5. Kapitel


5. Kapitel

Enthält einen ausführlichen Bericht über die Einführung des neuen Zöglings in den Schoß der Familie Pecksniff

Der beste der Architekten und Landbeschauer besaß ein Pferd, an dem die bereits erwähnten Feinde eine seltsame Ähnlichkeit mit seinem Gebieter entdecken wollten – nicht gerade in Anbetracht der äußeren Gestalt, denn es war ein klapperdürres, verhungertes Pferd, das weit schmaler im Futter stand als Mr. Pecksniff, sondern hinsichtlich seines moralischen Charakters, der – sagten sie – sehr viel versprach, aber nichts hielt. Es tat nämlich immer, als ob es trabe, kam aber nie recht vorwärts. Selbst beim langsamsten Reiseschritt pflegte es seine Beine so hoch zu heben und eine so gewaltige Rührigkeit zu entfalten, daß man hätte glauben müssen, es lege mindestens vierzehn Meilen in der Stunde zurück. Dabei war es stets so vollkommen selbstzufrieden mit seiner Geschwindigkeit und ließ sich, wenn es Gelegenheit hatte, sich mit den schnellsten Trabern zu messen, so wenig aus der Fassung bringen, daß man der Täuschung nur um so schwerer widerstehen konnte. Es war eine Art Tier, das die Brust jedes Laien mit dem lebhaftesten Gefühl der Hoffnung erfüllte, aber alle die, die es näher kannten, geradezu in Verzweiflung brachte. In welcher Hinsicht diese Charakterzüge mit denen seines Gebieters verglichen werden konnten, vermögen nur die Lästerer dieses trefflichen Mannes anzugeben. Doch bleibt es eine traurige Wahrheit und ein beklagenswerter Beleg für die Lieblosigkeit der Welt, daß diese Vergleiche tatsächlich angestellt wurden.

Auf dieses Pferd und das dazugehörige überdachte Fuhrwerk – es war eigentlich mehr ein Gig mit einer sonderbaren Geschwulst als etwas anderes – konzentrierten sich an einem schönen Morgen Mr. Pinchs Gedanken und Wünsche. Sollte er doch mit dieser stattlichen Equipage allein nach Salisbury fahren, um dort den neuen Zögling zu treffen und ihn im Triumphzuge nach Hause zu bringen.

Welch bessere Zeit könnte es wohl für Fahren, Reiten, Gehen und alle möglichen Bewegungen in freier Luft geben als einen frischen frostigen Morgen, wo die Hoffnung freudig mit dem raschen Blut durch die Adern pulsiert und den Körper von Kopf bis zu Fuß durchprickelt! Solch frohen Anfang nahm ein nervenstählender Frühwintertag, ein Tag, der die erschlaffende Sommerszeit und den Frühling beschämt, der oft nur halb so kalt ist. Die Glöckchen der Schafe klangen so klar durch die belebende Luft, als fühlten sie ihren Einfluß wie beseelte Wesen; die Bäume schüttelten statt Blättern funkelnden Reif hernieder wie Diamantenstaub. Von den Schornsteinen stieg der Rauch hoch, hoch in die Luft, als sei die jauchzende Erde aus ihrer Leblosigkeit erwacht und wolle sich nicht länger mehr durch schwere Dünste erdrücken lassen. Die Eiskruste auf dem sonst plätschernden Bach war so durchsichtig und dünn, daß es aussah, als hätte das Wasser freiwillig haltgemacht, um sich des lieblichen Morgens zu freuen. Und damit die Sonne nicht zu früh diesen Zauber breche, schwebte zwischen ihr und der Erde ein Nebel hin und her, ähnlich dem, der in Sommernächten auf den Mond lauert.

Tom Pinch fuhr weiter – nicht schnell zwar, aber doch mit dem Gefühle rascher Fahrt; und alles, was ihm begegnete, trug dazu bei, ihn in seinem Glücksgefühl zu bestärken. Als er zum Beispiel des Schlagbaums ansichtig wurde, bemerkte er, wie die Frau des Mauteinnehmers, die gerade mit einem Frachtwagen unterhandelte, wie toll in das kleine Häuschen zurückeilte, bloß um ihrem Manne zu melden, »daß Mr. Pinch käme«. Und dann, als er sich der Zollschranke näherte, eilten die Kinder des Wächters heraus und schrien zu seinem Entzücken in winzigem Chor: »Mr. Pinch! Mr. Pinch!« Der Mauteinnehmer, sonst ein recht widerhaariger Patron, mit dem die Leute nicht gerne verkehrten, kam sogar in höchsteigener Person heraus, um den Schlagbaumzoll in Empfang zu nehmen und ihm einen rauhen »guten Morgen« zu wünschen. Von alledem und einem Blick auf das Familienfrühstück auf einem kleinen runden Tische vor dem Feuer schmeckte Tom Pinch seine Brotrinde, die er mitgenommen, so würzig, als wäre sie frisch von einem Laib wirklichen Feenbrotes abgeschnitten.

Und das war noch lange nicht alles. Nicht bloß verheiratete Leute und Kinder boten Tom Pinch, wenn er vorüberfuhr, ein freundliches Willkommen. Nein, nein, funkelnde Augen und schneeige Hälse kamen an so manches Mansardenfenster geeilt, als er vorbeirasselte, und die Mädchen gaben seine Grüße zurück – nicht kärglich, sondern siebenfältig, wohlgemessen. Und so vergnügt waren alle! Und einige der Gottlosesten warfen Tom sogar Kußhändchen zu, wenn er zurückblickte. Denn wer genierte sich vor dem armen Tom Pinch!? Er war doch so harmlos.

Und dann wurde der Morgen so schön, und alles lachte so lustig und hellauf, daß die Sonne zu sagen schien: »Ich kann’s nicht länger aushalten, ich muß ein bißchen herunterschauen.« – Der Nebel, viel zu zart und scheu für so lustige Gesellschaft, floh erschrocken vor ihr dahin, und wie er entschwebte, tauchten Hügel, Täler und ferne Auen voll friedlicher Lämmer und lärmender Krähen auf, so glänzend wie ein funkelnagelneues Bild. Und in der Freude über diesen Anblick blieb auch der Bach nicht länger stehen, sondern eilte lebendig weiter, um die Kunde der drei Meilen weiter unten liegenden Mühle zu bringen.

Mr. Pinch holperte vergnüglich weiter, voll froher Gedanken und heiterer Eindrücke, als er plötzlich bei einer Biegung einen Wanderer, der mit lauter, aber nicht unmusikalischer Stimme vor sich hin sang, mitten auf der Straße fürbaß schreiten sah. Es war ein junger Mensch von fünf- oder sechsundzwanzig Jahren, der sich so frei und flott bewegte, daß die langen Enden seines losen roten Halstuchs ebenso oft nach hinten wie nach vorn flatterten. Den großen Strauß von roten Winterbeeren, die er im Knopfloch seines Samtrockes stecken hatte, konnte man so deutlich von hinten unterscheiden, als ob der Fremde den Rock verkehrt angehabt hätte.

Der junge Mann sang so laut und mit so viel Nachdruck, daß er das Rasseln der Räder nicht eher vernahm, als bis das Fuhrwerk dicht hinter ihm war. Dann erst drehte er sich um, zeigte Tom ein fröhliches Gesicht und ein Paar lachende blaue Augen und machte halt.

»Sieh da, Mark!« rief Tom Pinch und zügelte seinen Gaul. »Wer hätte das gedacht, daß wir hier zusammentreffen! Nun, das nenne ich mir eine Überraschung!«

Mark griff an seinen Hut und sagte, während ein Schatten über sein eben noch so lebhaftes Gesicht flog, er wolle nach Salisbury.

»Und wie Sie sich herausgeputzt haben!« lobte Mr. Pinch und betrachtete den jungen Mann mit großem Wohlgefallen. »Wirklich, ich hätte mir nicht vorgestellt, daß Sie ein so fescher Bursche sind, Mark!«

»Danke schönstens, Mr. Pinch; macht sich, macht sich. Meine Schuld ist’s nicht, müssen Sie wissen. Und mit dem Herausgeputztsein, sehen Sie, da hat’s so einen Haken.« Und dabei machte der junge Mann ein recht melancholisches Gesicht.

»Wieso einen Haken?« fragte Mr. Pinch.

»Je nun, es kann eben jeder leicht heiter und guter Dinge sein, wenn er gut gekleidet ist. Man braucht das niemandem besonders hoch anzurechnen. Ja, wenn ich recht zerlumpt und doch dabei lustig wäre, so würde ich anfangen zu glauben, daß ich mir etwas darauf zugute tun dürfte, Mr. Pinch.«

»Sie haben also nur gesungen, sozusagen, trotz der guten Kleidung; was, Mark?« fragte Mr. Pinch.

»Sie sprechen doch immer wie ein Buch, Sir«, entgegnete Mark mit breitem Grinsen. »Meiner Seel.«

»Nun«, meinte Pinch, »Sie sind wirklich der sonderbarste junge Mensch, Mark, den ich je in meinem Leben kennengelernt habe. Sie sind mir zwar immer so vorgekommen, aber jetzt wird mir’s zur völligen Gewißheit. Ich will übrigens gleichfalls nach Salisbury. Kommen Sie, steigen Sie auf! Es wird mich freuen, wenn Sie mir ein bißchen Gesellschaft leisten.«

Der junge Mann nahm das Anerbieten mit Dank an, stieg auf, setzte sich aber bloß mit halbem Leibe und nur auf den Rand des Sitzes, um dadurch auszudrücken, daß er Mr. Pinchs liebenswürdige Aufforderung zu würdigen wisse.

»Als ich Sie vorhin gar so herausgeputzt sah«, begann Mr. Pinch wieder, »glaubte ich wahrhaftig, Sie gingen auf Freiersfüßen, Mark.«

»Nun, Sir, ich habe auch schon an dergleichen gedacht«, gab Mark zu. »Das wäre schon eher eine Kunst, wenn man mit einem recht zanksüchtigen Weibe zu Haus noch vergnügt sein könnte, namentlich wenn die Kinder die Masern oder etwas dergleichen haben. Aber ich fürchte mich fast, es zu versuchen. Ich bin mir noch nicht recht klar diesbezüglich.« »Sie sind wohl nicht besonders verliebter Natur?« fragte Pinch.

»Nicht besonders, Sir, glaube ich.«

»Bei Ihren Ansichten, Mark, müßten Sie aber gerade eine heiraten, die Sie nicht liebten und die recht häßlich wäre.«

»Allerdings, Sir; aber das hieße doch vielleicht einen Grundsatz ein wenig gar zu weit treiben. – Glauben Sie nicht?«

»Möglich«, meinte Pinch, und dann lachten beide herzlich.

»Meiner Seel, Sir«, sagte Mark, »ich glaube, Sie kennen mich noch nicht annähernd. Ich denke nicht, daß es je einen Menschen gegeben hat, der sich unter Verhältnissen, die andre Leute elend machen können, so tapfer gehalten hätte, wie ich es imstande wäre. Wenn ich nur Aussicht hätte, je in eine solche Lage zu geraten! Meiner Ansicht nach wird niemand auch nur halbwegs erfahren, was in mir steckt, wenn nicht etwas ganz Unerwartetes passiert. Aber dazu winkt mir keine Chance. – Ich habe übrigens dem »Drachen« den Rücken gekehrt auf Nimmerwiedersehen, Sir.«

»Dem »Drachen« den Rücken gekehrt?« rief Mr. Pinch, höchst erstaunt. »Aber Mark, das benimmt mir ja förmlich den Atem!«

»Jawohl, Sir«, bestätigte Mark und schaute gedankenschwer ins Weite. »Warum sollte ich im »Drachen« bleiben? Für mich ist das nicht der richtige Platz. Als ich London verließ – ich bin ein gebürtiger Kenter – und den Dienst annahm, war ich der festen Meinung, es wäre so ein recht abgelegener und einsamer Winkel von Alt-England und man brauchte eine rechte Kunst, unter solchen Umständen vergnügt zu sein. Aber, du mein Himmel, im »Drachen« gibt’s keine Langeweile! Kegel und Cricketspiel, lustige Lieder und jeden Winterabend Gesellschaft um den Kamin herum. – Im »Drachen« ist jeder fidel. Das ist wirklich nicht schwer.«

»Aber wenn es wahr ist, was die Leute sagen, Mark und ich muß es wohl glauben, da ich es aus eigner Erfahrung bestätigen kann«, meinte Mr. Pinch, »so sind hauptsächlich Sie der Urheber aller dieser Lustigkeit!«

»Vielleicht ist es wirklich so, Sir«, antwortete Mark, »aber das ist noch immer kein Trost für mich.« »Gut!« sagte Mr. Pinch und dämpfte seine ohnehin schon leise Stimme noch mehr. »Es geht mir nicht recht ein, was Sie da sagen. – Aber was soll aus Mrs. Lupin werden, Mark?«

Mark blickte noch starrer vor sich hin und antwortete, er glaube nicht, daß sie sich viel daraus mache. Es gäbe genug flotte junge Burschen, die froh wären, im »Drachen« zu dienen. Er kenne selbst ein ganzes Dutzend.

»Wohl möglich«, gab Mr. Pinch zu, »aber ich bin durchaus nicht überzeugt, ob auch Mrs. Lupin an ihnen eine Freude haben wird. Ich habe immer geglaubt, Mrs. Lupin und Sie würden noch ein Paar werden; und soviel ich weiß, war jedermann dieser Ansicht.«

»Ich habe nie auch nur ein Wort mit ihr gesprochen«, entgegnete Mark ein wenig verwirrt, »das wie Courschneiderei ausgesehen hätte und auch sie nicht mit mir; ich weiß auch gar nicht, wie ich so etwas hätte anbringen sollen und was sie mir darauf gesagt hätte. Es würde mir übrigens auch keinesfalls gepaßt haben, Sir.«

»Wie? Sie würden nicht gern Drachenwirt werden, Mark?« rief Mr. Pinch.

»Nein, Sir, gewiß nicht. Das wäre für einen Menschen meinesgleichen ein direkter Ruin. Ich sollte hergehen und mir es fürs ganze Leben bequem machen?! Da erführe ja niemand, was in mir steckt. Was wäre es für den Drachenwirt für eine Kunst, vergnügt zu sein? Er müßte doch, selbst wenn er gar nicht wollte!«

»Weiß Mrs. Lupin, daß Sie für immer scheiden wollen?« fragte Mr. Pinch.

»Ich hab ihr’s noch nicht mitgeteilt, Sir, aber ich muß wohl bald. Heute morgen will ich mich dort« – Mark deutete auf die Stadt – »nach etwas Neuem und Passendem umsehen.«

»Und welcher Art soll die Stelle sein?«

»Ich dachte mir«, versetzte Mark, »irgendeine, die mit Totengräberei zu tun hat.«

»Um Gottes willen, Mark!« rief Mr. Pinch.

»Hm, es ist ein recht dumpfiger, wurmiger Beruf, Sir«, meinte Mark und schüttelte argumentierend den Kopf, »immerhin wäre es ein gewisses Verdienst, dabei vergnügt zu sein – wenn es die Totengräber nicht sowieso schon sind, was allerdings die Sache ändern würde. Wissen Sie vielleicht etwas Näheres darüber, Sir?«

»Nein, wahrhaftig ganz und gar nichts«, antwortete Mr. Pinch. »Der Gedanke ist mir überhaupt noch gar nicht in den Kopf gekommen.«

»Nun, im Fall es nicht nach Wunsch ausfallen sollte«, sagte Mark gedankenvoll, »gibt es ja schließlich, wie Sie wissen, noch andere Berufe. Das Leichenbestattergeschäft zum Beispiel ist düster genug. Da wäre noch Ehre einzulegen. Eine Gehilfenstelle bei einem Pfandleiher in einer armen Gegend wäre vielleicht auch nicht schlecht. Ein Gefangenenwärter sieht gleichfalls manches Elend, und als Bedienter bei einem Doktor wäre man mitten drin im Morden. Ein Gerichtsdiener ist auch kein schlechter Posten. Oder ein Steuereintreiber. Kurz, es gibt gewiß eine Menge von Beschäftigungen, wo ich die beste Gelegenheit hätte, meine gute Laune zu üben.«

Mr. Pinch war über diese seltsamen Ansichten so verblüfft, daß er gar nicht wußte, was sagen, und ließ nur hin und wieder ein paar Worte über irgendein gleichgültiges Thema fallen und warf forschende Seitenblicke auf das rotbackige Gesicht seines wunderlichen Freundes, bis sie an eine Wegkreuzung vor der Vorstadt kamen, wo Mark auszusteigen wünschte.

»Aber Gott bewahre, Mark«, rief Pinch, der erst jetzt bemerkte, daß sein Gefährte, wie mitten im Sommer, nichts als seinen Rock über dem bloßen Hemde trug, »warum tragen Sie denn keine Weste?«

»Wozu sollte sie denn gut sein, Sir?«

»Wozu gut? Je nun, um die Brust warm zu halten.«

»Ach, lieber Himmel, Sir!« rief Mark. »Sie kennen mich, scheint’s, sehr wenig. Meine Brust braucht keine Wärme. Und selbst wenn – was könnte die Folge sein, daß ich keine Weste trage? Eine Lungenentzündung vielleicht? Nun, es wäre wenigstens Ehre dabei einzulegen, wenn man trotz einer Lungenentzündung guter Laune ist.«

Da Mr. Pinch weiter keine Antwort darauf gab, sondern bloß sehr tief Atem holte, die Augen weit aufriß und gewaltig mit dem Kopf nickte, so bedankte sich Mark bei ihm für die Fahrt und sprang leichtfüßig vom Wagen, ohne daß Pinch anzuhalten brauchte. Dann eilte er mit seinem roten Halstuch und dem offnen Rock einen Seitenpfad hinunter und wandte sich noch von Zeit zu Zeit um, um Mr. Pinch gutmütig und sorglos zuzunicken.

Mr. Pinch hatte die kuriose Ansicht, Salisbury müsse eine ganz verzweifelt lockere und zügellose Stadt sein. Nachdem er daher sein Pferd eingestellt und dem Stallknecht zu verstehen gegeben hatte, er werde in ein paar Stunden wieder zurückkommen, um nachzusehen, ob auch der Gaul seinen Hafer bekommen habe, streifte er mit der dunkeln und nicht unangenehmen Vorstellung, daß überall Geheimnisse und Teufeleien aller Art gärten, in den Straßen umher. Für einen Mann von seiner ruhigen Lebensweise wurde diese kleine Selbsttäuschung noch durch den Umstand unterstützt, daß gerade Markttag war und der Platz mit seinen Nebenstraßen von Karren, Pferden, Eseln, Körben, Wagen, Gemüsehaufen, Fleischbänken, Kaldaunen- und Geflügelständen und allen nur erdenklichen Höcklerwarenbuden nur so wimmelte. Junge und alte Pächter und Landwirte in Zwilchkitteln, braunen und grauen Überröcken, mit rotwollnen Halstüchern, Ledergamaschen, wunderlich geformten Hüten, Hetzpeitschen und derben Knütteln standen in Gruppen umher oder schwatzten laut auf den Türstufen der Wirtshäuser miteinander. Andere tauschten ungeheure Summen in schmierigen Banknoten aus und hantierten dabei mit so furchtbar großen Brieftaschen, daß sie förmlich rot und blau wurden, bis sie sie glücklich aus den Taschen herausgezerrt hatten, und fast Krämpfe bekamen, ehe es ihnen gelang, sie wieder zu verstauen. Auch Pächtersfrauen in Biberhüten und roten Mänteln waren zugegen und ritten auf zottigen, von allen irdischen Leidenschaften geläuterten Pferden, die gehorsam überall hintrabten, ohne zu fragen, warum und wozu, und wahrscheinlich auf Wunsch ihrer Gebieterinnen sogar in Porzellanläden, umringt von zerbrechlichem Geschirr, stockstill gestanden hätten, ohne einen Huf zu rühren. Und dann die riesige Menge von Hunden, die sich lebhaft für die Marktpreise und die Geschäfte ihrer Herren zu interessieren schienen, und überhaupt das ganze geräuschvolle Treiben von Menschen und Tieren!

Entzückt betrachtete Mr. Pinch alle die herrlichen zum Verkauf ausgestellten Dinge, und besonders die Messerschmiedbuden fesselten seinen Blick. Er erstand sogar ein Taschenmesser mit sieben Klingen. Nur schnitt leider keine einzige, wie er zu spät bemerkte. Nachdem er sich alles und jedes auf dem Marktplatz genau betrachtet und zugesehen hatte, wie sich die Pächter zum Mittagessen begaben, ging auch er zurück in sein Wirtshaus, um nach seinem Pferde zu sehen, das, wie er zu seiner Freude bemerkte, nach Herzenslust fraß. Eine Weile starrte er noch das Bankgebäude an und zerbrach sich den Kopf, wo wohl die unterirdischen Gänge liegen möchten, in denen das viele Geld aufbewahrt würde, und dann machte er sich wieder auf, um die Stadt zu durchwandern und sich am Anblicke der Schaufenster zu laben.

Vor allem fesselten ihn hier die Läden der Juweliere, in denen alle Schätze der Erde ausgestellt waren. Darunter silberne Uhren von solchem Umfang, daß ihre Größe allein schon einen tadellosen Gang verbürgte.

Aber was waren sogar Gold und Silber, Pretiosen und Uhrwerke gegen die Buchläden, aus denen der liebliche Duft frisch aus der Presse gekommenen Papiers wehte und in ihm sofort Erinnerungen weckte an die neue Schulgrammatik, die vor langer Zeit sein Eigentum geworden und auf deren Vorsatzblatt er mit zierlicher, fehlerfreier Schrift geschrieben hatte: Master Pinch, Grovehouse Akademy. Und dann der Geruch nach Ledereinbänden und die Reihen und Reihen von Büchern – welches Glück, sie lesen zu dürfen! Im Schaufenster lagen die funkelnagelneusten Werke aus London mit weitaufgeschlagenen Titelblättern und bisweilen sogar der ersten Seite des ersten Kapitels, um schlau damit das Publikum zu verlocken, sie zu lesen und dann, außer sich vor Neugierde, wie es weitergehe, in den Laden zu stürzen und das Buch zu kaufen! Die hübschen Titelkupfer und Vignetten, die wie die Wegweiser vor großen Städten Wunder auf Wunder verhießen! Werke mit gravitätischen Porträts und altehrwürdigen Namen, deren Inhalt ihm gar wohl bekannt war und um die er alle Minen der Erde gegeben haben würde, wenn er sie auf dem schmalen Bücherbrette neben seinem Bette in Pecksniffs Haus hätte aufstellen können. Es war zum Herzzerbrechen!

Dann kam wieder ein Buchladen, nicht ganz so schlimm wie der erste, aber doch immer noch verführerisch genug. Kinderbücher lagen da im Fenster. Da prangte in seiner ganzen Anziehungskraft und Größe, mit Hund und Beil, Ziegenfellmütze und Vogelflinte, der arme Robinson Crusoe und sah ruhig auf Philipp Quarl und die ganze Schar seiner Nachahmer rings umher herab und rief Mr. Pinch zum Zeugen an, daß er allein von all den Geschichtshelden hier dem Gestade der Jugenderinnerung einen unauslöschlichen Fußstapfen aufgedrückt habe, von dem der Tritt ganzer Generationen auch nicht das kleinste Sandkörnchen zu verrücken imstande sei. Da lagen auch die morgenländischen Märchen von fliegenden Kisten und Zauberlehrlingen, die Jahre und Jahre in Höhlen über magischen Büchern gesessen – die Geschichte von dem Kaufmann Abdullah mit dem schrecklichen kleinen alten Weib, das immer aus dem Koffer in seiner Schlafkammer sprang; dann der mächtige Talisman – die prächtige ›Tausend und eine Nacht‹ – mit Cassim Baba, der gevierteilt und blutig in der Räuberhöhle hing. Und so wirksam rieben alle diese Zauber an der Wunderlampe seiner Phantasie, daß, als er sein Gesicht wieder der geräuschvollen Straße zuwandte, eine geschäftige Schar von Bildern und Erscheinungen vor ihm auftauchte und er mit neuem Entzücken die glücklichen Tage seiner Kindheit, bevor er zu Pecksniffs gekommen, wieder durchlebte.

Weniger interessierten ihn jetzt die Apothekerläden mit den großen glühenden Flaschen und den kleineren Glanzrepositorien in deren Stöpseln, ihrem liebenswürdigen Gemisch von Arznei und Parfüm und ihren Eibischzeltchen und Lakritzen. Am wenigsten achtete er auf die Modegeschäfte, in denen die gewissen neuesten Londoner Westen prunkten, die immer einen so bezaubernden Eindruck machen und dann zu Hause ganz anders aussehen. Doch blieb er aufmerksam stehen, um vor dem Schauspielhaus den Theaterzettel zu lesen, und betrachtete mit ehrfurchtsvollem Schauer den Eingang, aus dem gleich darauf ein bleicher Gentleman mit langem schwarzem Haar heraustrat und einen Jungen beauftragte, in seine Wohnung zu laufen und ihm sein Schwert zu holen. Wie angewurzelt blieb Mr. Pinch stehen, als er das hörte, und wäre vielleicht bis in die Nacht hinein so stehen geblieben, hätte ihn nicht das Abendläuten der Münsterglocke veranlaßt, sich loszureißen.

Nun war der Gehilfe des Organisten glücklicherweise sein Freund und, wie er, ein sehr sanfter und ruhiger Mensch, der gleichfalls schon in der Schule ein etwas altmodisch gesetzter Knabe gewesen, obgleich ihn die wilden Kameraden deshalb nicht weniger gern gehabt hatten. Da es das Glück wollte – Tom sagte immer, er habe ungemein viel Glück –, daß genannter Gehilfe gerade an diesem Nachmittag ausschließlich den Dienst versehen mußte, so half ihm Tom die Bälge treten, und schließlich nach Beendigung des Gottesdienstes spielte er selbst. Es wurde bereits dunkel, und das gelbe Licht, das durch die alten Fenster im Chor hereinströmte, mischte sich mit einem trüben Rot. Als die gewaltigen Töne durch die Kirche brausten, war es Tom, als weckten sie ein Echo in all den alten Grüften und auch in der geheimnisvollen Tiefe seines eigenen Herzens. Hehre Gedanken und reiche Hoffnung wachten in seiner Seele auf, während die Klänge so dahinströmten, und darunter – wenn auch ernster und feierlicher – die Erinnerungen an die Bilder des heutigen Tages bis zu deren unbedeutendsten Anklängen aus den Tagen der Kindheit. Das Gefühl, das die Orgeltöne in ihm weckten, schien sein ganzes Leben zu umfassen, und je mehr die ihn umgebende Wirklichkeit von Stein, Holz und farbigem Glas in der Dunkelheit verschwand, um so heller traten diese Visionen hervor. Er würde bald den neuen Zögling und den seiner harrenden Mr. Pecksniff ganz vergessen und seinem übervollen Herzen bis um Mitternacht Luft gemacht haben, hätte nicht ein sehr irdischer alter Küster darauf bestanden, die Kirche unverzüglich zu schließen. Er nahm daher unter vielen Dankesbezeugungen Abschied von seinem Freund, tastete sich, so gut es ging, zur Pforte und eilte durch die jetzt im Laternenschein funkelnden Gassen zu seinem Abendessen. Da die Pächter sich inzwischen sämtlich bereits heimbegeben hatten, so war die sandbestreute Gaststube des Wirtshauses, wo Tom Pinch sein Pferd eingestellt hatte, leer. Er rückte einen kleinen Tisch vor den Kamin und machte sich sehr vergnügt über ein gutgebratenes Beefsteak mit dampfend heißen Kartoffeln her. Vor ihm stand auch ein Krug vortrefflichen Wiltshire-Bieres, und alles dies wirkte so herzerhebend auf ihn, daß er von Zeit zu Zeit Messer und Gabel niederlegen und sich vergnügt die Hände reiben mußte. Als der Käse mit Sellerie kam, zog Mr. Pinch ein Buch aus der Tasche und spielte nur mehr mit dem Essen, indem er abwechselnd einen Bissen nahm oder einen Schluck Bier trank, ein bißchen las und dann wohl auch ganz innehielt, um nachzudenken, zu welchem Schlag von jungen Leuten der neue Zögling wohl gehören möge. Er wollte sich eben wieder aufs neue in sein Buch vertiefen, als die Türe aufging und ein Gast eintrat und dabei so viel kalte Luft mit hereinbrachte, daß einen Augenblick fast das Feuer ausgehen zu wollen schien.

»Sehr frostig heute abend, Sir«, bemerkte der neue Ankömmling mit einer höflichen Verbeugung, als Mr. Pinch seinen kleinen Tisch ein wenig wegrückte, um ihm Platz zu machen. »Bitte, inkommodieren Sie sich meinetwegen nicht.«

Trotzdem er dies in sehr höflichem Tone sagte, zog er doch einen großen, ledergepolsterten Sessel bis mitten vor den Kamin, setzte sich gerade vor das Feuer und stemmte seine Beine gegen den Sims.

»Meine Füße sind ganz erstarrt. Ah! Es ist wahrhaftig bitter kalt draußen.«

»Sie sind wohl lange unterwegs gewesen?« fragte Mr. Pinch.

»Den ganzen Tag. Und dazu noch auf dem Außensitz der Postkutsche.«

Da nimmt’s mich nicht wunder, daß er soviel Kälte hereingebracht hat, dachte Mr. Pinch. Armer Kerl! Er muß gut durchfroren sein.

Der Fremde versank jetzt gleichfalls in tiefes Nachsinnen und blieb wohl fünf bis zehn Minuten stumm vor dem Feuer sitzen. Endlich stand er auf und legte sein Halstuch und seinen Oberrock, der im Gegensatze zu dem Mr. Pinchs sehr warm und dick war, ab, blieb aber immer noch so wortkarg wie zuvor. Dann setzte er sich wieder wie vorher an seinen alten Platz, lehnte sich im Sessel zurück und fing an, an seinen Nägeln zu beißen. Er war jung, ungefähr einundzwanzig, und sehr hübsch, und in seinen scharfen dunkeln Augen und seinem Gesicht lag etwas Entschiedenes, das Tom als großen Gegensatz zu seinem eigenen Wesen fühlte und das ihn sehr schüchtern machte.

Im Zimmer hing eine Wanduhr, nach der der Fremde wiederholt hinblickte. Auch Tom tat desgleichen, teils unwillkürlich dem Beispiel seines schweigsamen Gefährten folgend, teils, weil sich der neue Zögling um halb sieben einfinden sollte und der Zeiger bereits sechs Uhr zurückgelegt hatte. Sooft Tom nach der Uhr sah und dabei dem Blick des Fremden begegnete, wurde er so verlegen, als wäre er bei etwas Unrechtem ertappt worden, so daß der junge Mann schließlich lächelnd fragte:

»Es scheint, daß wir beide auf etwas warten? Ich meinerseits bin von einem Herrn hierher bestellt.«

»Ich gleichfalls.«

»Um halb sieben.«

»Um halb sieben«, sagte Tom fast gleichzeitig. – Der junge Mann sah erstaunt auf.

»Der Herr, den ich erwarte«, bemerkte Tom schüchtern, »sollte um diese Zeit nach einer Person namens Pinch fragen.«

»Du lieber Himmel!« rief der Fremde aufspringend. »Und ich habe Sie die ganze Zeit über vom Feuer verdrängt! Ich hatte keine Ahnung, daß Sie Mr. Pinch sein könnten. Ich bin der Mr. Martin, der Sie hier treffen soll. Bitte, entschuldigen Sie vielmals. Wie geht es Ihnen? Bitte, rücken Sie doch näher ans Feuer!«

»Danke bestens«, entgegnete Tom, »danke bestens. Mir ist nicht so kalt wie Ihnen. Und dann haben wir noch eine lange Fahrt vor uns. Nun, wenn Sie durchaus wollen. – Danke! Ich – ich bin recht erfreut«, fügte er in seiner schüchtern offenherzigen Weise hinzu, »ich bin wirklich sehr erfreut, in Ihnen Mr. Martin zu sehen. Noch kaum vor einer Minute wünschte ich mir, er möge Ihnen gleichen.«

»Nun, das freut mich«, erwiderte Martin und schüttelte Mr. Pinch abermals die Hand, »ich versichre Ihnen, auch ich dachte, es könne sich gar nicht glücklicher treffen, als daß Sie Mr. Pinch wären.«

»Wahrhaftig?« rief Tom hoch erfreut. »Ist das Ihr Ernst?«

»Auf Ehre, mein voller Ernst!« erwiderte der junge Mann. »Ich weiß, Sie und ich werden vortrefflich miteinander auskommen, und das beruhigt mich nicht wenig, denn, offen gestanden, ich gehöre nicht zu den Leuten, die sich mit jedermann vertragen können, und ich hatte schon die größten Bedenken deswegen. Aber jetzt ist ja alles gut. Würden Sie wohl so freundlich sein und einmal klingeln?«

Mr. Pinch sprang auf und willfahrte mit großer Bereitwilligkeit – der Glockenzug hing gerade über Mr. Martins Kopf – der ausgesprochenen Bitte und horchte mit lächelnder Miene auf das, was sein Freund weiter zu sagen habe.

»Wenn Sie gern Punsch trinken, so erlauben Sie mir, daß ich zwei Gläser kommen lasse, so heiß wie möglich, damit wir unsre Freundschaft in gehöriger Weise einweihen können. Und, um nur die Wahrheit zu sagen, ich habe mich schon lange nicht so nach einem fröhlichen, heißen Trunk gesehnt. Nur wollte ich nicht Gefahr laufen, von Ihnen für einen Trinker gehalten zu werden, ehe ich wußte, was für ein Mensch Sie sind. Sie wissen, der erste Eindruck prägt sich oft tief ein.«

Mr. Pinch fand das sehr richtig, und der Punsch wurde bestellt. Nachdem beide von dem dampfenden Gemische getrunken hatten, wurden sie bald sehr vertraut.

»Wissen Sie, ich bin so eine Art Verwandter von Pecksniffs«, sagte der junge Mann.

»Wirklich?«

»Ja. Mein Großvater ist ein Vetter von ihm. Ich bin demnach irgendwie verwandt mit ihm. In welchem Grad, können Sie vielleicht besser herausrechnen. Ich war’s bisher noch nicht imstande.«

»Martin ist also Ihr Taufname?« fragte Mr. Pinch gedankenvoll. »Oh!«

»Allerdings. Ich wollte, es wäre mein Familienname. Jedenfalls wäre er hübscher, kürzer und bequemer zu unterschreiben als Chuzzlewit.« »Du mein Himmel!« rief Mr. Pinch und fuhr unwillkürlich zusammen.

»Sie wundern sich doch nicht, daß ich zwei Namen habe?« lachte Martin und setzte sein Glas an die Lippen. »Die meisten Leute haben zwei.«

»O nein«, sagte Mr. Pinch, »durchaus nicht. O mein Gott, nein! Warum sollte ich auch!«

In Wirklichkeit erinnerte er sich, daß ihm Mr. Pecksniff ausdrücklich geboten hatte, nichts von dem alten Herrn gleichen Namens, der im »Drachen« gewohnt hatte, zu erwähnen, da er selbst mit dem neuen Zögling darüber reden wolle. Um daher seine Verwirrung besser zu verbergen, führte auch er sein Glas zum Munde. Ein paar Sekunden sahen sich die beiden durch ihre Punschgläser an und setzten sie dann leer nieder.

»Ich habe bereits vor zehn Minuten im Stall den Auftrag gegeben, man möge das Fuhrwerk parat halten«, begann Mr. Pinch nach einer Pause und sah wieder auf die Uhr. »Wollen wir aufbrechen?«

»Ganz nach Belieben.«

»Kutschieren Sie gern?« fragte Mr. Pinch, und sein Gesicht strahlte vor Vergnügen, seinem neuen Freund eine Freude zu machen. »Wenn Sie wünschen, trete ich Ihnen die Zügel ab.«

»Das kommt ganz auf das Pferd an«, meinte Martin lachend. »Ist’s ein schlechter Gaul, so halte ich mir lieber die Hände in meinen Überrocktaschen warm.«

Er schien das für einen brillanten Witz zu halten, wenigstens nach seinem lauten Lachen zu schließen, in das Mr. Pinch selbstverständlich herzlich mit einstimmte. Dann wurde gezahlt, und die beiden jungen Leute hüllten sich, so gut es eben jedem je nach seinem Mantel möglich war, warm ein und begaben sich miteinander nach der Haustüre, vor der bereits Mr. Pecksniffs Equipage wartete.

»Ich mag nicht kutschieren – ich danke Ihnen, Mr. Pinch«, sagte Martin und stieg ein. »Übrigens, ich habe da noch einen Koffer. Läßt er sich allenfalls unterbringen?«

»O gewiß«, entgegnete Tom. »Nur irgendwo hinein damit, Dick!« Der Koffer war gerade nicht so klein, daß man ihn hätte in den ersten besten Winkel schieben können, aber Dick, der Stallknecht, fand schließlich doch einen Platz für ihn, und Mr. Chuzzlewit half dabei. Das Gepäck nahm nun fast den ganzen Platz Mr. Pinchs ein, und Mr. Chuzzlewit sagte, er fürchte, es werde seinen Freund sehr genieren, aber Mr. Pinch versicherte, das sei durchaus nicht der Fall, trotzdem er in Wirklichkeit so unbequem sitzen mußte, daß er kaum mehr als seine Knie sehen konnte.

Kein Wind, sagt man, kann so schlimm sein, daß er einem nicht wenigstens etwas Gutes zubliese, und dieses Sprichwort bewahrheitete sich auch in diesem Fall, denn die Kälte wehte von Mr. Pinchs Seite her, so daß Mr. Martin durch ihn und überdies noch von dem Koffer gedeckt, warm wie in einer Stube saß, was ein großer Trost für beide Teile war.

Silbern lag die bereifte Landschaft im Mondlicht da. Anfangs stimmte die tiefe feierliche Stille der Nacht die beiden zum Schweigen, aber bald taten der genossene Punsch und die gesunde frische Luft ihre Wirkung, und sie plauderten ohne Unterlaß. Als sie die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten und haltmachten, um das Pferd tränken zu lassen, bestellte Martin, der sehr freigebig mit seinem Gelde umging, ein weiteres Glas Punsch, das sie gemeinschaftlich austranken, was sie keineswegs schweigsamer machte. In der Hauptsache drehte sich ihre Unterhaltung natürlich um Mr. Pecksniff und seine Familie, von denen Tom Pinch mit Tränen in den Augen ein Bild entwarf, das jeden auch nur halbwegs gefühlvollen Menschen rein zur Anbetung zwingen mußte. Mr. Pecksniff konnte so etwas natürlich nicht im mindesten voraussehen oder auch nur entfernt ahnen, sonst würde er schon um seiner Bescheidenheit willen niemals Tom Pinch ausgeschickt haben, um den neuen Schüler abzuholen.

So fuhren sie weiter, »immer weiter und weiter« – wie es in den Ritterromanen heißt –, bis endlich die Lichter des Dorfes vor ihnen auftauchten, hinter denen der Kirchturm einen langen Schatten wie den Zeiger auf der Uhr des Lebens auf das Gras des Friedhofes warf.

»Eine hübsche Kirche!« sagte Martin, während sein Begleiter den langsamen Schritt seines Pferdes noch langsamer werden ließ, je näher sie dem Dorfe kamen. »Nicht wahr!?« rief Tom mit großem Stolz. »Es ist auch die lieblichste kleine Orgel darin, die Sie gehört haben. Ich spiele sie Sonntag.«

»Wirklich?« versetzte Martin. »Man sollte glauben, daß sich das kaum lohnt. Was bekommen Sie denn dafür?«

»Nichts.«

»Nun, da muß ich gestehen«, meinte Martin, »daß Sie wirklich ein recht seltsamer Kauz sind!«

– Beide schwiegen eine Weile. –

»Wenn ich sage ›nichts‹«, fing Mr. Pinch heiter wieder an, »so drücke ich mich eigentlich falsch aus, denn ich finde sehr viel Vergnügen daran und verbringe damit so manche glückliche Stunde. Auch führte es kürzlich zu einem sehr angenehmen Erlebnis. – – – Aber ich kann mir denken, daß Sie das wohl nicht weiter interessieren wird.«

»O doch, doch! Was war es denn?«

»Es gab mir Gelegenheit«, sagte Tom in leiser Stimme, »eines der lieblichsten und schönsten Gesichter zu sehen; so schön, daß Sie es sich gar nicht vorstellen können.«

»Wer weiß, ob ich mir nicht ein ebenso schönes vergegenwärtigen kann«, fiel Martin gedankenvoll ein.

»Sie kam«, fuhr Tom fort und legte die Hand auf den Arm seines neuen Freundes, »eines Morgens früh, als es kaum hell war, und wie ich über die Schulter blickte, stand sie gerade im Portal. Es überlief mich ganz kalt dabei. Ich dachte fast, es sei ein Geist. Ich faßte mich aber sofort und brauchte daher – glücklicherweise – nicht in meinem Spiele aufzuhören.«

»Warum glücklicherweise?«

»Warum? Weil sie stehen blieb und lauschte. Ich hatte meine Brille auf und sah sie durch den Schlitz in dem Vorhang so deutlich, wie ich Sie jetzt sehe. Wie schön sie war! – – Nach einer Weile entfernte sie sich leise, und ich fuhr fort zu spielen, bis sie außer Hörweite war.«

»Warum das?«

»Begreifen Sie denn nicht?« antwortete Tom. »Damit sie im Glauben, ich hätte sie nicht gesehen, ein andermal wiederkäme.«

»Und tat sie das?« »Allerdings. – Schon am andern Morgen; und auch abends; aber stets nur, wenn sonst niemand in der Kirche war und sie allein sein konnte. Ich stand von da an immer noch früher auf und blieb länger sitzen, damit sie, wenn sie käme, die Kirchtüre offen finde und die Orgel bereits spielen hören könne. So ging es einige Tage, und stets blieb sie eine Zeitlang, um zuzuhören. Aber jetzt ist sie fort, und von allen unwahrscheinlichen Dingen in dieser Welt ist es vielleicht das Allerunwahrscheinlichste, daß ich je ihr Antlitz wiedersehen werde.«

»Und Sie wissen nichts weiter von ihr?«

»Nein.«

»Und sind ihr nicht nachgegangen, als sie die Kirche verließ?«

»Warum hätte ich sie dadurch in Verlegenheit setzen sollen?!« sagte Tom Pinch schlicht. »Ich konnte doch nicht annehmen, daß ihr meine Gesellschaft auch passe! Sie kam, um die Orgel zu hören, nicht um mich zu sehen. Hätte ich sie da von dem Orte verscheuchen sollen, den sie so liebgewonnen zu haben schien? Nein, Gott segne sie!« rief er. »Wenn ich ihr jeden Tag nur eine frohe Minute verschaffen könnte, so wollte ich gerne Jahre und Jahre die Orgel spielen, bis ich ein alter Mann bin. Ich wäre zufrieden, wenn sie bei der Musik zuweilen auch nur ein klein wenig an einen armen Kerl wie mich dächte. Ja, für königlich würde ich mich belohnt halten, wenn sie mich nur ein einziges Mal in Gedanken mit dem Orgelspiel, das ihr so teuer ist, in Verbindung brächte!«

Der neue Schüler war augenscheinlich sehr verwundert über Mr. Pinchs Einfalt und hätte es ihm wahrscheinlich auch gesagt und ihm manchen guten Rat gegeben, wenn sie nicht in diesem Augenblick an Mr. Pecksniffs Haustüre angekommen wären. Der vordern diesmal, denn es war eine festliche Gelegenheit! Nachdem Tom dem Knecht das Pferd übergeben und Mr. Chuzzlewit beschworen hatte, keiner Seele auch nur eine Silbe von dem, was er ihm soeben in der Überfülle seines Herzens anvertraut, zu verraten, führte er Martin ins Haus, um ihn unverzüglich vorzustellen.

Mr. Pecksniff hatte sie augenscheinlich nicht so früh erwartet, denn er saß unter lauter aufgeschlagenen Büchern und durchblätterte mit einem Bleistift im Munde und einem Zirkel in der Hand Band um Band. Auch Miss Charitas war mitten in der Arbeit überrascht worden, denn sie hatte einen gewaltigen Weidenkorb vor sich und beschäftigte sich damit, überflüssigerweise Nachtmützen – für die Armen zu verfertigen. Ebenso unverhofft schien die plötzliche Ankunft Miss Gratia zu kommen, die auf ihrem Schemel saß und – ach, wie entzückend! – einer großen Puppe, die sie für ein Nachbarkind kleidete, ein Unterröckchen nähte. Und, was sie noch verlegener machte: die Puppe war eine Puppe in Lebensgröße, und das Puppenhäubchen hatte sie auf ihren eigenen schönen Locken befestigt – damit es nicht verlorengehe oder sich jemand darauf setze. Kurz, es würde schwer, wo nicht unmöglich sein, sich auch nur annähernd eine Vorstellung von der Verwirrung und Überraschung zu machen, in der die Pecksniffs sich befanden.

»Welche Überraschung!« rief Mr. Pecksniff, blickte auf und gab seiner gedankenvollen Miene allmählich den Ausdruck freudigen Wiedererkennens. »Schon hier!? Martin, mein lieber Junge, ich bin ganz entzückt, Sie in meinem Hause willkommen zu heißen!«

Mit dieser freundlichen Begrüßung zog Mr. Pecksniff den jungen Mann in seine Arme und klopfte ihm dabei stumm und liebevoll auf den Rücken, um damit auszudrücken, seine Gefühle seien viel zu überwältigend, als daß er sie in Worten kundgeben könnte.

»Und hier«, sagte er, seine Rührung niederkämpfend, »hier sind meine Töchter, Martin – meine zwei einzigen Kinder, die Sie wohl – oh, dieser traurige Familienzwist! – seit Ihrer Kindheit nicht mehr gesehen haben. Wenn Sie sie damals überhaupt kannten. Aber, meine Lieben, warum errötet ihr? Wohl, weil ihr bei eurer alltäglichen Beschäftigung ertappt worden seid? Wir wollten Sie eigentlich in unserm kleinen Staatszimmer empfangen, Martin«, schloß er lächelnd, »aber es ist traulicher so. – Nicht?«

O gesegneter Stern der Unschuld, wo du auch sein magst, wie mußtest du erglänzen in deiner ätherischen Heimat, als die beiden Misses Pecksniff errötend ihre Lilienhände Martin hinstreckten! Wie mußtest du funkeln vor Freude, als sich Gratia des Häubchens in ihrem Haar erinnerte, ihr schönes Antlitz mit den Händen bedeckte und das Köpfchen abwandte, während die sanfte Schwester ihr die Haube abnahm und sie in mildem, schwesterlichem Tadel damit auf den drallen Nacken schlug.

»Und wie«, fragte Mr. Pecksniff, wandte sich nach wohlgefälliger Betrachtung dieser entzückenden kleinen Zwischenszene um und faßte Mr. Pinch jovial am Arm, »wie sind Sie mit unserm Freunde hier zufrieden, Martin?«

»Oh, außerordentlich, Sir. Ich versichere Ihnen, wir vertragen uns großartig.«

»Stets der alte Tom Pinch«, säuselte Mr. Pecksniff mit wehmütiger Zärtlichkeit. »Ach, ist es mir doch wie gestern, daß Thomas noch ein Knabe war, frisch von der Schule weg. Und doch sind, glaube ich, Jahre hingeschwunden, seit Tom Pinch bei mir eintrat.«

Mr. Pinch konnte vor Rührung nicht sprechen, drückte seinem Meister nur bewegt die Hand und stammelte ein paar Worte des Dankes.

»Und Thomas Pinch und ich«, fuhr Mr. Pecksniff mit tieferer Stimme fort, »gedenken noch weiter beieinander auszuharren in Treue und Freundschaft! Und wenn einer von uns in einer jener lärmvollen Kreuz- und Quergassen des Lebens überfahren werden sollte, so wird der andere ihn nach dem Spital begleiten in Hoffnung und an seinem Bette sitzen in Liebe.«

»Schon gut, schon gut!« tröstete er den tief ergriffenen Mr. Pinch und schüttelte ihn väterlich am Arm. »Nichts mehr davon! – – Martin, mein lieber Freund, damit Sie sich gleich heimisch fühlen in diesen Mauern, will ich Ihnen zeigen, wie wir wohnen und leben. Kommen Sie!«

Dabei ergriff er eine brennende Kerze und schickte sich an, in Begleitung seines jungen Gastes das Zimmer zu verlassen. An der Türe machte er halt.

»Sie werden uns doch Gesellschaft leisten, Tom Pinch?«

– Ach, und wie gern! Und wenn es in den Tod gegangen wäre, hätte Tom ihn begleitet und mit Freuden sein Leben für ihn hingegeben. –

»Dies«, erklärte Mr. Pecksniff und öffnete eine Stubentüre, »ist das kleine Staatszimmer, das ich bereits vorhin erwähnte. Der Stolz meiner Mädchen, Martin. – Und dies«, er öffnete eine andere Türe, »ist das kleine Gemach, in dem ich meine Werke – im besten Falle unbedeutende Dinge – geschaffen habe. Hier mein Porträt von Spiller. Die Büste hier ist von Spoker. Man sagt, sie sei sehr ähnlich. Ich glaube selbst um den linken Mundwinkel herum eine gewisse Ähnlichkeit herauszufinden.«

Martin murmelte, sie sei sprechend ähnlich, nur nicht durchgeistigt genug, und Mr. Pecksniff bemerkte, denselben Fehler hätten auch Kenner daran bemängelt. Es sei merkwürdig, daß es auch seinem jungen Verwandten sogleich aufgefallen sei, und er freue sich zu sehen, daß Martin soviel Verständnis für Kunst besitze.

»Sie sehen hier allerhand Bücher«, erklärte er mit einer Handbewegung gegen die Wand, »die in unser Fach einschlagen. Ich habe mich selbst ein wenig in der Schriftstellerei versucht, aber noch nichts herausgegeben. – Achtung, hier ist eine Stufe! – – Und das«, er öffnete wieder eine Türe, »ist mein Schlafgemach. Hier lese ich noch, wenn meine Kinder glauben, ich sei bereits zu Bett gegangen. Es ist wohl meiner Gesundheit nicht sehr zuträglich, aber kurz ist das Leben, ewig ist die Kunst. – – – Sie sehen, ein Griff, und ich kann sofort eine Idee, die mir durch den Kopf schießt, zu Papier bringen.«

Zur näheren Erklärung deutete Mr. Pecksniff auf einen kleinen runden Tisch, auf dem eine Lampe, mehrere Bogen Papier, ein Radiergummi und ein Reißzeug bereit lagen.

Dann öffnete er abermals eine Türe in demselben Stockwerk, schloß sie aber hastig wieder wie eine Blaubartkammer. Ehe er sie jedoch ganz zugemacht hatte, blickte er sich lächelnd um und sagte:

»Warum nicht?«

Martin konnte diese Frage mit dem besten Willen nicht beantworten, da er sich durchaus nicht denken konnte, was sein Lehrer meine. Mr. Pecksniff beantwortete sie daher selbst, indem er die Türe wieder öffnete und sprach:

»Das Zimmer meiner Töchter. Für uns ist es ein einfaches Stübchen, aber für sie ein kleines süßes Nestchen. Reinlich, nett und luftig. Blumen, wie Sie bemerken. Hyazinthen. Und Bücher. Und Vögel.« – Die »Voliere« bestand jedoch nur aus einem einzigen alten Spatzen ohne Schwanz, der eigens zur heutigen Parade aus der Küche ausgeborgt worden war. »Kleinigkeiten – Spielereien –, wie es eben Mädchen lieben. Nichts weiter. Wer Freude an kalter Pracht hat, sucht hier vergebens.«

Sodann führte Mr. Pecksniff seinen Gast in den ersten Stock hinauf.

»Dies hier«, sagte er und schloß das Vorderzimmer auf, »ist der Raum, in dem sich, kann ich sagen, schon so manches Talent entwickelt hat. Hier war es, wo mir die Idee zu einem Kirchturm kam, den ich vielleicht eines Tages der Welt noch geben werde. Hier arbeiten wir, mein lieber Martin. Mancher Baumeister ist hier schon herangebildet worden: – was meinen Sie, Mr. Pinch?«

Tom pflichtete vollkommen bei; ja noch mehr, er glaubte es sogar.

»Sehen Sie hier« – Mr. Pecksniff leuchtete mit der Kerze hastig von einer Papierrolle zur andern – »einige Spuren unserer Tätigkeit. Die Kathedrale von Salisbury von Norden. Von Süden. Von Osten. Von Westen. Von Südosten. Von Nordwesten. – Eine Brücke. – Ein Armenhaus. – Ein Gefängnis. – Eine Kirche. – Ein Pulvermagazin. – Ein Weinkeller. – Ein Portikus. – Ein Sommerhaus. – Ein Eiskeller. – Grundrisse, Aufrisse, Durchschnitte aller Art. Und dies«, fügte er hinzu, als sie schließlich in eine Art Saal mit vier kleinen Betten darin gelangten, »dies ist Ihr Schlafzimmer, in dem Sie an Mr. Pinch einen ruhigen Mitbewohner haben. Mittagslage. Eine herrliche Aussicht. Hier Mr. Pinchs kleine Bibliothek, wie Sie sehen. Alles angenehm und zweckmäßig. Wenn Sie, wann immer, noch irgendwelchen weiteren Komfort wünschen, so bitte ich, es mich wissen zu lassen. Sogar Fremde brauchen in dieser Hinsicht bei uns sich nicht zu genieren, geschweige denn Sie, mein lieber Martin.«

Das war die pure Wahrheit, zu Mr. Pecksniffs Ehre sei es gesagt. Bis jetzt hatte jeder Zögling die unumschränkteste Freiheit genossen, was ihm in dieser Beziehung einfallen mochte, den Hausherrn »wissen zu lassen«. Einige hatten davon sogar fünf Jahre lang Tag für Tag Gebrauch gemacht, ohne daß es irgendwelche Folgen gehabt hätte. »Die Dienerschaft«, erklärte Mr. Pecksniff, »schläft oben. – So. Damit wären wir fertig.«

Wohlgefällig nahm er die Lobsprüche entgegen, die ihm sein junger Freund hinsichtlich der trefflichen Einrichtungen rückhaltslos spendete, und dann begaben sie sich wieder in das Wohnzimmer hinunter.

Hier hatte inzwischen eine große Veränderung stattgefunden, denn die festlichen Vorbereitungen waren in ziemlich ausgedehntem Maßstab beendet, und die beiden Misses Pecksniff harrten mit gastfreundlichen Mienen. Zwei Flaschen Johannisbeerwein – eine weiß und eine rot – standen auf dem Tisch, dann eine Platte mit Sandwiches – alle sehr lang und dünn geschnitten –, eine weitere mit Äpfeln, eine dritte mit Kapitänszwieback – bekanntlich eine gaumenanfeuchtende und liebliche Speise –, ein Teller mit klein und grieselig geschnittenen Orangen, tüchtig mit Zucker gepudert, und ein hausbackener Kuchen, der wie eine geologische Hautreliefkarte aussah. Mit einem Wort, die Opulenz dieser Vorbereitungen benahm Tom Pinch fast den Atem.

Leutselig wie immer ersuchte Pecksniff die Gesellschaft, diesen kulinarischen Genüssen, die, abgesehen von ihrer Reichlichkeit, noch die liebenswürdige Zugabe hatten, im schönsten Einklang mit der Nacht draußen zu stehen – denn auch sie waren kalt –, nach Herzenslust zuzusprechen.

»Martin«, sagte er, »wird sich zwischen euch beide setzen, meine Kinder, während Mr. Pinch an meiner Seite Platz nimmt. Und jetzt wollen wir auf das Wohl unseres neuen Hausgenossen trinken. Mögen wir stets unter- und miteinander zufrieden sein! – Also, Martin, mein lieber Freund, Ihre Gesundheit! Mr. Pinch, wenn Sie die Flasche schonen, bekommen Sie’s mit mir zu tun.«

Mr. Pecksniff trank und machte – aus Achtung für die Gefühle der Anwesenden – ein Gesicht, als ob der Wein durchaus nicht sauer wäre und ihm die Tränen in die Augen triebe. –

»Dies«, fuhr er – in bezug auf die Gesellschaft und nicht auf den Wein – fort, »ist etwas, was einen für so manchen Verdruß und so manche herbe Enttäuschung entschädigen kann. – Laßt uns guter Dinge sein.« – Hier nahm er ein Stück von dem Kapitänszwieback. »Ein armselig Herz, das niemals Freude empfindet! Und unsre Herzen sind wahrhaftig nicht armselig! Nein!«

Mit solchen Aufforderungen zur Heiterkeit würzte er die Unterhaltung, während Mr. Pinch, vielleicht um sich zu überzeugen, daß alles, was er sah und hörte, greifbare Wirklichkeit und kein Traumgebilde sei, von allem aß und namentlich den dünnen Sandwiches in überraschender Weise zusprach. Auch handhabte er emsig sein Glas und machte, eingedenk der liebenswürdigen Aufforderung Mr. Pecksniffs, so nachdrückliche Angriffe auf die Flasche, daß, sooft er sich von neuem einschenkte, Miss Charitas einen starren, gläsernen Blick, wie wenn sie ein Gespenst sähe, nicht unterdrücken konnte. Auch Mr. Pecksniff wurde in solchen Momenten nachdenklich, um nicht zu sagen niedergeschlagen; aber da er das Gewächs kannte, machte ihn wahrscheinlich der Gedanke an den morgigen voraussichtlichen Zustand Mr. Pinchs besorgt.

Martin und die jungen Damen waren bald die besten Freunde geworden und tauschten zur gegenseitigen Erheiterung Erinnerungen aus ihren Kinderjahren aus. Miss Gratia lachte unbändig über alles, was gesprochen wurde, und gar, wenn sie Mr. Pinchs glückstrahlendes Gesicht ansah, kamen solche Anfälle von Lustigkeit über sie, daß sie fast hysterische Krämpfe bekam. Ihre verständigere Schwester verwies ihr das jedesmal und flüsterte ihr ärgerlich zu, die Sache sei durchaus nicht zum Lachen und sie könne den Kerl nicht ausstehen. Schließlich brach aber auch sie in ein Lächeln aus – freilich mit mehr Mäßigung und mit dem Bedeuten, das ginge wirklich schon über den Spaß.

Endlich wurde es hohe Zeit, an jene Vorschrift des alten Philosophen zu denken, die man beobachten muß, um sich Gesundheit, Reichtum und Weisheit zu erhalten, und deren Untrüglichkeit seit Menschenaltern durch die ungeheuren Schätze an Gold bewahrheitet wird, die ohne Unterlaß Kaminkehrer und andere Leute, die um die frühe Morgenstunde auf sind und beizeiten zu Bett gehen, aufhäufen. Die jungen Damen erhoben sich, nahmen von Mr. Chuzzlewit mit großer Süßigkeit, von ihrem Vater mit kindlicher Hochachtung und von Mr. Pinch mit gebührender Herablassung Abschied und verfügten sich in ihr »Nestchen«. Mr. Pecksniff bestand darauf, seinen jungen Freund die Treppe hinauf zu begleiten, um sich persönlich zu überzeugen, daß es ihm an keiner Bequemlichkeit fehle, nahm ihn beim Arm und führte ihn noch einmal in das Schlafgemach mit den vier Betten, während Mr. Pinch mit dem Licht in der Hand folgte.

»Mr. Pinch«, sagte Pecksniff und setzte sich mit verschränkten Armen auf eines der Gastbetten, »ich vermisse die Lichtputzschere dort auf jenem Leuchter. Wollen Sie die Güte haben, hinunterzugehen und eine heraufholen?«

Mr. Pinch, überglücklich, sich nützlich machen zu können, eilte unverzüglich in die Küche.

»Sie müssen entschuldigen, Martin, Tom Pinch hat keine Lebensart«, sagte Mr. Pecksniff mit gönnerhaftem Lächeln, als Tom draußen war. »Aber er meint’s gut.«

»Er ist ein sehr guter Mensch, Sir.«

»O ja«, gab Mr. Pecksniff zu. »Ja, Thomas Pinch meint’s gut. Er ist dankbar. Ich habe noch nie bereut, zu Thomas Pinch freundlich gewesen zu sein.«

»Ich denke, Sie werden es auch künftighin nie zu bereuen haben, Sir.«

»Nein«, entgegnete Pecksniff. »Nein. Hoffentlich nicht. Armer Bursche! Er bemüht sich nach Kräften –, aber er hat kein Talent. Sie sollten ihn sich nützlich zu machen suchen, Martin. Wenn Thomas einen Fehler hat, so ist es der, daß er bisweilen seine Stellung ein bißchen vergißt. Doch da ist ja leicht wieder ein Zügel angelegt. Eine gute Seele. Sie werden sehen, er ist leicht lenkbar. Gute Nacht!«

»Gute Nacht, Sir.«

– Inzwischen war Mr. Pinch mit der Lichtschere wieder zurückgekehrt. –

»Und auch Ihnen gute Nacht, Pinch«, sagte Pecksniff. »Schlafen Sie wohl, alle beide. – Und Gott behüte euch!«

Diesen Segenswunsch mit großer Inbrunst auf die Häupter seiner jungen Freunde herabrufend, begab sich Mr. Pecksniff in sein eigenes Schlafgemach, während diese, müde von der langen Reise, bald fest einschliefen.

Wenn Martin überhaupt träumte, so werden wir den Schlüssel zum Inhalt seiner Visionen in den folgenden Kapiteln dieser Geschichte finden. Thomas Pinch träumte jedenfalls von lauter Festen, von Kirchenmusik und seraphischen Pecksniffs.

Es dauerte hingegen eine ziemliche Weile, ehe Mr. Pecksniff sein Lager aufsuchte. Volle zwei Stunden blieb er noch vor dem Kamin seines Schlafzimmers sitzen und starrte, tief in Gedanken versunken, in die Kohlen. Aber endlich schlief auch er ein, um zu träumen. So schließt in den ruhigen Stunden der Nacht ein Haus nicht weniger unzusammenhängende und wirre Ideen ein als das Gehirn eines Wahnsinnigen.

50. Kapitel


50. Kapitel

Es begibt sich etwas, das Tom Pinch außerordentlich überrascht und dazu führt, daß zwischen ihm und seiner Schwester gewisse Dinge zur Sprache kommen

Am nächsten Abend saßen Tom und seine Schwester gemütlich beisammen beim Tee und plauderten über allerlei Dinge, jedoch ohne daß das Gespräch auf Lewsome oder irgend etwas, was ihn anging, kam, denn John Westlock – trotz seiner Jugend einer der besonnensten Menschen von der Welt – hatte es Tom ausdrücklich eingeschärft, seiner Schwester diesbezüglich nicht das Geringste mitzuteilen, um sie nicht zu beunruhigen. »Wirklich, Tom«, hatte er wörtlich gesagt, nachdem er eine Weile lang verlegen herumgedruckst, »nicht um alle Schätze und Ehren der Welt möchte ich, daß auch nur ein Schatten eines traurigen Gedankens auf ihr glückliches Gesichtchen oder in ihr zartes Herz fiele.«

Wirklich, John ist außerordentlich gütig, und ihr leiblicher Vater hätte nicht mehr Anteil an ihr nehmen können als er, sagte sich Tom.

Aber obgleich er und seine Schwester außerordentlich gesprächig waren, so schienen sie dennoch nicht so fröhlich und heiter zu sein wie sonst. Es fiel Tom nicht im entferntesten ein, daß Ruth daran schuld sein könne, im Gegenteil hielt er es für ausgemacht, daß die Langweile von ihm ausgehe. Und das hatte in gewisser Beziehung auch seine Richtigkeit, denn das leichteste Wölkchen an dem Himmel ihres sonst so ruhigen Gemütes warf auf ihn stets einen Schatten.

Und heute abend lag wirklich eine Wolke auf der Stirn der kleinen Ruth. Sooft Tom zufällig wegblickte, stahlen sich ihre hellen Augen nach seinem Gesichte, leuchteten dann noch glänzender auf und trübten sich gleich darauf. Wenn Tom schwieg und hinausschickte in das Sommerwetter, machte sie bisweilen eine hastige Bewegung, als treibe es sie, sich ihm um den Hals zu werfen, doch jedesmal bezwang sie sich wieder, und wenn er sich umsah, zeigte sie ihm ein lachendes Gesicht wie sonst und plauderte fröhlich mit ihm. Hatte sie ihm etwas zu reichen oder irgendeinen Vorwand, in seine Nähe zu kommen, so hüpfte sie um ihn herum und legte wie zögernd ihr Händchen auf seine Schulter und wollte gar nicht wieder weggehen – kurz, sie verriet auf jede mögliche Art, daß ihr etwas auf dem Herzen liege, was sie ihm gern gesagt hätte, was sie aber auszusprechen nicht den Mut besaß.

So saßen sie, sie mit ihrer Handarbeit vor sich, aber ohne zu arbeiten, und Tom mit einem Buche neben sich, ohne zu lesen, als Martin an die Haustüre klopfte. Tom, der sofort erriet, wer es sein könne, stand auf, um zu öffnen, und kam dann in Gesellschaft seines Gastes wieder ins Zimmer zurück. Er machte dabei ein ziemlich verdutztes Gesicht, denn Martin hatte auf seinen herzlichen Gruß kaum ein Wort erwidert.

Auch Ruth bemerkte das sonderbare Benehmen ihres Besuches und blickte fragend zu Tom auf, als erwarte sie von ihm eine Erklärung, aber er schüttelte nur den Kopf und blickte fragend Martin stumm an.

Martin setzte sich nicht wie sonst, sondern trat ans Fenster, blieb davor stehen und blickte hinaus. Dann drehte er sich plötzlich um, als wollte er etwas sagen, wandte aber wieder den Kopf ab und schwieg.

»Was ist denn vorgefallen, Martin?« fragte Tom ängstlich, »bringen Sie schlimme Nachrichten, lieber Freund?«

»Ach, Tom«, versetzte Martin mit vorwurfsvollem Tone, »daß Sie sich so stellen können, als interessierten Sie sich für etwas, das mich betrifft, verletzt mich fast noch mehr als Ihr unschönes Vorgehen selbst.«

»Mein unschönes Vorgehen, Martin, mein –« Tom blieben die Worte in der Kehle stecken.

»Wie konnten Sie nur, Tom – wie konnten Sie nur sich von mir so heiß und innig danken lassen für Ihre Freundschaft, ohne mir wie ein Mann gerade heraus zu sagen, daß Sie mich im Stiche gelassen hatten?! War das offen gehandelt, Tom, war das ehrlich gehandelt? War es Ihres früheren Charakters würdig – oder besser gesagt, des Charakters, den ich Ihnen beimaß –, mich zu veranlassen, Ihnen mein Herz auszuschütten, nachdem Sie schon mein Gegner geworden waren? Ach, Tom, Tom!«

Es lag etwas unbedingt Verletzendes und dabei doch tief Bekümmertes in seiner Rede. Was er sagte, bekundete ebensosehr seine frühere Anhänglichkeit an Tom wie tiefes Leid über die Entdeckung seines vermeintlichen Unterdes. Tom schlug einen Augenblick die Hände vors Gesicht und brachte kein Wort hervor, um sich zu rechtfertigen, wie wenn er in Wirklichkeit ein Ungeheuer an Falschheit gewesen wäre.

»Ich versichere Ihnen, so wahr ich lebe«, rief Martin, »daß es mich tief schmerzt, in Ihnen nicht mehr den Menschen sehen zu können, für den ich Sie gehalten habe, und zwar in einem Maße, daß ich ganz und gar mein eigenes erlittenes Unrecht darüber vergessen könnte. Erst in Augenblicken nach einer solchen Entdeckung fühlen wir, wie sehr wir den verlorenen Freund früher geliebt haben, und ich schwöre Ihnen – wenn ich es auch niemals sehr merken ließ –, daß ich Sie wie einen Bruder geliebt habe, Tom.«

Mr. Pinch hatte sich inzwischen gefaßt und antwortete treuherzig:

»Martin, ich weiß nicht, was Sie auf dem Herzen haben und was Ihnen zugestoßen ist und Sie so umgewandelt haben mag, jedenfalls aber hat man Sie hintergangen, und es ist kein Jota Wahrheit in dem, was Sie so beunruhigt. Sie sind von A bis Z in einem Irrtum befangen, und ich kann Ihnen beruhigt voraussagen, daß Sie das Unrecht, das Sie mir jetzt antun, noch tief bereuen werden. Ehrlich und offen sage ich Ihnen, daß ich sowohl Ihnen wie mir treu geblieben bin. Ihr Benehmen wird Ihnen noch einmal sehr leid tun, das kann ich Ihnen mit Bestimmtheit voraussagen, Martin.«

»Leid empfinde ich jetzt schon, wenn auch in anderm Sinne«, antwortete Martin und schüttelte traurig den Kopf, »bis zu diesem Augenblick habe ich nicht gewußt, was es heißt, Herzeleid wegen einer großen Enttäuschung zu empfinden.«

»Gut«, sagte Tom, »aber wenn es auch stets so gewesen wäre, wie Sie jetzt von mir annehmen, und ich niemals Ihre Achtung besessen und stets Ihre Geringschätzung verdient hätte, so müßten Sie mir dennoch offen heraussagen, inwiefern Sie mich für treulos halten und woraus Sie das schließen. Ich bitte nicht um diese Erklärung, Martin, sondern ich habe ein Recht darauf, sie zu verlangen.«

»Soll ich vielleicht meinen eignen Augen nicht trauen?« fuhr Martin auf.

»Nein, wenn sie mich anklagen, nicht.«

»Und Ihre eignen Worte – Ihr eigenes Vorgehen, soll ich denen vielleicht auch nicht glauben?«

»Nein«, sagte Tom ruhig, »Sie dürfen dem Schein nicht glauben, wenn er gegen mich spricht. Aber sie haben auch nie etwas gegen mich bewiesen; wer sie in solcher Absicht auch verdreht haben mag, der tut mir beinahe so schweres Unrecht« – es schien einen Augenblick, als wolle er ganz und gar außer Fassung geraten – »wie Sie.«

»Ich bin hierher gekommen«, sagte Martin, »und wende mich jetzt an Ihr liebenswürdiges Fräulein Schwester. Sie soll mich anhören –«

»An sie dürfen Sie nicht appellieren«, unterbrach ihn Tom, »denn sie wird Ihnen niemals Glauben schenken« – dabei zog er Ruths Arm zärtlich durch den seinigen.

»Ich es glauben, Tom!« rief Ruth entsetzt.

»Nein, nein!« besänftigte sie Tom, »freilich nicht. Sei doch ruhig, närrisches Mädchen!«

»Ich hatte niemals im Sinn«, fiel Martin hastig ein, »Sie gegen Ihren Bruder anzurufen; so unmännlich und lieblos bin ich nicht. Ich wünschte bloß, daß Sie mit anhören, was ich hier zu erklären habe, nämlich, daß ich nicht gekommen bin, um Vorwürfe zu erheben – nein, ich mache niemandem einen Vorwurf –, aber bekümmert bin ich bis ins tiefste Innere. Sie können sich vorstellen, wie bitter es mir sein muß, wenn ich Ihnen sage, daß ich oft und oft an Ihren Bruder gedacht habe und mich im Zustande fast hoffnungsloser Krankheit stets nach der Gelegenheit sehnte, ihm zu beweisen, wie hoch ich seine Freundschaft anschlug und wie fest ich auf ihn baute und an ihn glaubte.«

»Still, still«, sagte Tom und legte seiner Schwester zärtlich die Hand auf den Mund, als er sah, daß sie sprechen wollte. »Es ist ein Mißverständnis; man hat ihn hintergangen; laß es gut sein; schließlich wird doch die Wahrheit an den Tag kommen.«

»Gesegnet sei die Stunde, die mich eines andern belehren wird«, rief Martin, »wenn sie je kommen sollte.«

»Amen!« sagte Tom, »sie wird kommen.«

Martin schwieg eine Weile und fuhr dann traurig fort: »Sie haben Ihre Wahl getroffen, Tom, und wenn wir uns jetzt für immer trennen, wird dies eine Erleichterung für Sie sein. Wir scheiden nicht in Groll – wenigstens von meiner Seite nicht.«

»Von meiner gewiß auch nicht«, sagte Tom.

»Sie haben es so gewollt, und es ist so gekommen. Wie gesagt, Sie haben Ihre Wahl getroffen, so wie es sich von den meisten Menschen in Ihrer Lage erwarten ließ, wenn auch nicht von Ihnen. Vielleicht sollte ich eher meiner Unbesonnenheit als Ihnen die Schuld beimessen. Auf der einen Seite winkte Ihnen Reichtum und Gunst, und auf der andern lag die an und für sich wertlose Freundschaft eines verlassenen, hilflosen Menschen. Die Wahl stand Ihnen frei, und Sie haben gewählt. Es ist eben gekommen, wie es vorauszusehen war. Allerdings sollte auch jemand, der den Mut nicht besitzt, solchen Versuchungen zu widerstehen, immerhin die Kraft haben, zuzugeben, daß er unterlegen ist. Und nur daraus mache ich Ihnen einen Vorwurf. Sie haben mich anscheinend herzlich empfangen, mich zu freier, offener Rede ermutigt und mich verlockt, Ihnen zu vertrauen, während Sie sich bereits an andre verkauft hatten. – Ich habe nicht geglaubt«, fuhr Martin erregt fort – »und ich sage es auch jetzt nochmals aus tiefstem Herzen heraus; ich kann es nicht glauben, Tom, wenn ich Ihnen in die Augen sehe, daß Sie aus eigenem Antrieb planten, mir Schaden zuzufügen, selbst wenn ich nicht durch Zufall entdeckt hätte, in wessen Diensten Sie stehen. Aber freilich, ich wäre Ihnen zur Last gefallen; ich hätte Sie in ein noch schieferes Licht gebracht und Sie würden sich die Gunst verscherzt haben, für die Sie einen so hohen Preis bezahlt haben, indem Sie auf Ihren früheren Charakter verzichteten. Aber dennoch ist es das beste für uns beide, daß ich endlich entdeckt habe, was Sie sich geheimzuhalten so sehr bemühten.«

»Seien Sie gerecht«, sagte Tom, der Martin während dessen ganzer Rede ununterbrochen mild ins Auge geblickt hatte, »seien Sie gerecht auch in Ihrer Ungerechtigkeit, Martin. Sie vergessen, daß Sie mir noch immer nicht gesagt haben, wessen Sie mich bezichtigen.«

»Wozu auch«, wehrte Martin ab und schritt zur Türe, »mehr Erkenntnis könnte Ihnen daraus nicht erwachsen. Nein, Tom, was vorbei ist, soll vorbei sein. – Ich kann in diesem Augenblick von Ihnen Abschied nehmen – hier, wo Sie mich einst so freundlich und gütig aufgenommen haben – und tue es so herzlich wie jemals früher, als wir uns kennenlernten. Möge es Ihnen auch weiterhin wohl ergehen, Tom, ich –«

»Und mit diesen Worten wollen Sie mich verlassen? So können Sie mich verlassen? Wirklich?« unterbrach ihn Tom.

»Ich – Sie – Sie haben selbst gewählt, Tom! – Ich – war – hem – wohl etwas unüberlegt –« stotterte Martin, »ja gewiß, unüberlegt – – leben Sie wohl.«

Und er ging.

Tom führte Ruth stumm nach ihrem Stuhl und setzte sich auf seinen Platz. Dann nahm er sein Buch wieder vor und las oder schien vielmehr zu lesen. Als er das erste Blatt umwandte, sagte er laut vor sich hin:

»Es wird die Stunde kommen, wo es ihm sehr, sehr leid tun wird.« Dabei stahl sich eine Träne über seine Wangen und fiel auf das Blatt.

Ruth sprang auf, kniete neben ihm nieder und schlang ihre Arme um seinen Hals.

»Nein, Tom, nicht so! Bitte, bitte, lieber Tom, sei nicht so trostlos!«

»Ich bin – ganz und gar nicht trostlos«, sagte Tom leise, »es wird sich ja alles noch aufklären.«

»Und das ist der Dank!« rief Ruth.

»Nein, nein«, wehrte ihr Tom, »er glaubt es wirklich. Ich kann mir nicht vorstellen, warum, aber er glaubt es. Es wird und muß sich ja alles aufklären.«

Ruth schmiegte sich noch dichter an ihn und schluchzte, schluchzte, als ob ihr das Herz brechen wollte.

»Still, still, beruhige dich, liebes Kind«, tröstete sie Tom. »Warum verbirgst du dein Gesicht, mein Kind?«

Ruth ließ jetzt unverhohlen ihren Tränen freien Lauf.

»Ach, Tom, mein geliebter Tom, ich weiß doch, was dir so sehr das Herz bedrückt! Ich habe es entdeckt – du konntest die Wahrheit vor mir nicht verbergen. – Ach, warum hast du mir nicht alles gesagt? Ich hätte dir doch Trost zusprechen können! – Ich weiß, du liebst sie, Tom – liebst sie innig.«

Tom machte eine abwehrende, heftige Bewegung mit der Hand, aber sie fiel kraftlos nieder und umschloß die ihrige – eine ganze kurze Leidensgeschichte lag in dieser Gebärde – eine ergreifende Beredsamkeit in dem stummen Druck.

»Und trotzdem«, schluchzte Ruth, »bist du so treu und gut gewesen, lieber Tom! Trotzdem hast du den schwersten Kampf, den es für ein menschliches Herz gibt, gekämpft! – Du bist so edel, so hochherzig und voller Selbstverleugnung gewesen, daß ich nie einen zornigen Blick von dir gesehen habe oder ein gereiztes Wort aus deinem Munde hörte. Und dennoch diese grausame Verrenkung! Ach, Tom, geliebter Tom – wie kann das alles je wieder gut werden! Glaubst du, Tom, daß es möglich ist? Wirst du ewig diesen Kummer im Herzen tragen, der du so glücklich zu sein verdienst; oder hast du noch Hoffnung?«

Und noch immer verbarg sie ihr Gesicht vor ihrem Bruder, hielt seinen Hals umschlungen, weinte um ihn und ließ ihr ganzes weibliches Herz ausströmen mit ihren Tränen.

Und dann setzten sie sich Seite an Seite. Ruth blickte ernst und gefaßt in sein Gesicht, und er sprach zu ihr, ruhig, gelassen und heiter, wenn auch im tiefsten Ernst:

»Es freut mich, liebe Schwester, daß alles jetzt zwischen uns zur Sprache gekommen ist; nicht, weil es mir deine Liebe und Zärtlichkeit beweist – daran konnte ich doch niemals zweifeln –, sondern weil mir damit eine schwere Last vom Herzen genommen ist.«

Sein Auge leuchtete, als er von ihrer Liebe sprach, und er küßte sie auf die Wange.

»Meine liebe, liebe Schwester, mit welchen Gefühlen ich auch an sie denken mag –«, sie schienen beide den Namen sorgsam zu vermeiden – »so habe ich doch längst – ja, ich kann wohl sagen, von Anfang an – das Ganze kaum für mehr als für einen schönen Traum gehalten – für etwas, das sich nie verwirklichen läßt. Aber jetzt sage mir, was meintest du damit, als du fragtest, ob ich glaubte, daß alles noch gut werde?«

Ruth warf ihm einen so beredten Blick zu, daß er erriet, was sie meinte.

»Liebste Ruth, sie ist aus freier Wahl mit Martin verlobt, und zwar längst, ehe eines von beiden von meiner Existenz auch nur wußte. Hast du an die Möglichkeit gedacht, daß sie sich je mit mir verlobe?«

»Ja«, sagte Ruth hastig.

»Dadurch würde die Sache nicht gut, sondern nur schlecht werden«, antwortete Tom und fügte mit wehmütigem Lächeln hinzu: »Glaubst du denn, daß sie mich überhaupt hätte lieben können, selbst wenn sie ihn niemals vorher gesehen hätte?«

»Warum nicht, lieber Bruder?«

Tom schüttelte nur den Kopf und lächelte stumm.

»Du hältst mich, Ruth – und es ist ganz natürlich, daß du es tust – wahrscheinlich für einen Helden, wie sie in Romanen vorkommen. Du glaubst, die poetische Gerechtigkeit erfordere, daß ich schließlich durch irgendein seltsames Wunder mit der verbunden werde, die ich liebe, aber es gibt noch eine viel höhere Gerechtigkeit als die poetische, mein Kind, und die bestimmt die Ereignisse nach andern Grundsätzen. Die Menschen, die immer nur an ihre Bücherhelden denken und aus sich selbst Bücherhelden machen möchten, halten es für so schön, unzufrieden, verdüstert und menschenfeindlich, vielleicht auch ein wenig gotteslästerlich zu sein, bloß weil ihnen nicht zufällt, was sie gerne hätten; möchtest du, daß ich auch so ein Mensch würde?«

»Nein, Tom. – – Aber dennoch weiß ich«, fügte Ruth schüchtern hinzu, »daß es dir Kummer bereitet, wenn auch nicht den Kummer unbefriedigter Selbstsucht.«

Tom wollte ihre Annahme widerlegen, sah aber ein, daß es vergeblich gewesen wäre, und unterließ es daher.

»Liebste«, sagte er, »ich will dir deine Zärtlichkeit dadurch vergelten, daß ich dir jetzt offen die Wahrheit – die ganze Wahrheit mitteile. Gewiß nagt ein Kummer in meinem Innern, und ich habe es oft gefühlt, trotzdem ich mich stets dagegen wehrte. Denke dir, es stürbe dir ein teueres Wesen, und dann träumtest du, daß du mit dem Dahingeschiedenen im Himmel vereint seist – und es wird dir dann schmerzlich sein, wieder zum Erdenleben zu erwachen, obgleich es nicht schwerer zu ertragen ist als zur Zeit deines Einschlafen. Der Gedanke an den Traum wird dich mit Wehmut erfüllen, aber du wußtest gleich anfangs, daß es ein Traum war, und haderst deshalb nicht mit der Wirklichkeit, die dich umgibt. Sie ist stets dieselbe wie zuvor. Liebe Schwester, meine liebe, liebe Gefährtin, die mir dieses Haus so lieb und wert macht, sage, liebt sie mich darum weniger, als sie getan hätte, wenn mich jener schöne Traum niemals umgaukelt hätte, und mein alter Freund John, der doch ebensogut kalt und gleichgültig gegen mich sein könnte, ist er darum weniger herzlich gegen mich? Und ist in der Welt rings um mich her weniger Gutes deshalb? Sollen meine Worte deswegen härter, meine Blicke verbittert und mein Herz kalt werden, weil mir ein gutes und schönes Wesen begegnet ist? Nein, liebe Schwester, nein«, wiederholte er mit Festigkeit, »wenn ich all der Wege gedenke, die mir zu meinem Glücke offenstehen, so wage ich es kaum, dies nagende Etwas einen Kummer zu nennen. Welchen Namen es auch immer tragen mag, ich danke Gott, daß es mich für Liebe und Anhänglichkeit empfänglicher und nicht weniger glücklich macht. Nein, nicht weniger glücklich, Ruth!«

Es war ihr unmöglich, ein Wort zu erwidern, aber sie liebte Tom von ganzem Herzen, so wie er es verdiente.

»Sie wird Martin die Augen öffnen«, fuhr Tom froh und stolz fort, »und dann wird es ihm von Herzen leid tun. Ich weiß, daß sie nun und nimmer glauben wird, daß ich ihn jemals verraten haben könnte. Unser Geheimnis, Ruth, bleibt unter uns – soll mit uns leben und sterben. – Ich glaube nicht, daß ich dir jemals etwas davon gesagt haben würde«, setzte er lächelnd hinzu, »aber es freut mich, daß du selbst darauf gekommen bist.«

Dann beschlossen sie einen Spaziergang zu machen, und er gab ihnen soviel Frieden, wie sie sich nur wünschen konnten. Tom erzählte Ruth alles so offenherzig, einfach und dabei so bemüht, ihre Zärtlichkeit dadurch zu erwidern, daß er ihr sein Herz ganz ausschüttete, daß sie weit über die gewohnte Stunde aufblieben und erst spät zu Bett gingen. Als sie sich endlich gute Nacht sagten, lag ein so schöner ruhiger Ausdruck in Toms Gesicht, daß Ruth ihm auf den Zehen nachschlich bis an seine Kammertür und stehen blieb, bis er sie bemerkte, und dann umarmten sie sich und gingen schlafen. Und in ihrem Nachtgebet war sein Name ihr erster und letzter Gedanke.

Als Tom allein war, dachte er viel und lange darüber nach, wieso es wohl gekommen sei, daß Ruth sein Geheimnis durchschaut habe. »Vielleicht, weil ich gar zu vorsichtig war«, dachte er. »Freilich sehe ich es klar ein, daß es töricht und unnötig war, zu schweigen; aber mir ist jetzt doch so wohl ums Herz, daß sie darum weiß. Wozu hatte ich auch nötig, es so sorgsam vor ihr geheimzuhalten? Ich wußte von jeher, daß sie eine rasche Auffassungsgabe hat, aber soviel Scharfsinn hätte ich ihr doch nicht zugetraut. Und wie plötzlich sie überdies diese Entdeckung gemacht hat! Wirklich merkwürdig«, brummte er.

Der Gedanke verfolgte ihn noch bis in den Schlaf.

»Und wie sie zitterte, als sie allmählich damit herausrückte, sie wisse davon«, dachte er und rief sich alle die kleinen Ereignisse und Umstände des Abends wieder ins Gedächtnis zurück. »Und wie ihre Wangen glühten! Aber das war ganz natürlich. Ja ja, ganz natürlich. – Es ist weiter nichts zu erklären daran.«

Aber wie natürlich es war und wie wenig es einer weiteren Erklärung bedurfte, daß erst in neuester Zeit sich in Ruths eigenem Herzen etwas festgesetzt hatte, das ihr sein Geheimnis lesen half, daran dachte er wenig – er verstand das Geflüster der Tempelfontäne nicht, trotzdem er täglich dort vorüberging.

Wie fröhlich und lebhaft am nächsten Morgen die kleine Ruth war! Ihr Klopfen früh an seiner Tür und ihr leiser, flüchtiger Schritt draußen würden schon Musik für ihn gewesen sein, auch wenn sie ihm nicht gesagt hätte, es sei der schönste Morgen draußen, den man je gesehen. Und wenn es auch nicht der Fall gewesen wäre, sie würde ihn durch ihre bloße Anwesenheit für Tom dazu gemacht haben.

Sie war mit seinem Frühstück bereits fertig, als er hinunterkam, hatte ihren Hut zum Morgenspaziergang bereit gelegt und wußte so viele Neuigkeiten, daß sich Tom halb tot wunderte. Schien es ihm doch, als wäre sie die ganze Nacht aufgewesen und hätte sie gesammelt, nur um ihn in der Frühe damit unterhalten zu können. – Mr. Nadgett sei immer noch nicht nach Hause gekommen, erzählte sie, und dann sei unten ein Laib Brot für einen Penny zu haben, der Tee sei zweimal so stark wie sonst, der Mann der Milchfrau sei glücklich kuriert aus dem Spital heimgekommen und das krausköpfige Kind gegenüber habe sich verirrt und wäre gestern den ganzen Tag nicht zu finden gewesen. Dann wieder plauderte sie davon, sie wolle alle möglichen Kompotte einkochen und sei so glücklich, daß sie zufällig gerade die richtige Pfanne dafür im Hause habe – und was in Toms letztem Buche stand, das sie nach Hause gebracht, wußte sie ebenfalls, trotzdem es, wie sie sagte, eine Qual wäre, es zu lesen –, kurz, sie habe ihm so viel zu berichten, daß sie deshalb ihr Frühstück schon vorher eingenommen habe. Dann setzte sie ihren Hut auf, Tee und Zucker wurden eingeschlossen, die Schlüssel kamen in den Strickbeutel, wie gewöhnlich mußte eine Blume Toms Knopfloch zieren, kurz, sie waren früher fertig, als Tom nur irgend erwarten konnte.

Er wurde förmlich geschwätzig durch sie – es war unmöglich, ihr zu widerstehen, so viele Fragen stellte sie über Bücher, über Kirchen und Orgeln, über den Tempel und alles mögliche: mit einem Wort, sie erhellte den ganzen Weg und auch sein Herz mit so viel Glück, daß der Tempel ihm ganz öde und leer vorkam, als er sich am Tore von ihr trennte.

»Vermutlich kommt Mr. Fips‘ Freund auch heute wieder einmal nicht«, sagte er sich, als er die Treppe emporklomm.

Jedenfalls war er noch nicht dagewesen, denn die Türe war wie gewöhnlich verschlossen, und er mußte sie mit seinem Schlüssel öffnen. Er hatte jetzt die Bücher vollständig in Ordnung gebracht, die eingerissenen Blätter geklebt, wo es nötig war, neue Rücken aufgepappt und die vermischten Titel durch neue selbstgeschriebene ersetzt. Es sah jetzt alles so reinlich und ordentlich aus, daß man den Ort gar nicht mehr wiedererkannte. Tom war beinahe stolz, wenn er die Wirkung seines Fleißes betrachtete, ob auch niemand da war, der seine Arbeit gelobt oder getadelt hätte.

Er war eben damit beschäftigt, sein Katalog-Konzept ins reine zu schreiben, und verwendete darauf, da die Sache keine Eile hatte, dieselbe Sorgfalt, die er auch früher schon in Mr. Pecksniffs Atelier auf Pläne und Risse zu verwenden gewohnt war. Es wurde ein wahres Wunder von einem Kataloge, denn Tom fürchtete bisweilen, er verdiene sein Geld viel zu leicht, und hatte sich daher vorgenommen, sein Allerbestes an dieses Dokument zu wenden.

So arbeitete er mit Lineal und Feder, mit Zirkel und Radiergummi und Bleistift, mit roter und schwarzer Tinte den ganzen Morgen drauflos. Er mußte dabei sehr viel an Martin und seine gestrige Zusammenkunft mit ihm denken und kam zur Ansicht, daß es ihm leichter ums Herz werden würde, wenn er sich entschließen könnte, seinem Freunde John die ganze Sache anzuvertrauen. Aber dabei drängte sich ihm der Gedanke auf, John werde in seiner Gutherzigkeit sofort aufbrausen und Martin vielleicht aus Zorn seinem Schutz entziehen. Und wenn das geschah, mußte Martin ein ernstlicher Nachteil daraus erwachsen.

»Da will ich’s doch lieber für mich behalten«, sagte sich Tom und seufzte.

Und wieder fing er an, mit Lineal und Feder, mit Radiergummi und Bleistift, mit roter und schwarzer Tinte darauflos zu arbeiten, um seinen Kummer zu vergessen.

Er hatte ungefähr zwei Stunden geschrieben, als er unten im Torweg einen Schritt hörte. »Ach«, sagte er mit einem Blick auf die Türe, »es ist noch nicht lange her, wo mich ein solcher Ton mit größter Neugierde und Erwartung erfüllt haben würde, aber jetzt hab ich’s nachgerade schon aufgegeben.«

Doch die Fußtritte kamen immer näher – die Treppe herauf.

»Sechsunddreißig, siebenunddreißig, achtunddreißig!« zählte Mr. Pinch. »Jetzt wird er stehenbleiben. Über die achtunddreißigste Stufe ist noch niemand heraufgekommen.«

Allerdings blieb der Mann, oder wer es sonst war, stehen, aber offenbar, nur um Atem zu schöpfen, denn dann kam der Schritt wieder höher herauf: vierzig, einundvierzig, zweiundvierzig – –

Die Türe stand offen. Wie die Schritte näher kamen, blickte Tom gespannt und mit klopfendem Herzen hin. Eine Gestalt kam auf den Treppenabsatz herauf, trat über die Schwelle, blieb stehen und blickte ihn an. Tom erhob sich langsam von seinem Stuhl und glaubte beinahe, einen Geist vor sich zu sehen.

Der alte Martin Chuzzlewit stand da, derselbe alte Herr, den er schwach und gebrechlich bei Pecksniff verlassen hatte.

Derselbe? Nein, nicht derselbe. Dieser alte Mann hier war alt, aber kräftig, lehnte sich rüstig auf seinen Stock und gab mit der andern Hand Tom ein Zeichen, keinen Lärm zu machen. Ein Blick auf das entschlossene Gesicht, das scharfe Auge, die starke Hand auf der Stockkrücke, die ganze fast triumphierende Haltung des Mannes – und plötzlich ging Tom ein Licht auf, das ihn fast blendete.

»Sie haben mich wohl schon lange erwartet?« begann der alte Herr.

»Man hat mir gesagt, mein Prinzipal würde bald kommen« stotterte Tom, »aber –«

»Ist mir bekannt. Sie wußten aber nicht, wer Ihr Chef ist. Ich wollte es ausdrücklich so haben und freue mich, daß meinen Wünschen entsprochen wurde. Ich hoffte schon früher mit Ihnen zusammenzutreffen und glaubte, die Stunde habe schon geschlagen. Ich dachte nicht mehr und nichts Schlimmeres von – ihm – zu hören zu bekommen als damals, wo er Sie in meiner Gegenwart entließ, doch ich hatte mich geirrt.«

Mr. Chuzzlewit war indessen zu Tom herangetreten und faßte jetzt seine Hand.

»Ich habe in seinem Hause gelebt, Pinch, und habe ihn tage-, wochen- und monatelang vor mir kriechen sehen. Sie wissen das. Ich habe mich von ihm, ohne mir etwas anmerken zu lassen, wie ein Werkzeug gebrauchen lassen. – Sie haben es gesehen. Ich habe zehntausendmal mehr gelitten und durchgemacht, als ich ausgehalten haben würde, wenn ich wirklich der elende schwache Greis gewesen wäre, für den er mich hielt. Sie wissen es. Ich habe gesehen, wie er Mary seine Liebe aufdrängen wollte. Sie wissen es, und wer könnte es besser wissen als Sie treuer braver Mensch!? Tag für Tag hatte ich die ganze Niedertracht seiner Denkungsart klar vor Augen, ohne daß ich mich nur ein einziges Mal verraten hätte. Niemals hätte ich diese Pein aushalten können, wäre es mir nicht um die Zukunft – um den jetzigen Augenblick zu tun gewesen.« Er hielt inne, trotz der Leidenschaftlichkeit seiner Sprache – wenn so etwas Festes und Entschiedenes überhaupt Leidenschaft genannt werden kann –, um Tom abermals die Hand zu drücken. Dann fuhr er in großer Erregung fort:

»Schließen Sie die Türe! Schließen Sie die Türe! Geschwind! Er ist hinter mir her und könnte zu früh kommen. Die Zeit rückt jetzt heran«, fügte er hastig hinzu. Seine Augen und sein ganzes Gesicht leuchteten dabei – »die Stunde, die alles wiedergutmachen wird. Aber ich möchte nicht um Millionen, daß ihn der Schlag träfe oder er sich erhängte. Schließen Sie die Türe!«

Tom gehorchte, wußte aber kaum, ob er schlafe oder wache.

51. Kapitel


51. Kapitel

Wirft ein grelles Streiflicht auf so manches, das bisher dunkel geblieben, und enthüllt die Folgen des Unternehmens von Mr. Jonas und seinem Associé

Der Abend war gekommen, wo der alte Buchhalter seinen Pflegerinnen überantwortet werden sollte. Mr. Jonas hatte es nicht vergessen. – Es lag in seinem Schuldbewußtsein, daran denken zu müssen. Sein Werk konsequent durchzuführen, bildete die Hauptvorsichtsmaßregel für seine Sicherheit. Ein Wink – ein Wort des alten Mannes konnte, wenn es in einem kritischen Augenblick ein aufmerksames Ohr erreichte, den Pulverfaden des Verdachtes entzünden und alles in die Luft sprengen. Jonas‘ Achtsamkeit auf jede Möglichkeit, die zur Entdeckung des Verbrechens führen konnte, wurde noch durch das Bewußtsein der Gefahr, von der er sich umgeben wußte, aufs äußerste geschärft. Den Mord auf der Seele und von zahlreichen Schrecken und Ängsten Tag und Nacht verfolgt, würde er trotzdem das Verbrechen abermals begangen haben, wenn es ihm endgültige Sicherheit verbürgt hätte. Das war die Strafe – der Fluch der Missetat, daß er beständig unter unerträglicher Furcht litt. Jedoch die Tat, die ihm so entsetzliche Angst verursachte, würde er gerade aus Angst abermals begangen haben. Vorläufig hieß es, den alten Mann von der Außenwelt abzusperren und dann, wenn sich günstige Gelegenheit bot, England ein für allemal den Rücken zu kehren. Daß er seine Flucht so lange hinausschob, lag lediglich darin, daß er fürchtete, Verdacht zu erwecken, wenn er es sogleich versuchte. Vorläufig würden die beiden Krankenwärterinnen schon mit Chuffey fertig werden, das wußte er. Er kannte sie nur zu gut und wußte, wie sie ihre Pflichten durchzuführen pflegten.

Es war keine leere Drohung gewesen, als er gesagt hatte, er wolle den alten Mann stumm machen; er hatte sich vorgenommen, sich seines Schweigens zu versichern, und behielt nur dies eine Ziel im Auge; die Mittel waren ihm gleichgültig. Sein ganzes Leben über hatte er sich roh und grausam gegen den alten Mann benommen, und Gewalttätigkeit ihm gegenüber war ihm nichts Neues.

»Man muß ihn knebeln, wenn er den Mund aufmacht, und ihn binden, wenn er schreiben will«, brummte er mit einem tückischen Blick auf den Alten, der in seinem Winkel saß. »Mit Verrückten springt man eben nicht anders um. Man muß die Sache gründlich machen.«

Still!

Schon wieder lauschte er – horchte auf jedes Geräusch. Er hatte immerwährend gehorcht, seit er die Tat begangen, aber auch diesmal war es nichts. Der Zusammenbruch der Versicherungsanstalt, die Flucht Crimples und Bullamys, die sich mit ihrem Raube und darunter auch, wie er fürchtete, mit seinem eigenen Wechsel aus dem Staube gemacht hatten – weder Wechsel noch Geld hatte er in Mr. Montagues Taschenbuch gefunden –, seine ungeheuern Verluste und die stete Gefahr, noch immer als Teilhaber der bankerotten Firma zu weiteren Schuldenzahlungen herangezogen zu werden, alles das beschäftigte ununterbrochen seinen Geist, fiel ihm immer und immer wieder ein, ohne daß er imstande gewesen wäre, sich ruhig und kalt alles zu überlegen. Er wußte, was ihm drohte, aber wie sehr ihn auch Wut, Enttäuschung und Verzweiflung immer wieder überfielen, stets tauchte die eine Frage vor ihm auf: »Was, wenn man die Leiche im Walde finden wird?« Unablässig versuchte er die gräßlichen Bilder zu verscheuchen, die ihm seine Phantasie in schrecklichen Farben vormalte, aber immer und immer wieder schlich er in Gedanken leise in dem Gehölz hin und her, immer näher und näher, spähte durch eine Öffnung in den Zweigen und verscheuchte durch seine Nähe die Fliegen, die wie Haufen getrockneter Weinbeeren den ganzen Leichnam bedeckten. Fieberhaft gespannt lauschte er auf die Kunde, die er aus jedem Lärm oder lauterem Geräusch herauszuhorchen glaubte, bewachte vom Fenster aus die Leute, wie sie in der Straße auf und ab gingen, mißtraute sogar seinen eigenen Wahrnehmungen und Gedanken. Und je mehr er bei der Möglichkeit einer Entdeckung verweilte, desto stärker war der Bann, der ihn an das grauenhafte Ding fesselte, das dort unten einsam im Walde verweste. Es war ihm, als müsse er es jedem Menschen zeigen, der seinen Blicken begegnete: Schau her! Kennst du das? Weißt du davon? Hat man es gefunden? Hat man mich im Verdacht?

Wäre er dazu verdammt gewesen, die Leiche in seinen Armen zu tragen und jedem; dem er auf der Straße begegnete, zu enthüllen und zu fragen: »Kennst du ihn?«, so hätten seine Gedanken nicht fester daran gebannt sein können.

Aber trotz alledem empfand er keine Reue und keine Gewissensbisse über das, was er getan, denn seine Unruhe drehte sich lediglich um seine eigene Sicherheit. Das dunkle Gefühl, daß er gerade durch den Mord seine ganze Existenz vernichtet habe, verschärfte nur seinen Haß und seine Wut und seinen Ingrimm und ließ ihn das, was er dadurch gewonnen, viel höher anschlagen, als es wirklich war. Der Mann war tot; das konnte niemand auf der Welt mehr ungeschehen machen – schon der Gedanke daran erfüllte ihn mit wildem Triumph.

Seit der Mordtat hatte er Chuffey argwöhnisch bewacht, und wenn er ihn allein lassen mußte, so geschah es nur auf möglichst kurze Zeit. Jetzt waren sie allein im Zimmer. Es dämmerte bereits, und der Augenblick, wo Mrs. Gamp erscheinen sollte, rückte immer näher. Jonas ging in der Stube auf und ab, und der alte Mann saß wie gewöhnlich in seinem Winkel.

Auch das Geringfügigste wurde zu einem Grund der Unruhe für Jonas, und jetzt war er wieder in Sorge, daß seine Frau abwesend war. Zeitig am Nachmittag war sie von zu Hause fortgegangen und noch immer nicht zurückgekommen. Es war wahrhaftig nicht Zärtlichkeit für sie, was er empfand, aber er fürchtete, man könne ihr aufgelauert und sie verleitet haben, etwas auszusagen, das den Verdacht auf ihn lenken konnte, wenn einmal herauskam, daß Mr. Montague ermordet worden war. Bestimmt wußte er ja immer noch nicht, ob sie nicht während seiner Abwesenheit an die Türe der geheimnisvollen Kammer unten geklopft und seine Abwesenheit entdeckt hatte. »Hol sie der Teufel«, fluchte er, »es sähe ihr ganz ähnlich, der blassen Fratze, im Hause hin und her zu schleichen und zu spionieren. – Wo sie nur wieder stecken mag?«

»Sie ist zu Mrs. Todgers, ihrer Freundin, gegangen«, antwortete der alte Mann, da er die Frage gehört hatte.

Na also, da hatte man’s. Immer mußte sie sich zu dem Frauenzimmer hinstehlen, das, wo es ging, Partei gegen ihn ergriff. Konnte man wissen, was sie wieder für Teufeleien zusammen ausheckten? Sofort sollte man sie holen gehen.

Der alte Mann erhob sich murmelnd, als wolle er es selber besorgen, aber Jonas stieß ihn mit einer Verwünschung ungeduldig in seinen Stuhl zurück und schickte ein Dienstmädchen nach ihr. Dann ging er wieder ruhelos auf und ab, bis die Botin zurückkam, was nicht lange dauerte.

»Nun, wo steckt sie? Kommt sie endlich?«

Nein. Sie sei schon vor drei Stunden von Mrs. Todgers fortgegangen, hieß es.

»Fortgegangen? Allein?«

Danach hatte das Mädchen nicht gefragt.

»Hol dich der Teufel, du dumme Gans. – Bring Licht.«

Kaum hatte das Dienstmädchen das Zimmer verlassen, als der alte Mann, der seit der Frage nach Mrs. Chuzzlewit mit gespanntester Aufmerksamkeit dagesessen hatte, plötzlich auf Jonas zustürzte.

»Geben Sie sie heraus!« ächzte er erregt. »Ohne Widerrede, geben Sie sie heraus! Sagen Sie, was Sie mit ihr angefangen haben! Heraus mit der Sprache. In diesem Punkte bin ich nicht verpflichtet, zu schweigen. Gestehen Sie, was Sie mit ihr angefangen haben.« Dabei faßte er Jonas am Kragen, und zwar mit mehr Kraft, als man es von ihm hätte erwarten dürfen.

»Sie sollen mir nicht von der Stelle«, keuchte er. »Ich bin noch immer stark genug, um nach den Nachbarn zu rufen, und ich werde es tun, wenn Sie sie nicht auf der Stelle herausgeben. Also, keine Ausflüchte!«

Jonas war so entsetzt und fühlte sich immerwährend so von Furien gepeitscht, daß er jetzt nicht einmal die Kraft fand, sich von dem Griff des alten Mannes zu befreien, sondern stehen blieb und in Chuffeys Gesicht mit aufgerissenen Augen zu lesen trachtete, so gut es die Dunkelheit erlaubte. Nur mit Mühe brachte er endlich die Frage heraus, was das alles bedeuten solle.

»Ich will wissen, was Sie mit ihr angefangen haben«, keuchte Chuffey. »Wenn Sie ihr nur ein Haar krümmen, so sollen Sie mir Rechenschaft geben. Das arme, arme Ding, wo ist sie?«

»Sie – Sie alter Tollhäusler«, ächzte Jonas mit versagender Stimme und bebenden Lippen. »Sind Sie ganz wahnsinnig geworden?«

»Jeder müßte wahnsinnig werden, wenn er gesehen hätte, was ich in diesem Hause gesehen habe«, rief Chuffey. »Wo ist mein lieber alter Herr?! Wo ist sein einziger Sohn, den ich als Kind auf meinen Knien gewiegt habe!? Wo ist sie – sie, die letzte? Tag für Tag hat sie sich abgegrämt, und die ganzen Nächte habe ich sie weinen hören. – Sie war die letzte, die allerletzte unter meinen Freunden. Gott steh mir bei – sie war die letzte.«

Da Jonas bemerkte, daß dem alten Mann die Tränen über die Wangen liefen, brachte er soviel Mut auf, daß er sich von seinem Griff befreien und ihn zurückstoßen konnte.

»Haben Sie denn nicht gehört, wie ich nach ihr gefragt habe?« schrie er. »Sie waren doch Zeuge, als ich nach ihr schickte. Wie kann ich sie herausgeben, wo ich sie doch gar nicht eingesperrt habe, Sie Dummkopf! Donnerwetter nochmal, ich gäbe sie Ihnen wahrhaftig gerne, wenn ich nur könnte. Ihr würdet ein prächtiges Paar abgeben.«

»Wenn ihr ein Leides geschehen ist«, hauchte Chuffey, »so hüten Sie sich. Ich bin nur ein alter Mann, dem bereits die Sinne versagen. Aber zuweilen habe ich noch mein Gedächtnis, und wenn ihr das Geringste zuleide geschieht –«

»Hol Sie der Teufel«, knirschte Jonas; »was für ein Leid soll ihr denn geschehen sein? Ich weiß soviel davon, wo sie steckt, wie Sie. Ich wollte, ich wüßte es. Warten Sie, bis sie nach Hause kommt, und überzeugen Sie sich selbst. Lange kann sie ja nicht mehr ausbleiben. – So, sind Sie jetzt zufrieden?«

»Hüten Sie sich«, rief der alte Mann wild, »nicht ein Haar darf ihr gekrümmt werden. Ich – ich werde es nicht dulden. Ich – ich – habe es schon zu lange getragen. Ich bin stumm, aber ich – ich – kann sprechen, wenn ich will«, stotterte er, kroch zu seinem Stuhl zurück und warf Jonas einen erlöschenden, aber noch immer drohenden Blick zu.

»So, du kannst sprechen, – so, so!« dachte Jonas. »Schon gut, wir werden dir schon das Maul stopfen. Gut, daß ich das beizeiten höre.« Trotzdem er nach Kräften versuchte, den Eisenfresser herauszukehren, zitterte er doch so vor Furcht vor dem alten Mann, daß ihm die Schweißtropfen auf der Stirne standen. Schon der heisere Ton seiner Stimme und seine hastigen Bewegungen hätten seine Furcht zur Genüge verraten, aber jetzt, wo er beim Kerzenschein im Zimmer auf und nieder raste, stand sie deutlich auf seinem Gesicht geschrieben.

Er blieb am Fenster stehen und grübelte nach. In einem Laden gegenüber brannte ein Licht, und der Krämer las gemeinschaftlich mit einem Kunden ein Zeitungsblatt, das auf dem Tische lag. Das Bild erinnerte ihn sofort wieder an die furchtbare stumme Frage, die beständig sein Inneres zerriß: »Schau her, kennst du das? Hat man ihn gefunden? Hat man mich im Verdacht?«

Eine Hand legte sich draußen an die Türklinke –

»Wer ist da?«

»An schön guten Abend!« rief Mrs. Gamp. »A wunderschöner Abend heut, wenn’s auch a bisserl warm is. Aber, o mein, dös is immer so in der Zeit, wo die Gurken billig sin. Na, wie geht’s denn Ihnen, lieber Mr. Chuffey, heunt abend?«

Mrs. Gamp hielt sich bei diesen Worten immer noch dicht an der Türe und knickste noch öfter als gewöhnlich. Sie schien überhaupt bei weitem nicht so unbefangen zu sein wie sonst. »Schaffen Sie ihn auf sein Zimmer«, raunte ihr Jonas ins Ohr. »Er hat diesen Abend wieder einen Anfall gehabt – war einfach tobsüchtig. Sprechen Sie nicht, solange er hier unten ist, und kommen Sie bald wieder herunter.«

»Der gute, arme Mensch«, rief Mrs. Gamp mit ungewohnter Zärtlichkeit, »er zittert ja an allen Gliedern.«

»Ich hab Ihnen doch gesagt, er hat einen Anfall gehabt«, brummte Jonas. »Bringen Sie ihn jetzt hinauf.«

Mrs. Gamp half Chuffey aufstehen.

»Na ja, segn S‘, es geht schon«, rief sie mit einem Ton, der zugleich besänftigend und aufmunternd sein sollte; »Na so segn S‘, lieber alter Herr, und jetzt kommen S‘ in Ihr Zimmer nauf und legen S‘ Ihna a bisserl auf Ihr Bett. Sie zittern ja am ganzen Körper, als ob Ihna die Kleider mit Spagat zsammbunden wären. Na, so was! Gehen S‘, kommen S‘ jetzt mit mir, lieber alter Herr!«

»Ist sie nach Hause gekommen?« stammelte der alte Mann.

»Sie muß jeden Augenblick eintreffen«, antwortete Mrs. Gamp.

»Kommen S‘ jetzt nur mit mir, lieber Herr, kommen S‘ jetzt nur mit mir.«

Natürlich wußte Mrs. Gamp gar nicht, nach wem Mr. Chuffey gefragt hatte, und antwortete nur so aufs Geratewohl, um ihn zu beruhigen. Sie erreichte ihren Zweck damit, denn Chuffey ließ sich willenlos von ihr fortführen und ging willenlos mit ihr hinauf.

Wieder blickte Jonas zum Fenster hinaus. Drüben im Laden lasen sie noch immer die Zeitung, und ein Dritter war hinzugekommen. Was mochte es wohl sein, das sie so interessierte?

Es mußte sich eine Meinungsverschiedenheit zwischen ihnen erhoben haben, denn plötzlich sahen alle drei von ihrer Lektüre auf, und einer von ihnen, der über die Schultern der andern hinweg mitgelesen hatte, trat jetzt zurück, um irgendeine Handlung durch Gebärden deutlicher zu erklären.

Entsetzlich! – Die Gebärde des Mannes war die eines Menschen, der auf einen andern losschlägt; der Schlag glich dem Schlag, den Jonas im Walde auf sein Opfer geführt, aufs Haar.

Es warf ihn vom Fenster zurück, als hätte der Schlag ihm gegolten. Wie er zu seinem Stuhl zurückwankte, wurde er sich plötzlich klar, wie ganz anders Mrs. Gamp war als sonst, und daß sie so ohne Grund so seltsam zärtlich gegen den alten Buchhalter getan hatte. Hing das auch irgendwie damit zusammen, daß die Sache entdeckt war? Wußte sie davon? Beargwöhnte sie ihn?

»Mr. Chuffey hat sich niederglegt«, berichtete Mrs. Gamp und trat wieder ins Zimmer. »Schaden kann’s ihm ja nix, Mr. Chuzzlewit; es kann ihm nur guttun.«

»Setzen Sie sich«, unterbrach sie Jonas mit heiserer Stimme. »Reden wir von Geschäften. – Wo ist die andere Wärterin?«

»Sie is jetzt bei ihm.«

»Das ist gut«, brummte Jonas, »Sie dürfen ihn nie allein lassen. Denken Sie sich nur, er hat mich heute abend angepackt – hier am Rockkragen –, angefallen wie ein toller Hund! So altersschwach er auch sonst ist, hatte ich doch große Mühe, ihn abzuschütteln. Sie – still, still, – aber nein, es ist ja nichts – Sie haben mir den Namen der andern Wärterin genannt, aber ich habe ihn vergessen.«

»I hab früher von Betsey Prig gsprochen«, antwortete Mrs. Gamp.

»Ist sie verläßlich?«

»Nein, sie is net verläßlich. I hab sie auch gar net erst mitbracht, Mr. Chuzzlewit, sondern a andre, auf die Sie Ihna verlassen können.«

»Wie heißt sie?«

Mrs. Gamp blickte verlegen in die leere Luft.

»Wie sie heißt, will ich wissen«, wiederholte Jonas.

»Ihr Name«, antwortete Mrs. Gamp zögernd, »is – is – is Harris.« Es war merkwürdig, wieviel Anstrengung es Mrs. Gamp kostete, diesen Namen auszusprechen, der ihr doch sonst so geläufig war. Sie setzte zwei- oder dreimal an, ehe sie ihn herausbrachte, und als es ihr endlich gelungen war, legte sie die Hand aufs Herz und schlug die Augen auf, als wäre sie im Begriff, ohnmächtig zu werden. Jonas wußte, daß sie an einer gewissen chronischen Krankheit laborierte, die nur mit ein paar Tropfen Branntwein zu vertreiben war, und daß es ihr sehr übel werden konnte, wenn diese Medizin nicht bei der Hand war – er glaubte daher, sie sei momentan wieder einmal bloß das Opfer eines dieser Anfälle.

»Gut, gut«, sagte er hastig, denn er fühlte, wie unfähig er war, seine unstete Aufmerksamkeit lange auf dieses nebensächliche Thema zu richten. »Ihr werdet ihn also beide pflegen, was?«

Mrs. Gamp bejahte und entledigte sich ihrer gewohnten Phrase – »ja, ja, so abwechselnd. Die eine kommt halt, wenn die andre geht.« Sie brachte die Worte so stockend und zitternd hervor, daß sie es für nötig fand, entschuldigend hinzuzusetzen: »Na, was mir heut wieder meine Nerven für Stückeln spielen.«

Jonas schwieg und horchte, – dann sagte er hastig:

»Wegen der Bedingungen werden wir schon einig werden. Wir halten’s damit wie früher. Geben Sie ordentlich acht auf ihn. Er muß streng bewacht werden. Heute abend hat er sich wieder eingebildet, meine Frau wäre tot, und hat mich angefallen, als ob ich sie ermordet hätte. Es ist so ’ne Gewohnheit bei allen Wahnsinnigen, daß ihre fixen Ideen gerade immer diejenigen betreffen, die sie am liebsten haben, was?«

Mrs. Gamp pflichtete mit einem kurzen Stöhnen bei.

»Geben Sie also genau auf ihn acht und trauen Sie ihm ja nicht. Gerade, wenn er am vernünftigsten scheint, schwatzt er das tollste Zeug zusammen. Aber Sie kennen das ja. – So, und jetzt möchte ich einmal die andere Wärterin sehen.«

»Die andere Wärterin?« wiederholte Mrs. Gamp.

»Ja. – Gehen Sie hinauf zu ihm und schicken Sie mir die andere herunter. Aber schnell, schnell – ich habe keine Zeit.«

Mrs. Gamp machte ein paar Schritte nach rückwärts zur Türe zu und blieb dort unschlüssig stehen.

»Sie wünschen also wirklich, Mr. Chuzzlewit«, krächzte sie mit bebender und versagender Stimme, »Sie möchten also wirklich die – andere sehen, nicht wahr?«

Das Entsetzen, das sich plötzlich in Jonas‘ Mienen ausdrückte, verriet, daß er die »andere Person« bereits erblickt hatte. Ehe sich Mrs. Gamp noch umwenden konnte, wurde sie beiseite geschoben, und der alte Mr. Martin Chuzzlewit, Mr. Chuffey und John Westlock traten ein.

»Daß mir niemand das Haus verläßt«, befahl der alte Herr. »Dieser Mensch hier ist der Sohn meines Bruders, ein mißratenes Geschöpf Zoll für Zoll. Wenn er sich von der Stelle rührt oder sich auch nur untersteht, ein lautes Wort zu sprechen, so öffnen Sie das Fenster und rufen Sie um Hilfe.«

»Was haben Sie für ein Recht, in diesem Hause Befehle zu erteilen«, fragte Jonas mit tonloser Stimme.

»Das Recht, das mir Ihre Verbrechen geben – so, jetzt treten Sie ein, Sie da draußen!«

Ein unwillkürlicher Ausruf des Schreckens entfuhr Jonas, als Lewsome über die Schwelle trat. Es war kein Stöhnen und kein Schrei, vielmehr ein Laut, wie ihn noch keiner der Anwesenden jemals gehört hatte. Gleichzeitig der schärfste und furchtbarste Ausdruck eines schuldbeladenen Gewissens.

Darum also hatte er einen Mord begangen?! Darum sich mit Todesangst und zahllosen Qualen abgemartert?! Er hatte sein Geheimnis im Walde begraben, niedergetreten und niedergestampft in die blutbesudelte Erde, und hier tauchte es auf, wo er es am wenigsten erwartet hatte, wo er es meilenweit entfernt geglaubt, verkündet von Lippen eines alten Mannes, der wie durch ein Wunder seine Kraft wiedergewonnen zu haben schien, um Zeugnis gegen ihn abzulegen!

Er stützte sich auf die Stuhllehne und starrte seinen Onkel an. Vergeblich versuchte er einen Blick des Hohnes oder seine gewöhnliche Frechheit aufzubringen, nur der Stuhl stützte ihn, sonst wäre er zusammengebrochen.

»Ich kenne diesen Kerl«, sagte er und schnappte dabei bei jedem Wort nach Luft und deutete mit zitterndem Finger auf Lewsome. »Er ist der größte Lügner auf Gottes Erdboden. Was mag er sich jetzt wieder einmal ersonnen haben? – Haha! – Und ihr seid mir auch so die Richtigen. Mein Onkel da ist womöglich noch kindischer als sein Bruder, mein Vater, gewesen war, und noch blödsinniger als dieser Chuffey hier. – – – Was zum Teufel soll denn das alles heißen?« setzte er mit einem wilden Blick auf John Westlock und Mark Tapley hinzu, der zugleich mit Lewsome eingetreten war. »Was kommt ihr mir daher mit zwei Wahnsinnigen und einem Halunken und fallt über mich her wie die Strauchdiebe! Heda! Dort ist die Türe! Hinaus mit euch!«

»Ich will dir mal was sagen, du Kerl«, rief Mr. Tapley und trat vor, »wenn’s nicht um deines Namens willen wäre, so würde ich dich durch alle Straßen schleifen – ich allein, das sag ich dir. – So, und jetzt lassen Sie mal Ihre dummen Prahlereien beiseite, Sie zittern ja doch dabei wie Espenlaub – so, und jetzt fahren Sie fort, Sir«, wendete er sich an den alten Mr. Chuzzlewit, »bringen Sie diesen mörderischen Halunken auf die Knie, und wenn er Lärm haben will, so kann ich ihm damit dienen. Ich werde ein Zeter und Mordio an diesem Fenster erheben, daß halb London hereinstürzen soll. Fahren Sie fort, Sir – er soll’s nur noch mal probieren, frech zu werden! Ich will ihm schon zeigen, ob ich willens bin, Wort zu halten oder nicht.«

Damit kreuzte Mark Tapley die Arme über der Brust und setzte sich mit einer Miene auf das Fenstersims, als sei er bereit, Jonas auf den kleinsten Wink hin hinauszuwerfen.

Der alte Herr wandte sich an Lewsome.

»Ist das der Mann?« fragte er und deutete mit ausgestrecktem Finger auf Jonas.

»Sie brauchen ihn nur anzusehen, um davon überzeugt zu sein, daß ich die Wahrheit gesprochen habe«, war die Antwort. »Er selbst ist mein Zeuge.«

»O Bruder!« rief der alte Martin, schlug die Hände zusammen und richtete entsetzt den Blick zur Decke: »O Bruder, Bruder! Sind wir darum ein halbes Leben lang einander fremd geblieben, damit du einen solchen Elenden wie diesen da aufzogst und ich mir das Dasein zu einer Wüste machte, wo jede Blume welkte, die in meiner Nähe blühen wollte. Ist das die natürliche Frucht meiner und deiner Grundsätze, daß alle deine Lehren, dein Zusammenscharren und Sparen ein solches Scheusal hervorbringen mußten und daß ich jetzt das Werkzeug sein soll, das an ihm die Vergeltung vollzieht?«

Er sank in einen Stuhl und schwieg einige Minuten, das Gesicht in den Händen vergrabend. Dann raffte er sich auf und rief:

»Aber die fluchwürdige Ernte unseres verfehlten Lebens soll zerstampft werden. Noch ist es nicht zu spät dazu. Du wirst jetzt mit diesem Manne hier konfrontiert, du Scheusal, nicht, um geschont, sondern um nach Recht und Gerechtigkeit behandelt zu werden. Höre, was er spricht. Antworte, verstumme, widersprich, wiederhole, leugne, kurz, tue was du willst, ich weiß, was ich zu tun habe. Vorwärts! – Und Sie«, wandte er sich zu Chuffey, »um Ihres alten Freundes willen, reden Sie.«

»Ich bin stumm gewesen aus Liebe zu ihm«, keuchte der alte Buchhalter, »er hat mich darum gebeten, und ich mußte es ihm versprechen, als er auf dem Totenbette lag. Ich hätte nie ein Wort davon verraten, wenn Sie nicht selbst schon so viel davon entdeckt hätten. Ich habe immerwährend daran denken müssen, Tag und Nacht. Es kam mir alles wie ein Traum vor, aber wie ein Traum bei Tage und nicht im Schlaf. – Gibt es solche Träume?« fragte er, plötzlich abbrechend, und blickte gespannt in das Gesicht des alten Martin.

Als der alte Herr ihm eine ermutigende Antwort gab, lauschte er aufmerksam auf seine Stimme und lächelte.

»Ja ja«, rief er, »so hat er oft zu mir gesprochen. Wir waren zusammen auf einer Schule. Ich und er. Ich konnte nicht auftreten gegen seinen Sohn – gegen seinen einzigen Sohn, Mr. Chuzzlewit!«

»Wollte Gott, Sie wären sein Sohn gewesen«, seufzte der alte Martin.

»Sie sprechen so ganz wie mein lieber alter Herr«, rief Mr. Chuffey mit Ekstase. »Fast ist mir’s, als ob ich ihn hörte. Ich verstehe Sie ebensogut, wie ich ihn hörte. Es macht mich wieder jung. Nie hat er unfreundlich mit mir gesprochen, und stets habe ich ihn verstanden. Immer konnte ich ihn sehen, wenn auch mein Gesicht trübe war. Aber jetzt ist er tot. – Er ist tot. Er war sehr gütig gegen mich – mein armer, lieber, alter Herr.« Wehmütig schüttelte er seinen Kopf über der Hand des alten Martin.

In diesem Augenblick verließ Mark, der bisher zum Fenster hinausgesehen, unauffällig das Zimmer.

»Ich konnte doch nicht gegen seinen einzigen Sohn zeugen«, fuhr Chuffey fort. »Manchmal hat er mich selbst fast dazu getrieben, und heute abend wäre es beinahe geschehen, – Ach!« stöhnte er, sich plötzlich wieder an alles erinnernd. »Wo ist sie? Sie ist nicht nach Hause gekommen!«

»Meinen Sie sein Weib?« fragte Mr. Chuzzlewit.

»Ja.«

»Dann seien Sie unbesorgt. Sie ist in meiner Obhut, und ich wünsche, daß das, was hier vorgeht, ihr erspart bleiben soll. Sie hat auch ohnedies Elend genug erfahren.«

Jonas blieb das Herz stehen vor Entsetzen. Er begriff, daß man ihm auf den Fersen war und sich alles zu seinem Verderben vereinigte. Zoll für Zoll wich ihm der Boden unter den Füßen, schneller und immer schneller zog das Verderben seine Kreise um ihn, und er fühlte, wie ein Strick seinen Hals zusammenschnürte.

Und dann hörte er die Stimme seines Mitschuldigen, die ihm ins Gesicht leidenschaftslos und ohne Verheimlichung mit genauer Aufzählung von Zeit und Ort und Gelegenheit die Wahrheit enthüllte – die Wahrheit, die jetzt durch nichts mehr zu unterdrücken war, die kein Blut löschen, keine Schaufel begraben konnte, die Wahrheit, die altersschwache Greise in kräftige Männer umzuwandeln schien und auf deren rächenden Fittichen einer, den er am äußersten Ende der Welt geglaubt, als Zeuge herangeflogen kam.

Er versuchte zu leugnen, aber die Zunge versagte ihm ihren Dienst. Einen Moment lang beherrschte ihn der wahnwitzige Gedanke, sich gewaltsam den Ausgang zu erzwingen und zu entfliehen, aber seine Glieder gehorchten ihm so wenig wie seine krampfhaft verzerrten, starren Gesichtszüge. Die ganze Zeit über hörte er fort und fort, wie ganz von weitem, die anklagende Stimme. Es war, als ob jeder Tropfen Blut in dem Gehölz eine Zunge bekommen hätte, um voller Haß gegen ihn zu zeugen. Und als sie aufhörte, hob eine andere Stimme in ganz seltsamer, fremdartiger Weise an. Sie gehörte dem alten Buchhalter an, der dem ganzen Bericht aufmerksam gelauscht und von Zeit zu Zeit die Hände gerungen hatte wie jemand, der die Wahrheit weiß und es nicht erwarten kann, sein Geheimnis zu enthüllen.

»Nein, nein, nein«, rief er. »Ihr seid im Irrtum, ihr irrt euch – ihr irrt euch alle miteinander. – Höret mich an! Nur mir ist die Wahrheit bekannt.«

»Wie können Sie glauben, daß wir uns irren könnten nach dem, was Sie soeben gehört haben?« fragte der Bruder seines alten Prinzipals. »Und haben Sie nicht soeben auf Ihrem Zimmer oben, als ich Ihnen mitteilte, wessentwegen wir hier seien und wessen wir ihn anklagten, erklärt, Sie wüßten, daß er der Mörder seines Vaters sei?«

»Ja ja, das ist er auch«, rief Chuffey ganz außer sich, »aber nicht in der Weise, wie Sie glauben – nicht so, wie Sie glauben. – Halt! Lassen Sie mir nur einen Augenblick Zeit. Ich weiß alles – ich kann mich an alles genau erinnern. – Es war frevelhaft, grausam, niederträchtig, aber es war nicht so, wie Sie glauben. – Halt, halt.«

Er hielt sich mit beiden Händen den Kopf, wie jemand, der aus einem Fiebertraum erwacht; und nachdem er sich einige Augenblicke zerstreut und irr im Kreise umgesehen, blieben seine Augen plötzlich auf Jonas haften, und dann leuchteten sie wieder auf wie in plötzlicher Erinnerung.

»Ja ja«, rief er. »Ja, so war es. Jetzt hab ich’s. Jetzt erinnere ich mich. Er – er stand vom Bett auf, bevor er starb, um ihm zu sagen, daß er ihm verzeihe; und er kam mit mir herunter hier ins Zimmer, und als er ihn erblickte – seinen einzigen Sohn – seinen geliebten Sohn – da versagte ihm die Zunge – und er konnte nicht mehr sagen, was er wußte – und keiner verstand ihn; nur ich – ich habe ihn verstanden.«

Der alte Mr. Chuzzlewit und alle übrigen waren sprachlos vor Erstaunen. Mrs. Gamp, die bisher kein Wort gesagt, sondern sich mit zwei Dritteln ihres Leibes sprungbereit hinter der Türe gehalten hatte, um im Notfall die Partei des Stärkeren zu ergreifen, trat jetzt ein wenig vor und schluchzte und rief, Mr. Chuffey sei der liebenswürdigste und bravste alte Herr von der Welt.

»Er kaufte das Gift«, keuchte Chuffey, streckte den Arm gegen Jonas aus, und ein wildes Feuer glomm dabei in seinen Augen. »Allerdings hat er das Gift gekauft, wie Sie wissen, und es auch nach Hause gebracht. Er hat es gemischt – sehen Sie ihn an –, hat es mit Latwerge in einem Topf gemischt, der genau so aussah wie der, in dem sein Vater seine Medizin aufbewahrte, und stellte ihn in eine Schublade – in jene Schublade dort in dem Pult –; er weiß, welche Schublade ich meine – und dort hielt er es eingeschlossen, aber es fehlte ihm der Mut, oder das Gefühl regte sich in ihm – o Gott, ich hoffe, es war das Gefühl – er war sein einziger Sohn! – und er stellte den Topf nicht an den gewöhnlichen Ort, wo mein alter Herr wohl zwanzigmal am Tag davon eingenommen haben würde.« – Der alte Buchhalter zitterte an allen Gliedern vor Erregung, aber das Leuchten in seinen Augen währte fort, und wie er mit ausgestrecktem Arme, die grauen Haare auf dem Haupte gesträubt, dastand, schien er zu wachsen und sah aus wie ein Inspirierter. Jonas wich scheu seinem Blick aus und kauerte sich in dem Stuhl zusammen, an den er sich vorher gehalten hatte. Es war, als ob die Wahrheit – die furchtbare Wahrheit – selbst den Stummen die Sprache gäbe.

»Ich weiß es jetzt«, rief Chuffey, »Wort für Wort. Er stellte den Topf in die Schublade und ging so oft hin und tat so heimlich damit, daß der Vater schließlich darauf aufmerksam wurde und eines Tages, als Jonas fort war, die Lade öffnete. Wir waren beisammen und fanden das Gemisch – Mr. Chuzzlewit und ich. Mein alter, guter Herr nahm es an sich und schien sich anfangs nicht viel draus zu machen, aber in der Nacht kam er an mein Bett, weinte und jammerte, sein leiblicher Sohn habe ihn vergiften wollen. ›O Chuff‹, schluchzte er, ›lieber, alter Chuff! Eine Stimme sprach heute nacht an meinem Bett und sagte mir, ich trüge selbst die Schuld, daß er so geworden ist. Es fing an bei ihm, als ich ihn zu gierig machte auf das, was ich ihm einst hinterlassen wollte, und ihm das Geld als obersten Gott hinstellte.‹ Das waren seine Worte – seine eigenen Worte, und wenn er hin und wieder ein harter Mann war, so geschah es nur seines einzigen Sohnes willen. Er liebte ihn, seinen einzigen Sohn, und war stets so gütig gegen mich.«

Jonas horchte mit wachsender Spannung zu. Ein Hoffnungsstrahl dämmerte für ihn auf.

»Er soll sich nicht aus Sehnsucht nach meinem Tode verzehren, Chuff, sagte er mir«, fuhr der alte Buchhalter fort und wischte sich die Augen. »Das sagte er mir zunächst und weinte dabei wie ein kleines Kind. Er soll sich nicht aus Sehnsucht nach meinem Tode verzehren, Chuff. Er soll alles jetzt schon haben. Mag er dann heiraten, wann es ihm gefällt, Chuff, und wenn’s auch nicht nach meinem Wunsche wäre. Wir beiden wollen dann fortgehen und zusammen von einem kleinen Ausgedinge leben. Ich habe ihn immer geliebt, vielleicht wird er mich dann auch lieben. Es ist das Schrecklichste, zu wissen, daß das eigene Kind einem nach dem Leben strebt. Aber ich hätte wissen müssen, daß es so kommen wird. Ich ernte, was ich einst gesät habe. Ich will ihn glauben lassen, ich hätte das Gift genommen, und wenn ich sehe, daß es ihm leid tut und er hat, wonach er strebt, so will ich ihm sagen, daß ich hinter das Geheimnis gekommen bin, und will ihm verzeihen. Es wird vielleicht einen besseren Menschen aus ihm machen, Chuff.« –

Mr. Chuffey machte eine Pause, um sich abermals die Stirne zu trocknen. Der alte Mr. Chuzzlewit hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Jonas horchte noch gespannt, und seine Brust hob sich vor Hoffnung – vor steigender Hoffnung.

»Mein lieber, alter Prinzipal«, fuhr Chuffey fort, »stellte sich am nächsten Tage, als hätte er die Schublade versehentlich mit einem Schlüssel geöffnet, der zufällig dazu paßte, und als sei er überrascht gewesen, frische Medizin dort zu finden, glaube aber, er hätte sie in der Zerstreutheit hineingestellt, als gerade die Schublade offenstand. Wir verbrannten das Gift, sein Sohn aber glaubte, Mr. Chuzzlewit habe es genommen. – Er und ich wissen recht gut, daß er es glaubte. Einmal wollte ihn Mr. Chuzzlewit auf die Probe stellen. Er faßte sich ein Herz und sagte ihm, die Medizin schmeckte so kurios. Da stand sein Sohn sogleich auf und ging hinaus.«

Jonas räusperte sich kurz und trocken, dann änderte er seine Stellung, setzte sich bequemer und verschränkte die Arme über der Brust, hatte aber noch nicht den Mut, den andern ins Gesicht zu sehen.

»Mr. Chuzzlewit schrieb an ihren Vater – ich meine, an den Vater der armen Frau, die jetzt sein Weib ist«, fuhr Chuffey fort, »und bat ihn, herzureisen, da er die Heirat zu beschleunigen gedenke; aber der Kummer, unter dem er litt, nagte an seinem Geist und brach ihm schließlich das Herz. Von der Zeit an, als er in der Nacht zu mir gekommen, siechte er dahin und konnte sich nicht mehr recht erholen. Es waren nur wenige Tage, aber sie hatten ihn ebenso viele Jahre älter gemacht. ›Schone ihn, Chuff‹, sagte er, ehe er starb – das waren die einzigen Worte, die er hervorbringen konnte, ›schone ihn, Chuff.‹ Ich versprach ihm, es zu tun, und ich habe versucht, Wort zu halten – er ist sein einziger Sohn.«

Bei der Erinnerung an die letzte Szene aus dem Leben seines alten Prinzipals versagte dem armen Buchhalter die Stimme, die gegen Ende bereits immer schwächer und schwächer geworden war. Er erhob noch die Hand, als wolle er sagen: Anthony Chuzzlewit habe sie ihm gedrückt und in der seinen gehalten, als er starb. Dann kroch er in seinen Winkel zurück, wo er gewöhnlich seinen Kummer verbarg, und schwieg.

Jonas schlug jetzt die Augen auf und blickte die Versammelten frech an.

»Nun?« sagte er nach einer Weile, »seid ihr jetzt zufrieden, oder habt ihr noch weitere Schuftereien in petto? Der Kerl, der Lewsome hier, kann sie euch ja zu Dutzenden erfinden. – Also ist das alles? Habt ihr sonst noch etwas vorzubringen?«

Der alte Martin Chuzzlewit sah ihn scharf und fest an.

»Ob Sie sind, was Sie mir bei Pecksniff zu sein geschienen haben oder etwas anderes, weiß ich nicht –; ist mir im übrigen auch gleichgültig«, wendete sich Jonas jetzt an ihn und blickte ihm mit spöttischem Lächeln in die Augen. »Jedenfalls sind Sie ein Scharlatan, und ich brauche Sie hier nicht. Als Ihr Bruder noch am Leben war, sind Sie öfter hier gewesen, und dann hatten Sie sich beide so lieb, daß wohl nicht viel gefehlt hätte, und ihr wäret euch in die Haare gefahren. Um so mehr wundert es mich jetzt, daß Sie eine solche Anhänglichkeit an mein Haus bezeugen. Um so weniger hängt aber mein Haus an Ihnen, und Sie können sich je bälder, je lieber hinausscheren. – Und was meine Frau anbelangt, alter Herr, so schicken Sie mir sie gefälligst sofort her, sonst wird sie nichts zu lachen haben. – – Haha! Sie möchten wahrscheinlich hier den großen Herrn spielen. Zum Glück hängt man bis jetzt die Leute noch nicht, wenn sie zu ihrem eigenen Gebrauch für ein paar Pence Gift kaufen und ein paar verrückte alte Schwachköpfe darauf kommen und sofort annehmen, man habe sie vergiften wollen. – – Haha! Schauen Sie sich jetzt gefälligst an, wo der Zimmermann das Loch gelassen hat.«

Diese so schamlos an den Tag gelegten hämischen Triumphäußerungen machten, zusammengehalten mit der soeben bewiesenen Feigheit und dem Schuldbewußtsein, einen so widerwärtigen Eindruck auf alle, daß sich jeder von Jonas abwandte wie von einem schmutzbesudelten Scheusal. Dazu kam noch Jonas‘ würgendes Gefühl bei dem Gedanken an sein letztes Verbrechen, das beständig vor seiner Seele stand. Wäre das nicht gewesen, hätte vielleicht die Geschichte des alten Buchhalters, die doch eine solche Last von seinem Herzen nehmen mußte, eine heilsame Wandlung in ihm hervorgebracht. So aber, mit einer solchen Tat auf dem Herzen, die er, je mehr er es sich überlegte, unnützerweise begangen hatte, mußte sich sogar jetzt in seinen Triumph eine wilde Verzweiflung mischen, eine grenzenlose, wütende Verzweiflung, daß er sich umsonst in Gefahr begeben, eine Verzweiflung, die ihn vollkommen verhärtete, ihn bis zur Tobsucht aufstachelte und ihn, sogar im Augenblick innern Jubels, mit den Zähnen knirschen ließ.

»Mein lieber Freund«, seufzte Mr. Martin Chuzzlewit und legte seine Hand auf Chuffeys Arm, »das ist kein Ort, an dem Sie bleiben könnten. Kommen Sie mit mir.«

»Ganz wieder wie mein lieber, alter Herr«, rief Chuffey und blickte dankbar auf. »Ich glaube fast, der alte Mr. Anthony ist wieder aus seinem Grabe erstanden. Ja, bitte, nehmen Sie mich mit. – Aber halt, warten Sie noch.«

»Warum?« fragte Martin.

»Ich kann sie nicht im Stich lassen, das arme Geschöpf«, murmelte Chuffey. »Sie ist immer so gütig gegen mich gewesen; ich kann sie nicht verlassen, Mr. Chuzzlewit. Ich danke Ihnen von Herzen für Ihre Güte, aber ich muß hier bleiben. Ich werde ja sowieso nicht mehr lange irgendwo zu bleiben haben. – Es liegt nichts daran.«

Wie er so demütig sein graues Haupt schüttelte und dem alten Herrn dankte, fühlte sich Mrs. Gamp, die sich jetzt zur Gänze im Zimmer befand, bis zu Tränen ergriffen.

»Gott sei Lob und Dank«, rief sie, »daß so a liaber braver Mensch net in der Prig ihre Krallen gfallen is. Und sicher wär’s so gekommen, wo die Sachen so schlimm stehn.«

»Nun, haben Sie nicht gehört, was ich Ihnen gesagt habe?« schrie Jonas Mr. Chuzzlewit an. »Ich dulde nicht, daß man länger mit meinen Leuten gegen mich intrigiert, wer es auch sein mag. – Dort ist die Türe«

»Jawohl, sehr richtig«, ertönte die Stimme Marks, der soeben über die Schwelle trat. »Ja, ja, schauen Sie mich nur an.«

Jonas zuckte zusammen, und sein Blick hing wie gebannt an der jetzt offenen Türe. Unselige, verhängnisvolle Schwelle, verflucht durch den Fußtritt seines Vaters, verflucht durch den kummervollen Schritt seines jungen Weibes, verflucht durch den täglichen Schatten des alten Buchhalters, verflucht durch den Fuß des Mörders selbst – was standen da für Leute draußen!

Nadgett an der Spitze.

Horch! Es kam herangebraust wie die brüllende See. Zeitungsausrufer stürzten durch die Straßen und riefen es auf und ab; Fenster wurden aufgerissen, die Menge staute sich auf der Straße, die Glocken begannen zu läuten, eine die andre überbrüllend vor haßerfülltem Frohlocken – genau so hatte er sie die ganzen Tage über in seinen Ohren klingen hören –, daß die hohen Türme erzitterten.

»Das ist er«, sagte Nadgett und deutete mit dem Finger auf Jonas, »dort der Mann am Fenster.«

Noch drei andere kamen herein, legten Hand an Jonas und nahmen ihn fest. Und alles geschah so schnell, daß er seinen Blick noch immer nicht von dem Gesichte des Detektivs hatte wenden können, als ihm bereits die Handschellen angelegt worden waren.

»Mord!« sagte Nadgett mit einem Blick ringsum auf die erstaunten Gesichter. »Ich mache ausdrücklich darauf aufmerksam, daß sich hier niemand einmischen darf!«

»Mord! Mord!« hallte es auf der Straße. Mord! entsetzlicher, gräßlicher Mord; Mord – Mord – Mord! so wälzte es sich von Haus zu Haus und hallte wider von Mauer zu Mauer, bis die Stimmen in dem fernen Gemurmel erstarben, das immer noch dasselbe Wort auszusprechen schien.

Alle blieben wie erstarrt stehen, lauschten und sahen einander an, wie der Lärm vorüberwogte.

Der alte Martin fand zuerst wieder Worte.

»Was hat das zu bedeuten?«

»Fragen Sie den da«, sagte Nadgett. »Sie sind ja sein Freund, Sir. Er kann’s Ihnen am besten sagen, wenn er will: Er weiß mehr davon als ich, obschon ich viel weiß.«

»Wieso wissen Sie soviel?«

»Ich habe ihn nicht umsonst so lange bewacht«, antwortete Nadgett. »Noch nie habe ich einen Menschen so scharf belauert wie ihn.«

Wieder eine neue Spukgestalt in diesem furchtbaren Dämmerspiel der Wahrheit, abermals eines der vielen Gespenster, die aus dem Nichts erstanden, um gegen ihn zu zeugen! Gerade dieser Mann vor allen andern mußte sich jetzt als Spion gegen ihn entpuppen! Auch er war wie ausgewechselt und wurde aus dem scheuen in sich versunkenen Menschen zu einem lauernden wachsamen Feind. Wenn der Tote aus seinem Grabe auferstanden wäre, Jonas hätte nicht entsetzter sein können.

Das Spiel war aus, die Jagd zu Ende, und der Galgen winkte. Grauenhafte Zukunft. Und wenn er wirklich durch ein Wunder noch aus dieser Not entkommen würde, was könnte es ihm helfen? Er brauchte nur sein Gesicht nach rechts oder links zu wenden, und wieder und wieder würde ein neuer Rächer gegen ihn erstehen. Irgendein Kind, das in einer Stunde zum Greis würde, oder ein alter Mann, der in einer Stunde wieder zum Kind würde, ein Blinder, der sehend und ein Tauber, der hörend würde. Keine Aussicht, keine Hoffnung mehr! Jonas brach zusammen, taumelte an die Wand und gab jede Hoffnung auf.

»Ich bin durchaus nicht sein Freund, wenn auch leider die Schande auf mir haftet, sein Verwandter zu sein«, sagte Mr. Chuzzlewit. »Sie können mir daher ruhig alles erzählen. Wieso haben Sie ihn bewacht, und was haben Sie gesehen?«

»Ich habe ihn Tag und Nacht, da und dort, beobachtet«, versetzte Nadgett; »in der letzten Zeit, fast ohne mir Rast und Ruhe zu gönnen.« Das blasse Gesicht und die übernächtigten Augen des Mannes bestätigten, daß er die Wahrheit sprach. »Ich ließ mir nicht träumen, wozu meine Beobachtungen führen würden, ebensowenig, wie er sich’s wohl träumen ließ, als er in der Nacht hinausschlüpfte, in Bauernkleider vermummt, die er nachher in ein Bündel geschnürt über die Londoner Brücke in den Strom warf.«

Jonas krümmte sich wie ein Mensch auf der Folterbank. Ein unterdrücktes Ächzen brach aus seiner Kehle hervor, wie wenn ihn eine Waffe qualvoll verwundet hätte, und er zerrte und riß an den eisernen Handschellen wie ein wütendes Tier.

»Ruhig, Vetter!« sagte der Sergeant der Polizisten. »Gebärden Sie sich nicht so unsinnig.«

»Wen nennen Sie Vetter?« fragte der alte Martin streng.

»Na, zum Beispiel auch Sie«, antwortete der Mann.

Der alte Mann sah ihn forschend an. Der Sergeant saß nachlässig auf einem Stuhl, die Arme auf der Lehne verschränkt, und knackte Nüsse und warf jedesmal die Schalen zum Fenster hinaus.

»Jawohl«, wiederholte der Mann, trotzig mit dem Kopf nickend. »Verleugnen Sie meinetwegen Ihren Neffen, bis Sie sterben. Aber Chevy Slyme bleibt doch Chevy Slyme. Vielleicht empfinden Sie ein bißchen die Schande, daß Ihr eigenes Fleisch und Blut sich auf diese Art sein Brot erwerben muß, und kaufen mich los.«

»Selbstsucht – Selbstsucht – Selbstsucht – wo ich hinschaue!« stöhnte der alte Martin. »Jeder denkt nur an sich selbst.«

»Nun, dann täten Sie vielleicht besser, wenn Sie dem einen oder andern von uns diese Mühe ersparten und einmal für andre dächten anstatt an sich selbst«, versetzte Mr. Slyme. »Schauen Sie mich zum Beispiel an. Können Sie’s wirklich, ohne sich zu schämen, mit ansehen, daß ein Mitglied Ihrer Familie, das mehr Talent in seinem kleinen Finger hat als alle andern zusammengenommen in ihren Köpfen, als Polizeisergeant dienen muß? Nur Ihnen zur Schande habe ich dieses Gewerbe ergriffen, wenn ich mir auch nicht träumen ließ, einen derartigen Fang in der eigenen Familie zu machen.«

»Wenn Ihre Liederlichkeit und schlechte Gesellschaft Sie so weit gebracht haben«, entgegnete der alte Mann, »So bleiben Sie nur ruhig jetzt in dieser Stellung. Wenigstens erwerben Sie auf ehrliche Weise Ihr Brot. Das ist immerhin etwas.«

»Ich bitte Sie, reden Sie nur nicht von schlechter Gesellschaft, Sie meinen ja damit meinen Freund Tigg, ich weiß es ganz gut«, höhnte Slyme. »Sie selbst haben sich doch in seiner schlechten Gesellschaft bewegt. Oder haben Sie vielleicht meinem Freund Tigg nicht einmal Beschäftigung gegeben? Ich habe mich doch gerade deswegen mit ihm entzweit.«

»Ich habe ihn gemietet«, gab Mr. Chuzzlewit zu, »und habe ihn dafür bezahlt.«

»Gut, daß Sie’s damals getan haben«, sagte Slyme, »jetzt wäre es zu spät. Er hat eine Generalquittung ausgestellt, oder vielmehr, man hat sie ihm mit Gewalt abgenommen.«

Der alte Herr sah ihn erstaunt und neugierig an, verschmähte es aber, zu fragen.

»Ich habe immer erwartet, daß wir einmal miteinander zu tun haben würden«, fuhr Slyme fort und langte sich wieder eine Handvoll Nüsse aus der Tasche. »Aber ich dachte immer, es werde sich höchstens um einen Mordsschwindel handeln. Nicht träumen hätte ich mir lassen, daß ich einen Verhaftbefehl gegen seinen Mörder bekommen würde.«

»Gegen seinen Mörder?!« rief Mr. Chuzzlewit und blickte, außer sich vor Erstaunen, von einem zum andern.

»Gegen seinen oder vielmehr Mr. Montagues Mörder«, bestätigte Nadgett. »Die beiden sind, wie ich höre, ein und dieselbe Person. Und ich klage diesen Menschen dort des Mordes an Mr. Montague an, dessen Leiche man gestern abend in einem Wald gefunden hat. Sie werden mich fragen, wieso ich ihn anklagen kann. Ich will es Ihnen sagen, da es leider sowieso nicht mehr lange ein Geheimnis bleiben kann.«

Die eingefleischte Vorliebe für alles Geheimnisvolle drückte sich in Mr. Nadgetts Zügen wieder deutlich aus. Man sah ihm an, wie tief es ihn wurmte, daß er jetzt in kurzer Zeit mit allem, was er wußte, werde herausrücken müssen.

»Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich ihn bewachte«, fuhr er fort. »Und ich war von Mr. Montague, in dessen Diensten ich einige Zeit stand, dazu beauftragt. Wir hatten gewisse Verdachtsmomente gegen ihn, und sie betreffen dasselbe, was Sie vorhin mit ihm verhandelten. Wir haben alles mit angehört, da wir draußen vor der Türe standen. Wenn Ihnen jetzt, wo alles vorüber ist, daran liegt, zu erfahren, wodurch unser Verdacht erregt wurde, so will ich es Ihnen kurz heraus sagen. Aus einer flüchtigen Andeutung aus seinem eigenen Munde entnahmen wir, daß er Streit mit einer andern Versicherungsgesellschaft gehabt hatte, bei der sein Vater gegen Ableben versichert war. Als diese Anstalt Argwohn durchblicken ließ, ob der alte Mann auch wirklich auf natürliche Weise gestorben wäre, ging Mr. Jonas Chuzzlewit sogleich auf einen Vergleich ein und war froh, die halbe Summe zu bekommen. Nach und nach spürte ich noch andre Umstände auf, die gegen ihn sprachen. Allerdings erforderte es ein bißchen Geduld, aber das liegt in meinem Beruf. Ich eruierte die Wärterin – hier steht sie und kann es bezeugen –, den Doktor, den Leichenbestatter und den Gehilfen des Leichenbestatters. Ich erfuhr, wie dieser alte Herr, Mr. Chuffey hier, sich beim Begräbnis gebärdete, und was dieser Mann, Mr. Lewsome hier, im Fieber gesprochen hat. Ich brachte heraus, wie sich Mr. Jonas vor, bei und nach dem Tode seines Vaters benommen hatte, schrieb alles auf, bewahrte es sorgsam und zeigte es Mr. Montague, der daraufhin allen Grund hatte, ihn eines Verbrechens für schuldig zu halten, wie er es selbst bis heute abend geglaubt hat. Ich war dabei, als Mr. Montague ihm sein Verbrechen direkt ins Gesicht sagte. Sie sehen ihn, er sieht jetzt gerade so aus wie damals, nur noch ein wenig – angegriffener.«

Jonas versuchte, sich mit den gefesselten Händen die Ohren zuzuhalten, um nichts mehr zu hören. Unerträgliche, marternde Pein! Nirgends ein Ausweg! Nicht einmal mehr in der Phantasie. Hätte er den Ermordeten durch Zauberei in einen Felsen einmauern können, die Geschichte würde weitergelebt und sich verbreitet haben. – Wie er sich so auf dem Boden krümmte, zogen sich alle Anwesenden vor ihm zurück wie vor einem Pestkranken. Einer nach dem andern wich an die entgegengesetzte Wand zurück, bis Jonas schließlich allein dalag. Selbst die Polizisten scheuten sich vor ihm und hielten sich beiseite; Slyme ausgenommen, der immer noch kaltblütig seine Nüsse weiter knackte.

»Aus diesem Dachfenster dort gegenüber«, fuhr Nadgett fort und deutete über die schmale Straße hinüber, »habe ich dieses Haus und ihn Tag und Nacht im Auge behalten. Von diesem Dachfenster aus sah ich ihn allein heimkehren von einer Reise, die er zusammen mit Mr. Montague unternommen hatte. Das war für mich ein Zeichen, daß Mr. Montague sein Ziel erreicht haben mußte und ich noch ruhig weiter Wache stehen könne und keinen Bericht zu erstatten brauchte. Am selben Abend nach Einbruch der Dunkelheit stand ich vor der Türe des Hauses und sah durch eine Seitentüre im Hof einen Mann in Bauerntracht herauskommen, der vorher nicht ins Haus hineingegangen war. Ich erkannte seinen Gang und entnahm daraus, daß Mr. Jonas Chuzzlewit es selbst war und sich nur verkleidet hatte. Ich folgte ihm sofort und verlor ihn auf der Landstraße nach Westen, die er immer weiter und weiter verfolgte.«

Jonas blickte einen Augenblick auf und murmelte einen Fluch.

»Ich konnte mir nicht erklären, was das zu bedeuten habe. Da ich jedoch schon so viel gesehen, wollte ich die ganze Sache durchschauen; und es gelang mir. Ich erkundigte mich in seinem Hause nach ihm und erfuhr von seiner Frau, er schlafe unten in dem Zimmer, aus dem ich ihn hatte kommen sehen, und er habe strengen Befehl gegeben, ihn nicht zu stören. Nun, jedenfalls mußte er wieder zurückkommen, und ich lauerte ihm auf. Die ganze Nacht hielt ich in der Straße Wacht, drückte mich von Türschwelle zu Türschwelle, kam auch am nächsten Tag nicht von meinem Fenster weg, und als die Nacht einbrach, begab ich mich wieder auf die Straße. Ich nahm an, daß er zurückkommen werde, so wie er ausgegangen war, und zu einer Zeit, wo die Straßen leer sein mußten. So war es auch. Am frühen Morgen kam derselbe Mann in Bauerntracht leise und heimlich nach Hause geschlichen.«

»Na, sind Sie nicht bald fertig!« unterbrach ihn Slyme, der jetzt mit seinen Nüssen zu Ende war. »Das geht alles gegen die Polizeivorschrift, Mr. Nadgett!«

»Ich blieb den ganzen Tag am Fenster stehen«, berichtete Nadgett weiter, ohne darauf zu achten, »und schloß kein Auge. Bei Nacht sah ich ihn mit einem Bündel Kleider aus dem Hause treten. Abermals ging ich ihm nach. Er schlich die Stufen von der Londoner Brücke hinunter und versenkte es in den Strom. Jetzt begann ich ernsthafte Besorgnis zu hegen und machte eine Anzeige bei der Polizei, die das Bündel –«

»– auffischen ließ«, unterbrach ihn Slyme. »Schlafen Sie gefälligst nicht ein, Mr. Nadgett.«

»Es enthielt die Kleider, die ich ihn hatte tragen sehen. Sie waren mit Erde und Blut besudelt. Die Nachricht von der Mordtat lief gestern abend in London ein. Man hat den Träger jener Kleider in der Nähe des Tatortes gesehen und weiß, daß er sich in der Umgebung herumdrückte. Auch sprang er zu einer Zeit von einem Postwagen ab, die genau mit jener zusammenstimmte, zu der ich ihn nach Hause kommen sah. Der Haftbefehl gegen ihn wurde erlassen, und die Konstabler hier warten schon einige Stunden mit mir. Wir paßten den richtigen Augenblick ab, und da wir Sie eintreten und auch diese Person am Fenster bemerkten –«

»– so winkten Sie mir«, ergänzte Mark, der bei dieser Anspielung auf sich aus seiner Unbeweglichkeit erwachte; »winkten mir, die Türe zu öffnen, was ich denn auch mit größtem Vergnügen tat.«

»Das ist nun vorderhand«, schloß Nadgett und steckte sein großes Taschentuch wieder ein, das er aus bloßer Gewohnheit bei dem Beginn seiner Erzählung herausgezogen und fortwährend in der Hand gehalten hatte, »das ist vorderhand alles. Wir brauchen die Herren jetzt nicht mehr länger aufzuhalten. – Sind Sie fertig, Mr. Slyme?«

»Schon lange«, brummte der würdige Sergeant. »Gehen Sie nur voraus auf die Polizei; wir werden Sie schon einholen. – Tom – schaffen Sie mal eine Droschke herbei.«

Der Polizeidiener entfernte sich. Der alte Mr. Martin Chuzzlewit zögerte noch einige Augenblicke, wie um ein paar Worte mit Jonas zu sprechen; da er ihn jedoch immer noch auf dem Boden kauern und wild umherstarren sah, nahm er Chuffeys Arm und folgte langsam Mr. Nadgett. John Westlock und Mark Tapley schlossen sich ihnen an. Mrs. Gamp war zuerst hinausgewackelt, um auf diese Art besser ihre Gefühle in einer Art von Bühnenohnmacht zur Schau zu stellen. Sie verfügte nämlich über eine ganze Reihe mimischer Ohnmachtsmöglichkeiten, ganz wie Mr. Mould punkto Leichenbestattungen.

»Ha«, murmelte Slyme, ihnen nachsehend. »Meiner Seel, der empfindet die Schmach, einen Neffen wie mich in einer solchen Stellung zu haben, so wenig, wie ich für die Ehre empfänglich war, die ich der Familie machte. Das ist jetzt der Dank dafür, daß ich mich so weit erniedrigt habe, für das tägliche Brot zu arbeiten.«

Unwillig stand er auf und stieß seinen Stuhl entrüstet beiseite. »Und noch dazu ein solches Brot, während Hunderte, die nicht wert sind, mir die Schuhriemen zu lösen, in Equipagen fahren und von ihrem Vermögen leben. – Eine saubere Welt das, meiner Seel!«

In diesem Moment begegneten seine Blicke denen Jonas Chuzzlewits, der angsterfüllt zu ihm aufsah und die Lippen flüsternd bewegte.

»Was?« fragte Slyme.

Jonas warf einen Blick auf den andern Konstabler, der mit dem Rücken zu ihm gewendet dastand, und deutete schwerfällig mit seinen gefesselten Händen zur Türe.

»Hm«, brummte Slyme nachdenklich. »Wie konnte er sich meiner Stellung schämen, wenn er sich des Verbrechers hier nicht einmal schämte! Das hätte ich mir gleich denken können.«

Jonas wiederholte seinen Blick und seine Gebärde.

»Jack!« sagte Slyme.

»Was gibt’s?« fragte der Konstabler.

»Gehen Sie mal zum Haustor hinunter und rufen Sie mich, wenn der Wagen da ist. – Nun also«, fragte er, sich rasch zu Jonas wendend, als der Mann draußen war, »was wollen Sie?«

Der Mörder versuchte aufzustehen.

»Wart ein bissel«, brummte Slyme, »das geht nicht so schnell mit gefesselten Händen. So! – Auf! Also, was gibt’s?«

»Greifen Sie in meine Tasche, hier in meine linke Brusttasche«, ächzte Jonas.

Slyme tat es und zog eine Börse heraus.

»Es sind hundert Pfund drin«, keuchte Jonas. Seine Worte waren fast unverständlich und sein Gesicht vor Entsetzen und Todesangst so verzerrt, daß es kaum mehr menschenähnlich aussah.

Slyme blickte ihn an, gab ihm das Geld zurück und schüttelte den Kopf.

»Geht nicht. Ich getraue mich nicht. Auch wenn ich wollte, wäre es unmöglich. Der Konstabler unten –«

»Entkommen ist unmöglich, ich weiß«, hauchte Jonas. »Hundert Pfund, wenn Sie mich nur für fünf Minuten in die andere Stube gehen lassen.«

»Zu welchem Zweck?« fragte Slyme.

Der Mörder trat ihm einen Schritt näher und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Slyme fuhr unwillkürlich zurück, blieb aber dann stehen und horchte. Es waren nur ein paar Worte, aber er verfärbte sich, als er sie hörte.

»Ich hab’s bei mir«, sagte Jonas und hielt sich die Hand an den Hals, als wäre das, wovon er gesprochen, in dem seidenen Tuch verborgen. »Niemand kann Ihnen beweisen, daß Sie davon gewußt haben. Wie hätten Sie’s denn überhaupt wissen können. Hundert Pfund, wenn Sie mich nur einen Augenblick ins nächste Zimmer lassen. Schnell – schnell – die Zeit drängt.«

»Es würde freilich – freilich der Familie weniger Schande machen«, stotterte Slyme mit bebenden Lippen; »ich wollte, Sie hätten mir nicht halb soviel gesagt. Sie hätten’s für sich behalten sollen.«

»Hundert Pfund für nur fünf Minuten! Schnell, schnell«, rief Jonas verzweifelt.

Chevy Slyme nahm die Börse. Schwankenden Schrittes ging Jonas auf die Glastüre zu.

»Halt!« rief Slyme und packte ihn am Rock. »Ich weiß nichts davon! Verstanden?! Aber schließlich muß es ja so enden. – Sind Sie schuldig?«

»Ja.«

»Stimmen die Beweise?«

»Ja.«

»Wollen Sie – wollen Sie – wollen Sie nicht ein Gebet sprechen?« stotterte Slyme.

Jonas riß sich ohne Antwort von ihm los und zog die Türe hinter sich zu.

Slyme spähte durch das Schlüsselloch. Dann schlich er sich auf den Zehen, soweit er konnte, weg und blickte entsetzt auf die Türe. Da schreckte ihn die Ankunft der Droschke unten vor dem Haustor auf; er hörte, wie sie schon den Wagentritt herunterließen. »Er packt noch ein paar von seinen Sachen zusammen«, rief er zum Fenster hinaus den beiden Männern zu, die in der vollen Beleuchtung einer Straßenlaterne dastanden. »Einer von euch soll die Hinterseite des Hauses im Auge behalten. Es ist bloß der Form wegen.«

Der eine von den Konstablern ging in den Hof, der andere setzte sich auf den Wagentritt und sprach weiter mit Slyme, der oben am Fenster stand.

»Wo ist er?« fragte der Mann.

Slyme blickte einen Moment in das Zimmer zurück und winkte mit dem Kopf, als wolle er sagen: »Hier nebenan; ich sehe ihn.«

»Der ist versorgt und aufgehoben«, lachte der Konstabler.

»Will ich meinen«, war die Antwort.

Dann sahen die beiden einander wieder an und guckten die Straße hinauf und hinab. Der Mann auf dem Wagentritt nahm seinen Helm ab, setzte ihn wieder auf und pfiff ein paar Takte.

»Er läßt sich Zeit, Sergeant!«

»Hab ihm fünf Minuten Zeit gegeben«, rief Slyme hinunter. »Sie sind jetzt um. Ich werde ihn hinunterschaffen.«

Er entfernte sich vom Fenster und schlich auf den Zehen zu der Glastüre. Er horchte. Totenstill innen. Dann stellte er die Kerze in die Nähe, damit sie durch die blinden Fensterscheiben hindurchleuchte. Nur schwer entschloß er sich, die Türe zu öffnen, dann aber warf er sie plötzlich und geräuschvoll weit auf, trat einen Schritt zurück, blickte hinein, horchte wieder und trat endlich näher.

Er fuhr entsetzt zurück, als sein Auge dem von Jonas begegnete, der, in einer Wandecke stehend, ihn wild anstierte. Er hatte das Halstuch abgenommen, und sein Gesicht war aschfahl.

»Sie kommen zu früh«, ächzte Jonas. »Ich habe noch nicht Zeit gehabt – konnte es nicht über mich bringen. Ich – nur noch fünf Minuten – nur zwei Minuten – nur eine einzige –«

Slyme gab keine Antwort, schob ihm das Geld mit Gewalt wieder in die Tasche und rief seine Leute.

Jonas winselte und schrie, fluchte, bat und wehrte sich, dann fügte er sich wieder, alles in einem Atem. Dabei war er so schwach, daß er nicht auf den Beinen stehen konnte. Man schaffte ihn in die Droschke hinunter und setzte ihn in die Ecke, aber stöhnend fiel er auf das Bodenstroh hinunter und blieb dort liegen.

Die beiden Polizeidiener saßen bei ihm, während Slyme bei dem Kutscher auf dem Bock Platz genommen hatte. Als sie zufällig vor einem Obsthändler vorüberfuhren, der seinen Gewölbeladen noch offen hatte, bemerkte einer der Polizisten, wie seltsam es nach bittern Mandeln röche.

Der andere stimmte ihm bei, dann beugte er sich nieder, sah beunruhigt zu dem Gefangenen herab und rief:

»Halt! Laß halten, Tom! Er hat sich vergiftet. Der Geruch kommt aus diesem Fläschchen hier.«

Die Hand des Selbstmörders war so dicht um ein Flakon gekrallt, wie es kein Lebender in vollster Manneskraft imstande gewesen wäre.

Man zerrte ihn aus der Droschke auf die dunkle Straße hinaus. Aber Geschworene, Richter und Henker hatten keine Macht mehr über ihn.

Er war tot.

52. Kapitel


52. Kapitel

Das Blatt wendet sich

Die Ausführung der Pläne, die der alte Martin so lange in seiner Brust verborgen hielt und so oft beinahe verraten hätte während seines Aufenthaltes bei Mr. Pecksniff, wenn ihn die helle Entrüstung packte, hatte sich infolge der soeben berichteten Ereignisse um einige Stunden hinausgezogen. Die Kunde, die ihm Tom Pinch und John Westlock hinsichtlich der mutmaßlichen Ursache des Todes seines Bruders überbracht hatten, wie auch die darauffolgenden Schilderungen Chuffeys und Nadgetts samt der ganzen grausigen Kette von Umständen und dem Selbstmorde des elenden Jonas, von dem er ebenfalls gleich darauf erfuhr, hatten betäubend und niederschmetternd auf ihn gewirkt und ihn eine Zeitlang fast ganz außer Fassung gebracht. Aber gerade die Häufung der Ereignisse, die sich so furchtbar zwischen ihn und sein Ziel gedrängt hatten, spornten ihn bald wieder zu raschem, entschlossenem Handeln an. In jeder einzelnen Schlechtigkeit, Niederträchtigkeit, Feigheit oder falschherzigen Handlung erkannte er die Blüte derselben wuchernden Saat. Selbstsucht – gierige, nimmersatte Selbstsucht mit all ihren Folgen von Argwohn, Begehrlichkeit, Betrug –, das war die Wurzel des Giftbaumes. Mr. Pecksniff hatte sich in so wahrem Lichte gezeigt, daß er – er, der gütige, duldsame, immer nachsichtige Pecksniff – geradezu zum fleischgewordenen Symbol niedrigster Selbstsucht und Niedertracht geworden war. In je tückischeren Formen diese Laster sich vor Mr. Chuzzlewit präsentierten, um so tröstlicher wurde für ihn der Gedanke, dem Heuchler sowohl wie seinen Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Sogleich nach seiner Ankunft hatte er John Westlock und zugleich auch Mark durch Tom Pinch zu sich rufen lassen, und so hatten sie sich, wie bereits erzählt, gemeinschaftlich in die City begeben. Seinen Enkel wollte er nicht früher sehen als am nächsten Tage, wo ihn Mr. Tapley für zehn Uhr vormittags in den Tempel bestellen sollte. Tom mußte ganz aus dem Spiele bleiben, um nicht abermals in einen falschen Verdacht zu kommen, obschon er von allem, was sich ereignet, Kunde hatte und bis spät in die Nacht mit den übrigen zusammenblieb.

Als die Nachricht von Jonas‘ Selbstmord einlangte, begab sich Tom unverzüglich nach Hause, um alles, was sich begeben, seiner Schwester mitzuteilen und sie darauf vorzubereiten, daß sie ihn am nächsten Morgen nach dem Tempel begleiten müsse, wie es Mr. Chuzzlewit ausdrücklich gewünscht hatte.

Es war so recht bezeichnend für den alten Herrn, daß er seiner Umgebung mit keinem Wort andeutete, was er vorhatte, sondern nur hie und da eine Andeutung fallenließ, daß er sich in Mr. Pecksniffs Haus absichtlich verstellt habe; und jedesmal, sooft er den Namen dieses Ehrenmannes erwähnte, leuchteten seine Augen seltsam auf. Sogar John Westlock gegenüber, in den er sichtlich das größte Vertrauen setzte, ließ er sich keineswegs auf nähere Erklärungen ein und bat ihn bloß, ihn am nächsten Morgen wieder zu besuchen.

Ereignisse, wie sie der Tag gebracht, wären wohl imstande gewesen, auch einen viel jüngeren Mann als ihn stark mitzunehmen, aber dennoch blieb er, in schmerzliche Betrachtungen versunken, bis zum hellen Morgen sitzen. Und auch dann suchte er noch keine Ruhe, sondern schlummerte bloß bis sieben Uhr in seinem Lehnstuhl, bis sich Mr. Tapley, seinem Wunsche gemäß und frisch und munter wie der Morgen selbst, einstellte.

»Sind Sie aber pünktlich!« rief Mr. Chuzzlewit, als er auf das leise Klopfen, das ihn sofort aus seinem Schlummer weckte, die Türe öffnete.

»Mein ganzes Sinnen und Trachten, Sir«, erwiderte Mr. Tapley, der sich, wie aus seinen Worten hervorging, stark mit Freiersgedanken trug, »beschränkt sich auf Liebe, Freundschaft und Gehorsam. – Soeben schlägt es sieben Uhr, Sir.«

»So treten Sie doch näher!«

»Ich danke, Sir. – Also, was kann ich zuvörderst für Sie tun, Sir?«

»Haben Sie meinen Auftrag an Martin ausgerichtet?« fragte der alte Herr.

»Jawohl, Sir. Und Sie haben wohl in Ihrem Leben noch niemanden überraschter gesehen, als er es war.«

»Was sagten Sie ihm alles?« fragte Mr. Chuzzlewit.

»Nun, Sir«, antwortete Mr. Tapley lächelnd, »ich hätte ihm ganz gerne ein bißchen mehr gesagt, aber da ich es nicht konnte, ließ ich es eben bleiben.«

»Sie sagten ihm also alles, was Sie wußten?«

»Ja, allerdings. Aber immerhin war das recht wenig, Sir. Über Sie zum Beispiel konnte ich ihm fast gar nichts erzählen, Sir. Ich warf nur so hin, Mr. Pecksniff dürfte ein wenig enttäuscht werden, sowohl, was Sie betrifft, als auch, was ihn selber anbelangt.«

»Wie meinen Sie das?« fragte Mr. Chuzzlewit.

»Hinsichtlich seiner, Sir?«

»Jawohl. Aber auch, was mich betrifft.«

»Nun, Sir«, sagte Tapley, »sowohl in der einen wie in der andern Beziehung. Was Mr. Martin und seine Ansichten betrifft, Sir, so weiß ich bestimmt, daß er sich von Grund aus geändert hat. Ich weiß es und wußte es lange vorher, ehe er neulich mit Ihnen sprach. Niemand kennt ihn wohl nur halb so gut wie ich. Es war stets ein guter Kern in ihm; es lag nur eine Kruste, sozusagen, drumherum. Ich weiß nicht, wer an dieser Kruste wohl schuld gewesen sein mag, aber –«

»Fahren Sie nur fort!« ermunterte ihn der alte Herr. »Warum schweigen Sie so plötzlich?«

»Hem, ja – ich bitte um Verzeihung – aber ich denke, es kann wohl nicht gut jemand anders als Sie gewesen sein, Sir! Natürlich kann ich mir ja denken, daß es nicht mit Absicht Ihrerseits geschah. Ich glaube nicht, daß Sie beide stets sehr offen gegeneinander gewesen sind. So! Jetzt hab ich’s vom Herzen herunter«, sagte Mr. Tapley und atmete erleichtert auf. »Ich konnte es rein nicht länger bei mir behalten. Schon gestern hat’s mich gewurmt. Jetzt ist’s glücklich draußen. Weiß Gott, es tut mir ja leid, aber ich kann nicht anders. Lassen Sie es ihn nicht entgelten, Sir; weiter habe ich nichts zu sagen.«

Offenbar erwartete er, daß ihm der alte Herr sogleich die Tür weisen würde, und schien auch bereit, auf der Stelle zu gehen.

»Sie glauben also«, sagte Mr. Chuzzlewit, »daß ich gewissermaßen an seinen alten Fehlern schuld war?«

»Nun ja«, gab Mr. Tapley zu. »Es tut mir gewiß ungemein leid, aber ich kann meine Worte nicht zurücknehmen. Es ist nicht sehr hübsch von Ihnen, Sir, daß Sie einen so unwissenden Menschen wie mich so in die Enge treiben, aber ich bin nun einmal dieser Meinung. Alle Hochachtung vor Ihnen, Sie verdienen Sie, gewiß, Sir –«

Ein leichtes Lächeln leuchtete durch die gramvollen Mienen des alten Mannes, während er, ohne eine Antwort zu geben, Mark aufmerksam anblickte.

»Sie sagen also selbst, daß Sie ein unwissender Mann seien?« bemerkte er nach einer längeren Pause.

»Ja. So ziemlich bin ich das auch«, versetzte Mr. Tapley.

»Und mich halten Sie wahrscheinlich für einen besonders gelehrten und außerordentlich gescheiten Mann?«

»Gewiß, ja. Kein Zweifel.«

Der alte Herr rieb sich das Kinn und schritt ein paarmal das Zimmer auf und ab.

»Sie haben ihn also heute früh verlassen?«

»Ich komme soeben von ihm, Sir.«

»Was glaubt er wohl, weshalb ich ihn habe rufen lassen?«

»Er weiß nicht, was er sich drunter denken soll, Sir, ebensowenig wie ich selbst. Ich erzählte ihm, was sich gestern begeben hatte, Sir, und daß Sie zu mir gesagt hätten: ›Können Sie morgen um sieben Uhr bei mir sein?‹ Ferner, daß Sie ihm durch mich ausrichten ließen, er möge sich gleichfalls um zehn Uhr einfinden. Und auf beides hätte ich mit ja geantwortet. – Das ist alles, Sir.‹

Marks Miene war so offen und ehrlich, daß an der Wahrhaftigkeit seiner Worte niemand zweifeln konnte.

»Vielleicht denkt er«, sagte Mr. Chuzzlewit, »daß Sie ihn verlassen wollen und bei mir in Dienst treten.«

»Ich habe ihm wirklich so treu gedient, Sir«, versetzte Mark schlicht, »und wir haben in Kummer und Leid so treu zueinander gehalten, daß ich wohl glaube, er kann dergleichen nicht gut annehmen. Ebensowenig wie Sie es wohl glauben, Sir.«

»Wollen Sie mir beim Ankleiden behilflich sein und mir ein Frühstück aus dem Hotel holen?« brach Mr. Chuzzlewit das Thema ab.

»Mit Vergnügen, Sir.«

»Übrigens«, setzte der alte Herr hinzu, »möchte ich Sie auch bitten, auf die Türe dort achtzugeben und aufzumachen, wenn jemand klopft.«

»Selbstverständlich, Sir.«

»Sie brauchen auch nicht weiter erstaunt zu sein, wenn allerhand merkwürdige Besuche kommen«, deutete Mr. Chuzzlewit an.

»Ach Gott«, sagte Mr. Tapley, »ich habe mir das Staunen so ziemlich abgewöhnt.«

Trotzdem er das sehr hervorhob, schien er doch innerlich nicht wenig verwundert zu sein. Martin Chuzzlewit schien es zu bemerken und sich an seiner unterdrückten Neugierde nicht wenig zu weiden.

Nachdem Mr. Tapley den Anzug des alten Herrn in Ordnung gebracht und ihm das Frühstück besorgt hatte, stellte er sich, die Serviette unter dem Arm, an den Kamin und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Nur mit Mühe gelang es ihm, seine Erregung zu verbergen. Der alte Herr nahm sein Frühstück ein, ging dann wieder im Zimmer auf und ab und setzte sich schließlich nieder.

Endlich, ein Klopfen an der Türe! Es war John Westlock. Mark ließ ihn ein, zog die Augenbrauen in die Höhe, sprach aber kein Wort. Mr. Chuzzlewit empfing seinen Gast sehr höflich.

Mr. Tapley wartete an der Türe, bis Tom Pinch und seine Schwester, die gerade die Treppe heraufkamen, eingetreten waren. Der alte Herr ging auch ihnen entgegen, nahm Ruth bei der Hand und küßte sie auf die Wange. Das war ein gutes Zeichen, und Mr. Tapley lächelte vergnügt.

Mr. Chuzzlewit hatte inzwischen wieder in seinem Lehnstuhl Platz genommen, als der junge Martin, Tom und Ruth auf dem Fuße folgend, eintrat. Der alte Mann würdigte ihn kaum eines Blickes und deutete nur mit der Hand auf einen Stuhl in der Ecke. Das war schon weniger beruhigend, und Mr. Tapley wurde ein wenig kleinmütig.

Abermals ertönte ein Klopfen an der Türe. Mark fuhr nicht zurück, brachte auch kein Wort hervor und fiel auch keineswegs der Länge nach hin, als er Miss Graham und Mrs. Lupin eintreten sah, sondern holte nur tief Atem und ging wieder ganz gefaßt mit einer Miene an den Kamin zurück, die zu sagen schien, daß er jetzt schon über gar nichts mehr staune.

Der alte Herr empfing Mary ebenso zärtlich wie Tom Pinchs Schwester. Dann wechselte er einen freundlichen Blick mit der Drachenwirtin, woraus hervorzugehen schien, daß zwischen ihnen eine Art Einverständnis herrschte. Auch darüber staunte Mr. Tapley nicht; er hatte es ein für allemal aufgegeben, sich über etwas zu wundern.

Außerordentlich komisch wirkte, wie jeder der Anwesenden über den Anblick des andern verlegen und überrascht war, so daß niemand zu sprechen wagte. Endlich brach Mr. Chuzzlewit das Schweigen.

»Machen Sie jetzt die Türe auf, Mark, und kommen Sie hierher.« – Mr. Tapley gehorchte.

Fußtritte ertönten auf der Treppe. Alle kannten sie. Kein Zweifel, es war Mr. Pecksniff, der da heraufeilte, und zwar in so großer Hast, daß man ihn zwei- oder dreimal stolpern hörte.

»Oh, wo ist mein verehrungswürdiger Freund?« rief er schon von weitem, als er noch kaum auf dem obersten Treppenabsatze angelangt war, und stürzte dann mit ausgebreiteten Armen herein.

Mr. Chuzzlewit warf ihm nur einen Blick zu, aber einen derartigen, daß Mr. Pecksniff zurückprallte, als habe er einen elektrischen Schlag bekommen.

»Sie sind doch wohl, mein verehrungswürdiger Freund?« stammelte er beklommen.

»Ganz wohl.«

Das schien Mr. Pecksniff ein wenig zu beruhigen, er faltete die Hände und blickte bewegt zur Decke auf, um auf diese Weise dem Himmel seinen Dank auszudrücken. Dann musterte er neugierig die versammelte Gruppe, schüttelte vorwurfsvoll das Haupt – strenge und vorwurfsvoll – und rief:

»O Gewürm, Gewürm! O ihr Blutsauger! Ist es nicht genug, daß ihr das Dasein eines Mannes vergällt habt, der unter den Sterblichen nicht seinesgleichen hat? Müßt ihr jetzt noch, wo er endgültig seine Wahl getroffen und sein Vertrauen einem unbedeutenden, aber wenigstens demütigen, aufrichtigen und uneigennützigen Verwandten geschenkt hat – müßt ihr auch jetzt noch, ihr Ungeziefer – es tut mir von Herzen weh, so starke Ausdrücke gebrauchen zu müssen, mein wertgeschätzter Herr, aber es gibt Augenblicke im Menschenleben, wo es schwer ist, edlen Unwillen zu unterdrücken –, müßt ihr selbst jetzt noch, ihr Schlangengezücht, aus seiner Hilflosigkeit Vorteil ziehen und euch von allen Seiten wie Wölfe und Geier und anderes Getier – ich will nicht sagen ›wie um das Aas‹, denn Mr. Chuzzlewit ist gerade das Gegenteil – sondern wie um eine Beute herandrängen? – Jawohl, wie um eine Beute, um zu rauben und zu plündern, um den gefräßigen Bauch vollzupfropfen und die abscheulichen Schnäbel in tierischem Entzücken zu wetzen?« –

Er mußte Atem holen und konnte nur feierlich mit der Hand abwinken.

»Ihr unnatürlichen Räuber und Mordbrenner, marsch, sage ich. Lasset ab von ihm! Fort mit euch! Verberget euer Antlitz! Wandert ruhelos hin über die Erde, ihr jugendlichen Vagabunden. Es sei euch nicht vergönnt, an einer Stätte zu weilen, die geheiligt ist durch das graue Haar des Patriarchen, dessen wankenden Gliedern ich die Ehre habe, als unwürdige, aber gewiß demütige Stütze zu dienen. Und Sie, mein wertgeschätzter Herr«, wendete sich Mr. Pecksniff im Tone sanften Vorwurfs zu dem alten Manne, »wie konnten Sie es über das Herz bringen, mich zu verlassen, wenn auch nur auf kurze Zeit? Gewiß haben Sie es nur aus einer gütigen Rücksicht für mich getan! Gott vergelte es Ihnen! Aber Sie durften so etwas nicht tun! Wahrhaftig, ich könnte böse auf Sie sein, wenn ich es imstande wäre, mein Freund.«

Mit ausgebreiteten Armen trat er auf Mr. Chuzzlewit zu, um ihm die Hand zu drücken. Er hatte offenbar übersehen, wie der alte Martin die Faust geballt und seinen Stock fest gepackt hatte. Wie er jetzt lächelnd heranschwebte, sprang Mr. Chuzzlewit, übermannt von Zorn, auf, erhob seinen Stock und schlug ihn zu Boden.

Es war ein so gut gezielter, kraftvoller Hieb, daß der Heuchler schwerfällig zusammenbrach und niederstürzte wie ein Sonntagsreiter, den der Angriff eines Leibgardisten aus dem Sattel gehoben hat. Ob er nun betäubt oder bloß durch die Neuheit dieses warmen Empfanges überrascht und verwirrt war, jedenfalls gab er sich nicht die geringste Mühe, wieder aufzustehen, sondern blieb ruhig liegen und war auch jetzt noch nicht imstande, die Maske der Heuchelei abzuwerfen. Er blieb liegen und schaute mit so komischer Demut auf, daß weder Mark Tapley noch John Westlock ein Lächeln unterdrücken konnten, obgleich sie beide dazwischen gesprungen waren, um Mr. Chuzzlewit zu verhindern, einen zweiten Schlag zu führen, der, nach dessen blitzendem Auge zu urteilen, gedroht hatte.

»Hinaus mit ihm, schafft mir den Kerl aus den Augen«, rief Mr. Chuzzlewit, »oder ich weiß nicht, was ich tue. Der ungeheure Zwang, den ich mir auferlegen mußte, hätte mich, glaube ich, wenn es noch eine Zeitlang gedauert hätte, wirklich gelähmt. Ich bin nicht Herr meiner selbst, solange ich ihn noch vor mir sehe. Hinaus mit ihm!«

Da Mr. Tapley sah, daß Mr. Pecksniff keine Miene machte, aufzustehen, packte er ihn ohne weitere Umstände beim Rockkragen, schleifte ihn von dem Lehnstuhl weg, hob ihn auf und lehnte ihn mit dem Rücken an die Wand.

»Höre mich an, du Schurke!« rief Mr. Chuzzlewit. »Ich habe dich hierher kommen lassen, damit du dein eigenes Werk siehst. Ich weiß, daß es dir Galle und Wermut sein wird. Ich habe dich hierher kommen lassen, da ich weiß, daß der Anblick jedes einzelnen hier ein Dolchstich in dein niederträchtiges Herz sein muß. – So, jetzt kennst du meinen wahren Charakter.«

Mr. Pecksniff hatte alle Ursache, große Augen zu machen, denn der Triumph in Gesicht und Haltung des alten Herrn war ein Anblick, wie man ihn wohl nicht alle Tage genießt.

»Schau her«, fuhr der alte Mann fort und wies auf die Anwesenden. »Schau her – und jetzt: komm an mein Herz, mein lieber, lieber Martin! Siehst du, so, – so – so«, und voll Liebe zog er seinen Enkel an sich.

»Die innere Aufruhr, die ich empfand, Martin, als ich dich damals sah und nicht umarmen durfte, hat sich jetzt Luft gemacht in dem Schlag, mit dem ich den Elenden zu Boden gestreckt habe. Warum haben wir uns jemals getrennt?! Wie konntest du nur vor mir fliehen und gar zu dem da?«

Martin wollte antworten, er ließ ihn aber nicht zu Worte kommen.

»Ich weiß, es war ebensogut mein Fehler wie der deine; Mark Tapley sagte es mir heute, und ich habe es längst selber gewußt, wenn ich es auch gleich am Anfang nicht einsah. – Mary, mein Kind, jetzt komme du her!«

Miss Graham zitterte so sehr und war so blaß, daß er sie in seinen eigenen Stuhl drückte, ihre Hand festhielt und an ihre Seite trat. Auch Martin stand dabei.

»Der Fluch unsres Hauses«, rief Mr. Chuzzlewit und blickte gütig auf sie nieder, »war die Selbstsucht und ist von jeher die Selbstsucht gewesen. Wie oft habe ich das gesagt und doch nicht gewußt, daß ich selbst gegen andere selbstsüchtig war.« Dann legte er seine freie Hand auf Martins Arm und fuhr fort:

»Ihr alle wißt, wie ich diese Waise hier auferzogen habe, damit sie mich dereinst pflege. Niemand von euch kann aber wissen, wie ich allmählich dahin gekommen bin, in ihr eine Tochter zu sehen. Sie gewann mich durch ihre Selbstaufopferung, ihre Zärtlichkeit, ihre Geduld und ihre edle Denkungsweise – Eigenschaften, für deren Ausbildung, Gott weiß es, ich mir leider nur wenig Mühe gab. Aber sie blühte ohne die Hand des Gärtners, und ich kann nicht sagen, ich bedaure es, daß ich nicht so war, wie ich hätte sein sollen; sonst wäre alles anders gekommen und der Kerl dort könnte den Kopf aufrecht tragen.«

Mr. Pecksniff steckte die Hand in die Weste und schüttelte milde das Haupt, wie um anzudeuten, daß er es immer noch aufrecht trage.

»Es gibt eine Art von Selbstsucht«, rief Mr. Chuzzlewit, »die ich aus eigener Erfahrung an mir selber kennenlernen mußte und die darin besteht, daß sie fortwährend auf der Lauer liegt, um die Selbstsucht anderer zu entdecken. So zweifelte ich einst an allen, die um mich waren; anfangs nicht ohne Grund – deshalb setzte ich auch Zweifel in dich, Martin.«

»Gleichfalls nicht ohne Grund«, versetzte der junge Martin.

»Hörst du, du Heuchler? Hörst du, du aalglatter niederträchtiger Schurke?« rief Mr. Chuzzlewit, »hörst du, du kriecherische Kanaille? Als ich ihn suchte, hattest du bereits deine Netze ausgeworfen – hast du bereits nach ihm geangelt. Und als ich in dem Gasthause dieser guten Frau dort krank lag und du in deiner heuchlerischen Demut meinem Enkel das Wort redetest, hattest du ihn damals nicht bereits abgefangen? Hoffend, daß meine Liebe sich ihm wieder zuwenden werde, hattest du ihm eine von deinen beiden Töchtern zugedacht – ist es nicht so? Und glückte das nicht, so war deine Handlungsweise immerhin eine gute Spekulation, so oder so, um mich mit dem Scheine von Mildtätigkeit zu blenden und dir einen Weg zu mir zu bahnen. Ich habe dich schon damals durchschaut und es dir ins Gesicht gesagt.«

»Auch jetzt kann ich Ihnen noch nicht böse sein, Sir«, säuselte Mr. Pecksniff. »Von Ihnen kann ich alles ertragen. Ich werde Ihnen niemals widersprechen, Mr. Chuzzlewit.«

»Höret mich weiter an!« fuhr der alte Martin fort und wandte sich wieder an die übrigen. »Ich habe mich in die Hände dieses Menschen unter so erniedrigenden Bedingungen gegeben, daß ich es kaum mit Worten ausdrücken kann. Ich sprach mich aus vor ihm in Gegenwart seiner Kinder, Wort für Wort, so rückhaltlos und so voller Verachtung, wie es nur irgend möglich war. Hätte ihm alles das nur ein einziges Mal die Schamröte ins Gesicht getrieben, so wäre ich in meinem Vorhaben wankend geworden; ich hätte meinen Plan aufgegeben, wenn es mir möglich gewesen wäre, in ihm auch nur eine Minute lang einen anständigen, entrüsteten Menschen zu sehen. Hätte er auch nur ein Wort zugunsten meines Enkels, den er von mir enterbt wähnte, eingelegt, hätte er auch nur die leiseste Einwendung gemacht gegen meine Aufforderung, ihn aus dem Hause zu jagen und ins Elend zu stoßen, ich glaube, ich hätte ihn vielleicht doch nicht so sehr verachten müssen. Aber nicht ein Wort, nicht ein einziges Wort sprach er! Den schlimmsten Leidenschaften der menschlichen Natur Vorschub zu leisten war seine Lebensaufgabe, und er hat sie getreulich erfüllt bis zum Schluß.«

»Auch jetzt zürne ich nicht«, flötete Mr. Pecksniff. »Ich bin verletzt, Mr. Chuzzlewit, tief im Innersten verletzt, aber ich zürne Ihnen nicht, mein wertgeschätzter Herr.«

Mr. Chuzzlewit achtete nicht auf ihn und nahm seine Rede wieder auf:

»Einmal entschlossen, ihn auf die Probe zu stellen, wollte ich meinen Plan auch bis zu Ende durchführen. Aber, während ich die Tiefe seiner Niedertracht ergründen wollte, gelobte ich mir selbst mit einem heiligen Schwur, ihm andrerseits auch jeden Funken von Menschlichkeit, Ehre und Gefühl – kurz alles, was noch in ihm schlummern mochte – anzurechnen. Jedoch auch nicht eine Spur fand sich in ihm, vom Anfang bis zu Ende. Nicht ein einziges Mal! Er kann deshalb nicht sagen, daß ich ihm nicht Gelegenheit dazu geboten hätte, und auch nicht sagen, daß ich ihm Versuchungen in den Weg gelegt und ihn nicht in allen Dingen hätte frei schalten lassen. Ich habe mich wie ein blindes Werkzeug in seine Hände gegeben, das er sowohl zum Guten wie zum Bösen gebrauchen konnte. Und wenn er das leugnet, so lügt er – und das versteht er allerdings aus dem Grunde.«

»Mr. Chuzzlewit!« unterbrach ihn Mr. Pecksniff mit tränenfeuchtem Auge. »Ich zürne Ihnen nicht – ich kann Ihnen nicht zürnen. Aber haben Sie wirklich nie, mein wertgeschätzter Herr, das Verlangen ausgedrückt, daß jener unnatürliche junge Mann, der mir jetzt auf kurze Zeit durch seine teuflischen Künste – ich sage, nur für kurze Zeit – Ihre gute Meinung entzogen hat, daß ihr Enkel, Mr. Chuzzlewit, aus meinem Hause davongejagt werden solle? Besinnen Sie sich doch, mein Freund und Bruder in Christo.«

»Ja, das habe ich gesagt«, gab der alte Herr mit finsterer Miene zu; »ich konnte doch nicht wissen, wie weit ihn der Firnis deiner Heuchelei getäuscht haben mochte, du Schurke! Und ich wußte keinen bessern Weg, ihm die Augen zu öffnen, als indem ich dich ihm in deiner ganzen kriecherischen Niedertracht vor Augen führte. Ja, ich drückte diesen Wunsch aus, aber du griffst mit beiden Händen darnach, weil es dir paßte. Und du hast den Wunsch erfüllt und keinen Augenblick gezögert, wie ein tückischer Hund die Hand zu beißen, die du soeben geleckt hattest.«

Mr. Pecksniff machte eine Verbeugung – eine unterwürfige, um nicht zu sagen, kriecherische Verbeugung. Wenn man ihm der edelsten Eigenschaft wegen ein Kompliment gemacht haben würde, hätte er sich kaum anders verbeugen können.

»Der Unglückliche, der das Opfer eines feigen Mörders geworden«, fuhr Mr. Chuzzlewit fort,»und damals unter dem Namen –«

»Tigg lebte«, ergänzte Mark.

»Ja. Also dieser Tigg bettelte mich für einen seiner Freunde, der ebenfalls zu meiner unwürdigen Verwandtschaft gehörte, an; und da ich ihn für meine Zwecke geeignet hielt, trug ich ihm auf, mir Nachricht von dir zu bringen, Martin. Durch ihn erfuhr ich von deinem Aufenthalt bei diesem Kerl hier. Er war es auch, der dich eines Abends in London traf – du erinnerst dich! –«

»Beim Pfandleiher«, versetzte der junge Martin.

»Ja. – Er ging dir nach bis zu deiner Wohnung und ermöglichte es mir auf diese Weise, dir Geld zu schicken.«

»Erst unlängst ging es mir durch den Kopf«, fiel der junge Martin bewegt ein, »daß es von dir gekommen sein könnte. Damals hatte ich natürlich noch keine Ahnung, daß du noch Teil an meinem Schicksal nahmst. Hätte ich das gewußt –«

»Ja, wenn du das geglaubt hättest«, unterbrach ihn der alte Mann bekümmert, »dann hättest du mich besser kennen müssen, als du mich kanntest. Ich hoffte, dich reuig zu mir zurückkehren zu sehen, Martin, und rechnete in dieser Hinsicht auf deine Notlage. So sehr ich dich auch liebte, so konnte ich es damals doch nicht über mich gewinnen, es offen einzugestehen, bevor du mir dein Unrecht bekanntest. Und so verlor ich dich. Wenn ich indirekt eine Schuld an dem Schicksal jenes Unglücklichen trage, indem ich ihm wenn auch noch so geringe Mittel in die Hand gab, so möge es mir Gott verzeihen. Ich hätte es voraussehen sollen, daß er das Geld mißbrauchen werde – daß es schlecht bei ihm angewandt war und daß es, von ihm verwaltet, nur Unheil erzeugen konnte. Aber ich glaubte nie, daß er die Lust oder die Fähigkeit habe, ein wirklich ernster, gefährlicher Betrüger zu werden. Ich hielt ihn nur für einen gedankenlosen, müßigen Verschwender, der mehr gegen sich selbst wütete als gegen andere, und bloß zu seinem eigenen Verderben seinen lasterhaften Neigungen frönte.«

»Ich bitte um Verzeihung, Sir«, meldete sich jetzt Mr. Tapley, der inzwischen ganz ungeniert Mrs. Lupins Arm durch den seinigen gezogen hatte, »wenn ich mich erkühne zu sagen, daß Sie vollkommen recht haben, und daß es schließlich so mit ihm ausgegangen ist, wie es im Lauf der Natur liegt. Es gibt eine ganz erstaunliche Menge Menschen, Sir, die, solange sie bloß auf ihre eigenen Schuhe und Strümpfe angewiesen sind, in aller Gemütsruhe bergab trotten und nicht viel Schaden anrichten. Setzt man sie aber in einen Wagen mit vier Pferden davor, Sir, bekommt man seine blauen Wunder zu sehen. Dann füllt so ein Kerl sein Fuhrwerk mit Passagieren und rast mitten durch die Straßen Hals über Kopf zur Hölle. Gott segne Ihr gutes Herz, Sir, aber es gehen jeden Tag so viele Tiggs durch das Tempeltor, daß es nur eines geringen Anstoßes bedarf, um jeden von ihnen zu einem waschechten Montague zu machen.«

»In Ihrer Unwissenheit, wie Sie es nennen, Mark«, rief Mr. Chuzzlewit, »sind Sie weiser als so mancher Gescheite und nebenbei ich selber. Sie haben die Wahrheit gesprochen, und heute nicht zum erstenmal. Aber jetzt hört mich an, meine Lieben. Und Sie, Pecksniff, der Sie, wenn ich recht unterrichtet bin, ebensogut in materieller Hinsicht wie an gutem Namen ein Bankerottier sind, hören Sie mir auch zu, und wenn ich fertig bin, verlassen Sie dieses Haus und verpesten Sie es nie wieder durch Ihren Anblick.«

Mr. Pecksniff legte die Hand auf die Brust und verbeugte sich abermals.

»Die Buße, die ich mir selbst in seinem Hause auferlegt habe, hat mich erkennen lassen, welches Elend über mich gekommen wäre, wenn es wirklich dem Himmel gefallen hätte, mich so schwach und hilflos zu machen, wie ich mich stellte. Da sagte ich mir: nimm dich in acht, daß du nicht wirklich das Werkzeug eines solchen Menschen werdest und dereinst in einer andern Welt zu dem Bewußtsein eines Unrechts erwachest, entsetzlich genug, um sogar die Freuden des Paradieses zu vergällen. Bis jetzt war dir dein Reichtum eine unaufhörliche Quelle des Unglücks und hat dich veranlaßt, allen zu mißtrauen, und dir ein Grab gegraben, noch bevor du tot bist, ein Grab von Mißtrauen und Qual.«

Und dann erzählte Mr. Chuzzlewit, wie er schon ganz im Anfang zuweilen daran gedacht habe, es könne sich zwischen Martin und Mary ein Liebesverhältnis entspinnen; er habe sich darin gefallen, sich die Zeit vorzustellen, wo er das Wachsen dieser jungen Liebe beobachten, die Liebenden schließlich scheinbar mit Bedenklichkeit beiseite nehmen und zur Rede stellen, ihnen zuletzt aber gestehen würde, daß es für ihn selbst ein Herzenswunsch sei, sie vereinigt zu sehen und, wie er hoffe, durch seine väterliche Liebe für sie und die Sorge um ihr Glück sich verdiente Ansprüche an ihre Liebe zu sichern, die ihm seinen Lebensabend glücklich machen solle; und wie er diesen Plan kaum gefaßt hatte, und die Wonne, für das Glück anderer sorgen zu können, noch neu und unbestimmt vor ihm lag, sei Martin gekommen und habe ihm schroff herausgesagt, er habe bereits gewählt. Das habe ihm denn gar nicht gefallen, da dadurch sein Plan allen Reizes entbehrte; überdies habe er sich, als er die Entdeckung machte, Mary erwidere die Liebe seines Neffen, mit dem Gedanken gequält, die beiden seien trotz ihrer Jugend und der ihnen erwiesenen Wohltaten bereits wie alle übrigen tief bis ins Mark selbstsüchtig geworden. Aus Bitterkeit über diesen Eindruck und infolge seiner früheren Lebenserfahrungen habe er Martin die herbesten Vorwürfe gemacht, dabei aber ganz vergessen, daß er niemals sein Vertrauen in einer derartigen Hinsicht großgezogen habe. Infolgedessen sei es zwischen ihnen zu heftigen Worten gekommen, und sie seien im Zorn auseinandergegangen. In jener Nacht, als er im »Drachen« erkrankte, habe er ihn noch immer geliebt und sich auch von ihm geliebt gehofft, im geheimen einen zärtlichen Brief an ihn geschrieben und ihn darin zu seinem Erben ernannt und seiner Verbindung mit Mary seinen Segen gegeben. Die Zusammenkunft mit Pecksniff habe ihn dann wieder mißtrauisch gemacht, so daß er das Papier wieder verbrannt und sich auf seinem Krankenlager mit Argwohn, Zweifeln und Reue abgequält habe.

Dann berichtete er, wie er sich vorgenommen, diesen Pecksniff wie auch Marys Treue und Anhänglichkeit sowohl gegen ihn selbst als auch gegen Martin auf die Probe zu stellen, und wie er durch ihre Sanftmut und Geduld, besonders aber durch die Herzensgüte, schlichte Einfachheit und männliche Treue Tom Pinchs milder und milder gegen die Menschen gestimmt worden. Als er von Tom sprach, rief er mit Tränen in den Augen Gottes Segen auf ihn herab, denn Pinch sei, sagte er, obschon er auch ihn anfangs beargwöhnt habe, wie ein Frühlingsregen für sein Gemüt gewesen und habe ihm den Glauben an die Menschheit wiedergegeben.

Martin ergriff Mr. Pinchs Hand, und ein gleiches taten auch Mary und John, Mark, Mrs. Lupin und die kleine Ruth nicht zu vergessen. Seliger, tiefer, ruhiger Friede zog in Toms Herz ein.

Und dann erzählte der Alte, wie hochherzig Mr. Pecksniff »seine Pflicht der Menschheit gegenüber erfüllt«, als er damals Tom entließ. Oft und oft habe er Pecksniff über John Westlock schimpfen hören, und da er diesen als Toms Freund kannte, so habe er durch Vermittelung seines vertrauten Agenten und Advokaten in der Stadt den kleinen Kunstgriff angewendet, der Mr. Pinch instand setzte, eine geordnete Beschäftigung zu finden. Dann kam er noch einmal auf die Szene zu sprechen, wo der junge Martin ihn um seine Verzeihung gebeten hatte. »Und schon deswegen«, wendete er sich an Mr. Pecksniff, »Würde ich dir den Strick des Galgens nicht vom Halse nehmen, und wenn ich es nur durch eine Bewegung des kleinen Fingers tun könnte.«

»Dein Nebenbuhler, lieber Martin«, fuhr er fort, »war dir zwar nie gefährlich, aber Mrs. Lupin hat doch wochenlang die Duenna spielen müssen, nicht so sehr, um deine Geliebte, als vielmehr, um ihren schuftigen Bewerber zu beobachten; denn dieser Vampir« – Mr. Chuzzlewits Fruchtbarkeit im Erfinden neuer Schmähnamen für den Heuchler war erstaunlich – »hätte sie sonst täglich bei jedem Schritt, den sie ins Freie tat, behelligt und ihr die frische Luft vergiftet; und schau nur, wie ihre Hand zittert – sieh mal, ob du sie halten kannst, Martin!«

Halten? Martin drückte Mary nicht bloß die Hand, nein, er umschlang sie, aber er war so ergriffen von der Treue seines Freundes, daß er in der Höhe seines Glückes immer noch eine Hand frei hatte, um sie nach Tom Pinch auszustrecken, und rufen konnte:

»Ach, Tom, lieber lieber Tom, ich sah Sie zufällig hierher gehen – verzeihen Sie mir.«

»Verzeihen?« rief Tom. »Ich verzeihe Ihnen mein Lebtag nicht, Martin, wenn Sie noch ein Wort darüber verlieren. Ich wünsche Ihnen beiden Glück und Segen – fünfzigtausendmal, mein lieber Freund!«

»Ich bitte um Verzeihung, Sir«, mischte sich jetzt Mr. Tapley ein und trat vor. »Sie haben soeben eine Dame namens Lupin erwähnt, Sir.«

»Allerdings«, versetzte der alte Mann.

»Ja, Sir. – Ein hübscher Name, Sir, nicht wahr?«

»Ein sehr guter Name, daran ist nicht zu zweifeln.«

»Fast ist es schade, einen solchen Namen in ›Tapley‹ umzuwandeln. – Sind Sie nicht auch der Meinung?« fragte Mark.

»Das hängt ganz von der Dame selbst ab. Was hält denn sie von der Sache?«

»Nun«, erwiderte Mr. Tapley und zog sich mit einer Verbeugung gegen Mr. Chuzzlewit zu der hübschen Wirtin zurück, »ihre Ansicht ist, der Name wäre vielleicht kein guter Tausch, aber vielleicht die Person, und deshalb, wenn niemand von einem bestehenden Ehehindernisse etwas weiß und so weiter, und so weiter, so soll der ›Blaue Drache‹ in den ›Fidelen Tapley‹ verwandelt werden. Der Titel ist meine eigene Erfindung, Sir; neu und vielsagend.«

Alles das war für Mr. Pecksniff eine solche Labsal, daß er die ganze Zeit über, mit zu Boden gesenkten Augen und abwechselnd seine Hände verkrampfend, dastand, als ob ein ganzes Schock von Strafurteilen gegen ihn verkündet worden wäre. Nicht nur seine ganze Gestalt schien gebrochen, seine Verstörtheit schien sich auch auf seine Kleider zu erstrecken; sie sahen jetzt plötzlich ganz schäbig aus: die Wäsche war gelb, sein Haar muffiger und glanzloser als sonst, sogar seine Stiefel hatten ein trübes, schuftiges Aussehen, als sei ihr Glanz mit dem ihres Herrn für immer verschwunden.

Er fühlte mehr, als er sah, daß der alte Mr. Chuzzlewit jetzt nach der Türe deutete. Er blickte auf, nahm seinen Hut vom Boden und sprach: »Mr. Chuzzlewit, Sie haben meine Gastfreundschaft genossen –«

»– und sie bezahlt«, war die Antwort.

»Ich danke Ihnen. Das erinnert mich«, sagte Mr. Pecksniff und zog sein Taschentuch heraus, »an Ihre alte vertraute Offenherzigkeit. Sie haben’s bezahlt. Ich wollte es eben selbst sagen, aber Sie haben mich auch hintergangen, Sir! Auch dafür danke ich Ihnen. Sie im Vollbesitz Ihrer Gesundheit und Ihrer Kräfte zu sehen ist für mich Entschädigung genug. Betrogen zu werden ist das Los des Sterblichen. Mein Herz ist immer noch vertrauensvoll, und ich danke Gott dafür. Ich bin lieber leichtgläubig und will betrogen werden als mißtrauisch sein und selbst betrügen.«

Dann verneigte er sich mit bekümmertem Lächeln und wischte sich die Augen.

»Es ist auch nicht einer gegenwärtig, Mr. Chuzzlewit«, fuhr er fort, »von dem ich nicht getäuscht worden wäre. Aber ich habe Ihnen allen sofort vergeben; es war meine Pflicht, und ich habe sie erfüllt. Ob es würdig von Ihnen war, meine Gastfreundschaft anzunehmen und in meinem Hause eine solche Komödie zu spielen, das, Sir, ist eine Frage, deren Beantwortung ich Ihrem eigenen Urteil überlassen will. Ihr Gewissen wird Sie nicht freisprechen können. Nein, nein. Man hat mich heute geschlagen, geschlagen mit einem Spazierstock, der, wie ich allen Grund zu haben glaube, mit Knoten versehen ist – und zwar auf den edelsten Teil des menschlichen Körpers: auf das Gehirn. Aber noch schwerere Schläge, Sir, wurden ohne Spazierstock nach jenem noch edleren Teil meines Körpers geführt – nach dem Herzen. Sie haben gesagt, Sir, ich sei materiell bankerott; ja, Sir, so ist es. Durch eine unglückselige Spekulation, die abermals mit Verrat verbunden war, sehe ich mich der Armut preisgegeben, und zwar zu einer Zeit, Sir, wo das Kind meines Herzens zur Witwe wurde und Schmach und Trauer in mein Haus eingezogen sind.«

Abermals wischte sich Mr. Pecksniff die Augen und schlug sich ein paarmal leicht auf die Brust, als antworte er den leisen Schlägen seines Gewissenshammers von innen und wie um zu sagen: nur Mut gefaßt, alter Freund da drinnen.

»Ich durchschaue das menschliche Herz, aber trotzdem vertraue ich ihm immer wieder, das ist meine Schwäche. Weiß ich denn nicht, Sir« – hier wurde seine Stimme ungemein kläglich und man bemerkte, daß er einen Blick nach Tom Pinch hinwarf – »weiß ich denn nicht, daß ich es nur meiner unglücklichen Lage verdanke, so behandelt zu werden? Sonst hätte ich wohl nie anhören müssen, was ich heute zu hören bekam. Ich weiß, Mr. Chuzzlewit, daß in der Stille und Einsamkeit der Nacht eine kleine zarte Stimme Ihnen in das Ohr raunen wird: ›Mr. Chuzzlewit, das war nicht wohlgetan!‹ – Denken Sie gütigst daran, Sir, wenn die Leidenschaft und die Einflüsse des Vorurteils von Ihnen gewichen sein werden – wenn ich mir einen so starken Ausdruck erlauben darf. Und wenn Sie je an Ihr dereinstiges stummes Grab denken, Sir – Sie müssen mich entschuldigen, daß ich nach dem Benehmen, zu dem Sie sich hinreißen ließen, immerhin gewisse Zweifel hege, ob Sie dessen überhaupt fähig sind –, aber, wenn Sie je an Ihr dereinstiges stummes Grab denken, Sir, so denken Sie dabei auch an mich! Wenn Sie sich Ihrem dereinstigen stummen Grabe näher fühlen, Sir, so denken Sie ebenfalls an mich! Und wenn Sie um eine Aufschrift für Ihr dereinstiges stummes Grab verlegen sind, Sir, so lassen Sie darauf setzen, daß ich – jawohl, mein wertgeschätzter Herr, daß ich, das demütige Individuum, das jetzt die Ehre hat, Ihnen Vorwürfe zu machen – Ihnen vergeben habe, daß ich Ihnen bereits vergeben habe, als die Kränkung noch frisch war und mein Herz noch blutete. Es mag bitter für Sie klingen, dies jetzt anhören zu müssen, aber Sie werden es erleben, daß Sie dereinst noch einen Trost darin finden werden. Mögen Sie einen Trost darin finden, sobald Sie ihn brauchen. – Guten Morgen.«

Mit diesen erhabenen Worten entfernte sich Mr. Pecksniff, jedoch der Effekt seines Abschiedes wurde sehr durch den Umstand beeinträchtigt, daß er unmittelbar darauf beinahe umgerannt wurde von einem außerordentlich erhitzten kleinen Männchen in Manchester-Kniehosen und mit einem sehr hohen Hut, das wie verrückt die Treppe heraufgerast kam und buchstäblich in Mr. Chuzzlewits Zimmer hereinstürzte.

»Ist keiner da, der ihn kennt?« rief das kleine Männchen. »Ist niemand da, der ihn kennt? Mein Gott, ist denn keiner da, der ihn kennt?«

Die Anwesenden blickten einander fragend an, aber niemand wußte, wer der kleine Mann mit dem hohen Hute war, der da, wie außer sich und so schnell wie möglich zum Zimmer herein und wieder hinaus lief, so daß sein Paar hellblaue Strümpfe wie ein ganzes halbes Dutzend aussah, und mit hoher Stimme fortwährend wiederholte: »Ist denn keiner da, der ihn kennt?«

»Wenn in Ihrem Gehirn net alles drunter und drüber geht, Mr. Sweedlepipe«, rief eine andere Stimme draußen, »so halten S‘ gfälligst den Mund, wenn ich bitten darf.«

Einen Augenblick später erschien Mrs. Gamp auf der Schwelle. Das mühsame Stufensteigen hatte sie ganz des Atems beraubt, und sie keuchte fürchterlich, ohne dabei jedoch zu vergessen, rastlos zu knicksen.

»Sie müssen dem Menschen seine Schwächen net übelnehmen«, erklärte sie und blickte Mr. Sweedlepipe mit Entrüstung an. »I hätt mir’s ja denken können, da ich ’n ja kenn, und das gscheiteste wär gwesen, er wär von der Brücken ins Wasser gfalln und ersoffen, ehe ich ’n herbracht hab. Eben erst vor einer Stund hat er dem Vatter von so einer liebenswürdigen Famülie, wie nur je eine drei Paar Zwilling auf die Welt bracht hat, beinah die Nasen abrasiert, Mr. Chuzzlewit. Und es war auch sicher gschegn, wenn der betreffende Herr sich net in ’n Spiegel gschaut hätt und dem Rasiermesser gschickt ausgwichen war. Ich versicher Ihna, Mr. Sweedlepipe, niemals hab i mir denkt, was dös für a großes Malöhr is, mit Ihna bekannt zu sein, wie grad eben jetzt. So, jetzt wissen S‘ es, wie Sie dran sin.«

»Ich bitte um Entschuldigung, meine Damen und Herren«, rief der kleine Barbier und nahm seinen Hut ab, »und auch Sie, Mrs. Gamp. Aber – aber –« er fing fast an zu weinen, »ist denn niemand da, der ihn kennt?« – In diesem Augenblick wankte ein Phantom in Stulpenstiefeln mit verbundenem Kopf herein und begann, wahrscheinlich in der Meinung, daß er schnurgeradeaus gehe, im Zimmer zu kreisen.

»Schauen Sie ihn nur an«, rief der kleine Barbier entzückt, »da ist er. Und in ein paar Tagen wird ihm die Binde abgenommen, und dann ist alles wieder gut. Er ist ebensowenig tot wie ich. Ganz lebendig und kräftig – nicht wahr, Bailey?«

»So – o – ziemlich, Poll«, versetzte der junge Mann.

»Schauen Sie nur her«, fuhr der kleine Barbier fort, in einem Atem lachend und weinend. »Wenn ich ihn stütze, so fehlt ihm fast gar nichts mehr. So, so ist’s recht. Nur ein bißchen erschüttert und schwindlig ist er, nicht wahr, Bailey?«

»Zie – ziemlich schwindlig. Poll – ziemlich schwindlig«, bestätigte Master Bailey »Was, und Sie, liabe Sarah, sin a do?«

»Nein, was ist das nur für ein famoser Junge!« rief der weichherzige Poll und schluchzte vor Seligkeit. »Noch nie hab ich einen solchen Burschen gesehen! Lauter Witz und immer gut aufgelegt. Er soll in mein Geschäft eintreten – es ist ausgemacht bereits –, und wir wollen ›Sweedlepipe & Bailey‹ auf das Schild drucken lassen. Er bekommt die Vogelabteilung, und ich besorge das Rasieren. Sobald er wieder ganz wohl ist, will ich ihm alle Vögel übergeben – den kleinen Blutfinken im Laden und alles. Nein, was das für ein prächtiger Bursche ist! Ich bitte um Verzeihung, meine Damen und Herren, aber ich dachte, es könne jemand hier sein, der ihn kennt.«

Nicht ohne Eifersucht und Grimm hatte Mrs. Gamp bemerkt, daß Mr. Sweedlepipe und sein junger Freund einen sehr günstigen Eindruck bei den Anwesenden gemacht hatten. Sie geriet also sozusagen in den Hintergrund. Da galt es sich rasch wieder hervordrängen.

»Ja, ja, die Harris, lieber Mr. Chuzzlewit«, begann sie aus dem Stegreif, »die kennt ihn auch. Sie hat a ganz einzigs liabs kleins Kind – wenn sie auch net will, daß es rum kommt – aus ihrer eigenen Familie von der Mutterseiten her in einer Spiritusflaschn aufbewahrt. Und grad dös liabe Kind hat sie a mal sehgn müssen auf der Kirchweih zsamm mit an preußischen Zwerg und an lebendigem Skelett in aner Schaubuden. Da kann mer sich so ihre Gefühle denken, wie die Drehorgel gspielt hat und man ihr das Kind ihrer eignen liaben Schwester zeigt hat, was sie nach dem Bild auf der Außenseiten und auf die Plakaten gar net erwartet hat, denn es war ganz anders abgmalt, als im lebendigen Zustand, und viel größer, und grad wie’s auf der Harfen spielt, und dös hat das Kind, wie sie ganz genau gwußt hat, niemals nicht können – nein, niemals nicht, solange es in diesem Jammertal geatmet hat. – O mein, die Harris hat mich viele Jahre kennt und kann Ihna Auskunft geben, daß die verwitwete Dame, von der Sie ja auch wissen, die Mrs. Jonas, nix Bessers tun kann, als mich zu ihrer Wärterin annehmen. Und hoffentlich wird sie’s auch tun – mit Erlaubnis der guten liaben Herrschaften natürlich –, die i da vor mir siech.«

»Ach so«, rief Mr. Chuzzlewit, »das ist also Ihr Anliegen! – Wurde denn die gute Frau für ihre Mühe, die wir verursachten, nicht bezahlt, Mr. Tapley?«

»Natürlich hab ich sie bezahlt«, erwiderte Mark, »und zwar sehr reichlich.«

»Ja, ja, dös is schon alles wahr«, sagte Mrs. Gamp, »und i dank auch noch recht schön für alls.«

»Und damit wollen wir auch unsere Bekanntschaft schließen, Mrs. Gamp«, unterbrach sie Mr. Chuzzlewit, »und Sie, Mr. Sweedlepipe – ist das nicht Ihr Name?«

»Ja, so heiße ich, Sir«, versetzte Poll und nahm entzückt einige klingende Münzen entgegen, die ihm der alte Herr in die Hand gleiten ließ.

»Also, Mr. Sweedlepipe, sorgen Sie nach Kräften für Ihre Mietsfrau und erteilen Sie ihr hin und wieder einen guten Rat. Deuten Sie ihr zum Beispiel an«, setzte der alte Herr hinzu und blickte die erstaunte Mrs. Gamp ernst an, »daß es zweckmäßiger wäre, wenn sie ein bißchen weniger zur Schnapsflasche griffe und ein bißchen mehr Menschlichkeit bewiese, ein bißchen weniger Rücksicht für sich selbst und ein bißchen mehr für ihre Patienten; auch eine kleine Dosis von Ehrlichkeit würde ziemlich am Platze sein. Und wenn Mrs. Gamp einmal in Ungelegenheiten kommt, Mr. Sweedlepipe, so wäre es am besten für sie zu einer Zeit, wo ich nicht gerade im Gerichtssprengel wohne, um als Zeuge über ihren Charakter einvernommen werden zu können. Haben Sie vielleicht die Güte, ihr dies gelegentlich mit Nachdruck beizubringen.«

Mrs. Gamp schlug die Hände zusammen und verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße sichtbar war. Dann stupste sie sich den Hut zurück, um ihre erhitzte Stirn zu kühlen, und murmelte dabei entsetzt vor sich hin:

»Weniger Schnaps! – Ich, die Sarah Gamp? – Die Flasche steht doch nur auf ‚m Kamin, damit i meine Lippen dran setzen kann, wann i’s grad notwendig hab.«

Dann fiel sie in eine ihrer dramatischen Ohnmachten und ließ sich von Mr. Sweedlepipe in bemitleidenswertem Zustande hinausführen. Der arme Raseur hatte alle Hände voll zu tun, um zwischen seinen beiden Patienten, der »ohnmächtigen« Mrs. Gamp und dem taumelnden Bailey, seinen Weg zur Türe hinauszufinden.

Lächelnd blickte ihnen der alte Herr nach, bis endlich seine Augen auf Tom Pinchs Schwester ruhen blieben. Dann leuchteten sie freudig auf.

»Wir wollen hier alle zu Mittag essen«, sagte er, »und da du mit Mary genug zu plaudern haben wirst, Martin, so könnt ihr beide für uns bis Nachmittag mit Mr. und Mrs. Tapley den Haushalt hier besorgen. Inzwischen will ich mir Ihre Wohnung mal ansehen, Tom.«

Mr. Pinch war ganz entzückt. Ruth ebenfalls. Sie wollte natürlich mitgehen.

»Nein, ich danke Ihnen, meine Liebste«, wehrte Mr. Chuzzlewit ab. »Ich fürchte, Tom wird mit mir vorher in Geschäften noch einige Wege machen müssen. Was, wenn Sie vorausgingen, meine Liebste?«

Auch dazu war die hübsche kleine Ruth mit Freuden bereit.

»Aber nicht allein! Vielleicht wird Mr. Westlock Sie begleiten?«

Natürlich wollte er das. Nein, wie kindisch so alte Leute doch sind!

»Sie sind doch nicht etwa anderweitig vergeben?« fragte der alte Herr.

Vergeben! Als ob man sich in einem solche Falle anderweitig vergeben könnte!

Dann entfernte sich das Pärchen, und einige Minuten später folgten ihnen Tom und Mr. Chuzzlewit. Für einen so ernsten Herrn wie den alten Martin war das Lächeln auf seinem Gesicht ganz auffällig verschmitzt.

43. Kapitel


43. Kapitel

Betrifft das Glück mehrerer Personen. Mr. Pecksniff zeigt sich in der Fülle seiner Macht und handhabt sie mit ebensoviel Ritterlichkeit wie Großmut

An dem Abend des Unwetters saß Mrs. Lupin, die Wirtin zum Blauen Drachen, allein in ihrem Schenkstübchen. Ihre einsame Lage oder das schlechte Wetter, vielleicht auch beides zusammen, stimmte sie gedankenvoll, um nicht zu sagen, wehmütig. Das Kinn auf die Hand gestützt, blickte sie durch ein niedriges Hinterfenster hinaus, das selbst am hellen Mittag, durch schattiges Weinlaub verdunkelt, kein Licht hereinließ, schüttelte von Zeit zu Zeit den Kopf und jammerte: »O mein Gott! Mein Gott! Mein Gott!«

Sogar in dem sonst so gemütlichen Drachenschenkstübchen war es jetzt höchst melancholisch. Die reichen Korn- und Weizenfelder, die grünen wellenförmigen Wiesen mit ihren glitzernden Bächen, ihren vielen Heckenreihen und dem schönen Baumbestand, alles war schwarz und düster. Von den kleinen Fensterscheiben des Rückgebäudes an bis zum fernen Horizont, wo der Donner längs der Berge hinzurollen schien. Schwer schlug der Regen die zarten Zweige des Jasmins und Weinstockes nieder, sie in seiner Wut zerstampfend, und wenn der Blitz flammte, konnte man die betränten Blätter sich schaudernd gegen das Fenster drücken sehen, als flehten sie um Schutz vor dem nächtlichen Ungewitter.

Zum Zeichen ihres hohen Respektes vor dem Blitz hatte Mrs. Lupin die brennende Kerze auf den Kamin gestellt. Ihr Strickkörbchen stand unbeachtet neben ihr auf dem Seitentischchen, ihr Abendessen auf einem runden Tisch nicht weit davon war noch gänzlich unberührt, und die Messer hatte sie aus Furcht, sie könnten den Blitz anziehen, versteckt. So hatte sie bereits geraume Zeit dagesessen, das Kinn in die Hand gestützt und zuweilen die Worte ausstoßend: O mein Gott! Mein Gott! Mein Gott!

Sie war soeben im Begriff, diesen Stoßseufzer noch einmal zu wiederholen, als die Haustüre, die des Regens wegen geschlossen worden, sich geräuschvoll in ihren Angeln drehte und einen Reisenden hereinließ, der gleich darauf auf die Halbtüre des Schenktürchens zukam und mürrisch ausrief:

»Eine halbe Maß vom besten alten Bier, das Sie haben!«

Der Mann hatte allerdings Ursache, mürrisch zu sein, denn selbst wenn er den ganzen Tag über unter einem Wasserfall zugebracht haben würde, hätte er unmöglich durchnäßter sein können. Bis an die Augen in einen groben blauen Matrosenmantel eingehüllt, trug er einen Hut aus Wachstaffet, von dessen breitem Rand ihm die Regentropfen auf Brust, Rücken und Schulter niederträufelten. Er hatte den Hut tief ins Gesicht gezogen und zum Schutz gegen das Unwetter den Kragen aufgeschlagen, so daß man nur sein Kinn sehen konnte, und selbst das bedeckte er, als die Wirtin ihn ansah, mit dem nassen Ärmel seines zottigen Mantels. Dennoch erriet sie nach dem ganzen Eindruck, den sie von ihm empfing, sofort einen gutmütigen Menschen in ihm.

»Eine schlimme Nacht heute«, sagte sie freundlich.

Der Fremde schüttelte sich wie ein Neufundländer und brummte, es sei allerdings etwas böses Wetter.

»Es ist Feuer in der Küche«, sagte Mrs. Lupin, »und auch eine recht fröhliche Gesellschaft dort. Was meinen Sie, wenn Sie sich dort trocknen wollten?«

»Nein, ich danke«, lehnte der Fremde ab und warf einen Blick nach der Richtung, wo die Küche lag, und offenbar schien er zu wissen, wie das Haus gebaut war.

»Sie können sich noch den Tod holen bei so einem Wetter«, bemerkte die Wirtin.

»Ach was, ich komm nicht so leicht um«, erwiderte der Fremde, »sonst wäre ich schon lang verdorben und gestorben. Prosit, Frau Wirtin!«

Mrs. Lupin dankte, aber schon im Begriff, die Kanne an den Mund zu setzen, besann sich der Mann eines Besseren und stellte sie wieder hin. Dann lehnte er sich zurück und sah sich unbeholfen um, wie es eben nur einem Menschen möglich ist, der, wie er, so stark eingemummt war und den Hut so tief ins Gesicht gedrückt hatte.

»Wie heißt dieses Wirtshaus?« fragte er. »Heißt es nicht der ›Drachen‹?«

»Jawohl, es ist der ›Drachen‹«, antwortete Mrs. Lupin freundlich.

»So! Dann haben Sie ja eine Art Verwandten von mir im Hause. Einen jungen Menschen namens Tapley. Na also, Mark, mein Junge! Habe ich dich endlich erwischt!«

Diese Worte berührten eine zarte Saite in Mrs. Lupins Herzen, sie drehte sich um, putzte die Kerze auf dem Kamin und sagte, mit dem Rücken gegen den Fremden gewendet:

»Niemand wäre mir im ›Drachen‹ wohl willkommener, Sir, als jemand, der mir eine Nachricht von Mark bringen könnte. Es sind jetzt schon viele Monate her, seit er dieses Haus und England verlassen hat. Ob er noch lebt oder tot ist, der arme Junge, das weiß nur Gott im Himmel.«

Sie schüttelte den Kopf, und ihre Stimme zitterte. Mit ihrer Hand mußte wohl das gleiche der Fall gewesen sein, wenigstens brauchte sie auffallend lange, bis die Kerze geschneuzt war.

»Wohin ist er denn gegangen, Madame?« fragte der Reisende ein wenig besänftigt.

»Nach Amerika«, entgegnete Mrs. Lupin mit zunehmender Betrübnis. »Er hat so ein gutes braves Herz gehabt, und wer weiß, ob er nicht jetzt vielleicht im Gefängnis schmachtet, zum Tode verurteilt, weil er möglicherweise mit irgendeinem armen Nigger Mitleid gehabt und ihm zur Flucht verholfen hat. Nein, wie konnte der Mensch nur nach Amerika gehen! Warum ist er nicht in eines von den Ländern gegangen, die doch nicht ganz so barbarisch sind und wo die Wilden einander ehrlich auffressen und jeder die gleiche Chance hat!«

Ganz überwältigt von ihrem Schmerz, schluchzte Mrs. Lupin laut auf und war eben im Begriff, sich abseits in einen Lehnstuhl zu setzen, um ihrem Kummer freien Lauf zu lassen, als der Fremde plötzlich auf sie zusprang und sie umarmte.

Im Augenblick erkannte sie ihn und stieß einen Freudenschrei aus.

»Ja, ich bin’s!« rief Mark Tapley. »Noch einen Kuß! Noch einen! Noch zwanzig! Daß Sie mich nicht in diesem Hut und Mantel erkannt haben!? Ich habe gedacht, Sie würden mich sofort in jeder Verkleidung erkennen – noch zehn!«

»Aber natürlich hätte ich Sie erkannt, wenn ich nur ein bißchen von Ihnen hätte sehen können, aber das war unmöglich, und Sie haben so unfreundlich gesprochen! Ich hätte wirklich nicht geglaubt, daß Sie mit mir so unfreundlich sprechen könnten, Mark! Und noch dazu beim ersten Wiedersehen!«

»Noch ein Dutzend!« rief Mr. Tapley. »Nein, wie jung und hübsch Sie aussehen! Noch ein halbes Dutzend! – Das letzte halbe Dutzend war nicht gut gezählt und muß wiederholt werden. Gott im Himmel, was das für eine Lust ist, Sie anzuschauen – noch ein paar, weil man ja hier sowieso mit Fidelität keine Ehre einlegen kann.«

Wenn Mr. Tapley in seiner einfachen Additionsrechnung innehielt, so geschah es nicht, weil er sich satt, sondern weil er sich atemlos geküßt hatte. Die Zwischenpause erinnerte ihn jetzt an andere Pflichten.

»Mr. Martin Chuzzlewit ist draußen«, sagte er, »ich habe ihn unter dem Wagenschuppen warten lassen, um erst mal nachzusehen, ob jemand da ist; wir möchten nämlich nicht, daß man uns heute abend hier sieht, bevor wir nicht von Ihnen erfahren haben, wie die Sachen stehen und was wir wohl am besten tun sollen.«

»Es ist keine Seele im ganzen Hause außer den Gästen in der Küche«, versicherte die Wirtin. »Allerdings, wenn die wüßten, daß Sie zurück sind, Mark, so würden sie ein Freudenfeuer auf der Straße anzünden, so spät es auch ist.«

»Sie dürfen’s um Gottes willen nicht erfahren, liebste Mrs. Lupin«, rief Mark. »Lassen Sie das Haus schließen und ein ordentliches Feuer anmachen, und wenn alles fertig ist, stellen Sie ein Licht ins Fenster zum Zeichen, daß wir kommen können. So, und noch einen! Ach, wie sehne ich mich, von den alten Freunden zu hören! Sie werden mir alles genau erzählen, nicht wahr? Von Mr. Pinch, von dem Fleischerhund, von dem Dackel gegenüber, von dem Wagnermeister, kurz von allem und jedem. Als ich heute abend die Kirche zum erstenmal wieder zu Gesicht bekam, glaubte ich, der Turm falle mir um den Hals; – meiner Seel. Noch einen, nicht? Aber einen ordentlichen.«

»Sie haben sich aber jetzt schon mehr als nötig ist genommen«, lachte Mrs. Lupin. »Ach, gehen Sie mir mit Ihren ausländischen Manieren.«

»Gott behüte, das ist doch nicht ausländisch«, protestierte Mark. »Nein, einheimisch wie die Austern. Noch einen, weil’s so einheimisch ist – und als Zeichen der Achtung vor England. Und das kommt weiter nicht auf die Rechnung, denn ich küsse nicht Sie, sondern als Patriot mein Vaterland.«

Es wäre sehr unbillig, den patriotischen Demonstrationen, die Mark Tapley dieser Erklärung folgen ließ, Lauheit oder Temperamentlosigkeit nachzusagen. Nachdem er seinem Nationalgefühl Luft gemacht, eilte er fort, um Martin zu holen, während Mrs. Lupin in größter Aufregung alles zu ihrem Empfang vorbereitete.

Bald darauf kamen die Gäste herausgestolpert und beteuerten, die Uhr im Drachen müsse mindestens um eine halbe Stunde vorausgehen, und wahrscheinlich habe der Donner die Wirtin von Sinnen gebracht. So ungeduldig, durchnäßt und müde Mark und Martin auch waren, so empfanden sie doch eine maßlose Freude, als sie auf dem Wege zum Wirtshaus alle die wohlbekannten Gesichter an sich vorbeigehen sahen, und blickten ihnen entzückt nach, wie sie aus dem Hause kamen und dicht an ihnen vorübermarschierten.

»Das ist der alte Schneider, Mark«, flüsterte Martin.

»Ja, da geht er, meiner Seel. Ein alter Ziegenbock, wie’s bald nicht wieder einen gibt, Sir. Seine Gestalt hat sich noch ein wenig vervollkommnet; mir scheint, man könnte ihm jetzt, wenn er so daherkommt, bequem einen Schubkarren zwischen den Beinen durchrollen. Und da kommt jetzt Sam heraus, Sir.«

»Ja, ja, ich sehe«, sagte Martin. »Sam, der Stallknecht. Ich möchte ganz gern wissen, ob Pecksniffs Gaul noch am Leben ist.«

»Daran ist doch kein Zweifel«, versetzte Mark. »Das ist überhaupt ein merkwürdiges Tier, Sir. Wird sich noch eine endlose Reihe von Jahren halten und zuletzt noch in der Zeitung stehen unter der Überschrift: ›Seltenes Beispiel von Lebenszähigkeit bei einem Vierfüßler.‹ Der Gaul war doch sein Lebtag eigentlich nicht lebendig. – Sehen Sie mal, da kommt der Küster, Sir, beschwipst wie gewöhnlich.«

»Ja, ich sehe«, sagte Martin lachend. »Aber Donnerwetter, wie naß Sie sind, Mark.«

»Bin ich’s? Und wie glauben Sie wohl, steht’s mit Ihnen, Sir?«

»Ach, bei mir ist’s nicht halb so schlimm«, sagte Martin beinahe ärgerlich. »Ich habe Ihnen doch gleich gesagt, Sie sollten sich nicht immer an der Wetterseite halten, Mark, sondern bisweilen mit mir abwechseln. Von Anbeginn des Marsches an haben Sie mir sozusagen den Regen abgefangen.«

»Sie glauben gar nicht, was es mir für Freude macht, Sir«, fing Mark nach einer kleinen Pause an, »– wenn ich so frei sein darf, geradeheraus zu sprechen, was es mir für eine Freude macht, Sie so ungemein rücksichtsvoll und gütig reden zu hören; das heißt, ich meine nicht, daß es mir gegenüber irgendwie angebracht wäre, aber ich habe es an Ihnen bemerkt, seit der Zeit, wo mich das Fieber in Eden beinahe unter die Erde gebracht hat.«

»Ach, Mark«, seufzte Martin, »je weniger wir davon reden, desto besser ist es wohl. – Sagen Sie übrigens, sehen Sie nicht ein Licht dort?«

»Ja, das ist das Licht«, rief Mark. »Gott segne sie, wie rasch sie das alles wieder zuwege gebracht hat. Also jetzt hinein, Sir! Guten Wein, gute Betten und famose Verpflegung für Mensch und Tier.«

Das Kaminfeuer in der Küche brannte hell und rot, der Tisch war gedeckt, der Kessel brodelte. Pantoffel und Stiefelzieher lagen bereit, Schnitten einer Hammelkeule schmorten auf dem Bratrost, und ein halbes Dutzend Eier zischten in der Pfanne. Eine dickhalsige Kirschgeistflasche winkte neben einem schäumenden Bierkrug auf dem Tisch, und prächtige Schinken baumelten von den Balken herab, so daß man nur den Mund hätte zu öffnen brauchen, um sich irgendeine besondere Delikatesse zu Gemüte zu führen. Aus Rücksicht für ihre Gäste hatte Mrs. Lupin sogar die Köchin, die Hohepriesterin des Tempels, zu Bette geschickt und bereitete das Mahl mit eigenen Händen.

Sie war unwiderstehlich; sogar ein Steinbild hätte ihr um den Hals fallen müssen. Martin umarmte sie auf der Stelle.

Mr. Tapley folgte seinem Beispiel, als sei ihm diese überraschende Idee nie zuvor eingefallen, mit soviel Würde wie ein neugebackener Bürgermeister.

»Meiner Seel, ich hätte mir nie gedacht«, sagte Mrs. Lupin errötend und rückte herzlich lachend ihre Haube zurecht, »sooft ich auch immer gesagt habe, Mr. Pecksniffs junge Gentlemen seien das Leben und die Seele des ›Drachen‹ selbst und ohne sie sei das Leben überhaupt langweilig – aber wahrhaftig, ich hätte nie gedacht, daß einer von ihnen sich je solche Freiheiten herausnehmen würde, wie Sie, Mr. Martin – noch weniger aber, daß ich nicht einmal böse darüber sein könnte, sondern mich von ganzem Herzen freuen würde, die erste zu sein, die Sie nach Ihrer Heimkehr von Amerika bewillkommt und noch dazu Mark Tapley, Ihren – – –«

»Meinen Freund, Mrs. Lupin!« fiel ihr Martin hastig ins Wort.

»Ihren Freund«, wiederholte die Wirtin, sichtlich erfreut über diese Auszeichnung, dabei aber Mr. Tapley mit aufgehobener Gabel ermahnend, sich in respektvoller Entfernung zu halten. »Wirklich, ich hätte mir das nie träumen lassen – noch weniger aber, daß ich je Gelegenheit haben würde, von Veränderungen zu berichten, wenn das Nachtessen vorüber ist, wie Sie sie wohl kaum glauben werden.«

»Gott im Himmel«, rief Martin und verfärbte sich. »Was für Veränderungen?«

»Ach, sie ist ganz wohl und wohnt jetzt bei Mr. Pecksniff. Um ihretwillen brauchen Sie keine Unruhe zu haben. Sie ist ganz so, wie Sie sich nur wünschen können. – Wozu ein Geheimnis daraus machen, was?« sagte Mrs. Lupin. »Wie Sie sehen, weiß ich doch alles.«

»Meine liebe gute Frau«, rief Martin, »Sie sind wahrhaftig ganz die Person, die darum wissen darf. Ich freue mich von Herzen, daß Sie in das Geheimnis eingeweiht sind. Aber was für Veränderungen meinen Sie? Ist vielleicht ein Todesfall eingetreten?«

»Nein, nein«, versicherte die Wirtin. »So schlimm ist’s nicht. Aber ich erkläre Ihnen, ich werde kein Wort weiter sprechen, bevor Sie nicht Ihr Nachtessen zu sich genommen haben. Nein, ich gebe nicht einmal eine Antwort mehr, und wenn Sie fünfzig Fragen an mich stellten.«

Sie sprach mit solcher Entschiedenheit, daß offenbar nichts anderes übrigblieb, als das Nachtessen so bald wie möglich zu beseitigen, und dazu brauchten sich die beiden jungen Männer keinen besonders großen Zwang anzutun, da sie viele Meilen weit gewandert waren und seit Mittag nichts genossen hatten.

Trotzdem dauerte es länger, als sie anfangs erwartet hatten, denn sie glaubten wohl sechsmal bereits zu Ende gekommen zu sein, aber jedesmal bewies Mrs. Lupin triumphierend die Irrigkeit einer derartigen Annahme. Schließlich aber, wie es eben im Lauf der Zeit und der Natur liegt, war das Abendessen doch vorüber. Die beiden streckten die bepantoffelten Füße gegen die Stangen am Küchenherd, was außerordentlich behaglich war, da es inzwischen rauh und kalt geworden, und schickten sich in aller Behaglichkeit an, auf die Neuigkeiten zu hören, zu deren Erzählung Mrs. Lupin denn auch, neckische Grübchen im Kinn und das Gesicht vom Lichte des Feuers, das sich auch in ihren Augen und auf ihrem rabenschwarzen Haar widerspiegelte, bestrahlt, sogleich anschickte.

Mit den Ausrufen größter Überraschung wurde von ihren Zuhörern nicht nur die Geschichte von der Trennung zwischen Mr. Pecksniff und seinen Töchtern, sondern auch ganz besonders die zwischen Mr. Pinch und ihm aufgenommen. Doch das war noch nichts, verglichen mit dem Ausbruch von Entrüstung von seiten Martins, als er erfuhr, es sei allgemein bekannt, daß Mr. Pecksniff vollkommen Gewalt über den Willen des alten Mr. Chuzzlewit gewonnen habe und Mary eine besonders hohe Ehre zudenke. Kaum hatte er diese Kunde vernommen, da schleuderte er sofort seine Pantoffeln von sich und begann seine nassen Stiefel wieder anzuziehen – natürlich in der Absicht, sofort irgendwohin zu gehen und irgend jemandem etwas anzutun –, ein Beginnen, das bekanntlich als erstes Sicherheitsventil eines hitzigen Temperaments funktioniert.

»Er?!« rief Martin. »Dieser glattzüngige Schurke! Er soll sich unterstehen! Geben Sie mir mal den anderen Stiefel her, Mark.«

»Wohin wollen Sie denn eigentlich, Sir?« fragte Mr. Tapley, die Sohle des Stiefels am Feuer trocknend und sie so kaltblütig betrachtend, als wäre sie ein Stückchen Toastschnitte.

»Wohin?« wiederholte Martin. »Sie werden doch nicht annehmen, daß ich hierbleiben werde?«

Mark Tapley, in seiner unverwüstlichen Seelenruhe, gab zu, daß er allerdings dieses Glaubens sei.

»Wirklich?« versetzte Martin wütend. »Da bin ich Ihnen aber recht sehr verbunden für Ihre gute Meinung. Wofür halten Sie mich eigentlich?«

»Ich halte Sie für das, was Sie in Wirklichkeit sind, Sir«, sagte Mark gelassen, »und ich bin daher vollkommen durchdrungen, daß alles, was Sie tun, recht und verständig sein wird. Hier haben Sie den Stiefel, Sir.« – Martin warf ihm einen ungeduldigen Blick zu, nahm aber den Stiefel nicht, sondern ging rasch mit einem bestiefelten und einem bestrumpften Fuß ein paarmal in der Küche auf und ab. Seines Vorsatzes aus Eden her gedenk, hatte er schon so manchen Sieg über sich selbst gewonnen, wenn Mark dabei im Spiele war, und er nahm sich auch jetzt vor, wieder zu siegen. Er ergriff daher den Stiefelknecht, stützte sich mit einer Hand auf Marks Schulter, zog den Stiefel wieder aus, die Pantoffeln wieder an und setzte sich. Nur die Hände tief in die Taschen zu stecken und dabei zu murmeln, konnte er sich nicht verwehren: »Nein, dieser Pecksniff, dieser Schuft, meiner Seel – was man da noch alles zu hören bekommen wird« usw.

Auch konnte er sich’s nicht versagen, mit drohender Miene die Faust gegen den Kamin zu schütteln, aber der Anfall ging bald vorüber, und schließlich ließ er Mrs. Lupin, wenn auch nicht gefaßt, so doch jedenfalls ohne sie zu unterbrechen, weiter berichten.

»Was endlich Mr. Pecksniff selbst betrifft«, schloß die Wirtin ihre Erzählung, strich sich mit beiden Händen über ihr Kleid und nickte mehrmals mit dem Kopf dazu, »so weiß ich wirklich nicht, was ich sagen soll. Jemand muß seine Seele vergiftet oder auf sonst irgendeine unerhörte Weise ihn verhext haben. Ich kann’s mir gar nicht erklären, daß ein Herr, der immer so edel spricht, aus freien Stücken hergeht und schweres Unrecht begeht. Sehen Sie mal zum Beispiel Mr. Pinch. Wenn es je einen lieben, guten, ehrenhaften Menschen auf der Welt gegeben hat, so war das Mr. Pinch. Aber was wissen wir; vielleicht war der alte Mr. Chuzzlewit schuld an dem Streit zwischen ihm und Mr. Pecksniff. Genaues können eben nur die Beteiligten wissen. Mr. Pinch ist bei aller Sanftmut seines Herzens so stolz, daß man ihn gar nicht fragen darf. Und als er fortging und höchst betrübt aussah über sein Scheiden, suchte er nicht einmal mir gegenüber sich als unschuldig bei der Geschichte hinzustellen.«

»Der arme alte Tom«, klagte Martin mit einem Seufzer, der fast wie Reue klang.

»Es ist nur ein Trost«, fing die Wirtin wieder an, »daß er jetzt seine Schwester bei sich hat und es ihm gutgeht. Erst gestern schickte er mir per Post eine –« sie wurde plötzlich rot bis über die Ohren – »eine Kleinigkeit zurück, die ich so frei war, ihm beim Abschied als Darlehen heimlich in die Tasche zu stecken. Er schrieb dabei unter vielen Danksagungen, er habe jetzt eine gute Anstellung und brauche das Geld nicht. Es war noch dieselbe Banknote; er hatte sie nicht einmal gewechselt. Ich hätte nie geglaubt, daß es einem so wenig Freude machen kann, eine Banknote in seine Tasche zurückkehren zu sehen, wie es diesmal bei mir der Fall war.«

»Wacker gesprochen, brav!« rief Martin. »Nicht wahr, Mark?«

»Sie kann überhaupt kein Wort sagen, das nicht diese Eigenschaft besäße«, stimmte Mr. Tapley eifrig bei. »Das gehört ebensogut zum ›Drachen‹ wie die Schankgerechtigkeit. Und jetzt, wo wir wieder einen kühlen Kopf haben, sagen Sie, was gedenken Sie also jetzt zu tun, Sir? Wenn Sie nicht zu stolz sind und sich entschließen könnten, das auszuführen, was Sie mir auf dem Weg hierher gesagt haben, so wäre es wohl das gescheiteste. Wenn Sie Ihrem Großvater gegenüber unrecht gehabt haben, und das – mit Verlaub zu sagen – scheint mir allerdings der Fall zu sein, dann, Sir, fassen Sie sich ein Herz und gehen Sie zu ihm und sprechen Sie frei von der Leber weg. Spreizen Sie sich nicht lange, er ist ein gutes Teil älter als Sie, und wenn er ein bißchen hitzig war, so waren Sie’s schließlich auch. Geben Sie nach, Sir, geben Sie nach!«

Mr. Tapleys Beredsamkeit verfehlte nicht ihre Wirkung auf Martin, obgleich dieser immer noch zögerte und allerlei Gründe aufs Tapet brachte.

»Das ist ja alles recht gut und schön«, meinte er, »und es handelt sich auch gar nicht darum, sich vor ihm zu demütigen. In diesem Falle würde ich mich keinen Augenblick besinnen, aber Sie müssen einsehen, daß ich, wo er jetzt ganz unter der Gewalt dieses Heuchlers steht, wie ich höre, und gar keinen eigenen Willen mehr hat, nicht ihm, sondern Pecksniff das Opfer bringe. Wenn ich dann mit Verachtung zurückgewiesen werde«, fuhr Martin, schon bei dem Gedanken blutrot werdend, fort, »so geht das nicht von ihm aus – das Blut steigt mir zu Kopf, wenn ich nur daran denke –, sondern von Pecksniff – von Pecksniff, Mark!«

»Gut, aber wir wissen ja im voraus«, hielt ihm Mr. Tapley politisch entgegen, »daß Pecksniff ein Vagabund, ein Schurke und ein Heuchler ist.«

»Ein ganz heilloser Schurke«, bekräftigte Martin.

»Der heilloseste Schurke unter der Sonne! Wir wissen dies ganz genau, Sir. Was ist das also weiter für eine Schande, wenn Pecksniff einem etwas tut oder nicht. Hole der Teufel den Kerl überhaupt«, rief Mr. Tapley im Überschwang seiner Beredsamkeit. »Wer ist er eigentlich? Nehmen wir mal wirklich den Fall, er erlaubte sich irgendeine Frechheit. Gut, so sagen wir ihm unsere Meinung auf gut englisch. – Pecksniff!!« wiederholte er mit unaussprechlicher Verachtung, »was ist Pecksniff, wer ist Pecksniff, wo ist Pecksniff, daß man seinetwegen soviel Rücksichten zu nehmen brauchte? Wir denken doch nicht bloß an uns« – er legte einen besonderen Nachdruck auf das letzte Wort und sah dabei Martin fest in die Augen – »wir tun es doch auch für das liebe gnädige Fräulein, das auch ihr Teil Leiden getragen hat. Und wenn wir noch so wenig Aussicht haben, der Pecksniff da sollte uns nicht im Wege stehen, dächte ich. Ich habe mein Lebtag noch von keinem Parlamentsakt gehört, zu dem man diesen Kerl zu Rate gezogen hätte. – Pecksniff! Lächerlich! Nicht einmal anschauen möchte ich den Halunken – ihn nicht einmal anhören. Ich würde es mir aus dem Gedächtnis reißen, daß er überhaupt auf der Welt ist. Ich kratzte meine Schuhe vor seiner Tür ab und ginge meinetwegen in sein Haus hinein, aber weiter würde ich mich zu nichts herablassen.« Mrs. Lupins Erstaunen über diesen plötzlich so leidenschaftlichen Erguß Marks war nicht gering. Auch Martin blickte eine Weile gedankenvoll in das Feuer und sagte dann:

»Sie haben vollständig recht, Mark. Soll es nun gut oder böse ausfallen – es muß geschehen; ich werde es tun.«

»Nur noch ein Wort, Sir«, fiel ihm Mark in die Rede. »Nehmen Sie bloß insoweit an, daß er überhaupt auf der Welt ist, als daß Sie ihm keine Handhabe gegen sich geben. Unternehmen Sie keinen geheimen Schritt, den er berichten könnte, bevor Sie hingehen. Sie dürfen morgen früh nicht einmal Miss Mary vorher sehen wollen. Überlassen Sie das Arrangement diesbezüglich unserer braven Freundin hier« – Mr. Tapley blinzelte der Wirtin zu – »lassen Sie sie vorbereiten und einen schönen Gruß von Ihnen bestellen. Mrs. Lupin weiß schon, wie sie’s gut zu machen hat.«

– Die Wirtin lachte und nickte. –

»Und dann gehen Sie frank und frei hin, wie sich’s für einen Gentleman geziemt. Ich habe nichts heimlich unternehmen wollen, sagen Sie; ich bin vorher nicht ums Haus geschlichen, sondern direkt hineingegangen. Verzeihen Sie mir, ich bitte Sie um Verzeihung, und Gott segne Sie.«

Martin lächelte zwar, fühlte aber doch, daß der Rat gut war, und beschloß, danach zu handeln. Nachdem sie sodann noch von Mrs. Lupin erfahren hatten, daß Pecksniff bereits von der großen Zeremonie der Grundsteinlegung zurückgekehrt sei, bei der er soviel Ehre eingelegt, besprachen sie noch weiter, wie die Sache eingeleitet werden sollte, und gingen hierauf in gespannter Erwartung der Dinge, die sich am nächsten Tage abspielen sollten, zu Bett.

Wie verabredet, begab sich am Morgen gleich nach dem Frühstück Mr. Tapley nach Mr. Pecksniffs Wohnung, um einen Brief von Martin zu bestellen, in dem dieser seinen Großvater bat, ihn für ein paar Minuten besuchen zu dürfen. Mit einem Gesicht, so unbeweglich, daß nicht einmal der geübteste Physiognom hätte entziffern können, an was er denke oder ob er überhaupt an etwas denke, klopfte er ein paar Minuten später unverfroren an Mr. Pecksniffs Tür an.

Einem Menschen von seiner Beobachtungsgabe konnte es nicht lange verborgen bleiben, daß gleich darauf Mr. Pecksniff an einer Scheibe des Besuchszimmers seine Nasenspitze breitdrückte, um aus einer Ecke heraus zu entdecken, wer an die Tür geklopft habe. Er beschloß daher sofort, dieses Manöver des Feindes zu vereiteln, indem er sich auf die oberste Stufe stellte und nur die Krempe seines Hutes hervorgucken ließ. Immerhin war es möglich, daß ihn Mr. Pecksniff bereits gesehen hatte, wenigstens hörte er bald darauf Schritte und erkannte aus dem Knarren der Stiefel, daß der Gentleman sich näherte, um mit höchsteigenen Händen die Tür zu öffnen.

Mr. Pecksniff war so wohlgelaunt wie nur je und trällerte ein Liedchen im Flur.

»Wie geht’s Ihnen, Sir«, überraschte ihn Mark mit einer Frage, als die Tür aufging.

»Oh!« rief Mr. Pecksniff, »Mr. Tapley, nicht wahr? Was sehe ich. Der verlorene Sohn zurückgekehrt? Nein, nein, wir brauchen jetzt kein Bier, lieber Freund.«

»Besten Dank, Sir«, sagte Mark, »aber ich könnte auch nicht damit dienen, wenn Sie welches brauchten. Ich habe nur einen Brief abzugeben, Sir, und warte auf Antwort.«

»An mich?« rief Mr. Pecksniff. »Warten auf Antwort? So?«

»Ich glaube nicht, daß er an Sie ist, Sir«, sagte Mark, auf die Adresse deutend. »Hier steht ›Chuzzlewit‹, wenn ich nicht irre.«

»So – hm«, brummte Mr. Pecksniff, »ich danke Ihnen. Richtig. Und von wem ist der Brief, mein lieber Freund?«

»Der Herr, von dem er ist, hat seinen Namen inwendig unterzeichnet, Sir«, entgegnete Mr. Tapley außerordentlich höflich. »Ich habe genau gesehen, wie er ihn unten hingeschrieben hat, während ich wartete.«

»Und er sagte, er wolle Antwort haben, nicht wahr?« fragte Mr. Pecksniff mit süßlicher Miene.

Mark bejahte.

»Nun gut, er soll eine Antwort haben«, höhnte Mr. Pecksniff, zerriß den Brief in kleine Stücke und machte ein so freundliches Gesicht dazu, als erweise er dem Briefschreiber die allerhöchste Aufmerksamkeit. »Haben Sie die Güte, ihm dies mit meinem Kompliment zu übergeben. Guten Morgen.«

Mit diesen Worten händigte er Mr. Tapley die Fetzen ein, zog sich zurück und schloß die Türe.

Mark hielt es für das richtigste, seine persönliche Aufregung zu unterdrücken und Martin sogleich wieder im ›Drachen‹ aufzusuchen. Sie waren auf einen derartigen Empfang nicht vorbereitet gewesen und ließen ungefähr eine Stunde verstreichen, ehe sie einen zweiten Versuch machten. Als diese Frist verstrichen war, begaben sie sich zusammen zu Mr. Pecksniffs Hause. Diesmal klopfte Martin, während Mark sich bereithielt, mit Fuß und Schulter die Tür gewaltsam offenzuhalten, sobald jemand käme, und sie, nachdem er sie erblickt, wieder zuschlagen wollte. Die Vorsichtsmaßregel war jedoch überflüssig, denn diesmal kam das Dienstmädchen öffnen. Martin drückte sich rasch an ihr vorüber, wie er es sich für einen solchen Fall vorgenommen hatte, dicht hinter sich den treuen Bundesgenossen, und eilte auf die Tür des Zimmers zu, das ihm das richtige zu sein schien. Er öffnete und stand einen Augenblick später vor seinem Großvater.

Mr. Pecksniff war ebenfalls zugegen. In dem kurzen Augenblick plötzlichen Erkennens sah Martin, wie der alte Herr sein graues Haupt sinken ließ und sein Gesicht mit den Händen bedeckte.

Es zerschnitt ihm das Herz. Selbst in den Tagen seiner rücksichtslosesten Selbstsucht würde dieser letzte Abglanz von des alten Mannes früherer Liebe, dieser letzte Pfeiler eines zerfallenen Tempels, der in verklungenen Zeiten mit so stolzen Hoffnungen aufgebaut worden, ihn tief gerührt und aufs äußerste ergriffen haben. Aber jetzt, wo er, gebessert und anders geworden, seinen früheren Beschützer anblickte, den Behüter seiner Kinderjahre, so gebeugt und gebrochen, schwanden Stolz, Gekränktsein und Ärger, Hochmut und Starrsinn dahin beim Anblick der Tränen, die er über die welken Wangen rollen sah. Er konnte ihren Anblick nicht ertragen – konnte den Gedanken nicht ertragen, daß sie um seinetwillen flossen, konnte nicht ertragen, die unwiederbringliche Vergangenheit daran zu erkennen. Er wollte zu ihm eilen, um seine Hand zu ergreifen, aber sein alter Feind trat dazwischen.

»Nein, junger Mann«, rief Mr. Pecksniff, schlug sich auf die Brust und streckte den linken Arm aus wie einen schirmenden Schild, um den alten Herrn zu beschützen, »nein, Sir, nichts derart; stoßen Sie hierher, Sir – hierher! Richten Sie gefälligst Ihre Pfeile auf diese Brust und nicht auf ihn.«

»Großvater«, rief Martin, ohne auf ihn zu achten, »hör mich an! Ich beschwöre dich, lasse mich reden.«

»So, weiter wünschen Sie nichts, Sir«, höhnte Mr. Pecksniff und drängte sich vor, um die beiden Verwandten auseinanderzuhalten. »Ist es nicht genug, Sir, daß Sie eindringen in mein Haus wie ein Dieb in der Nacht oder besser gesagt wie ein Dieb bei Tag und Ihren liederlichen Gefährten mit sich bringen, damit er sich mit dem Rücken gegen die Stubentüre drückt, um das Aus- und Eingehen von Personen in meinem eigenen Haushalt zu verhindern« – tatsächlich hatte Mark diese Stellung eingenommen und blieb, ohne sich zu rühren, ruhig dort stehen. – »Ist das noch nicht genug? Wollen Sie auch noch die Tugend in eigener Person anfallen? Wie? Nun gut, so sollen Sie denn wissen, daß sie nicht ohne Verteidiger dasteht. Ich werde ihr Schild sein, junger Mann. Stoßen Sie zu, Sir! Nur zu!«

»Pecksniff«, sagte der alte Mann mit matter Stimme, »beruhigen Sie sich. Bleiben Sie ruhig.«

»Ich kann nicht ruhig bleiben«, rief Mr. Pecksniff, »und ich will es nicht. Mein Wohltäter und mein Freund, soll Ihnen denn nicht einmal mein Haus eine Zuflucht für Ihr greises Haupt sein?«

»Treten Sie ein wenig zur Seite«, murmelte der alte Mann und streckte die Hand aus, »und lassen Sie mich den noch einmal sehen, der mir einst so teuer war.«

»Es ist recht, daß Sie es sehen, dieses Geschöpf, mein Freund«, rief Mr. Pecksniff, »es ist gut, daß Sie es sehen, mein wertgeschätzter Herr. Es ist sogar wünschenswert, daß Sie es in seiner wahren Beschaffenheit erkennen. Betrachten Sie es immerhin. Hier steht es, Sir, hier steht es.«

Martin hätte kein Mensch von Fleisch und Blut sein müssen, um nicht in seinen Mienen etwas von dem Zorn und der Verachtung auszudrücken, die die Anwesenheit des Heuchlers ihm einflößte. Aber, davon abgesehen, tat er, als ob Pecksniff Luft sei und gar nicht existiere. Er hatte ihn wohl beim Eintreten ein einziges Mal flüchtig angeblickt, und zwar mit der größten Verachtung, sonst aber nahm er so wenig Notiz von ihm, als ob er überhaupt nicht anwesend wäre.

Zögernd gehorchte Mr. Pecksniff der Aufforderung des alten Herrn und zog sich ein wenig zurück, um Martin Platz zu machen. Der alte Mr. Chuzzlewit hatte Mary Grahams Hand gefaßt und flüsterte ihr freundlich zu, wie um sie zu beruhigen, sie habe keinen Grund zu erschrecken, und zog sie dann sanft hinter seinen Stuhl. Dann sah er seinen Enkel offen und gerade an.

»Da also steht er vor mir«, murmelte er, »ja, er ist es. Sprich, was du mir zu sagen hast, aber komme mir nicht näher.«

»Sein Edelmut ist so außerordentlich«, flötete Mr. Pecksniff, »daß er selbst ihn noch anzuhören gedenkt, wo er doch im voraus wissen muß, was dabei herauskommen wird. O Herz voll Großmut!«

Er wandte sich bei diesen Worten nicht unmittelbar an irgendeine Person, sondern vertrat vielmehr die Stelle des Chors in einer griechischen Tragödie, der jedesmal einen Kommentar über das, was sich soeben abgespielt hat, gibt.

»Großvater«, begann Martin mit tiefem Ernst, »von einer mühseligen Reise und einem schweren, entbehrungsreichen Leben, von Krankenbett, Entbehrung und Not, von bitter enttäuschten Erwartungen und aus gänzlicher Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung kehre ich zu dir zurück.«

»Derartige Landstreicher«, bemerkte Mr. Pecksniff als Chor, »kommen stets wieder zurück, wenn sie finden, daß ihr liederliches Leben nicht den erhofften Erfolg gefunden hat.«

»Nur diesem treuen Menschen hier«, fuhr Martin auf Mark deutend fort, »den ich hier kennenlernte und der freiwillig als Diener mit mir ging, sich aber dabei stets als eifriger, aufopfernder Freund bewies – nur ihm habe ich es zu danken, daß ich nicht in der Fremde gestorben bin. Fern von der Heimat, fern von jedem Beistand oder Trost, fern sogar von der Wahrscheinlichkeit, daß mein elendes Geschick nur irgend jemandem bekannt werden würde, nicht einmal dir vielleicht – bin ich jetzt zurückgekehrt.«

Der alte Mann sah Mr. Pecksniff an, und Mr. Pecksniff erwiderte den Blick.

»Sagten Sie etwas, mein verehrter Herr?« fragte Mr. Pecksniff lächelnd.

Der Greis verneinte.

»Aber ich weiß, woran Sie denken. Lassen Sie ihn nur weitersprechen, wertgeschätzter Freund. Die Selbstsucht des menschlichen Herzens bleibt stets ein interessantes Studium. Lassen Sie ihn nur fortfahren, Sir.«

»Fahre fort«, sagte der alte Mann, wie es schien, ganz unter dem Banne Mr. Pecksniffs.

»Ich war so arm und elend«, fuhr Martin fort, »daß ich einem barmherzigen Fremden drüben in Amerika noch das Geld für meine Heimfahrt schuldig bin. Alles dieses wird bei dir gegen mich sprechen. Du wirst denken, daß nur die äußerste Not und nicht Reue oder Neigung mich hierher zurückgetrieben haben. Als ich fortging, Großvater, verdiente ich diesen Verdacht. Jetzt verdiene ich ihn nicht – nein, gewiß nicht mehr.«

Der Chor steckte seine Hand in die Weste und lächelte spöttisch. »Lassen Sie ihn nur fortfahren, mein wertgeschätzter Herr. Ich weiß, was Sie denken, möchte es aber nicht vorzeitig aussprechen.«

Der alte Martin erhob seine Blicke zu Mr. Pecksniffs Gesicht, offenbar, um aus dessen Blicken und Winken sich Rat zu holen, und sagte dann wieder mechanisch:

»Sprich weiter.«

»Ich habe nichts mehr hinzuzufügen«, schloß Martin, »und setze wenig oder gar keine Hoffnung auf deine Antwort, Großvater, wie sehr ich auch beim Eintritt in dieses Zimmer gehofft haben mag. Schenke mir Glauben; glaube mir, daß es wahr ist, was ich gesagt habe. Das eine bitte ich dich nur.«

»O Wahrheit, Wahrheit!« rief der Chor, mit einem Blick gen Himmel, »wie wird doch dein Name von den Ruchlosen entweiht! Nicht in der reinen Quelle des Herzens wohnest du, heiliges Prinzip, sondern auf den Lippen der Falschen. Wahrlich, es ist schwer, mit den Menschen Nachsicht zu üben, werter Herr« – er wandte sich an den alten Chuzzlewit – »aber sei es drum. Es ist unsere Pflicht, immer wieder zu glauben. Lasset uns zu den wenigen gehören, die ihre Pflicht tun, wenn wir uns auch unaufhörlich enttäuscht sehen werden.«

»Was die betrifft«, fuhr Martin fort, dem alten Mann ruhig ins Gesicht sehend und nur einen einzigen Blick auf Mary werfend, die ihr Gesicht jetzt in beide Hände vergraben hatte – »was die betrifft, die die Ursache der Spaltung zwischen uns wurde, so ist mein Herz auch jetzt noch nicht fähig, anders zu fühlen. Was ich seit jener unglückseligen Zeit gelitten, hat mich in dieser Hinsicht nur bestärkt. Ich will und kann nicht vorschützen, daß ich in dieser Hinsicht jetzt Reue und Unentschlossenheit empfände. Auch weiß ich, daß du selbst dies nicht wünschen kannst. Soviel aber haben mich Betrachtung, Einsamkeit und Mißgeschick gelehrt, daß ich auf deine Liebe bauen und mich mannhaft darauf hätte stützen sollen. Ich hätte deine Liebe mit Leichtigkeit wieder zurückgewinnen können, wenn ich einsichtiger, nachgiebiger und rücksichtsvoller gewesen wäre und mehr an dich als an mich gedacht hätte. Ich kam mit dem Entschluß hierher, dir dies zu sagen und dich um Verzeihung zu bitten, viel weniger aus Hoffnung für die Zukunft als aus Reue wegen dessen, was geschehen ist. Ich will dich um weiter nichts bitten als um deine Beihilfe, jetzt, wo ich ein neues Leben beginnen will. Hilf mir, daß ich mich durch ehrliche Arbeit ernähren kann; an meinem Eifer soll es gewiß nicht fehlen. Ich weiß, daß meine jetzige Lage mich in ein höchst unvorteilhaftes Licht dir gegenüber setzt und daß es den Anschein haben muß, als sei ich abermals selbstsüchtig. Aber stelle mich auf die Probe, ob es der Fall ist oder nicht. Überzeuge dich, ob ich noch der frühere eigenwillige und hochmütige Mensch bin oder ob ich mich durch die rauhe Schule des Lebens habe läutern lassen. Lasse die Stimme der Natur zwischen uns sprechen, Großvater, und verstoße mich nicht wegen eines einzigen Fehlers, wenn dieser auch das Gepräge der Undankbarkeit trug.«

Der alte Mann ließ abermals sein graues Haupt sinken und verbarg sein Gesicht in beiden Händen. »Mein wertgeschätzter Herr«, rief Mr. Pecksniff und beugte sich über ihn; »Ihr Gefühl ist sehr natürlich und verrät große Liebe, aber Sie dürfen sich nicht durch das schamlose Benehmen eines Menschen, von dem Sie sich schon längst losgesagt, so weit irreführen lassen. Raffen Sie sich auf! Denken Sie« – setzte er eindringlich hinzu – »denken Sie an mich, mein Freund!«

»Ja, das will ich«, murmelte der alte Herr. »Ihre Worte geben mich mir wieder. – Ja, das will ich.«

»Ja, was«, rief Mr. Pecksniff, ließ sich in einen Stuhl nieder, den er zu diesem Zweck herbeiholte, und klopfte dem Greis scherzhaft auf die Schulter; »ja, was geht denn eigentlich vor in meinem so geistesstarken Freund und Genossen, wenn ich mir die Freiheit nehmen darf, Sie bei diesem vertrauten Namen zu nennen. Wie? Soll ich mich wirklich gezwungen sehen, mit meinem Geistesbruder ins Gericht zu gehen und mit einem Verstande wie dem seinigen zu rechten? Oh, das will ich doch nicht hoffen?«

»Nein, nein, es ist gewiß kein Grund dazu vorhanden«, murmelte der alte Mann, »nur eine augenblickliche Schwäche, weiter nichts.«

»Wohl vermag«, hob Mr. Pecksniff belehrend an, »die Entrüstung heiße Zähren dem Redlichen in die Augen treiben, ich weiß« – er wischte seine eigenen ab – »aber wir haben höhere Pflichten zu erfüllen. Ermannen Sie sich, Mr. Chuzzlewit! Wünschen Sie vielleicht, daß ich Ihren Gedanken Worte leihe, mein Freund?«

»Ja, tun Sie es«, seufzte der alte Herr, lehnte sich in seinen Stuhl zurück und blickte ihn halb gedankenverloren, halb bewundernd und wie gebannt an. »Ja, reden Sie für mich. Sprechen Sie in meinem Namen. Ich danke Ihnen, Sie sind mir treu; ich danke Ihnen.«

»Greifen Sie mir nicht zu sehr ans Herz, Sir«, schluchzte Mr. Pecksniff und schüttelte ergriffen die Hand; »ich könnte meiner Aufgabe sonst nicht gewachsen sein. Es widerstrebt mir tief, mein werter Herr, den Menschen anzureden, der jetzt vor uns steht, denn als ich aus Ihrem Munde vernahm, wie unnatürlich und undankbar er sich gegen Sie benommen, da jagte ich ihn aus meinem Hause und wies für immer jede Gemeinschaft mit ihm von der Hand. Aber Ihr Wunsch genügt mir, mich jetzt davon absehen zu lassen. – Junger Mann, die Türe befindet sich unmittelbar hinter dem Genossen Ihrer Schmach. Erröten Sie, wenn Sie das noch können, und wenn nicht, so gehen Sie ohne Erröten fort.«

Fest und ruhig, als habe er nicht ein Wort der ganzen Rede gehört, blickte Martin seinen Großvater an. Aber ebenso unverwandt blickte der alte Mann auf Mr. Pecksniff.

»Als ich Ihnen das letztemal mein Haus verbot und Sie mit Schmach und Schande entließ«, fuhr Mr. Pecksniff fort, »empört durch Ihr schamloses Betragen gegen diesen edlen Greis, und Ihnen zurief: ›Hebe dich hinweg‹, da sagte ich Ihnen auch, daß ich über Ihre Ruchlosigkeit Tränen vergösse. Denken Sie nun aber nicht, daß die Träne, die jetzt in meinem Auge steht, für Sie vergossen wird! Sie fließt für ihn, junger Mann. Nur für ihn fließt diese Träne!«

– Bei diesen Worten ließ Mr. Pecksniff die Träne, von der er sprach, wie zufällig auf Mr. Chuzzlewits kahlen Scheitel fallen, und zog sein Taschentuch heraus, wischte sie ab und murmelte eine Entschuldigung. –

»Sie ist für den vergossen worden, Sir, den Sie zum Opfer Ihrer Ränke machen wollen, den Sie auszuplündern, zu hintergehen und irrezuführen gedenken. Ich habe sie vergossen aus Teilnahme und Bewunderung für ihn, denn meines Mitleides bedarf er nicht, weiß er doch zum Glück, woran er mit Ihnen ist. – Nein, solange ich lebe, sollen Sie ihm kein Unrecht mehr zufügen.« – Mr. Pecksniff erhob voller Enthusiasmus seine Stimme. – »Der Weg zu ihm führt nur über meinen Leichnam. Wohl kann ich mir denken, daß eine Gesinnung wie die Ihrige sich darüber freuen würde, wenn ich stürbe, aber solange Gott mich noch leben läßt, Sir, stehe ich als Schranke zwischen ihm und Ihnen. Jawohl. Und solange ich lebe, junger Mann, sollen Sie eine harte Nuß an mir zu knacken finden.«

Immer noch blickte Martin unverwandt und geduldig seinen Großvater an.

»Willst du mir denn keine Antwort geben?« fragte er nach einer längeren Pause. »Hältst du mich nicht eines Wortes für würdig?«

»Du hast gehört, was ich zu sagen hatte«, erwiderte der Greis, ohne ein Auge von Mr. Pecksniff zu wenden, der ihm ermunternd zunickte.

»Ich habe weder deine Stimme vernommen, noch glaube ich, daß dein Geist aus diesen Worten sprach, Großvater!«

»So sagen Sie es ihm noch einmal«, wendete sich der Greis an Mr. Pecksniff.

»Ich höre nur auf das«, fuhr Martin fort, immer fester in seinem Vorsatze werdend, je mehr er sah, wie sich Mr. Pecksniff unter seiner Verachtung innerlich wand und krümmte. »Ich höre nur auf das, was du mir sagst, Großvater.«

Es war gut für Mr. Pecksniff, daß Mr. Chuzzlewit nur ihn ansah, denn hätte er nur ein einziges Mal zufällig seinen Blick abgewandt, um die Haltung seines Enkels mit der dieses uneigennützigen Ehrenmannes zu vergleichen, so würde ihm dieser wohl nicht vorteilhafter erschienen sein als an jenem denkwürdigen Nachmittag, an dem er Tom Pinchs letzte Quittung »für geleistete Dienste« entgegengenommen.

»Nicht eines Wortes hältst du mich für würdig?« fragte Martin abermals.

»Es fällt mir ein, daß ich noch etwas zu sagen habe, Pecksniff«, murmelte der Greis. »Nur ein Wort. – Du sagtest vorhin, daß du einem mildtätigen Fremden verpflichtet seiest. Wer ist er – und wieviel hat er dir geliehen?«

Obgleich Mr. Chuzzlewit diese Frage an Martin stellte, so hielt er dennoch dabei seine Augen wie gebannt auf Mr. Pecksniff gerichtet. Er schien sich daran gewöhnt zu haben, nicht nur im figürlichen, sondern auch im buchstäblichen Sinn zu ihm aufzublicken.

Martin zog einen Bleistift heraus, riß ein Blatt aus seinem Notizbuch und schrieb hastig die Summe auf, die er Mr. Bevan schuldete. Der alte Mann nahm mit ausgestreckter Hand das Papier entgegen, verwandte aber noch immer kein Auge von Mr. Pecksniffs Antlitz.

»Es wäre wohl ein armseliger Stolz und eine falsche Demut«, sagte Martin mit gedämpfter Stimme, »wenn ich behaupten wollte, ich wünschte die Schuld nicht getilgt zu sehen oder ich hätte augenblicklich Hoffnung, sie selbst tilgen zu können, aber nie habe ich meine Armut wohl so tief gefühlt wie in diesem Augenblick.«

»Lesen Sie mir vor, was er geschrieben hat, Mr. Pecksniff«, sagte der alte Mann.

Mr. Pecksniff nahm das Blatt mit einer Miene zur Hand, als wäre es das Bekenntnis einer Mordtat, und las es vor.

»Ich danke Ihnen, Pecksniff«, murmelte der Greis. »Ich glaube, man sollte die Sache begleichen. Ich möchte nicht, daß der Fremde zu Schaden komme, wo er keine Gelegenheit hatte, Erkundigungen einzuziehen, und sich so mildtätig benommen hat.«

»Das nenne ich ehrenwert gedacht, mein werter Herr«, rief Mr. Pecksniff. »Ihre Handlungsweise entspricht wieder einmal vollständig Ihrem edlen Geist – aber es ist ein gefährliches Beginnen«, setzte er hinzu, »es ist ein böser Anfang.«

»Es soll kein Anfang sein«, entgegnete der alte Herr, »es ist das einzige und letzte, was ich für ihn tun werde. Doch wir werden später noch darüber reden. Ich muß mir diesbezüglich Ihren Rat erbitten. – Sonst ist nichts da?«

»Sonst nichts«, sagte Mr. Pecksniff, innerlich frohlockend. »Sie müssen sich jetzt erholen von Ihrem Schrecken über diese freche Zudringlichkeit und der schnöden Kränkung Ihrer Gefühle, und zwar so bald wie möglich, damit ich Sie wieder lächeln sehen kann.«

»Haben Sie mir sonst weiter nichts zu sagen?« fragte Mr. Chuzzlewit mit ungewöhnlichem Ernst und legte seine Hand auf Mr. Pecksniffs Arm.

Mr. Pecksniff hatte nichts weiter zu sagen, denn Vorwürfe, meinte er, wären ja nutzlos.

»Wissen Sie wirklich nichts mehr? Sind Sie davon überzeugt, gleichgültig, worum es sich handeln mag? So reden Sie nur frei heraus. Was Sie auch vorzubringen hätten, ich würde es Ihnen nicht abschlagen.«

Das Gefühl überwältigte Mr. Pecksniff so sehr bei diesem Beweis unbeschränkten Vertrauens, das ihm sein Freund schenkte, daß er sich kaum zu fassen vermochte vor Schluchzen und innerlicher Erregung. Als er seine Sprache wiedergefunden, konnte er nur immer und immer wieder sagen, er hoffe es noch zu erleben, sich dieses Vertrauens würdig zeigen zu können, und bemerkte, daß er wirklich nichts weiter hinzuzufügen habe.

Eine Weile lang blieb der Greis noch stumm sitzen und sah seinen Freund und Berater mit jener starren nichtssagenden Miene an, die man so häufig bei Leuten findet, die anfangen, alters- und geistesschwach zu werden. Dennoch erhob er sich schließlich mit Festigkeit und schritt zur Türe, wo ihm Mark sofort höflich Platz machte.

Mit demutsvoller Miene reichte ihm Mr. Pecksniff den Arm und führte ihn hinaus. Auf der Schwelle drehte er sich noch einmal um und sagte zu Martin, mit der Hand auf die Tür deutend:

»Sie haben gehört. Gehen Sie. Entfernen Sie sich.«

Dann murmelte er noch einige ermunternde und teilnehmende Worte, die seinem Freunde galten, und verließ mit ihm das Zimmer.

Langsam erwachte Martin aus seiner Betäubung, und als die Türe sich schloß, eilte er auf Mary zu und drückte sie an sein Herz.

»Mein liebes, gutes Mädchen«, rief er, »dich hat er wenigstens nicht zu verändern vermocht! Was für ein ohnmächtiger, erbärmlicher Schurke dieser Pecksniff doch ist.«

»Und du hast dich so beherrscht und meinetwegen so viel über dich ergehen lassen, Martin«, schluchzte Mary.

»Mich beherrscht?«, rief Martin heiter. »Du warst doch hier. Ich wußte doch, daß du deinen Sinn nicht geändert hast. Mußte mir das nicht eine Stütze sein? Mein bloßer Anblick war für den Elenden Gift, und für mich bedeutete es den größten Triumph, daß er meinen Anblick dulden mußte. Aber, sage mir jetzt, Geliebte – die wenigen Augenblicke, die uns bleiben, sind kostbar –, was sind das für Gerüchte hier im Dorf? Ist es wirklich wahr, daß der Schurke dich mit Anträgen verfolgt?«

»Ja, er hat es getan, Martin, und tut es zum Teil noch immer. Aber die Hauptquelle meines Elends war die Angst und Sorge um dich. Warum hast du uns denn in so schrecklicher Ungewißheit gelassen?«

»Meine Krankheit, die weite Entfernung, die Furcht, meine wirkliche Lage zu verraten, die Unmöglichkeit, sie anders als durch Stillschweigen vor dir zu verbergen, das Bewußtsein, daß die Wahrheit dich noch unendlich mehr geschmerzt haben würde als Ungewißheit und Zweifel«, sagte Martin, hielt Mary auf Armesweite von sich, um ihr besser ins Gesicht sehen zu können, und drückte sie dann wieder an sein Herz, »das alles war die Ursache, daß ich dir nur ein einziges Mal schrieb. Aber was ist das mit Pecksniff? Scheue dich nicht, mir alles zu erzählen; du hast ja selbst gesehen, wie ich mich ihm gegenüber zusammengenommen habe und seine Worte anhörte, ohne ihn an der Gurgel zu packen. Also, was hat er sich unterstanden, und weiß mein Großvater darum?«

»Ja.«

»Und er unterstützt ihn darin?«

»Nein«, antwortete Mary hastig.

»Gott sei Dank«, rief Martin aufatmend, »daß sein Geist wenigstens nicht so weit getrübt ist.«

»Ich glaube nicht, daß er gleich anfangs darum wußte«, erklärte Mary. »Pecksniff bereitete ihn zuerst gehörig vor und enthüllte ihm dann allmählich seine Wünsche. Wenigstens vermute ich das, wenn ich es auch mit Bestimmtheit nicht sagen kann; und zuletzt sprach er allein mit mir.«

»Wer? Mein Großvater?«

»Ja. – Er sprach mit mir und teilte mir mit –«

»Was dieser Hund gesagt hat«, ergänzte Martin. »Bestätige mir das bitte.«

»Er sagte, ich müsse sehen, was Pecksniff für Eigenschaften besitze – daß er ein rechtschaffener und angesehener Mann sei und sein volles Vertrauen genieße. Als er jedoch meine Betrübnis bemerkte, beruhigte er mich und sagte, er werde meinen Neigungen unter gar keinen Umständen irgendwelchen Zwang antun, sondern er begnüge sich damit, mir die Tatsache an und für sich mitzuteilen. Da er sehe, daß er mir damit wehe tue, wolle er nie wieder darauf zurückkommen. Und er hat getreulich Wort gehalten.«

»Und der Elende, was hat er getan?« »Er hatte bis jetzt nur wenig Gelegenheit, seine Werbungen nochmals anzubringen. Ich bin niemals allein ausgegangen und ihm immer sorgfältig ausgewichen. – – – Lieber, lieber Martin, ich muß dir nochmals sagen«, fuhr Mary fort, »daß dein Großvater in seiner Güte gegen mich sich völlig gleich geblieben ist. Noch immer bin ich um ihn und seine Gefährtin. Ein unbeschreibliches zärtliches Mitleid scheint noch zu seiner früheren Liebe zu mir dazugekommen zu sein. Wäre ich sein leibliches Kind, ich könnte keinen zärtlicheren Vater haben. Was für Empfindungen in ihm noch fortleben, nachdem sein Herz so kalt gegen dich geworden, ist und bleibt mir ein Geheimnis, das ich nicht durchdringen kann. Aber begnügen wir uns jetzt mit der Tatsache, daß ich mich glücklich schätze, bei ihm ausgeharrt zu haben. Und sollte er wirklich noch einmal aus seinem Wahn erwachen, und wenn es auch erst in der Todesstunde wäre – so bin ich da, Geliebter, um ihn an dich zu erinnern.«

Voller Bewunderung blickte Martin auf ihr in edlem Eifer erglühendes Gesicht und drückte einen Kuß auf ihre Lippen.

»Ich habe oft gehört und gelesen«, fuhr Mary fort, »daß Leute, deren Geist durch das Alter schwach geworden und deren Leben längst zu einem dumpfen Traum herabgesunken ist, plötzlich vor dem Tode aufzuwachen pflegen, um nach denen zu verlangen, die ihnen einst teuer gewesen, trotzdem sie sie in der Zwischenzeit vergessen haben und ihnen entfremdet waren. Denke dir, wenn er einst plötzlich erwachte, ganz mit seinen früheren Ansichten, und plötzlich keinen andern Freund um sich hätte als ihn – wie schrecklich!«

»Ich würde dich auch niemals drängen, ihn zu verlassen, Geliebte«, rief Martin, »wenn ich auch voraussehe, daß noch viele Jahre uns trennen werden. Nur fürchte ich, daß der Einfluß, den dieser Schurke auf ihn ausübt, noch im Wachsen begriffen ist.«

Mary mußte dies leider mit Bedauern zugeben. Unmerklich, aber unaufhaltsam sei Mr. Pecksniffs Einfluß bis jetzt gestiegen. Sie selbst habe gar keinen mehr, aber dennoch behandle sie Mr. Chuzzlewit mit größerer Liebe als jemals.

»Hat er vielleicht Furcht vor ihm?« fragte Martin. »Scheut er sich vielleicht, ihm gegenüber seine eigenen Ansichten laut werden zu lassen? Es kam mir beinahe so vor.«

»Auch ich glaubte oft Ähnliches zu bemerken«, sagte Mary »Wenn wir wie früher allein beisammensaßen und ich ihm aus seinen Lieblingsbüchern vorlas oder mit ihm plauderte, bemerkte ich nicht selten, daß bei Mr. Pecksniffs Eintritt sofort sein ganzes Benehmen umschlug. Er brach dann plötzlich ab und wurde so, wie du ihn heute gesehen hast. Als wir das erstemal hierher zogen, hatte er häufig seine ungestümen Ausbrüche wie früher, und sogar diesem Pecksniff wurde es trotz seiner großen Geschmeidigkeit nicht leicht, ihn zu beschwichtigen. Aber die Zeit ist längst vorüber; er unterwirft sich ihm jetzt in allem und jedem und hat niemals eine andere Ansicht als die, die ihm von diesem hinterlistigen Menschen aufgezwungen wird.«

So lautete der Bericht, den Mary Martin – hier und da im Flüstertone – erstattete, und der trotz seiner Kürze wiederholt durch einen Lärm draußen, als komme Mr. Pecksniff zurück, unterbrochen wurde. Martin erfuhr auch die Geschichte von Tom Pinch und Jonas, in der auch er selbst wiederholt vorkam.

Ein Wink von Mr. Tapley, ein hastiges Lebewohl – – Mary reichte Mark ihr weißes Händchen, das dieser mit der Andacht eines fahrenden Ritters küßte, ein weiteres Lebewohl und zum Abschied das Versprechen von Seiten Martins, er wolle von London aus schreiben und dort Gott weiß was für große Dinge verrichten – an deren Verwirklichung er übrigens nicht einen Augenblick zweifelte –, und dann befanden sich die beiden Freunde außerhalb des Pecksniffschen Heiligtums.

»Ach, ein kurzes Wiedersehen nach so langer Trennung!« seufzte Martin bekümmert. »Aber es ist trotzdem gut, daß wir das Haus im Rücken haben. Wir wären vielleicht nur in ein schiefes Licht gekommen, wenn wir noch länger geblieben wären, Mark.«

»Wir? Nicht daß ich wüßte«, rief Mark. »Aber ein anderer hätte vielleicht in ein – schiefes Licht geraten können, wenn er zufälligerweise während unserer Anwesenheit zurückgekommen wäre. Ich hätte ihn bestimmt zwischen die Tür eingeklemmt. Wäre nur einen Augenblick Mr. Pecksniffs Kopf erschienen, ich hätte ihn geknackt, wie der Nußknacker eine Nuß. – – Ich glaube, er müßte sich ganz gut quetschen lassen«, fügte er nach einer Pause nachdenklich hinzu.

In diesem Augenblick schritt ein Fremder, offenbar in der Richtung auf Mr. Pecksniffs Haus zu, an ihnen vorüber. Erstaunt blickte er auf, als er den Namen des Architekten nennen hörte, und blieb nach einigen Schritten stehen, um ihnen nachzusehen. Mr. Tapley und Martin drehten sich gleichfalls um, denn der Fremde hatte sie schon im Vorübergehen merkwürdig scharf ins Auge gefaßt.

»Wer mag das nur sein?« murmelte Martin, »das Gesicht kommt mir bekannt vor. Aber trotzdem kenne ich den Menschen nicht.«

»Er scheint den liebenswürdigen Wunsch zu hegen, uns mit seiner Visage näher bekannt zu machen«, sagte Mark. »Er glotzt uns höchst ungeniert nach. Übrigens täte er besser, mit seiner Schönheit sparsamer umzugehen, denn viel hat er nicht davon zu verschwenden.«

Als sie vor dem »Drachen« anlangten, erblickten sie einen Reisewagen vor der Tür.

»Und einen Salisburywagen noch dazu«, brummte Mr. Tapley. »Da ist jeder Irrtum ausgeschlossen, der Bursche ist in dem Wagen gekommen, verlassen Sie sich darauf. Woher da wohl wieder der Wind wehen mag? Wahrscheinlich ein neuer Schüler oder vielleicht ein Auftrag für eine neue Elementarschule nach dem Muster der letzten.«

Ehe sie noch in die Tür traten, eilte ihnen Mrs. Lupin entgegen, winkte sie zum Wagen und deutete auf einen Mantelsack, auf dem der Name »Chuzzlewit« stand.

»Der Gatte von Miss Pecksniff«, erklärte sie. »Ich wußte nicht, auf welchem Fuß Sie mit ihm stehen und war deshalb recht in Sorgen, bis Sie wieder zurück waren.«

»Er und ich haben noch nie im Leben ein Wort miteinander gewechselt«, sagte Martin. »Da ich mich nach seiner Bekanntschaft weiter auch nicht sehne, so ist es ganz gut, daß wir nicht mit ihm zusammentreffen. Wir sind ihm auf dem Wege hierher begegnet. Gut, daß er in unserer Abwesenheit hier ankam. Aber wahrhaftig, Miss Pecksniffs Gatte reist verwünscht vornehm.«

»Es ist ein sehr feiner Herr mit ihm angekommen – er hat das beste Zimmer bezogen«, flüsterte Mrs. Lupin und blickte, während sie in das Haus traten, nach dem Fenster hinauf. »Er hat alles mögliche zum Dinner bestellt und hat den glänzendsten Schnurrbart, den man sich nur denken kann.«

»So?« rief Martin. »Nun, da wollen wir auch ihm ausweichen und hoffen, daß wir die nötige Selbstverleugnung dazu aufbringen werden. Wir haben übrigens nur noch ein paar Stunden Zeit«, setzte er hinzu und warf sich erschöpft in einen Stuhl hinter dem kleinen Wandschirm des Schenkstübchens. »Unser Besuch ist nicht sehr glücklich verlaufen, liebe Mrs. Lupin, und wir müssen jetzt nach London.«

»O Gott, o Gott!« jammerte die Wirtin.

»Ja, leider. Übrigens macht eine Schneeflocke noch keinen Winter und eine Schwalbe noch keinen Sommer. Ich will mein Glück noch einmal versuchen. Tom Pinch hat ja auch sein Auskommen gefunden, und durch seinen Rat wird mir wohl ein gleiches möglich werden. Früher habe ich ihn unter meinen Schutz genommen – Gott verzeihe mir die Sünde – und ihm versprochen, ich wolle für sein Fortkommen sorgen. Vielleicht nimmt er mich jetzt unter seinen Schutz und lehrt mich, wie ich mir mein Brot verdienen kann.«

44. Kapitel


44. Kapitel

Mr. Jonas und sein Freund setzen ihr Vorhaben ins Werk

Zu den vielen wunderbaren Eigenschaften Mr. Pecksniffs gehörte auch die, daß er in seiner Heuchelei um so raffinierter wurde, je mehr man auf seine Schliche kam. Wurde er in einer Richtung geschlagen, so erholte sich gleich darauf durch einen neuen Schachzug auf einer andern Seite; wurden sein Treiben und seine Schleichwege von »A« durchschaut, sah er darin um so mehr Grund, sie ohne Zeitverlust an »B« zu versuchen. Noch nie hatte er vielleicht als so musterhaftes Beispiel gewirkt und ein so erhabenes Schauspiel für seine ganze Umgebung geboten wie damals, als Tom Finch ihn durchschaut hatte, und noch nie so viel Humanität und zugleich Tugendstrenge an den Tag gelegt, wie damals, wo noch die Verachtung des jungen Martin ihm frisch auf der Seele brannte. Bei seinem unerschöpflichen Lager an Sentimentalität und Moral hatte er kaum von der Ankunft seines Schwiegersohnes gehört, als er sofort begriff, es ließe sich hier wiederum ein großer Posten von diesem Vorrat an Tugend abstoßen. Rasch eilte er ins Empfangszimmer hinab, umarmte den jungen Mann und rief, mit Blicken und Gebärden seine Besorgnis bekundend:

»Jonas – doch nicht meine Tochter? – Sie ist doch wohl, es ist doch nichts vorgefallen?«

»Ach was, dummes Zeug!« brummte der zärtliche Schwiegersohn, »lassen Sie wenigstens mir gegenüber diesen Blödsinn bleiben.«

»Sagen Sie mir nur das eine, befindet sie sich wohl?« rief Mr. Pecksniff. »Sagen Sie mir, daß ihr nichts fehlt, lieber Schwiegersohn!«

»Ach was, gar nichts fehlt ihr«, rief Jonas, sich aus der Umarmung losmachend. »Nicht das geringste fehlt ihr.«

»Dir fehlt nichts!« jubelte Mr. Pecksniff und sank in den nächsten Stuhl, sich erleichtert über die Stirne fahrend. »O Gott, diese Schwäche. Aber ich kann nicht anders, Jonas. Ich danke Ihnen. – So, jetzt ist mir wieder leichter. Und was macht meine zweite – meine Erstgeborene, mein Cherrychen?«

»Was sie gewöhnlich macht«, brummte Mr. Jonas, »ein Essiggesicht. Sie wissen doch, Sie hat sich einen Verehrer beigebogen!«

»Ja, ich weiß es aus erster Hand, nämlich von ihr selber«, sagte Mr. Pecksniff. »Ich kann nicht in Abrede stellen, daß ich mit einer gewissen Angst dem Verluste auch meiner zweiten Tochter entgegensehe, Jonas; – wir Väter sind eben egoistisch, fürchte ich. Ja, ja. – Hm. Aber ich habe stets gestrebt, sie für den häuslichen Herd zu erziehen. Es ist das eine Sphäre, der Cherry stets zur Zierde dienen wird.« »Ach, Blech, ziert sich was«, bemerkte der zärtliche Schwiegersohn mit berückender Freimütigkeit. »Die hat’s nötig, sich – zu zieren.«

»Wenigstens sind meine Mädchen versorgt«, frohlockte Mr. Pecksniff, »glücklich versorgt, und ich habe nicht umsonst gearbeitet.«

Dasselbe würde er wahrscheinlich auch gesagt haben, wenn eine seiner Töchter den Haupttreffer gemacht und die andere eine wertvolle Börse auf der Straße gefunden haben würde. In beiden Fällen hätte er wahrscheinlich mit großer Feierlichkeit seinen patriarchalischen Segen auf ihr glückliches Haupt herniedergefleht und sich selbst unendlich viel darauf zugute getan haben, sie für ein so günstiges Los – erzogen zu haben.

»Ich dächte, wir sprächen jetzt mal von was anderem«, bemerkte Jonas trocken. »Wissen Sie, nur der Abwechslung wegen. Oder wollen Sie noch weiter Süßholz raspeln?«

»Nein, nein«, säuselte Mr. Pecksniff. »O Sie Schalk, Sie nichtsnutziger. Sie machen sich natürlich über einen armen alten zärtlichen Vater lustig. Nun wohl, er verdient es auch; aber er macht sich nichts daraus, daß Sie so reden. Seine Gefühle sind sein eigener Lohn. – Gedenken Sie bei mir zu bleiben, Jonas?«

»Nein. – Ich habe einen Freund bei mir.«

»So bringen Sie ihn doch mit«, rief Mr. Pecksniff in einem Anfall von Gastfreundschaft. »Bringen Sie so viele Freunde mit, wie Sie wollen.«

»Das ist kein Mann, der sich so leicht mitbringen läßt«, sagte Jonas sehr von oben herab. »Besten Dank, aber der sitzt ein bißchen zu hoch auf dem Baume, Pecksniff.«

Der Ehrenmann spitzte die Ohren. Sein Interesse erwachte. Hoch oben auf dem Baume sitzen war bei Mr. Pecksniff soviel wie Tugend, Größe, Herz, Verstand und Genie besitzen, oder besser gesagt, noch viel mehr, nämlich Geld. Zu einem Manne, der imstande war, auf ihn herabzusehen, konnte er niemals mit zu viel Ehrfurcht und Demut emporschauen. Das ist die Eigenschaft jedes großen Geistes und war daher auch seine.

»Ich will Ihnen aber sagen, was Sie tun könnten, wenn Sie wollen«, fing Jonas wieder an. »Kommen Sie und speisen Sie mit uns im ›Drachen‹. Wir mußten gestern abend in Geschäftsangelegenheiten über Salisbury fahren, und ich habe ihn überredet, mich diesen Morgen in seinem Wagen herüberzufahren – es war zwar nicht sein eigener, sondern eine Mietkutsche, denn der seinige ist in der letzten Nacht zerbrochen, aber das ist ja schließlich gleichgültig; – also, merken Sie jetzt gut auf, wie Sie sich ihm gegenüber zu benehmen haben. Er verkehrt nicht mit dem ersten Besten und ist an den feinsten Umgang gewöhnt.«

»Wohl irgendein junger Kavalier, dem Sie Geld geliehen haben – auf hohe Interessen, was?« scherzte Mr. Pecksniff und wackelte frohgelaunt mit dem Zeigefinger. »Es wird mich unendlich freuen, den lockeren Zeisig kennenzulernen.«

»Geliehen?« höhnte Jonas. »Ich ihm Geld geliehen? Wenn Sie den zwanzigsten Teil von dem besäßen, was er wegwerfen kann, dann würden Sie sich sofort zur Ruhe setzen. Wir könnten froh sein, wenn wir zusammen soviel hätten, wie seine Möbel, sein Silberservice und seine Gemälde wert sind. Das wäre mir der Rechte, um sich Geld von uns auszuborgen! Mr. Montague! Seit ich so glücklich – na, ich darf wohl sagen, so schlau war, mich bei der Versicherungsanstalt zu beteiligen, deren Vorsitzender er ist, habe ich mir schon – na, ist ja gleichgültig, wieviel ich verdient habe – es geht Sie nichts an«, brach Jonas seine Rede ab und tat wieder so zurückhaltend, wie er sonst in Geschäften zu sein pflegte. »Sie wissen, ich rede nicht gern von solchen Dingen, aber ein paar Schäfchen habe ich mir bereits ins trockne gebracht.«

»Wirklich, mein lieber Jonas?!« rief Mr. Pecksniff voller Wärme. »Aber einem solchen Herrn muß man doch Aufmerksamkeiten erweisen! Vielleicht hat er Lust, die Kathedrale zu besichtigen – woran ich nach der Schilderung, die Sie mir von ihm gaben, nicht zweifle; – oder wenn er Geschmack an den schönen Künsten findet, könnte ich ihm ein paar Bilder schenken; – eine Abbildung der Salisburykathedrale, lieber Jonas«, fuhr Mr. Pecksniff fort, in seinem Verlangen, sich in seinem besten Lichte zu zeigen, auf sein Steckenpferd geratend, »es ist ein Gebäude voll ehrwürdigster Erinnerungen und erweckt die erhabensten Gefühle. Wir sehen die Werke vergangener Jahrhunderte vor uns erstehen, wir lauschen den Tönen der Orgel, während wir durch das hallende Kirchenschiff wandeln, wir haben hier die Zeichnungen dieses berühmten Gebäudes von Norden, von Süden, von Osten, von Westen, von Südosten, von Nordwesten –«

Während dieses Redestromes hatte sich Jonas, die Hände in den Taschen und den Kopf schlau auf die Seite gelegt, auf seinem Stuhle hin und her geschaukelt; jetzt blinzelte er seinen Schwiegervater so listig an, daß dieser plötzlich innehielt und fragte, was das zu bedeuten habe.

»Ach Gott«, versetzte Jonas, »ach Pecksniff, wenn ich wüßte, wem Sie mal ihr Geld hinterlassen, so würde ich Ihnen vielleicht einen Rat geben, wie Sie es im Handumdrehen verdoppeln können. Es wäre ganz hübsch, wenn so ein Geschäftchen in der Familie bliebe, aber Sie sind mir ein viel zu durchtriebener –«

»Jonas, Jonas!« rief Mr. Pecksniff bewegt. »Sie wissen, ich bin kein Diplomat. Das Gefühl geht immer mit mir durch. Bei weitem der größere Teil von den unbedeutenden Ersparnissen, die ich – wie ich hoffen will – in einem nicht unehrenhaften oder nutzlosen Leben gesammelt habe, ist testamentarisch bereits jemandem vermacht, den ich Ihnen wohl nicht zu nennen brauche.« Und er drückte seinem Schwiegersohn die Hand so warm, als wolle er hinzusetzen: Gott beschütze dich, mein liebes Kind, und halte nur das Geld zusammen, das du einmal kriegen wirst.

Mr. Jonas jedoch schüttelte nur den Kopf, lachte höhnisch und sagte mit einer Miene, die zu bedeuten schien, er habe etwas Besseres im Sinn: nein, er wolle die Sache doch lieber für sich selber reservieren. Nach einer Weile meinte er, sie könnten vielleicht einen Spaziergang machen, und da Mr. Pecksniff daraufhin direkt darauf bestand, ihn zu begleiten, machten sie sich sofort auf die Beine. Unterwegs beobachtete Jonas dieselbe Zurückhaltung, mit der er das Zwiegespräch vor einer Weile abgeschlossen hatte, und da er durchaus keinen Versuch machte, einzulenken, sondern sich im Gegenteil nur noch roher und ungeschliffener als gewöhnlich benahm, so ahnte Mr. Pecksniff nicht im entferntesten seine wahre Absicht und gab sich immer mehr und mehr Blößen. Der Schurke urteilt stets nach sich selbst und glaubt, jeder verfahre auf dieselbe Weise wie er, und so schloß Mr. Pecksniff: wenn der junge Mann mich zu seinen Zwecken brauchte, würde er höflicher und schmeichlerischer sein.

Je weniger Jonas auf seine Fragen einging, desto angelegentlicher bewarb sich Mr. Pecksniff um das Glück, in das goldene Geheimnis eingeweiht zu werden, in das er bisher nur einen ganz unbestimmten Blick hatte tun können. »Wozu diese kalte, eigennützige Geheimniskrämerei unter Verwandten?« rief er. »Was wäre das Leben ohne Vertrauen, wenn der erkiesene Gatte seiner Tochter, der Mann, dem er sie mit soviel Stolz und Hoffnung und so überwältigt vor Freude gegeben, – wenn dieser Mann nicht einmal einen grünen Fleck in der öden Wüste des Lebens bedeuten sollte! Wo würde sich eine solche Oase sonst finden lassen?!«

Er ahnte nicht im entferntesten, auf was für einen grünen Fleck er in diesem Augenblick seinen Fuß gesetzt hatte, und wie wenig sah er voraus, als er sagte: »Alles ist vergänglich«, daß sich dieses Wort in kurzer Zeit an ihm selbst bewahrheiten sollte.

Jonas gedachte, ihm an jenem zarten Punkte, wo er selbst so empfindlich war, zu Leibe zu gehen, und fand eine boshafte Freude an seinen eigenen Schlangenwindungen, die er hämisch verfolgte, indem er vorsichtig Zoll für Zoll die blendenden Aussichten des anglobengalischen Institutes preisgab, statt sie in voller Pracht und auf einmal vor dem gierigen Auge seines Zuhörers zu entfalten. Ebenso tropfenweise ließ er seinen Schwiegervater ahnen, er halte es für gefährlich, jemanden, der wie Mr. Pecksniff, im Gegensatz zu ihm selbst, so redegewandt war, einem Manne wie Mr. Montague vorzustellen. Lieber, brummte er, wolle er sich seinen geliebten Schwiegervater drei Schritte vom Leibe halten, als ihn in die Karten gucken zu lassen.

In so kunstgerechter Weise geködert, erschien Mr. Pecksniff zum Dinner mit einem Aufwand von Sanftmut, Wohlwollen, Heiterkeit, Höflichkeit und philanthropischer Gesinnung, wie er es vielleicht noch nie in seinem Leben zustande gebracht. Die Freimütigkeit des Gentlemans vom Lande, die feine Bildung des Künstlers, die vornehme Nonchalance des Weltmannes, die ölige Mischung von Menschenfreundlichkeit und Nachsicht, Frömmigkeit und Duldung, alles vereinigte sich in ihm, als ihm der große Spekulant und Kapitalist, Mr. Montague, die Hand schüttelte. »Willkommen, hochverehrter Herr«, rief er, »in unserm bescheidenen Dorfe! Wir sind wohl nur schlichte Leute – sozusagen Naturmenschen, Mr. Montague, allein wir wissen die Ehre Ihres Besuches zu würdigen, wie mein teurer Schwiegersohn hier mir gewiß gerne bezeugen wird. – Sonderbar, höchst sonderbar«, rief er, die Hand Mr. Tiggs ehrfurchtsvoll drückend, »fast kommt es mir vor, als ob ich Sie kenne. Diese hochgewölbte Stirn, diese üppigen Haarlocken – wahrhaftig, mein hochverehrter Herr, ich glaube Sie schon einmal irgendwo in der vornehmen Welt gesehen zu haben.«

»Nichts wäre natürlicher«, war die einstimmige Antwort Jonas Chuzzlewits und Mr. Montagues.

»Es wäre die größte Ehre für mich«, säuselte Mr. Pecksniff weiter, »wenn ich Sie einem älteren Gaste unseres Hauses, dem Oheim unseres gemeinsamen Freundes hier, vorstellen dürfte. – Mr. Martin Chuzzlewit würde bestimmt stolz darauf sein, Ihnen die Hand drücken zu dürfen.«

»Weilt dieser Herr momentan hier?« fragte Mr. Montague sich verfärbend.

»Jawohl.«

»Aber Sie haben mir gar nichts davon gesagt, Mr. Chuzzlewit!«

»Ich nahm an, es wäre Ihnen gleichgültig«, knurrte Jonas. »Übrigens kann ich Ihnen sagen, es verlohnt sich nicht der Mühe, ihn kennenzulernen.«

»Aber Jonas, mein lieber Jonas!« rügte Mr. Pecksniff. »Wie sprichst du nur?«

»Ja, ja, natürlich; ich verstehe; Sie reden ihm jetzt das Wort«, brummte Jonas, »weil Sie ihn sich hübsch eingefädelt haben und auf die Erbschaft spekulieren.«

»Oho, daher bläst der Wind«, lachte Mr. Montague. »Haha!«

Schwiegersohn und Schwiegervater stimmten in das Gelächter ein; besonders der letztere.

»Aber, aber!« rief der Architekt, Jonas scherzhaft auf die Achseln klopfend. »Mr. Montague, Sie dürfen nicht gleich alles glauben, was mein lieber Schwiegersohn sagt. In Geschäftssachen können Sie ihm ja Glauben schenken und ihm auch vertrauen, aber seinen phantastischen Einfällen dürfen Sie kein Gewicht beilegen.«

»Meiner Seel, Mr. Pecksniff«, rief Mr. Montague, »ich lege seiner Bemerkung sogar das größte Gewicht bei und hoffe nur, daß sie auch wahr sein möge. So auf die gewöhnliche übliche Weise läßt sich nicht schnell Geld verdienen, Mr. Pecksniff; viel gescheiter ist’s, wenn man die Wurst richtig nach der Speckseite zu werfen weiß.«

»O pfui, o pfui!« rief Mr. Pecksniff. – Dann aber lachten sie wieder – besonders er.

»Wir wenigstens tun es, mein Ehrenwort«, sagte Mr. Montague.

»O pfui, pfui«, wiederholte Mr. Pecksniff. »Sie belieben zu scherzen. – Ich weiß bestimmt, es ist nicht der Fall – bin fest davon überzeugt. Gar bei Ihnen ist so etwas ausgeschlossen.« – Und wieder lachten sie zusammen – und Mr. Pecksniff am lautesten.

Die größten Meisterwerke der Kochkunst, die der »Drache« je geliefert, kamen jetzt auf den Tisch. Die besten und ältesten Weine im Keller des »Drachen« erblickten wieder einmal das Licht der Welt, und tausend kleine Anekdoten, die sämtlich auf Mr. Montagues Reichtum und hohe Stellung hinausliefen, wurden so ganz nebenbei aufgetischt. Mr. Pecksniff betonte immer wieder, es sei wirklich schade, daß Montague eine so geringe Meinung von den Menschen und ihren Schwächen habe. Er nahm es sich geradezu zu Herzen und kam ohne Unterlaß wieder darauf zurück, galt es doch, wie er sagte, seinen hochgeehrten Wirt zu bekehren. Und sooft Mr. Montague seinen Satz über das Spekulieren auf die Schwächen der Menschheit wiederholte und stets freimütig hinzusetzte: »Wir wenigstens tun es«, ebensooft wiederholte Mr. Pecksniff: o pfui, o pfui, das wäre ja eine Schande; ich weiß genau, Sie denken anders.

Kurz, des Scherzens und der Ausgelassenheit waren kein Ende. Nachdem diese Scharmützel eine Weile gedauert hatten, wurde Mr. Pecksniff plötzlich beinahe bis zu Tränen ernst. Er bemerkte, wenn Mr. Montague es erlaube, wolle er die Gesundheit seines jungen Verwandten, Mr. Jonas Chuzzlewit, ausbringen und sich selbst zu diesem neugeschlungenen Verwandtschaftsbande Glück wünschen. Dabei konnte er nicht umhin, zuzugestehen, daß er ihn beneide, seinen Nebenmenschen so nützlich werden zu können, denn wenn er die Zwecke des Instituts, mit dem Jonas jetzt so vorteilhafterweise in Verbindung getreten, richtig erfasse – er kenne sie freilich nur unvollkommen –, so seien sie darauf berechnet, Gutes zu wirken, und er selbst würde glauben, mit Sicherheit dereinst selig entschlummern zu können, falls er imstande wäre, ihren Plänen in was immer für einer Weise dienlich sein zu dürfen.

Der Übergang zu dieser zufällig hingeworfenen Bemerkung – denn das war sie natürlich, entsprang sie doch aus Mr. Pecksniffs übersprudelnder Herzlichkeit – bis zur Besprechung des Themas in Form einer wirklichen Geschäftssache war äußerst leicht. Bald lagen Bücher, Papiere, Tabellen und Berechnungen aller Art auf dem Tische ausgebreitet, und da sie nur zu einer bestimmten Absicht vorbereitet waren, so kann man sich leicht denken, daß sie samt und sonders auf das eine Ziel hinausliefen. Sooft sich übrigens Mr. Montague hinsichtlich des Gewinnes des Geschäftes näher ausließ und die Versicherung abgab, es müsse herrlich gedeihen, solange es noch einfältige Leute auf der Welt gebe, rief Mr. Pecksniff jedesmal mit Milde: o pfui! und wäre aus ganzem Herzen bestimmt geneigt gewesen, dem Sprecher allerlei Vorstellungen zu machen, hätte er nicht gewußt, daß das alles natürlich zum Scherz war. Innerlich wußte der Treffliche natürlich auch, daß ihm mit seinen eigenen Einwendungen nicht im geringsten ernst war.

Die Gelegenheit war günstig, und er begriff sofort, er würde lange warten müssen, bis eine ähnliche wiederkehre, um eine beträchtliche Summe anzulegen, denn je höher die Einlage, desto größer natürlich die Vorteile. Zwar mischte sich Jonas des öfteren ins Gespräch, zeigte sich grämlich und mürrisch oder fand da und dort Bedenken oder Fehler und riet dem Schwiegervater brummend, sich die Sache ja genau zu überlegen, aber Mr. Pecksniff – durchschaute das natürlich. Die Summe, die zu einer Teilhaberschaft an dem famosen Geschäft berechtigen konnte, betrug beinahe soviel wie die Höhe seiner sämtlichen Ersparnisse – Mr. Martin Chuzzlewits zukünftige Erbschaft nicht mit eingerechnet, wenn dieser sie auch im Geiste bereits als sein eigen betrachtete; und wie die Sachen standen – wenigstens nach den bücherlichen Aufzeichnungen –, mußte das Geld binnen Kürze mit ungeheurem Gewinne wieder zurückströmen. Kurz, die Unterhaltung schloß damit, daß Mr. Pecksniff einwilligte, der letzte Teilhaber an der anglobengalischen Kompagnie zu werden, und es wurde beschlossen, daß er übermorgen mit Mr. Montague in Salisbury dinieren und den Kontrakt unterzeichnen solle.

Immerhin dauerte es noch eine geraume Zeit, bis die Sache so weit gediehen war, und es schlug bereits Mitternacht, als sich das edle Kleeblatt trennte.

Als Mr. Pecksniff die Treppe hinunterging, sah er Mrs. Lupin an der Türe stehen und hinausblicken.

»Oh, meine liebe Freundin«, rief er, »noch immer nicht zu Bett? Stellen Sie vielleicht astronomische Beobachtungen an, Mrs. Lupin?«

»Es ist eine so schöne sternenhelle Nacht, Sir.«

»Eine schöne sternenhelle Nacht«, bekräftigte Mr. Pecksniff und blickte zum Firmamente auf. »Sehen Sie nur, wie hell diese Planeten leuchten. Betrachten Sie sie – – – Übrigens, Mrs. Lupin, die beiden jungen Leute, die heute morgen hier waren, haben doch hoffentlich Ihr Haus schon verlassen.«

»Jawohl Sir, sie sind abgereist«, war die Antwort.

»Freut mich zu hören«, rief Mr. Pecksniff. »Bitte, betrachten Sie nur einmal diese Wunder des Firmamentes. Wahrhaft ein glorreicher Anblick. Sooft ich zu diesen schimmernden Welten aufblicke, deucht es mir, als ob eine der andern zublinzele, als wollten sie sich gegenseitig auf die Eitelkeit des menschlichen Tuns aufmerksam machen. Oh, ihr lieben Mitmenschen«, Mr. Pecksniff schüttelte mitleidig den Kopf, »wie sehr seid ihr in Irrtum befangen! Ihr wandelt in der Täuschung, ihr lieben, den Würmern verfallenen Brüder. Wie zufrieden sind dagegen die Sterne in ihren Sphären! Warum lasset ihr euch dies nicht zum Beispiel dienen? O lasset ab, meine verblendeten Freunde, mit euerm Ringen und Kämpfen um Reichtum und Ruhm! Lasset ab und blicket mit mir zum Himmel auf.« Mrs. Lupin schüttelte den Kopf und seufzte; es war gar zu rührend.

»Blicket mit mir gen Himmel auf«, wiederholte Mr. Pecksniff, die Hand enthusiastisch ausstreckend – »mit mir, einem demütigen Erdenmenschen, der gleichfalls nur ein Insekt ist wie ihr selbst. Können Gold, Silber und kostbare Steine funkeln wie diese Sterne? Nein fürwahr. Also dürstet nicht nach Silber, Gold oder Juwelen, sondern blicket auf mit mir gen Himmel.«

Damit tätschelte er Mrs. Lupins Hand, als wolle er hinzusetzen: »Prägen Sie sich dies wohl ein, meine liebe Frau«, und ging dann, den Hut unter dem Arm, verzückt von dannen.

Jonas war inzwischen sitzen geblieben, genau wir ihn Mr. Pecksniff verlassen hatte, und blickte jetzt finster auf seinen Freund, der, von einem Haufen Akten umgeben, eine Zahlenreihe auf einem langen Papierstreifen durchrechnete.

»Sie wollen also bis übermorgen in Salisbury warten?« fragte er.

»Sie haben doch gehört, wobei wir verblieben sind«, versetzte Mr. Montague, ohne aufzublicken. »Ich hätte übrigens auch sowieso so lange gewartet; schon des Jungen wegen.«

Die beiden schienen wieder einmal ihre Rollen gewechselt zu haben: Mr. Montague war sehr aufgeräumt und Jonas düster und trüb.

»Sie brauchen mich jetzt natürlich nicht mehr?« fragte Jonas nach einer Pause.

»Ich brauche nur noch Ihre Unterschrift hier«, erwiderte Mr. Tigg mit einem spöttischen Lächeln. »Ich muß nur noch den Stempel hier oben ausfüllen, für das Extrakapital – weiter nichts. Wenn Sie übrigens nach Hause reisen wollen, so kann ich Pecksniff ganz gut allein weiter bearbeiten. Es herrscht ja das beste Einverständnis zwischen uns.«

Jonas sah seinen Kompagnon düster an, während dieser stumm weiterschrieb. Als er zu Ende gekommen und das Blatt auf dem Löschpapier seines Reisepultes abgetrocknet hatte, blickte er auf und schob seinem Associé die Feder zu.

»Also nicht einen Tag Frist?« rief Jonas bitter. »Trotz der Mühe, die ich mir heute abend gegeben?« »Das Werk dieser Nacht gehörte mit zu unserm Vertrage«, versetzte Mr. Montague gelassen. »Dasselbe ist mit diesem Kontrakt hier der Fall.«

»Sie pressen mich aus wie eine Zitrone«, knirschte Jonas und trat an den Tisch. »Geben Sie her!«

Montague reichte ihm das Papier. Nachdem Jonas noch eine Weile gezögert, seinen Namen unter den Kontrakt zu setzen, tauchte er hastig die Feder in das nächste Tintenfaß und fing an zu unterschreiben. Kaum hatte er jedoch begonnen, als er wie in panischem Schrecken zurückfuhr.

»Zum Teufel noch mal, was ist das?« rief er. »Das ist ja Blut.«

Wie er im nächsten Augenblick erkannte, hatte er die Feder in rote Tinte getaucht. Er schien diesen Irrtum merkwürdig ernst aufzufassen, als lege er ihm irgendeine geheime Bedeutung bei. Erregt fragte er, wo die rote Tinte hergekommen sei, wer sie gebracht habe und zu welchem Zweck sie hier stünde. Dabei sah er Mr. Montague lauernd an, als vermute er, dieser habe ihm einen Possen spielen wollen; sogar, als er eine andere Feder und die schwarze Tinte benützte, machte er zuerst auf einem Papierstreifen ein paar Striche, als fürchte er immer noch halb und halb, die blutähnliche Farbe zu sehen.

»Na, diesmal ist sie schwarz«, knurrte er und reichte das Blatt Mr. Tigg hin. »Gute Nacht.«

»Schon fort? Sie wollen doch noch nicht abreisen?«

»Noch ehe Sie aus dem Bette sind, werde ich zeitig früh auf der Landstraße warten, um die Post abzupassen. Adieu.«

»Sie sind aber pressiert!«

»Ich habe allerlei zu tun«, brummte Jonas. »Adieu.«

Erstaunt sah Mr. Montague dem Forteilenden nach, aber dann drückten seine Mienen Freude und Beruhigung aus.

»Desto besser«, murmelte er. »So fügt sich’s von selber, wie ich’s wünsche. Ich werde allein nach Hause reisen.«

45. Kapitel


45. Kapitel

Tom Pinch und seine Schwester leisten sich ein kleines Extravergnügen; selbstverständlich in den bescheidensten Grenzen

Als sich Tom Pinch und seine Schwester unmittelbar nach der Szene auf dem Kai ihrer verschiedenen Geschäfte wegen trennen mußten, dachten Tom, in seiner einsamen Arbeitsstube angelangt, und Ruth in ihrem dreieckigen Salon den ganzen Tag über an nichts anderes als an das, was vorgefallen, und als die Stunde ihres nachmittäglichen Zusammentreffens herannahte, hatten sie immer noch den Kopf ganz voll davon.

Es war eine Art stummen Einverständnisses zwischen ihnen, daß Tom jedesmal ein und denselben Weg einschlug, wenn er aus dem Tempel wegging. Dieser Weg führte an der Fontäne vorüber durch den Fontänenhof, und dabei warf er jedesmal einen Blick über die Stufen, die nach dem Gartenhofe hinunterführten, und sah sich einmal in der Runde um. War dann Ruth gekommen, so fand er sie verabredungsgemäß hier, nicht etwa gemächlich herumschlendernd – der Kommis wegen, die sie sonst wahrscheinlich zudringlicherweise angeredet hätten –, sondern ihm munter und fröhlich entgegeneilend, mit einem Glanz auf dem Gesichtchen, der den der Fontäne wohl tausendmal übertraf. Fünfzig gegen eins war dann zu wetten, daß Tom jedesmal auf die unrechte Seite blickte und sie schon gar nicht mehr erwartete, während sie ihm bereits schnurstracks entgegenkam und mit den Schlüsseln in ihrer kleinen Retiküle klingelte, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Ob die kümmerliche Vegetation im Fontänenhof den armen berußten Bäumen und Sträuchern genug Leben ließ, so daß sie imstande gewesen wären, die Anwesenheit des hübschesten und herzigsten Mädchens unter der Sonne zu fühlen, das ist eine Frage für Gärtner oder für die, die mit dem Seelenleben oder den Herzensbedürfnissen von Pflanzen näher bekannt sind. Aber daß es sich auf dem gepflasterten Hofe recht hübsch ausnahm, wenn die zarte kleine Gestalt darüber hinhuschte und wie ein Lächeln an den düsteren alten Häusern und über die abgetretenen Steinfliesen hinglitt, um sie dann in Öde und Langeweile wieder zurückzulassen, das ist Tatsache. Am liebsten wäre die Tempelfontäne wohl zwanzig Fuß hoch emporgesprungen, um den Lenz hoffnungsvoller Jungfräulichkeit zu begrüßen, der in Ruths kleiner Persönlichkeit sich strahlend durch die dürren staubigen Kanäle dieses Heimes der Rechtsprechung stahl. Die zwitschernden Sperlinge, in den Spalten und Ritzen des Londoner Tempels geboren, schwiegen dann gerne, wie um den unsichtbaren Lerchen zu lauschen, die aus der Höhe des Himmels herab die Anwesenheit des so lieblichen Kindes besangen, und die dürren bestaubten Äste, nicht mehr gewohnt, sich herabzuneigen, seit sie kleine Pflänzchen gewesen, bemühten sich, sich freundlich herabzusenken, um mit Blätterrauschen ihren Segen über Ruths anmutiges Haupt zu gießen. Alte Liebesbriefe, in eisernen Kisten eingeschlossen, in den Bureaus ringsum und unter den alten Familiendokumenten, zwischen die sie geraten waren, unbeachtet und vergessen, hätten sich am liebsten rühren mögen und aufrauschen, um sich einen Augenblick an ihre alten Zärtlichkeiten zu erinnern, wenn Ruth so mit leichtem Schritt vorüberging. Alles das und noch viel mehr hätte in der belebten und leblosen Natur Ruth zuliebe geschehen können.

An diesem Nachmittage ereignete sich aber außerdem noch etwas. Zwar nicht ihr zuliebe, sondern rein zufällig, und ohne im geringsten durch sie veranlaßt zu sein.

Entweder war sie zu früh gekommen, oder Tom kam zu spät – sie war sonst in der Regel so pünktlich, daß sie es gewöhnlich auf die halbe Sekunde traf –, doch wer nicht kommen wollte, war Tom. Aber statt seiner war jemand anders da, und sie errötete so tief, als sie sich umsah und ihn erblickte, daß sie mit ungewöhnlicher Hast die Stufen hinabtrippelte.

Der Zufall hatte nämlich gefügt, daß in diesem Augenblick gerade Mr. Westlock vorüberging. Der Tempel ist eine öffentliche Passage, und mag auch hundertmal auf die Tore geschrieben stehen: »Kein Durchgang« – solange die Tore offenstehen, geht jeder durch. Warum hätte es sich da gerade Mr. Westlock versagen sollen? Aber weshalb lief Ruth davon? Sie war doch nicht schlecht gekleidet, vielmehr so sauber und niedlich wie immer; warum lief sie also davon? Ihre braunen Locken, die unter ihrem Hütchen hervorquollen mit einer einzigen gottlosen falschen kleinen Rose darin, die sich ihrer Frechheit vor aller Welt rühmte, konnten doch nicht die Ursache sein? Also warum lief sie davon?

Lustig glitzerte die schlanke Fontäne, und lustig strahlten die Grübchen auf Ruths sonnigem Antlitz. John Westlock eilte ihr nach. Unter murmelndem Flüstern fiel und brach sich die Fontäne, und die Grübchen zuckten schelmisch, als John Ruth nacheilte.

Warum tat sie nur, als merke sie sein Kommen nicht? Warum wünschte sie sich so weit weg und zitterte doch vor Seligkeit?

»Wußte ich es doch, daß Sie es sein mußten«, sagte John, als er sie im Heiligtum des Gartenhofes einholte. »Ich wußte gleich, daß ich mich nicht täuschen konnte.«

Ruth war außerordentlich überrascht.

»Sie warten wohl auf Ihren Bruder?« fragte John. »Wenn Sie erlauben, werde ich Ihnen Gesellschaft leisten.«

Die Berührung ihres kleinen Händchens war so leicht, daß er niederschaute, um sich zu überzeugen, ob sie seinen Arm auch wirklich angenommen habe. Sein Blick wurde für den Moment von den leuchtenden Augen des Mädchens festgehalten, und er vergaß daher seine erste Absicht und blieb eine Sekunde stehen.

Dann schlenderten sie wohl drei- oder viermal auf und ab und unterhielten sich über Tom und seine geheimnisvolle Beschäftigung. Das war gewiß ein sehr natürliches und unschuldiges Thema, warum senkte also Ruth, sooft sie aufblickte, sogleich ihre Augen wieder und betrachtete das Pflaster des Hofes so sorgsam? Ihre Augen hatten gewiß das Licht nicht zu scheuen, sie brauchten nicht Verstecken zu spielen, um an Reiz und Schönheit zu gewinnen. Ruth war viel zu lieb und ursprünglich, um solcher kleinen Künste zu bedürfen. Fühlte sie vielleicht, daß John sie nicht aus den Augen ließ?

Endlich entdeckten sie Tom, und zwar schon in der Ferne. Er blickte wie gewöhnlich nach allen Richtungen, nur nicht in der, auf die es ankam, und vermied diese so hartnäckig, rein als ob er es mit Absicht täte. Als sie sich schließlich klar waren, daß er imstande wäre, direkt nach Hause zu eilen, wenn man ihn nicht daran verhinderte, eilte John Westlock auf ihn zu.

Das mußte die arme kleine Ruth natürlich abermals in größte Verlegenheit bringen. Tom zeigte auch richtig das größte Erstaunen, denn Geistesgegenwart war nicht seine starke Seite, aber John rettete die Situation oder trachtete sie wenigstens zu retten, indem er mit höchst unnötiger Beredsamkeit ihr Beisammensein erklärte. Ruth fühlte glühendes Rot in ihre Wangen steigen, suchte aber möglichst gleichgültig die Augenbrauen in die Höhe zu ziehen und ihre rosigen Lippen aufzuwerfen, als gehe sie die ganze Sache gar nichts an.

»Was für ein höchst außerordentliches Zusammentreffen!« rief Tom. »Ich hätte mir nichts weniger träumen lassen, als euch beide hier zusammen zu sehen.«

»Es war ganz zufällig«, stotterte John.

»Natürlich«, sagte Tom. »Ich wollt es gerade bemerken, denn wenn es nicht zufällig wäre, läge nichts Merkwürdiges darin.«

»Natürlich«, stammelte John.

»Nein, daß ihr euch an einem Ort, der so ganz außer Johns Wege liegt, treffen müßt«, fuhr Tom ganz entzückt fort. »Und noch dazu an einem so ungewöhnlichen Platz.«

John bestritt das. Im Gegenteil, meinte er, der Platz sei gar nicht so ungewöhnlich. Er pflege hier übrigens immer auf und ab zu gehen und er würde sich gar nicht wundern, wenn sich Ähnliches wiederum begeben sollte. Er seinerseits sei nur erstaunt, daß es nicht schon früher geschehen.

Indessen hatte Ruth den Arm ihres Bruders genommen und drückte ihn jetzt, um ihm zu verstehen zu geben, er solle doch nicht den ganzen Tag hier stehen bleiben.

»John«, sagte Tom, »wenn du meiner Schwester deinen Arm reichen willst, so können wir sie in die Mitte nehmen und zusammen weitergehen. Ich habe dir übrigens von einem höchst seltsamen Umstand zu berichten. Wirklich ausgezeichnet, daß wir uns heute getroffen haben.«

Lustig hüpfte und tanzte die Fontäne, und Grübchen bildeten sich in dem Becken und barsten wie in lautem Lachen. »Tom«, sagte John Westlock, als sie in eine belebte Straße einbogen, »ich hätte dir einen Vorschlag zu machen. Ich würde mich riesig freuen, wenn du und deine Schwester – falls sie die Wohnung eines alten Junggesellen mit ihrer Gegenwart beehren will – mir heute beide das Vergnügen machtet, bei mir zu speisen.«

»Wie? Heute?« rief Tom.

»Jawohl, heute. Du weißt, ich wohne ganz in der Nähe. Ich bitte, Miss Pinch, bestehen Sie doch darauf. Freilich wird es eine sehr uneigennützige Hilfe von Ihnen sein, denn ich kann Ihnen nicht viel vorsetzen.«

»Das darfst du natürlich nicht glauben, Ruth«, fiel Tom ein, »er ist ein ganz wüster Bursche. So etwas von einer Junggesellenwirtschaft habe ich überhaupt noch nicht gesehen. Beim Bürgermeister von London könnte es nicht höher hergehen. Also was meinst du? Wollen wir zu ihm gehen?«

»Ganz wie du glaubst, Tom«, entgegnete Ruth gehorsam.

So wurde denn die Einladung angenommen.

»Hätte ich früher gewußt, daß es sich so treffen wird«, sagte John, »so würde ich eine andere Art von Pudding besorgt haben. Nicht, um mit Ihnen zu rivalisieren, Miss Pinch, sondern bloß des Gedächtnisses wegen an Ihren famosen Pudding von damals; keinesfalls hätte ich ihn mit Rindsfett gemacht.«

»Warum denn nicht?« fragte Tom.

»Es steht zwar so im Kochbuch«, sagte John, »aber bei euch war er aus Mehl und Eiern. Haha!«

»Was? Unserer war aus Mehl und Eiern bereitet?« rief Tom. »Ein Beefsteakpudding aus Mehl und Eiern! Da hört sich doch alles auf.«

Es ist unnötig hervorzuheben, daß Tom, der doch bei der Bereitung des Puddings zugegen gewesen war, andächtig an ihn glaubte, aber er fand eine gewisse Freude daran, seine geschäftige kleine Schwester ein wenig zu necken, und immerfort rief er daher mit unverwüstlicher Fröhlichkeit: »Mehl und Eier! Ein Beefsteakpudding aus Mehl und Eiern!«, bis John Westlock und Ruth ihn allein stehen ließen und mitsammen vorausgingen. Dann kam er ihnen langsam nach mit von so zärtlicher Freude strahlendem Gesicht, daß sicher schönes Wetter geworden wäre, wenn nicht schon sowieso die Sonne geschienen hätte.

Die Inns, in denen die Junggesellen in London leben, haben ganz prächtige Zimmer aufzuweisen. Es ist erstaunlich, wie gut sich dieses Gesindel fortbringt, trotzdem es sich jedesmal und überall über Einsamkeit beklagt. Auch John erging sich pathetisch in allerhand Klagen über sein trauriges Dasein und über die kläglichen Notbehelfe, auf die er angewiesen sei. Aber trotz alledem schien es ihm recht gut im Leben zu gehen. Seine Zimmer waren äußerst reinlich und bequem, und wenn es ihm darin nicht wohl war, sie traf gewiß keine Schuld.

Kaum hatte er Tom und Ruth in seine beste Stube geführt, wo eine schöne kleine Vase mit frischen Blumen stand – rein als ob man eine Dame erwartet hätte, meinte Tom –, als er auch schon wieder nach seinem Hut griff und geschäftig hinauseilte. Gleich darauf sah ihn das Geschwisterpaar in Begleitung einer Matrone mit glühend rotem Gesicht und einem zerknüllten Hut, dessen auffallend lange Bänder ihr über den Rücken hinunterflatterten, wieder zurückkehren. Sofort begann er sodann unter Beihilfe dieser äußerst tüchtigen Person das Tischtuch für das Dinner zurechtzulegen, eigenhändig die Weingläser zu polieren, den Deckel einer Pfefferbüchse an seinem Rockärmel blank zu reiben, Flaschen zu entkorken und die Getränke mit auffallendem Geschick in Karaffen zu füllen. Rein, als ob es Aladins Wunderlampe sei, die er da rieb und polierte, erschien mit einem Mal, wenn auch nicht eine Schar von zwanzigtausend übernatürlichen Sklaven, so doch ein Wesen mit einer weißen Weste, das eine Serviette unter dem Arme trug, begleitet von einem anderen Wesen mit einer ovalen kleinen Schüssel auf dem Kopf, aus der sogleich ein dampfendes Gericht zum Vorschein kam. Lachs, Lammbraten, Erbsen, ganz unschuldige junge Kartoffeln, ein Salat, kühl bis ans Herz hinan, Gurkenschnitten, ein zartes Entchen und eine Torte, alles stand im Nu auf dem Tisch und alles zu rechter Zeit. Woher es kam, das wußte niemand, aber unaufhörlich ging die ovale Schüssel aus und ein und verkündete das Wesen mit der weißen Weste ihre Ankunft vor der Türe draußen durch ein bescheidenes Klopfen – denn nachdem es sich zum erstenmal kühn gezeigt, wagte es offenbar nicht mehr im Zimmer zu erscheinen. Das Wesen in der weißen Weste war niemals sonderlich überrascht in solchen Fällen und schien sich auch nicht im geringsten über diese außerordentlichen Vorgänge oder über die Schätze zu wundern, die man dann in der Truhe fand, denn es nahm sie stets mit der gelassensten Miene von der Welt heraus und stellte sie auf den Tisch. Das Wesen war überhaupt ein sehr freundlicher Mann, sanft in seinem ganzen Gehaben und außerordentlich für den Gaumen der Gesellschaft besorgt. Es war auch ein gelehrter und sehr erfahrener Mann, kannte genau John Westlocks Lieblingssaucen und pries sie leise und gefühlvoll an, wenn es die kleinen Kännchen herumreichte. Und es war auch ein ernster und stiller Mann, denn kaum war das Dinner vorüber und der Wein mit dem Obst auf dem Tische erschienen, so verschwand es mitsamt der Wundertruhe wie ein Geist.

»Hab ich’s nicht gleich gesagt: John ist ein wüster Bursche?« rief Tom. »Sollte man so etwas überhaupt für möglich halten!?«

»Ach, Miss Pinch«, klagte John, »das sind eben so die einzigen Sonnenblicke in dem traurigen Leben, das man als Junggeselle hier führt. Ich hätte es kaum mehr länger ertragen, wenn es sich nicht heute, Gott sei Dank, aufgehellt hätte.«

»Glaub ihm doch kein Wort!« rief Tom, »er lebt wie ein Fürst hier und möchte nicht um alles in der Welt mit irgend jemandem tauschen. Er spielt jetzt nur absichtlich den Leidenden.«

Aber John schien durchaus nicht zu scherzen; es schien ihm vielmehr sehr ernst mit seinem Wunsch, man möge ihm glauben, welch trauriges, einsames, unbehagliches Leben er für gewöhnlich hier führe. Es sei ein elendes, unglückliches Leben, sagte er, und er denke an nichts anderes, als das Quartier so bald wie möglich loszuwerden. – Morgen schon wolle er es zum Vermieten ausschreiben lassen.

»Na«, meinte Tom Pinch, »ich wüßte wahrhaftig nicht, wo du hinziehen solltest, um es besser zu haben. Mehr sag ich nicht. Was meinst du dazu, Ruth?« Ruth spielte mit den Kirschen auf ihrem Teller und sagte, sie glaube, Mr. Westlock müsse ganz glücklich sein; sie könne unmöglich daran zweifeln.

Wie schüchtern sie das hervorbrachte.

»Aber du vergißt ja ganz, daß du uns erzählen wolltest, Tom, was dir heute früh passiert ist«, schloß sie hastig den Satz.

»Ja richtig«, rief Tom; »vor lauter Geschwätz über alles mögliche kam ich gar nicht dazu und hatte es schon ganz und gar vergessen. Ich werde dir gleich jetzt alles erzählen, John, damit ich’s nicht wieder vergesse.«

Als er dann den Vorgang auf dem Kai erzählte, wurde John Westlock plötzlich sehr nachdenklich und legte ein Interesse an der Geschichte an den Tag, das Tom geradezu unbegreiflich schien. Er sagte, er kenne die alte Frau, deren Bekanntschaft sie gemacht hätten, oder glaube es wenigstens, und wolle wetten, daß sie nach Toms Beschreibung »Gamp« heißen müsse. Was es aber für eine Nachricht gewesen sei, mit deren Überbringung Tom so unerwarteterweise beauftragt worden, und warum sie gerade ihm anvertraut worden, und wieso so ganz verschiedene Personen darin verwickelt seien, und was überhaupt für ein Geheimnis der ganzen Sache zugrunde liege, das sei ihm ein Rätsel. Tom war von vornherein überzeugt gewesen, daß die Erzählung seinen Freund interessieren würde, aber auf ein so warmes Interesse hatte er nicht gerechnet, denn John Westlock hörte gar nicht auf, immer wieder darauf zurückzukommen, selbst nachdem Ruth das Zimmer verlassen hatte, und behandelte das Thema mit viel größerer Wißbegierde, als zu erwarten gewesen war.

»Ich werde natürlich mit meinem Hauswirt darüber sprechen«, schloß Tom, »wenn er auch ein höchst auffallend geheimnisvoller Mensch ist und mir voraussichtlich nicht viele Auskünfte geben wird – angenommen, daß er überhaupt weiß, was in dem Briefe stand.«

»Daß das der Fall ist, darauf möchte ich schwören«, fiel ihm John ins Wort.

»So? Meinst du?«

»Ich bin überzeugt davon.« »Also gut«, sagte Tom, »wenn ich ihn zu Gesicht bekomme – allerdings geht er in etwas seltsamer Weise in seinem Hause ein und aus, aber trotzdem will ich’s versuchen, ihn morgen früh abzufangen – also, wenn ich ihn sehe, werde ich ihm meine Meinung sagen, wieso er mich zu einem so unangenehmen Auftrag mißbrauchen konnte. Ich habe mir übrigens schon gedacht, John, ich könnte eigentlich morgen früh zu Mrs. ––– wie heißt sie doch nur? – ja richtig – zu Mrs. Todgers gehen, vielleicht treffe ich dort die arme Gratia Pecksniff. Ich könnte mich dann bei ihr rechtfertigen und ihr erklären, wieso ich in die ganze Sache verwickelt wurde.«

»Da hast du ganz recht, Tom«, rief John Westlock nach kurzer Überlegung. »Es ist wohl das Beste, was du tun kannst. Sei’s übrigens, wie es wolle, es steckt gewiß nichts Gutes dahinter, und es kann nur wünschenswert für dich sein, jeden Schein zu vermeiden, als hättest du mit Vorsatz die Hand in der Angelegenheit gehabt. Ich würde dir sogar raten, womöglich ihren Gatten aufzusuchen und ihn von deiner Unschuld zu überzeugen, indem du ihm schlicht den Hergang dieser Sache erzählst. Mir schwant, es ist da irgendeine Schurkerei im Werke. Ich werde dir ein andermal die Gründe, die mich dazu veranlassen, mitteilen. Ich muß aber selbst erst gewisse Erkundigungen einziehen.«

Das alles klang für Tom Pinch höchst geheimnisvoll. Da er jedoch wußte, daß er sich in allen Stücken auf seinen Freund verlassen konnte, so entschloß er sich, dessen Rat unbedingt zu befolgen.

Höchst ergötzlich anzusehen, wie sich inzwischen die kleine Ruth in John Westlocks Räumen, während dieser und Tom beim Weine plauderten, benahm. Voller Sanftheit versuchte sie, mit der Matrone mit dem roten Gesicht und dem verknitterten Hut, die zu ihrer Bedienung dageblieben war, nachdem sie einen verzweifelten Versuch gemacht, sich etwas stattlicher herauszuputzen, und einen ausgewaschenen gelben Rock mit ebensolchen Blumen darin, die wie zerlassene Butterstücke in der Pfanne aussahen, angezogen hatte, ein Gespräch anzuknüpfen, aber mit grimmiger, drachenartiger Unbeugsamkeit wies die alte Dame jeden Annäherungsversuch zurück, rein, als ob sie von einer feindlichen und gefährlichen Macht kämen, die nichts weniger im Schilde führe, als ihr einen Kunden abspenstig zu machen oder das Rätsel aufzuklären, wieso es komme, daß Tee und Zucker von selbst verschwänden, und ähnliches mehr. Mit verschämter und entzückender Neugierde guckte die kleine Ruth, als die Dame mit dem roten Gesicht schließlich fort war, in die verstreut umherliegenden Bücher und andere Siebensachen und zerbrach sich den Kopf, wer wohl die hübschen Nippesfiguren auf dem Kaminsims entworfen und zusammengestellt haben möge. Es war ein entzückendes Bild, wie sie mit zögernder Hand ihre Blumen zusammenband, sie an ihren Busen steckte und beinahe errötend über ihr hübsches Gesicht im Spiegel sich mit seitwärts geneigtem Kopf ansah, halb entschlossen, sie wieder fortzutun, dann aber wieder, sie zu belassen, wo sie waren.

John schien förmlich wonnetrunken zu sein, denn als er mit Tom zum Tee hereinkam, nahm er ganz befangen und wie verzaubert sofort neben Ruth Platz. Als schließlich das Teeservice abgetragen worden war und Tom sich ans Klavier setzte und sich in seine alten Orgelmelodien vertiefte, saß er immer noch am offenen Fenster neben ihr und blickte stumm hinaus in die Dämmerung.

In Furnivals Inn gibt es im allgemeinen wenig genug zu sehen. Es ist ein schattiger, geruhsamer Ort, der nur das Echo der vorübereilenden Schritte nachhallen läßt und an Sommerabenden sogar einen eintönigen und düsteren Eindruck macht. Was mochte dem Orte plötzlich einen solchen Zauber gegeben haben, daß Ruth und John am Fenster stehen blieben und so wenig auf den Flug der Zeit achteten wie Tom, der Träumer, der sich inzwischen ganz in die Melodien verloren hatte, die so oft seine Seele ruhig gestimmt? Welche Zaubermacht lag in dem langsam entschwindenen Dämmerlicht und der sich immer mehr ansammelnden Dunkelheit – in den da und dort aufblitzenden Sternen – in der Abendluft, in dem fernen Gesumme der City und dem Zusammenklingen der alten Kirchturmuhren? Die göttlichste und herrlichste Landschaft, die es auf Erden gibt, hätte die beiden mit ihrer Schönheit wohl nicht stärker zu fesseln vermocht. Immer tiefer und dunkler wurden die Schatten, und das Zimmer lag bereits in schwarzer Finsternis. Immer noch wanderten Toms Finger über die Tasten, und immer noch standen die beiden am Fenster.

Endlich fühlte Tom die Hand seiner Schwester auf seiner Schulter und ihren Arm auf seiner Stirn; – er erwachte aus seinen Träumereien.

»O Gott«, rief er, plötzlich auffahrend, »ich fürchte, ich bin sehr rücksichtslos und unhöflich gewesen.« – Er hatte keine Ahnung, wieviel Rücksicht er im Gegenteil geübt hatte. – »Singe uns doch etwas, Liebste«, lud er Ruth ein, »komm, laß uns deine Stimme hören!« Und in so eindringlicher Weise vereinigte John Westlock seine Bitten mit den seinigen, daß nur ein Herz von Stein hätte widerstehen können. Sie aber hatte kein Herz von Stein. O Gott, nichts weniger als das. Sie setzte sich also nieder und begann mit süßer einschmeichelnder Stimme eine von Toms Lieblingsballaden zu singen, alte Romanzen mit hie und da einer Pause für ein paar einfache Akkorde, wie sie die Harfeniere in alter Zeit erklingen ließen, um sich den Gang einer halbvergessenen Sage ins Gedächtnis zu rufen, Texte aus den Liedern alter Dichter, mit so passenden Melodien zusammengefügt, daß die Musik wie der Atem des Poeten war, und dann wieder eine Melodie, so fröhlich und leicht beschwingt, daß man glauben mußte, die, die sie da sang, könne nie und nimmer traurig sein oder eines wehmütigen Gedankens fähig – bis sie wieder in gottloser Flatterhaftigkeit zu melancholischen Tönen zurückkehrte und ihren Zuhörern das Herz brach; – das waren so die kleinen einfachen Künste, mit denen Ruth die Herzen ihrer beiden Zuhörer verzauberte. Und daß diese harmlosen Künste ihre volle Macht bewiesen, ließ sich daraus schließen, wie lange die Stube noch dunkel blieb und wie spät man erst das Licht anzündete.

Endlich wurden die Kerzen hereingebracht, aber es war bereits die höchste Zeit, nach Hause zu gehen. Es dauerte noch geraume Zeit, bis sorgfältig Papier zurechtgeschnitten war, um es um die Stengel der Blumen, die Ruth mitnehmen sollte, zu wickeln, aber auch das kam endlich zustande, und das junge Mädchen war bereit.

»Gute Nacht«, sagte Tom. »Es war wirklich ein entzückender Nachmittag und Abend, John. – Gute Nacht.«

John schickte sich an, sie zu begleiten.

»Nein, nein, bleibe doch nur«, wehrte ihm Tom, »was für ein Unsinn! Wir können doch wirklich ganz gut allein nach Hause gehen. Ich kann es unmöglich zugeben, daß du dich so inkommodierst.«

John versicherte nur, daß es ihm im Gegenteil ein großes Vergnügen sei.

»Ist es wirklich wahr, daß es dir ein Vergnügen macht?« fragte Tom harmlos. »Ich fürchte, du sagst es nur aus Höflichkeit.«

Aber John versicherte ihm aufs eindringlichste, daß es ganz und gar gewiß wahr sei, bot Ruth seinen Arm und führte sie hinaus.

Die Dame mit dem roten Gesicht, die wieder zur Bedienung bereitstand, bedankte sich für die Begrüßung der Gäste mit einem so kalten Knicks, daß ein sehr scharfes Auge dazu gehörte, ihn wahrzunehmen. Von Tom nahm sie überhaupt keine Notiz.

Mr. Westlock bestand unbedingt darauf, seine Gäste den ganzen Weg zu begleiten, und wollte durchaus nichts von seines Freundes Widersprüchen hören.

Glückliche Zeit, glücklicher Spaziergang, glücklicher Abschied, glückliche Träume! Aber dennoch gab es auch für John gewisse süße Träume des Tages, vor denen die Visionen der Nacht zuschanden wurden.

Geschäftig murmelte die Fontäne im Mondlicht, während Ruth schlafend dalag, ihre Blumen neben sich auf dem Kissen – und John Westlock entwarf aus dem Gedächtnis ein Porträt – von wem wohl?

46. Kapitel


46. Kapitel

Miss Pecksniff macht Eroberungen, Mr. Jonas schneidet Gesichter, Mrs. Gamp bereitet den Tee und Mr. Chuffey phantasiert

Tags darauf eilte Tom, nachdem er seine Arbeiten erledigt, unverzüglich nach Hause und brach nach dem Dinner und einer kurzen Mittagszeit mit Ruth sofort wieder auf, um bei Todgers‘ den beabsichtigten Besuch zu machen. Er nahm seine Schwester nicht nur deshalb mit, weil es ihm, wie stets, ein Vergnügen war, sie um sich zu haben, sondern auch deshalb, weil er von Herzen wünschte, sie möge die arme Gratia ein wenig trösten und aufheitern. Auch Ruth ihrerseits wünschte nichts sehnlicher, da sie die Geschichte der unglücklichen jungen Frau von ihrem Bruder gehört hatte.

»Sie war so erfreut, mich wiederzusehen«, sagte Tom, »daß ich überzeugt bin, es wird sie auch freuen, dich zu sehen. Deine Teilnahme wird ihr sicherlich noch viel angenehmer und wohltuender sein als die meinige.«

»Davon bin ich nun nicht so ganz überzeugt, Tom«, wendete Ruth ein. »Du bist überhaupt ungerecht gegen dich. Aber ich hoffe, sie wird mich auch so – immerhin ein wenig leiden mögen.«

»O sicherlich!« rief Tom vertrauensvoll.

»Ach, wieviel Freunde hätte man, wenn alle Welt so dächte wie du; meinst du nicht, lieber Tom?« fragte Ruth und zwickte ihren Bruder scherzhaft in die Wangen.

Tom lachte und meinte, in dieser Beziehung werde er ohne Zweifel in Gratia eine gute Schülerin haben; »denn ihr Frauen«, sagte er, »liebe Ruth, seid überhaupt so gut und zartfühlend und wißt so rücksichtsvoll und wohltuend mit einem umzugehen, ohne es direkt merken zu lassen, daß man sich immer darüber freuen muß. Ihr seid so –«

»Aber, lieber Himmel, Tom«, unterbrach ihn seine Schwester, »du scheinst ja auf dem besten Wege zu sein, dich zu verlieben!«

Tom wies diese Bemerkung zwar gutmütig, aber doch mit gewissem Ernste ab, und bald plauderten sie wieder über ein anderes Thema.

Ziemlich in der Nähe von Mrs. Todgers‘ Etablissement hielt Ruth ihren Bruder einen Augenblick vor dem Fenster eines großen Warenmagazins zurück und machte ihn auf einige wundervolle Sachen aufmerksam, die dem Publikum zur Versuchung ins Ladenfenster gestellt waren. Tom hatte gerade über den Preis dieser Artikel einige sehr irrige Vermutungen aufgestellt und lachte eben mit seiner Schwester herzlich über seine Unkenntnis, als er plötzlich ihren Arm drückte und sie auf zwei in der Nähe stehende Personen aufmerksam machte, die mit tiefstem Interesse einige Kommoden und Tische hinter dem Schaufenster betrachteten.

»Pst«, flüsterte Tom, »das sind Miss Pecksniff und der junge Gentleman, den sie nächstens heiraten wird.«

»Er sieht wahrhaftig eher aus, als ob er sich begraben lassen wollte, Tom«, sagte Ruth ebenso leise.

»Ich glaube, er ist von Natur aus ein bißchen melancholisch«, meinte Tom; »aber jedenfalls ist er ein sehr artiger und harmloser Mensch.«

»Sie besprechen wahrscheinlich, wie sie sich einrichten werden, was glaubst du, Tom?«

»Ja, es scheint so. Ich glaube, wir sollten sie auch nicht anreden.« – Trotz dieses Vorhabens konnte es das Geschwisterpaar jedoch nicht gut vermeiden, den beiden andern ins Auge zu fallen, zumal ein vorüberziehender Menschenstrom sie daran hinderte, nach der andern Seite abzubiegen.

Miss Pecksniff sah ganz danach aus, als habe sie den unglücklichen Mr. Moddle mit einem Lasso eingefangen und führe ihn jetzt zur Betrachtung des Möbellagers wie der Schlächter ein Lamm zur Schlachtbank. Der junge Mann wenigstens leistete nicht den geringsten Widerstand und war tief resigniert. Die Schwermut, die die gesenkte Haltung seines Kopfes und sein ganzes Wesen verrieten, war geradezu auffällig. Im Ladenfenster stand eine große vierpfostige Bettstelle und in seinem Auge – eine große zitternde Träne.

»Augustus, mein Lieber«, flötete Miss Pecksniff, »geh doch einmal hinein und frage nach dem Preis der acht Rosenholzsessel und des Spieltisches.«

»Ach, die werden sicher schon bestellt sein«, redete sich »Augustus« heraus. »Die sind bestimmt nicht mehr verkäuflich.«

»Schadet doch nichts! Man kann doch neue in derselben Art anfertigen lassen«, meinte Miss Pecksniff.

»Nein, nein, das wäre unmöglich«, wendete Mr. Moddle ein, »rein unmöglich.«

Er schien in diesem Augenblick durch die Aussicht auf sein nahe bevorstehendes Glück geradezu betäubt zu sein; aber rasch faßte er sich wieder und trat in den Laden. Als er wieder zurückkehrte, meldete er im Tone der Verzweiflung:

»Vierundzwanzig Pfund, zehn Schillinge.« In diesem Augenblick wendete sich Miss Pecksniff um und gewahrte dabei, daß Tom Pinch und seine Schwester sie beobachteten.

»Ah – oh!« rief sie, verwirrt umherblickend, als sänne sie auf das beste Mittel, in die Erde zu versinken. »Was sehe ich! Ah – oh – in meinem ganzen Leben – wer hätte nur gedacht – erlauben Sie, meine Herrschaften – Mr. Augustus Moddle – Miss Pinch.«

Sie absolvierte die Zeremonie der Vorstellung, was Miss Pinch betraf, sehr gnädig und leutselig, eigentlich sogar mehr als das – sie war sogar freundlich und herzlich; sei es, daß die Erinnerung an den Dienst, den ihr einst Tom geleistet, indem er Mr. Jonas eins über den Kopf gegeben, sie so wohlwollend stimmte, sei es, daß die längere Trennung von ihrem Vater sie bereits mit der Menschheit zu versöhnen begann oder wenigstens mit jenem Teil der Menschheit, der eben auch kein guter Freund von ihm war, oder war es das Entzücken, wieder eine neue weibliche Bekannte gefunden zu haben, der sie ihre Aussichten auf ihr künftiges Glück vorführen konnte – genug, sie war herzlich und wohlwollend. Ja sie küßte Miss Pinch sogar schließlich zweimal auf die Wange.

»Augustus – Mr. Pinch – – doch die Herren kennen sich bereits«, fuhr sie dann die Vorstellung fort. »Ach mein liebes Kind«, flüsterte sie Ruth heimlich zu, »in meinem ganzen Leben habe ich mich noch nicht so geschämt.«

Ruth versicherte, das habe doch gar nichts zu sagen.

»Allerdings geniere ich mich ja vor Ihrem Bruder weniger als vor irgend jemandem sonst«, lispelte Miss Pecksniff. »Aber dennoch liegt etwas gewisses Unzartes darin, unter solchen Umständen einen Gentleman zu treffen. Augustus, mein Lieber, hast du –« Sie flüsterte ihm etwas ins Ohr. Mit Duldermine wiederholte Mr. Moddle:

»Vierundzwanzig Pfund und zehn Schillinge.«

»Ach, du einfältiger Mensch, das meine ich doch nicht«, rief Miss Pecksniff, »ich sprach von den –«

Abermals flüsterte sie ihm etwas ins Ohr.

»Wenn es derselbe bunte Kattun ist wie der im Schaufenster – zweiunddreißig Pfund, zwölf Schillinge, sechs Pence«, antwortete Mr. Moddle mit einem Seufzer. »Sehr teuer.«

Weitere Erklärungen unterband Miss Pecksniff, indem sie ihrem Bräutigam ihre Hand auf die Lippen legte und eine leichte Verlegenheit heuchelte. Dann fragte sie Tom Pinch, wohin er denn gehe.

»Ich wollte sehen, ob ich Ihre Schwester nicht treffen könnte«, antwortete Tom. »Ich habe ihr etwas mitzuteilen. Wir wollen zu Mrs. Todgers, wo ich schon einmal das Vergnügen hatte, sie zu treffen.«

»Dann kann ich Ihnen einen Gang ersparen«, sagte Cherry; »wir kommen eben von dort, und ich weiß, daß sie nicht anwesend ist. Wenn Ihnen übrigens daran liegt, will ich Sie gerne nach Gratias Wohnung bringen. Augustus – pardon, Mr. Moddle wollte ich sagen – und ich sind soeben auf dem Wege dahin begriffen, um unsern Tee bei ihr zu nehmen. Wegen Jonas können Sie unbekümmert sein«, setzte sie aufmunternd hinzu, als sie Toms Zögern bemerkte, »er ist nicht zu Hause.«

»Wissen Sie das sicher?« fragte Tom.

»Natürlich weiß ich das. Ich würde es Ihnen sonst nicht sagen. Es gelüstet mich auch nicht danach, mich zu rächen«, erwiderte Miss Pecksniff stolz. »Aber ich bitte jetzt die Herren, vorauszugehen, ich werde mit Miss Pinch nachkommen. – Also, meine Liebste, was ich sagen wollte, in meinem ganzen Leben war ich noch nie so überrascht und betreten.«

Gehorsam hängte sich Mr. Moddle in Tom ein, während Miss Pecksniff Ruths Arm nahm.

»Es wäre natürlich vergeblich, liebes Kind«, begann Miss Pecksniff abermals, »wenn ich noch weiter verheimlichen wollte, daß ich im Begriffe stehe, mich mit dem Gentleman zu vermählen, der mit Ihrem Bruder vorausgeht. Es wäre unnütz und vergeblich, wenn ich es verheimlichen wollte. Was halten Sie übrigens von ihm? Bitte, lassen Sie mich Ihre aufrichtige Meinung darüber hören.«

Ruth sagte, daß sie Mr. Moddle, soweit sie nach dem ersten Eindruck urteilen können, für einen sehr sympathischen jungen Mann halte.

»Ich bin außerordentlich neugierig«, plauderte Miss Pecksniff mit geschwätziger Offenherzigkeit fort, »ob Sie bereits in dieser kurzen Zeit bemerkt haben oder doch zu bemerken glauben, daß Augustus ein wenig zur Melancholie neigt.«

»Ich kenne ihn dazu wirklich noch zu wenig«, entschuldigte sich Ruth.

»Aber sicherlich mußte es Ihnen doch so scheinen? Nicht?« drängte Miss Pecksniff. »Alle Welt behauptet es wenigstens. Auch Mrs. Todgers und sogar Augustus selbst erzählten mir, daß ihn die Gentlemen im Hause dessentwegen stets aufzögen. Wahrhaftig, wenn ich’s ihm nicht ausdrücklich verboten hätte, ich glaube, es wäre schon öfter als einmal zu einem Duell auf – auf – geladene Pistolen gekommen. Was meinen Sie, mag wohl die Ursache seines melancholischen Wesens sein?«

Ruth riet innerlich so allerlei: auf schlechte Verdauung, seinen Schneider, seine Mutter und dergleichen, ohne natürlich ein Wort darüber laut werden zu lassen.

»Hören Sie, mein Kind«, fuhr Miss Pecksniff fort. »Eigentlich sollte ich nicht darüber reden, aber da ich Ihren Bruder schon seit so vielen Jahren kenne, will ich auch Ihnen gegenüber kein Hehl daraus machen – also, ich hatte Augustus schon dreimal einen Korb gegeben – er ist so liebenswürdig und empfindsam, und man braucht ihn nur anzusehen, so stehen ihm schon die Tränen im Auge, und das steht ihm so entzückend, und bis heute hat er sich von den Folgen meiner Grausamkeit noch nicht ganz erholt. – – Oh, es war wirklich grausam«, setzte sie mit Selbstüberwindung hinzu und mit einer Schlichtheit, die sogar ihres Vaters würdig gewesen wäre – »das will ich mir nicht verhehlen, und ich kann jetzt nur mit Erröten auf mein damaliges Benehmen zurückblicken. Ich habe ihn, offen gestanden, stets geliebt und gefühlt, daß er mir mehr war als so manche junge Leute, die mir Anträge machten; und was hatte ich eigentlich für ein Recht, ihn dreimal zurückzuweisen, nicht wahr?«

»Es war ohne Zweifel eine schwere Prüfung für ihn«, sagte Ruth. – »Nein, mein Kind, mehr als das! Es war sogar Unrecht. Aber das ist eben die Gedankenlosigkeit und Launenhaftigkeit unsres Geschlechts. Lassen Sie sich mein Beispiel zur Warnung dienen und stellen Sie nie die Gefühle eines Mannes zu sehr auf die Probe, der Ihnen Anträge macht – etwa in der Weise, wie ich meinen Augustus geprüft habe –, sondern, wenn Sie jemals für einen Mann empfinden, was ich schon in der Zeit, als ich ihn fast zur Verzweiflung trieb, empfand, so verbergen Sie es nicht, wenn er sich Ihnen zu Füßen wirft, wie sich Augustus Moddle mir zu Füßen warf. Bedenken Sie«, ermahnte sie, »wie mir jetzt sein müßte, wenn ich ihn zum Selbstmord getrieben und alles dann in der Zeitung gestanden hätte!«

Ruth bestätigte, daß sich Miss Pecksniff dann ohne Zweifel schwere Gewissensbisse hätte machen müssen.

»Gewissensvorwürfe?« rief Charitas, sichtlich in Reuegefühlen schwelgend. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie es mich sogar jetzt noch quält, wo ich meine Härte doch dadurch wiedergutgemacht habe, daß ich seine Werbung annahm. Jetzt, wo ich nüchtern und vernünftig geworden bin und sozusagen am Rande des Ehestandes stehe und auf mein flatterhaftes Benehmen zurückblicke und ins Auge fasse, wie ich war, als ich noch so alt war wie Sie, mein Kind, so schaudre ich. Ja, ich schaudre. Und was ist die Folge meines damaligen Benehmens? Nicht eher, als bis Augustus mich zum Altare führt, weiß er mich seiner sicher. Ich habe sein Herz so gequält und zerrissen, daß er gar keine Zuversicht mehr hat. Ich sehe, es nagt an ihm und seiner Seele. Sie können sich denken, wie es mich quälen muß, den Mann, den ich liebe, in einem solchen Zustand sehen zu müssen.«

Ruth bemühte sich nach Kräften, Miss Pecksniffs unbegrenztes und so schmeichelhaftes Vertrauen einigermaßen anzuerkennen, und stellte die Vermutung auf, die Vermählung werde wahrscheinlich sehr bald vor sich gehen.

»Jawohl, allerdings, sehr bald«, rief Miss Pecksniff. »Sowie wir eingerichtet sind. Wir schaffen uns jetzt in aller Eile unsre Möbel an.« Und mit großer Redseligkeit zählte sie eine ganze Liste von Gegenständen her, die sie bereits gekauft hätten und noch zu kaufen gedächten, in was für Kleidern sie sich würde trauen lassen und wo die Zeremonie stattfinden werde; kurz, sie teilte Miss Pinch, wie sie betonte, weil sie ihr so sympathisch sei, alles und jedes ausführlich mit.

Während sich die Arrieregarde mit diesen Gesprächen beschäftigte, gingen Tom und Mr. Moddle Arm in Arm, aber in tiefstem Stillschweigen voraus, bis Tom endlich einen krampfhaften Anlauf nahm, die Verlegenheitsstimmung zu brechen.

»Es wundert mich«, fing er stockend an, »daß bei diesem Gedränge in den Straßen so selten ein Fußgänger überfahren wird.«

»Die Kutscher sind daran schuld«, versetzte Mr. Moddle in schwermütigem Ton.

»Wie meinen Sie das?« fragte Tom erstaunt.

»Ich glaube, daß es Menschen gibt«, sagte Mr. Moddle mit heiserem Lachen, »die einfach nicht überfahren werden – können. Ihr Leben ist gefeit. Schwere Kohlenwagen halten plötzlich an, wenn man vor der Deichsel steht, und selbst die Fiaker weigern sich, einen zu überfahren. Ach ja«, seufzte er, Toms Erstaunen bemerkend. »Es gibt leider solche Menschen. Ich habe zum Beispiel einen Freund, dem es so geht.«

»Meiner Seel«, dachte Tom, »der junge Herr befindet sich in einem Gemütszustand, der einem in der Tat ernstliche Besorgnis einflößen könnte.«

Er gab jetzt jeden Gedanken auf, ein längeres Gespräch mit diesem seltsamen Menschen anzuknüpfen, sprach nicht ein Wort mehr, hielt aber Augustus desto fester am Arm, damit er ihm nicht etwa entwische und vor den Augen seiner Verlobten vielleicht einen erfolgreichen Versuch machen könne, eine Privatentleibungsszene aufzuführen. Er hatte eine solche Angst vor seinen Verzweiflungsanfällen, daß er förmlich froh war, als er ihn glücklich bis zu Mr. Jonas Chuzzlewits Haus gebracht hatte.

»Bitte, Mr. Pinch, gehen Sie nur voraus«, sagte Miss Pecksniff. – Tom hatte nämlich unschlüssig an der Haustüre haltgemacht.

»Ich weiß wirklich nicht, ob ich willkommen sein werde«, wendete Tom zögernd ein. »Richtiger gesagt, ich fürchte das Gegenteil. Ob es nicht vielleicht besser wäre, ich ließe mich vorher anmelden?«

»Ach, das ist doch Unsinn«, rief Charitas, »ich weiß gewiß, daß Jonas nicht zu Hause ist – ich weiß es. Und Gratia hat nicht die mindeste Idee, daß Sie ihn je –«

»Um Gottes willen«, unterbrach sie Tom. »Sie darf es auch niemals erfahren. Ich kann Ihnen nur versichern, daß ich nichts weniger als stolz auf den damaligen Raufhandel bin.«

»Ach, Sie sind überhaupt immer viel zu bescheiden«, zürnte Miss Pecksniff. »Gehen Sie doch. – Oder gehen Sie voraus, Miss Pinch; bleiben wir nicht länger hier an der Türe stehen.«

Immer noch zögerte Tom, denn er fühlte sich sehr unbehaglich, aber Cherry drängte sich an ihm vorüber und führte seine Schwester die Treppe hinauf. Da fast gleichzeitig die Türe hinter ihnen ins Schloß fiel, so folgte er, immer noch nicht mit sich im reinen, ob er gut daran tue oder nicht.

»Gratia, mein Schatz«, rief Miss Pecksniff, rasch die Türe des Gesellschaftszimmers öffnend; »es ist Besuch für dich angekommen: Mr. Pinch und seine Schwester. – Ah, ich dachte mir gleich, daß Sie hier seien, Mrs. Todgers. – Nun, und wie geht es denn Ihnen, Mrs. Gamp? Und was machen Sie, Mr. Chuffey? – Wenn ich auch weiß, daß man von Ihnen keine Antwort kriegt«, setzte sie halblaut hinzu.

Nachdem sie jeden der Anwesenden mit einem sauern Lächeln beehrt, stellte sie Mr. Moddle vor.

»Ich glaube, du hast ihn früher einmal gesehen«, bemerkte sie scherzend. »Augustus, mein Liebling, bitte, bringen Sie mir einen Stuhl.«

Der »Liebling« tat, wie ihm geheißen, und war eben im Begriff, sich in eine Ecke zurückzuziehen, um wiederum in tiefste Trauer zu versinken, als Miss Charitas ihn mit hörbarem Flüstern ihr »kleines Lämmchen« nannte und ihm die Erlaubnis erteilte, näher zu kommen und sich an ihre Seite zu setzen.

Mr. Moddle war jedoch so trostlos, daß er nicht einmal einen Entzückensschauer zu empfinden schien, als Charitas ihre Lilienhand in die seinige legte und diesen Beweis ihrer Gunst schamhaft dadurch vor den Blicken der Profanen verbarg, daß sie die beiden verschlungenen Hände mit einem Zipfel ihres Schals bedeckte. Er sah sogar womöglich noch melancholischer aus als sonst und blickte, voller Unbehagen und kerzengrade in seinem Stuhle sitzend, die Gesellschaft mit tränenfeuchten Augen an, als wolle er rufen: »Hilfe! Zu Hilfe! Will mir denn keine barmherzige Christenseele zu Hilfe kommen!«

Dagegen war das Entzücken Mrs. Gamps so außerordentlich, daß sie ganz gut ein Dutzend junger Liebhaber damit zur Genüge hätte ausstatten können, und es steigerte sich noch, als sie Tom Pinchs und seiner Schwester ansichtig wurde. Mrs. Gamp gehörte nämlich zu jenen glücklichen Temperamenten, die ohne jeden andern Grund als den bloßen Wunsch, sich einen zahlreichen und einträglichen Bekanntschaftskreis zu verschaffen, in Begeisterung geraten können. Täglich bespannte sie ihren Bogen mit so vielen neuen Saiten, daß allmählich eine vollständige Harfe daraus geworden war, und auf diesem Instrument begann sie jetzt ein ganz allerliebstes Konzert zu improvisieren.

»O mei«, rief sie. »Gnä Frau! Wie hätt i mir denkt, daß i in diesem gesegneten Haus Ihner Fräuln Schwester werd begrüßen können – leider gibt’s net vüll so gsegnete Häuser, und dös is schlimm; denn wenn’s net so war, so war dies Jammertal a Paradies. Und gar zu denken, daß i unter diesem gesegneten Dach Mr. Pinch zu sehn krieg! Und noch obendrein mit dem süßesten Geschöpf, wo mir je vorgekommen is. Sie natürlich ausgnommen, gnä Frau, und die Erwählte Ihres Herzens auch, Mr. Moddle, wenn ich so frei sein darf, das offen auszusprechen. Nix für ungut, meine Herrschaften, aber der Gedanke, daß i dies süße Gschöpf wiedersegn soll, das i kürzlich am Wasser troffen hab – nein, es is wirklich erstaunlich!«

Nachdem Sie auf diese Art glücklich jedes Mitglied der Gesellschaft in ihre Anrede mit einbegriffen hatte, knickste sie einige Male vor Ruth, schüttelte mindestens ein dutzendmal lächelnd den Kopf und nahm den Faden ihres Gesprächs wieder auf.

»Na, dös is der reinste Blumenkranz heut nachmittag. Ich hab a Freindin – i sag’s wie’s is, gnä Frau, und ihr Name is Harris – ihr Schwager war fünf Fuß drei Zoll hoch und hat aufm linken Arm an wilden Ochsen mit Krämpstiefeln eintätowiert ghabt. Weil seine unvergeßliche Mutter von an Ochsen in an Schuhmacherladen gjagt worden is, wie s‘ noch in der Sitawation gwesen is, wo sich a Ehemann Glück wünschen kann, wenn sei Weib drin is, wie i immer zu meinem seligen Mann gsagt hab, wenn’s an Wortwechsel zwischen uns gebn hat – von wegen die Haushaltungskosten –, und mehr als einmal hab i zu der Harris gsagt, liebe Harris, hab i gsagt, na, a Gsicht haben S‘ rein wie a Engel; und wenn s‘ net so viel Pickel und Blatternarben im Gfries ghabt hätt, wär’s wahrhaftig wahr gwesen. – ›Na, liebe Sarah‹, hat s‘ nachher gsagt, ›wenn’s a hart arbeitends und fleißigs Gschöpf gibt, wo schlecht auf der Welt bezahlt wird, so sind Sie’s. Der Harris hat mein Gsicht vor der Hochzeit für vier und a viertel Krone malen lassn‹, hat’s gsagt, ›und hat’s so lang am Herzen tragn, bis d‘ Farb abgangn is, und nachher habns ihm ’s Geld net mehr zrückgeben, und zu an Ausgleich is ’s a net kommen. Aber nie hat er gsagt, daß dös des Gsicht von an Engel is, wenn er sich’s auch leicht dacht haben mag.‹ – Wenn jetzt der Mann von der Harris da war«, fuhr Mrs. Gamp mit einem Blick in der Runde fort und knickste lächelnd, »so möcht er sicher grad raus sagen, dös is a Gsicht von an Engel, und sei liabe Frau war die letzte, wo’s ihm übel nehmen tat; denn wenn’s je a Weib auf Erden geben hat, wo ka Idee hat, was es heißt, zu wünschen, ane, die schöner is, mit an Löffel Wasser zu vergiften, und die nie kann Grund net dazu ghabt hat, weil ihr Mann immer der beste Mensch von der Welt gwesen is, so können S‘ Ihna drauf verlassen, die heißt Harris.«

Mit diesen Worten begab sich Mrs. Gamp, die offenbar im Hause Chuzzlewit vorgesprochen hatte, um sich zu einem Tee einzuladen, und nicht etwa, um als Krankenwärterin zu fungieren, zu Mr. Chuffey, der wie immer in seiner Ecke saß, und rüttelte ihn am Arm.

»Raffen S‘ Eana auf und schaugns amal, wer alles da is«, rief sie. »Segn S‘ denn die Gsellschaft net?«

»Es tut mir leid«, stotterte der Greis und blickte demütig auf, »ich weiß, ich bin überall im Wege, ich bitte um Verzeihung, aber ich weiß nicht, wohin ich mich zurückziehen soll. Wo ist sie?«

Sofort stand Gratia auf und ging zu ihm hin.

»Ah« flüsterte der alte Mann und tätschelte ihr die Wangen, »da ist sie; da ist sie. Sie ist niemals hart gegen den armen alten Chuffey – den armen alten Chuffey.«

Gratia ließ sich auf einen niedrigen Schemel neben den alten Mann nieder, so daß er ihre Hand fassen konnte, und sah dann plötzlich zu Tom auf. Es war ein wehmütiger Blick, den sie ihm zuwarf, wenn auch ein mattes Lächeln über ihr Gesicht huschte. Es war ein sprechender Blick, und Tom verstand, was sie damit sagen wollte:

»Da siehst du, wie mich das Elend verändert hat. Ich bin jetzt imstande, die Leiden eines armen Menschen mitzufühlen, und lege Wert auf seine Liebe.«

»Ja, ja«, rief Chuffey, als wolle er sie beschwichtigen, »ja, ja, lassen Sie es nur gut sein. Es ist hart zu ertragen, aber kehren Sie sich nicht an ihn. Er wird eines Tages sterben. Es gibt dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr – und dreihundertsechsundsechzig, wenn ein Schaltjahr ist – und er kann an einem davon plötzlich sterben.«

»Is dös aber a zwidrer Mensch«, murmelte Mrs. Gamp, Chuffey aus einiger Entfernung mit ungnädigen Blicken betrachtend, während er fortfuhr, vor sich hin zu flüstern. »Auch den Gduldigsten möcht da die gute Laune verlassen.«

»Sein Sohn«, murmelte der alte Mann und erhob seine Hände, »sein Sohn!«

»Na ja, natürlich«, fuhr Mrs. Gamp ärgerlich auf. »Werdn S‘ net bald aufhörn? Was wissen denn Sie von Söhnen und Töchtern? Nächstens werdn S‘ gar noch dummes Zeug über Zwillinge daher reden; da möcht i aber schon bitten.«

Der entrüstete Sarkasmus, den Mrs. Gamp in diese Hohnesworte mischte, ging an dem ahnungslosen alten Buchhalter spurlos vorüber. Es war klar, daß er sie ebensowenig hörte, wie er sich bewußt war, bei ihr Anstoß erregt zu haben. Die hochherzige Hebamme war jedoch nicht so leicht zu beruhigen – empfand sie doch jeden Eingriff in ihre Geschäftssphäre auf das tiefste und bildete sich ein, Mr. Chuffey habe sich Prophezeiungen über künftige Sprößlinge Mrs. Gratias erlaubt, die lediglich von ihr, als der einzigen gesetzlichen Autorität, ausgehen durften, oder wenigstens unter keinen Umständen ohne ihre Sanktion und Zustimmung proklamiert werden sollten. Sie fuhr daher fort, Mr. Chuffey feindselige Blicke zuzuwerfen und ihn mit im gedämpften Tone vorgetragenen ironischen Bemerkungen zu verhöhnen, die ihre nur mühsam unterdrückte Entrüstung bekundeten. Erst, als der Tee serviert wurde, kam sie wieder zu sich und schickte sich an, auf Mrs. Chuzzlewits Bitte an einem Seitentisch für die so unerwartet gekommenen Gäste Tee zu bereiten. Dann lächelte sie wieder und verrichtete ihren Dienst mit ganz besonderer Leutseligkeit.

»Dös is a Familie«,rief sie, »für die man mit Leib und Seele an Tee kochen kann. Heda«, wendete sie sich zu dem Dienstmädchen, »vielleicht hat eins oder das andre Lust, a frischs Ei oder zwei zu versuchen, wenn’s net zu hart gekocht sin; und a paar Platten Brotschnitten mit Butter, ober ohne Krusten, falls eins schwache Zähn hat, möchten a nix schaden.

Ja, ja, gnä Frau, mei Mann hat, wie er noch glebt hat, sich bei so was amal vier Zahn ausbissn – zwoa Backenzahn und zwoa vordere –, und die Harris hat’s zum Andenken mitgnommen und trägt’s noch heutigen Tags in der Taschn und dazu a Stück Ingwer und a kleins Reibeisel, so groß wie a Kinderschuch, und an kleinen Löffel zum Einnehmen von Muskatnuß, dös is das beste, hab i immer gsagt, für a Kraftsuppen.«

Der Privilegien an dem Seitentischchen waren ziemlich viele. Mrs. Gamp hatte nicht nur das Vorrecht, den Butterschnitten am nächsten zu sitzen, zwei Tassen Tee zu trinken, während ein andrer bloß eine trank, sondern sie war auch imstande, die ganze Gesellschaft zu überblicken und wie von einer Rednerbühne herab zu apostrophieren; und dieses ihr anvertrautes Amt verwaltete sie denn auch mit berückender Liebenswürdigkeit und in bester Laune. Die Untertasse auf der ausgestreckten Hand haltend und mit dem Ellenbogen auf den Tisch gestützt, pausierte sie zuweilen mit Teetrinken und beglückte die Gesellschaft mit einem Lächeln, einem Augenzwinkern, einem Kopfschütteln oder andern Zeichen ihrer Gunst, und in solchen Momenten leuchtete ihr Gesicht vor geistiger Regsamkeit, rein als ob sie nicht Tee, sondern Branntwein tränke.

Ohne sie wäre die Gesellschaft mehr als einsilbig gewesen. Miss Pecksniff sprach nur mit ihrem »Augustus« und auch das nur im Flüsterton. Augustus seinerseits sagte überhaupt nichts, sondern seufzte für alle Anwesenden und gab sich gelegentlich einen so schallenden Klaps vor die Stirn, daß Mrs. Todgers jedesmal ängstlich und nervös mit einem leisen Schrei unwillkürlich in die Höhe fuhr. Sie strickte nämlich und sprach ebenfalls sehr selten. Die arme Gratia hielt die Hand der fröhlichen kleinen Ruth in der ihrigen und horchte mit sichtlichem Vergnügen auf alles, was Ruth sagte, obgleich sie selbst nur selten sprach und nur bisweilen lächelte, Miss Pinch auf die Wange küßte oder sich von Zeit zu Zeit abwandte, um die Tränen zu verbergen, die ihr in den Augen standen. Tom empfand die Veränderung, die mit ihr vorgegangen war, so tief und freute sich so sehr, zu sehen, wie zärtlich seine Schwester die arme Frau zu behandeln wußte, daß er nicht den Mut hatte, an einen Aufbruch zu denken, obgleich er längst mit seinem Berichte fertig war, dessentwillen er das Haus Chuzzlewit besucht hatte.

Währenddessen saß der greise Buchhalter in seinem gewöhnlichen Zustand still und stumm da, ganz in Träume versunken, die kaum die Oberfläche seiner trägen Gedanken zu bewegen schienen. Wahrscheinlich brachte er ihren Gang mit dem stummen Schmause, der um ihn her stattfand, in Verbindung, oder irgendein auftauchender Rückblick an ähnliche Verschwendungsszenen der Vergangenheit, deren Zeuge er gewesen, brachte seinen Geist auf eine seltsame Frage, denn er blickte plötzlich umher und rief:

»Wer liegt droben tot?«

»Niemand«, sagte Gratia, »was gibt es denn? Wir sind doch alle hier.«

»Alle hier«, echote der alte Mann, »alle hier! Aber wo ist denn er – mein alter Herr, der nur einen einzigen Sohn hat? Wo ist er?«

»Still, still«, beruhigte ihn Gratia freundlich; »das ist doch längst alles vorüber. Erinnern Sie sich denn nicht?«

»Erinnern«, wiederholte der alte Mann mit einem Weheruf. »Als ob ich’s vergessen könnte! Als ob ich’s je vergessen könnte!«

Einen Augenblick schlug er die Hände vors Gesicht und wiederholte dann wieder, wie vorhin, geistesabwesend umherstarrend:

»Wer liegt oben tot?«

»Niemand«, sagte Gratia abermals.

Ein Zornesblick durchzuckte die Mienen Mr. Chuffeys, grimmig sah er sie an, wie einen Feind, der ihn hintergehen wollte, dann, als er sie erkannte, schüttelte er traurig und mitleidig den Kopf. »Sie glaubt es nicht – aber man sagt es ihr auch nicht«, murmelte er. »Nein, nein. Armes Ding. Man sagt es ihr nicht. Wer sind diese Leute hier und warum sind sie so fröhlich? Wenn nicht ein Toter hier wäre – ein schändliches Spiel – man sehe nach, wo er ist.«

Gratia winkte den übrigen heimlich, man möge nicht mit ihm reden (wozu übrigens niemand Lust hatte), und blieb auch selbst stumm. Chuffey schwieg gleichfalls eine Weile und wiederholte dann seine Frage mit einer Hast, die etwas Grauenhaftes an sich hatte:

»Wer liegt oben tot? Es ist jemand tot oder liegt im Sterben. Ich will wissen, wer es ist. Man sehe nach. Wo ist Jonas?«

»Verreist«, antwortete Gratia leise.

Der alte Mann blickte sie voller Zweifel an, als glaube er ihr nicht oder habe sie nicht verstanden. Dann erhob er sich mühsam von seinem Stuhl, schlich durchs Zimmer und klomm die Treppe empor, immerwährend vor sich hinflüsternd: »Schändliches Spiel.« Man hörte ihn oben nach der Ecke des Zimmers gehen, wo einst das Bett gestanden hatte, in dem der alte Anthony gestorben war. Gleich darauf verrieten seine Fußtritte, daß er wieder herunterkam. Seine Phantasie war offenbar nicht so stark oder nicht so erregt, als daß sie ihn in der leeren Schlafkammer hätte etwas sehen lassen, was nicht dort war, denn er kam viel ruhiger zurück und schien beschwichtigt.

»Ihr sagen sie nichts«, murmelte er mit einem Blick auf Gratia, nahm wieder Platz und strich ihr mit der Hand leise über das Haar. »Man sagt auch mir nichts, aber ich will wachen – ich will wachen. Sie sollen ihr nichts tun. Fürchte dich nicht. Hast du die Nächte aufgesessen und gewacht? Ich auch. – – Ja, ja, das habe ich so manche Nacht getan«, stöhnte er hervor und versuchte mühselig seine schwache abgezehrte Hand zu ballen.

Er sagte dies alles mit so zitternder Stimme, atemlos nach Luft schnappend, und Gratia so dicht ins Ohr, daß die Gesellschaft nichts oder nur wenig davon verstand. Doch hatte man schon genug gesehen und gehört, um immerhin unruhig zu werden. Die Gäste verließen ihre Sitze und sammelten sich um ihn, während Mrs. Gamp, deren abgehärtete Nerven nicht so leicht imitiert werden konnten, die Gelegenheit ersah, ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Butterschnitten, den Tee und die Eier zu konzentrieren. Sie hatte schon bisher diesen Speisen gegenüber soviel Energie entfaltet, daß ihre Wangen bereits lebhaft glühten. Als sie dann glücklich das letzte Schlückchen Tee hinuntergestürzt hatte, hielt sie es für angemessen, auch ein Wort mit dreinzureden.

»Sie Sapperlot Sie«, rief sie, »was sind das wieder für Manieren! Sie brauchatn an Krug kalts Wasser übern Kopf, damit Sie zur Besinnung kommen. Wenn die Prig Sie unter die Hand hätt, wär dös schon längst gschegn, dös kann i Ihna versichern. Spanische Fliegen sin des Beste, um Ihna den Unsinn ausm Kopf ztreiben, und wann Ihna jemand wohl will, soll er Ihna a Blasenpflaster aufn Schädel oder an Senfteig aufn Buckel schmieren. Wer is tot, was? Ich glaub, es war ka bsonderer Schadn, wann mer dös von aner gewissen Person sagen möcht.«

»Er ist jetzt ruhig, Mrs. Gamp«, sagte Gratia leise; »stören Sie ihn nicht.«

»Er is a alter Dickschädel, gnä Frau«, rief Mrs. Gamp in ihrem Eifer. »I, für mein Teil, hab ka Geduld mit so was. Sie lassen ihm vüll z‘ vüll seinen Willen. Er is a Dickschädel, sag i.«

Ohne Zweifel in der Absicht, unverzüglich irgendeinen heilsamen Prozeß an dem »Dickschädel« vorzunehmen, ergriff sie Mr. Chuffey am Rockkragen und schüttelte ihn ein paar dutzendmal tüchtig in seinem Stuhl vor- und rückwärts – denn die Anhängerinnen des Prigschen Systems, deren es unter den Damen vom Fach sehr viele geben soll, halten bekanntlich ein derartiges Verfahren für ungemein beruhigend und wohltätig für das Nervensystem. In dem gegebenen Falle äußerte sich die Wirkung dahin, daß der Patient viel zu betäubt und schwindlig wurde, um noch weiterreden zu können, was Mrs. Gamp offenbar als außerordentlichen Erfolg ansah.

»So!« sagte sie und lockerte die Halsbinde des alten Mannes, da er im Gesicht schon blau zu werden anfing. »Jetzt wird er schon wieder ruhiger werden. Wann er in Ohnmacht fallt, bring i ’n scho wieder zum Bewußtsein, dös versprech i Ihna. Man braucht ’n bloß in ’n Daumen beißen oder a bisserl die Finger zu verrenken, glei kommt er wieder zu sich«, erklärte sie im frohen Bewußtsein, medizinische Kenntnisse unter ihren Zuhörern zu verbreiten. Da Mr. Chuffey schon von früher her der Obhut dieser vortrefflichen Krankenpflegerin anvertraut worden, so wagten weder Mrs. Chuzzlewit noch sonst jemand gegen diese kuriose Behandlungsweise Widerspruch zu erheben, obgleich niemand, vor allem aber nicht Tom Pinch und seine Schwester, mit einer solchen Art von Krankenbehandlung einverstanden zu sein schien.

Aber der Laie ist nun einmal schon so: immer führt er Herzensgüte und dergleichen ins Treffen, statt diejenigen walten zu lassen, die in solchen Fällen Erfahrung haben müssen.

»Da sehen Sie, Mr. Pinch«, nahm Miss Pecksniff wieder einmal das Wort, »das sind jetzt die Folgen dieser unglückseligen Heirat. Wäre meine Schwester nicht so übereilt gewesen und hätte sie diesem Elenden nicht ihr Wort gegeben, so gäbe es jetzt keinen Mr. Chuffey im Hause.«

»Still«, flüsterte Tom, »sie könnte es hören.«

»Das täte mir sehr leid, Mr. Pinch«, erwiderte Cherry nur um so lauter, »denn es ist nicht meine Art, jemanden noch mehr betrübt zu machen, als er sowieso schon ist. Ich weiß wahrhaftig, wie ich als Schwester zu handeln habe, Mr. Pinch, und glaube es auch schon bewiesen zu haben. Ach, Augustus, lieber Freund, bitte holen Sie mir doch mein Taschentuch.«

Augustus gehorchte und nahm dann Mrs. Todgers beiseite, um ihr seinen Gram auszuschütten.

»Wahrhaftig, Mr. Pinch«, fuhr Charitas mit einem Blick auf ihren Bräutigam fort und schielte dabei nach ihrer Schwester hin, »wahrhaftig, ich habe allen Grund, dem Himmel dankbar zu sein für mein gegenwärtiges Glück und den häuslichen Segen, der mich noch erwartet. Wenn ich einen Vergleich anstelle zwischen Augustus« – sie tat plötzlich sehr bescheiden und verlegen – »der, vor Ihnen darf ich’s ja sagen, die Sanftmut, Milde und Ergebenheit selbst ist, mit dem abscheulichen Menschen, den meine Schwester geheiratet hat; und wenn ich mir vor Augen halte, Mr. Pinch, wie leicht es gerade umgekehrt hätte kommen können, so habe ich wahrhaftig allen Grund, dankbar, zufrieden und demütig zu sein.«

Zufrieden war sie vielleicht, aber demütig gewiß nicht. Ihr ganzes Wesen bekundete so wenig Demut, daß sogar Tom in seiner Arglosigkeit anfing, ihre ganze Tücke zu durchschauen und zu verachten. Er wendete sich ab und bedeutete Ruth, es sei jetzt höchste Zeit zum Aufbrechen.

»Ich werde Ihrem Gatten schreiben«, wendete er sich an Gratia, »und ihm schriftlich auseinandersetzen – was ich mündlich getan haben würde, wenn ich ihn hier getroffen hätte –, daß die Schuld nicht an mir lag, wenn er durch meine Vermittlung in Ungelegenheiten kam. Ein Postbote kann nicht unschuldiger an der Botschaft sein, die er überbringt, als ich an jenem Brief, den ich ihm damals einhändigte.«

»Ich danke Ihnen«, sagte Gratia. »Schreiben Sie ihm nur. Vielleicht ist es am besten so. – Und der Himmel behüte Sie.«

Sie nahm eben zärtlich Abschied von Ruth, die mit ihrem Bruder das Zimmer verlassen wollte, als man die Haustüre aufsperren und gleich darauf einen raschen Schritt auf dem Gang hörte. Tom blieb verdutzt stehen und blickte Gratia fragend an.

»Es ist Jonas«, sagte sie schüchtern.

»Vielleicht ist es besser, wenn ich ihm nicht auf der Treppe begegne«, sagte Tom, zog den Arm seiner Schwester durch den seinigen und trat einige Schritte zurück. »Ich will hier einige Augenblicke auf ihn warten.«

Kaum hatte er dies ausgesprochen, als Jonas auch schon eintrat. Seine Gattin eilte ihm entgegen, aber er stieß sie von sich und brummte mürrisch:

»Ich habe nicht gewußt, daß du Gesellschaft hast.«

Sofort erhob sich Miss Pecksniff, die er bei diesen Worten entweder zufällig oder absichtlich anblickte, innerlich frohlockend, eine so günstige Gelegenheit zu haben, Unfrieden stiften zu können.

»Ach Gott«, höhnte sie, »wir wollen Sie in Ihrem häuslichen Glück durchaus nicht stören. Das wäre unverantwortlich von uns. Wir haben hier in Ihrer Abwesenheit einen Tee genommen, aber wenn Sie die Güte haben wollten, uns eine quittierte Rechnung über die Kosten zugehen zu lassen, so werden wir uns glücklich schätzen, die Unkosten zu bezahlen. Augustus, lieber Freund, gehen wir vielleicht, wenn es Ihnen gefällig ist. Und auch Sie, Mrs. Todgers, könnten mit uns gehen, außer Sie wünschten, hier zu bleiben. Es wäre höchst unangebracht von uns, das Glück zu stören, das dieser Herr stets um sich verbreitet, besonders in seinem eigenen Heim.«

»Cherry! Cherry!« flehte Gratia in herzzerreißenden Tönen.

»Liebe Gratia, ich bin dir für deinen guten Rat höchst verbunden«, entgegnete Miss Pecksniff spöttisch und hochmütig – »aber ich bin nicht seine Sklavin –«

»Nun ja, weil die Trauben zu sauer waren«, unterbrach sie Jonas; »wir kennen das.«

»Was haben Sie da gesagt, Sir?« rief Miss Pecksniff scharf.

»Haben Sie’s vielleicht nicht gehört«, höhnte Jonas und warf sich in einen Sessel. »Zweimal sagen werde ich’s Ihnen wahrhaftig nicht. Wenn Sie übrigens bleiben wollen, so können Sie’s tun, und wollen Sie gehen, so ist’s auch recht. Aber im ersteren Falle muß ich mir Höflichkeit ausbitten.«

»Elender Kerl«, gellte Miss Pecksniff an ihm vorüberfegend. »Augustus, er ist nicht würdig, daß wir ihm antworten! Kümmern Sie sich nicht um ihn« – Augustus hatte nämlich einen schwachen Versuch geheuchelt, die Fäuste zu ballen. »Kommen Sie, lieber Freund«, kreischte sie im schrillsten Diskant, »ich befehle es Ihnen.«

Augustus hatte sich nämlich zu dem Entschluß aufgerafft, umzukehren und Mr. Chuzzlewit am Kragen zu packen. Aber Miss Pecksniff gab ihm einen Stoß vor die Brust, Mrs. Todgers folgte ihrem Beispiel, und so polterten sie denn alle drei zum Zimmer hinaus, wobei die schöne Braut unentwegt gellende Verwünschungen ausstieß.

Bis jetzt hatte Jonas weder Tom noch seine Schwester erblickt, denn sie standen fast hinter der Türe, als er diese geöffnet hatte, und er war, als er sich niedersetzte, mit dem Rücken gegen sie gekehrt gewesen und hatte während seines Wortwechsels mit seiner Schwägerin seine Blicke absichtlich nach der andern Seite der Straße gerichtet, um durch diese affektierte Gleichgültigkeit den Grimm der jungen Dame noch zu steigern. Gratia stammelte jetzt, Mr. Pinch habe auf ihn gewartet, und Tom trat daraufhin sofort vor.

Mit einem wilden Fluch sprang Jonas von seinem Sessel auf und packte die Lehne, als wolle er seinen Gast damit zu Boden schlagen. Wut und Überraschung lähmten ihn jedoch einen Augenblick, und Tom, der ruhig stehen blieb, hatte dadurch Gelegenheit, zu sprechen.

Jonas war zu wütend, um auch nur ein Wort hervorbringen zu können. Er stampfte mit dem Fuß auf den Boden, deutete zur Türe und murmelte etwas, das so klang wie: »Hinaus!«

»Sie haben durchaus keinen Grund, sich so aufzuregen, Sir«, begann Tom gelassen. »Sie werden es vielleicht nicht glauben wollen, aber dennoch bin ich in der Absicht hier, lediglich einen Vorfall aufzuklären und ein Mißverständnis aus der Welt zu schaffen. Im übrigen ist es mir ganz gleichgültig, wie Sie mich aufnehmen. Wenn Sie nicht ganz von Sinnen sind, so hören Sie mir jetzt zu. – – Also, ich übergab Ihnen neulich einen Brief, während Sie eben im Begriffe standen, England zu verlassen.«

»Jawohl, Sie Hund, das haben Sie getan«, knirschte Jonas, »und ich werde Ihnen schon eines Tages den Botenlohn bezahlen und dabei noch obendrein eine alte kleine Rechnung ausgleichen.«

»Beruhigen Sie sich«, versetzte Tom, »es ist überflüssig, daß Sie solche unnützen Drohungen ausstoßen. Ich wünsche nur, daß Sie mich anhören. Bloß, weil ich mir Sie und alles, was Sie betrifft, drei Schritte vom Leibe halten will, und nicht etwa aus Furcht vor Ihnen. Ich fürchte mich durchaus nicht vor Ihnen. – Ich wollte Ihnen nur sagen, daß ich mit dem Inhalt Ihres Briefes nicht das geringste zu schaffen habe, nichts davon weiß und nicht einmal wußte, daß das Schreiben an Sie adressiert war. Ich habe es von – –«

»Zum Teufel«, fuhr Jonas auf, erhob den Stuhl und schwang ihn drohend über seinem Kopf, »noch ein Wort, und ich schlage Ihnen den Schädel ein.«

Als sich jedoch Tom nicht einschüchtern ließ und sich anschickte, ruhig in seiner Rede fortzufahren, fiel ihn Jonas wie ein Rasender an und hätte ihn sicherlich verletzt, da Tom gänzlich wehrlos und durch seine ängstliche Schwester am Arm nur noch mehr gehindert war, sich zu verteidigen, wenn sich nicht Gratia zwischen die beiden geworfen und Tom um Gottes willen angefleht hätte, das Haus zu verlassen. Die Seelenangst der armen Frau, das Entsetzen Ruths, die Unmöglichkeit, sich verständlich zu machen, und der vergebliche Kampf gegen Mrs. Gamp, die sich, weich wie ein Federbett, auf ihn geworfen hatte und ihn durch das bloße Gewicht ihres Leibes zur Türe drängte, trugen endlich den Sieg davon. Tom schüttelte den Staub dieses Hauses von seinen Schuhen und verließ es, ohne daß Nadgetts Name über seine Lippen gekommen war.

Hätte Jonas diesen Namen gehört und so erfahren, wer ihm insgeheim nachspürte, wäre er wahrscheinlich vor der Missetat bewahrt geblieben, die er seit einiger Zeit im Schilde führte. So grub er sich selbst seine Grube, und die seelische Finsternis, die ihn umgab, war sein eigenes Werk.

Gratia hatte inzwischen die Türe geschlossen und sich vor ihm auf die Knie geworfen. Mit gefalteten Händen bat sie ihn um Verzeihung und flehte ihn an, sie nicht zu mißhandeln; denn nur aus Furcht, es hätte zu Blutvergießen kommen können, habe sie sich eingemischt.

»So«, keuchte Jonas, tief Atem holend, und blickte finster auf sie nieder. »Das also sind deine Freunde und dein Verkehr, wenn ich fort bin! Mit solchem Volk gibst du dich ab, um gegen mich zu intrigieren!«

»Nein, nein, gewiß nicht«, jammerte Gratia, »ich weiß gar nichts von allen diesen Geheimnissen und ahne auch nicht, was da alles vorgeht. Seit ich meine Heimat verlassen, habe ich Pinch, heute ausgenommen, nur ein einziges Mal gesehen. Nein, zweimal, daß ich nicht lüge.«

»Oho«, höhnte Jonas, »ein- oder zweimal, was? Was willst du damit sagen? Zweimal und einmal wahrscheinlich – also vielleicht dreimal? Und wievielmal noch außerdem, du lügenhafte Kröte.«

Hastig wich Gratia zurück, denn er holte zum Schlage aus. Es war eine vielsagende Gebärde voll grausamer Wahrheit.

»Wievielmal außerdem?« wiederholte er.

»Niemals; nur heute und dann kürzlich und außerdem noch ein einziges Mal.«

Jonas war eben im Begriff, eine heftige Erwiderung zu geben, als die Uhr schlug. Er fuhr zusammen, hielt inne und lauschte. Offenbar fiel ihm ein, daß er irgendwohin bestellt sei – vielleicht war’s auch ein Geheimnis, von dem nur er wußte und an das ihn der rasche Lauf der Zeit erinnerte.

»Was bleibst du da am Boden liegen – steh auf!« knurrte er.

Nachdem er Gratia aufstehen geholfen oder sie vielmehr am Arm in die Höhe gerissen hatte, fuhr er fort:

»Hör mich jetzt an, Weibsbild, und winsle nicht, wenn du keine Ursache dazu hast, oder ich will dir einen wirklichen Anlaß dazu geben. Wenn ich diesen Halunken noch einmal in meinem Hause treffe oder merke, daß du ihn irgendwo gesehen hast, so wirst du es mir büßen. Wenn du nicht taub und stumm für alles und jedes bist, was mich betrifft, ohne daß ich dir ausdrücklich erlaube, zu hören und zu sprechen, so sollst du es schwer bereuen. Gehorchst du mir nicht in allem und jedem unbedingt und aufs Wort, so ist’s aus mit dir! Und jetzt höre: wieviel Uhr ist es?«

»Es hat vor einer Minute acht geschlagen.«

Er faßte sie scharf ins Auge und sagte mit einer gewissen Anstrengung, als ob er die Worte vorher genau auswendig gelernt hätte:

»Ich bin Tag und Nacht durchgefahren und sehr ermüdet. Überdies habe ich Geld verloren, und das stimmt mich auch nicht besser. Stelle mir mein Nachtessen unten in das kleine Zimmer und laß mein Feldbett zurechtmachen. Ich werde heute nacht unten schlafen, vielleicht auch morgen nacht. Und wenn ich morgen den ganzen Tag schlafen kann, um so besser. Ich habe Sorgen, die ich zu verschlafen wünsche. Und daß es im Hause ruhig bleibt, daß mich niemand stört! – Verstanden?«

Bebend versprach Gratia, es solle alles geschehen, wie er es wünsche, und fragte, ob das alles sei.

»So? Fragst du schon wieder und spionierst«, fuhr Jonas auf. »Was wünschest du noch zu wissen!«

»Ich brauche ja nichts mehr zu wissen, Jonas, als was du mir sagst. Jede Hoffnung, daß jemals Einvernehmen zwischen uns bestehen könnte, habe ich doch längst aufgegeben.«

»Na, das will ich hoffen«, murmelte er.

»Aber wenn du mir deine Wünsche nennst, so will ich gehorchen und gewiß alles tun, um dich zufriedenzustellen. Ich mache mir ja kein Verdienst daraus – ich habe doch keinen Freund, weder an meinem Vater noch an meiner Schwester. Ich bin doch gänzlich verlassen. Du hast gesagt, du wollest meinen Stolz brechen, und das ist dir, weiß Gott, gelungen. Brich mir nicht auch noch das Herz.«

Schüchtern wagte sie es, Jonas die Hand auf die Schulter zu legen. Er duldete es mit innerlichem Jubel, und seine ganze niedrige erbärmliche Seele lag in diesem Moment in seinen Blicken.

Aber nur eine Sekunde. Dann erinnerte er sich wieder an das Geheimnis, das ihn so sichtlich bedrückte, und er befahl ihr in mürrischem Ton, ihren Gehorsam dadurch zu beweisen, daß sie ohne Verzug seine Befehle erfülle. Als sie draußen war, ging er in der Stube auf und ab, immer noch instinktiv die rechte Faust geballt. Dann warf er sich in einen Stuhl, schlug grübelnd den Ärmel seines rechten Armes zurück, als wolle er seine Muskeln prüfen, aber auch dann noch hielt er die Faust geballt.

Immer noch saß er brütend da, die Augen zu Boden geschlagen, als Mrs. Gamp eintrat, um ihm zu melden, daß die Stube hergerichtet sei. Da sie nicht ganz sicher war, wie er sie nach ihrer Einmischung in den Streit aufnehmen würde, heuchelte sie, um sich bei ihm einzuschmeicheln, eine tiefe Besorgnis für Mr. Chuffey.

»Wie geht es ihm denn?« fragte sie.

»Wem?« rief Jonas, blickte auf und starrte sie verständnislos an.

»Jessa na«, rief die würdige Dame lächelnd und knickste. »Wo i nur wieder mein Kopf hab! Sie sind ja gar net hier gwesen, wie er wieder so kurios gwesen is. In mein ganzen Leben hab i so was net gsegn, ausgnommen vielleicht bei an Patienten grad vor an Jahr, der seines Zeichens a Zollaufseher gwesen is und akurat a so gheißen hat wie der Harris ihr eigener Vater – und gsungen hat er, sag i Ihna, und pfiffen, so was habn S‘ in Ihrem ganzen Leben noch net ghört. A Stimm hat er ghabt wie a Maultrommel im Baß, und sechs Leut habn eahm halten müssen, wann er sein Anfall kriegt hat.«

»Hem – Chuffey«, brummte Jonas gleichgültig und warf einen Blick in die Ecke, wo der alte Buchhalter saß. »Na ja.«

»An Kopf hat er, a so heiß«, fuhr Mrs. Gamp fort, »daß mer a Bügeleisen dran wärmen kunnt. Da is’s freilich ka Wunder, wann mer denkt, was der für Zeug zsammgredt hat.«

»Was hat er denn gesagt?« fragte Jonas.

Mrs. Gamp legte die Hand aufs Herz, als wollte sie das ungestüme Wesen in ihrem Busen zügeln, schlug die Augen gen Himmel auf und lispelte mit schwacher Stimme:

»Schauderhafte Sache, gnä Herr. Die schauderhaftesten Sachen, wo i nur jemals ghört hab. Der Harris ihr Vater net amal hat so was gsagt, wann er an Anfall ghabt hat. Na ja, die anen reden halt und die andern wieder net; – außer, wann er wieder zu sich kommen is, da hat er jedsmal gfragt: Wo is denn die Gamp? Aber i sag Ihna, gnä Herr, wenn der da im Eck amal zfragen anfangt. Wer liegt tot dort oben, nacher – –«

»Wer liegt tot dort oben?« wiederholte Jonas, entsetzt auffahrend.

Mrs. Gamp nickte.

»›Wer liegt tot dort oben‹ – dös sagt er in aner Tour, und ›wo is mein alter Herr, der nur einen einzigen Sohn hat‹, und nacher steht er auf und schaugt in alle Betten und hatscht in alle Zimmer umanand, und nacher kommt er wieder runter und sagt so was wie: ›schnödes Spiel‹ und setzt sich wieder. Wahrhaftig, gnä Herr, dös greift mich a so an, daß i mi immer nur mit an Schlückerl Branntwein aufrechterhalten kann. Sonst rühr i so was niemals nicht an, aber wissen muß i halt immer, wo was zu finden is, falls mich die Lust danach umwandelt; denn unsereins kann nie wissen, was passiert. In dem irdischen Jammertal geht oft alles drunter und drüber.«

»Der alte Narr ist toll«, murrte Jonas verstört.

»Segn S‘, dös sag i a immer!« rief Mrs. Gamp. »I sag’s wie’s is. Wenn i so frei sein derf, mir a Bemerkung zu erlauben, so glaub i, der alte Mann hat a Aufsicht nötig – i sag’s wie’s is –, und mer sollt eahm net zu viel Freiheit lassen, damit er die gnä Frau net a so ängstigen tut.«

»Ach Gott, wer kümmert sich denn um sein Geschwätz!« versetzte Jonas.

»Aber die gnä Frau tut sich doch deshalb beunruhigen«, beharrte Mrs. Gamp auf ihrer Ansicht. »Kehren tut sich ja niemand an ihn, aber er is und bleibt a große Unannähmlichkeit.«

»Donnerwetter noch mal, da haben Sie recht«, rief Jonas und blickte argwöhnisch nach Chuffey hin. »Ich habe längst so halb und halb im Sinn, ihn einsperren zu lassen.«

Mrs. Gamp rieb sich die Hände, lächelte, nickte mit dem Kopf und schnüffelte ausdrucksvoll in der Luft, als wittere sie ein Geschäft.

»Vielleicht könnten Sie den wahnsinnigen Narren in irgendeinem leeren Zimmer oben bewachen, was?« fragte Jonas.

»I und a Freundin von mir könnten’s ja abwechselnd machen, gnä Herr«, meinte die Krankenwärterin. »Unsre Rechnungen sin niemals nicht hoch, aber, weil wir uns ja jetzt schon so guat kennen, würden’s wir vielleicht noch billiger machen. Ich und die Prig, gnä Herr, würden den alten Mann gwiß anständig verpflegen und alles zur Zufriedenheit besorgen. Die Prig hat scho viele Mondsüchtige gwaschen und kennt sich aus bei so was wie kane zweite nöt.«

Abermals ging Jonas im Zimmer auf und ab und warf von Zeit zu Zeit verstohlene Blicke auf den alten Buchhalter. Dann blieb er stehen und sagte:

»Ich sehe schon, ich muß ein Auge auf ihn haben, sonst richtet er noch, weiß Gott, ein Unheil an. – Was meinen Sie dazu?«

»Nix is wahrscheinlicher als dös«, bestätigte Mrs. Gamp. »O mei, so was hab i schon oft gnua an mir selber erfahren.«

»Also gut, dann sorgen Sie vorderhand für ihn, und – sagen wir mal – heute über drei Tage soll die andere Wärterin herkommen. Wir werden dann trachten, handelseins zu werden. Sagen wir mal – ungefähr um neun oder zehn Uhr abends? – Beobachten Sie ihn in der Zwischenzeit gut und sprechen Sie nicht weiter von der Sache. – Er ist toll wie ein Märzhase.«

»Noch vüll toller«, versicherte Mrs. Gamp. »Vüll vüll toller.«

»Also gut, dann sehen Sie nach ihm, und tragen Sie Sorge, daß er keinen Schaden anrichtet. Und vergessen Sie nicht, was ich Ihnen gesagt habe!«

Mrs. Gamp schickte sich an, alles, was ihr eingeschärft worden, nochmals zu wiederholen und zur Anempfehlung ihres außerordentlichen Gedächtnisses und ihrer Vertrauenswürdigkeit eine der hervorragendsten Äußerungen der berühmten Mrs. Harris anzuführen, aber Jonas ließ sie kurz stehen und ging hinunter in die kleine Stube, in der bereits alles für ihn bereitstand. Dort zog er Rock und Stiefel aus, stellte beziehungsweise hängte sie vor die Türe und schloß zu. Dabei vergaß er nicht, den Schlüssel so zu stellen, daß ihn kein Neugieriger durch das Schlüsselloch beobachten konnte. Erst als er diese Vorsichtsmaßregeln getroffen, setzte er sich zum Abendbrot nieder.

»Na, Mr. Chuff«, murmelte er, »wäre gar nicht so ohne, dich loszuwerden. Man soll nichts halb tun. Solange ich noch hier in England bin, sollst du mir hübsch stille sein; wenn ich fort bin, kannst du plappern, soviel du willst. – Aber es ist doch eine verdammte Geschichte« fluchte er, schob den unberührten Teller fort und ging wieder finster auf und ab, »daß er gerade jetzt mit seinen Faseleien wieder darauf kommt.«

Nachdem er das kleine Zimmer mehrmals von einem Ende zum andern durchmessen, warf er sich erschöpft in einen andern Stuhl.

»Ich sage ›jetzt‹, aber wer weiß, ob er den Unsinn nicht schon die ganze Zeit über getrieben hat. Alter Trottel! – Aber warte nur, ich werde dir schon das Maul stopfen.«

Wieder ging Jonas mit unruhigen Schritten auf und ab und setzte sich dann aufs Bett, das Kinn in die Hand gestützt, und starrte den Tisch an. Nachdem er eine ziemliche Weile so dagesessen, fiel ihm sein Abendbrot wieder ein. Er setzte sich abermals in den Stuhl, den er zuerst eingenommen gehabt, und begann mit großer Gier zu essen – nicht wie ein Hungriger, sondern wie ein Mensch, der es sich aus irgendeinem verzweifelten Grunde fest vorgenommen hat. Er trank auch, aber bisweilen hielt er mitten im Zuge inne und sprang dann wieder auf, um die Stube zu durchmessen, sich dann abermals an den Tisch zu stürzen und mit gieriger Hast über das Essen herzufallen.

Es wurde dunkel. Die Düsterkeit des Abends ging in Nacht über. Ein schwarzer Schatten wuchs empor und legte sich auf sein Gesicht und verwandelte langsam seine Züge. Langsam, langsam, schwarz und schwärzer werdend; – und immer hagerer und wilder wurden Jonas‘ Züge, und immer weiter und weiter griff die Veränderung um sich, bis es in und außer ihm finstere Nacht war.

Das Zimmer, in dem er sich eingeschlossen, lag an der Hinterseite des Hauses zu ebener Erde. Es war durch ein blindes Oberlichtfenster erhellt und hatte eine Türe in der Wand, die auf einen engen, überdeckten Gang hinausführte. Schon von sechs oder sieben Uhr abends an war dieser nur noch wenig besucht, und auch zu keiner Tageszeit wurde er häufig als öffentlicher Durchgang benützt, obgleich er in eine benachbarte Straße mündete.

Der Grund und Boden, auf dem dieses Zimmer stand, war in früherer Zeit, so ging das Gerücht, ein Friedhof gewesen, und man hatte es zu seinem jetzigen Gebrauch als eine Art Bureau eingerichtet und umgebaut. Welche Geschäfte vordem darin betrieben worden, konnte niemand sagen. Auch hatten Anthony Chuzzlewit und Sohn wenig Notiz davon genommen, und es diente nur bisweilen als eine Art Schlafzimmer für den Notfall und war vor langen Jahren von dem alten Buchhalter als Privatzimmer benutzt worden. Eher einem Keller als einer Stube gleichend, waren seine Wände fleckenweise mit Schimmel bewachsen, und durchlaufende Wasserröhren in den Mauern fingen oft plötzlich in der Nacht, wenn alles ruhig schlief, zu glucksen und zu gurgeln an, gerade als ob jemand ersticke.

Seit langer, langer Zeit war die in den Hof hinausgehende Türe nicht geöffnet worden, aber der Schlüssel dazu hing noch jetzt, wie seit vielen Jahren, an seinem Platze. Jonas schien angenommen zu haben, daß er rostig sein werde, denn er hatte eine kleine Ölflasche mit einer Federspule in der Tasche, mit der er jetzt Schlüssel und Schloß sorgfältig einschmierte. Aus übermäßiger Vorsicht hatte er zu diesem Zweck Rock und Stiefel ausgezogen. Leise schlich er sich jetzt ins Bett und wälzte sich darin ein wenig herum, damit es das Aussehen bekäme, als habe jemand darin geschlafen; und bei seinem an und für sich unruhigen Gemütszustand war dies bald geschehen.

Dann stand er wieder auf, nahm aus dem Mantelsack, den er beim Nachhausekommen sofort in das Zimmer hatte schaffen lassen, ein Paar grobe Stiefel, zog sie an, desgleichen ein Paar Lederhosen, wie sie die Bauern zu tragen pflegen, einen groben, dunklen Rock und einen Filzhut – seinen eigenen gewöhnlichen hatte er absichtlich im Zimmer oben gelassen –, und dann setzte er sich mit dem Schlüssel in der Hand an der Türe nieder und horchte.

Die Kerze war ausgelöscht. Langsam, langsam schwanden die Minuten. Die Meßnerknaben in der benachbarten Kirche zogen die Glockenstränge, und das nicht endenwollende Bimbam der Glocken trieb Jonas fast bis zum Wahnsinn. Mit wildem Fluche verdammte er das lärmende Geläute – es war ihm, als ob die Glocken wüßten, daß er an der Türe lausche, und vorhätten, es mit zahllosen Stimmen der ganzen Stadt in die Ohren zu schreien. – Wollten sie denn gar nicht aufhören!?

Endlich verstummten sie, aber die Stille, die darauf folgte, war so schauerlich wie der Vorläufer irgendeines entsetzlichen Losbruches. – Horch! – Fußtritte auf dem Hof! Zwei Männer! – Jonas wich auf den Zehen von der Türe zurück, als könnten sie ihn durch die hölzerne Türe hindurch sehen.

Sie gingen weiter und sprachen, soviel er hören konnte, von einem Gerippe, das gestern bei der Demolierung eines Hauses ausgegraben worden war und, wie verlaute, von einem Erschlagenen herrühren müsse. »Da sieht man wieder: ein Mord kommt immer ans Licht«, sagte der eine der Männer. Das waren die letzten lauten Worte, als die beiden um die Ecke bogen.

Pst! Still! – Jonas steckte den Schlüssel in das Schloß und drehte langsam um. Eine Weile leistete die Türe Widerstand, dann endlich ging sie auf, und der Geschmack von Rost, Stauberde und moderndem Holz legte sich auf Jonas‘ Lippen. Er trat hinaus und schloß leise hinter sich ab. Und wie er dann, wie von Furien gepeitscht, dahinfloh, war alles totenstill und ruhig ringsum.

47. Kapitel


47. Kapitel

Wie Jonas Chuzzlewits und seines Freundes Unternehmen endete

Fuhren die Menschen, die noch so spät durch die dunklen Straßen gingen, nicht unwillkürlich zurück, wie er so hinter ihnen hergeschlichen kam? Und wie er sich so die Häusermauern entlang drückte, hatte da kein unschuldiges Kind in seinem Schlummer das dunkle Gefühl, es falle ein schuldbeladener Schatten auf sein Bettchen und störe seinen unschuldigen Schlaf? Heulte der Hund dort an seiner rasselnden Kette, als wolle er sie zerreißen, vielleicht seinetwegen? Und wenn sich eine Ratte in der Erde ihren Gang grub, vielleicht geschah es aus heimlicher Witterung und um sich zu ihm durchzunagen und ihm zu folgen – den fetten Schmaus ahnend, der da bevorstand. Wenn Jonas über die Achsel zurückblickte, vielleicht war es eine seelische Ahnung, die Fußspuren, die er auf dem staubigen Pflaster hinterlassen, könnten schon feucht und schmutzig sein von dem roten gespenstigen Schlamm, der einst Kains nackte Füße befleckte.

Er wendete sich der Hauptstraße gegen Westen zu, erreichte sie sehr bald und setzte dann seinen Weg, teils zu Fuß, teils im Wagen, weiter fort.

Eine beträchtliche Strecke legte er auf dem Verdeck einer Landkutsche zurück, die ihn eingeholt hatte, und als sie abbog, bewog er den Kutscher eines zurückkehrenden Postwagens, ihn eine Strecke weit mitzunehmen. Dann wieder ging er querfeldein und schnitt eine Meile oder zwei ab, ehe er seine Schritte abermals der Straße zulenkte. Und schließlich bestieg er eine langsame schwerfällige Nachtkutsche, die an allen möglichen Stationen und Orten anhielt und, als er sie getroffen, vor einem Wirtshause stand, in dem der Schaffner und der Kutscher saßen und zechten.

Er feilschte um einen Außensitz und stieg nicht eher aus, als bis ihn nur noch ein paar Meilen von seinem Bestimmungsorte trennten. Da blieb er dann die ganze Nacht.

Die ganze Nacht! Es ist ein Irrtum, zu glauben, die Natur schlafe bei Nacht. Niemand konnte das besser wissen als Jonas.

Vielleicht schlummerten die Fische in den kalten glitzernden Strömen und Bächen, und die Vögel ruhten auf den Zweigen der Bäume, ruhig stand oder lag das Vieh in seinen Ställen oder auf den Weideplätzen, und die Menschen schlummerten, aber die Nacht, die feierliche, schloß kein Auge, und ihr Dunkel war so wach wie das Licht bei Tag. Die hohen Bäume, der Mond, die glitzernden Sterne, der leise atmende Wind, der überschattete Feldweg, der breite dämmerhelle Wiesenhang, sie alle wachten. Da war nicht ein Gras- und Getreidehalm, der nicht aufhorchte, und je größer die Stille war, desto gespannter und unablässiger schien sie Jonas zu beobachten.

Und dennoch schlief er. Während er zwischen diesen von Gott aufgestellten Schildwachen dahinfuhr, schlief er und änderte weder Zweck noch Ziel seiner Reise. Verließ ihn einmal der Gedanke daran in seinen wirren Träumen, gleich kam der Mahner wieder und weckte ihn auf. Doch niemals erwachte er mit einer Spur von Reue oder mit dem Gedanken, seinen Vorsatz fahrenzulassen.

Einmal träumte ihm, er liege ruhig im Bett, über sich die mondhelle Nacht, und denke nach über das Geräusch der Räder, als plötzlich der alte Buchhalter den Kopf zur Türe hereinsteckte und ihm winkte. Sofort stand er auf und begleitete ihn in dem Anzuge, den er zur Zeit wirklich trug, in eine fremde Stadt hinein, wo die Namen der Straßen in für ihn ganz fremden Buchstaben auf die Häusermauern geschrieben waren. Doch dies alles überraschte und beunruhigte ihn nicht, denn er entsann sich im Traume, schon einmal hier gewesen zu sein. So abschüssig waren die Straßen, daß man durch himmelhohe Leitern, die trotzdem immer noch zu kurz waren, und durch Stricke, die tief brummende Glocken in Bewegung setzten, wenn man sich daran anklammerte, von einer in die andere klimmen mußte. Aber auch diese Hemmnisse schreckten ihn nicht zurück. Mehr beunruhigte ihn sein Anzug, der sehr unschicklich war für das große Fest, das hier gefeiert werden sollte und woran er teilzunehmen wünschte. Schon fingen die großen Menschenmassen an, die Straßen zu erfüllen, und von der Seite her kamen aus unübersehbarer Ferne Myriaden Leute herbei, zum Teil Blumen streuend, zum Teil für andere, die auf weißen Pferden heranritten, Platz machend. Da plötzlich brach eine schreckliche Gestalt aus der Menge hervor und rief, daß dies der jüngste Tag sei. Kaum verbreitete sich die Kunde, da fand ein wildes Getümmel zum Richterstuhle hin statt, und das Gedränge wurde so groß, daß Jonas und sein Begleiter (der stets wechselte und nie, auch nicht zwei Minuten lang, derselbe blieb) nach der Seite zu in ein Tor traten und mit Furcht und Schrecken die Menge betrachteten, unter der viele bekannte Gesichter waren und auch viele unbekannte. Da mit einemmal tauchte ein Kopf unter den übrigen auf – totenblaß und ihm wohlbekannt – und verkündete ihm, daß um seinetwillen dieser schreckliche Tag abgehalten werde. Sie rangen miteinander. Und als Jonas sich bemühte, seine Hand, in der er eine Keule hielt, zu befreien und den tödlichen Streich zu führen, an den er so oft und oft gedacht, da kehrte ihm das Bewußtsein des wachen Vorsatzes zurück, und die Sonne schien durch das Wagenfenster herein.

Sie war ihm willkommen, rief sie doch Leben, Bewegung und Rührigkeit hervor, um die Aufmerksamkeit des wachen Tages abzulenken. Nichts fürchtete er so sehr wie das Auge der Nacht, der wachsamen, stummen und lauschenden Nacht; schien sie doch soviel Muße zu haben, tief hinein zu schauen in sein verbrecherisches Gehirn.

Er ging zu Rate mit sich selbst und seinem Herzen, aber keine Anwandlung von Reue kam über ihn. – Ein Mord? Nun gut, was weiter? Er war eigens dazu hergekommen, ihn zu begehen. »Ich wünsche hier auszusteigen«, sagte er.

»So nahe vor der Stadt?« bemerkte der Kutscher.

»Ich dächte, ich könnte absteigen, wo ich will.«

»Selbstverständlich, Sir; das Herz wird uns nicht brechen, wenn wir Sie verlieren. Es wäre übrigens auch kein Unglück, wenn wir Sie gar nicht getroffen hätten. Machen Sie gefälligst rasch, und damit Schluß.«

Der Schaffner war ebenfalls abgestiegen und wartete auf der Straße, um das Fahrgeld in Empfang zu nehmen. Von Mißtrauen gequält, argwöhnte Jonas, der Mann betrachte ihn neugieriger, als es wohl zweckmäßig gewesen wäre.

»Warum glotzen Sie mich so an?« schrie er.

»Na, Ihrer Schönheit wegen gerade nicht«, brummte der Kutscher. »Wenn Sie wollen, daß ich Ihnen prophezeie, so kann ich Ihnen ja Ihre Zukunft voraussagen. Ersaufen werden Sie nicht – drum brauchen Sie sich keine Sorge zu machen.«

Und ehe Jonas noch antworten oder ausweichen konnte, machte der Kutscher dem Gespräch ein Ende, indem er ihm eins mit der Peitsche versetzte und ihn sich zum Teufel scheren hieß. Gleichzeitig sprang auch der Schaffner wieder auf seinen Sitz hinauf, und der Wagen rollte unter dem Gelächter seiner Insassen weiter, während Jonas auf der Straße stehenblieb und die Faust schüttelte.

Je näher er sich dann die Sache überlegte, desto weniger war er unzufrieden, daß es so gekommen, denn es ging klar daraus hervor, daß man ihn für einen griesgrämigen Bauern gehalten, und das war ein Kompliment für seine gute Verkleidung. Etwa zwei oder drei Meilen von der Stelle entfernt, schlug er sich in die Büsche am Wege, riß aus einer Verzäunung einen dicken, harten, knotigen Prügel los, legte sich unter einen Heuschober und verbrachte einige Zeit damit, von seiner Waffe die Rinde abzuschälen und ihren gekerbten Kopf mit seinem Messer zu bearbeiten. Der Tag entschwand. Mittag, Nachmittag, Abend, Sonnenuntergang.

In dieser heitern friedensvollen Stunde kamen zwei Leute auf einem nicht sehr besuchten Wege in einem Gig aus der Stadt hergefahren. Es war gerade der Tag, an dem Mr. Pecksniff mit Mr. Montague dinieren sollte. Der Architekt hatte Wort gehalten und war jetzt wieder auf der Heimkehr begriffen. Mr. Montague wollte ihn nur noch eine kleine Strecke begleiten und dann auf einem hübschen Spazierweg durch die Felder, den ihm Mr. Pecksniff zu zeigen versprochen, zu Fuß zurückzukehren. Jonas wußte das. Er war um das Gasthaus herumgeschlichen und hatte gehört, wie sie dem Hausknecht ihre Befehle erteilt hatten.

Die beiden Herren plauderten so laut und fröhlich miteinander, daß man sie eine ziemliche Strecke weit hören konnte. Ihr Lachen übertönte sogar das Rollen ihrer Räder und den Hufschlag der Pferde. Immer näher und näher kamen sie, und immer lauter und lauter wurden sie, bis sie an eine Stelle kamen, wo ein Schlagbaum und ein Fußpfad ihren Trennungspunkt bezeichneten. Das Gig hielt an.

»Es ist noch viel zu früh – viel zu früh, auseinanderzugehen«, sagte Mr. Pecksniff. »Aber wir sind an Ort und Stelle, mein lieber Freund. Halten Sie sich jetzt nur noch auf dem Fußweg und gehen Sie geradeaus durch das kleine Gehölz, zu dem Sie gelangen werden. Der Weg wird dort etwas schmaler, aber Sie können ihn nicht verfehlen. – Wann sehe ich Sie wieder? Hoffentlich doch bald?«

»Ja, das hoffe ich auch«, versetzte Mr. Montague.

»Also, gute Nacht.«

»Gute Nacht und angenehme Fahrt.«

Solange sich Mr. Pecksniff noch von Zeit zu Zeit grüßend umwendete und in Sicht war, blieb Mr. Montague auf der Straße stehen und winkte ihm lächelnd mit der Hand. Als er ihm aber aus den Augen entschwand und die Verstellung nicht mehr länger nötig war, setzte er sich auf den Schlagbaum nieder und machte plötzlich ein so verändertes Gesicht, als sei er in diesem Augenblick um mindestens zehn Jahre älter geworden.

Sein Gesicht glühte von Wein, aber trotzdem war er nicht fröhlich, und in seinen Mienen war auch nichts von Triumph zu lesen. Vielleicht hatte ihn die Anstrengung der schweren Rolle, die er zu spielen gehabt, ein wenig erschöpft, vielleicht weckte das Flüstern des Abendwindes sein Gewissen, vielleicht war es auch die dunkle Vorahnung des drohenden Schicksals, das über seinem Haupte schwebte.

Es gibt gewisse Flüssigkeiten, die sich des nahenden Windes, des Regens oder Frostes bewußt sind und sich davor in ihre gläsernen Arterien zurückzuziehen suchen; sollte nicht auch das Blut eine gleiche Eigenschaft haben und die Hand wittern, die sich erheben will, um es zu vergießen, so daß es in den Adern des Menschen fröstelnd gerinnt?

Warm wehte die Luft, und doch verspürte Mr. Montague einen so kalten Schauder, daß er plötzlich von seinem Sitze aufsprang und hastig weiterzugehen anfing. Unentschlossen, ob er auf dem einsamen Fußpfade fortwandern oder auf die Landstraße zurückkehren solle, hielt er einen Augenblick inne.

Er wählte den Fußpfad.

Der Glanz der scheidenden Sonne bestrahlte sein Gesicht, Musik – das Gezwitscher der Vögel – tönte in seinen Ohren, und wilde Blumen blühten lieblich um ihn her. In der Ferne dämmerten die Strohdächer armseliger Bauernwohnungen, und ein alter, grauer Kirchturm mit einem Kreuz auf seiner Spitze stieg zwischen ihm und der kommenden Nacht empor.

Niemals hatte er die Lehre begriffen, die in dem Anblick solcher Dinge liegt, und sich stets höhnisch darüber weggesetzt, aber ehe er den Hohlweg hinunterschritt, blickte er noch einmal mit ahnungsschwerem Herzen auf die Aussicht zurück, die dort hinter ihm lag im dämmernden Abendrot. Dann ging es hinab – hinab ins Tal.

Er erreichte das Gehölz, einen dichten, schattigen Wald, durch den sich der Fußpfad dahinwand und schließlich in eine schmale Schaffährte überging. Ehe er in das Dunkel eintrat, hielt er inne, und die Stille der Natur machte ihn beinahe beklommen.

Schräg fielen die letzten Strahlen der Sonne herab und zogen längs der Stämme und Zweige einen goldenen Lichtpfad, der zusehends dahinstarb, um allmählich der herankriechenden Finsternis Raum zu geben. Es war so still und ruhig, daß das weiche Moos an den Stämmen der alten Bäume verstohlen aus dem Schweigen herausgewachsen zu sein schien. Von den Winterstürmen gebeugt, hatten sich die dürren Bäume an ihre Nachbarn gelehnt und lagen kahl in den beraubten Armen, um jeden Tag ein Stück mehr zur Erde zu sinken, als wollten sie die allgemeine Ruhe nicht durch das Donnern ihres Falles stören. Überall eröffneten sich verschwiegene Aussichten bis tief in das Herz und die innersten Schlupfwinkel des Waldes, bald einem Kreuzgang in der Kirche oder einem Kloster, bald einer nackt zum Himmel aufragenden Ruine ähnlich. Dann wieder sich zu tiefgrünen, geheimnisvoll rauschenden Laubengängen verschlingend, durch die man verworrenes Gezweig, efeubelaubte Äste, zitterndes Blattwerk und die abgeschälten Stämme alter Bäume in künstlerischer Unordnung durcheinander geworfen erblickte.

Als die Abendsonne schwand und die Nacht hereinbrach, trat Mr. Montague in das Gehölz. Hier und da schob er einen Busch oder einen niederhängenden Zweig zurück, der ihm den Weg versperrte, und immer mehr und mehr verlor er sich im Innern des Haines. Von Zeit zu Zeit konnte man ihn noch auf einer schmalen Lichtung hinschreiten sehen, und das Krachen dürrer Gezweige verriet den Weg, den er genommen.

Dann sah und hörte man nichts mehr von ihm.

Kein menschliches Auge sah ihn mehr dahinschreiten, kein menschliches Ohr hörte seine Stimme mehr – von einem einzigen Menschen abgesehen. Und dieser eine brach zwischen den Blättern und Zweigen auf der andern Seite in der Nähe des Fußpfades wieder hervor und floh ins Freie hinaus.

Was hatte er im Walde zurückgelassen, daß er so wild daraus hervorstürzte, als wäre die Hölle hinter ihm her?

Den Leichnam eines Ermordeten.

An einer dichtbewachsenen einsamen Stelle lag er unter den vorjährigen Eichen- und Buchenblättern, so wie der Mann hingestürzt war. Langsam zwischen den Blättern durchsickernd, die das letzte Kissen des Ermordeten bildeten, niedertröpfelnd in den sumpfigen Boden, wie um sich vor jedem menschlichen Auge zu verbergen, dann wieder zwischen dem gekräuselten Laub sich gewaltsam durchdrängend, daß es schien, als ob diese leblosen Wesen es von sich stießen und schaudernd sich davon abwendeten – zog sich langsam eine dunkle Blutlache hin, den Duft des Waldes mit lauwarmem Geruche verpestend.

Und der, der diese Tat vollbracht, brach so ungestüm aus dem Walde hervor, daß er im Lauf einen ganzen Schauer von abgebrochenen jungen Zweigen mitriß und selbst heftig ins Gras niederstürzte. Doch rasch war er wieder auf den Beinen, verbarg sich vorgebeugt unter einer Hecke und lief der Straße zu. Dort angelangt, eilte er, so rasch er konnte, dahin und schlug die Richtung nach London ein.

Nicht einen Augenblick reute ihn seine Tat. Er entsetzte sich zwar, wenn er daran dachte, aber Reue empfand er nicht. Furcht und Grauen hatten ihn im Walde ergriffen, aber jetzt, wo er den Schauplatz im Rücken hatte und das Verbrechen begangen war, heftete sich seine Angst auf das dunkle Zimmer, das seiner zu Hause harrte.

Weit entsetzlicher kam es ihm vor als der Wald, und dahin sollte er zurückkehren! In diesem Zimmer war der Ursprung seines Geheimnisses eingeschlossen, und alle seine Schrecken lauerten dort und nicht im Walde, wie er sich jetzt einbildete. So marschierte er zehn Meilen weit. Dann hielt er vor einem Wirtshaus an, um auf den Postwagen zu warten, der, wie er wußte, demnächst nach London hier vorbeifahren mußte. Es war nicht derselbe, mit dem er hergereist, denn er kam von einem andern Orte. Er setzte sich vor die Türe auf eine Bank neben einen Mann, der seine Pfeife rauchte. Nachdem er Bier bestellt und einen Schluck davon genommen, bot er den Krug seinem Nachbarn hin, der gleichfalls einen Zug daraus tat und sich bei ihm dafür bedankte.

»A schöner Abend, Herr Nachbar«, sagte der Mann, »und a feiner Sonnenuntergang.«

»Ich hab ihn nicht gesehen«, lautete die hastige Antwort.

»Nicht gesehen?«

»Zum Teufel nochmal, wie hätt ich denn können, ich hab doch geschlafen!«

»Ach so, geschlafen.«

Der Mann schien etwas überrascht von der unerwarteten Reizbarkeit des Fremden, sagte aber kein Wort weiter, sondern rauchte schweigend sein Pfeifchen fort. Sie hatten noch nicht lange so gesessen, als drinnen an eine Tür geklopft wurde.

»Was ist das?« fuhr Jonas auf.

»Was weiß denn i«, versetzte der Mann.

Jonas schwieg: sein Ausruf war ihm wider Willen entwischt. Er hatte gerade wieder an das verschlossene Zimmer gedacht und daran, daß vielleicht gerade in diesem Augenblick jemand ohne Ursache dort anklopfen könnte und daß sie erschrecken würden zu Hause, wenn sie keine Antwort erhielten. Wie sie dann die Türe aufbrechen würden und das Zimmer leer finden. Daß sie dann vielleicht die Türe auf den Hof von innen verschließen und es ihm dadurch unmöglich machen könnten, wieder in das Haus zurückzugelangen, ohne sich in seiner jetzigen Verkleidung zu zeigen. Und wie das dann alles zu Gerede, das Gerede zur Entdeckung und die Entdeckung zum Strang führen mußte. Gerade in dem Augenblick, wo er das alles überlegte, war wie durch eine Tücke des Schicksals und eine bedeutungsvolle Verkettung der Umstände das Klopfen laut geworden.

Immer noch klopfte es jetzt wie ein warnendes Echo der gefürchteten Wirklichkeit, die er an die Wand gemalt hatte. Er konnte es nicht mehr weiter mit anhören, stand auf, bezahlte sein Bier und ging. Den ganzen Tag über war er an ihm unbekannten Orten umhergeschlichen, und jetzt sah er sich in der Nacht in fremden Kleidern und mit unstetem Geist auf einer einsamen Straße. Mehr als einmal machte er halt und griff sich an den Kopf, in der Hoffnung, alles möge nur ein Traum sein.

Aber noch immer bereute er seine Tat nicht. Nein. Er hatte den Mann zu sehr gehaßt und zu lange und zu verzweifelt über seinem Plane nachgebrütet. Würde die Tat noch vor ihm liegen, er hätte sie abermals vollbracht. So leicht war der Haß und die Rachsucht seines Herzens nicht gestillt; – so wenig wie damals, wo er über die Tat nachdachte, empfand er jetzt Reue.

Schrecken und Entsetzen verfolgten ihn – und zwar in einem Grade, wie er es sich nie gedacht und es nie auch nur entfernt für möglich gehalten hätte. Er entsetzte sich im Geiste vor jenem verfluchten Zimmer in seinem Haus, und so verwirrten sich seine Gedanken infolgedessen, daß er schließlich nicht nur um sich Angst hatte, sondern sich sogar vor sich selber fürchtete. Er war sozusagen ein Teil dieses Zimmers – ein Etwas, das man dort vermutete und nicht fand. Er übertrug die geheimnisvollen Schrecken der Kammer auf sich selbst und vergegenwärtigte sich die schimmlige Stube in ihrer falschen lautlosen Tücke. Wie er an das zerwühlte Bett dachte, in dem er nicht lag, in dem man ihn aber glaubte, so kam er sich vor wie sein eignes Gespenst – wie sein spukender Doppelgänger und das gehetzte Opfer seines Ichs zusammengenommen.

Als nicht lange später der Wagen heranrollte, löste er einen Außenplatz und fuhr rasch der Heimat zu. Die meisten Mitreisenden waren Landleute. In seiner Angst vermutete er, sie müßten bereits von dem Mord gehört haben und würden ihm erzählen, die Leiche sei gefunden worden, trotzdem er genau wußte, daß dies unmöglich war, wenn er sich die Zeit und den Ort, wo er das Verbrechen begangen, vergegenwärtigte. Aber obwohl er nicht den geringsten Grund hatte, die Unwissenheit der Leute für etwas anderes als die natürliche Folge der Umstände zu halten, so ermutigte ihn doch diese Unwissenheit, und plötzlich jubelte er innerlich auf, der Leichnam würde nie gefunden werden: eine Wahrscheinlichkeit, die er sich im Geiste immer weiter und weiter ausarbeitete. Plötzlich maß er die Zeit nach dem raschen Fluge seiner schuldbewußten Gedanken, nach den Ereignissen, die dem Blutvergießen vorhergegangen, und nach dem Getümmel unzusammenhängender wirrer Bilder, deren beständiges Opfer er war, so daß er bereits bei Tagesanbruch das Verbrechen wie ein längst in der Vergangenheit liegendes Geschehnis ansah und das Gefühl vollständigster Sicherheit empfand, da es noch nicht an den Tag gekommen war. So vermochte er jetzt zu denken und seine Gedanken zu bilden, während die Sonne bereits wieder in den Wald blickte und auf das Gesicht des Toten schien, den sie abends noch lebendig gesehen.

Aber da waren sie schon in den Straßen von London. – Still!

Es war erst fünf Uhr morgens. Noch hatte er Zeit, unbemerkt und ehe sich viele Leute in den Straßen blicken ließen, seine Wohnung zu erreichen, vorausgesetzt, daß noch nichts geschehen war, was zu seiner Entdeckung geführt hatte. Er glitt von dem Wagen herunter, ohne daß sich der Kutscher die Mühe zu nehmen brauchte, seinetwegen anzuhalten, dann eilte er über die Straße und erreichte endlich auf einer ganzen Menge von Nebenwegen, die ihm den Pfad abkürzten, die Umgebung seiner Wohnung. Vorsichtig machte er halt, um alle Gassen, die sich vor ihm ausbreiteten, zu mustern, schlüpfte dann hurtig durch die eine, blieb wieder stehen, um die nächste zu inspizieren, und so weiter.

Der dunkle gedeckte Gang war leer, als er mit seinem Mördergesicht hineinspähte. Auf den Zehen schlich er sich zu der Türe, als scheue er sich, den dahinter Schlafenden, der doch er selber war, zu stören.

Er lauschte. Kein Laut; – wie er mit zitternder Hand den Schlüssel umdrehte und die Türe leise mit dem Knie aufdrückte, bemächtigte sich seiner eine fürchterliche Angst. Was, wenn der Ermordete vor ihm dort eingetroffen wäre?

Er warf einen scheuen Blick umher. Es war nichts da.

Er trat ein, verschloß die Türe und zog den Schlüssel durch den Staub und die Asche am Kamin, um ihn wieder schmutzig zu machen, dann hängte er ihn an seinem alten Platze wieder auf, zog seine Verkleidung aus, band sie zu einem Paket zusammen, das er noch vor der Nacht ins Wasser zu werfen gedachte, und schloß sie vorläufig in einen Schrank ein. Nachdem er diese Vorsichtsmaßregeln getroffen, zog er sich aus und legte sich zu Bett.

Der glühende Durst, das fiebrige Feuer, das in seinen Adern brannte, als er sich zudeckte, das immer wachsende und wachsende Entsetzen vor dem Zimmer, wenn er die Augen schloß, die Angst, mit der er auf jedes Geräusch lauschte und das Unwahrscheinlichste für ein Vorspiel zu jenem Klopfen hielt, das ihm die verhängnisvolle Kunde bringen mußte, dann, wie er auffuhr, sein Lager verließ und sich im Spiegel besah, weil er glaubte, die Tat müsse mit glühenden Buchstaben auf seiner Stirne geschrieben stehen, wie ihm das Herz klopfte, wie er sich wieder niederlegte und wieder die Decken über sich zog, – wie der Puls ihm das Wort: Mord, Mord, Mord in die Ohren hämmerte – welche Feder wäre imstande, alle diese entsetzlichen Wahrheiten zu schildern!

Der Morgen kam. Er hörte Schritte im Hause – hörte, wie man die Vorhänge aufzog, die Fensterläden öffnete – und dann ein leises Geräusch vor seiner Türe. Mehr als einmal versuchte er zu rufen, aber seine Zunge war so verdorrt, als wäre ihm der Mund mit glühendem Sand angefüllt. Endlich setzte er sich in seinem Bette auf und rief:

»Wer ist da!«

Es war Gratia.

Er fragte sie, wie spät es sei.

»Neun Uhr.«

»Hat – hat gestern niemand an meine Türe geklopft?« stotterte er. »Es hat mich etwas gestört. Aber, selbst wenn du die Türe eingeschlagen hättest, würdest du keinen Laut von mir zur Antwort bekommen haben.«

»Niemand«, antwortete Gratia.

Das war gut. Fast atemlos hatte er auf ihre Antwort gewartet. Wenn ihm etwas ein Trost sein konnte, so war es diese Nachricht.

»Mr. Nadgett wollte dich besuchen«, fuhr Gratia fort, »aber ich sagte ihm, du seiest müde und habest mir befohlen, dich nicht zu stören. Er meinte, es läge nichts daran, und ging wieder fort. Als ich mein Fenster öffnete, um frische Luft hereinzulassen, sah ich ihn diesen Morgen sehr zeitig früh durch die Straße gehen. Aber dagewesen ist er nicht mehr.«

Diesen Morgen durch die Straße – – sehr früh! Jonas zitterte bei dem Gedanken an die Möglichkeit, er hätte ihm begegnen können – ihm, der doch selbst nichts andres zu tun hatte, als den Leuten auszuweichen, heimlich umherzuschleichen und seine eigenen Geheimnisse zu behüten – – ihm, dem Mann, der nie etwas sah!

Er forderte Gratia auf, das Frühstück bereitzuhalten, und schickte sich an, die Treppe hinaufzugehen, nachdem er rasch in seine Kleider gefahren war, die vor der Türe gelegen hatten. In geheimer Scheu, nach dem, was vorgefallen, wieder mit seinen Leuten im Hause zusammenzutreffen, zögerte er unter allen möglichen unbedeutenden Vorwänden an der Türe, damit man ihn zuerst bemerke, ohne direkt sein Gesicht zu sehen. Noch während er sich ankleidete, ließ er die Türe offenstehen und befahl die Fenster zu öffnen – er wußte selbst nicht recht, warum –, vielleicht, damit man sich an seine Stimme gewöhnte. Aber ewig konnte er nicht da stehenbleiben, und so entschloß er sich endlich, hinaufzugehen. Sein letzter Blick in den Spiegel hatte ihm ein Gesicht gezeigt, das seine ganze Geschichte erzählte; – vielleicht lag der Grund darin, daß er so ängstlich hineingeblickt hatte. Er wagte es nicht, die übrigen Hausinsassen anzublicken, denn sie kamen ihm so merkwürdig schweigsam vor. Und so sehr er selbst auch jede seiner Mienen bewachte, so konnte er sich doch nicht enthalten, zu horchen und dabei deutlich zu verraten, daß er horchte. Ob er nun aber auf ihre Gespräche hörte, an andre Dinge zu denken versuchte, selber sprach, schwieg oder entschlossen und verbissen das öde Ticken einer alten heisern Wanduhr hinter sich zählte, stets versank er, als ob ein Zauber ihn dazu zwänge, in ein gespanntes Horchen, denn er wußte, daß »es« kommen müsse und daß seine jetzige Strafe und Folter darin bestand, daß er horchen mußte, wie »es« sich näherte. Still!

41. Kapitel


41. Kapitel

Mr. Jonas und sein Freund kommen zu einer Einigung und brechen zu einer Geschäftsreise auf

Da die »Anglobengalische uneigennützige Anlehens- und Lebensversicherungsgesellschaft« ganz in der Nähe lag, waren Mr. Montague und Jonas ziemlich bald dort angelangt. Die Fahrt hätte aber geradesogut viele Stunden dauern können, ohne daß einer von beiden ein Wort gesprochen haben würde. Jonas hatte offenbar gar keine Lust, das Schweigen zu brechen, und im Plane seines lieben Freundes lag es durchaus nicht, ihn in eine Unterhaltung zu verstricken.

Da kein Grund mehr vorhanden war, sich weiter zu vermummen, hatte Jonas seinen Mantel abgeworfen und über sein Knie gelegt; dabei drückte er sich, wie es der beschränkte Raum nur immer gestattete, in die Wagenecke, um so weit wie möglich weg von seinem Begleiter zu sein. In seinem Wesen war eine große Veränderung eingetreten, wenn man es mit dem Benehmen verglich, das er noch vor ein paar Minuten gezeigt, als Tom ihm im Salon des Schiffes so unerwartet entgegengetreten war, oder mit dem, als ihm damals Mr. Montague in seinem Ankleidezimmer ein paar Worte ins Ohr geflüstert hatte. Er sah ganz aus wie jemand, den man bei irgend etwas Sträflichem ertappt hat oder den man im Schach hält. Er war das Bild eines Menschen, der, von allen Seiten umstellt, endlich dingfest gemacht worden ist. Obgleich noch blaß vor Schrecken und atemlosem Entsetzen, schien er doch irgendwie einen neuen Entschluß gefaßt zu haben, der alle andern Regungen seiner Seele niederkämpfte.

Auch in seinen besten Zeiten hatte er niemals sehr gewinnend ausgesehen, um so weniger konnte man das jetzt von ihm erwarten. Seine Unterlippe zeigte tiefe Spuren der Vorderzähne, und dies und die Zeichen der eben mitgemachten Aufregung verschonten sein Aussehen ebensowenig wie die tiefen Falten in seiner Stirn. Aber er hatte sich immerhin bis zu einer gewissen Selbstbeherrschung durchgerungen – zu einer geradezu unnatürlichen Selbstbeherrschung, wie man sie an Menschen, die sonst nichts weniger als mutig sind, in Augenblicken der Verzweiflung wahrzunehmen pflegt. Und als der Wagen hielt, ließ er sich nicht erst lange bitten, sondern sprang entschlossen hinaus und eilte die Treppe hinauf.

Der Präsident folgte ihm, schloß, als sie eingetreten waren, die Türe des Sitzungszimmers und warf sich auf sein Sofa. Jonas blieb vor dem Fenster stehen und schaute auf die Straße hinunter, die Stirn an die Scheibe gedrückt und den Kopf in die Hand gestützt.

»Das ist wirklich nicht hübsch von Ihnen, Mr. Chuzzlewit«, brach Mr. Montague endlich das Schweigen. »Meiner Seel – wahrhaftig gar nicht hübsch.«

»Aber was wollen Sie denn eigentlich von mir?« rief Jonas, jäh herumfahrend. – »Was will man von mir?«

»Vertrauen, mein lieber Freund – ein wenig mehr Vertrauen!« antwortete Mr. Montague gekränkt.

»Zum Teufel nochmal, weil Sie mir vielleicht so großes Vertrauen entgegenbringen, was?«

»Tue ich das nicht?« fragte Mr. Tigg schlicht, erhob sein Haupt und sah Jonas freundlich an. – Aber dieser hatte sich bereits wieder umgedreht. »Tue ich’s vielleicht nicht? Habe ich Sie nicht in alle Pläne eingeweiht, die ich zu unserm Besten entwarf – wohlgemerkt zu unserm Besten und zu unserm Vorteil –, nicht bloß zu dem meinigen? Und was ist der Dank dafür? – Ein Fluchtversuch.«

»Woher wissen Sie das? Wer sagt Ihnen, daß ich zu fliehen gedachte?«

»Wer mir das sagte? Na hören Sie mal! Ein Schiff, das nach Antwerpen geht, und noch dazu in so früher Stunde, und dabei die reizende Vermummung? Na, wenn es da nicht Ihre Absicht war auszureißen, dann bin ich blind. Und wenn Sie mich nicht hintergehen wollten, weshalb sind Sie dann wieder zurückgekommen?«

»Ich bin zurückgekommen«, sagte Jonas, »um kein Aufsehen zu erregen.«

»Das war sehr klug von Ihnen«, lobte Mr. Tigg.

Jonas schwieg und sah noch immer, den Kopf auf die Arme aufgestützt, auf die Straße hinunter.

»Trotzdem, Mr. Chuzzlewit«, fing Mr. Montague wieder an, »und trotz allem Vorgefallenen will ich offen gegen Sie sein. Sie hören doch, was ich sage? – Sie drehen mir beständig den Rücken.«

»Aber ich höre doch; – weiter.«

»Also, ich sage, daß ich trotz allem Vorgefallenen offen gegen Sie sein will.«

»Das habe ich bereits gehört. Und ich habe Ihnen auch zu verstehen gegeben, daß ich gehört habe. – Also weiter.«

»Sie scheinen etwas gereizt zu sein. – Macht weiter nichts. Zufällig habe ich ein glückliches Temperament. – Aber sehen wir uns jetzt einmal an, wie die Sachen stehen. Vor ein paar Tagen erzählte ich Ihnen, lieber Freund, daß ich glaubte, eine gewisse Entdeckung gemacht zu haben –«

»Wollen Sie wohl still sein!« rief Jonas und blickte wild um sich und nach der Türe.

»Schon gut, schon gut«, besänftigte ihn Mr. Montague. »Sehr vernünftig, so vorsichtig zu sein. Auch in meinem Interesse, denn wenn meine Entdeckung bekannt wird, hat sie für mich weiter keinen Wert mehr. Sie sehen daraus, lieber Chuzzlewit, wie offen und freimütig ich Ihnen entgegenkomme und Ihnen meine eigenen Schwächen verrate. Aber jetzt zur Sache. Also ich machte eine Entdeckung – oder glaube wenigstens eine gemacht zu haben – und flüsterte sie Ihnen, wiederum ganz mit jenem Vertrauen, das, wie ich zuversichtlich hoffe, zwischen uns besteht, ins Ohr. Vielleicht ist etwas dran, vielleicht auch nicht. Ich habe meine Meinung darüber und Sie wohl die Ihrige. Darüber wollen wir uns nicht streiten. Aber eines, mein lieber Freund: Sie haben Ihre Schwäche verraten. Ich sage weiter nichts als: Sie haben Ihre Schwäche verraten. Möglicherweise suche ich nun diesen kleinen Vorteil zu meinem Nutzen auszubeuten, aber mein Vorteil liegt nicht darin, daß ich diese Entdeckung weiter verfolge oder gegen Sie gebrauche.«

»Was heißt das, Sie gebrauchen sie nicht gegen mich?« fragte Jonas, ohne seine Stellung zu verändern.

»Ach Gott«, meinte Mr. Montague lachend, »wozu leeres Stroh dreschen.«

»Sie wollen mich eben zum Bettler machen –« knurrte Jonas.

»Nein.«

»Aber natürlich«, schrie Jonas wütend. »Das ist doch das einzige daran, das Ihnen Vorteil bringt. So ist es und nicht anders.«

»Ich wünsche lediglich, daß Sie nur noch eine Kleinigkeit mehr riskieren, im Grunde ist gar nichts riskiert – und im übrigen hübsch den Mund halten«, sagte Mr. Montague. »Das haben Sie mir versprochen, und Sie müssen Wort halten. Jawohl, lieber Chuzzlewit, Sie müssen! Überlegen Sie sich die Sache. Wollen Sie nicht – nun, dann ist mein Geheimnis wertlos für mich, und ich kann es in diesem Falle ebensogut Gemeingut werden lassen, wie ich es bisher als Privateigentum betrachtete. Ersteres ist dann vorteilhafter für mich, da ich immerhin ein gewisses Verdienst in Anspruch nehmen kann, wenn ich etwas Derartiges ans Licht bringe. – Aber jetzt zu etwas anderem: Ich brauche Sie ferner als eine Art Köder in einer Sache, die ich Ihnen bereits angedeutet habe. Sie sind nicht der Mann dazu, sich aus dergleichen ein Gewissen zu machen, das weiß ich ganz genau, und der Mensch, um den es sich handelt, ist Ihnen nebenbei vollkommen gleichgültig – wie Ihnen die ganze Welt gleichgültig ist, denn Sie sind viel zu – ›gerissen‹, als daß es anders sein könnte – und wenn er etwas dabei verliert, ja sogar meinetwegen ruiniert wird, so werden Sie das mit frommer Standhaftigkeit zu ertragen wissen. Hahaha! – – – Sie haben nun versucht, sich heute meiner Machtsphäre zu entziehen, aber ich versichere Ihnen, gegen dergleichen habe ich vorgebaut. Das haben Sie übrigens heute gesehen. Sie wissen, daß ich kein Moralist bin, und ich kümmere mich den Teufel darum, was Sie getan oder gelassen haben, und wenn Sie eine kleine Unvorsichtigkeit begangen haben, so geht das mich nichts an. Ich wünsche lediglich dadurch zu profitieren, und einem Manne von Ihrer Einsicht gegenüber trage ich auch kein Bedenken, dies offen einzugestehen. Ich habe diese Schwäche übrigens nicht allein, glaube ich. Jeder sucht die Unklugheit seines Nächsten auszunutzen, und die Angesehensten und Leute von bestem Rufe pflegen das am liebsten zu tun. Warum bereiten Sie mir also solche Schwierigkeiten? Es muß ganz einfach zwischen uns zu einem freundschaftlichen Einverständnis oder aber zu einem Bruche kommen. Ein Drittes gibt es nicht. Im ersten Fall kommen Sie mit einem blauen Auge davon, im letzteren – – – nun, Sie wissen ja am besten, was daraus resultieren kann.«

Jonas wandte sich vom Fenster weg und ging auf Mr. Tigg zu. Er sah ihm dabei nicht ins Gesicht, denn das war nicht seine Art, aber er heftete seine Augen auf ihn – auf seine Brust oder auf die Schulter – und bemühte sich, offenbar mit größter Anstrengung, eine deutliche Antwort hervorzubringen, ungefähr in der Weise eines Menschen, der zwischen Trunkenheit und klarem Bewußtsein kämpft.

»Leugnen hat keinen Zweck«, krächzte er endlich heraus, »das ist klar. Gut, ich hatte vor, heute morgen zu fliehen, – das heißt, besser gesagt, mich ins Ausland zu begeben, um mich aus der Ferne besser mit Ihnen verständigen zu können.«

»Selbstverständlich, natürlich!« sagte Mr. Montague. »Und ich habe das vorausgesehen und bin Ihnen zuvorgekommen. Aber, Pardon, ich habe Sie unterbrochen.«

»Und ich will Sie auch nicht fragen«, fuhr Jonas mit gewaltsamer Anstrengung fort, »wie, zum Teufel, Sie gerade den Boten gewählt haben, der mir den Brief brachte, und wo sie ihn aufgefunden haben. Ich habe sowieso mit dem Burschen noch ein Hühnchen zu pflücken. Wenn Ihnen die ganze Welt so gleichgültig ist, wie Sie soeben gesagt haben, so wird es Ihnen auch ganz gleichgültig sein, was aus einem solchen Mistköter wird wie diesem Burschen. Sie werden daher wohl nichts dagegen haben, wenn ich mit ihm abrechne, wie es mir beliebt?«

Hätte Jonas Mr. Tigg ins Gesicht gesehen, so würde er bemerkt haben, daß dieser den Sinn seiner Worte gar nicht begriff. Da er aber, seinen haßerfüllten Blick seitwärts gerichtet, nicht aufsah und jetzt nur innehielt, um sich seine fieberhaft ausgetrockneten Lippen anzufeuchten, so entging ihm diese Tatsache. Mr. Montague seinerseits war rasch mit seiner Antwort zur Hand, obgleich er sie aufs Geratewohl gab. Diesbezüglich herrsche nicht die geringste Meinungsverschiedenheit zwischen ihnen, sagte er, nicht im geringsten.

»Die große Entdeckung, von der Sie reden«, fuhr Jonas mit krankhaftem Hohnlächeln fort, »kann wahr und kann falsch sein. So oder so, eins ist gewiß: daß ich nicht schlechter bin als andere Menschen.«

»Nicht im geringsten«, beteuerte Mr. Tigg, »nicht im geringsten. Wir alle sind einander gleich – oder doch wenigstens so ziemlich.«

»Ich möchte nur wissen«, sagte Jonas, »sind Sie selbst dahintergekommen? Sie brauchen sich nicht zu wundern, daß ich diese Frage stelle.«

»Selbst dahintergekommen?« wiederholte Mr. Montague unsicher.

»Ja«, versetzte Jonas mürrisch: »Ob sonst noch jemand davon weiß? Na, heraus damit, machen Sie keine Umstände.«

»Nein«, sagte Montague fest und ruhig. »Was glauben Sie denn, wäre das Geheimnis für mich wert, wenn ich es nicht allein besäße.«

Jetzt zum erstenmal sah ihm Jonas ins Gesicht. Nach einer Pause streckte er die Hand aus und sagte lachend:

»Na, also gut; machen Sie mir die Sache nicht zu schwer, und ich bin der Ihrige. Wer weiß, vielleicht bin ich im Grunde hier besser aufgehoben, als wenn ich diesen Morgen ins Ausland gegangen wäre. Aber jetzt bin ich nun einmal hier und bleibe auch, darauf können Sie sich verlassen.«

Er räusperte sich, denn seine Sprache wurde wieder heiser. Dann fuhr er mit hellerer Stimme fort:

»Also, wann wollen Sie, daß ich zu Pecksniff gehe? Sie brauchen nur zu bestimmen.«

»Sogleich«, rief Mr. Montague. »Man soll so etwas nie verschieben.«

»Donnerwetter«, rief Jonas mit wildem Lachen. »Eigentlich ist es ein Mordsjux, den alten Heuchler zu fangen. Ich hasse ihn. – Soll ich noch diesen Abend fahren?«

»Bravo«, rief Mr. Montague entzückt. »Das nenne ich mir Geschäftssinn. Ich sehe schon, wir verstehen uns. Unter allen Umständen heute abend, lieber Freund.«

»Begleiten Sie mich. Wir müssen in Prunk und Pracht auftreten und Dokumente mitnehmen, denn er ist ein verdammt schlauer Fuchs, und wenn man nicht sehr listig zu Werke geht, ist er nicht zu fangen. Ich kenne ihn. Da ich Ihr Logis und Ihre Dinners nicht mitnehmen kann, so muß ich eben Sie mitnehmen. Also abgemacht, nicht wahr?«

Mr. Tigg schien zu schwanken. Er hatte diesen Vorschlag weder erwartet, noch fand er sonderlichen Geschmack daran.

»Unsern Plan können wir ja auf dem Wege besprechen. Wir dürfen uns nicht direkt zu ihm begeben, sondern müssen von irgendeinem andern Ort vorbeigefahren kommen, als hätten wir einen Abstecher gemacht, um ihn zu besuchen. Aber jedenfalls müssen Sie mit dabei sein. Ich kenne meinen Mann, seien Sie versichert.«

»Aber was, wenn der Mann auch mich kennt?« wendete Mr. Montague voll Bedenken ein.

»Wenn er Sie kennt?« rief Jonas. »Riskieren Sie denn dasselbe nicht mindestens fünfzigmal am Tag auch ohne dies? Würde Ihr eigener Vater Sie erkennen? Habe ich Sie vielleicht erkannt? Zum Donnerwetter, Sie haben damals verflucht anders ausgesehen! Hahaha! Ich sehe heute noch die Fetzen und Lumpen vor mir. Was wäre übrigens auch dran, wenn er Sie erkennt? Eine solche Veränderung würde nur beweisen, daß Sie gute Geschäfte gemacht haben. Aber das wissen Sie ja selbst. Sie hätten sich doch auch sonst mir gegenüber nicht zu erkennen gegeben. Also wollen Sie mitkommen?«

»Mein lieber Freund«, sagte Mr. Montague noch immer unentschieden, »ich kann Ihnen jetzt auch allein trauen.«

»Donnerwetter noch mal, das will ich meinen; allerdings können Sie das. Ich werde gewiß keinen Versuch mehr machen, auszureißen, darauf können Sie sich verlassen. Nein, jetzt nicht mehr.« – Jonas hielt plötzlich inne und setzte nüchtern hinzu: »Aber ohne Sie kann ich unmöglich gehen. Also kommen Sie?«

»Nun gut, wenn Sie’s denn durchaus wollen«, antwortete Mr. Montague. – Sie schüttelten einander die Hände. – »Abgemacht.«

Die laute lärmende Art, die Jonas während des letzten Teils dieses Zwiegespräches an den Tag gelegt und die sich fast mit jedem Satze gesteigert hatte, verließ ihn jetzt nicht mehr. Sie hätte zu jeder andern Zeit höchst ungewöhnlich und als mit seinem Charakter unvereinbar erscheinen müssen, aber unter so kritischen Umständen war es besonders auffallend, daß er plötzlich so aufgeräumt zu sein schien. In einer Hinsicht hatte er eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Betrunkenen, aber andererseits sprach er vollkommen zusammenhängend und überlegt. Nicht minder merkwürdig war auch, daß dieser Zustand ihn gegen die Wirkung von Alkohol fest zu machen schien, und trotzdem er den ganzen Tag oft und stark trank, so sank oder hob sich seine Lebhaftigkeit dennoch nicht im geringsten.

Nachdem die beiden Ehrenmänner übereingekommen waren, die Nacht durch zu fahren, um in den Tagesgeschäften keine Stockung eintreten zu lassen, berieten sie sich über die Art und Weise, wie sie reisen wollten. Mr. Montague hielt es für geraten, vierspännig zu fahren, da das den Leuten mehr Sand in die Augen streue, und so wurde denn um neun Uhr ein vierspänniger Wagen bestellt. Jonas ging nicht erst nach Hause, denn er meinte, wenn er in Geschäftssachen die Stadt in so großer Hast verlasse, so werde das die beste Entschuldigung für die plötzliche Umkehr von heute morgen für ihn sein. Er schickte also nur einen Boten mit ein paar Zeilen zu seiner Frau, um seinen Mantelsack holen zu lassen, und als der Mann mit dem verlangten Gepäck zurückkam, brachte er auch ein paar Zeilen von Gratia mit, die darin um die Erlaubnis bat, Jonas vor seiner Abreise noch einen Augenblick sprechen zu dürfen. Da aber dieser keine andere Antwort darauf hatte als ein: »Sie solle sich zum Teufel scheren«, so hielt sie es für das geratenste, zu Hause zu bleiben.

Mr. Montague hatte den Tag über noch allerlei zu tun, und so ließ Mr. Chuzzlewit seine gute Laune an dem Doktor aus, mit dem er auf dessen Zimmer frühstückte. Auf dem Wege dahin begegnete er Mr. Nadgett und neckte diesen geheimnisvollen Gentleman mit der Frage, ob er sich vielleicht vor ihm fürchte. Mr. Nadgett erwiderte etwas scheu: »Das gerade nicht, sogar bestimmt nicht« – aber es scheine eine Art Angewohnheit von ihm zu sein, sich immer so zu benehmen, als täte er es, denn man habe ihm dergleichen schon öfters vorgeworfen.

Mr. Montague hörte das Gespräch mit an, und als Jonas fort war, winkte er Mr. Nadgett mit dem Federhalter zu sich und fragte ihn:

»Wer hat ihm denn heute früh meinen Brief gegeben?«

»Mein Mieter, Sir«, flüsterte Mr. Nadgett hinter der Hand hervor.

»Wie ging denn das eigentlich zu?«

»Ich bemerkte ihn zufällig auf dem Kai, Sir, und da die Sache große Eile hatte und Sie nicht kamen, so galt es, geschwind irgend etwas zu tun. Hätte ich ihm selbst den Brief überreicht, wäre ich in Hinkunft in meiner weiteren Tätigkeit behindert gewesen. Er hätte mich sofort durchschaut gehabt.«

»Mr. Nadgett, Sie sind ein Juwel!« jubelte Mr. Montague und klopfte dem Detektiv auf den Rücken. »Wie heißt denn Ihr Mieter?«

»Pinch, Sir – Mr. Thomas Pinch.«

Mr. Montague sann eine kleine Weile nach und fragte dann:

»Ist er aus der Provinz – wissen Sie das vielleicht?«

»Er ist aus Wiltshire, Sir, wie er mir sagte.«

Dann trennten sie sich. Wer mit ansah, was für ein Kompliment Mr. Nadgett seinem Prinzipal machte, als er das nächstemal mit ihm zusammenkam, und wie sich dieser wieder gegen ihn verbeugte, würde darauf geschworen haben, die beiden hätten in ihrem Leben noch nicht ein einziges vertrautes Wort miteinander gewechselt.

Inzwischen erquickten sich Mr. Jonas und der Doktor im oberen Stock an einer guten Flasche Madeira und einigen Sandwichs, denn der Doktor, der bereits zum Dinner um sechs Uhr abends eingeladen war, wollte zum Lunch nur eine kleine Erfrischung einnehmen.

»Dies ist aus zwei Gesichtspunkten sehr rätlich«, erklärte er. »Erstens ist es an und für sich gesund, und zweitens bekommt man dadurch Appetit zum Mittagessen. Man ist vor allem verpflichtet, besondere Sorgfalt auf die Verdauung zu verwenden, Mr. Chuzzlewit«, sagte er, trank ein Glas Wein aus und schmatzte mit den Lippen. »Verlassen Sie sich darauf, es lohnt die Mühe. Die Verdauung muß in bewunderungswürdigem Zustand sein – sozusagen ein vollkommenes Uhrwerk repräsentieren. ›Unsres Busens Herrschaft sitzt leicht auf seinem Throne‹, sagte ein gewisser Dichter in einer Komödie. Übrigens so nebenbei: es wäre besser gewesen, er hätte unserem Beruf in dieser Komödie ein wenig mehr Gerechtigkeit widerfahren lassen. Es kommt nämlich ein Apotheker in dem Stück vor, Sir – ein ganz erbärmlicher Bursche –, Sir, ein höchst gemeiner Kerl, und außerordentlich unnobel.«

Dabei zupfte Doktor Jobling an seinem feinen Busenstreifen, als wollte er sagen: »Das ist’s, was ich bei einem Manne von unserm Fach nobel nenne, Sir«; und sah Jonas, eine Antwort erwartend, an.

Dieser war jedoch durchaus nicht in der Stimmung, das Thema weiterzuspinnen, und nahm schweigend ein Lanzettetui, das neben ihm lag, zur Hand, und öffnete es.

»Hm«, sagte der Doktor erklärend und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, »ich lege es stets ab; es geniert mich in der Tasche, wenn ich esse. Hahaha!«

Jonas hatte eins der blitzenden kleinen Instrumente aus dem Futteral gezogen und prüfte es mit einem Blick so scharf wie die Schneide des Instruments selbst.

»Guter Stahl, Doktor, was? Guter Stahl.«

»O ja«, sagte der Doktor bescheiden, »vorzüglich zum Aderlassen, Mr. Chuzzlewit.«

»Hat wohl auch schon mehr als eine geöffnet, was?« fragte Jonas und betrachtete das Instrument mit steigendem Interesse. »Nicht wenige, mein werter Herr, nicht wenige. Es hat mir in meiner ziemlich ausgedehnten Praxis seine Dienste geleistet, wie ich wohl sagen darf«, sagte der Doktor, sich räuspernd, als sei die Sache so selbstverständlich, daß sie wohl keiner weiteren Erklärung bedürfe. »Ja, hem, in meiner sehr umfangreichen Praxis«, wiederholte er und setzte wieder sein Glas Wein an den Mund.

»Was meinen Sie, könnte man mit einem solchen Ding wohl einem Menschen die Kehle durchschneiden?« fragte Jonas.

»Nun, das versteht sich. Selbstverständlich, wenn Sie ihn an der rechten Stelle treffen. Darauf kommt alles an.«

»Da, wo Sie jetzt Ihre Hand haben, wie?« rief Jonas, sich vorneigend, um genauer hinzusehen.

»So ist es, Sir«, bestätigte der Doktor, »das ist die Vena jugularis.«

Jonas fuhr mit dem Stahl in seiner Lebhaftigkeit so dicht vor des anderen Schlagader durch die Luft, daß dieser einen Augenblick ganz bestürzt war; dann brach er plötzlich in ein lautes mißtönendes Gelächter aus.

»Oh! Oh!« rief der Doktor kopfschüttelnd, »da muß man sich wohl ein wenig in acht nehmen. Mit so scharfen Messern darf man nicht spielen. Übrigens, da fällt mir gerade ein merkwürdiges Beispiel ein, wie wirksam ein solches Instrument sein kann, wenn man es geschickt handhabt. Es handelte sich dabei um einen Mord. Ja, ich fürchte, es war ein Mord, den einer unseres Berufes begangen haben muß, da er so kunstgerecht ausgeführt wurde.«

»Wieso?« fragte Jonas, »das interessiert mich.«

»Ach, sehen Sie, Sir«, erklärte Mr. Jobling, »die Sache war eigentlich ganz einfach. Eines Morgens fand man einen Herrn in einer dunklen Straße aufrecht im Winkel eines Torweges angelehnt, und auf seiner Weste war nur ein einziger Tropfen Blut sichtbar. Und doch war er tot, mausetot und kalt, und offenbar ermordet worden.«

»Nur ein einziger Tropfen Blut«, wiederholte Jonas.

»Jawohl, Sir, er war genau durchs Herz gestochen worden, und zwar mit solcher Sicherheit, daß er sofort tot war und sich innerlich verblutete. Man vermutet, daß ein Arzt, ein Freund von ihm – auf den man später Verdacht hatte –, ihn unter irgendeinem Vorwand in ein angelegentliches Gespräch verwickelt, ihn wahrscheinlich, wie man so pflegt, beim Rockknopf genommen hatte, mit der andern Hand so in aller Muße und unauffällig das Terrain prüfte – sozusagen –, dann den richtigen Punkt herausfand, geschwind das Instrument, oder was es sonst war, herauszog und im rechten Augenblick –«

»Zustach«, ergänzte Jonas.

»Richtig. Man hätte es geradesogut eine Operation nennen können, die ganz prächtig ablief. Der ärztliche Freund hat sich nie wieder blicken lassen; aber trotzdem man überzeugt war, er sei der Mörder, konnte man ihm doch nichts beweisen. Ich hatte die Ehre, mit zwei oder drei Kollegen zu diesem Fall gerufen zu werden. Und da ich mit ihnen zusammen die Wunde sorgfältig untersuchte, nahm ich auch keinen Anstand zu versichern, daß es eine Art Operation war, die jedem Arzte Ehre gemacht hätte, und daß es, wenn der Täter kein Arzt gewesen, entweder als ein ganz außerordentliches Kunststück oder als das Resultat eines geradezu wunderbaren Zufalls angesehen werden müsse.«

Jonas Chuzzlewit interessierte sich so lebhaft für den Fall, daß der Doktor ihm schließlich die Sache noch näher erklärte und praktisch anschaulich machte, indem er Finger, Daumen und Weste zu Hilfe nahm, sich auf Jonas‘ Ersuchen in eine Zimmerecke stellte und in eigener Person bald den Mörder, bald den Ermordeten spielte. Als die Flasche ausgetrunken und die Geschichte zu Ende war, befand sich Jonas wieder in derselben seltsamen, krampfhaft fröhlichen Stimmung wie vorhin. Wenn der Grund dazu, wie Mr. Jobling nach seinen Theorien annehmen mußte, in einer guten Verdauung lag, so mußte Jonas wahrhaftig einen Straußenmagen haben.

Bei und nach dem Dinner hielt dieselbe Stimmung noch immer an, obgleich vorzüglich gespeist und Wein im Überfluß getrunken wurde. Auch um neun Uhr hatte sie noch nicht nachgelassen. Da der Wagen inwendig durch eine Laterne beleuchtet war, so bestand Jonas darauf, man müsse ein Spiel Karten und eine Flasche Wein mitnehmen, und wirklich nahm er auch beides unter seinen Mantel, als er und Montague hinab zur Haustür gingen.

»Aus dem Weg da, Knirps, scher dich ins Bett!«

Mit diesem Gruß beehrte er Mr. Bailey, der gestiefelt und gespornt am Wagenschlag stand, um ihm hineinzuhelfen.

»Ins Bett, Sir? Ich fahr doch mit«, sagte Mr. Bailey.

Rasch sprang Jonas wieder aus dem Wagen heraus, packte Mr. Bailey am Kragen und schleppte ihn in den Hausflur zurück, wo Mr. Montague sich soeben eine Zigarre anzündete.

»Sie werden doch diesen Affen da nicht mitnehmen wollen, was?«

»Allerdings«, antwortete Mr. Montague.

Jonas rüttelte den Jungen noch tüchtig durch und schleuderte ihn dann beiseite. Es lag mehr von seinem wirklichen Ich in dieser Handlung als in allem, was er heute gezeigt und getan. Gleich darauf brach er in ein lautes Lachen aus, führte mit der Hand einen Stoß nach der Brust des Doktors, um das Manöver des »ärztlichen Freundes« nachzuahmen, verfügte sich dann wieder zum Wagen und nahm seinen Sitz ein. Mr. Montague folgte ihm auf dem Fuß, und Mr. Bailey kletterte hinten auf seinen Bedientensitz.

»Es wird heute eine böse Nacht geben«, rief der Doktor, als sie fortfuhren.