46. Kapitel
Miss Pecksniff macht Eroberungen, Mr. Jonas schneidet Gesichter, Mrs. Gamp bereitet den Tee und Mr. Chuffey phantasiert
Tags darauf eilte Tom, nachdem er seine Arbeiten erledigt, unverzüglich nach Hause und brach nach dem Dinner und einer kurzen Mittagszeit mit Ruth sofort wieder auf, um bei Todgers‘ den beabsichtigten Besuch zu machen. Er nahm seine Schwester nicht nur deshalb mit, weil es ihm, wie stets, ein Vergnügen war, sie um sich zu haben, sondern auch deshalb, weil er von Herzen wünschte, sie möge die arme Gratia ein wenig trösten und aufheitern. Auch Ruth ihrerseits wünschte nichts sehnlicher, da sie die Geschichte der unglücklichen jungen Frau von ihrem Bruder gehört hatte.
»Sie war so erfreut, mich wiederzusehen«, sagte Tom, »daß ich überzeugt bin, es wird sie auch freuen, dich zu sehen. Deine Teilnahme wird ihr sicherlich noch viel angenehmer und wohltuender sein als die meinige.«
»Davon bin ich nun nicht so ganz überzeugt, Tom«, wendete Ruth ein. »Du bist überhaupt ungerecht gegen dich. Aber ich hoffe, sie wird mich auch so – immerhin ein wenig leiden mögen.«
»O sicherlich!« rief Tom vertrauensvoll.
»Ach, wieviel Freunde hätte man, wenn alle Welt so dächte wie du; meinst du nicht, lieber Tom?« fragte Ruth und zwickte ihren Bruder scherzhaft in die Wangen.
Tom lachte und meinte, in dieser Beziehung werde er ohne Zweifel in Gratia eine gute Schülerin haben; »denn ihr Frauen«, sagte er, »liebe Ruth, seid überhaupt so gut und zartfühlend und wißt so rücksichtsvoll und wohltuend mit einem umzugehen, ohne es direkt merken zu lassen, daß man sich immer darüber freuen muß. Ihr seid so –«
»Aber, lieber Himmel, Tom«, unterbrach ihn seine Schwester, »du scheinst ja auf dem besten Wege zu sein, dich zu verlieben!«
Tom wies diese Bemerkung zwar gutmütig, aber doch mit gewissem Ernste ab, und bald plauderten sie wieder über ein anderes Thema.
Ziemlich in der Nähe von Mrs. Todgers‘ Etablissement hielt Ruth ihren Bruder einen Augenblick vor dem Fenster eines großen Warenmagazins zurück und machte ihn auf einige wundervolle Sachen aufmerksam, die dem Publikum zur Versuchung ins Ladenfenster gestellt waren. Tom hatte gerade über den Preis dieser Artikel einige sehr irrige Vermutungen aufgestellt und lachte eben mit seiner Schwester herzlich über seine Unkenntnis, als er plötzlich ihren Arm drückte und sie auf zwei in der Nähe stehende Personen aufmerksam machte, die mit tiefstem Interesse einige Kommoden und Tische hinter dem Schaufenster betrachteten.
»Pst«, flüsterte Tom, »das sind Miss Pecksniff und der junge Gentleman, den sie nächstens heiraten wird.«
»Er sieht wahrhaftig eher aus, als ob er sich begraben lassen wollte, Tom«, sagte Ruth ebenso leise.
»Ich glaube, er ist von Natur aus ein bißchen melancholisch«, meinte Tom; »aber jedenfalls ist er ein sehr artiger und harmloser Mensch.«
»Sie besprechen wahrscheinlich, wie sie sich einrichten werden, was glaubst du, Tom?«
»Ja, es scheint so. Ich glaube, wir sollten sie auch nicht anreden.« – Trotz dieses Vorhabens konnte es das Geschwisterpaar jedoch nicht gut vermeiden, den beiden andern ins Auge zu fallen, zumal ein vorüberziehender Menschenstrom sie daran hinderte, nach der andern Seite abzubiegen.
Miss Pecksniff sah ganz danach aus, als habe sie den unglücklichen Mr. Moddle mit einem Lasso eingefangen und führe ihn jetzt zur Betrachtung des Möbellagers wie der Schlächter ein Lamm zur Schlachtbank. Der junge Mann wenigstens leistete nicht den geringsten Widerstand und war tief resigniert. Die Schwermut, die die gesenkte Haltung seines Kopfes und sein ganzes Wesen verrieten, war geradezu auffällig. Im Ladenfenster stand eine große vierpfostige Bettstelle und in seinem Auge – eine große zitternde Träne.
»Augustus, mein Lieber«, flötete Miss Pecksniff, »geh doch einmal hinein und frage nach dem Preis der acht Rosenholzsessel und des Spieltisches.«
»Ach, die werden sicher schon bestellt sein«, redete sich »Augustus« heraus. »Die sind bestimmt nicht mehr verkäuflich.«
»Schadet doch nichts! Man kann doch neue in derselben Art anfertigen lassen«, meinte Miss Pecksniff.
»Nein, nein, das wäre unmöglich«, wendete Mr. Moddle ein, »rein unmöglich.«
Er schien in diesem Augenblick durch die Aussicht auf sein nahe bevorstehendes Glück geradezu betäubt zu sein; aber rasch faßte er sich wieder und trat in den Laden. Als er wieder zurückkehrte, meldete er im Tone der Verzweiflung:
»Vierundzwanzig Pfund, zehn Schillinge.« In diesem Augenblick wendete sich Miss Pecksniff um und gewahrte dabei, daß Tom Pinch und seine Schwester sie beobachteten.
»Ah – oh!« rief sie, verwirrt umherblickend, als sänne sie auf das beste Mittel, in die Erde zu versinken. »Was sehe ich! Ah – oh – in meinem ganzen Leben – wer hätte nur gedacht – erlauben Sie, meine Herrschaften – Mr. Augustus Moddle – Miss Pinch.«
Sie absolvierte die Zeremonie der Vorstellung, was Miss Pinch betraf, sehr gnädig und leutselig, eigentlich sogar mehr als das – sie war sogar freundlich und herzlich; sei es, daß die Erinnerung an den Dienst, den ihr einst Tom geleistet, indem er Mr. Jonas eins über den Kopf gegeben, sie so wohlwollend stimmte, sei es, daß die längere Trennung von ihrem Vater sie bereits mit der Menschheit zu versöhnen begann oder wenigstens mit jenem Teil der Menschheit, der eben auch kein guter Freund von ihm war, oder war es das Entzücken, wieder eine neue weibliche Bekannte gefunden zu haben, der sie ihre Aussichten auf ihr künftiges Glück vorführen konnte – genug, sie war herzlich und wohlwollend. Ja sie küßte Miss Pinch sogar schließlich zweimal auf die Wange.
»Augustus – Mr. Pinch – – doch die Herren kennen sich bereits«, fuhr sie dann die Vorstellung fort. »Ach mein liebes Kind«, flüsterte sie Ruth heimlich zu, »in meinem ganzen Leben habe ich mich noch nicht so geschämt.«
Ruth versicherte, das habe doch gar nichts zu sagen.
»Allerdings geniere ich mich ja vor Ihrem Bruder weniger als vor irgend jemandem sonst«, lispelte Miss Pecksniff. »Aber dennoch liegt etwas gewisses Unzartes darin, unter solchen Umständen einen Gentleman zu treffen. Augustus, mein Lieber, hast du –« Sie flüsterte ihm etwas ins Ohr. Mit Duldermine wiederholte Mr. Moddle:
»Vierundzwanzig Pfund und zehn Schillinge.«
»Ach, du einfältiger Mensch, das meine ich doch nicht«, rief Miss Pecksniff, »ich sprach von den –«
Abermals flüsterte sie ihm etwas ins Ohr.
»Wenn es derselbe bunte Kattun ist wie der im Schaufenster – zweiunddreißig Pfund, zwölf Schillinge, sechs Pence«, antwortete Mr. Moddle mit einem Seufzer. »Sehr teuer.«
Weitere Erklärungen unterband Miss Pecksniff, indem sie ihrem Bräutigam ihre Hand auf die Lippen legte und eine leichte Verlegenheit heuchelte. Dann fragte sie Tom Pinch, wohin er denn gehe.
»Ich wollte sehen, ob ich Ihre Schwester nicht treffen könnte«, antwortete Tom. »Ich habe ihr etwas mitzuteilen. Wir wollen zu Mrs. Todgers, wo ich schon einmal das Vergnügen hatte, sie zu treffen.«
»Dann kann ich Ihnen einen Gang ersparen«, sagte Cherry; »wir kommen eben von dort, und ich weiß, daß sie nicht anwesend ist. Wenn Ihnen übrigens daran liegt, will ich Sie gerne nach Gratias Wohnung bringen. Augustus – pardon, Mr. Moddle wollte ich sagen – und ich sind soeben auf dem Wege dahin begriffen, um unsern Tee bei ihr zu nehmen. Wegen Jonas können Sie unbekümmert sein«, setzte sie aufmunternd hinzu, als sie Toms Zögern bemerkte, »er ist nicht zu Hause.«
»Wissen Sie das sicher?« fragte Tom.
»Natürlich weiß ich das. Ich würde es Ihnen sonst nicht sagen. Es gelüstet mich auch nicht danach, mich zu rächen«, erwiderte Miss Pecksniff stolz. »Aber ich bitte jetzt die Herren, vorauszugehen, ich werde mit Miss Pinch nachkommen. – Also, meine Liebste, was ich sagen wollte, in meinem ganzen Leben war ich noch nie so überrascht und betreten.«
Gehorsam hängte sich Mr. Moddle in Tom ein, während Miss Pecksniff Ruths Arm nahm.
»Es wäre natürlich vergeblich, liebes Kind«, begann Miss Pecksniff abermals, »wenn ich noch weiter verheimlichen wollte, daß ich im Begriffe stehe, mich mit dem Gentleman zu vermählen, der mit Ihrem Bruder vorausgeht. Es wäre unnütz und vergeblich, wenn ich es verheimlichen wollte. Was halten Sie übrigens von ihm? Bitte, lassen Sie mich Ihre aufrichtige Meinung darüber hören.«
Ruth sagte, daß sie Mr. Moddle, soweit sie nach dem ersten Eindruck urteilen können, für einen sehr sympathischen jungen Mann halte.
»Ich bin außerordentlich neugierig«, plauderte Miss Pecksniff mit geschwätziger Offenherzigkeit fort, »ob Sie bereits in dieser kurzen Zeit bemerkt haben oder doch zu bemerken glauben, daß Augustus ein wenig zur Melancholie neigt.«
»Ich kenne ihn dazu wirklich noch zu wenig«, entschuldigte sich Ruth.
»Aber sicherlich mußte es Ihnen doch so scheinen? Nicht?« drängte Miss Pecksniff. »Alle Welt behauptet es wenigstens. Auch Mrs. Todgers und sogar Augustus selbst erzählten mir, daß ihn die Gentlemen im Hause dessentwegen stets aufzögen. Wahrhaftig, wenn ich’s ihm nicht ausdrücklich verboten hätte, ich glaube, es wäre schon öfter als einmal zu einem Duell auf – auf – geladene Pistolen gekommen. Was meinen Sie, mag wohl die Ursache seines melancholischen Wesens sein?«
Ruth riet innerlich so allerlei: auf schlechte Verdauung, seinen Schneider, seine Mutter und dergleichen, ohne natürlich ein Wort darüber laut werden zu lassen.
»Hören Sie, mein Kind«, fuhr Miss Pecksniff fort. »Eigentlich sollte ich nicht darüber reden, aber da ich Ihren Bruder schon seit so vielen Jahren kenne, will ich auch Ihnen gegenüber kein Hehl daraus machen – also, ich hatte Augustus schon dreimal einen Korb gegeben – er ist so liebenswürdig und empfindsam, und man braucht ihn nur anzusehen, so stehen ihm schon die Tränen im Auge, und das steht ihm so entzückend, und bis heute hat er sich von den Folgen meiner Grausamkeit noch nicht ganz erholt. – – Oh, es war wirklich grausam«, setzte sie mit Selbstüberwindung hinzu und mit einer Schlichtheit, die sogar ihres Vaters würdig gewesen wäre – »das will ich mir nicht verhehlen, und ich kann jetzt nur mit Erröten auf mein damaliges Benehmen zurückblicken. Ich habe ihn, offen gestanden, stets geliebt und gefühlt, daß er mir mehr war als so manche junge Leute, die mir Anträge machten; und was hatte ich eigentlich für ein Recht, ihn dreimal zurückzuweisen, nicht wahr?«
»Es war ohne Zweifel eine schwere Prüfung für ihn«, sagte Ruth. – »Nein, mein Kind, mehr als das! Es war sogar Unrecht. Aber das ist eben die Gedankenlosigkeit und Launenhaftigkeit unsres Geschlechts. Lassen Sie sich mein Beispiel zur Warnung dienen und stellen Sie nie die Gefühle eines Mannes zu sehr auf die Probe, der Ihnen Anträge macht – etwa in der Weise, wie ich meinen Augustus geprüft habe –, sondern, wenn Sie jemals für einen Mann empfinden, was ich schon in der Zeit, als ich ihn fast zur Verzweiflung trieb, empfand, so verbergen Sie es nicht, wenn er sich Ihnen zu Füßen wirft, wie sich Augustus Moddle mir zu Füßen warf. Bedenken Sie«, ermahnte sie, »wie mir jetzt sein müßte, wenn ich ihn zum Selbstmord getrieben und alles dann in der Zeitung gestanden hätte!«
Ruth bestätigte, daß sich Miss Pecksniff dann ohne Zweifel schwere Gewissensbisse hätte machen müssen.
»Gewissensvorwürfe?« rief Charitas, sichtlich in Reuegefühlen schwelgend. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie es mich sogar jetzt noch quält, wo ich meine Härte doch dadurch wiedergutgemacht habe, daß ich seine Werbung annahm. Jetzt, wo ich nüchtern und vernünftig geworden bin und sozusagen am Rande des Ehestandes stehe und auf mein flatterhaftes Benehmen zurückblicke und ins Auge fasse, wie ich war, als ich noch so alt war wie Sie, mein Kind, so schaudre ich. Ja, ich schaudre. Und was ist die Folge meines damaligen Benehmens? Nicht eher, als bis Augustus mich zum Altare führt, weiß er mich seiner sicher. Ich habe sein Herz so gequält und zerrissen, daß er gar keine Zuversicht mehr hat. Ich sehe, es nagt an ihm und seiner Seele. Sie können sich denken, wie es mich quälen muß, den Mann, den ich liebe, in einem solchen Zustand sehen zu müssen.«
Ruth bemühte sich nach Kräften, Miss Pecksniffs unbegrenztes und so schmeichelhaftes Vertrauen einigermaßen anzuerkennen, und stellte die Vermutung auf, die Vermählung werde wahrscheinlich sehr bald vor sich gehen.
»Jawohl, allerdings, sehr bald«, rief Miss Pecksniff. »Sowie wir eingerichtet sind. Wir schaffen uns jetzt in aller Eile unsre Möbel an.« Und mit großer Redseligkeit zählte sie eine ganze Liste von Gegenständen her, die sie bereits gekauft hätten und noch zu kaufen gedächten, in was für Kleidern sie sich würde trauen lassen und wo die Zeremonie stattfinden werde; kurz, sie teilte Miss Pinch, wie sie betonte, weil sie ihr so sympathisch sei, alles und jedes ausführlich mit.
Während sich die Arrieregarde mit diesen Gesprächen beschäftigte, gingen Tom und Mr. Moddle Arm in Arm, aber in tiefstem Stillschweigen voraus, bis Tom endlich einen krampfhaften Anlauf nahm, die Verlegenheitsstimmung zu brechen.
»Es wundert mich«, fing er stockend an, »daß bei diesem Gedränge in den Straßen so selten ein Fußgänger überfahren wird.«
»Die Kutscher sind daran schuld«, versetzte Mr. Moddle in schwermütigem Ton.
»Wie meinen Sie das?« fragte Tom erstaunt.
»Ich glaube, daß es Menschen gibt«, sagte Mr. Moddle mit heiserem Lachen, »die einfach nicht überfahren werden – können. Ihr Leben ist gefeit. Schwere Kohlenwagen halten plötzlich an, wenn man vor der Deichsel steht, und selbst die Fiaker weigern sich, einen zu überfahren. Ach ja«, seufzte er, Toms Erstaunen bemerkend. »Es gibt leider solche Menschen. Ich habe zum Beispiel einen Freund, dem es so geht.«
»Meiner Seel«, dachte Tom, »der junge Herr befindet sich in einem Gemütszustand, der einem in der Tat ernstliche Besorgnis einflößen könnte.«
Er gab jetzt jeden Gedanken auf, ein längeres Gespräch mit diesem seltsamen Menschen anzuknüpfen, sprach nicht ein Wort mehr, hielt aber Augustus desto fester am Arm, damit er ihm nicht etwa entwische und vor den Augen seiner Verlobten vielleicht einen erfolgreichen Versuch machen könne, eine Privatentleibungsszene aufzuführen. Er hatte eine solche Angst vor seinen Verzweiflungsanfällen, daß er förmlich froh war, als er ihn glücklich bis zu Mr. Jonas Chuzzlewits Haus gebracht hatte.
»Bitte, Mr. Pinch, gehen Sie nur voraus«, sagte Miss Pecksniff. – Tom hatte nämlich unschlüssig an der Haustüre haltgemacht.
»Ich weiß wirklich nicht, ob ich willkommen sein werde«, wendete Tom zögernd ein. »Richtiger gesagt, ich fürchte das Gegenteil. Ob es nicht vielleicht besser wäre, ich ließe mich vorher anmelden?«
»Ach, das ist doch Unsinn«, rief Charitas, »ich weiß gewiß, daß Jonas nicht zu Hause ist – ich weiß es. Und Gratia hat nicht die mindeste Idee, daß Sie ihn je –«
»Um Gottes willen«, unterbrach sie Tom. »Sie darf es auch niemals erfahren. Ich kann Ihnen nur versichern, daß ich nichts weniger als stolz auf den damaligen Raufhandel bin.«
»Ach, Sie sind überhaupt immer viel zu bescheiden«, zürnte Miss Pecksniff. »Gehen Sie doch. – Oder gehen Sie voraus, Miss Pinch; bleiben wir nicht länger hier an der Türe stehen.«
Immer noch zögerte Tom, denn er fühlte sich sehr unbehaglich, aber Cherry drängte sich an ihm vorüber und führte seine Schwester die Treppe hinauf. Da fast gleichzeitig die Türe hinter ihnen ins Schloß fiel, so folgte er, immer noch nicht mit sich im reinen, ob er gut daran tue oder nicht.
»Gratia, mein Schatz«, rief Miss Pecksniff, rasch die Türe des Gesellschaftszimmers öffnend; »es ist Besuch für dich angekommen: Mr. Pinch und seine Schwester. – Ah, ich dachte mir gleich, daß Sie hier seien, Mrs. Todgers. – Nun, und wie geht es denn Ihnen, Mrs. Gamp? Und was machen Sie, Mr. Chuffey? – Wenn ich auch weiß, daß man von Ihnen keine Antwort kriegt«, setzte sie halblaut hinzu.
Nachdem sie jeden der Anwesenden mit einem sauern Lächeln beehrt, stellte sie Mr. Moddle vor.
»Ich glaube, du hast ihn früher einmal gesehen«, bemerkte sie scherzend. »Augustus, mein Liebling, bitte, bringen Sie mir einen Stuhl.«
Der »Liebling« tat, wie ihm geheißen, und war eben im Begriff, sich in eine Ecke zurückzuziehen, um wiederum in tiefste Trauer zu versinken, als Miss Charitas ihn mit hörbarem Flüstern ihr »kleines Lämmchen« nannte und ihm die Erlaubnis erteilte, näher zu kommen und sich an ihre Seite zu setzen.
Mr. Moddle war jedoch so trostlos, daß er nicht einmal einen Entzückensschauer zu empfinden schien, als Charitas ihre Lilienhand in die seinige legte und diesen Beweis ihrer Gunst schamhaft dadurch vor den Blicken der Profanen verbarg, daß sie die beiden verschlungenen Hände mit einem Zipfel ihres Schals bedeckte. Er sah sogar womöglich noch melancholischer aus als sonst und blickte, voller Unbehagen und kerzengrade in seinem Stuhle sitzend, die Gesellschaft mit tränenfeuchten Augen an, als wolle er rufen: »Hilfe! Zu Hilfe! Will mir denn keine barmherzige Christenseele zu Hilfe kommen!«
Dagegen war das Entzücken Mrs. Gamps so außerordentlich, daß sie ganz gut ein Dutzend junger Liebhaber damit zur Genüge hätte ausstatten können, und es steigerte sich noch, als sie Tom Pinchs und seiner Schwester ansichtig wurde. Mrs. Gamp gehörte nämlich zu jenen glücklichen Temperamenten, die ohne jeden andern Grund als den bloßen Wunsch, sich einen zahlreichen und einträglichen Bekanntschaftskreis zu verschaffen, in Begeisterung geraten können. Täglich bespannte sie ihren Bogen mit so vielen neuen Saiten, daß allmählich eine vollständige Harfe daraus geworden war, und auf diesem Instrument begann sie jetzt ein ganz allerliebstes Konzert zu improvisieren.
»O mei«, rief sie. »Gnä Frau! Wie hätt i mir denkt, daß i in diesem gesegneten Haus Ihner Fräuln Schwester werd begrüßen können – leider gibt’s net vüll so gsegnete Häuser, und dös is schlimm; denn wenn’s net so war, so war dies Jammertal a Paradies. Und gar zu denken, daß i unter diesem gesegneten Dach Mr. Pinch zu sehn krieg! Und noch obendrein mit dem süßesten Geschöpf, wo mir je vorgekommen is. Sie natürlich ausgnommen, gnä Frau, und die Erwählte Ihres Herzens auch, Mr. Moddle, wenn ich so frei sein darf, das offen auszusprechen. Nix für ungut, meine Herrschaften, aber der Gedanke, daß i dies süße Gschöpf wiedersegn soll, das i kürzlich am Wasser troffen hab – nein, es is wirklich erstaunlich!«
Nachdem Sie auf diese Art glücklich jedes Mitglied der Gesellschaft in ihre Anrede mit einbegriffen hatte, knickste sie einige Male vor Ruth, schüttelte mindestens ein dutzendmal lächelnd den Kopf und nahm den Faden ihres Gesprächs wieder auf.
»Na, dös is der reinste Blumenkranz heut nachmittag. Ich hab a Freindin – i sag’s wie’s is, gnä Frau, und ihr Name is Harris – ihr Schwager war fünf Fuß drei Zoll hoch und hat aufm linken Arm an wilden Ochsen mit Krämpstiefeln eintätowiert ghabt. Weil seine unvergeßliche Mutter von an Ochsen in an Schuhmacherladen gjagt worden is, wie s‘ noch in der Sitawation gwesen is, wo sich a Ehemann Glück wünschen kann, wenn sei Weib drin is, wie i immer zu meinem seligen Mann gsagt hab, wenn’s an Wortwechsel zwischen uns gebn hat – von wegen die Haushaltungskosten –, und mehr als einmal hab i zu der Harris gsagt, liebe Harris, hab i gsagt, na, a Gsicht haben S‘ rein wie a Engel; und wenn s‘ net so viel Pickel und Blatternarben im Gfries ghabt hätt, wär’s wahrhaftig wahr gwesen. – ›Na, liebe Sarah‹, hat s‘ nachher gsagt, ›wenn’s a hart arbeitends und fleißigs Gschöpf gibt, wo schlecht auf der Welt bezahlt wird, so sind Sie’s. Der Harris hat mein Gsicht vor der Hochzeit für vier und a viertel Krone malen lassn‹, hat’s gsagt, ›und hat’s so lang am Herzen tragn, bis d‘ Farb abgangn is, und nachher habns ihm ’s Geld net mehr zrückgeben, und zu an Ausgleich is ’s a net kommen. Aber nie hat er gsagt, daß dös des Gsicht von an Engel is, wenn er sich’s auch leicht dacht haben mag.‹ – Wenn jetzt der Mann von der Harris da war«, fuhr Mrs. Gamp mit einem Blick in der Runde fort und knickste lächelnd, »so möcht er sicher grad raus sagen, dös is a Gsicht von an Engel, und sei liabe Frau war die letzte, wo’s ihm übel nehmen tat; denn wenn’s je a Weib auf Erden geben hat, wo ka Idee hat, was es heißt, zu wünschen, ane, die schöner is, mit an Löffel Wasser zu vergiften, und die nie kann Grund net dazu ghabt hat, weil ihr Mann immer der beste Mensch von der Welt gwesen is, so können S‘ Ihna drauf verlassen, die heißt Harris.«
Mit diesen Worten begab sich Mrs. Gamp, die offenbar im Hause Chuzzlewit vorgesprochen hatte, um sich zu einem Tee einzuladen, und nicht etwa, um als Krankenwärterin zu fungieren, zu Mr. Chuffey, der wie immer in seiner Ecke saß, und rüttelte ihn am Arm.
»Raffen S‘ Eana auf und schaugns amal, wer alles da is«, rief sie. »Segn S‘ denn die Gsellschaft net?«
»Es tut mir leid«, stotterte der Greis und blickte demütig auf, »ich weiß, ich bin überall im Wege, ich bitte um Verzeihung, aber ich weiß nicht, wohin ich mich zurückziehen soll. Wo ist sie?«
Sofort stand Gratia auf und ging zu ihm hin.
»Ah« flüsterte der alte Mann und tätschelte ihr die Wangen, »da ist sie; da ist sie. Sie ist niemals hart gegen den armen alten Chuffey – den armen alten Chuffey.«
Gratia ließ sich auf einen niedrigen Schemel neben den alten Mann nieder, so daß er ihre Hand fassen konnte, und sah dann plötzlich zu Tom auf. Es war ein wehmütiger Blick, den sie ihm zuwarf, wenn auch ein mattes Lächeln über ihr Gesicht huschte. Es war ein sprechender Blick, und Tom verstand, was sie damit sagen wollte:
»Da siehst du, wie mich das Elend verändert hat. Ich bin jetzt imstande, die Leiden eines armen Menschen mitzufühlen, und lege Wert auf seine Liebe.«
»Ja, ja«, rief Chuffey, als wolle er sie beschwichtigen, »ja, ja, lassen Sie es nur gut sein. Es ist hart zu ertragen, aber kehren Sie sich nicht an ihn. Er wird eines Tages sterben. Es gibt dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr – und dreihundertsechsundsechzig, wenn ein Schaltjahr ist – und er kann an einem davon plötzlich sterben.«
»Is dös aber a zwidrer Mensch«, murmelte Mrs. Gamp, Chuffey aus einiger Entfernung mit ungnädigen Blicken betrachtend, während er fortfuhr, vor sich hin zu flüstern. »Auch den Gduldigsten möcht da die gute Laune verlassen.«
»Sein Sohn«, murmelte der alte Mann und erhob seine Hände, »sein Sohn!«
»Na ja, natürlich«, fuhr Mrs. Gamp ärgerlich auf. »Werdn S‘ net bald aufhörn? Was wissen denn Sie von Söhnen und Töchtern? Nächstens werdn S‘ gar noch dummes Zeug über Zwillinge daher reden; da möcht i aber schon bitten.«
Der entrüstete Sarkasmus, den Mrs. Gamp in diese Hohnesworte mischte, ging an dem ahnungslosen alten Buchhalter spurlos vorüber. Es war klar, daß er sie ebensowenig hörte, wie er sich bewußt war, bei ihr Anstoß erregt zu haben. Die hochherzige Hebamme war jedoch nicht so leicht zu beruhigen – empfand sie doch jeden Eingriff in ihre Geschäftssphäre auf das tiefste und bildete sich ein, Mr. Chuffey habe sich Prophezeiungen über künftige Sprößlinge Mrs. Gratias erlaubt, die lediglich von ihr, als der einzigen gesetzlichen Autorität, ausgehen durften, oder wenigstens unter keinen Umständen ohne ihre Sanktion und Zustimmung proklamiert werden sollten. Sie fuhr daher fort, Mr. Chuffey feindselige Blicke zuzuwerfen und ihn mit im gedämpften Tone vorgetragenen ironischen Bemerkungen zu verhöhnen, die ihre nur mühsam unterdrückte Entrüstung bekundeten. Erst, als der Tee serviert wurde, kam sie wieder zu sich und schickte sich an, auf Mrs. Chuzzlewits Bitte an einem Seitentisch für die so unerwartet gekommenen Gäste Tee zu bereiten. Dann lächelte sie wieder und verrichtete ihren Dienst mit ganz besonderer Leutseligkeit.
»Dös is a Familie«,rief sie, »für die man mit Leib und Seele an Tee kochen kann. Heda«, wendete sie sich zu dem Dienstmädchen, »vielleicht hat eins oder das andre Lust, a frischs Ei oder zwei zu versuchen, wenn’s net zu hart gekocht sin; und a paar Platten Brotschnitten mit Butter, ober ohne Krusten, falls eins schwache Zähn hat, möchten a nix schaden.
Ja, ja, gnä Frau, mei Mann hat, wie er noch glebt hat, sich bei so was amal vier Zahn ausbissn – zwoa Backenzahn und zwoa vordere –, und die Harris hat’s zum Andenken mitgnommen und trägt’s noch heutigen Tags in der Taschn und dazu a Stück Ingwer und a kleins Reibeisel, so groß wie a Kinderschuch, und an kleinen Löffel zum Einnehmen von Muskatnuß, dös is das beste, hab i immer gsagt, für a Kraftsuppen.«
Der Privilegien an dem Seitentischchen waren ziemlich viele. Mrs. Gamp hatte nicht nur das Vorrecht, den Butterschnitten am nächsten zu sitzen, zwei Tassen Tee zu trinken, während ein andrer bloß eine trank, sondern sie war auch imstande, die ganze Gesellschaft zu überblicken und wie von einer Rednerbühne herab zu apostrophieren; und dieses ihr anvertrautes Amt verwaltete sie denn auch mit berückender Liebenswürdigkeit und in bester Laune. Die Untertasse auf der ausgestreckten Hand haltend und mit dem Ellenbogen auf den Tisch gestützt, pausierte sie zuweilen mit Teetrinken und beglückte die Gesellschaft mit einem Lächeln, einem Augenzwinkern, einem Kopfschütteln oder andern Zeichen ihrer Gunst, und in solchen Momenten leuchtete ihr Gesicht vor geistiger Regsamkeit, rein als ob sie nicht Tee, sondern Branntwein tränke.
Ohne sie wäre die Gesellschaft mehr als einsilbig gewesen. Miss Pecksniff sprach nur mit ihrem »Augustus« und auch das nur im Flüsterton. Augustus seinerseits sagte überhaupt nichts, sondern seufzte für alle Anwesenden und gab sich gelegentlich einen so schallenden Klaps vor die Stirn, daß Mrs. Todgers jedesmal ängstlich und nervös mit einem leisen Schrei unwillkürlich in die Höhe fuhr. Sie strickte nämlich und sprach ebenfalls sehr selten. Die arme Gratia hielt die Hand der fröhlichen kleinen Ruth in der ihrigen und horchte mit sichtlichem Vergnügen auf alles, was Ruth sagte, obgleich sie selbst nur selten sprach und nur bisweilen lächelte, Miss Pinch auf die Wange küßte oder sich von Zeit zu Zeit abwandte, um die Tränen zu verbergen, die ihr in den Augen standen. Tom empfand die Veränderung, die mit ihr vorgegangen war, so tief und freute sich so sehr, zu sehen, wie zärtlich seine Schwester die arme Frau zu behandeln wußte, daß er nicht den Mut hatte, an einen Aufbruch zu denken, obgleich er längst mit seinem Berichte fertig war, dessentwillen er das Haus Chuzzlewit besucht hatte.
Währenddessen saß der greise Buchhalter in seinem gewöhnlichen Zustand still und stumm da, ganz in Träume versunken, die kaum die Oberfläche seiner trägen Gedanken zu bewegen schienen. Wahrscheinlich brachte er ihren Gang mit dem stummen Schmause, der um ihn her stattfand, in Verbindung, oder irgendein auftauchender Rückblick an ähnliche Verschwendungsszenen der Vergangenheit, deren Zeuge er gewesen, brachte seinen Geist auf eine seltsame Frage, denn er blickte plötzlich umher und rief:
»Wer liegt droben tot?«
»Niemand«, sagte Gratia, »was gibt es denn? Wir sind doch alle hier.«
»Alle hier«, echote der alte Mann, »alle hier! Aber wo ist denn er – mein alter Herr, der nur einen einzigen Sohn hat? Wo ist er?«
»Still, still«, beruhigte ihn Gratia freundlich; »das ist doch längst alles vorüber. Erinnern Sie sich denn nicht?«
»Erinnern«, wiederholte der alte Mann mit einem Weheruf. »Als ob ich’s vergessen könnte! Als ob ich’s je vergessen könnte!«
Einen Augenblick schlug er die Hände vors Gesicht und wiederholte dann wieder, wie vorhin, geistesabwesend umherstarrend:
»Wer liegt oben tot?«
»Niemand«, sagte Gratia abermals.
Ein Zornesblick durchzuckte die Mienen Mr. Chuffeys, grimmig sah er sie an, wie einen Feind, der ihn hintergehen wollte, dann, als er sie erkannte, schüttelte er traurig und mitleidig den Kopf. »Sie glaubt es nicht – aber man sagt es ihr auch nicht«, murmelte er. »Nein, nein. Armes Ding. Man sagt es ihr nicht. Wer sind diese Leute hier und warum sind sie so fröhlich? Wenn nicht ein Toter hier wäre – ein schändliches Spiel – man sehe nach, wo er ist.«
Gratia winkte den übrigen heimlich, man möge nicht mit ihm reden (wozu übrigens niemand Lust hatte), und blieb auch selbst stumm. Chuffey schwieg gleichfalls eine Weile und wiederholte dann seine Frage mit einer Hast, die etwas Grauenhaftes an sich hatte:
»Wer liegt oben tot? Es ist jemand tot oder liegt im Sterben. Ich will wissen, wer es ist. Man sehe nach. Wo ist Jonas?«
»Verreist«, antwortete Gratia leise.
Der alte Mann blickte sie voller Zweifel an, als glaube er ihr nicht oder habe sie nicht verstanden. Dann erhob er sich mühsam von seinem Stuhl, schlich durchs Zimmer und klomm die Treppe empor, immerwährend vor sich hinflüsternd: »Schändliches Spiel.« Man hörte ihn oben nach der Ecke des Zimmers gehen, wo einst das Bett gestanden hatte, in dem der alte Anthony gestorben war. Gleich darauf verrieten seine Fußtritte, daß er wieder herunterkam. Seine Phantasie war offenbar nicht so stark oder nicht so erregt, als daß sie ihn in der leeren Schlafkammer hätte etwas sehen lassen, was nicht dort war, denn er kam viel ruhiger zurück und schien beschwichtigt.
»Ihr sagen sie nichts«, murmelte er mit einem Blick auf Gratia, nahm wieder Platz und strich ihr mit der Hand leise über das Haar. »Man sagt auch mir nichts, aber ich will wachen – ich will wachen. Sie sollen ihr nichts tun. Fürchte dich nicht. Hast du die Nächte aufgesessen und gewacht? Ich auch. – – Ja, ja, das habe ich so manche Nacht getan«, stöhnte er hervor und versuchte mühselig seine schwache abgezehrte Hand zu ballen.
Er sagte dies alles mit so zitternder Stimme, atemlos nach Luft schnappend, und Gratia so dicht ins Ohr, daß die Gesellschaft nichts oder nur wenig davon verstand. Doch hatte man schon genug gesehen und gehört, um immerhin unruhig zu werden. Die Gäste verließen ihre Sitze und sammelten sich um ihn, während Mrs. Gamp, deren abgehärtete Nerven nicht so leicht imitiert werden konnten, die Gelegenheit ersah, ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Butterschnitten, den Tee und die Eier zu konzentrieren. Sie hatte schon bisher diesen Speisen gegenüber soviel Energie entfaltet, daß ihre Wangen bereits lebhaft glühten. Als sie dann glücklich das letzte Schlückchen Tee hinuntergestürzt hatte, hielt sie es für angemessen, auch ein Wort mit dreinzureden.
»Sie Sapperlot Sie«, rief sie, »was sind das wieder für Manieren! Sie brauchatn an Krug kalts Wasser übern Kopf, damit Sie zur Besinnung kommen. Wenn die Prig Sie unter die Hand hätt, wär dös schon längst gschegn, dös kann i Ihna versichern. Spanische Fliegen sin des Beste, um Ihna den Unsinn ausm Kopf ztreiben, und wann Ihna jemand wohl will, soll er Ihna a Blasenpflaster aufn Schädel oder an Senfteig aufn Buckel schmieren. Wer is tot, was? Ich glaub, es war ka bsonderer Schadn, wann mer dös von aner gewissen Person sagen möcht.«
»Er ist jetzt ruhig, Mrs. Gamp«, sagte Gratia leise; »stören Sie ihn nicht.«
»Er is a alter Dickschädel, gnä Frau«, rief Mrs. Gamp in ihrem Eifer. »I, für mein Teil, hab ka Geduld mit so was. Sie lassen ihm vüll z‘ vüll seinen Willen. Er is a Dickschädel, sag i.«
Ohne Zweifel in der Absicht, unverzüglich irgendeinen heilsamen Prozeß an dem »Dickschädel« vorzunehmen, ergriff sie Mr. Chuffey am Rockkragen und schüttelte ihn ein paar dutzendmal tüchtig in seinem Stuhl vor- und rückwärts – denn die Anhängerinnen des Prigschen Systems, deren es unter den Damen vom Fach sehr viele geben soll, halten bekanntlich ein derartiges Verfahren für ungemein beruhigend und wohltätig für das Nervensystem. In dem gegebenen Falle äußerte sich die Wirkung dahin, daß der Patient viel zu betäubt und schwindlig wurde, um noch weiterreden zu können, was Mrs. Gamp offenbar als außerordentlichen Erfolg ansah.
»So!« sagte sie und lockerte die Halsbinde des alten Mannes, da er im Gesicht schon blau zu werden anfing. »Jetzt wird er schon wieder ruhiger werden. Wann er in Ohnmacht fallt, bring i ’n scho wieder zum Bewußtsein, dös versprech i Ihna. Man braucht ’n bloß in ’n Daumen beißen oder a bisserl die Finger zu verrenken, glei kommt er wieder zu sich«, erklärte sie im frohen Bewußtsein, medizinische Kenntnisse unter ihren Zuhörern zu verbreiten. Da Mr. Chuffey schon von früher her der Obhut dieser vortrefflichen Krankenpflegerin anvertraut worden, so wagten weder Mrs. Chuzzlewit noch sonst jemand gegen diese kuriose Behandlungsweise Widerspruch zu erheben, obgleich niemand, vor allem aber nicht Tom Pinch und seine Schwester, mit einer solchen Art von Krankenbehandlung einverstanden zu sein schien.
Aber der Laie ist nun einmal schon so: immer führt er Herzensgüte und dergleichen ins Treffen, statt diejenigen walten zu lassen, die in solchen Fällen Erfahrung haben müssen.
»Da sehen Sie, Mr. Pinch«, nahm Miss Pecksniff wieder einmal das Wort, »das sind jetzt die Folgen dieser unglückseligen Heirat. Wäre meine Schwester nicht so übereilt gewesen und hätte sie diesem Elenden nicht ihr Wort gegeben, so gäbe es jetzt keinen Mr. Chuffey im Hause.«
»Still«, flüsterte Tom, »sie könnte es hören.«
»Das täte mir sehr leid, Mr. Pinch«, erwiderte Cherry nur um so lauter, »denn es ist nicht meine Art, jemanden noch mehr betrübt zu machen, als er sowieso schon ist. Ich weiß wahrhaftig, wie ich als Schwester zu handeln habe, Mr. Pinch, und glaube es auch schon bewiesen zu haben. Ach, Augustus, lieber Freund, bitte holen Sie mir doch mein Taschentuch.«
Augustus gehorchte und nahm dann Mrs. Todgers beiseite, um ihr seinen Gram auszuschütten.
»Wahrhaftig, Mr. Pinch«, fuhr Charitas mit einem Blick auf ihren Bräutigam fort und schielte dabei nach ihrer Schwester hin, »wahrhaftig, ich habe allen Grund, dem Himmel dankbar zu sein für mein gegenwärtiges Glück und den häuslichen Segen, der mich noch erwartet. Wenn ich einen Vergleich anstelle zwischen Augustus« – sie tat plötzlich sehr bescheiden und verlegen – »der, vor Ihnen darf ich’s ja sagen, die Sanftmut, Milde und Ergebenheit selbst ist, mit dem abscheulichen Menschen, den meine Schwester geheiratet hat; und wenn ich mir vor Augen halte, Mr. Pinch, wie leicht es gerade umgekehrt hätte kommen können, so habe ich wahrhaftig allen Grund, dankbar, zufrieden und demütig zu sein.«
Zufrieden war sie vielleicht, aber demütig gewiß nicht. Ihr ganzes Wesen bekundete so wenig Demut, daß sogar Tom in seiner Arglosigkeit anfing, ihre ganze Tücke zu durchschauen und zu verachten. Er wendete sich ab und bedeutete Ruth, es sei jetzt höchste Zeit zum Aufbrechen.
»Ich werde Ihrem Gatten schreiben«, wendete er sich an Gratia, »und ihm schriftlich auseinandersetzen – was ich mündlich getan haben würde, wenn ich ihn hier getroffen hätte –, daß die Schuld nicht an mir lag, wenn er durch meine Vermittlung in Ungelegenheiten kam. Ein Postbote kann nicht unschuldiger an der Botschaft sein, die er überbringt, als ich an jenem Brief, den ich ihm damals einhändigte.«
»Ich danke Ihnen«, sagte Gratia. »Schreiben Sie ihm nur. Vielleicht ist es am besten so. – Und der Himmel behüte Sie.«
Sie nahm eben zärtlich Abschied von Ruth, die mit ihrem Bruder das Zimmer verlassen wollte, als man die Haustüre aufsperren und gleich darauf einen raschen Schritt auf dem Gang hörte. Tom blieb verdutzt stehen und blickte Gratia fragend an.
»Es ist Jonas«, sagte sie schüchtern.
»Vielleicht ist es besser, wenn ich ihm nicht auf der Treppe begegne«, sagte Tom, zog den Arm seiner Schwester durch den seinigen und trat einige Schritte zurück. »Ich will hier einige Augenblicke auf ihn warten.«
Kaum hatte er dies ausgesprochen, als Jonas auch schon eintrat. Seine Gattin eilte ihm entgegen, aber er stieß sie von sich und brummte mürrisch:
»Ich habe nicht gewußt, daß du Gesellschaft hast.«
Sofort erhob sich Miss Pecksniff, die er bei diesen Worten entweder zufällig oder absichtlich anblickte, innerlich frohlockend, eine so günstige Gelegenheit zu haben, Unfrieden stiften zu können.
»Ach Gott«, höhnte sie, »wir wollen Sie in Ihrem häuslichen Glück durchaus nicht stören. Das wäre unverantwortlich von uns. Wir haben hier in Ihrer Abwesenheit einen Tee genommen, aber wenn Sie die Güte haben wollten, uns eine quittierte Rechnung über die Kosten zugehen zu lassen, so werden wir uns glücklich schätzen, die Unkosten zu bezahlen. Augustus, lieber Freund, gehen wir vielleicht, wenn es Ihnen gefällig ist. Und auch Sie, Mrs. Todgers, könnten mit uns gehen, außer Sie wünschten, hier zu bleiben. Es wäre höchst unangebracht von uns, das Glück zu stören, das dieser Herr stets um sich verbreitet, besonders in seinem eigenen Heim.«
»Cherry! Cherry!« flehte Gratia in herzzerreißenden Tönen.
»Liebe Gratia, ich bin dir für deinen guten Rat höchst verbunden«, entgegnete Miss Pecksniff spöttisch und hochmütig – »aber ich bin nicht seine Sklavin –«
»Nun ja, weil die Trauben zu sauer waren«, unterbrach sie Jonas; »wir kennen das.«
»Was haben Sie da gesagt, Sir?« rief Miss Pecksniff scharf.
»Haben Sie’s vielleicht nicht gehört«, höhnte Jonas und warf sich in einen Sessel. »Zweimal sagen werde ich’s Ihnen wahrhaftig nicht. Wenn Sie übrigens bleiben wollen, so können Sie’s tun, und wollen Sie gehen, so ist’s auch recht. Aber im ersteren Falle muß ich mir Höflichkeit ausbitten.«
»Elender Kerl«, gellte Miss Pecksniff an ihm vorüberfegend. »Augustus, er ist nicht würdig, daß wir ihm antworten! Kümmern Sie sich nicht um ihn« – Augustus hatte nämlich einen schwachen Versuch geheuchelt, die Fäuste zu ballen. »Kommen Sie, lieber Freund«, kreischte sie im schrillsten Diskant, »ich befehle es Ihnen.«
Augustus hatte sich nämlich zu dem Entschluß aufgerafft, umzukehren und Mr. Chuzzlewit am Kragen zu packen. Aber Miss Pecksniff gab ihm einen Stoß vor die Brust, Mrs. Todgers folgte ihrem Beispiel, und so polterten sie denn alle drei zum Zimmer hinaus, wobei die schöne Braut unentwegt gellende Verwünschungen ausstieß.
Bis jetzt hatte Jonas weder Tom noch seine Schwester erblickt, denn sie standen fast hinter der Türe, als er diese geöffnet hatte, und er war, als er sich niedersetzte, mit dem Rücken gegen sie gekehrt gewesen und hatte während seines Wortwechsels mit seiner Schwägerin seine Blicke absichtlich nach der andern Seite der Straße gerichtet, um durch diese affektierte Gleichgültigkeit den Grimm der jungen Dame noch zu steigern. Gratia stammelte jetzt, Mr. Pinch habe auf ihn gewartet, und Tom trat daraufhin sofort vor.
Mit einem wilden Fluch sprang Jonas von seinem Sessel auf und packte die Lehne, als wolle er seinen Gast damit zu Boden schlagen. Wut und Überraschung lähmten ihn jedoch einen Augenblick, und Tom, der ruhig stehen blieb, hatte dadurch Gelegenheit, zu sprechen.
Jonas war zu wütend, um auch nur ein Wort hervorbringen zu können. Er stampfte mit dem Fuß auf den Boden, deutete zur Türe und murmelte etwas, das so klang wie: »Hinaus!«
»Sie haben durchaus keinen Grund, sich so aufzuregen, Sir«, begann Tom gelassen. »Sie werden es vielleicht nicht glauben wollen, aber dennoch bin ich in der Absicht hier, lediglich einen Vorfall aufzuklären und ein Mißverständnis aus der Welt zu schaffen. Im übrigen ist es mir ganz gleichgültig, wie Sie mich aufnehmen. Wenn Sie nicht ganz von Sinnen sind, so hören Sie mir jetzt zu. – – Also, ich übergab Ihnen neulich einen Brief, während Sie eben im Begriffe standen, England zu verlassen.«
»Jawohl, Sie Hund, das haben Sie getan«, knirschte Jonas, »und ich werde Ihnen schon eines Tages den Botenlohn bezahlen und dabei noch obendrein eine alte kleine Rechnung ausgleichen.«
»Beruhigen Sie sich«, versetzte Tom, »es ist überflüssig, daß Sie solche unnützen Drohungen ausstoßen. Ich wünsche nur, daß Sie mich anhören. Bloß, weil ich mir Sie und alles, was Sie betrifft, drei Schritte vom Leibe halten will, und nicht etwa aus Furcht vor Ihnen. Ich fürchte mich durchaus nicht vor Ihnen. – Ich wollte Ihnen nur sagen, daß ich mit dem Inhalt Ihres Briefes nicht das geringste zu schaffen habe, nichts davon weiß und nicht einmal wußte, daß das Schreiben an Sie adressiert war. Ich habe es von – –«
»Zum Teufel«, fuhr Jonas auf, erhob den Stuhl und schwang ihn drohend über seinem Kopf, »noch ein Wort, und ich schlage Ihnen den Schädel ein.«
Als sich jedoch Tom nicht einschüchtern ließ und sich anschickte, ruhig in seiner Rede fortzufahren, fiel ihn Jonas wie ein Rasender an und hätte ihn sicherlich verletzt, da Tom gänzlich wehrlos und durch seine ängstliche Schwester am Arm nur noch mehr gehindert war, sich zu verteidigen, wenn sich nicht Gratia zwischen die beiden geworfen und Tom um Gottes willen angefleht hätte, das Haus zu verlassen. Die Seelenangst der armen Frau, das Entsetzen Ruths, die Unmöglichkeit, sich verständlich zu machen, und der vergebliche Kampf gegen Mrs. Gamp, die sich, weich wie ein Federbett, auf ihn geworfen hatte und ihn durch das bloße Gewicht ihres Leibes zur Türe drängte, trugen endlich den Sieg davon. Tom schüttelte den Staub dieses Hauses von seinen Schuhen und verließ es, ohne daß Nadgetts Name über seine Lippen gekommen war.
Hätte Jonas diesen Namen gehört und so erfahren, wer ihm insgeheim nachspürte, wäre er wahrscheinlich vor der Missetat bewahrt geblieben, die er seit einiger Zeit im Schilde führte. So grub er sich selbst seine Grube, und die seelische Finsternis, die ihn umgab, war sein eigenes Werk.
Gratia hatte inzwischen die Türe geschlossen und sich vor ihm auf die Knie geworfen. Mit gefalteten Händen bat sie ihn um Verzeihung und flehte ihn an, sie nicht zu mißhandeln; denn nur aus Furcht, es hätte zu Blutvergießen kommen können, habe sie sich eingemischt.
»So«, keuchte Jonas, tief Atem holend, und blickte finster auf sie nieder. »Das also sind deine Freunde und dein Verkehr, wenn ich fort bin! Mit solchem Volk gibst du dich ab, um gegen mich zu intrigieren!«
»Nein, nein, gewiß nicht«, jammerte Gratia, »ich weiß gar nichts von allen diesen Geheimnissen und ahne auch nicht, was da alles vorgeht. Seit ich meine Heimat verlassen, habe ich Pinch, heute ausgenommen, nur ein einziges Mal gesehen. Nein, zweimal, daß ich nicht lüge.«
»Oho«, höhnte Jonas, »ein- oder zweimal, was? Was willst du damit sagen? Zweimal und einmal wahrscheinlich – also vielleicht dreimal? Und wievielmal noch außerdem, du lügenhafte Kröte.«
Hastig wich Gratia zurück, denn er holte zum Schlage aus. Es war eine vielsagende Gebärde voll grausamer Wahrheit.
»Wievielmal außerdem?« wiederholte er.
»Niemals; nur heute und dann kürzlich und außerdem noch ein einziges Mal.«
Jonas war eben im Begriff, eine heftige Erwiderung zu geben, als die Uhr schlug. Er fuhr zusammen, hielt inne und lauschte. Offenbar fiel ihm ein, daß er irgendwohin bestellt sei – vielleicht war’s auch ein Geheimnis, von dem nur er wußte und an das ihn der rasche Lauf der Zeit erinnerte.
»Was bleibst du da am Boden liegen – steh auf!« knurrte er.
Nachdem er Gratia aufstehen geholfen oder sie vielmehr am Arm in die Höhe gerissen hatte, fuhr er fort:
»Hör mich jetzt an, Weibsbild, und winsle nicht, wenn du keine Ursache dazu hast, oder ich will dir einen wirklichen Anlaß dazu geben. Wenn ich diesen Halunken noch einmal in meinem Hause treffe oder merke, daß du ihn irgendwo gesehen hast, so wirst du es mir büßen. Wenn du nicht taub und stumm für alles und jedes bist, was mich betrifft, ohne daß ich dir ausdrücklich erlaube, zu hören und zu sprechen, so sollst du es schwer bereuen. Gehorchst du mir nicht in allem und jedem unbedingt und aufs Wort, so ist’s aus mit dir! Und jetzt höre: wieviel Uhr ist es?«
»Es hat vor einer Minute acht geschlagen.«
Er faßte sie scharf ins Auge und sagte mit einer gewissen Anstrengung, als ob er die Worte vorher genau auswendig gelernt hätte:
»Ich bin Tag und Nacht durchgefahren und sehr ermüdet. Überdies habe ich Geld verloren, und das stimmt mich auch nicht besser. Stelle mir mein Nachtessen unten in das kleine Zimmer und laß mein Feldbett zurechtmachen. Ich werde heute nacht unten schlafen, vielleicht auch morgen nacht. Und wenn ich morgen den ganzen Tag schlafen kann, um so besser. Ich habe Sorgen, die ich zu verschlafen wünsche. Und daß es im Hause ruhig bleibt, daß mich niemand stört! – Verstanden?«
Bebend versprach Gratia, es solle alles geschehen, wie er es wünsche, und fragte, ob das alles sei.
»So? Fragst du schon wieder und spionierst«, fuhr Jonas auf. »Was wünschest du noch zu wissen!«
»Ich brauche ja nichts mehr zu wissen, Jonas, als was du mir sagst. Jede Hoffnung, daß jemals Einvernehmen zwischen uns bestehen könnte, habe ich doch längst aufgegeben.«
»Na, das will ich hoffen«, murmelte er.
»Aber wenn du mir deine Wünsche nennst, so will ich gehorchen und gewiß alles tun, um dich zufriedenzustellen. Ich mache mir ja kein Verdienst daraus – ich habe doch keinen Freund, weder an meinem Vater noch an meiner Schwester. Ich bin doch gänzlich verlassen. Du hast gesagt, du wollest meinen Stolz brechen, und das ist dir, weiß Gott, gelungen. Brich mir nicht auch noch das Herz.«
Schüchtern wagte sie es, Jonas die Hand auf die Schulter zu legen. Er duldete es mit innerlichem Jubel, und seine ganze niedrige erbärmliche Seele lag in diesem Moment in seinen Blicken.
Aber nur eine Sekunde. Dann erinnerte er sich wieder an das Geheimnis, das ihn so sichtlich bedrückte, und er befahl ihr in mürrischem Ton, ihren Gehorsam dadurch zu beweisen, daß sie ohne Verzug seine Befehle erfülle. Als sie draußen war, ging er in der Stube auf und ab, immer noch instinktiv die rechte Faust geballt. Dann warf er sich in einen Stuhl, schlug grübelnd den Ärmel seines rechten Armes zurück, als wolle er seine Muskeln prüfen, aber auch dann noch hielt er die Faust geballt.
Immer noch saß er brütend da, die Augen zu Boden geschlagen, als Mrs. Gamp eintrat, um ihm zu melden, daß die Stube hergerichtet sei. Da sie nicht ganz sicher war, wie er sie nach ihrer Einmischung in den Streit aufnehmen würde, heuchelte sie, um sich bei ihm einzuschmeicheln, eine tiefe Besorgnis für Mr. Chuffey.
»Wie geht es ihm denn?« fragte sie.
»Wem?« rief Jonas, blickte auf und starrte sie verständnislos an.
»Jessa na«, rief die würdige Dame lächelnd und knickste. »Wo i nur wieder mein Kopf hab! Sie sind ja gar net hier gwesen, wie er wieder so kurios gwesen is. In mein ganzen Leben hab i so was net gsegn, ausgnommen vielleicht bei an Patienten grad vor an Jahr, der seines Zeichens a Zollaufseher gwesen is und akurat a so gheißen hat wie der Harris ihr eigener Vater – und gsungen hat er, sag i Ihna, und pfiffen, so was habn S‘ in Ihrem ganzen Leben noch net ghört. A Stimm hat er ghabt wie a Maultrommel im Baß, und sechs Leut habn eahm halten müssen, wann er sein Anfall kriegt hat.«
»Hem – Chuffey«, brummte Jonas gleichgültig und warf einen Blick in die Ecke, wo der alte Buchhalter saß. »Na ja.«
»An Kopf hat er, a so heiß«, fuhr Mrs. Gamp fort, »daß mer a Bügeleisen dran wärmen kunnt. Da is’s freilich ka Wunder, wann mer denkt, was der für Zeug zsammgredt hat.«
»Was hat er denn gesagt?« fragte Jonas.
Mrs. Gamp legte die Hand aufs Herz, als wollte sie das ungestüme Wesen in ihrem Busen zügeln, schlug die Augen gen Himmel auf und lispelte mit schwacher Stimme:
»Schauderhafte Sache, gnä Herr. Die schauderhaftesten Sachen, wo i nur jemals ghört hab. Der Harris ihr Vater net amal hat so was gsagt, wann er an Anfall ghabt hat. Na ja, die anen reden halt und die andern wieder net; – außer, wann er wieder zu sich kommen is, da hat er jedsmal gfragt: Wo is denn die Gamp? Aber i sag Ihna, gnä Herr, wenn der da im Eck amal zfragen anfangt. Wer liegt tot dort oben, nacher – –«
»Wer liegt tot dort oben?« wiederholte Jonas, entsetzt auffahrend.
Mrs. Gamp nickte.
»›Wer liegt tot dort oben‹ – dös sagt er in aner Tour, und ›wo is mein alter Herr, der nur einen einzigen Sohn hat‹, und nacher steht er auf und schaugt in alle Betten und hatscht in alle Zimmer umanand, und nacher kommt er wieder runter und sagt so was wie: ›schnödes Spiel‹ und setzt sich wieder. Wahrhaftig, gnä Herr, dös greift mich a so an, daß i mi immer nur mit an Schlückerl Branntwein aufrechterhalten kann. Sonst rühr i so was niemals nicht an, aber wissen muß i halt immer, wo was zu finden is, falls mich die Lust danach umwandelt; denn unsereins kann nie wissen, was passiert. In dem irdischen Jammertal geht oft alles drunter und drüber.«
»Der alte Narr ist toll«, murrte Jonas verstört.
»Segn S‘, dös sag i a immer!« rief Mrs. Gamp. »I sag’s wie’s is. Wenn i so frei sein derf, mir a Bemerkung zu erlauben, so glaub i, der alte Mann hat a Aufsicht nötig – i sag’s wie’s is –, und mer sollt eahm net zu viel Freiheit lassen, damit er die gnä Frau net a so ängstigen tut.«
»Ach Gott, wer kümmert sich denn um sein Geschwätz!« versetzte Jonas.
»Aber die gnä Frau tut sich doch deshalb beunruhigen«, beharrte Mrs. Gamp auf ihrer Ansicht. »Kehren tut sich ja niemand an ihn, aber er is und bleibt a große Unannähmlichkeit.«
»Donnerwetter noch mal, da haben Sie recht«, rief Jonas und blickte argwöhnisch nach Chuffey hin. »Ich habe längst so halb und halb im Sinn, ihn einsperren zu lassen.«
Mrs. Gamp rieb sich die Hände, lächelte, nickte mit dem Kopf und schnüffelte ausdrucksvoll in der Luft, als wittere sie ein Geschäft.
»Vielleicht könnten Sie den wahnsinnigen Narren in irgendeinem leeren Zimmer oben bewachen, was?« fragte Jonas.
»I und a Freundin von mir könnten’s ja abwechselnd machen, gnä Herr«, meinte die Krankenwärterin. »Unsre Rechnungen sin niemals nicht hoch, aber, weil wir uns ja jetzt schon so guat kennen, würden’s wir vielleicht noch billiger machen. Ich und die Prig, gnä Herr, würden den alten Mann gwiß anständig verpflegen und alles zur Zufriedenheit besorgen. Die Prig hat scho viele Mondsüchtige gwaschen und kennt sich aus bei so was wie kane zweite nöt.«
Abermals ging Jonas im Zimmer auf und ab und warf von Zeit zu Zeit verstohlene Blicke auf den alten Buchhalter. Dann blieb er stehen und sagte:
»Ich sehe schon, ich muß ein Auge auf ihn haben, sonst richtet er noch, weiß Gott, ein Unheil an. – Was meinen Sie dazu?«
»Nix is wahrscheinlicher als dös«, bestätigte Mrs. Gamp. »O mei, so was hab i schon oft gnua an mir selber erfahren.«
»Also gut, dann sorgen Sie vorderhand für ihn, und – sagen wir mal – heute über drei Tage soll die andere Wärterin herkommen. Wir werden dann trachten, handelseins zu werden. Sagen wir mal – ungefähr um neun oder zehn Uhr abends? – Beobachten Sie ihn in der Zwischenzeit gut und sprechen Sie nicht weiter von der Sache. – Er ist toll wie ein Märzhase.«
»Noch vüll toller«, versicherte Mrs. Gamp. »Vüll vüll toller.«
»Also gut, dann sehen Sie nach ihm, und tragen Sie Sorge, daß er keinen Schaden anrichtet. Und vergessen Sie nicht, was ich Ihnen gesagt habe!«
Mrs. Gamp schickte sich an, alles, was ihr eingeschärft worden, nochmals zu wiederholen und zur Anempfehlung ihres außerordentlichen Gedächtnisses und ihrer Vertrauenswürdigkeit eine der hervorragendsten Äußerungen der berühmten Mrs. Harris anzuführen, aber Jonas ließ sie kurz stehen und ging hinunter in die kleine Stube, in der bereits alles für ihn bereitstand. Dort zog er Rock und Stiefel aus, stellte beziehungsweise hängte sie vor die Türe und schloß zu. Dabei vergaß er nicht, den Schlüssel so zu stellen, daß ihn kein Neugieriger durch das Schlüsselloch beobachten konnte. Erst als er diese Vorsichtsmaßregeln getroffen, setzte er sich zum Abendbrot nieder.
»Na, Mr. Chuff«, murmelte er, »wäre gar nicht so ohne, dich loszuwerden. Man soll nichts halb tun. Solange ich noch hier in England bin, sollst du mir hübsch stille sein; wenn ich fort bin, kannst du plappern, soviel du willst. – Aber es ist doch eine verdammte Geschichte« fluchte er, schob den unberührten Teller fort und ging wieder finster auf und ab, »daß er gerade jetzt mit seinen Faseleien wieder darauf kommt.«
Nachdem er das kleine Zimmer mehrmals von einem Ende zum andern durchmessen, warf er sich erschöpft in einen andern Stuhl.
»Ich sage ›jetzt‹, aber wer weiß, ob er den Unsinn nicht schon die ganze Zeit über getrieben hat. Alter Trottel! – Aber warte nur, ich werde dir schon das Maul stopfen.«
Wieder ging Jonas mit unruhigen Schritten auf und ab und setzte sich dann aufs Bett, das Kinn in die Hand gestützt, und starrte den Tisch an. Nachdem er eine ziemliche Weile so dagesessen, fiel ihm sein Abendbrot wieder ein. Er setzte sich abermals in den Stuhl, den er zuerst eingenommen gehabt, und begann mit großer Gier zu essen – nicht wie ein Hungriger, sondern wie ein Mensch, der es sich aus irgendeinem verzweifelten Grunde fest vorgenommen hat. Er trank auch, aber bisweilen hielt er mitten im Zuge inne und sprang dann wieder auf, um die Stube zu durchmessen, sich dann abermals an den Tisch zu stürzen und mit gieriger Hast über das Essen herzufallen.
Es wurde dunkel. Die Düsterkeit des Abends ging in Nacht über. Ein schwarzer Schatten wuchs empor und legte sich auf sein Gesicht und verwandelte langsam seine Züge. Langsam, langsam, schwarz und schwärzer werdend; – und immer hagerer und wilder wurden Jonas‘ Züge, und immer weiter und weiter griff die Veränderung um sich, bis es in und außer ihm finstere Nacht war.
Das Zimmer, in dem er sich eingeschlossen, lag an der Hinterseite des Hauses zu ebener Erde. Es war durch ein blindes Oberlichtfenster erhellt und hatte eine Türe in der Wand, die auf einen engen, überdeckten Gang hinausführte. Schon von sechs oder sieben Uhr abends an war dieser nur noch wenig besucht, und auch zu keiner Tageszeit wurde er häufig als öffentlicher Durchgang benützt, obgleich er in eine benachbarte Straße mündete.
Der Grund und Boden, auf dem dieses Zimmer stand, war in früherer Zeit, so ging das Gerücht, ein Friedhof gewesen, und man hatte es zu seinem jetzigen Gebrauch als eine Art Bureau eingerichtet und umgebaut. Welche Geschäfte vordem darin betrieben worden, konnte niemand sagen. Auch hatten Anthony Chuzzlewit und Sohn wenig Notiz davon genommen, und es diente nur bisweilen als eine Art Schlafzimmer für den Notfall und war vor langen Jahren von dem alten Buchhalter als Privatzimmer benutzt worden. Eher einem Keller als einer Stube gleichend, waren seine Wände fleckenweise mit Schimmel bewachsen, und durchlaufende Wasserröhren in den Mauern fingen oft plötzlich in der Nacht, wenn alles ruhig schlief, zu glucksen und zu gurgeln an, gerade als ob jemand ersticke.
Seit langer, langer Zeit war die in den Hof hinausgehende Türe nicht geöffnet worden, aber der Schlüssel dazu hing noch jetzt, wie seit vielen Jahren, an seinem Platze. Jonas schien angenommen zu haben, daß er rostig sein werde, denn er hatte eine kleine Ölflasche mit einer Federspule in der Tasche, mit der er jetzt Schlüssel und Schloß sorgfältig einschmierte. Aus übermäßiger Vorsicht hatte er zu diesem Zweck Rock und Stiefel ausgezogen. Leise schlich er sich jetzt ins Bett und wälzte sich darin ein wenig herum, damit es das Aussehen bekäme, als habe jemand darin geschlafen; und bei seinem an und für sich unruhigen Gemütszustand war dies bald geschehen.
Dann stand er wieder auf, nahm aus dem Mantelsack, den er beim Nachhausekommen sofort in das Zimmer hatte schaffen lassen, ein Paar grobe Stiefel, zog sie an, desgleichen ein Paar Lederhosen, wie sie die Bauern zu tragen pflegen, einen groben, dunklen Rock und einen Filzhut – seinen eigenen gewöhnlichen hatte er absichtlich im Zimmer oben gelassen –, und dann setzte er sich mit dem Schlüssel in der Hand an der Türe nieder und horchte.
Die Kerze war ausgelöscht. Langsam, langsam schwanden die Minuten. Die Meßnerknaben in der benachbarten Kirche zogen die Glockenstränge, und das nicht endenwollende Bimbam der Glocken trieb Jonas fast bis zum Wahnsinn. Mit wildem Fluche verdammte er das lärmende Geläute – es war ihm, als ob die Glocken wüßten, daß er an der Türe lausche, und vorhätten, es mit zahllosen Stimmen der ganzen Stadt in die Ohren zu schreien. – Wollten sie denn gar nicht aufhören!?
Endlich verstummten sie, aber die Stille, die darauf folgte, war so schauerlich wie der Vorläufer irgendeines entsetzlichen Losbruches. – Horch! – Fußtritte auf dem Hof! Zwei Männer! – Jonas wich auf den Zehen von der Türe zurück, als könnten sie ihn durch die hölzerne Türe hindurch sehen.
Sie gingen weiter und sprachen, soviel er hören konnte, von einem Gerippe, das gestern bei der Demolierung eines Hauses ausgegraben worden war und, wie verlaute, von einem Erschlagenen herrühren müsse. »Da sieht man wieder: ein Mord kommt immer ans Licht«, sagte der eine der Männer. Das waren die letzten lauten Worte, als die beiden um die Ecke bogen.
Pst! Still! – Jonas steckte den Schlüssel in das Schloß und drehte langsam um. Eine Weile leistete die Türe Widerstand, dann endlich ging sie auf, und der Geschmack von Rost, Stauberde und moderndem Holz legte sich auf Jonas‘ Lippen. Er trat hinaus und schloß leise hinter sich ab. Und wie er dann, wie von Furien gepeitscht, dahinfloh, war alles totenstill und ruhig ringsum.