52. Kapitel

Das Blatt wendet sich

Die Ausführung der Pläne, die der alte Martin so lange in seiner Brust verborgen hielt und so oft beinahe verraten hätte während seines Aufenthaltes bei Mr. Pecksniff, wenn ihn die helle Entrüstung packte, hatte sich infolge der soeben berichteten Ereignisse um einige Stunden hinausgezogen. Die Kunde, die ihm Tom Pinch und John Westlock hinsichtlich der mutmaßlichen Ursache des Todes seines Bruders überbracht hatten, wie auch die darauffolgenden Schilderungen Chuffeys und Nadgetts samt der ganzen grausigen Kette von Umständen und dem Selbstmorde des elenden Jonas, von dem er ebenfalls gleich darauf erfuhr, hatten betäubend und niederschmetternd auf ihn gewirkt und ihn eine Zeitlang fast ganz außer Fassung gebracht. Aber gerade die Häufung der Ereignisse, die sich so furchtbar zwischen ihn und sein Ziel gedrängt hatten, spornten ihn bald wieder zu raschem, entschlossenem Handeln an. In jeder einzelnen Schlechtigkeit, Niederträchtigkeit, Feigheit oder falschherzigen Handlung erkannte er die Blüte derselben wuchernden Saat. Selbstsucht – gierige, nimmersatte Selbstsucht mit all ihren Folgen von Argwohn, Begehrlichkeit, Betrug –, das war die Wurzel des Giftbaumes. Mr. Pecksniff hatte sich in so wahrem Lichte gezeigt, daß er – er, der gütige, duldsame, immer nachsichtige Pecksniff – geradezu zum fleischgewordenen Symbol niedrigster Selbstsucht und Niedertracht geworden war. In je tückischeren Formen diese Laster sich vor Mr. Chuzzlewit präsentierten, um so tröstlicher wurde für ihn der Gedanke, dem Heuchler sowohl wie seinen Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Sogleich nach seiner Ankunft hatte er John Westlock und zugleich auch Mark durch Tom Pinch zu sich rufen lassen, und so hatten sie sich, wie bereits erzählt, gemeinschaftlich in die City begeben. Seinen Enkel wollte er nicht früher sehen als am nächsten Tage, wo ihn Mr. Tapley für zehn Uhr vormittags in den Tempel bestellen sollte. Tom mußte ganz aus dem Spiele bleiben, um nicht abermals in einen falschen Verdacht zu kommen, obschon er von allem, was sich ereignet, Kunde hatte und bis spät in die Nacht mit den übrigen zusammenblieb.

Als die Nachricht von Jonas‘ Selbstmord einlangte, begab sich Tom unverzüglich nach Hause, um alles, was sich begeben, seiner Schwester mitzuteilen und sie darauf vorzubereiten, daß sie ihn am nächsten Morgen nach dem Tempel begleiten müsse, wie es Mr. Chuzzlewit ausdrücklich gewünscht hatte.

Es war so recht bezeichnend für den alten Herrn, daß er seiner Umgebung mit keinem Wort andeutete, was er vorhatte, sondern nur hie und da eine Andeutung fallenließ, daß er sich in Mr. Pecksniffs Haus absichtlich verstellt habe; und jedesmal, sooft er den Namen dieses Ehrenmannes erwähnte, leuchteten seine Augen seltsam auf. Sogar John Westlock gegenüber, in den er sichtlich das größte Vertrauen setzte, ließ er sich keineswegs auf nähere Erklärungen ein und bat ihn bloß, ihn am nächsten Morgen wieder zu besuchen.

Ereignisse, wie sie der Tag gebracht, wären wohl imstande gewesen, auch einen viel jüngeren Mann als ihn stark mitzunehmen, aber dennoch blieb er, in schmerzliche Betrachtungen versunken, bis zum hellen Morgen sitzen. Und auch dann suchte er noch keine Ruhe, sondern schlummerte bloß bis sieben Uhr in seinem Lehnstuhl, bis sich Mr. Tapley, seinem Wunsche gemäß und frisch und munter wie der Morgen selbst, einstellte.

»Sind Sie aber pünktlich!« rief Mr. Chuzzlewit, als er auf das leise Klopfen, das ihn sofort aus seinem Schlummer weckte, die Türe öffnete.

»Mein ganzes Sinnen und Trachten, Sir«, erwiderte Mr. Tapley, der sich, wie aus seinen Worten hervorging, stark mit Freiersgedanken trug, »beschränkt sich auf Liebe, Freundschaft und Gehorsam. – Soeben schlägt es sieben Uhr, Sir.«

»So treten Sie doch näher!«

»Ich danke, Sir. – Also, was kann ich zuvörderst für Sie tun, Sir?«

»Haben Sie meinen Auftrag an Martin ausgerichtet?« fragte der alte Herr.

»Jawohl, Sir. Und Sie haben wohl in Ihrem Leben noch niemanden überraschter gesehen, als er es war.«

»Was sagten Sie ihm alles?« fragte Mr. Chuzzlewit.

»Nun, Sir«, antwortete Mr. Tapley lächelnd, »ich hätte ihm ganz gerne ein bißchen mehr gesagt, aber da ich es nicht konnte, ließ ich es eben bleiben.«

»Sie sagten ihm also alles, was Sie wußten?«

»Ja, allerdings. Aber immerhin war das recht wenig, Sir. Über Sie zum Beispiel konnte ich ihm fast gar nichts erzählen, Sir. Ich warf nur so hin, Mr. Pecksniff dürfte ein wenig enttäuscht werden, sowohl, was Sie betrifft, als auch, was ihn selber anbelangt.«

»Wie meinen Sie das?« fragte Mr. Chuzzlewit.

»Hinsichtlich seiner, Sir?«

»Jawohl. Aber auch, was mich betrifft.«

»Nun, Sir«, sagte Tapley, »sowohl in der einen wie in der andern Beziehung. Was Mr. Martin und seine Ansichten betrifft, Sir, so weiß ich bestimmt, daß er sich von Grund aus geändert hat. Ich weiß es und wußte es lange vorher, ehe er neulich mit Ihnen sprach. Niemand kennt ihn wohl nur halb so gut wie ich. Es war stets ein guter Kern in ihm; es lag nur eine Kruste, sozusagen, drumherum. Ich weiß nicht, wer an dieser Kruste wohl schuld gewesen sein mag, aber –«

»Fahren Sie nur fort!« ermunterte ihn der alte Herr. »Warum schweigen Sie so plötzlich?«

»Hem, ja – ich bitte um Verzeihung – aber ich denke, es kann wohl nicht gut jemand anders als Sie gewesen sein, Sir! Natürlich kann ich mir ja denken, daß es nicht mit Absicht Ihrerseits geschah. Ich glaube nicht, daß Sie beide stets sehr offen gegeneinander gewesen sind. So! Jetzt hab ich’s vom Herzen herunter«, sagte Mr. Tapley und atmete erleichtert auf. »Ich konnte es rein nicht länger bei mir behalten. Schon gestern hat’s mich gewurmt. Jetzt ist’s glücklich draußen. Weiß Gott, es tut mir ja leid, aber ich kann nicht anders. Lassen Sie es ihn nicht entgelten, Sir; weiter habe ich nichts zu sagen.«

Offenbar erwartete er, daß ihm der alte Herr sogleich die Tür weisen würde, und schien auch bereit, auf der Stelle zu gehen.

»Sie glauben also«, sagte Mr. Chuzzlewit, »daß ich gewissermaßen an seinen alten Fehlern schuld war?«

»Nun ja«, gab Mr. Tapley zu. »Es tut mir gewiß ungemein leid, aber ich kann meine Worte nicht zurücknehmen. Es ist nicht sehr hübsch von Ihnen, Sir, daß Sie einen so unwissenden Menschen wie mich so in die Enge treiben, aber ich bin nun einmal dieser Meinung. Alle Hochachtung vor Ihnen, Sie verdienen Sie, gewiß, Sir –«

Ein leichtes Lächeln leuchtete durch die gramvollen Mienen des alten Mannes, während er, ohne eine Antwort zu geben, Mark aufmerksam anblickte.

»Sie sagen also selbst, daß Sie ein unwissender Mann seien?« bemerkte er nach einer längeren Pause.

»Ja. So ziemlich bin ich das auch«, versetzte Mr. Tapley.

»Und mich halten Sie wahrscheinlich für einen besonders gelehrten und außerordentlich gescheiten Mann?«

»Gewiß, ja. Kein Zweifel.«

Der alte Herr rieb sich das Kinn und schritt ein paarmal das Zimmer auf und ab.

»Sie haben ihn also heute früh verlassen?«

»Ich komme soeben von ihm, Sir.«

»Was glaubt er wohl, weshalb ich ihn habe rufen lassen?«

»Er weiß nicht, was er sich drunter denken soll, Sir, ebensowenig wie ich selbst. Ich erzählte ihm, was sich gestern begeben hatte, Sir, und daß Sie zu mir gesagt hätten: ›Können Sie morgen um sieben Uhr bei mir sein?‹ Ferner, daß Sie ihm durch mich ausrichten ließen, er möge sich gleichfalls um zehn Uhr einfinden. Und auf beides hätte ich mit ja geantwortet. – Das ist alles, Sir.‹

Marks Miene war so offen und ehrlich, daß an der Wahrhaftigkeit seiner Worte niemand zweifeln konnte.

»Vielleicht denkt er«, sagte Mr. Chuzzlewit, »daß Sie ihn verlassen wollen und bei mir in Dienst treten.«

»Ich habe ihm wirklich so treu gedient, Sir«, versetzte Mark schlicht, »und wir haben in Kummer und Leid so treu zueinander gehalten, daß ich wohl glaube, er kann dergleichen nicht gut annehmen. Ebensowenig wie Sie es wohl glauben, Sir.«

»Wollen Sie mir beim Ankleiden behilflich sein und mir ein Frühstück aus dem Hotel holen?« brach Mr. Chuzzlewit das Thema ab.

»Mit Vergnügen, Sir.«

»Übrigens«, setzte der alte Herr hinzu, »möchte ich Sie auch bitten, auf die Türe dort achtzugeben und aufzumachen, wenn jemand klopft.«

»Selbstverständlich, Sir.«

»Sie brauchen auch nicht weiter erstaunt zu sein, wenn allerhand merkwürdige Besuche kommen«, deutete Mr. Chuzzlewit an.

»Ach Gott«, sagte Mr. Tapley, »ich habe mir das Staunen so ziemlich abgewöhnt.«

Trotzdem er das sehr hervorhob, schien er doch innerlich nicht wenig verwundert zu sein. Martin Chuzzlewit schien es zu bemerken und sich an seiner unterdrückten Neugierde nicht wenig zu weiden.

Nachdem Mr. Tapley den Anzug des alten Herrn in Ordnung gebracht und ihm das Frühstück besorgt hatte, stellte er sich, die Serviette unter dem Arm, an den Kamin und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Nur mit Mühe gelang es ihm, seine Erregung zu verbergen. Der alte Herr nahm sein Frühstück ein, ging dann wieder im Zimmer auf und ab und setzte sich schließlich nieder.

Endlich, ein Klopfen an der Türe! Es war John Westlock. Mark ließ ihn ein, zog die Augenbrauen in die Höhe, sprach aber kein Wort. Mr. Chuzzlewit empfing seinen Gast sehr höflich.

Mr. Tapley wartete an der Türe, bis Tom Pinch und seine Schwester, die gerade die Treppe heraufkamen, eingetreten waren. Der alte Herr ging auch ihnen entgegen, nahm Ruth bei der Hand und küßte sie auf die Wange. Das war ein gutes Zeichen, und Mr. Tapley lächelte vergnügt.

Mr. Chuzzlewit hatte inzwischen wieder in seinem Lehnstuhl Platz genommen, als der junge Martin, Tom und Ruth auf dem Fuße folgend, eintrat. Der alte Mann würdigte ihn kaum eines Blickes und deutete nur mit der Hand auf einen Stuhl in der Ecke. Das war schon weniger beruhigend, und Mr. Tapley wurde ein wenig kleinmütig.

Abermals ertönte ein Klopfen an der Türe. Mark fuhr nicht zurück, brachte auch kein Wort hervor und fiel auch keineswegs der Länge nach hin, als er Miss Graham und Mrs. Lupin eintreten sah, sondern holte nur tief Atem und ging wieder ganz gefaßt mit einer Miene an den Kamin zurück, die zu sagen schien, daß er jetzt schon über gar nichts mehr staune.

Der alte Herr empfing Mary ebenso zärtlich wie Tom Pinchs Schwester. Dann wechselte er einen freundlichen Blick mit der Drachenwirtin, woraus hervorzugehen schien, daß zwischen ihnen eine Art Einverständnis herrschte. Auch darüber staunte Mr. Tapley nicht; er hatte es ein für allemal aufgegeben, sich über etwas zu wundern.

Außerordentlich komisch wirkte, wie jeder der Anwesenden über den Anblick des andern verlegen und überrascht war, so daß niemand zu sprechen wagte. Endlich brach Mr. Chuzzlewit das Schweigen.

»Machen Sie jetzt die Türe auf, Mark, und kommen Sie hierher.« – Mr. Tapley gehorchte.

Fußtritte ertönten auf der Treppe. Alle kannten sie. Kein Zweifel, es war Mr. Pecksniff, der da heraufeilte, und zwar in so großer Hast, daß man ihn zwei- oder dreimal stolpern hörte.

»Oh, wo ist mein verehrungswürdiger Freund?« rief er schon von weitem, als er noch kaum auf dem obersten Treppenabsatze angelangt war, und stürzte dann mit ausgebreiteten Armen herein.

Mr. Chuzzlewit warf ihm nur einen Blick zu, aber einen derartigen, daß Mr. Pecksniff zurückprallte, als habe er einen elektrischen Schlag bekommen.

»Sie sind doch wohl, mein verehrungswürdiger Freund?« stammelte er beklommen.

»Ganz wohl.«

Das schien Mr. Pecksniff ein wenig zu beruhigen, er faltete die Hände und blickte bewegt zur Decke auf, um auf diese Weise dem Himmel seinen Dank auszudrücken. Dann musterte er neugierig die versammelte Gruppe, schüttelte vorwurfsvoll das Haupt – strenge und vorwurfsvoll – und rief:

»O Gewürm, Gewürm! O ihr Blutsauger! Ist es nicht genug, daß ihr das Dasein eines Mannes vergällt habt, der unter den Sterblichen nicht seinesgleichen hat? Müßt ihr jetzt noch, wo er endgültig seine Wahl getroffen und sein Vertrauen einem unbedeutenden, aber wenigstens demütigen, aufrichtigen und uneigennützigen Verwandten geschenkt hat – müßt ihr auch jetzt noch, ihr Ungeziefer – es tut mir von Herzen weh, so starke Ausdrücke gebrauchen zu müssen, mein wertgeschätzter Herr, aber es gibt Augenblicke im Menschenleben, wo es schwer ist, edlen Unwillen zu unterdrücken –, müßt ihr selbst jetzt noch, ihr Schlangengezücht, aus seiner Hilflosigkeit Vorteil ziehen und euch von allen Seiten wie Wölfe und Geier und anderes Getier – ich will nicht sagen ›wie um das Aas‹, denn Mr. Chuzzlewit ist gerade das Gegenteil – sondern wie um eine Beute herandrängen? – Jawohl, wie um eine Beute, um zu rauben und zu plündern, um den gefräßigen Bauch vollzupfropfen und die abscheulichen Schnäbel in tierischem Entzücken zu wetzen?« –

Er mußte Atem holen und konnte nur feierlich mit der Hand abwinken.

»Ihr unnatürlichen Räuber und Mordbrenner, marsch, sage ich. Lasset ab von ihm! Fort mit euch! Verberget euer Antlitz! Wandert ruhelos hin über die Erde, ihr jugendlichen Vagabunden. Es sei euch nicht vergönnt, an einer Stätte zu weilen, die geheiligt ist durch das graue Haar des Patriarchen, dessen wankenden Gliedern ich die Ehre habe, als unwürdige, aber gewiß demütige Stütze zu dienen. Und Sie, mein wertgeschätzter Herr«, wendete sich Mr. Pecksniff im Tone sanften Vorwurfs zu dem alten Manne, »wie konnten Sie es über das Herz bringen, mich zu verlassen, wenn auch nur auf kurze Zeit? Gewiß haben Sie es nur aus einer gütigen Rücksicht für mich getan! Gott vergelte es Ihnen! Aber Sie durften so etwas nicht tun! Wahrhaftig, ich könnte böse auf Sie sein, wenn ich es imstande wäre, mein Freund.«

Mit ausgebreiteten Armen trat er auf Mr. Chuzzlewit zu, um ihm die Hand zu drücken. Er hatte offenbar übersehen, wie der alte Martin die Faust geballt und seinen Stock fest gepackt hatte. Wie er jetzt lächelnd heranschwebte, sprang Mr. Chuzzlewit, übermannt von Zorn, auf, erhob seinen Stock und schlug ihn zu Boden.

Es war ein so gut gezielter, kraftvoller Hieb, daß der Heuchler schwerfällig zusammenbrach und niederstürzte wie ein Sonntagsreiter, den der Angriff eines Leibgardisten aus dem Sattel gehoben hat. Ob er nun betäubt oder bloß durch die Neuheit dieses warmen Empfanges überrascht und verwirrt war, jedenfalls gab er sich nicht die geringste Mühe, wieder aufzustehen, sondern blieb ruhig liegen und war auch jetzt noch nicht imstande, die Maske der Heuchelei abzuwerfen. Er blieb liegen und schaute mit so komischer Demut auf, daß weder Mark Tapley noch John Westlock ein Lächeln unterdrücken konnten, obgleich sie beide dazwischen gesprungen waren, um Mr. Chuzzlewit zu verhindern, einen zweiten Schlag zu führen, der, nach dessen blitzendem Auge zu urteilen, gedroht hatte.

»Hinaus mit ihm, schafft mir den Kerl aus den Augen«, rief Mr. Chuzzlewit, »oder ich weiß nicht, was ich tue. Der ungeheure Zwang, den ich mir auferlegen mußte, hätte mich, glaube ich, wenn es noch eine Zeitlang gedauert hätte, wirklich gelähmt. Ich bin nicht Herr meiner selbst, solange ich ihn noch vor mir sehe. Hinaus mit ihm!«

Da Mr. Tapley sah, daß Mr. Pecksniff keine Miene machte, aufzustehen, packte er ihn ohne weitere Umstände beim Rockkragen, schleifte ihn von dem Lehnstuhl weg, hob ihn auf und lehnte ihn mit dem Rücken an die Wand.

»Höre mich an, du Schurke!« rief Mr. Chuzzlewit. »Ich habe dich hierher kommen lassen, damit du dein eigenes Werk siehst. Ich weiß, daß es dir Galle und Wermut sein wird. Ich habe dich hierher kommen lassen, da ich weiß, daß der Anblick jedes einzelnen hier ein Dolchstich in dein niederträchtiges Herz sein muß. – So, jetzt kennst du meinen wahren Charakter.«

Mr. Pecksniff hatte alle Ursache, große Augen zu machen, denn der Triumph in Gesicht und Haltung des alten Herrn war ein Anblick, wie man ihn wohl nicht alle Tage genießt.

»Schau her«, fuhr der alte Mann fort und wies auf die Anwesenden. »Schau her – und jetzt: komm an mein Herz, mein lieber, lieber Martin! Siehst du, so, – so – so«, und voll Liebe zog er seinen Enkel an sich.

»Die innere Aufruhr, die ich empfand, Martin, als ich dich damals sah und nicht umarmen durfte, hat sich jetzt Luft gemacht in dem Schlag, mit dem ich den Elenden zu Boden gestreckt habe. Warum haben wir uns jemals getrennt?! Wie konntest du nur vor mir fliehen und gar zu dem da?«

Martin wollte antworten, er ließ ihn aber nicht zu Worte kommen.

»Ich weiß, es war ebensogut mein Fehler wie der deine; Mark Tapley sagte es mir heute, und ich habe es längst selber gewußt, wenn ich es auch gleich am Anfang nicht einsah. – Mary, mein Kind, jetzt komme du her!«

Miss Graham zitterte so sehr und war so blaß, daß er sie in seinen eigenen Stuhl drückte, ihre Hand festhielt und an ihre Seite trat. Auch Martin stand dabei.

»Der Fluch unsres Hauses«, rief Mr. Chuzzlewit und blickte gütig auf sie nieder, »war die Selbstsucht und ist von jeher die Selbstsucht gewesen. Wie oft habe ich das gesagt und doch nicht gewußt, daß ich selbst gegen andere selbstsüchtig war.« Dann legte er seine freie Hand auf Martins Arm und fuhr fort:

»Ihr alle wißt, wie ich diese Waise hier auferzogen habe, damit sie mich dereinst pflege. Niemand von euch kann aber wissen, wie ich allmählich dahin gekommen bin, in ihr eine Tochter zu sehen. Sie gewann mich durch ihre Selbstaufopferung, ihre Zärtlichkeit, ihre Geduld und ihre edle Denkungsweise – Eigenschaften, für deren Ausbildung, Gott weiß es, ich mir leider nur wenig Mühe gab. Aber sie blühte ohne die Hand des Gärtners, und ich kann nicht sagen, ich bedaure es, daß ich nicht so war, wie ich hätte sein sollen; sonst wäre alles anders gekommen und der Kerl dort könnte den Kopf aufrecht tragen.«

Mr. Pecksniff steckte die Hand in die Weste und schüttelte milde das Haupt, wie um anzudeuten, daß er es immer noch aufrecht trage.

»Es gibt eine Art von Selbstsucht«, rief Mr. Chuzzlewit, »die ich aus eigener Erfahrung an mir selber kennenlernen mußte und die darin besteht, daß sie fortwährend auf der Lauer liegt, um die Selbstsucht anderer zu entdecken. So zweifelte ich einst an allen, die um mich waren; anfangs nicht ohne Grund – deshalb setzte ich auch Zweifel in dich, Martin.«

»Gleichfalls nicht ohne Grund«, versetzte der junge Martin.

»Hörst du, du Heuchler? Hörst du, du aalglatter niederträchtiger Schurke?« rief Mr. Chuzzlewit, »hörst du, du kriecherische Kanaille? Als ich ihn suchte, hattest du bereits deine Netze ausgeworfen – hast du bereits nach ihm geangelt. Und als ich in dem Gasthause dieser guten Frau dort krank lag und du in deiner heuchlerischen Demut meinem Enkel das Wort redetest, hattest du ihn damals nicht bereits abgefangen? Hoffend, daß meine Liebe sich ihm wieder zuwenden werde, hattest du ihm eine von deinen beiden Töchtern zugedacht – ist es nicht so? Und glückte das nicht, so war deine Handlungsweise immerhin eine gute Spekulation, so oder so, um mich mit dem Scheine von Mildtätigkeit zu blenden und dir einen Weg zu mir zu bahnen. Ich habe dich schon damals durchschaut und es dir ins Gesicht gesagt.«

»Auch jetzt kann ich Ihnen noch nicht böse sein, Sir«, säuselte Mr. Pecksniff. »Von Ihnen kann ich alles ertragen. Ich werde Ihnen niemals widersprechen, Mr. Chuzzlewit.«

»Höret mich weiter an!« fuhr der alte Martin fort und wandte sich wieder an die übrigen. »Ich habe mich in die Hände dieses Menschen unter so erniedrigenden Bedingungen gegeben, daß ich es kaum mit Worten ausdrücken kann. Ich sprach mich aus vor ihm in Gegenwart seiner Kinder, Wort für Wort, so rückhaltlos und so voller Verachtung, wie es nur irgend möglich war. Hätte ihm alles das nur ein einziges Mal die Schamröte ins Gesicht getrieben, so wäre ich in meinem Vorhaben wankend geworden; ich hätte meinen Plan aufgegeben, wenn es mir möglich gewesen wäre, in ihm auch nur eine Minute lang einen anständigen, entrüsteten Menschen zu sehen. Hätte er auch nur ein Wort zugunsten meines Enkels, den er von mir enterbt wähnte, eingelegt, hätte er auch nur die leiseste Einwendung gemacht gegen meine Aufforderung, ihn aus dem Hause zu jagen und ins Elend zu stoßen, ich glaube, ich hätte ihn vielleicht doch nicht so sehr verachten müssen. Aber nicht ein Wort, nicht ein einziges Wort sprach er! Den schlimmsten Leidenschaften der menschlichen Natur Vorschub zu leisten war seine Lebensaufgabe, und er hat sie getreulich erfüllt bis zum Schluß.«

»Auch jetzt zürne ich nicht«, flötete Mr. Pecksniff. »Ich bin verletzt, Mr. Chuzzlewit, tief im Innersten verletzt, aber ich zürne Ihnen nicht, mein wertgeschätzter Herr.«

Mr. Chuzzlewit achtete nicht auf ihn und nahm seine Rede wieder auf:

»Einmal entschlossen, ihn auf die Probe zu stellen, wollte ich meinen Plan auch bis zu Ende durchführen. Aber, während ich die Tiefe seiner Niedertracht ergründen wollte, gelobte ich mir selbst mit einem heiligen Schwur, ihm andrerseits auch jeden Funken von Menschlichkeit, Ehre und Gefühl – kurz alles, was noch in ihm schlummern mochte – anzurechnen. Jedoch auch nicht eine Spur fand sich in ihm, vom Anfang bis zu Ende. Nicht ein einziges Mal! Er kann deshalb nicht sagen, daß ich ihm nicht Gelegenheit dazu geboten hätte, und auch nicht sagen, daß ich ihm Versuchungen in den Weg gelegt und ihn nicht in allen Dingen hätte frei schalten lassen. Ich habe mich wie ein blindes Werkzeug in seine Hände gegeben, das er sowohl zum Guten wie zum Bösen gebrauchen konnte. Und wenn er das leugnet, so lügt er – und das versteht er allerdings aus dem Grunde.«

»Mr. Chuzzlewit!« unterbrach ihn Mr. Pecksniff mit tränenfeuchtem Auge. »Ich zürne Ihnen nicht – ich kann Ihnen nicht zürnen. Aber haben Sie wirklich nie, mein wertgeschätzter Herr, das Verlangen ausgedrückt, daß jener unnatürliche junge Mann, der mir jetzt auf kurze Zeit durch seine teuflischen Künste – ich sage, nur für kurze Zeit – Ihre gute Meinung entzogen hat, daß ihr Enkel, Mr. Chuzzlewit, aus meinem Hause davongejagt werden solle? Besinnen Sie sich doch, mein Freund und Bruder in Christo.«

»Ja, das habe ich gesagt«, gab der alte Herr mit finsterer Miene zu; »ich konnte doch nicht wissen, wie weit ihn der Firnis deiner Heuchelei getäuscht haben mochte, du Schurke! Und ich wußte keinen bessern Weg, ihm die Augen zu öffnen, als indem ich dich ihm in deiner ganzen kriecherischen Niedertracht vor Augen führte. Ja, ich drückte diesen Wunsch aus, aber du griffst mit beiden Händen darnach, weil es dir paßte. Und du hast den Wunsch erfüllt und keinen Augenblick gezögert, wie ein tückischer Hund die Hand zu beißen, die du soeben geleckt hattest.«

Mr. Pecksniff machte eine Verbeugung – eine unterwürfige, um nicht zu sagen, kriecherische Verbeugung. Wenn man ihm der edelsten Eigenschaft wegen ein Kompliment gemacht haben würde, hätte er sich kaum anders verbeugen können.

»Der Unglückliche, der das Opfer eines feigen Mörders geworden«, fuhr Mr. Chuzzlewit fort,»und damals unter dem Namen –«

»Tigg lebte«, ergänzte Mark.

»Ja. Also dieser Tigg bettelte mich für einen seiner Freunde, der ebenfalls zu meiner unwürdigen Verwandtschaft gehörte, an; und da ich ihn für meine Zwecke geeignet hielt, trug ich ihm auf, mir Nachricht von dir zu bringen, Martin. Durch ihn erfuhr ich von deinem Aufenthalt bei diesem Kerl hier. Er war es auch, der dich eines Abends in London traf – du erinnerst dich! –«

»Beim Pfandleiher«, versetzte der junge Martin.

»Ja. – Er ging dir nach bis zu deiner Wohnung und ermöglichte es mir auf diese Weise, dir Geld zu schicken.«

»Erst unlängst ging es mir durch den Kopf«, fiel der junge Martin bewegt ein, »daß es von dir gekommen sein könnte. Damals hatte ich natürlich noch keine Ahnung, daß du noch Teil an meinem Schicksal nahmst. Hätte ich das gewußt –«

»Ja, wenn du das geglaubt hättest«, unterbrach ihn der alte Mann bekümmert, »dann hättest du mich besser kennen müssen, als du mich kanntest. Ich hoffte, dich reuig zu mir zurückkehren zu sehen, Martin, und rechnete in dieser Hinsicht auf deine Notlage. So sehr ich dich auch liebte, so konnte ich es damals doch nicht über mich gewinnen, es offen einzugestehen, bevor du mir dein Unrecht bekanntest. Und so verlor ich dich. Wenn ich indirekt eine Schuld an dem Schicksal jenes Unglücklichen trage, indem ich ihm wenn auch noch so geringe Mittel in die Hand gab, so möge es mir Gott verzeihen. Ich hätte es voraussehen sollen, daß er das Geld mißbrauchen werde – daß es schlecht bei ihm angewandt war und daß es, von ihm verwaltet, nur Unheil erzeugen konnte. Aber ich glaubte nie, daß er die Lust oder die Fähigkeit habe, ein wirklich ernster, gefährlicher Betrüger zu werden. Ich hielt ihn nur für einen gedankenlosen, müßigen Verschwender, der mehr gegen sich selbst wütete als gegen andere, und bloß zu seinem eigenen Verderben seinen lasterhaften Neigungen frönte.«

»Ich bitte um Verzeihung, Sir«, meldete sich jetzt Mr. Tapley, der inzwischen ganz ungeniert Mrs. Lupins Arm durch den seinigen gezogen hatte, »wenn ich mich erkühne zu sagen, daß Sie vollkommen recht haben, und daß es schließlich so mit ihm ausgegangen ist, wie es im Lauf der Natur liegt. Es gibt eine ganz erstaunliche Menge Menschen, Sir, die, solange sie bloß auf ihre eigenen Schuhe und Strümpfe angewiesen sind, in aller Gemütsruhe bergab trotten und nicht viel Schaden anrichten. Setzt man sie aber in einen Wagen mit vier Pferden davor, Sir, bekommt man seine blauen Wunder zu sehen. Dann füllt so ein Kerl sein Fuhrwerk mit Passagieren und rast mitten durch die Straßen Hals über Kopf zur Hölle. Gott segne Ihr gutes Herz, Sir, aber es gehen jeden Tag so viele Tiggs durch das Tempeltor, daß es nur eines geringen Anstoßes bedarf, um jeden von ihnen zu einem waschechten Montague zu machen.«

»In Ihrer Unwissenheit, wie Sie es nennen, Mark«, rief Mr. Chuzzlewit, »sind Sie weiser als so mancher Gescheite und nebenbei ich selber. Sie haben die Wahrheit gesprochen, und heute nicht zum erstenmal. Aber jetzt hört mich an, meine Lieben. Und Sie, Pecksniff, der Sie, wenn ich recht unterrichtet bin, ebensogut in materieller Hinsicht wie an gutem Namen ein Bankerottier sind, hören Sie mir auch zu, und wenn ich fertig bin, verlassen Sie dieses Haus und verpesten Sie es nie wieder durch Ihren Anblick.«

Mr. Pecksniff legte die Hand auf die Brust und verbeugte sich abermals.

»Die Buße, die ich mir selbst in seinem Hause auferlegt habe, hat mich erkennen lassen, welches Elend über mich gekommen wäre, wenn es wirklich dem Himmel gefallen hätte, mich so schwach und hilflos zu machen, wie ich mich stellte. Da sagte ich mir: nimm dich in acht, daß du nicht wirklich das Werkzeug eines solchen Menschen werdest und dereinst in einer andern Welt zu dem Bewußtsein eines Unrechts erwachest, entsetzlich genug, um sogar die Freuden des Paradieses zu vergällen. Bis jetzt war dir dein Reichtum eine unaufhörliche Quelle des Unglücks und hat dich veranlaßt, allen zu mißtrauen, und dir ein Grab gegraben, noch bevor du tot bist, ein Grab von Mißtrauen und Qual.«

Und dann erzählte Mr. Chuzzlewit, wie er schon ganz im Anfang zuweilen daran gedacht habe, es könne sich zwischen Martin und Mary ein Liebesverhältnis entspinnen; er habe sich darin gefallen, sich die Zeit vorzustellen, wo er das Wachsen dieser jungen Liebe beobachten, die Liebenden schließlich scheinbar mit Bedenklichkeit beiseite nehmen und zur Rede stellen, ihnen zuletzt aber gestehen würde, daß es für ihn selbst ein Herzenswunsch sei, sie vereinigt zu sehen und, wie er hoffe, durch seine väterliche Liebe für sie und die Sorge um ihr Glück sich verdiente Ansprüche an ihre Liebe zu sichern, die ihm seinen Lebensabend glücklich machen solle; und wie er diesen Plan kaum gefaßt hatte, und die Wonne, für das Glück anderer sorgen zu können, noch neu und unbestimmt vor ihm lag, sei Martin gekommen und habe ihm schroff herausgesagt, er habe bereits gewählt. Das habe ihm denn gar nicht gefallen, da dadurch sein Plan allen Reizes entbehrte; überdies habe er sich, als er die Entdeckung machte, Mary erwidere die Liebe seines Neffen, mit dem Gedanken gequält, die beiden seien trotz ihrer Jugend und der ihnen erwiesenen Wohltaten bereits wie alle übrigen tief bis ins Mark selbstsüchtig geworden. Aus Bitterkeit über diesen Eindruck und infolge seiner früheren Lebenserfahrungen habe er Martin die herbesten Vorwürfe gemacht, dabei aber ganz vergessen, daß er niemals sein Vertrauen in einer derartigen Hinsicht großgezogen habe. Infolgedessen sei es zwischen ihnen zu heftigen Worten gekommen, und sie seien im Zorn auseinandergegangen. In jener Nacht, als er im »Drachen« erkrankte, habe er ihn noch immer geliebt und sich auch von ihm geliebt gehofft, im geheimen einen zärtlichen Brief an ihn geschrieben und ihn darin zu seinem Erben ernannt und seiner Verbindung mit Mary seinen Segen gegeben. Die Zusammenkunft mit Pecksniff habe ihn dann wieder mißtrauisch gemacht, so daß er das Papier wieder verbrannt und sich auf seinem Krankenlager mit Argwohn, Zweifeln und Reue abgequält habe.

Dann berichtete er, wie er sich vorgenommen, diesen Pecksniff wie auch Marys Treue und Anhänglichkeit sowohl gegen ihn selbst als auch gegen Martin auf die Probe zu stellen, und wie er durch ihre Sanftmut und Geduld, besonders aber durch die Herzensgüte, schlichte Einfachheit und männliche Treue Tom Pinchs milder und milder gegen die Menschen gestimmt worden. Als er von Tom sprach, rief er mit Tränen in den Augen Gottes Segen auf ihn herab, denn Pinch sei, sagte er, obschon er auch ihn anfangs beargwöhnt habe, wie ein Frühlingsregen für sein Gemüt gewesen und habe ihm den Glauben an die Menschheit wiedergegeben.

Martin ergriff Mr. Pinchs Hand, und ein gleiches taten auch Mary und John, Mark, Mrs. Lupin und die kleine Ruth nicht zu vergessen. Seliger, tiefer, ruhiger Friede zog in Toms Herz ein.

Und dann erzählte der Alte, wie hochherzig Mr. Pecksniff »seine Pflicht der Menschheit gegenüber erfüllt«, als er damals Tom entließ. Oft und oft habe er Pecksniff über John Westlock schimpfen hören, und da er diesen als Toms Freund kannte, so habe er durch Vermittelung seines vertrauten Agenten und Advokaten in der Stadt den kleinen Kunstgriff angewendet, der Mr. Pinch instand setzte, eine geordnete Beschäftigung zu finden. Dann kam er noch einmal auf die Szene zu sprechen, wo der junge Martin ihn um seine Verzeihung gebeten hatte. »Und schon deswegen«, wendete er sich an Mr. Pecksniff, »Würde ich dir den Strick des Galgens nicht vom Halse nehmen, und wenn ich es nur durch eine Bewegung des kleinen Fingers tun könnte.«

»Dein Nebenbuhler, lieber Martin«, fuhr er fort, »war dir zwar nie gefährlich, aber Mrs. Lupin hat doch wochenlang die Duenna spielen müssen, nicht so sehr, um deine Geliebte, als vielmehr, um ihren schuftigen Bewerber zu beobachten; denn dieser Vampir« – Mr. Chuzzlewits Fruchtbarkeit im Erfinden neuer Schmähnamen für den Heuchler war erstaunlich – »hätte sie sonst täglich bei jedem Schritt, den sie ins Freie tat, behelligt und ihr die frische Luft vergiftet; und schau nur, wie ihre Hand zittert – sieh mal, ob du sie halten kannst, Martin!«

Halten? Martin drückte Mary nicht bloß die Hand, nein, er umschlang sie, aber er war so ergriffen von der Treue seines Freundes, daß er in der Höhe seines Glückes immer noch eine Hand frei hatte, um sie nach Tom Pinch auszustrecken, und rufen konnte:

»Ach, Tom, lieber lieber Tom, ich sah Sie zufällig hierher gehen – verzeihen Sie mir.«

»Verzeihen?« rief Tom. »Ich verzeihe Ihnen mein Lebtag nicht, Martin, wenn Sie noch ein Wort darüber verlieren. Ich wünsche Ihnen beiden Glück und Segen – fünfzigtausendmal, mein lieber Freund!«

»Ich bitte um Verzeihung, Sir«, mischte sich jetzt Mr. Tapley ein und trat vor. »Sie haben soeben eine Dame namens Lupin erwähnt, Sir.«

»Allerdings«, versetzte der alte Mann.

»Ja, Sir. – Ein hübscher Name, Sir, nicht wahr?«

»Ein sehr guter Name, daran ist nicht zu zweifeln.«

»Fast ist es schade, einen solchen Namen in ›Tapley‹ umzuwandeln. – Sind Sie nicht auch der Meinung?« fragte Mark.

»Das hängt ganz von der Dame selbst ab. Was hält denn sie von der Sache?«

»Nun«, erwiderte Mr. Tapley und zog sich mit einer Verbeugung gegen Mr. Chuzzlewit zu der hübschen Wirtin zurück, »ihre Ansicht ist, der Name wäre vielleicht kein guter Tausch, aber vielleicht die Person, und deshalb, wenn niemand von einem bestehenden Ehehindernisse etwas weiß und so weiter, und so weiter, so soll der ›Blaue Drache‹ in den ›Fidelen Tapley‹ verwandelt werden. Der Titel ist meine eigene Erfindung, Sir; neu und vielsagend.«

Alles das war für Mr. Pecksniff eine solche Labsal, daß er die ganze Zeit über, mit zu Boden gesenkten Augen und abwechselnd seine Hände verkrampfend, dastand, als ob ein ganzes Schock von Strafurteilen gegen ihn verkündet worden wäre. Nicht nur seine ganze Gestalt schien gebrochen, seine Verstörtheit schien sich auch auf seine Kleider zu erstrecken; sie sahen jetzt plötzlich ganz schäbig aus: die Wäsche war gelb, sein Haar muffiger und glanzloser als sonst, sogar seine Stiefel hatten ein trübes, schuftiges Aussehen, als sei ihr Glanz mit dem ihres Herrn für immer verschwunden.

Er fühlte mehr, als er sah, daß der alte Mr. Chuzzlewit jetzt nach der Türe deutete. Er blickte auf, nahm seinen Hut vom Boden und sprach: »Mr. Chuzzlewit, Sie haben meine Gastfreundschaft genossen –«

»– und sie bezahlt«, war die Antwort.

»Ich danke Ihnen. Das erinnert mich«, sagte Mr. Pecksniff und zog sein Taschentuch heraus, »an Ihre alte vertraute Offenherzigkeit. Sie haben’s bezahlt. Ich wollte es eben selbst sagen, aber Sie haben mich auch hintergangen, Sir! Auch dafür danke ich Ihnen. Sie im Vollbesitz Ihrer Gesundheit und Ihrer Kräfte zu sehen ist für mich Entschädigung genug. Betrogen zu werden ist das Los des Sterblichen. Mein Herz ist immer noch vertrauensvoll, und ich danke Gott dafür. Ich bin lieber leichtgläubig und will betrogen werden als mißtrauisch sein und selbst betrügen.«

Dann verneigte er sich mit bekümmertem Lächeln und wischte sich die Augen.

»Es ist auch nicht einer gegenwärtig, Mr. Chuzzlewit«, fuhr er fort, »von dem ich nicht getäuscht worden wäre. Aber ich habe Ihnen allen sofort vergeben; es war meine Pflicht, und ich habe sie erfüllt. Ob es würdig von Ihnen war, meine Gastfreundschaft anzunehmen und in meinem Hause eine solche Komödie zu spielen, das, Sir, ist eine Frage, deren Beantwortung ich Ihrem eigenen Urteil überlassen will. Ihr Gewissen wird Sie nicht freisprechen können. Nein, nein. Man hat mich heute geschlagen, geschlagen mit einem Spazierstock, der, wie ich allen Grund zu haben glaube, mit Knoten versehen ist – und zwar auf den edelsten Teil des menschlichen Körpers: auf das Gehirn. Aber noch schwerere Schläge, Sir, wurden ohne Spazierstock nach jenem noch edleren Teil meines Körpers geführt – nach dem Herzen. Sie haben gesagt, Sir, ich sei materiell bankerott; ja, Sir, so ist es. Durch eine unglückselige Spekulation, die abermals mit Verrat verbunden war, sehe ich mich der Armut preisgegeben, und zwar zu einer Zeit, Sir, wo das Kind meines Herzens zur Witwe wurde und Schmach und Trauer in mein Haus eingezogen sind.«

Abermals wischte sich Mr. Pecksniff die Augen und schlug sich ein paarmal leicht auf die Brust, als antworte er den leisen Schlägen seines Gewissenshammers von innen und wie um zu sagen: nur Mut gefaßt, alter Freund da drinnen.

»Ich durchschaue das menschliche Herz, aber trotzdem vertraue ich ihm immer wieder, das ist meine Schwäche. Weiß ich denn nicht, Sir« – hier wurde seine Stimme ungemein kläglich und man bemerkte, daß er einen Blick nach Tom Pinch hinwarf – »weiß ich denn nicht, daß ich es nur meiner unglücklichen Lage verdanke, so behandelt zu werden? Sonst hätte ich wohl nie anhören müssen, was ich heute zu hören bekam. Ich weiß, Mr. Chuzzlewit, daß in der Stille und Einsamkeit der Nacht eine kleine zarte Stimme Ihnen in das Ohr raunen wird: ›Mr. Chuzzlewit, das war nicht wohlgetan!‹ – Denken Sie gütigst daran, Sir, wenn die Leidenschaft und die Einflüsse des Vorurteils von Ihnen gewichen sein werden – wenn ich mir einen so starken Ausdruck erlauben darf. Und wenn Sie je an Ihr dereinstiges stummes Grab denken, Sir – Sie müssen mich entschuldigen, daß ich nach dem Benehmen, zu dem Sie sich hinreißen ließen, immerhin gewisse Zweifel hege, ob Sie dessen überhaupt fähig sind –, aber, wenn Sie je an Ihr dereinstiges stummes Grab denken, Sir, so denken Sie dabei auch an mich! Wenn Sie sich Ihrem dereinstigen stummen Grabe näher fühlen, Sir, so denken Sie ebenfalls an mich! Und wenn Sie um eine Aufschrift für Ihr dereinstiges stummes Grab verlegen sind, Sir, so lassen Sie darauf setzen, daß ich – jawohl, mein wertgeschätzter Herr, daß ich, das demütige Individuum, das jetzt die Ehre hat, Ihnen Vorwürfe zu machen – Ihnen vergeben habe, daß ich Ihnen bereits vergeben habe, als die Kränkung noch frisch war und mein Herz noch blutete. Es mag bitter für Sie klingen, dies jetzt anhören zu müssen, aber Sie werden es erleben, daß Sie dereinst noch einen Trost darin finden werden. Mögen Sie einen Trost darin finden, sobald Sie ihn brauchen. – Guten Morgen.«

Mit diesen erhabenen Worten entfernte sich Mr. Pecksniff, jedoch der Effekt seines Abschiedes wurde sehr durch den Umstand beeinträchtigt, daß er unmittelbar darauf beinahe umgerannt wurde von einem außerordentlich erhitzten kleinen Männchen in Manchester-Kniehosen und mit einem sehr hohen Hut, das wie verrückt die Treppe heraufgerast kam und buchstäblich in Mr. Chuzzlewits Zimmer hereinstürzte.

»Ist keiner da, der ihn kennt?« rief das kleine Männchen. »Ist niemand da, der ihn kennt? Mein Gott, ist denn keiner da, der ihn kennt?«

Die Anwesenden blickten einander fragend an, aber niemand wußte, wer der kleine Mann mit dem hohen Hute war, der da, wie außer sich und so schnell wie möglich zum Zimmer herein und wieder hinaus lief, so daß sein Paar hellblaue Strümpfe wie ein ganzes halbes Dutzend aussah, und mit hoher Stimme fortwährend wiederholte: »Ist denn keiner da, der ihn kennt?«

»Wenn in Ihrem Gehirn net alles drunter und drüber geht, Mr. Sweedlepipe«, rief eine andere Stimme draußen, »so halten S‘ gfälligst den Mund, wenn ich bitten darf.«

Einen Augenblick später erschien Mrs. Gamp auf der Schwelle. Das mühsame Stufensteigen hatte sie ganz des Atems beraubt, und sie keuchte fürchterlich, ohne dabei jedoch zu vergessen, rastlos zu knicksen.

»Sie müssen dem Menschen seine Schwächen net übelnehmen«, erklärte sie und blickte Mr. Sweedlepipe mit Entrüstung an. »I hätt mir’s ja denken können, da ich ’n ja kenn, und das gscheiteste wär gwesen, er wär von der Brücken ins Wasser gfalln und ersoffen, ehe ich ’n herbracht hab. Eben erst vor einer Stund hat er dem Vatter von so einer liebenswürdigen Famülie, wie nur je eine drei Paar Zwilling auf die Welt bracht hat, beinah die Nasen abrasiert, Mr. Chuzzlewit. Und es war auch sicher gschegn, wenn der betreffende Herr sich net in ’n Spiegel gschaut hätt und dem Rasiermesser gschickt ausgwichen war. Ich versicher Ihna, Mr. Sweedlepipe, niemals hab i mir denkt, was dös für a großes Malöhr is, mit Ihna bekannt zu sein, wie grad eben jetzt. So, jetzt wissen S‘ es, wie Sie dran sin.«

»Ich bitte um Entschuldigung, meine Damen und Herren«, rief der kleine Barbier und nahm seinen Hut ab, »und auch Sie, Mrs. Gamp. Aber – aber –« er fing fast an zu weinen, »ist denn niemand da, der ihn kennt?« – In diesem Augenblick wankte ein Phantom in Stulpenstiefeln mit verbundenem Kopf herein und begann, wahrscheinlich in der Meinung, daß er schnurgeradeaus gehe, im Zimmer zu kreisen.

»Schauen Sie ihn nur an«, rief der kleine Barbier entzückt, »da ist er. Und in ein paar Tagen wird ihm die Binde abgenommen, und dann ist alles wieder gut. Er ist ebensowenig tot wie ich. Ganz lebendig und kräftig – nicht wahr, Bailey?«

»So – o – ziemlich, Poll«, versetzte der junge Mann.

»Schauen Sie nur her«, fuhr der kleine Barbier fort, in einem Atem lachend und weinend. »Wenn ich ihn stütze, so fehlt ihm fast gar nichts mehr. So, so ist’s recht. Nur ein bißchen erschüttert und schwindlig ist er, nicht wahr, Bailey?«

»Zie – ziemlich schwindlig. Poll – ziemlich schwindlig«, bestätigte Master Bailey »Was, und Sie, liabe Sarah, sin a do?«

»Nein, was ist das nur für ein famoser Junge!« rief der weichherzige Poll und schluchzte vor Seligkeit. »Noch nie hab ich einen solchen Burschen gesehen! Lauter Witz und immer gut aufgelegt. Er soll in mein Geschäft eintreten – es ist ausgemacht bereits –, und wir wollen ›Sweedlepipe & Bailey‹ auf das Schild drucken lassen. Er bekommt die Vogelabteilung, und ich besorge das Rasieren. Sobald er wieder ganz wohl ist, will ich ihm alle Vögel übergeben – den kleinen Blutfinken im Laden und alles. Nein, was das für ein prächtiger Bursche ist! Ich bitte um Verzeihung, meine Damen und Herren, aber ich dachte, es könne jemand hier sein, der ihn kennt.«

Nicht ohne Eifersucht und Grimm hatte Mrs. Gamp bemerkt, daß Mr. Sweedlepipe und sein junger Freund einen sehr günstigen Eindruck bei den Anwesenden gemacht hatten. Sie geriet also sozusagen in den Hintergrund. Da galt es sich rasch wieder hervordrängen.

»Ja, ja, die Harris, lieber Mr. Chuzzlewit«, begann sie aus dem Stegreif, »die kennt ihn auch. Sie hat a ganz einzigs liabs kleins Kind – wenn sie auch net will, daß es rum kommt – aus ihrer eigenen Familie von der Mutterseiten her in einer Spiritusflaschn aufbewahrt. Und grad dös liabe Kind hat sie a mal sehgn müssen auf der Kirchweih zsamm mit an preußischen Zwerg und an lebendigem Skelett in aner Schaubuden. Da kann mer sich so ihre Gefühle denken, wie die Drehorgel gspielt hat und man ihr das Kind ihrer eignen liaben Schwester zeigt hat, was sie nach dem Bild auf der Außenseiten und auf die Plakaten gar net erwartet hat, denn es war ganz anders abgmalt, als im lebendigen Zustand, und viel größer, und grad wie’s auf der Harfen spielt, und dös hat das Kind, wie sie ganz genau gwußt hat, niemals nicht können – nein, niemals nicht, solange es in diesem Jammertal geatmet hat. – O mein, die Harris hat mich viele Jahre kennt und kann Ihna Auskunft geben, daß die verwitwete Dame, von der Sie ja auch wissen, die Mrs. Jonas, nix Bessers tun kann, als mich zu ihrer Wärterin annehmen. Und hoffentlich wird sie’s auch tun – mit Erlaubnis der guten liaben Herrschaften natürlich –, die i da vor mir siech.«

»Ach so«, rief Mr. Chuzzlewit, »das ist also Ihr Anliegen! – Wurde denn die gute Frau für ihre Mühe, die wir verursachten, nicht bezahlt, Mr. Tapley?«

»Natürlich hab ich sie bezahlt«, erwiderte Mark, »und zwar sehr reichlich.«

»Ja, ja, dös is schon alles wahr«, sagte Mrs. Gamp, »und i dank auch noch recht schön für alls.«

»Und damit wollen wir auch unsere Bekanntschaft schließen, Mrs. Gamp«, unterbrach sie Mr. Chuzzlewit, »und Sie, Mr. Sweedlepipe – ist das nicht Ihr Name?«

»Ja, so heiße ich, Sir«, versetzte Poll und nahm entzückt einige klingende Münzen entgegen, die ihm der alte Herr in die Hand gleiten ließ.

»Also, Mr. Sweedlepipe, sorgen Sie nach Kräften für Ihre Mietsfrau und erteilen Sie ihr hin und wieder einen guten Rat. Deuten Sie ihr zum Beispiel an«, setzte der alte Herr hinzu und blickte die erstaunte Mrs. Gamp ernst an, »daß es zweckmäßiger wäre, wenn sie ein bißchen weniger zur Schnapsflasche griffe und ein bißchen mehr Menschlichkeit bewiese, ein bißchen weniger Rücksicht für sich selbst und ein bißchen mehr für ihre Patienten; auch eine kleine Dosis von Ehrlichkeit würde ziemlich am Platze sein. Und wenn Mrs. Gamp einmal in Ungelegenheiten kommt, Mr. Sweedlepipe, so wäre es am besten für sie zu einer Zeit, wo ich nicht gerade im Gerichtssprengel wohne, um als Zeuge über ihren Charakter einvernommen werden zu können. Haben Sie vielleicht die Güte, ihr dies gelegentlich mit Nachdruck beizubringen.«

Mrs. Gamp schlug die Hände zusammen und verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße sichtbar war. Dann stupste sie sich den Hut zurück, um ihre erhitzte Stirn zu kühlen, und murmelte dabei entsetzt vor sich hin:

»Weniger Schnaps! – Ich, die Sarah Gamp? – Die Flasche steht doch nur auf ‚m Kamin, damit i meine Lippen dran setzen kann, wann i’s grad notwendig hab.«

Dann fiel sie in eine ihrer dramatischen Ohnmachten und ließ sich von Mr. Sweedlepipe in bemitleidenswertem Zustande hinausführen. Der arme Raseur hatte alle Hände voll zu tun, um zwischen seinen beiden Patienten, der »ohnmächtigen« Mrs. Gamp und dem taumelnden Bailey, seinen Weg zur Türe hinauszufinden.

Lächelnd blickte ihnen der alte Herr nach, bis endlich seine Augen auf Tom Pinchs Schwester ruhen blieben. Dann leuchteten sie freudig auf.

»Wir wollen hier alle zu Mittag essen«, sagte er, »und da du mit Mary genug zu plaudern haben wirst, Martin, so könnt ihr beide für uns bis Nachmittag mit Mr. und Mrs. Tapley den Haushalt hier besorgen. Inzwischen will ich mir Ihre Wohnung mal ansehen, Tom.«

Mr. Pinch war ganz entzückt. Ruth ebenfalls. Sie wollte natürlich mitgehen.

»Nein, ich danke Ihnen, meine Liebste«, wehrte Mr. Chuzzlewit ab. »Ich fürchte, Tom wird mit mir vorher in Geschäften noch einige Wege machen müssen. Was, wenn Sie vorausgingen, meine Liebste?«

Auch dazu war die hübsche kleine Ruth mit Freuden bereit.

»Aber nicht allein! Vielleicht wird Mr. Westlock Sie begleiten?«

Natürlich wollte er das. Nein, wie kindisch so alte Leute doch sind!

»Sie sind doch nicht etwa anderweitig vergeben?« fragte der alte Herr.

Vergeben! Als ob man sich in einem solche Falle anderweitig vergeben könnte!

Dann entfernte sich das Pärchen, und einige Minuten später folgten ihnen Tom und Mr. Chuzzlewit. Für einen so ernsten Herrn wie den alten Martin war das Lächeln auf seinem Gesicht ganz auffällig verschmitzt.