten Wölkchen überzogenen Abendhimmel ausgebreitet. Aus einem leuchtenden Mittelpunkt ergossen sich über die ganze Länge und Breite des ruhigen Firmaments große Lichtströme zwischen die frühen Sterne, als Zeichen des heiligen neuen Friedens- und Hoffnungsbundes, der die Dornenkrone in eine Glorie verwandelt.

Weniger auffallend, weil sie nicht mehr allein und es auch schon dunkler war, eilte Mrs. Clennam unbelästigt an Klein-Dorrits Seite durch die Straßen. Sie verließen die Hauptstraße bei der Ecke, bei der sie sie betreten, und schlugen den Weg durch die stillen, leeren Querstraßen ein. Ihre Füße waren an dem Torweg, als sie ein plötzliches Geräusch wie Donner vernahmen.

»Was war das? Wir wollen rasch eintreten«, rief Mrs. Clennam.

Sie standen in dem Torweg. Klein-Dorrit hielt sie mit einem gellen Schrei zurück.

Einen flüchtigen Augenblick sahen sie noch das alte Haus vor sich, in dessen Fenster der rauchende Fremde saß: noch ein Donnerschlag, und es erhob sich, schwoll, ging an fünfzig Stellen auseinander, brach zusammen und lag in Trümmern. Betäubt durch das furchtbare Geräusch, atemlos, erstickt und geblendet durch den Staub, bedeckten sie ihre Gesichter mit der Hand und standen wie an den Boden gewurzelt da. Der Staubwirbel, der zwischen ihnen und dem heitern Himmel auftrieb, verteilte sich einen Augenblick und zeigte ihnen die Sterne. Als sie ungestüm nach Hilfe rufend wieder aufblickten, wankte die große Masse der Kamine, die allein noch stehengeblieben waren, wie ein Turm im Wirbelwind, brach zusammen und stürzte wie ein Hagel auf den Trümmerhaufen, als wenn jeder niederfallende Stein den zermalmten Schurken noch tiefer begraben wollte.

So bis zur Unkenntlichkeit durch die in der Luft umherfliegenden Teilchen des Schuttes geschwärzt, eilten sie weinend und schreiend nach der Straße zurück. Dort sank Mrs. Clennam auf die Steine, und sie bewegte von dieser Stunde keinen Finger wieder, noch konnte sie fortan ein Wort sprechen. Denn über drei Jahre lag sie in ihrem Räderstuhle und betrachtete aufmerksam die Umstehenden, während es das Aussehen hätte, als ob sie verstünde, was sie sprechen; aber das strenge Schweigen, das sie so lange beobachtet hatte, wurde jetzt auf immer zum Zwang für sie, und abgesehen davon, daß sie ihre Augen bewegen und Bejahen und Verneinen schwach mit dem Kopfe andeuten konnte, lebte und starb sie wie eine Statue.

Affery hatte im Gefängnis nach ihnen gefragt und sie unfern von der Brücke zu Gesicht bekommen. Sie eilte herbei, um ihre alte Herrin in ihren Armen aufzufangen, sie in ein benachbartes Haus tragen zu helfen und ihr dienstlich zu sein. Das Geheimnis des Geräusches war jetzt am Tage: Affery, wie bedeutendere Leute, hatte immer recht in Beziehung auf Tatsachen und immer unrecht in Beziehung auf die Theorie, die sie daraus entwickelte.

Als sich die Staubwolken verzogen und die Sommernacht wieder ruhig geworden, versperrten zahlreiche Menschenmassen jeden Straßenzugang, und es bildeten sich Abteilungen von Arbeitern, die sich im Durchsuchen der Trümmer ablösen sollten. Es waren hundert Menschen zur Zeit des Zusammenstürzens in dem Hause gewesen, dann wieder fünfzig, dann fünfzehn, dann zwei. Das Gerücht blieb bei der Zahl zwei stehen: nämlich dem Fremden und Mr. Flintwinch.

Die Arbeiter gruben die kurze Nacht hindurch beim flackernden Gaslicht, und auf gleicher Höhe mit der frühen Morgensonne, und tiefer und tiefer hinab, je mehr sich die Sonne zum Zenit erhob, und unter ihren schwachen Strahlen, als sie hinabsank, und wieder auf gleicher Höhe mit ihr, als sie schied. Das angestrengte Graben und Schaufeln und Wegführen in Karren, auf Tragbahren und in Körben dauerte ohne Unterbrechung Tag und Nacht fort. Aber es wurde zum zweiten Male Nacht, als sie den schmutzigen Klumpen fanden, der einst der Fremde gewesen war, ehe sein Kopf in Atome wie Glas von dem großen Balken, der auf ihm lag, zermalmt worden.

Aber sie waren noch nicht auf Flintwinch gestoßen. So dauerte das emsige Graben und Schaufeln und Wegführen ohne Unterbrechung Tag und Nacht fort. Das Gerücht ging, daß das alte Haus ein ausgezeichnetes Kellergeschoß gehabt (was wirklich wahr war), und daß Flintwinch in jenem Augenblick in einem Keller gewesen oder Zeit gehabt, in einen zu entkommen, und daß er unter dem starken Gewölbe sicher sei, ja, daß man ihn sogar in hohlen, unterirdischen, halberstickten Tönen habe rufen hören: »Ich bin hier!« Am entgegengesetzten Ende der Stadt wußte man sogar, daß die Ausgrabenden imstande gewesen, durch eine Röhre eine Verbindung mit ihm herzustellen, und daß er durch diesen Kanal Suppe und Branntwein erhalten, und daß er mit bewundernswürdiger Fassung gesagt habe, er befinde sich ganz wohl mit Ausnahme seines Schlüsselbeines. Aber das Graben und Schaufeln und Wegführen dauerte ohne Unterbrechung fort, bis die Trümmer alle weggeschafft und die Keller geöffnet waren, doch weder durch Picke noch durch Spaten wurde ein Flintwinch, lebendig oder tot, ganz wohl oder ganz übel, herausgeschafft.

Man merkte nun, daß Flintwinch zur Zeit des Einfallens gar nicht im Hause dagewesen; und man merkte ferner, daß er anderwärts ziemlich beschäftigt gewesen, indem er Wertpapiere in so viel Geld umsetzte, wie in der Eile zu erlangen war, und seine Vollmacht, für die Firma zu handeln, ausschließlich in seinem eigenen Interesse benutzt hatte. Affery, die sich erinnerte, daß der Gescheite gesagt, er wolle sich in vierundzwanzig Stunden weiter erklären, entschied sich dahin, daß sein Verschwinden in diesem Augenblick und mit allem, was er aufbringen konnte, die Summe und der wesentliche Inhalt seiner versprochenen Erklärung sei; aber sie verhielt sich ruhig, von Herzen dankbar, daß sie ihn los und seiner ledig war. Da es ein vernünftiger Schluß zu sein schien, daß ein Mann, der nicht begraben worden, auch nicht ausgegraben werden könne, so gaben ihn die Arbeiter auf, als ihre Arbeit geschehen war, und gruben nicht auch noch in den Tiefen der Erde nach ihm.

Dies vermerkte eine große Masse Menschen gar übel; denn sie beharrten bei der Ansicht, daß Flintwinch irgendwo unter den geologischen Formationen Londons liege. Auch war ihr Glaube nicht sonderlich erschüttert durch die wiederholte Nachricht, die im Verlauf der Zeit über den Kanal kam, daß ein alter Mann, der den Zipfel seines Halstuches unter einem Ohr trage und als Engländer bekannt sei, mit den Holländern an den saubern Ufern der Kanäle im Haag und in den Wirtshäusern von Amsterdam unter dem Titel und Namen eines Mynheer von Flyntevynge verkehre.

Fünfundzwanzigstes Kapitel.


Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Der Oberhaushofmeister gibt sein Amtssiegel zurück.

Das Diner fand bei dem berühmten Arzt statt. Advokat war dort und in vollem Glanz. Ferdinand Barnacle war dort und in seiner gewinnendsten Erscheinung. Wenige Wege des Lebens waren dem Arzt verborgen, und er betrat die dunkelsten Orte häufiger als sogar Bischof. Es gab glänzende Damen in London, die ganz in ihn verliebt waren und ihn den reizendsten Mann und den liebenswürdigsten Mann nannten, und die geschaudert hätten, so dicht bei ihm zu stehen, wenn sie gewußt hätten, worauf diese gedankenvollen Augen vor ein oder zwei Stunden geruht und an welchen Betten und unter welchen Dächern seine ruhige Gestalt gestanden hatte. Aber der Arzt war eine stille Natur, die weder auf ihrer eigenen Trompete, noch auf der Trompete andrer Leute blies. Mancherlei wunderbare Dinge sah und hörte er, und unter vielen unversöhnlichen Widersprüchen sittlicher Art verbrachte er sein Leben; aber sein teilnahmvolles Herz blieb sich unverändert gleich wie das des göttlichen Meisters aller Heilkunst. Er kam wie der Regen zu den Gerechten und Ungerechten, tat so viel Gutes, als er konnte, und verkündete es weder in den Synagogen noch an den Straßenecken.

Wie kein Mann von großer Menschenkenntnis, so wenig er auch daraus machen mag, anders als ungemein interessant durch den Besitz solchen Wissens sein kann, so war auch der Arzt eine anziehende Persönlichkeit. Selbst die feineren Herren und Damen, die keine Idee von seinem Geheimnis hatten, und die vor Schrecken von mehr Verstand gekommen wären, als sie besaßen, wenn er ihnen den ungeheuer unpassenden Vorschlag gemacht: »Kommt und seht, was ich sehe!«, gestanden, daß er ein anziehender Mann sei. Wo er war, war etwas Reelles. Und ein halber Gran Wirklichkeit gibt wie der kleinste Teil einiger anderer kaum natürlicher Produkte einem unermeßlichen Quantum Verdünnungsstoff Geschmack.

Daher kam es auch, daß die kleinen Diners des Arztes die Leute in ihrem mindest konventionellen Licht zeigten. Die Gäste sagten sich, unbewußt oder nicht: »Hier ist ein Mann, der uns wirklich kennt, wie wir sind, der jeden Tag einige von uns bei seinen Besuchen ohne Perücke und Schminke sieht, der unsern Gedankengang kennt und den unverstellten Ausdruck unserer Züge sieht, wenn wir über beide keine Macht mehr haben; wir können ihm gegenüber schon mehr die natürliche Seite herauskehren, denn er ist im Vorteil uns gegenüber und ist uns zu sehr überlegen.« Deshalb ließen sich die Gäste an seinem Tisch so überraschend gehen, daß sie beinahe natürlich waren.

Advokats Kenntnis der Masse der Jurymänner, die man Menschheit nennt, war so scharf wie ein Rasiermesser, aber ein Rasiermesser ist kein allgemein anwendbares Instrument, und des Arztes einfaches, glänzendes Skalpiermesser, obgleich weit weniger scharf, war zu unendlich mehr Zwecken zu gebrauchen. Advokat kannte die Leichtgläubigkeit und Unredlichkeit der Menschen; aber der Arzt hätte ihm in einer Woche seiner Krankenbesuche eine bessere Einsicht in ihre zarten und liebevollen Gefühle geben können als Westminster Hall und alle Assisen zusammen in siebenzig Jahren. Advokat hatte immer eine Ahnung davon und bestärkte sie vielleicht gern (denn wenn die Welt wirklich ein großer Gerichtshof wäre, so sollte man denken, die Schlußsitzung könnte nicht früh genug kommen);, so hatte er den Arzt ebensogern und respektierte ihn ebensosehr als jede andere Menschenklasse.

Mr. Merdles Ausbleiben ließ einen Bankostuhl am Tische frei: aber wenn er auch dagewesen, wäre er eben nur Banko gewesen, und folglich war es kein Verlust. Advokat, der rings um Westminster Hall nichts unaufgelesen ließ, gerade wie ein Rabe, wenn er so viel Zeit dort zugebracht, hatte in den letzten Tagen viele Strohhalme dort aufgelesen und in die Luft geworfen, um zu sehen, woher der Merdlewind bliese. Er sprach jetzt ein paar Worte über diese Sache mit Mrs. Merdle selbst, auf die er, natürlich mit seinem doppelten Augenglas und einer Juryverbeugung, zugekommen war.

»Ein gewisser Vogel,« sagte Advokat, und er sah dabei aus, als ob es kein anderer Vogel hätte sein können als eine Elster, »zwitscherte neuerdings unter uns Advokaten, daß die betitelten Personen dieses Reiches einen Zuwachs erhalten sollten.«

»Wirklich?« sagte Mrs. Merdle.

»Ja«, sagte Advokat, »Hat dieser Vogel nicht auch in weit andere Ohren als die unsrigen – in liebliche Ohren gezwitschert?« Er sah dabei ausdrucksvoll auf Mrs. Merdles nächsten Ohrring.

»Meinen Sie die meinigen?« fragte Mrs. Merdle.

»Wenn ich sage lieblich«, sagte Advokat, »so meine ich immer Sie.«

»Ich glaubte, Sie meinen nie etwas«, versetzte Mrs. Merdle (nicht unangenehm berührt).

»Oh, wie grausam ungerecht!« sagte Advokat. »Aber der Vogel?«

»Ich bin die letzte Person in der Welt, die Neuigkeiten hört«, bemerkte Mrs. Merdle, nachlässig sich ihren festen Platz zurechtrückend. »Wer ist es?«

»Was für eine bewundernswerte Zeugin würden Sie abgeben!« sagte Advokat. »Keine Jury (wenn wir sie nicht etwa aus Blinden zusammensetzten) könnte Ihnen widerstehen, wenn Sie auch noch so schlecht aussagten; aber Sie würden sicher nur gut aussagen.«

»Warum, Sie lächerlicher Mann?« fragte Mrs. Merdle lachend.

Advokat bewegte sein doppeltes Augenglas drei- bis viermal zwischen sich und dem Busen, gewissermaßen als scherzhafte Antwort, und fragte dann in dem einschmeichelndsten Ton:

»Wie darf ich die eleganteste, vollkommenste und reizendste der Frauen in einigen Wochen oder vielleicht in einigen Tagen nennen?«

»Hat Ihr Vogel Ihnen nicht gesagt, wie Sie sie nennen sollen?« antwortete Mrs. Merdle. »Fragen Sie ihn morgen, und sagen Sie es mir, wenn wir uns wieder sehen, was er sagt!«

Dies führte zu weitern scherzhaften Reden zwischen den beiden; aber Advokat konnte trotz all seiner Schlauheit nichts aus ihr herausbringen. Der Arzt dagegen, der Mrs. Merdle zu ihrem Wagen hinabbrachte und ihr den Mantel umnehmen half, erkundigte sich mit seiner gewöhnlichen ruhigen Gewandtheit nach den Symptomen.

»Darf ich fragen«, sagte er, »ob es wahr ist, mit Merdle?«

»Mein lieber Doktor«, erwiderte sie, »Sie fragen mich dieselbe Frage, die ich Lust hatte, an Sie zu richten.«

»An mich? Warum an mich?«

»Auf meine Ehre, ich denke, Mr. Merdle schenkt Ihnen größeres Vertrauen als irgend jemand.« »Im Gegenteil, er sagt mir absolut gar nichts, selbst nicht mal in ärztlicher Beziehung. Sie haben natürlich von dem Gerede gehört?«

»Natürlich. Aber Sie wissen, wie Merdle ist; Sie wissen, wie schweigsam und zurückhaltend er ist. Ich versichere Sie, ich weiß nicht im mindesten, ob die Sage Grund hat. Ich wünschte, es wäre wahr; warum soll ich das leugnen! Sie würden es doch besser wissen, wenn es wahr wäre!«

»Allerdings!« sagte der Arzt.

»Aber ob es ganz wahr, oder halb wahr, oder ganz falsch, bin ich außerstande zu sagen. Es ist eine höchst ärgerliche Lage, eine höchst abgeschmackte Lage; aber Sie kennen Mr. Merdle und werden sich nicht darüber wundern.«

Der Arzt war nicht verwundert, half ihr in den Wagen und wünschte ihr gute Nacht. Er stand einen Augenblick an der Tür seines Hauses und sah ruhig der eleganten Equipage nach, wie sie davonrollte. Als er wieder hinaufkam, zerstreuten sich die übrigen Gäste auch bald, und er war allein. Da er sich fleißig in aller Art von Literatur bewegte (über welche Schwäche er nie ein Wort der Entschuldigung verlor), setzte er sich behaglich nieder, um noch zu lesen. Die Uhr auf seinem Studiertisch zeigte ein paar Minuten vor zwölf, als ein Läuten an der Hausglocke seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Als ein Mann von einfachen Gewohnheiten hatte er die Dienerschaft zu Bett gehen lassen und mußte nun selbst hinuntergehen, um die Tür zu öffnen. Er ging hinab und fand einen Mann ohne Hut und Rock, dessen Hemdärmel bis dicht unter die Schultern hinaufgestülpt waren. Einen Augenblick glaubte er, er komme von einer Boxerei; um so mehr, als er sehr aufgeregt und außer Atem war. Ein zweiter Blick jedoch zeigte ihm, daß der Mann besonders reinlich und an seinem Anzug nichts anderes in Unordnung war, als was eben beschrieben worden ist.

»Ich komme von den warmen Bädern, Herr, hier in der Straße nebenan.«

»Und was ist mit den warmen Bädern?«

»Wollten Sie so gefällig sein, sogleich hinzukommen. Wir fanden dies auf dem Tisch liegen.«

Er legte ein Stück Papier in die Hand des Arztes. Der Arzt betrachtete es und las seinen eigenen Namen und seine Adresse mit Bleistift geschrieben; nichts weiter. Er sah die Schrift näher an, blickte dann den Mann an, nahm seinen Hut von einem Haken, steckte den Hausschlüssel in die Tasche, und so eilten sie miteinander fort.

Als sie an das Badehaus kamen, erwarteten alle zu dem Etablissement gehörigen Leute sie an der Tür oder rannten in den Gängen auf und ab. »Bitte, lassen Sie niemand uns folgen«, sagte der Arzt laut zu dem Bademeister, »und führen Sie mich geradewegs an Ort und Stelle, mein Freund«, zu dem Boten.

Der Bote eilte ihm voraus an einer Reihe kleiner Kabinette vorüber und ging in eines am Ende der Reihe, indem er hineinblickte.

Der Arzt folgte ihm dicht auf dem Fuß und sah gleichfalls zur Tür hinein.

In dieser Ecke war ein Bad, aus dem man das Wasser in der Eile abgelassen hatte. In dem Bad lag wie in einem Grabe oder Sarkophag, flüchtig mit einem Leintuch und einer wollenen Bettdecke umwickelt, der Leichnam eines schwergebauten Mannes, mit aufgedunsenem Kopf und groben, gewöhnlichen Gesichtszügen. Ein Schrägfenster an der Decke war geöffnet, um den Dampf hinauszuschaffen, mit dem das Zimmer geschwängert war; aber er hing, zu Wassertropfen niedergeschlagen, schwer an den Wänden und auf dem Gesicht und der Gestalt im Bade. Das Zimmer war noch heiß und der Marmor des Bades noch warm; aber das Gesicht und der Körper war klebrig bei der Berührung. Der weiße Marmor am Boden des Bades war von einem schrecklichen Rot geädert. Auf dem Rand an der Seite sah man ein leeres Laudanumfläschchen und ein Schildpattfedermesser – befleckt, aber nicht mit Tinte.

»Durchschneiden der Halsader – rascher Tod – schon eine halbe Stunde tot.« Das Echo der Worte des Arztes schallte durch die Zimmer und Kabinette und durch das Haus, während er sich noch aus seiner gebückten Stellung emporrichtete, denn er hatte sich hinabgebeugt, um bis an den Boden des Bades zu reichen, und noch während er sich die Hände im Wasser abspülte, so daß dieses rötliche Adern durchzogen wie den Marmor, ehe dieser wie eine rote Wand aussah.

Er richtete seine Blicke auf die Kleider auf dem Sofa und die Uhr, das Geld und die Brieftasche auf dem Tisch. Ein gefaltetes Papier, halb umgebogen in dem Taschenbuch, halb aus demselben hervorsehend, fiel ihm in die Augen. Er sah es an, faßte es mit den Händen, zog es ein wenig weiter aus den Blättern heraus, sagte ruhig: »Das ist an mich gerichtet«, öffnete und las es.

Er hatte keine Anweisungen zu geben. Die Leute im Hause wußten, was sie zu tun hatten; die Beamten, deren Aufgabe dies war, fanden sich ein, und sie nahmen in gleichmütiger, geschäftsmäßiger Weise Besitz von dem Verstorbenen und was sein Eigentum gewesen, gerade so ruhig und gefaßt, wie wenn man eine Uhr aufzieht. Der Arzt war froh, wieder in die Nachtluft hinauszukommen – war sogar froh, trotz seiner großen Erfahrung, für einige Augenblicke auf eine Treppenstufe niederzusitzen; denn er fühlte sich unwohl und schwach.

Advokat wohnte nahe bei ihm, und als er vor das Haus kam, sah er ein Licht in dem Zimmer, wo er wußte, daß sein Freund oft noch spät bei seiner Arbeit saß. Da nie Licht dort war, wenn der Advokat nicht in seinem Zimmer war, so gab ihm dies die Gewißheit, daß Advokat noch nicht zu Bett gegangen war. In der Tat hatte der geschäftige Mann morgen ein Verdikt gegen die Zeugenaussagen zustandezubringen und benutzte die goldenen Morgenstunden, um den Herren von der Jury Schlingen zu legen.

Das Pochen des Arztes setzte Advokat in Erstaunen; da er aber augenblicklich Verdacht schöpfte, es komme jemand, um ihm zu sagen, daß ein anderer Jemand ihn zu bestehlen oder ihn anderweitig zu übervorteilen suchen wolle, so kam er rasch und leise herab. Er hatte sich den Kopf mit kaltem Wasser gekühlt, als gute Vorbereitung, die Köpfe der Jury mit heißem Wasser zu waschen, und las, während er den Hemdkragen weit offen hatte, damit er die Gegenzeugen um so besser würgen könnte. Er sah deshalb etwas wild aus. Als er den Arzt erblickte, den er am wenigsten erwartet hatte, sah er noch verstörter aus und sagte: »Was gibt’s?«

»Sie fragten mich einst, was Mr. Merdles Übel sei.«

»Seltsam! Ich erinnere mich dessen.«

»Ich sagte Ihnen, daß ich es noch nicht herausgefunden hätte.«

»Ja, ich weiß das.«

»Ich habe es nun gefunden.«

»Mein Gott!« sagte Advokat, erschrocken zurücktretend und seine Hand auf die Brust des andern legend. »Und ich weiß es jetzt auch! Ich lese es jetzt in Ihrem Gesicht.«

Sie gingen in das nächste Zimmer, wo der Arzt ihm einen Brief zu lesen gab. Er las ihn ein dutzendmal durch. Es stand nicht viel darin, aber er nahm seine volle und dauernde Aufmerksamkeit in Anspruch. Er konnte sein Bedauern nicht genug aussprechen, daß er nicht selbst den Schlüssel dazu gefunden. Der kleinste Schlüssel, sagte er, würde ihm genügt haben, und welch ein Glück wäre das gewesen, dieser Sache auf den Grund zu kommen!

Der Arzt hatte es übernommen, die Nachricht nach Harley Street zu bringen. Advokat war außerstande, sogleich wieder an seine Verlockungen der erleuchtetsten und bedeutendsten Jury zu gehen, die er je auf dieser Bank gesehen, bei denen, das konnte er seinem gelehrten Freunde sagen, keine seichte Sophisterei angebracht wäre, und die sich von keiner unglücklicherweise mißbrauchten advokatorischen Schlauheit und Geschicklichkeit imponieren lasse (auf diese Weise gedachte er zu beginnen); deshalb sagte er, er wolle seinen Freund begleiten und in der Nähe des Hauses auf und ab gehen, während sein Freund drinnen sei. Sie gingen zu Fuß, um in der Luft sich etwas zu erholen und zu fassen; und die Fittiche des Tages verscheuchten bereits die Nacht, als der Arzt an die Tür pochte.

Ein Bedienter, in den Farben des Regenbogens, so dünkte es dem Publikum, wartete auf seinen Herrn – das heißt, er schlief in der Küche vor ein paar Lichtern und einer Zeitung, indem er dadurch die große Masse mathematischen Übergewichts gegen die Wahrscheinlichkeit, daß ein Haus durch Zufall in Brand gerät, demonstrierte. Als dieser dienstbare Geist geweckt war, mußte der Arzt noch das Wecken des Oberhaushofmeisters abwarten. Endlich kam dieses vornehme Geschöpf in einem Flanellrock und Salbandschuhen in das Speisezimmer; aber er trug eine Krawatte und war von Kopf bis zu Fuß Haushofmeister. Es war jetzt Morgen. Der Arzt öffnete die Läden eines Fensters, während er wartete, um das Licht sehen zu können.

»Mrs. Merdles Kammerjungfer lassen Sie rufen, damit sie Mrs. Merdle aufwecke und sie so vorsichtig wie möglich auf meinen Besuch vorbereite. Ich habe ihr eine furchtbare Nachricht mitzuteilen.«

So sprach der Arzt zu dem Oberhaushofmeister. Der letztere, der ein Licht in der Hand hatte, rief dem Bedienten, daß er es nehme. Dann trat er würdevoll an das Fenster, indem er die Nachricht des Arztes genau so entgegennahm, wie er in demselben Zimmer den Diners zugesehen hatte.

»Mr. Merdle ist tot.«

»Ich wünschte in diesem Falle«, sagte der Oberhaushofmeister, »in einem Monat meine Stelle niederlegen zu dürfen.«

»Mr. Merdle hat sich das Leben genommen.«

»Sir«, sagte der Oberhaushofmeister, »das ist sehr unangenehm für die Gefühle eines Mannes in meiner Stellung, da es geeignet ist, Vorurteile zu erwecken; und ich wünschte meine Entlassung sogleich zu haben.«

»Wenn Sie auch nicht erschüttert sind, sind Sie nicht wenigstens erstaunt, Mann?« fragte der Arzt warm.

Der Oberhaushofmeister warf sich ruhig in die Brust und sagte die denkwürdigen Worte: »Sir, Mr. Merdle war nie ein Gentleman, und kein unnobler Akt von seiten Mr. Merdles würde mich überrascht haben. Kann ich Ihnen sonst jemand schicken oder irgend sonst etwas tun, was Sie wünschen sollten, ehe ich das Haus verlasse?«

Als der Arzt, nachdem er sich seiner Aufgabe oben entledigt, wieder zu Advokat auf die Straße hinabkam, sagte er nichts weiter von seiner Begegnung mit Mrs. Merdle, als daß er ihr noch nicht alles gesagt, daß sie aber, was er ihr gesagt, mit vieler Fassung getragen habe. Advokat hatte die Zeit, die er allein auf der Straße zubrachte, der Konstruktion einer höchst sinnreichen Falle, um die ganze Jury mit einem Schlage zu fangen, gewidmet; und nachdem er sich die Sache zurechtgelegt hatte, wurde es hell in seinem Geist, er konnte sich der letzten Katastrophe ganz hingeben, und sie gingen langsam miteinander nach Hause und besprachen sie nach allen Richtungen hin. Ehe sie an der Tür des Arztes schieden, sahen sie beide nach dem sonnenhellen Morgenhimmel auf, zu dem der Rauch einiger früher Feuer und der Atem und die Stimmen von einigen Frühaufgestandenen friedlich emporstiegen, blickten dann rund umher auf die ungeheure Stadt und sagten: Wenn alle diese Hunderte und Tausende von Bettlern, die noch schlafen, nur wissen könnten, wie sie beide, die jetzt miteinander sprachen, welches Verderben über ihnen schwebte, was für ein entsetzlicher Schrei gegen eine elende Seele würde zum Himmel aufgellen!

Das Gerücht, daß der große Mann tot sei, verbreitete sich mit erstaunlicher Schnelligkeit. Anfangs war er an allen Krankheiten gestorben, die man je gekannt, und an verschiedenen nagelneuen Krankheiten, die man mit Blitzesschnelligkeit für die Gelegenheit erfunden hatte. Er hatte von Kindheit an eine Wassersucht verheimlicht, er hatte vom Großvater eine große Masse Wasser auf der Brust geerbt, seit achtzehn Jahren wurde jeden Morgen eine Operation mit ihm vorgenommen, es platzten ihm zuweilen wichtige Adern (nach der Art von Feuerwerken), er hatte bald ein Lungenleiden, bald ein Herzleiden, bald auch ein Gehirnleiden. Fünfhundert Leute, die von nichts wissend sich zum Frühstück setzten, glaubten, ehe sie noch mit diesem zu Ende waren, daß sie privatim und persönlich in Erfahrung gebracht, der Arzt habe zu Mr. Merdle gesagt: »Sie müssen sich darauf gefaßt machen, eines Tages auszulöschen wie ein Licht«, und daß sie wüßten, Mr. Merdle habe geantwortet: »Der Mensch kann nur einmal sterben.« Gegen elf Uhr vormittags wurde die Gehirnkrankheit die Lieblingstheorie gegen alle übrigen; und um zwölf Uhr hatte man die Gehirnkrankheit näher als einen »Druck« bezeichnet.

Druck war so befriedigend für die öffentliche Meinung und schien jedermann so zu beruhigen, daß es den ganzen Tag hätte dabei bleiben können, wenn Advokat nicht um halb zehn Uhr den wirklichen Stand der Dinge im Gerichtshof mitgeteilt hätte. Dies führte anfangs dazu, daß man gegen ein Uhr in ganz London sich zuflüsterte, Mr. Merdle habe sich selbst entleibt. Aber das Wort »Druck« wurde, weit entfernt, durch diese Entdeckung beseitigt zu werden, mehr als je der Lieblingsausdruck. In jeder Straße moralisierten die Leute über den Druck. Alle Leute, die Geld zu gewinnen versucht hatten und denen es nicht gelungen war, sagten: Da habt ihr’s! Kaum fangt ihr an, dem Gelde nachzujagen, so bekommt ihr den Druck. Die Müßiggänger benutzten den Fall in ähnlicher Weise. Seht ihr, sagten sie, wohin ihr’s durch das ewige Arbeiten und wieder Arbeiten und wieder Arbeiten bringt! Ihr arbeitetet in einem fort, ihr übertriebt es, nun kam der Druck, und es war um euch geschehen! Diese Betrachtung machte an vielen Orten großen Eindruck, aber nirgends mehr, als bei den jungen Kommis und Associés, die noch niemals Gefahr gelaufen, daß sie sich überarbeiten würden. Diese erklärten einstimmig und feierlich, sie hofften ihr Leben lang diese Warnung nicht mehr zu vergessen und ihr Tun und Treiben so einzurichten, daß sie sich vor Druck bewahrten und sich selbst, zum Trost für ihre Freunde, noch lange am Leben erhielten.

Aber ungefähr um die Börsenzeit begann es mit dem Druck zu Ende zu gehen, und erschreckliches Geflüster verbreitete sich im Osten und Westen, Norden und Süden. Anfangs war es nur leise und ging nicht weiter als der Zweifel, ob Mr. Merdles Reichtum sich wohl so groß herausstellen würde, wie man vermutete; ob nicht eine augenblickliche Schwierigkeit eintreten würde, ihn zu »realisieren«; ob nicht sogar die wunderbare Bank eine Zeitlang (etwa einen Monat oder so) ihre Zahlungen einstellen würde. Je lauter das Geflüster wurde, was mit jeder Minute geschah, desto drohender wurde es. Er war aus nichts hervorgegangen und durch kein natürliches Wachstum oder Fortschreiten, soviel man wußte, in die Höhe gekommen; er war im Grunde doch ein gemeiner, nichtswissender Mensch; er hatte immer scheu zu Boden gesehen, und niemand war es je gelungen, einen Blick von ihm zu erhaschen; er war von allen Arten von Leuten in einer ganz unbegreiflichen Weise poussiert worden; er hatte nie eigenes Geld gehabt, seine Spekulationen waren außerordentlich planlos gewesen und seine Ausgaben unermeßlich. In stetigen Progressen nahm mit dem Dahinschwinden des Tages das Gerede an Stärke und Umfang zu. Er hatte in dem Bade einen an den Arzt adressierten Brief hinterlassen, und sein Arzt hatte den Brief erhalten, und der Brief würde morgen bei der Totenschau vorgelegt werden, und es werde die Tausende, die er betrogen, wie ein Donnerschlag treffen. Zahllose Menschen von jedem Stand und Gewerbe würden durch seine Zahlungsunfähigkeit vernichtet; alle Leute, die ihr ganzes Leben lang in behaglichen Umständen gewesen, würden ihr Vertrauen auf ihn an keinem andern Orte bereuen können als im Armenhause; Legionen von Frauen und Kindern würden ihre ganze Zukunft durch die Hand dieses mächtigen Schurken zerstört sehen. Jeder Gast bei seinen prachtvollen Festen würde sich als Teilnehmer an der Plünderung unzähliger Familien darstellen; jeder servile Verehrer des Reichtums, der ihn mit auf sein Piedestal zu heben geholfen, hätte besser daran getan, lieber gleich den Teufel selbst anzubeten. So schwoll das Gerede immer höher und wuchs durch eine Bestätigung um die andere, durch eine Abendzeitungsausgabe um die andere zu solchem Getöse an, daß man hätte glauben können, ein einsamer Wächter auf der Galerie an der St. Paulskirche hätte die Nachtluft von einem dumpfen Gemurmel des Namens Merdle geschwängert und mit jeder Art von Verwünschung erfüllt sehen müssen.

Denn um diese Zeit wußte man, daß das Übel des verstorbenen Mr. Merdle nichts als Fälschung und Betrug gewesen sei. Er, der wunderliche Gegenstand so weitverbreiteter Verehrung, der Gast bei den Festen der Vornehmen, das Wunder der großen Damengesellschaften, der Beseitiger der Ausschließlichkeit, der Vernichter des Stolzes, der Patron der Patrone, der Feilscher um die Lordschaften des Circumlocution Office, der Mann, der innerhalb von einigen zehn bis fünfzehn Jahren mehr Anerkennung gefunden, als seit mindestens zwei Jahrhunderten in England auf alle friedlichen öffentlichen Wohltäter und auf alle Führer von allen Arten der Kunst und Wissenschaft, trotz alles Zeugnisses ihrer Werke, gehäuft worden, – er, das leuchtende Wunder, der neue Stern, dem die Weisen mit Geschenken folgten, bis er stehenblieb über einem gewissen Aas am Boden einer Badewanne und verschwand – war einfach der größte Betrüger und der größte Dieb, der jemals den Galgen um seine Beute geprellt hatte.