42. Kapitel

Wie Mr. Jonas‘ und seines Freundes Unternehmen ablief

Die Prophezeiung des Doktors in bezug auf die Nacht ging bald in Erfüllung. Wenn auch der Himmel nicht zu Joblings Patienten zählte und diesen auch keine dritte Person aufgefordert hatte, ein Gutachten über den Fall abzugeben, so lieferte er dennoch auch diesmal einen Beweis von der Richtigkeit seiner Diagnosen – wenn auch das bedrohliche Aussehen des Abends eine solche nicht besonders schwierig machte. Es war eine jener stillen schwülen Nächte, wo die Leute am Fenster sitzen, auf den Donner horchen und mit jedem Augenblick auf das Losbrechen des Gewitters warten – eine der Nächte, in denen man sich gern unheimliche Geschichten von Orkanen und Erdbeben, von einsamen Wanderern auf freier Ebene und von Schiffen auf der See, die vom Blitz getroffen werden, erzählt. Da und dort flammte bereits ein Blitz an dem schwarzen Horizonte auf, und der Wind heulte hohl in der Ferne, wie als Träger des Echos des Donners weit hinter den Wolken. Immer rascher zog sich das Unwetter zusammen, und die Stille wurde um so feierlicher, als die Luft voll Ahnung eines fernen Tosens schien.

Es war sehr dunkel, und an dem düstern Himmel zeigten sich Wolkenmassen von fahlem Licht, wie ungeheure Kupferklumpen, die nach dem Erhitzen im Ofen allmählich erkalten. Langsam und unaufhaltsam waren sie heraufgezogen und standen jetzt fast regungslos wie eine Mauer, und als der Vierspänner an den Straßenecken vorüberrasselte, kam er überall an Menschengruppen vorbei, die – meistens ohne Hut auf dem Kopf – aus ihren nahen Wohnungen herausgekommen waren, um sich die Wolkengebilde zu betrachten. Dann fingen einige große schwere Tropfen an zu fallen, und der Donner grollte in der Ferne.

Jonas saß in einer Ecke im Wagen und hielt die Flasche auf seinen Knien so fest in der Hand, als wolle er ihren Hals zerbrechen. Unwillkürlich in die dunkle Nacht hinausblickend, hatte er das Paket Karten auf den Polstersitz gelegt, als sein Begleiter aus einem unbestimmten Drange heraus die Lampe auslöschte. Die Vorderfenster waren herabgelassen, und so blieben die beiden stumm sitzen und sahen schweigend auf die unheimliche Landschaft hinaus.

Sie hatten London im Rücken – das heißt so gut wie im Rücken, da sie sich noch auf der ersten Station nach Westen zu befanden. Hin und wieder begegneten sie einem Fußgänger, der dem nächsten schützenden Dache zueilte, oder einem schwerfälligen Frachtwagen, der in starkem Trabe demselben Ziele zustrebte. Kleine Gruppen solcher Fuhrwerke umstanden die Ställe oder Fütterungsplätze jedes Gasthauses an der Straße, während die Kutscher an offenen Fenstern und Türen das Wetter beobachteten oder drinnen in den Wirtsstuben zechten. Überall legten die Menschen die Neigung an den Tag, sich zusammenzuschließen, so daß ganze Gruppen Gesichter vor fast jedem Hause den vorüberfahrenden Vierspänner mit neugierigen Blicken verfolgten.

Es klingt vielleicht sonderbar, daß dies Jonas störte, aber dennoch war es der Fall. Er brummte jedesmal dabei etwas vor sich hin und rückte unruhig auf seinem Sitze hin und her. Dann wieder zog er den Fenstervorhang herunter und lehnte sich mürrisch an die Seitenwand. Dabei blickte er jedoch weder seinen Reisegefährten an, noch unterbrach er durch ein Wort das Stillschweigen, das zwischen ihnen herrschte.

Der Donner rollte, die Blitze leuchteten, und der Regen strömte gleich einer Sintflut hernieder. Eine Sekunde lang von blendender Helle umgeben, dann wieder in pechfinstere Nacht getaucht, setzten sie noch immer ihre Reise fort. Als sie das Ende der Station erreichten, wollten sie nicht bleiben, sondern bestellten sofort neue Pferde. Es war nicht etwa deshalb, weil das Ungewitter fünf Minuten lang den Anschein hatte, als ob es vorübergehen wolle, sondern, sozusagen, aus innerem Zwange heraus. Obgleich sie keine zwölf Worte miteinander wechselten und ganz gut hätten irgendwo einkehren können, so schienen sie doch instinktiv zu fühlen, daß sie vorwärts mußten.

Lauter und lauter grollte der Donner, nachhallend, als rolle er durch Myriaden von Säulengängen irgendeines Riesentempels am Firmament, und ungestümer und blendender zuckten die Blitze, und immer schwerer prasselte der Regen hernieder. Die Pferde – sie reisten jetzt nur noch mit einem einzigen Paar – stutzten alle Augenblicke und bäumten sich vor den Bächlein zitternden Feuers, die sich auf der Erde in den Pfützen vor ihnen wie Schlangen fortzubewegen schienen, aber wortlos blieben die beiden sitzen, und fort ging’s, als würde der Wagen durch einen unsichtbaren Zauber fortgezogen.

Beim jedesmaligen Aufzucken der Blitze sahen sie in einer einzigen Sekunde eine Menge von Gegenständen, die sie am hellen Mittag nicht in fünfzigmal so langer Zeit auf einmal hätten überblicken können: die Glocken, wie sie in den Kirchtürmen hingen mit Seil und Rad, struppige Vogelnester in Ritzen und Spalten, bestürzte Gesichter in den leinwandbedachten Wagen, die sich vorüberschleppten und deren erschrockenes Gespann entsetzt Lärm schlug, was aber die Stimme des Donners sofort übertönte; – Egge und Pflug, stehengelassen auf den Feldern –, meilenweite Strecken von heckendurchzogenem Land, mit Baumreihen in weiter Ferne, die ebenso deutlich zu sehen waren wie die Vogelscheuche in dem Bohnenfeld dicht daneben, alles stand in zitterndem, blendendem, flüchtigem Nu deutlich und klar vor ihnen. Erst ging der gelbe Lichterglanz in ein feuriges Rot über, dann wieder wurde es blau, weiß, hell und grell, daß man gar nichts mehr sehen konnte als das blendende Licht, und dann war wieder alles in tiefste Finsternis gehüllt.

Ein Blitz in seiner zackigen, blendenden Gestalt schien einen Augenblick lang eine seltsame optische Täuschung vor Mr. Montagues Augen erzeugt zu haben. Gleich darauf war wieder alles vorüber. Er vermeinte eine Sekunde lang Jonas‘ aufgehobene Hand gesehen zu haben, die Flasche wie einen Hammer umkrallend, als wolle er sie auf seinen Kopf niedersausen lassen; zugleich bemerkte er – oder glaubte zu bemerken –, daß in Jonas‘ Gesicht ein Ausdruck voll so furchtbarer Aufregung, voll so grimmigen Hasses und blinder Furcht lag, daß er unwillkürlich einen Schrei ausstieß und dem Kutscher zurief zu halten.

Offenbar mußte er sich getäuscht haben, denn, obgleich er kein Auge von seinem Begleiter verwandt hatte, konnte er doch keine Bewegung an diesem wahrnehmen. Jonas Chuzzlewit saß in seiner Ecke zurückgelehnt wie zuvor.

»Was gibt’s?« fragte Jonas. »Schreien Sie immer so auf, wenn Sie erwachen?«

»Ich möchte darauf schwören«, brummte Mr. Tigg, »daß ich meine Augen die ganze Zeit über offen hatte.«

»Nun, wo Sie’s jetzt beschworen haben«, sagte Jonas kühl, »so glaube ich, wäre es vielleicht das beste, wir fahren wieder weiter; vorausgesetzt, daß das der einzige Grund ist, weshalb Sie haltgemacht haben.«

Damit entkorkte er die Flasche mit den Zähnen, setzte sie an den Mund und tat einen langen Zug.

»Ich wollte, wir hätten diese Reise nicht angetreten«, stöhnte Mr. Montague, sich instinktiv in seine Ecke drückend, und mit einer Stimme, die deutlich seine innere Aufregung verriet, »das ist keine Nacht zum Reisen.«

»Donnerwetter noch mal, da haben Sie recht«, krächzte Jonas, »und wir wären auch gar nicht hier, wenn Sie nicht darauf gedrungen hätten. Würden Sie mich nicht den ganzen Tag hingehalten haben, so könnten wir jetzt ganz behaglich in Salisbury in einem guten Hotelbett schlafen. Warum machen Sie denn schon wieder halt?«

Mr. Tigg hatte den Kopf einen Augenblick zum Fenster hinausgesteckt und sagte, als er ihn wieder hereinzog, der Grund sei, daß der Junge bis auf die Haut durchnäßt sein müsse.

»Geschieht ihm ganz recht«, brummte Jonas. »Freut mich nur. Was, zum Teufel, brauchen Sie da halten zu lassen? Wollen Sie ihn vielleicht zum Trocknen aufhängen?«

»Ich hätte eigentlich Lust, ihn herein in den Wagen zu nehmen«, bemerkte Mr. Montague zögernd.

»Na, dafür bedanke ich mich bestens«, sagte Jonas. »Weiter fehlte uns gerade nichts. Den durchnäßten Burschen auch noch hier zu haben! Lassen Sie ihn nur, wo er ist; er fürchtet sich nicht vor dem bißchen Donnern und Blitzen, dächte ich, wenn auch andere sich fürchten. Fahren Sie nur zu, Kutscher – oder möchten Sie vielleicht auch den hereinnehmen?« höhnte er. »Und die Pferde dazu?«

»Fahren Sie nicht wieder so toll drauflos wie vorhin«, ermahnte Mr. Montague den Kutscher, »und geben Sie ein bißchen acht. Sie waren verwünscht dicht am Graben, als ich Sie vorhin anrief.«

Davon war nicht ein Wort wahr, und Jonas sagte es auch brüsk heraus, als sie wieder weiterfuhren. Mr. Montague nahm jedoch wenig oder gar keine Notiz davon, sondern wiederholte bloß, es sei »keine Nacht zum Reisen«. Und sowohl jetzt wie auch später verriet er ununterbrochen eine große Ängstlichkeit.

Jonas hingegen hatte seine frühere gute Laune wiedergewonnen, wenn man diese Bezeichnung auf den Zustand anwenden kann, in dem er die Stadt verlassen hatte. Immer wieder führte er die Flasche zum Mund, sang einzelne Strophen aus Liedern, mißtönend und ohne auf die Melodie Rücksicht zu nehmen, und nötigte dadurch seinen stummen Freund, in seine Lustigkeit mit einzustimmen.

»Sie sind der beste Gesellschafter von der Welt, lieber Freund«, sagte Mr. Montague mit gepreßter Stimme, »und im allgemeinen unwiderstehlich. Aber diese Nacht – – haben Sie jetzt gehört?«

»Donnerwetter noch mal, natürlich höre ich’s und sehe es obendrein«, rief Jonas, vor dem Blitz, der in diesem Augenblick das ganze Firmament durchzuckte, sich die Augen beschattend. »Aber was weiter? Geht das Sie oder mich oder unsere Angelegenheiten an, was? Chorus! Chorus!

Soll es blitzen durch den Sturm,
Bis es treibt den roten Wurm
Aus dem Feld, draus Galgen ragen.
Toten hat der Blitz nichts an;
Retten kann sich nicht der Mann,
Dessen letzte Stund geschlagen.

Famoses altes Lied«, schloß er mit einem Fluch, als er, fast über sich selbst verwundert, in seinem Gesange innehielt. »Ich hab’s seit meiner Knabenzeit nicht mehr gehört. Weiß der Teufel, wie’s mir gerade jetzt in den Kopf kommt. Vielleicht hat mir’s der Blitz hineingejagt. ›Den Toten hat der Blitz nichts an‹, nein, nein, und ein Entrinnen gibt’s auch nicht, selbstverständlich nicht. Hahaha.«

Seine Fröhlichkeit hatte etwas so seltsam Schauerliches und paßte so unbeschreiblich gut zu dem Schrecken der Nacht, die sie roh verhöhnte, daß Mr. Montague, der ohnedies eine Memme von Haus aus war, vor ihm förmlich zurückbebte. Statt daß Jonas sein Werkzeug gewesen wäre, waren jetzt die Rollen vertauscht. Aber auch das ließe sich beruhigend erklären, dachte Mr. Montague. Das Bewußtsein der Erniedrigung mußte einen solchen Menschen antreiben, sich mit lärmender Ausgelassenheit zu betäuben, um seine wirkliche Lage zu vergessen. Für solche Dinge hatte Mr. Montague aus Erfahrung einen scharfen Blick, und er zögerte daher nicht, dieses Argument in seiner ganzen Gewichtigkeit anzuerkennen. Dennoch wollte ihn ein gewisses unheimliches Gefühl nicht verlassen, und er fühlte sich verzagt und unruhig.

Geschlafen hatte er nicht – das wußte er gewiß. Aber eine optische Täuschung war immerhin möglich, und, wenn er jetzt Jonas in einem von Blitzlicht erhellten Moment ansah, so war es ihm ein leichtes, sich seine Gestalt in jeder Haltung, die dem Zustand seines Geistes entsprach, vorzustellen. Andererseits war er sich klar darüber, daß Jonas natürlich keinen Grund haben konnte, ihn zu lieben, und selbst im Falle, daß er sich die Pantomime, die er gesehen zu haben glaubte, nicht als die Ausgeburt seiner Phantasie, sondern als wirklich stattgefundene Gebärde dachte, so mußte er immerhin sagen, daß sie tatsächlich im Einklang stand mit Mr. Chuzzlewits offenkundig diabolischer Stimmung und den Anschein von Wahrheit in sich trug.

»Wenn er mich mit seinem bloßen Wunsche töten könnte«, dachte Mr. Tigg, »würde ich wohl am längsten gelebt haben.«

Er nahm sich daher vor, Jonas die Kandare so fest wie möglich anzuziehen, wenn er ihn einmal gehörig ausgenutzt haben werde; vorläufig jedoch konnte er nichts Besseres tun, als ihn seinen eigenen Weg gehen zu lassen und seine seltsame Heiterkeit nicht zu stören; und es war kein besonders großes Opfer, ihn vorläufig gewähren zu lassen. »Wenn er mir die Kastanien aus dem Feuer geholt hat«, sagte sich Mr. Montague, »gehe ich sowieso übers große Wasser und habe die Lacher auf meiner Seite und den Gewinn in der Tasche obendrein.«

Mit derartigen Betrachtungen vertrieb er sich Stunde um Stunde, denn er befand sich in jenem gewissen Gemütszustand, wo dieselben Gedanken immer wieder von neuem ihren Kreislauf beginnen. Jonas hingegen, der alles Grübeln aufgegeben zu haben schien, vertrieb sich die Zeit wie bisher. Sie waren übereingekommen, nach Salisbury und am nächsten Morgen zu Mr. Pecksniff hinüberzufahren, und bei der Aussicht, seinen vortrefflichen Schwiegervater übers Ohr hauen zu können, wurde Jonas womöglich noch ausgelassener als früher.

Weiter rückte die Nacht vor, immer seltener dröhnte der Donner, nur mehr dumpf und traurig in der Ferne grollend. Auch die Blitze, wenn auch noch ziemlich hell und häufig, waren im Vergleich zu früher harmloser geworden; bloß der Regen strömte so heftig wie anfangs.

Zu ihrem Unglück hatten sie gegen Morgengrauen und auf der letzten Station ein Paar schlecht eingefahrene Pferde bekommen. Die Tiere waren bereits im Stall durch das Ungewitter nervös geworden und erwiesen sich jetzt, wo sie in das schaurige Zwielicht herausgeführt wurden und der Glanz der Blitze vom Tageslicht noch nicht gedämpft war und alle Gegenstände sich in undeutlichen und vergrößerten Formen zeigten, noch unlenkbarer. Es kam so weit, daß sie schließlich vor jedem Baum oder Balken am Wege scheuten, endlich wild einen steilen Hügel hinunterjagten, den Kutscher aus dem Sattel warfen, den Wagen an den Rand eines Grabens hinschleppten und ihn dann mit einem Krach umwarfen. Die Reisenden hatten sofort den Kutschenschlag aufgerissen und waren herausgestürzt oder herausgesprungen. Jonas war der erste, der wieder auf den Beinen stand. Halb ohnmächtig und schwindlig taumelte er gegen ein fünffach versiegeltes Tor, an dem er sich anlehnte. Die ganze Landschaft drehte sich vor seinen Augen im Kreise, aber nach und nach kehrte sein Bewußtsein wieder, und sogleich nahm er wahr, daß Mr. Montague ein paar Schritte von den Pferden entfernt bewußtlos auf der Straße lag.

Sofort eilte er, wie von einem Dämon beseelt, zu den Pferden, zerrte mit aller Macht an ihren Zügeln und drängte die wütend ausschlagenden Tiere mit ihren Hinterhufen immer näher und näher zu dem Kopf des bewußtlos Daliegenden hin.

Dabei kämpfte er mit den Pferden mit voller Besonnenheit und machte sie durch seine Zurufe immer wilder und wilder.

»Hö!« rief er. »He, hö! Nochmal, nochmal zurück. Hallo, ho«, und als der Kutscher, der sich inzwischen erhoben, herbeigeeilt kam und ihm zurief, innezuhalten, steigerte sich noch seine Heftigkeit.

»Hallo, ho«, rief er in einem fort.

»Um Gottes willen«, heulte der Kutscher, »der Herr dort – liegt im Weg – er wird zertreten!«

Dasselbe Geschrei und die gleichen Anstrengungen waren Jonas‘ einzige Antwort. Mit Gefahr seines eigenen Lebens stürzte der Kutscher herbei und rettete Mr. Montague gerade noch im letzten Augenblick, indem er ihn durch den Straßenschmutz aus dem Bereich der Pferdehufe zerrte. Sodann eilte er auf Jonas zu. Mit Hilfe seines Messers hatte er bald die Pferde von dem zerbrochenen Wagen losgeschnitten und sie, wenn auch verletzt und blutend, wieder zur Ordnung gebracht. Dann erst hatten er und Jonas Muße, sich gegenseitig anzublicken, was bisher noch nicht der Fall gewesen.

»Ja, ja, Geistesgegenwart, Geistesgegenwart«, schrie Jonas, seine Arme wild emporwerfend, »was würden Sie ohne mich wohl angefangen haben?«

»Ich weiß nur, daß der andere Herr ohne mich bös davongekommen wäre«, brummte der Mann kopfschüttelnd. »Sie hätten ihn zuerst aus dem Wege bringen sollen! Ich habe schon gedacht, er sei verloren.«

»Geistesgegenwart, Sie Schafskopf, Geistesgegenwart«, rief Jonas und lachte gellend wie ein Verrückter. »Glauben Sie, er ist verwundet?«

Dann wandten sie sich dem noch halb ohnmächtigen Mr. Montague zu. Jonas brummte etwas vor sich hin, als er ihn unter der Hecke aufrecht sitzen und wie geistesabwesend um sich blicken sah.

»Was gibt’s?« lallte Mr. Tigg. »Ist jemand verwundet?«

»Donnerwetter nochmal«, knurrte Jonas, »es scheint nicht. Gebrochene Beine scheint’s nicht zu geben.«

Mr. Tigg richtete sich mühsam auf und versuchte ein paar Schritte zu gehen. Er schwankte zwar hin und her und zitterte heftig, aber mit Ausnahme einiger Beulen und Schrammen hatte er weiter keinen Schaden genommen.

»Risse und Quetschungen«, murrte Jonas, »haben wir alle. Wenn’s weiter nichts ist.«

»Wenn sich’s auch jetzt nur um Beulen und Quetschungen handelt«, mischte sich der Kutscher ein, »so hätte ich doch vor ein paar Sekunden keinen Pfifferling für den Kopf des Gentlemans gegeben. Wenn Ihnen je wieder ein solcher Unfall zustößt, was hoffentlich nicht der Fall sein wird, Sir, so zerren Sie gefälligst nicht an den Zügeln eines daliegenden Pferdes, wenn jemand seinen Kopf in der Nähe hat. So etwas geschieht nicht zweimal, ohne daß es nicht ein Menschenleben kostet, und so sicher, wie Sie geboren sind, wäre es auch diesmal zu etwas Derartigem gekommen, wenn ich nicht noch rasch zugesprungen wäre.«

Jonas riet ihm mit einem Fluch, den Mund zu halten und sich nach einem gewissen unterirdischen Orte zu verfügen, der wahrscheinlich mit seinen Wünschen nicht im Einklang stehe. Mr. Montague, der gespannt zugehört und sich jedes Wort genau gemerkt hatte, gab jetzt dem Thema eine andere Richtung und fragte, wo Mr. Bailey sei.

»Donnerwetter nochmal, den Affen habe ich ja ganz vergessen«, rief Jonas, »was mag wohl aus dem geworden sein?«

Sie brauchten nicht lange zu suchen.

Der unglückliche Mr. Bailey war über die Hecke oder über das fünffach verriegelte Tor hinweggeschleudert worden und lag jetzt allem Anschein nach tot in dem Felde dahinter.

»Wußt ich’s doch, es ist eine unglückselige Fahrt. Ich wünschte, ich hätte diese Reise nie angetreten!« jammerte Mr. Montague. »Ich hatte gleich eine böse Ahnung. Da sehen Sie jetzt den Jungen.«

»Na und weiter?« brummte Jonas. »Wenn Sie das das Resultat einer bösen Ahnung nennen –«

»Na, wie soll ich es denn sonst nennen?« fragte Mr. Montague aufgeregt. »Was meinen Sie übrigens damit?«

»Ich meine«, erklärte Jonas, sich über den Körper des Knaben beugend, »daß ich nie gehört habe, Sie seien sein Vater oder hätten besondere Ursache, sich um ihn so zu kümmern. Hallo! Auf da, Bursche!« Aber bei Mr. Bailey war von Aufstehen oder Sichaufrichten keine Rede mehr. Außer einem matten Schlagen des Herzens war von Leben nichts mehr an ihm zu bemerken. Nach kurzer Beratung kamen sie daher überein, daß der Postillion das am wenigsten beschädigte Pferd besteigen und den Knaben, so gut er könne, in die Arme nehmen solle, während Mr. Montague und Jonas zusammen, den Koffer tragend und das andere Pferd am Zügel neben sich, nach Salisbury zumarschieren sollten.

»Sie können in ein paar Minuten dorten sein und uns Hilfe entgegenschicken«, rief Jonas. »Halten Sie Ihr Pferd nur flott im Trab.«

»Nein, nein«, flüsterte Mr. Montague hastig, »wir wollen doch lieber beisammenbleiben.«

»Gott, was Sie für ein Hasenfuß sind. Fürchten Sie vielleicht, beraubt zu werden – was?« höhnte Jonas.

»Ich fürchte mich vor nichts«, stotterte Mr. Montague, wobei jedoch sein Blick und ganzes Wesen direkt im Widerspruch mit seinen Worten standen. »Aber wir wollen beisammenbleiben.«

»Sie hatten doch noch vor einer Minute gewaltige Besorgnisse wegen des Jungen«, wendete Jonas ein. »Sie sehen doch, daß er jeden Augenblick sterben kann.«

»Ja, ja«, gab Mr. Montague zu, »ich weiß das. Aber wir wollen trotzdem zusammenbleiben.«

Es lag auf der Hand, daß er sich nicht von seinem Entschlusse abbringen zu lassen gedachte; Jonas schwieg daher, und so eilten sie zusammen, so rasch es ging, vorwärts. Sie hatten noch drei oder vier gute Meilen vor sich, und die Beschaffenheit des Weges und der Umstand, daß sie eine schwere Last zu tragen hatten, machte ihnen den Marsch nicht leichter, aber schließlich langten sie doch an einem Wirtshause an, klopften die Leute – es war noch sehr früh am Morgen – aus den Federn, schickten Boten ab, die nach dem Wagen sehen sollten, und weckten einen Wundarzt, damit er Bailey seine Hilfe angedeihen lasse. Der Mann tat sein Bestes, gab aber sein Gutachten dahin ab, daß der Knabe eine schwere Gehirnerschütterung erlitten habe und daß seine Erdenlaufbahn wohl für immer vorüber sei.

Wäre Mr. Montagues tiefe Teilnahme bei dieser Erklärung des Arztes wirklich uneigennützig gewesen, so hätte einen das mit seinem sonst nicht gerade schätzenswerten Charakter ein wenig aussöhnen können, allein es war nicht schwer zu sehen, daß er aus irgendeinem bestimmten anderen Grunde einen besonderen Wert auf die Gesellschaft und Nähe des jungen Menschen legte. Nachdem er sich selbst von dem Wundarzt hatte verbinden lassen, zog er sich, trotzdem es bereits hellichter Tag war, in ein Schlafzimmer zurück und brütete beständig vor sich hin, offenbar von der Affäre Bailey sehr in Unruhe versetzt.

»Lieber hätte ich tausend Pfund verloren als gerade jetzt diesen Jungen«, brummte er. »Ich muß nach Hause reisen, das steht fest. Chuzzlewit soll vorausfahren, und ich werde ihm später bei gelegener Zeit nachfolgen. So wie es jetzt ist, paßt’s mir nicht«, murmelte er, sich den Schweiß von der Stirne wischend. »Noch vierundzwanzig Stunden in dieser Gesellschaft, und ich habe graue Haare.«

Trotzdem es, wie bereits gesagt, hellichter Tag war, untersuchte er mit ungewöhnlicher Vorsicht das Zimmer, schaute unters Bett, in die Wandschränke, sogar hinter die Gardinen, und dann verriegelte er die Tür, durch die er eingetreten war, und begab sich zur Ruhe.

Es war aber noch eine zweite Türe da, die von außen geschlossen war, und wohin sie führte, das wußte er nicht.

Furcht oder böses Gewissen machten, daß ihn diese Türe noch bis in den Traum verfolgte. Es war ihm, als stehe ein schreckliches Geheimnis damit irgendwie in Verbindung, ein Geheimnis, das er kannte und doch wieder nicht kannte, trotzdem er dafür verantwortlich und dabei beteiligt war. Zu diesem Traum trat noch eine zweite Vision, die ihn die Türe als Versteck eines Feindes – eines Schemens –, eines Phantoms ansehen ließ und es ihm zur Lebensaufgabe machte, das schreckliche Geschöpf eingeschlossen zu halten und daran zu hindern, daß es über ihn herfalle. In dieser Absicht arbeiteten sich Nadgett, er und ein fremder Mann mit einem blutigen Fleck auf dem Kopf, der ihm sagte, er sei sein Spielgefährte gewesen, und ihm auch den wahren Namen seines bisher vergessenen Schulkameraden nannte, mit eisernen Riegeln und Nägeln ab, um die Türe fest zu verschließen. Aber wie eifrig sie sich auch bemühten, alles war vergeblich. Die Nägel zerbrachen oder wandelten sich zwischen ihren Fingern in weiche Holzstifte oder sogar in Würmer um. Das Holz der Türe splitterte, bröckelte, so daß kein Nagel halten wollte, und die eisernen Riegel rollten sich wie Papier zusammen. Dadurch gewann das Geschöpf auf der anderen Seite der Türe, von dem er weder wußte noch zu erfahren suchte, ob es die Gestalt eines Menschen oder eines wilden Tieres habe, immer mehr Oberhand über sie. Aber in den allergrößten Schrecken versetzte es ihn, als der Mann mit dem blutigen Fleck auf dem Kopf ihn fragte, ob er den Namen des fürchterlichen Geschöpfes kenne, sonst wolle er ihm ihn zuflüstern. Daraufhin fiel er im Traum auf die Knie, das Blut erstarrte ihm in den Adern vor unerklärlicher Angst, und er hielt sich die Ohren zu. Als er dabei die Lippen des Sprechenden ansah, bemerkte er, daß sie sich zu dem Aussprechen des Wortes formten, und er erwachte mit dem lauten Ausruf, das Geheimnis sei entdeckt und er selbst verloren.

Als er die Augen aufschlug, stand Jonas an seinem Bett, und die Türe war weit offen.

Als sich ihre Blicke begegneten, wich Jonas um ein paar Schritte zurück und Montague sprang auf.

»Donnerwetter nochmal«, rief Jonas, »Sie sind ja verdammt lebhaft heute morgen.«

»Lebhaft?« stammelte Mr. Tigg und riß von Furcht gepeitscht an der Klingelschnur. »Was wollen Sie hier?«

»Es ist das doch wohl Ihr Zimmer«, versetzte Jonas. »Sagen Sie mir nur, was wollen Sie denn eigentlich mit dem Läuten? Mein Zimmer liegt auf der anderen Seite dieser Türe, und niemand hat mir verboten, sie aufzumachen. Ich dachte, sie führe in den Flur, und kam heraus, um mir mein Frühstück zu bestellen. Es ist – es ist keine Klingel in meinem Zimmer.«

Inzwischen war der Hausknecht mit heißem Wasser und den geputzten Stiefeln eingetreten und bestätigte, als er diese Worte hörte, daß tatsächlich eine Klingel drüben vorhanden sei, und zwar, wie er ihnen sogleich zeigte, gerade zu Häupten des Bettes.

»Na, auch recht«, brummte Jonas, »ich habe sie eben nicht gesehen. Soll ich das Frühstück bestellen?«

Mr. Montague bejahte. Als Jonas pfeifend durch sein Zimmer hinausgegangen war, machte Mr. Tigg die Verbindungstüre auf, um den Schlüssel abzuziehen und sie von seiner Seite aus zuzuschließen. Aber der Schlüssel war bereits abgezogen!

In seiner Angst schleppte er daher einen Tisch herbei, stellte ihn gegen die Türe und setzte sich nieder, um die noch immer lastende Nachwirkung des beängstigenden Traumes abzuschütteln.

»Eine schlimme Reise!« murmelte er immer wieder und wieder vor sich hin. »Eine böse Reise. Ich will allein nach Haus zurückfahren; das halte ich nicht länger mehr aus.«

Die böse Vorahnung und das Gefühl, daß die Reise noch schlimme Folgen nach sich ziehen werde, schreckten ihn jedoch keineswegs ab, das Schurkenstück zur Ausführung zu bringen, um dessentwillen er und Jonas die Reise unternommen hatten.

Er kleidete sich deshalb noch sorgfältiger als gewöhnlich an, um auf Mr. Pecksniff einen günstigen Eindruck zu machen, und faßte, ermutigt durch sein vornehmes Aussehen im Spiegel, die Schönheit des Morgens und den schimmernden Glanz der nassen Zweige, die vor seinem Fenster im herrlichen Sonnenschein rauschten, wieder so weit guten Mut, daß er ein paar Flüche ausstoßen und den Refrain eines fröhlichen Liedchens summen konnte. Nur von Zeit zu Zeit murmelte er noch beklommen vor sich hin:

»Aber nach Hause fahre ich doch allein!«