Dreizehntes Kapitel.


Dreizehntes Kapitel.

Ein schwacher Lichtschimmer erhellte das Fenster, vor dem die schwarze Leiter schon oft aufgerichtet worden, um das, was einer sich abmühenden Frau und einer Brut hungriger Kinder in dieser Welt am kostbarsten war, darauf heruntergleiten zu lassen. Stephen ward nun bei seinen sonstigen Gedanken auch auf die ernsthafte Betrachtung geleitet, daß von allen zufälligen Ereignissen des irdischen Daseins keines mit so ungleicher Hand ausgeteilt werde, wie der Tod. Die Ungleichheit der Geburt schien ihm nichts dagegen. Denn angenommen, daß das Kind eines Königs und das eines Webers in dieser Nacht im gleichen Augenblick geboren wurden, was war diese Verschiedenartigkeit gegen den Tod eines menschlichen Wesens, das einem zweiten nützlich oder teuer war, wahrend dieses verworfene Weib am Leben blieb!

Von der Außenfront seiner Wohnung trat er düster gestimmt in das Innere derselben, mit angehaltenem Atem und leisen Schritten. Er näherte sich seiner Tür, öffnete sie und trat also ins Zimmer.

Ruhe und Friede herrschten dort. Rachael befand sich da, auf dem Bettrand sitzend.

Sie wandte ihren Kopf, und der Schimmer ihres Gesichtes fiel leuchtend in die Mitternächtigkeit seines Gemüts. Sie saß am Bette bei seiner Frau, wachend und pflegend. Das heißt, er sah jemanden daselbst liegen und er wußte zu gut, daß sie es sein müsse, Rachael hatte jedoch einen Vorhang angebracht, um sie vor seinen Blicken zu verbergen. Ihre elenden Kleidungsstücke waren beseitigt und einige von Rachael lagen an deren Stelle. Alles war an seinem Platz und in Ordnung, wie er es immer gehabt. Das kleine Feuer war sauber geschürt und der Herd frisch gefegt. Es schien ihm, als sähe er all das in Rachaels Gesicht und sah sonst auf nichts. Während er es so betrachtete, verschwand es durch die Tränen der Rührung, die sein Auge erfüllten, vor seinem Blick. – Aber das geschah nicht eher, als bis er gesehen hatte, wie ernsthaft sie ihn anschaute, und wie selbst ihre Augen mit Tränen gefüllt waren.

Sie wandte sich abermals gegen das Bett und sprach, nachdem sie sich gerne überzeugt hatte, daß dort alles ruhig war, mit einer leisen, gelassenen und heiteren Stimme:

»Ich bin froh, daß du endlich nach Hause gekommen bist, Stephen. Du kommst sehr spät.«

»Ich bin auf und ab gegangen.«

»Ich dachte es mir. Aber dazu ist die Nacht zu schlimm. Der Regen ist sehr stark und der Wind weht heftig.«

»Der Wind? Wohl wahr. Er wehte stark. Horch auf das Donnern im Kamin und auf das tobende Gepolter. Bei einem solchen Winde draußen gewesen zu sein und nicht gewußt zu haben, daß er wehte!«

»Ich bin heute schon einmal dagewesen, Stephen. Die Hausfrau holte mich um die Mittagsstunde. ›Jemand ist hier‹, sagte sie, ›der Pflege braucht‹ Und wahrlich, sie hatte recht. Sie phantasiert und ist bewußtlos, Stephen. Auch verwundet und voller Beulen.«

Er ging sacht zu einem Stuhl und setzte sich nieder, indem er den Kopf vor ihr senkte.

»Ich kam um das Wenige zu tun, was in meiner Macht steht, Stephen. Erstens weil wir als Mädchen zusammen arbeiteten, und weil du ihr den Hof machtest und sie heiratetest, als sie meine Freundin war –«

Er stützte die furchenreiche Stirn auf die Hand und stöhnte leise.

»Und dann weil ich dein Herz kenne und es ganz gewiß weiß, daß es zu barmherzig ist, um sie sterben, oder aus Mangel an Hilfe sie auch nur leiden zu lassen. Du kennst wohl den Spruch: ›Der ohne Sünde unter Euch ist, werfe den ersten Stein auf sie.‹ Gar viele haben das getan. Du aber bist nicht der Mann, den letzten Stein auf sie zu werfen, wenn sie so tief gesunken.«

»O Rachael, Rachael!«

»Du hast grausam gelitten, der Himmel belohne dich dafür«, sagte sie in mitleidsvollem Tone. »Ich bin deine arme Freundin mit ganzem Herzen und ganzer Seele.«

Die Wunden, von denen sie gesprochen hatte, schienen am Halse der Trinkerin zu sein. Sie verband sie jetzt, ohne sie seinen Blicken bloßzustellen. Sie tauchte ein Stück Linnen in ein Becken, worin sie etwas Flüssiges aus einer Flasche gegossen hatte und legte es sanft auf die wunde Stelle. Der dreibeinige Tisch war in die Nähe des Bettes gezogen worden und auf ihm befanden sich zwei Flaschen. Die mit der Flüssigkeit war die eine.

Sie stand nicht so weit von ihm entfernt, daß Stephen, der Rachaels Bewegungen mit den Blicken gefolgt war, nicht hätte lesen können, was mit großen Buchstaben darauf gedruckt war.

Totenbleich wandte er sich ab und ein plötzliches Grauen schien ihn zu überkommen.

»Ich will hierbleiben«, sagte Rachael, indem sie ihren Platz wieder ruhig einnahm, »bis die Uhr drei schlagen wird. Um drei muß es wieder vorgenommen werden, dann kann man sie bis zum Morgen allein lassen.«

»Aber deine Ruhe für morgen, Rachael?«

»Ich habe vergangene Nacht gut geschlafen. Ich kann viele Nächte durchwachen, wenn es sein muß. Du aber hast jetzt Ruhe nötig – so bleich und müde. Versuche es doch, in dem Stuhle hier zu schlafen, während ich wache. Du hast die vorige Nacht nicht geschlafen, das kann ich mir wohl denken. Die Arbeit morgen wird dir schwerer fallen als mir.«

Er vernahm das Donnern und Toben von draußen, und es schien ihm, als ob seine frühere düstere Kümmernis ihn wieder übermannen wollte. Sie hatte sie ausgetrieben, sie wird sie wohl auch ferne halten; er hegte das Vertrauen zu ihr, daß sie ihn vor sich selbst schützen werde.

»Sie kennt mich nicht; sie murmelt nur so schläfrig und stiert umher. Ich habe einige Male ihr zugeredet, aber sie achtete nicht darauf. Es ist auch gut so. Wenn sie wieder zur Besinnung kommt, so werde ich getan haben, was ich konnte, sie aber wird darum nicht besser sein.«

»Wie lang dürfte sie in diesem Zustand bleiben, Rachael?«

»Der Doktor sagte, sie könnte wohl morgen zur Besinnung kommen.«

Seine Augen fielen abermals auf die Flasche, wobei ihn ein Schaudern überkam, das alle seine Glieder erbeben machte. Sie glaubte, er zittere vor Kälte. »Nein«, sagte er, »es war nicht das. Ich habe einen Schreck bekommen.«

»Einen Schreck?«

»Ja doch! Ja doch! als ich hereintrat. Als ich herumging. Als ich nachdachte. Als ich–«

Es hatte ihn wieder erfaßt – und er erhob sich, indem er sich auf das Kamingesims stützte und das naßkalte Haar mit der Hand, die zitterte, als ob sie lahm wäre, beiseite strich.

»Stephen!«

Sie wollte sich ihm nähern, er streckte jedoch seine Hand aus, um sie zurückzuhalten.

»Nicht! Nicht doch, bitte! Nicht doch! Laß mich dich wieder am Bette sitzen sehen. Laß mich dich sehen, so gut und so vergebend. Laß mich dich sehen, wie ich dich bei meinem Hereintreten sah. Ich kann dich nie besser als so sehen. Niemals, niemals, niemals.«

Ihn befiel wieder ein heftiges Zittern und er sank dann in den Stuhl. Nach einiger Zeit ermannte er sich und, indem er den Ellbogen auf das Knie und den Kopf auf die Hand stützte, konnte er den Blick auf Rachael richten. Wie er sie durch den matten Lichtschimmer mit seinen feuchten Augen anblickte, sah sie aus, als schwebe ein Heiligenschein um ihr Haupt. Er hätte glauben mögen, das sei wirklich der Fall. Er glaubte es, als der Wind von außen die Fenster rüttelte, an der Tür unten rasselte und tobend und klagend um das Haus brauste.

»Wenn sie sich wieder erholt hat, Stephen, dann ist zu hoffen, daß sie dich wieder allein lassen und dir kein Leid mehr zufügen wird. Hoffen wir das wenigstens! Jetzt werde ich aber schweigen; denn ich will, daß du schläfst.«

Er schloß seine Augen, mehr aus Liebe zu ihr als um seinem müden Kopf Ruhe zu gönnen. Wie er jedoch dem Toben des Windes lauschte, hörte er nach und nach auf, ihn zu vernehmen. Das Dröhnen verwandelte sich in das Schnurren seines Webestuhles, oder selbst in die Stimmen, die er am Tage vernommen (die seine mit einbegriffen) die das wiederholten, was wirklich gesagt worden. Selbst dieses unvollkommene Bewußtsein verschwand endlich, und er träumte einen langen, verworrenen Traum.

Er meinte, daß er sich mit einer Person, die ihm schon seit langem teuer war – aber es war nicht Rachael, und das nahm ihn wunder selbst inmitten seines illusorischen Glücks –, in der Kirche befand, um getraut zu werden. Während die Trauung vollzogen wurde, und während er unter den Zeugen manche erkannte, die noch am Leben, und manche, von denen er wußte, daß sie schon tot waren, brach eine Finsternis herein, der ein schreckliches Licht folgte. Es ging aus von einer Zeile auf den Tafeln des Gesetzes, und die flammenden Worte erleuchteten das Gebäude. Diese Worte ertönten auch durch die Kirche, als ob die feurigen Buchstaben Stimmen besäßen. Hierauf veränderte sich die ganze Erscheinung ringsum, und nichts war von allem übrig geblieben, außer ihm und dem Geistlichen. Sie standen am hellen Tageslicht vor einer so ungeheuren Menge, daß er meinte, wenn sämtliche Bewohner dieser Welt in einen Raum hätten zusammengebracht werden können, so würden sie nicht zahlreicher erscheinen können. Sie verabscheuten ihn alle, und unter den Millionen, die ihn anstarrten, war nicht ein einziges freundliches oder mitleidvolles Auge für ihn. Er stand auf einem erhöhten Gerüste unter seinem eigenen Webestuhl und betrachtete die Gestalt, die der Webestuhl annahm. Er hörte die Leichenfeier ganz deutlich über sich abhalten und er wußte wohl, daß er sich da befinde, um hingerichtet zu werden. In einem Augenblick war das, worauf er gestanden hatte, unter ihm zusammengebrochen, und es war aus mit ihm.

Durch welches Wunder er zu seiner gewöhnlichen Lebensweise und zu den ihm bekannten Plätzen wieder zurückkehrte, das vermochte er nicht zu enträtseln. Er befand sich aber, der Himmel weiß wie, wieder an jenen Plätzen, aber mit dem Fluch beladen, weder in dieser noch in der andern Welt, durch alle undenkbaren Ewigkeiten hindurch, jemals Rachaels Gesicht wieder zu sehen oder ihre Stimme zu hören. Indem er unaufhörlich hin und her irrte, um ein unbekanntes Etwas aufzusuchen (er wußte bloß, daß er verdammt sei, es aufzusuchen), war er von einem namenlosen fürchterlichen Grauen, einer tödlichen Furcht vor einer gewissen Gestalt beherrscht, die alle Dinge annahmen. Was er immer betrachten mochte, verwandelte sich früher oder später in jene Gestalt. Sein jammervolles Dasein drehte sich einzig darum, zu verhindern, daß nicht jemand von den verschiedenen Leuten, die ihm begegneten, sie erkennen möchte. Vergebliche Mühe! Wenn er sie aus den Zimmern entfernte, wo sie sich befand, wenn er Kasten und Schränke verschloß, wo sie war, wenn er die Neugierigen von den Stellen entfernte, wo er sie verborgen wußte, und sie auf die Straße führte, so nahmen selbst die Schornsteine der Mühlwerke jene Gestalt an und rund um sie stand der Name gedruckt.

Der Wind blies abermals, der Regen schlug auf die Giebel der Häuser und die größeren Räume, die er durchstreift hatte, schrumpften zu den vier Wänden seines Zimmers zusammen. Mit der Ausnahme, daß das Feuer erloschen war, befand sich da alles wie vorher, als er seine Augen geschlossen hatte. Rachael schien auf dem Stuhl am Bette eingeschlummert zu sein. Sie saß in ihrem Schal eingehüllt vollkommen ruhig da. Der Tisch stand an derselben Stelle, dicht beim Bett, und darauf befand sich, mit seinen wirklichen Verhältnissen und in seinem wahren Äußern das, was er so oft geschaut.

Er meinte den Vorhang sich bewegen zu sehen. Er sah abermals hin und war jetzt gewiß, daß er sich bewege. Er nahm jetzt eine Hand wahr, die zum Vorschein kam und ein wenig herumtastete. Dann bewegte sich der Vorhang sichtbarer, das Weib im Bette schob ihn zurück und richtete sich empor. Mit ihren jammervollen Augen, die so graß und wild, so matt und weit offen waren, blickte sie im ganzen Zimmer umher, und streifte den Winkel, wo er auf einem Stuhle schlief. Ihr Blick kehrte wieder zu jenem Winkel und sie hielt die Hand vor die Augen, wie um sie zu beschatten, während sie nach dem Winkel sah. Sie schweiften abermals im Zimmer umher, bemerkten kaum Rachael und kehrten wieder zu jenem Winkel zurück. Er meinte, als sie diese wieder beschattete – nicht sowohl um auf ihn zu sehen, als um nach ihm zu sehen mit dem tierischen Instinkte, daß er da sei – daß keine einzige Spur von dem Weibe, das er vor achtzehn Jahren geheiratet hatte, in jenen wüsten Zügen oder in dem Geiste, der sich in ihnen kundgab, zurückgeblieben sei. Hätte er sie zu diesem Zustande nicht stufenweise heruntersinken gesehen, so würde er nie haben glauben mögen, daß sie die gleiche sei.

Während dieser ganzen Zeit war er bewegungs- und kraftlos und war nur imstande, sie zu bewachen.

Schläfrig hinbrütend oder mit ihrem trüben Hirn sich über nichts unterhaltend, saß sie eine kurze Weile und hielt die Hände an die Ohren. Alsbald jedoch begann sie wieder herumzustieren. Jetzt ruhten ihre Augen zum erstenmal auf dem Tisch, wo sich die Flaschen befanden. Flugs wandte sie ihre Augen mit herausforderndem Trotz, wie sie ihn vorige Nacht gehabt, zurück nach dem Winkel. Dann streckte sie sehr vorsichtig und sacht ihre schmierige Hand aus. Sie nahm einen Becher zu sich ins Bett und saß eine Weile nachdenkend da, welche von den beiden Flaschen sie wählen sollte. Endlich griff sie unsinnigerweise nach der Flasche, die schnellen und gewissen Tod in sich barg, und riß vor seinen Augen den Stöpsel mit den Zähnen heraus.

Traum oder Wirklichkeit, er war nicht der Stimme mächtig und besaß auch nicht Kraft genug, um sich zu bewegen. Wenn das Wirklichkeit ist und ihre bestimmte Zeit ist noch nicht da, wache, Rachael, wache!

Sie dachte auch daran. Sie blickte Rachael an und goß den Inhalt ganz sachte und höchst vorsichtig ein. Der Trank war an ihren Lippen. Einen Augenblick, und sie wäre rettungslos verloren gewesen, käme auch die ganze Welt mit all ihrer Macht herbei, um über sie zu wachen. In demselben Augenblicke fuhr Rachael mit einem unterdrückten Schrei empor. Die Kreatur rang, schlug sie und faßte sie bei den Haaren; Rachael hatte jedoch den Becher ihr entrissen.

Stephen rief von seinem Stuhle aus: »Rachael, wache oder träume ich in dieser schrecklichen Nacht?«

»Geht alles gut, Stephen. Ich selbst war eingeschlafen! Es ist gleich drei. St! Ich höre die Glocke.«

Der Wind brachte den Schall der Kirchenuhr ans Fenster. Sie horchten auf, und es schlug drei. Stephen blickte sie an, sah wie bleich sie war, bemerkte die Unordnung ihres Haars und die roten Fingerspuren auf ihrer Stirn und war nun gewiß, daß seine Gesicht- und Gehörsinne wach gewesen waren. Sie hielt noch immer den Becher in der Hand.

»Ich dachte, es müsse nah an drei sein«, sagte sie, indem sie den Becher in das Becken ruhig ausleerte und das Linnen wie früher wieder eintauchte. »Ich bin froh, daß ich geblieben bin. Wenn ich das aufgelegt habe, ist alles getan. Da – jetzt ist sie wieder ruhig. Die wenigen Tropfen im Becken will ich ausschütten, das ist zu schlechtes Zeug, um es so herumstehen zu lassen, wenn auch noch so wenig davon.« Während sie das sagte, ließ sie das Becken in die Asche beim Feuer abtropfen und zerbrach die Flasche am Herde.

Sie hatte dann nichts mehr zu tun, als sich in den Schal zu hüllen, ehe sie in Wind und Regen hinausging.

»Du wirst mich doch um diese Stunde mit dir gehen lassen, Rachael?«

»Nein, Stephen, es dauert nur eine Minute, und ich bin zu Hause.«

»Du fürchtest dich nicht«, sagte er mit leiser Stimme, als sie auf die Türe zugingen, »mich mit ihr allein zu lassen!«

Stephen riß sich vom Stuhl los: »Bin ich wach oder träume ich, Rachael, in dieser entsetzlichen Nacht?«

Wie sie ihn nun ansah und »Stephen« ausrief, sank er auf den schlichten, ärmlichen Treppen vor ihr auf die Knie nieder und drückte einen Zipfel ihres Schals an die Lippen.

»Du bist ein Engel. Gott mit dir! Gott mir dir!«

»Ich bin, wie ich dir gesagt habe, Stephen, deine arme Freundin. Engel sind nicht wie ich. Zwischen ihnen und einer sündigen Arbeiterin besteht ein tiefer Abgrund. Mein Schwesterlein ist unter ihnen, aber sie ist ganz gewandelt.«

Sie erhob ihre Augen für einen Moment, als sie diese Worte aussprach: dann senkte sie sie wieder mit ihrer ganzen Milde und Sanftheit auf sein Gesicht.

»Du hast mich vom Schlechten zum Guten geleitet. Du erregst in mir den demütig frommen Wunsch, dir mehr gleich zu werden und die Furcht, dich zu verlieren, wenn dieses Leben vorüber und die ganze Komödie dahin ist. Du bist ein Engel; es dürfte wohl sein, daß du meine Seele bei Lebzeiten gerettet hast.«

Sie blickte ihn an, wie er ihren Schal noch in der Hand hielt und zu ihren Füßen kniete. Der Verweis erstarb auf ihren Lippen, als sie das Zucken seiner Gesichtszüge wahrnahm.

»Ich kam verzweiflungsvoll nach Hause. Ich kam ohne Hoffnung nach Hause, und der Gedanke machte mich wie verrückt, daß, wenn ich eine Klage laut werden ließe, sie mich für eine unverständige »Hand« halten würden. Ich sagte dir, daß ich einen Schrecken gehabt hatte. Es war die Giftflasche auf dem Tisch. Ich habe nie einem lebendigen Geschöpf was zu Leide getan – da ich aber so rasch darauf stieß, dachte ich: Wer weiß, was ich mir selbst oder ihr oder uns beiden angetan hätte!«

Mit schreckensbleichem Gesicht legte sie ihm die Hände auf den Mund, um ihn davon abzuhalten, noch mehr zu sagen. Er nahm ihre Hände in seine freien Hände und hielt sie fest, indem er sich fortwährend an ihren Schal klammerte und hastig ausrief:

»Aber ich sah dich, Rachael, beim Bett sitzen. Ich habe dich während dieser ganzen Nacht gesehen. In meinem unruhigen Schlaf wußte ich auch noch, daß du da bist. Ich werde dich immer da sehen. Ich werde sie niemals sehen oder ihrer gedenken, ohne daß du an ihrer Seite sein wirst. Ich werde niemals etwas sehen, das mich zornig machen kann oder daran denken, ohne daß du, die du um so vieles besser bist als ich, danebenstehen wirst. Und nun will ich versuchen, der Zeit entgegenzusehen, und will auch versuchen, derzeit zu vertrauen, wo du und ich endlich weit dahin gehen werden, jenseits des tiefen Abgrunds, in das Land, wo dein Schwesterlein weilt.«

Er küßte abermals den Zipfel ihres Schals und ließ sie gehen. Sie wünschte ihm mit gebrochener Stimme gute Nacht und ging hinaus auf die Straße. Der Wind blies von der Seite, wo der Tag bald anbrechen sollte, und blies noch immer heftig. Er hatte den Himmel von Wolken freigefegt. Der Regen hatte sich erschöpft oder zog nach andern Orten, und die Sterne schienen hell. Er stand mit entblößtem Haupte auf der Straße und sah ihr nach, wie sie rasch verschwand. Wie die schimmernden Sterne sich verhielten zum trüben Licht im Fenster, so verhielt sich Rachael in der rauhen Phantasie dieses Mannes zu den gewöhnlichen Erfahrungen seines Lebens.

Vierzehntes Kapitel.


Vierzehntes Kapitel.

Die Zeit bewegte sich in Coketown wie dessen Maschinen: so viel Stoff verarbeitet, so viel Brennmaterial verbraucht, so viele Kräfte abgenützt und so viel Geld gemacht. Aber weniger unerbittlich als Eisen, Stahl und Messing machte sie ihre veränderlichen Jahreszeiten selbst in dieser Wildnis von Rauch und Ziegelsteinen geltend und brachte die einzige Abwechslung hervor, die jemals in der schrecklichen Einförmigkeit dieses Ortes stattgefunden.

»Luise«, sagte Mr. Gradgrind, »ist beinahe zur Jungfrau gereift.«

Die Zeit mit ihrer unzählbaren Pferdekraft arbeitete fort, unbekümmert darum, was jemand sagen mochte, und stellte den jungen Thomas jetzt um einen Fuß höher hin als damals, wo sein Vater zum letztenmal besondere Notiz von ihm genommen.

»Thomas«, sagte Mr. Gradgrind, »ist beinahe zum jungen Mann gereift.«

Die Zeit brachte unterdessen Thomas in dem Mühlwerke vorwärts, während sein Vater noch darüber nachdachte; und da stand er nun in einem langen Rock mit Schößen und in einem steifen Hemdkragen.

»Wahrhaftig«, sagte Mr. Gradgrind, »die Zeit ist nun da, wo Thomas zu Mr. Bounderby gehen sollte.«

Die Zeit hatte Thomas fest in ihrer Gewalt und versetzte ihn in Mr. Bounderbys Bank; sie machte ihn zu Mr. Bounderbys Hausgenossen, machte den Ankauf des ersten Rasiermessers für ihn erforderlich und übte ihn fleißig in seinen Berechnungen in bezug auf Nummer eins. Derselbe große Fabrikant, fortwährend mit einer unermeßlichen Mannigfaltigkeit von Arbeit in jedem Entwicklungszustande beschäftigt, brachte auch Cili in seinem Mühlwerke vorwärts und arbeitete sie wirklich zu einem ganz hübschen Artikel heraus.

»Ich befürchte, Jupe«, sagte Mr. Gradgrind, »daß dein ferneres Verbleiben in der Schule keinen Zweck mehr hat.«

»Ich befürchte das ebenfalls, Sir«, antwortete Cili mit einem Knix.

»Ich kann es dir nicht verbergen, Jupe«, sagte Mr. Gradgrind mit Stirnrunzeln, »daß ich mich in dem Resultat deiner Probezeit hier getäuscht sehe, sehr getäuscht sehe. Du hast unter Mr. und Mrs. M’Choakumchild bei weitem nicht den Grad von exaktem Wissen erlangt, den ich erwartete. Du bist äußerst unvollkommen in deinen Tatsachen. Deine Bekanntschaft mit Zahlen ist sehr beschränkt, du bist arg zurückgeblieben und weit vom Ziele.«

»Es tut mir leid, Sir«, antwortete sie, »aber ich weiß, es ist vollkommen richtig. Und doch habe ich mir große Mühe gegeben, Sir.«

»Ja«, sagte Mr. Gradgrind, »ich glaube, daß du dir große Mühe gegeben; ich habe dich beobachtet und finde in dieser Hinsicht nichts zu tadeln.«

»Ich danke, Sir. Manchmal dachte ich«, Cili sprach hier äußerst furchtsam, »daß ich mich vielleicht bemühte, zu viel zu lernen und daß, wenn ich um Erlaubnis gebeten hätte, ein bißchen weniger zu versuchen – dann dürfte ich wohl –«

»Nein, Jupe, nein«, sagte Mr. Gradgrind, das Haupt in seiner vollkommensten und höchst ausgezeichnet praktischen Weise schüttelnd. »Nein, den Weg, den du verfolgtest, hast du nach dem System verfolgt – nach dem System – und dazu läßt sich überhaupt weiter nichts bemerken. Ich kann bloß der Vermutung Raum geben, daß die Verhältnisse deines früheren Lebens für die Entwicklung deines Verstandes zu ungünstig waren, und daß wir zu spät angefangen haben. Jedenfalls bin ich in meinen Erwartungen getäuscht worden.«

»Ich wollte, ich wäre imstande gewesen, meine Dankbarkeit, mein Herr, besser zu bezeugen! Ihnen zu danken für Ihre Güte gegen ein armes, verlassenes Mädchen, das auf solcherlei keinen Anspruch hatte und für Ihren Schutz, den Sie mir gewährten.«

»Nun, weine bloß nicht«, sagte Mr. Gradgrind, »weine nicht. Ich beklage mich nicht über dich. Du bist ein liebevolles, ernstes, gutes Mädchen und – wir müssen uns damit zufrieden geben.«

»Danke, Sir, danke Ihnen sehr«, sagte Cili mit einem dankbaren Knix.

»Du bist für Mrs. Gradgrind von Nutzen, und im allgemeinen bist du auch der Familie dienlich gewesen. So sagte mir Luise, und ich habe es in der Tat selbst gemerkt. Ich hoffe daher«, sagte Mr. Gradgrind, »daß du dich in diesem Verhältnis wohl befindest.«

»Mir würde nichts zu wünschen übrig bleiben, Sir, wenn –« »Ich verstehe, was du meinst«, sagte Mr. Gradgrind, »du kommst immer wieder auf deinen Vater zurück. Ich hörte von Miß Luise, daß du jene Flasche noch immer aufbewahrst. Gut! Wenn deine Erziehung, in der Wissenschaft zu exakten Resultaten zu gelangen, erfolgreicher gewesen wäre, so würdest du in diesem Punkte vernünftiger gewesen sein. Ich will nichts mehr darüber sagen.«

Er hatte in der Tat Cili zu lieb, um sie geringzuschätzen. Im übrigen aber hatte er von ihren rechnerischen Fähigkeiten eine so geringe Meinung, daß er zu einem solchen Urteil kommen mußte. Auf die eine oder andere Weise faßte er die Idee, daß in diesem Mädchen ein Etwas vorhanden sei, das kaum durch tabellarische Formeln errechnet werden könnte. Ihre Definitionsfähigkeit konnte mit einer niedrigen Zahl, ihre mathematische Begabung mit Null bezeichnet werden. Trotzdem war er nicht gewiß, ob er imstande gewesen wäre, sie vollständig zu zensieren, wenn man an ihn die Forderung gestellt hätte, sie in einem Parlamentsberichte genau auseinanderzusetzen.

Der Prozeß der Zeit geht bei manchen Stufen der Produktion in der menschlichen Fabrik äußerst rasch vor sich. Der kleine Thomas und Cili, die sich eben auf dieser Stufe ihrer Ausbildung befanden, erlebten diese Veränderungen in einem oder zwei Jahren – während Mr. Gradgrind selbst in seiner Laufbahn stehen blieb und keine Veränderung erlitt.

Mit Ausnahme von einer einzigen, die nicht zu seinem notwendigen Prozesse in dem Mühlwerk gehörte.

Die Zeit drängte ihn in eine geräuschvolle und ziemlich schmutzige Maschine, in einen Winkel, und machte ihn zum Parlamentsmitglied für Coketown – zu einem der geachteten Mitglieder für Maß und Gewicht – zu einem der Repräsentanten für die Multiplikationstafel – zu einem der für alles übrige taub ehrenwerten Gentlemen, blind ehrenwerten Gentlemen, krumm ehrenwerten Gentlemen, tot ehrenwerten Gentlemen. Wozu lebten wir denn sonst in einem christlichen Lande, achtzehnhundert und so und so viel Jahre nach unserem Heiland!

Während dieser ganzen Zeit entwickelte sich Luise so still und verschlossen und hatte sich sehr der Beobachtung der funkensprühenden Asche ergeben, wie sie in der Dämmerung in den Kaminrost hinunterfiel und erlosch, daß sie von der Zeit, wo ihr Vater gesagt hatte, sie reife beinahe zur Jungfrau heran – was erst wie gestern schien – kaum seine Aufmerksamkeit wieder erregt hatte. Nun sah er sie auf einmal wirklich als vollendete Jungfrau vor sich.

»Eine ganze Jungfrau!« sagte Mr. Gradgrind nachsinnend. »Du lieber Himmel!«

Bald nach dieser Entdeckung ward er mehrere Tage hindurch nachdenklicher als gewöhnlich und schien von einem Gegenstande vollständig eingenommen zu sein. Eines Abends, als er eben im Begriffe war auszugehen und Luise vor seinem Weggehen gute Nacht sagen wollte – da er erst spät nach Hause kommen wollte und sie ihn nicht bis zum nächsten Morgen sehen würde –, hielt er sie in den Armen, beobachtete sie in seiner wohlwollendsten Weise und sagte:

»Meine liebe Luise, du bist eine Jungfrau.«

Sie antwortete mit dem alten, flüchtigen und forschenden Blick von jenem Abend, wo sie beim Zirkus getroffen ward: dann schlug sie die Augen nieder. »Ja, mein Vater.«

»Meine Liebe«, sagte Mr. Gradgrind, »ich muß mit dir allein und ernsthaft sprechen. Morgen nach dem Frühstück komm zu mir auf mein Zimmer. Willst du?«

»Ja, mein Vater.«

»Deine Hände sind ja so kalt, Luise. Bist du unwohl?« »Ganz wohl, mein Vater.«

»Und frohen Muts?«

Sie blickte ihn abermals an und lachte in ihrer eigentümlichen Weise. »Ich bin so frohen Mutes, mein Vater, wie ich es gewöhnlich bin und wie ich es gewöhnlich gewesen bin.«

»Das ist recht«, sagte Mr. Gradgrind, damit küßte er sie und ging fort.

Luise kehrte zu dem heiteren Gemach, das wie eine Friseurstube aussah, zurück und sann, indem sie den Ellbogen auf die Hand lehnte, den versprühenden Funken nach, die sich so rasch in Asche verwandelten.

»Bist du hier, Lu?« fragte ihr Bruder, indem er zur Tür hereinguckte. Er war nun ganz ein junger Herr nach der Mode, aber nicht ein ganz einnehmender.

»Lieber Tom«, antwortete sie, sich erhebend und ihn umarmend, »wie lange ist es her, seit du mich nicht gesehen hast!«

»Nun, ich bin in den Abenden anderweitig beschäftigt gewesen, Lu, und während des Tages werde ich von dem alten Bounderby ziemlich streng gehalten. Aber ich ziehe ihn mit dir auf, wenn er mir zu arg kommt, und so bewahren wir ein gutes Einvernehmen. Hör mal! Hat Vater dir heute oder gestern etwas Besonderes mitgeteilt, Lu?«

»Nein, Tom. Aber er sagte mir heute abend, daß er es morgen tun wolle.«

»Ah, das meine ich«, sagte Tom, und mit einem bedeutungsvollen Ausdruck: »Weißt du, wo er heute abend ist?«

»Nein.«

»Dann will ichs dir sagen. Er ist beim alten Bounderby. Sie plaudern regelmäßig zusammen, oben in der Bank. Warum in der Bank, fragst du? Nun, ich will dir auch das sagen. Um Mrs. Sparsits Ohren so fern wie möglich zu halten, glaube ich.«

Die Hand auf die Schulter ihres Bruders legend, stand Luise noch immer da und betrachtete das Feuer. Ihr Bruder sah ihr mit mehr Teilnahme als gewöhnlich ins Gesicht. Er legte seinen Arm um sie und zog sie freundlich an sich.

»Du hast mich recht lieb, Lu, nicht wahr?«

»Das ist wirklich der Fall, obgleich du eine so geraume Zeit dahingehen lassen konntest, ohne mich zu besuchen.«

»Nun gut, meine liebe Schwester«, sagte Tom, »wenn du so sprichst, so kommst du meinen Gedanken nahe. Wir könnten um so viel öfter beisammen sein – nicht wahr? Beinahe immer beisammen – nicht wahr? Es würde für mich von großem Nutzen sein, wenn du dich, ich weiß recht wohl zu was, entschließen würdest, Lu. Das wär was Herrliches für mich. Das wäre ganz prachtvoll.«

Ihre Nachdenklichkeit vereitelte all sein schlaues Forschen. Er konnte aus ihrem Gesicht nichts herauslesen. Er umarmte sie und küßte sie auf die Wangen. Sie erwiderte den Kuß, blickte aber immer ins Feuer.

»Hör mal, Lu! Ich dachte, es sei gut, hierher zu kommen und dir eben einen Wink zu geben von dem, was vorgeht. Ich nahm allerdings an, daß du es wahrscheinlich erraten würdest, selbst wenn du es nicht weißt. Ich kann nicht bleiben, weil ich heute abend mit einigen Kameraden zusammenkomme. Du wirst doch nicht vergessen, wie lieb du mich hast?«

»Nein, lieber Tom, ich werde es nicht vergessen.«

»Du bist ein famoses Mädchen«, sagte Tom.

Sie wünschte ihm herzlich gute Nacht und begleitete ihn bis zur Tür, von wo man die Lichter von Coketown sehen konnte, was der Entfernung einen dunklen Anstrich gab. Sie stand da, blickte diese unverwandt an und horchte auf seine davoneilenden Schritte. Sie waren rasch, als wären sie froh, sich von Stone Lodge zu entfernen – sie aber stand noch immer da, als er bereits fort und alles ruhig war.

Es schien als ob sie – zuerst aus dem Feuer an ihrem eigenen Herd und dann aus dem dichten, feurigen Nebel von draußen – herauszugrübeln versuchte, was für ein Gewebe der alte Zeitengott, dieser größte und von allen am längsten etablierte Weber, aus den Fäden weben würde, die er bereits für ein Frauengemüt gesponnen. Aber seine Faktorei ist ein geheimnisvoller Ort, sein Arbeiten geräuschlos und seine »Hände« sind stumm.

Fünfzehntes Kapitel.


Fünfzehntes Kapitel.

Obgleich Mr. Gradgrind sich nicht wie Blaubart benahm, so war sein Zimmer doch ein vollständig blaues Gemach. Das kam von der großen Menge blauer Bücher, die dort aufgereiht waren. Was sie nur immer beweisen konnten – und sie beweisen ja alles, was man bewiesen haben will –, das bewiesen sie allda in einer Armee, die durch die Ankunft von neuen Rekruten fortwährend Verstärkung erhielt. In diesem Hexenmeisterraum wurden die kompliziertesten sozialen Fragen aufgeworfen, in exakte Summen ausgerechnet und endlich ins reine gebracht – wofern die, die es anging, nur zu deren Verständnis gebracht werden konnten. Wie ein Astronom, der in einer Sternwarte ohne Fenster, das Sternensystem einzig und allein durch Papier, Feder und Tinte regeln würde, so brauchte Mr. Gradgrind in seinem Observatorium (und es gibt gar viele, die diesem gleichen) auf die fruchtbaren Myriaden von menschlichen Wesen nicht erst einen Blick der Beobachtung zu werfen, sondern war imstande, ihre sämtlichen Schicksale auf einer Schiefertafel anzugeben und all ihre Tränen mit einem schmutzigen Stückchen Schwamm abzuwischen.

In diesem Observatorium nun – ein starres Zimmer mit einer grauenhaft-statistischen Uhr, die jede Sekunde mit einem Schlage verkündete, der wie das Pochen auf einem Sargdeckel klang – erschien Luise an dem bestimmten Morgen. Das Fenster sah nach Coketown. Als sie sich zu ihrem Vater an den Tisch setzte, fiel ihr Blick auf die hohen Rauchfänge und die langen Rauchschlangen, die in der trüben Entfernung düster zum Vorschein kamen.

»Meine liebe Luise«, sagte ihr Vater. »Ich bereitete dich gestern abend darauf vor, mir in dem Gespräche, das wir jetzt miteinander haben werden, ernste Aufmerksamkeit zu schenken. Du bist so wohl erzogen worden und du machst, was ich mit Vergnügen gestehe, der Erziehung, die dir zuteil geworden, so viel Ehre, daß ich in deinen Verstand viel Vertrauen setze. Du bist nicht reizbarer oder romantischer Natur. Du bist gewöhnt, alles von dem kräftigen und leidenschaftslosen Standpunkt der Vernunft und der Berechnung zu betrachten. Ich weiß, du wirst auch nur von diesem Standpunkt den Gegenstand betrachten, den ich dir mitteilen will.«

Er wartete, als hätte es ihn gefreut, wenn sie etwas sagte. Aber sie ließ sich kein Wort verlauten.

»Luise, meine Teure, du bist der Gegenstand eines Heiratsantrages, der mir gemacht worden.«

Er wartete abermals, und abermals antwortete sie mit keiner Silbe. Das überraschte ihn so sehr, daß er sich bewogen fühlte, mit sanfter Stimme zu wiederholen:

»Ein Heiratsantrag, mein teures Kind.«

Darauf antwortete sie ohne die geringste sichtbare Erregung:

»Ich höre, mein Vater. Seien Sie versichert, ich bin aufmerksam«.

»Nun gut«, sagte Mr. Gradgrind, nachdem er einen Augenblick ganz verdutzt dagestanden, »du bist selbst leidenschaftsloser als ich erwartete. Oder bist du vielleicht auf die Mitteilung, die ich dir machen will, nicht unvorbereitet?«

»Ich kann nichts darüber sagen, bis ich sie gehört habe. Vorbereitet oder unvorbereitet, ich will sie nun einmal ganz von Ihnen vernehmen. Ich wünsche, daß Sie mir Ihre Botschaft auseinandersetzen, mein Vater.«

Es klingt sonderbar, aber Mr. Gradgrind war in diesem Augenblick nicht in solcher Fassung wie seine Tochter. Er nahm ein Papiermesser in die Hand, drehte es herum, legte es nieder, hob es wieder auf und selbst dann mußte er, in der Betrachtung wie er fortfahren sollte, die Klinge beschauen.

»Was du da sagst, meine liebe Luise, ist ganz vernünftig. Ich habe es nun übernommen, dich davon in Kenntnis zu setzen, daß Mr. Bounderby mich davon benachrichtigte, daß er deine Fortschritte seit langem mit Vergnügen und besonderer Teilnahme beobachtet hat. Daher hat er schon längst die Hoffnung gehegt, daß die Zeit endlich heranrücken dürfte, wo er dir seine Hand anbieten könnte. Diese Zeit, der er so lange und wahrlich mit so viel Beharrlichkeit entgegengesehen, ist nun gekommen. Mr. Bounderby hat mir den Heiratsantrag mitgeteilt und hat mich dringend gebeten, ihn zu deinen Ohren zu bringen und seine Hoffnung auszudrücken, daß du ihn in freundliche Erwägung ziehen werdest.«

Stillschweigen lagerte sich zwischen sie. Die grauenhaft-statistische Wanduhr klang sehr hohl. Der ferne Rauch ward sehr schwarz und dicht.

»Mein Vater«, sagte Luise, »glauben Sie, daß ich Mr. Bounderby liebe?«

Mr. Gradgrind war durch diese unerwartete Frage ganz verblüfft.

»Aber, mein Kind«, entgegnete er. »Ich – kann – es wahrlich nicht auf mich nehmen, das zu behaupten.«

»Mein Vater«, fuhr Luise ganz in der früheren Stimme fort, »fordern Sie von mir, daß ich Mr. Bounderby liebe?«

»Nein, meine liebe Luise, nein. Ich fordere nichts.«

»Mein Vater«, beharrte Luise, »stellt Mr. Bounderby die Forderung an mich, daß ich ihn liebe?«

»Wirklich, meine Teure«, sagte Mr. Gradgrind, »deine Frage ist schwer zu beantworten.«

»Schwer zu beantworten. Ja oder nein, mein Vater?«

»Gewiß, mein Kind. Weil«, hier gab es etwas zu demonstrieren, was ihn wieder ins rechte Gleise brachte, »weil die Antwort, Luise, so wesentlich von dem Sinne abhängt, in dem wir einen Ausdruck gebrauchen. Nun ist Mr. Bounderby nicht so ungerecht gegen dich und auch nicht gegen sich selbst, daß er auf etwas Schwärmerisches, Phantastisches oder (ich bediene mich synonymer Ausdrücke) etwas Sentimentales Anspruch machte. Mr. Bounderby müßte dich wohl vergeblich unter seinen Augen haben aufwachsen sehen, wenn er geradezu vergessen könnte, was er deinem gesunden Menschenverstand, geschweige gar dem seinen, schuldig ist, und an dich in ähnlicher Absicht sich wenden wollte. Deshalb dürfte selbst der Ausdruck – ich mache dich bloß aufmerksam darauf, mein Kind – ein wenig übel angewandt sein.«

»Was würden Sie mir raten, Vater, an Stelle dieses Ausdrucks zu gebrauchen?«

»Nun, meine liebe Luise«, antwortete Mr. Gradgrind, diesmal mit voller Fassung. »Ich würde, da du mich einmal darum befragst, dir raten, diese Frage so zu betrachten, wie du gewohnt bist, es bei jeder andern Frage zu tun, sie nämlich als ein greifbares Faktum zu betrachten. Die Unwissenden und Leichtsinnigen mögen bei solchen Gegenständen von unnützen Gefühlsduseleien geplagt werden, und auch von ähnlichen Dingen, die gar keine Existenz – vom richtigen Standpunkte aus betrachtet, wirklich gar keine Existenz haben. Daß du die Sache aber besser verstehst, ist nicht einmal ein Kompliment für dich. Nun, was sind denn die Tatsachen in diesem Falle?

Du bist, wir wollen in runden Zahlen sprechen, zwanzig Jahre alt, Mr. Bounderby ist, wir wollen in runden Zahlen sprechen, fünfzig Jahre alt. Es waltet in bezug auf euer Alter einige Ungleichheit vor – aber in euren sonstigen Lebensverhältnissen jedoch ist gar keine vorhanden. Im Gegenteil, in alledem herrscht eine große Gleichförmigkeit. Dann entsteht die Frage: ist eine solche einzige Ungleichheit genügend, um sich als Schranke gegen diese Heirat zu erheben? Bei der Erwägung dieser Frage ist es nicht unwichtig, die Statistik der Heiraten in Berechnung zu ziehen, insofern sie uns in England und Wales bekannt geworden sind. Ich finde, wenn ich die Zahlen zu Rate ziehe, daß eine große Anzahl dieser Heiraten zwischen Parteien von ungleichem Alter geschlossen werden, und daß der ältere Teil bei diesen Parteien, in mehr als drei Viertel ähnlicher Fälle, der Bräutigam ist. Es verdient als merkwürdiger Beweis der Überlegenheit dieses Gesetzes besonders hervorgehoben zu werden, daß unter den Eingebornen in den Britischen Besitzungen beider Indien, wie auch in einem beträchtlichen Teil von China und unter den Kalmücken der Tartarei, nach den besten Berechnungen, die von Reisenden angestellt worden, die gleichen Resultate sich ergeben. Die Ungleichheit, deren ich Erwähnung getan, hört daher beinahe auf, Ungleichheit zu sein und (in der Wirklichkeit) verschwindet sie auch.«

»Was raten Sie mir«, fragte Luise, deren gefaßtes, zurückhaltendes Wesen nicht im geringsten durch diese erhebenden Resultate ergriffen wurde, »an Stelle des von mir verwandten Ausdrucks zu gebrauchen, an Stelle des übel angewandten Ausdrucks?«

»Luise«, entgegnete ihr Vater, »es scheint mir, daß nichts einfacher sein kann. Wenn du dich streng auf die Tatsache beschränkst, so lautet die Frage der Tatsache, die du dir zu stellen hast: ›Macht Mr. Bounderby mir einen Heiratsantrag?‹ Ja, er tut es. Die einzige Frage, die dann noch übrig bleibt ist: ›Soll ich ihn heiraten?‹ Ich glaube, nichts kann einfacher sein als das.«

»Soll ich ihn heiraten?« wiederholte Luise mit tiefem Nachsinnen.

»Ganz richtig. Es erfüllt mich, als deinen Vater, meine gute Luise, mit Befriedigung, wahrzunehmen, daß du bei der Erwägung dieser Frage nicht auf vorhergefaßte Meinungen oder Gewohnheiten zurückkommst, wie sie bei vielen jungen Frauenzimmern gefunden werden.«

»Nein, mein Vater«, entgegnete sie, »das tue ich nicht.«

»Ich überlasse nun die Sache deinem eigenen Urteil«, sagte Mr. Gradgrind, »den Fall habe ich einmal begrifflich umrissen, wie dergleichen Fälle unter praktischen Leuten gewöhnlich begrifflich umrissen werden. Ich habe ihn statuiert, wie der ähnliche Fall zwischen mir und deiner Mutter zu seiner Zeit statuiert worden. Das übrige fällt deiner Entscheidung anheim, meine gute Luise.«

Sie hatte von Anfang, den Blick starr auf ihn geheftet, dagesessen. Als er sich nun jetzt auf seinem Sitz zurücklehnte und die Augen seinerseits auf sie richtete, hätte er vielleicht einen schwankenden Moment bei ihr wahrnehmen können. Denn es trieb sie gewaltsam, sich an seine Brust zu werfen und die verschlossenen Geheimnisse ihres Herzens vor ihm auszuschütten. Um indessen dafür ein Auge zu haben, hätte er mit einem Satze die künstlichen Schranken überspringen müssen, die er seit Jahren zwischen sich und den subtilen Wesenheiten des Menschentums aufgerichtet hatte. Die Unwägbarkeiten aber werden stets der äußersten Gewandtheit der Algebra entwischen, selbst so lange, bis der Schall der letzten Trompete auch die Algebra in den Wind verwehen wird. Die Schranken waren für einen solchen Sprung zu viele und zu hohe. Er hatte kein Auge dafür. Er scheuchte sie mit seinem hartnäckigen, utilitarischen Tatsachengesicht wieder zurück. – Der Augenblick schoß in die grundlose Tiefe der Vergangenheit hinunter, um sich mit all den verlorenen guten Gelegenheiten zu mischen, die dort schon ertrunken waren.

Sie wandte ihre Augen von ihm ab und blickte so lange schweigend nach der Stadt hin, daß er endlich ausrief: »Willst du dir denn bei den Schornsteinen der Gebäude von Coketown Rat holen, Luise?«

»Ich sehe dort nicht«, als öden, einförmigen Rauch, dennoch kommt, wenn die Nacht herniedersinkt, Feuer zum Vorschein«, antwortete sie, sich rasch umdrehend.

»Freilich, das ist mir wohl bekannt, Luise. Ich sehe aber die Nutzanwendung deiner Bemerkung nicht ein.«

Um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, er sah es wirklich nicht ein.

Sie ging darüber mit einer leichten Handbewegung hinweg und sagte, indem sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihn konzentrierte: »Mein Vater, ich habe oft daran gedacht, daß das Leben so kurz ist.«

Das gehörte so sehr in seinen Bereich, daß er einfiel:

»Ohne Zweifel ist es kurz, mein Kind, dennoch ist es bewiesen, daß die durchschnittliche Dauer des menschlichen Lebens in den letzten Jahren zugenommen hat. Die Berechnungen verschiedener Lebensversicherungsanstalten und Leibrenteninstitute haben mit anderen untrüglichen Berechnungen diese Tatsache bestätigt.«

»Ich spreche von meinem eigenen Leben, mein Vater.«

»O, wirklich?« rief Mr. Gradgrind. »Aber ich brauche doch nicht erst hervorzuheben, daß es denselben Gesetzen unterworfen ist, die das Menschenleben in Summa regieren.«

»Solange es währt, möchte ich das wenige vollbringen, wozu ich imstande und wofür ich geeignet bin. Was ist daran gelegen!«

Mr. Gradgrind war über die Bedeutung der letzten vier Worte in ziemlicher Verlegenheit und rief: »Wie, gelegen? Was, gelegen, mein Kind?«

»Mr. Bounderby«, fuhr sie in gesetzter, gerader Weise fort, »macht mir einen Heiratsantrag. Die Frage, die ich mir dabei zu stellen habe, ist die: ›Soll ich ihn heiraten?‹ Es ist doch so, Vater, nicht wahr? Sie sagten mir so, mein Vater? Nicht wahr?«

»Gewiß, mein Kind.«

»Also. Da Mr. Bounderby mich in dieser Weise nehmen mag, so bin ich bereit, auf sein Anerbieten einzugehen. Sagen Sie ihm, Vater, sobald es Ihnen gefällig ist, daß dies meine Anwort war. Wiederholen Sie dieselbe Wort für Wort, wenn Sie können. Ich wünsche nämlich, daß er genau weiß, was ich gesagt habe.«

»Es ist ganz recht, mein Kind«, antwortete ihr Vater beifällig, »pünktlich zu sein. Ich werde dein gerechtes Begehren erfüllen. Hast du noch einen Wunsch hinsichtlich der Zeit deiner Vermählung, mein Kind?«

»Keinen, mein Vater. Was ist daran gelegen!«

Mr. Gradgrind hatte seinen Stuhl näher zu ihr gerückt und ihre Hand gefaßt. Die Wiederholung dieser Worte schien ihm denn doch wie ein Mißklang an seine Ohren zu dringen. Er machte eine Pause, um sie zu betrachten und sagte, sie weiter bei den Händen haltend:

»Luise, ich hielt es nicht für wesentlich notwendig, an dich eine gewisse Frage zu richten, weil die Möglichkeit, die mit damit verbunden ist, zu weit hergeholt ist. Aber vielleicht sollte ich es dennoch tun. Du hast doch niemals insgeheim einen andern Antrag empfangen?«

»Mein Vater«, erwiderte sie beinahe zornig, »welch ein Antrag konnte mir denn gemacht werden? Wen habe ich gesehen? Wo bin ich gewesen? Was sind die Erfahrungen meines Herzens?«

»Meine gute Luise«, entgegnete ihr Vater ermutigt und zufriedengestellt, »du weisest mich ganz richtig zurecht. Ich wollte mich bloß meiner Pflicht entledigen.«

»Was weiß ich denn, Vater, von Geschmack und Neigung, von Sehnsucht und Herzensneigung? von all dem Teil meines Wesens, in dem dergleichen geringfügige Dinge genährt werden konnten? Welche Abschweifung hatte ich von zu demonstrierenden Problemen und greifbaren Realitäten?«

Indem sie dies sagte, schloß sie unbewußt die Hand, wie um einen festen Körper und öffnete sie dann langsam, als ob sie Staub und Asche losließe.

»Mein Kind«, stimmte ihr ausgezeichnet praktischer Vater bei, »vollkommen wahr, vollkommen wahr.«

»Nun, mein Vater«, fuhr sie fort, »was ist das für eine sonderbare Frage? Der Vorzug, den sich Kinder untereinander zu geben pflegen und von dem ich selbst gehört habe, hat in meiner Brust nie seinen unschuldigen Sitz aufgeschlagen. Sie sind so vorsichtig mit mir gewesen, daß ich nie das Herz eines Kindes besaß. Sie haben mich so wohl erzogen, daß ich niemals den Traum eines Kindes geträumt. Sie sind, mein Vater, von meiner Wiege bis zur gegenwärtigen Stunde so weise mit mir verfahren, daß ich niemals einen kindischen Gauben oder eine kindische Furcht empfand.«

Mr. Gradgrind war von seinem Erfolge und dem ihm also ausgestellten Zeugnisse ganz gerührt. »Meine gute Luise«, sagte er, »du vergiltst mir reichlich meine Sorgfalt. Küsse mich, meine geliebte Tochter!«

Demzufolge küßte ihn seine Tochter. Dann sagte er, indem er sie im Arm hielt:

»Ich kann dir die Versicherung geben, mein Lieblingskind, daß mich der wohlweisliche Entschluß, den du gefaßt hast, glücklich macht. Mr. Bounderby ist ein höchst merkwürdiger Mensch, und was man auch immer von einer Ungleichheit sagen mag, – wenn es überhaupt eine ist – die zwischen euch obwalten dürfte, das erhält durch die Bildung deines Geistes mehr als ein bloßes Gegengewicht. Es war immer mein Streben, dich so zu erziehen, daß du selbst in früher Jugend schon jedes Alter (wenn ich mich so ausdrücken darf) haben könntest. Gib mir noch einen Kuß, Luise. Nun laß uns zu deiner Mutter gehen.«

Demzufolge gingen sie hinunter ins Empfangzimmer, wo die geschätzte Dame mit dem einwandfrei nüchternen Menschenverstand wie gewöhnlich halb liegend dasaß, während Cili bei ihr mit einer Arbeit beschäftigt war. Sie gab einige schwache Zeichen des Auflebens von sich, als sie eintraten: und gleich darauf zeigte sich ihr mattes Transparent wieder in liegender Stellung.

»Mrs. Gradgrind«, sagte ihr Gatte, der auf die Ausführung dieser Heldentat mit Ungeduld gewartet hatte, »erlauben Sie mir, Ihnen Mrs. Bounderby vorzustellen.«

»Oh!« rief Mrs. Gradgrind. »Ihr habt also die Geschichte in Ordnung gebracht. Nun schön, ich hoffe nur, daß du bei guter Gesundheit bleiben wirst. Wenn nämlich dein Kopf so zu zerspringen anfängt, sobald du verheiratest bist, wie es bei mir der Fall war, so kann ich nicht denken, daß du zu beneiden bist. Natürlich glaubst du ja ohne Zweifel, daß du dies bist, wie es bei allen Mädchen zunächst der Glaube ist. Ich gratuliere dir indessen, mein Kind, und ich hoffe, daß du deine sämtlichen graphologischen Studien gut anwenden wirst – ja, das tue ich ganz gewiß. Ich muß dir einen Gratulationskuß geben, Luise, aber berühre nicht meine rechte Schulter: denn dort rieselt etwas den ganzen Tag herunter. Nun seht nur zu«, winselte Mrs. Gradgrind, indem sie ihre Schals nach der zärtlichen Zeremonie wieder zurechtlegte, »wie ich mich jetzt morgens, mittags und abends abquälen werde, um auszudenken, wie ich ihn nennen soll.«

»Mrs. Gradgrind«, sagte ihr Gatte feierlich, »was meinen Sie?«

»Wie ich ihn denn nennen soll, Mr. Gradgrind, wenn er einmal mit Luise verheiratet ist. Ich muß ihn doch irgendwie anreden. Es ist unmöglich«, sagte Mrs. Gradgrind mit einem aus Höflichkeit und Vorwurf gemischten Gefühl, »ihn immer anzusprechen, ohne ihm einen Namen zu geben. Ich kann ihn nicht Josiah heißen, denn dieser Name ist mir unerträglich. Sie selbst würden nichts von Joe hören wollen, das wissen Sie recht wohl. Oder soll ich meinen Schwiegersohn mit »Herr« anreden? Nicht eher, wie ich glaube, als bis die Zeit herangerückt ist, wo meine Verwandten auf mir, als einer unnützen Kranken mit Füßen herumtreten würden. Nun aber, wie soll ich ihn denn nennen?«

Da niemand zugegen war, der in dieser Bedrängnis ein Auskunftmittel dargeboten hätte, so schied Mrs. Gradgrind für jetzt aus diesem Leben, nachdem sie den folgenden Paragraphen zu den bereits mitgeteilten Bemerkungen hinzugefügt hatte:

»Was die Hochzeit angeht, so ist alles, was ich begehre, Luise – und ich begehre es mit einem Zittern in der Brust, das sich tatsächlich bis zu den Sohlen meiner Füße erstreckt – daß sie bald stattfinde, sonst weiß ich, wird das eines von den Dingen sein, die gar kein Ende nehmen wollen.«

Als Mrs. Bounderby von Mr. Gradgrind ihrer Mutter vorgestellt wurde, hatte Cili den Kopf umgewandt und blickte in Verwunderung, in Bedauern, in Kummer, in Zweifel und in einer Fülle von Empfindungen auf Luise. Luise hatte es gewußt und gesehen, ohne sie anzublicken! von diesem Augenblicke an war sie passiv, stolz und kalt – hielt sich fern von Cili – und war gegen sie wie verwandelt.

Einleitung.


Einleitung.

Den Roman »Schwere Zeiten« (Hard times) schrieb Dickens um 1853, zu einer Zeit, als er bereits auf der Höhe seines Ruhmes und seines meisterlichen Könnens stand. Warmherzige Menschlichkeit zu predigen und die Sprache des Gemütes und der Seele höher zu stellen als alle bloße kalte Verstandesweisheit, wird Dickens seit »Oliver Twist« nicht müde. »Schwere Zeiten« richtet sich vor allem gegen die trockene seelenlose Tatsachengelehrsamkeit. Man könnte als Motto über den Roman Goethes Worte aus der Schülerszene des »Faust« setzen:

»Grau, teurer Freund, ist alle Theorie
Und grün des Lebens goldner Baum.«

Insbesondere wandte sich Dickens gegen die Auswüchse der Manchester-Schule und ihrer Lehren vom rücksichtslosen wirtschaftlichen Egoismus. Er zeigt sich dabei diesmal weniger als Satiriker, sondern als der scharfe Beobachter und Menschenkenner. So malt er lebenswahr und ergreifend die Welt der Tatsachenmenschen und Verstandesegoisten: den brutalen, herzlosen Emporkömmling, den Fabrikanten Bounderby, der eitel, unbeherrscht und selbstsüchtig zum Tyrannen gegen die Arbeiter seiner Unternehmungen wird, und sein Gegenspiel Mr. Gradgrind; aber dieser Mann hat im Grunde ein menschlicher Empfindungen fähiges Herz. Er ist nur ein Opfer der zeitlichen Mode geworden, die mit Statistiken und Zahlen die Geheimnisse des Lebens glaubt meistern zu können, und die alle Phantasie und alles blühende Schöpfertum der Seele als ungehörig und belanglos ablehnt. So erzieht Gradgrind seine beiden Kinder Luise und Tom in dem erkältend nüchternen Sinn reiner Verstandesmechanik. Die Folge ist, daß er seiner Tochter alle Sicherheit und alles Glück ihrer Jugend zerstört, sein Sohn aber zum skrupellosen Verbrecher wird. Die feine, menschlich tiefe psychologische Entwicklung der dargestellten Menschen, ihres Wirkens und Leidens ist von Dickens mit unübertrefflicher Meisterschaft gegeben. Zuletzt offenbart sich darin Dickens schöner unbeirrter Glaube an die Weltgerechtigkeit, daß er zum Schluß die Sache des Guten siegen läßt. Die furchtbaren Folgen der verkehrten lebenstötenden Erziehung muß der alte Gradgrind unerbittlich auskosten, aber Reue und die Hoffnung, daß über die in schweren Zeiten geprüften und geläuterten Menschen eine bessere Zukunft heraufziehen möge, gibt dem Roman einen versöhnenden Ausklang. Erschütternd lebensecht ist daneben die Welt der gebundenen, in schwerem Werktagslos dahinlebenden Massen der trostlosen Fabrikstädte gesehen.

Hier erweist sich Dickens als ein Vorgänger Zolas und seiner großen sozialen Romane. Daneben sind dann einzelne Typen mit erfrischender Satire gezeichnet, so die vornehme Madame Sparsit, die den verarmten und entarteten Adel darstellt, der sich schmarotzend mit Emporkömmlingen vom Schlage Bounderbys und ähnlichen Industriellen verband. Sehr »interessant« (das Wort in seiner vollsten Bedeutung genommen) ist auch der Vertreter des Snobs, Mr. Harthouse, der amoralische Genußmensch, der das Leben in all seinen Gewöhnlichkeiten durchschaut, der an nichts als eben an diese Gewöhnlichkeit glaubt.

Was diesem Roman unvergängliche Frische verleiht, ist die lebendige Kraft, die noch immer von ihm ausströmt. Die Bounderbys und Gradgrinds wandeln noch immer unter uns. Und immer noch bemüht sich der technisierende nüchterne Verstand, allen Frühling des Herzens und der Phantasie totzuschlagen. Deshalb können die »Schweren Zeiten« auch unserer Generation als Mahnung zur Einkehr, zur Selbstbesinnung wärmstens empfohlen werden.

Bei der Textrevision bin ich von Dr. Eva Thaer freundlichst unterstützt worden.

P. Th. H.

Erstes Kapitel.


Erstes Kapitel.

»Nun, was ich brauche, das sind Tatsachen. Bringen Sie diesen Knaben und Mädchen nichts als Tatsachen bei. Im Leben bedarf man nur der Tatsachen. Pflanzen Sie nichts anderes ein und entwurzeln Sie alles übrige. Den Geist vernunftbegabter Tiere können Sie nur durch Tatsachen bilden; nichts anderes wird ihnen je von Nutzen sein. Nach diesem Grundsatz erziehe ich meine eigenen Kinder und nach dem gleichen Grundsatz erziehe ich diese Kinder. Halten Sie sich an Tatsachen, mein Herr.«

Der Schauplatz bestand aus einem kahlen, schmucklosen und einförmigen Raum von Schulzimmer, und der plumpe Zeigefinger des Sprechers verlieh dessen Bemerkungen Nachdruck, indem er jeden Satz mit einer Linie am Ärmel des Schulmeisters unterstrich. Der Nachdruck wurde erhöht durch des Sprechers plumpe, mauerartige Stirn, die sich schwer über dessen Augenbrauen erhob. Seine Augen fanden gleichsam ein bequemes Kellergeschoß in zwei dunklen Höhlen, die von der Mauer beschattet wurden. Der Nachdruck wurde erhöht durch den Mund des Sprechers, der dünn, breit und scharf gezeichnet war. Der Nachdruck wurde erhöht durch die Stimme des Sprechers, die unbiegsam, trocken und herrisch klang. Der Nachdruck wurde erhöht durch das Haar des Sprechers, das sich borstenartig an den Enden seines kahlen Kopfes wie eine Pflanzschule von Tannen emporsträubte, um den Wind von dessen schimmernder Oberfläche abzuhalten. Diese war, der Kruste einer Rosinenpastete gleich, ganz mit Knoten bedeckt, als ob der Kopf kaum genug Lagerraum für die harten Tatsachen hätte, die in seinem Innern aufgespeichert lagen. Das stöckische Benehmen, der plumpe Rock, die plumpen Beine und die plumpen Schultern des Sprechers – ja, sein Halstuch sogar, das in seiner unbiegsamen Tatsächlichkeit so zusammengezogen war, um ihn bei der Kehle mit einem unnachgiebigen Griffe zu fassen – das alles erhöhte den Nachdruck.

»In diesem Leben haben wir nichts als Tatsachen nötig, mein Herr: nichts als Tatsachen.«

Der Sprecher und der Schulmeister samt der dritten erwachsenen Person, die zugegen war, alle zogen sich nunmehr etwas zurück und ließen ihre Augen über die geneigte Ebene kleiner Gefäße schweifen, die hier und da in Ordnung aufgepflanzt waren, bereit, mit richtig gemessenen Gallonen von Tatsachen vollgeschüttet zu werden, bis sie bis zum Rand gefüllt wären.

Zehntes Kapitel.


Zehntes Kapitel.

Ich wage zu glauben, daß die Engländer ein ebenso geplagtes Volk sind wie alle andern unter der Sonne. Diesem komischen Glauben rechne ich es zu, warum ich ihm etwas mehr Erholung wünschen möchte.

Es gibt in dem am schwersten arbeitenden Teile von Coketown innerste Werke dieser häßlichen Zitadelle, aus der die Natur ebenso nachdrücklich ausgesperrt, wie Gase und tödliche Dünste hineingesperrt werden. Das ist ein Zentrum von Labyrinth mit engen Höfen über Höfen, mit schmalen Gassen über Gassen, die alle stückweise ins Leben gerufen wurden, ein jedes Stück in gewaltiger Eile für irgend jemands Gebrauch, und das Ganze eine unnatürliche Familie bildend, die sich gegenseitig zu Tode drängt, tritt und quält. In diesem letzten stumpfen Winkel dieses großen unerschöpflichen Reservoirs sind die Rauchfänge aus Mangel an Luftzug in unendlicher Mannigfaltigkeit von verkrüppelten und krummen Gestalten erbaut, als ob jedes Haus ein Zeichen aushinge, was für Leute darin geboren werden dürften. Unter diesem hier hausenden Volke von Coketown, das man mit dem Sammelnamen ›die Hände‹ bezeichnet, einem Geschlecht, das bei gewissen Leuten weit mehr in Gunst gestanden hätte, wenn es durch die Vorsehung bloß als ›Hände‹, oder gleich den niedrigeren Tieren der Meeresküste, bloß als ›Hände und Magen‹ geschaffen wäre, lebte ein gewisser Stephen Blackpool, der vierzig Jahre alt war.

Stephen sah älter aus; er hatte aber auch ein saures Leben gehabt. Man sagt, jedes Leben hat seine Rosen und Dornen. Den Stephen ließ aber ein Unfall oder Mißgeschick dessen eigene Rosen durch andere ernten, während ihm die Dornen dieses andern als Zugabe zu den seinen vermacht wurden. Er hatte, um seine eigenen Worte zu gebrauchen, ein schwer Stück Kummer kennengelernt. Man nannte ihn gewöhnlich den alten Stephen in einer Art konsequenter Huldigung vor dieser Tatsache.

Der alte Stephen mochte wohl, bei seiner gebückten Haltung, mit seiner runzeligen Stirn und seinem streng aussehenden, klobigen Kopf, der von eisengrauem, langem und dünnem Haar bedeckt war, für einen besonders intelligenten Mann in seinem Stand gehalten werden. Dennoch war er es nicht. Er nahm keinen Platz unter jenen bemerkenswerten »Händen« ein, die viele Jahre hindurch, ihre Mußezeit zusammenraffend, mancher schwierigen Wissenschaft Meister wurden und eine Kenntnis der ungewöhnlichsten Dinge sich angeeignet hatten. Er gehörte nicht zu den »Händen«, die Reden halten und Debatten führen konnten. Tausende seiner Genossen waren imstande, zu jeder beliebigen Zeit viel besser zu sprechen als er. Er war ein guter Maschinenweber und ein vollkommen redlicher Mann. Was er mehr war, oder ihm sonst noch eigen war, das möge er selbst zeigen, wenn es überhaupt vorhanden.

Die Lichter in den großen Fabriken, die, wenn sie erleuchtet waren, wie Feenpaläste aussahen – wie die mit Luxus-Expreß-Reisenden wenigstens behaupten – waren sämtlich ausgelöscht, und die Glocken zur Einstellung der Arbeit für die Nacht waren erklungen und wieder verhallt. Die »Hände«, Männer und Frauen, Knaben und Mädchen trappelten nach Hause. Der alte Stephen stand in der Straße mit der sonderbaren Empfindung, die das Stillestehen der Maschinen immer hervorbrachte – einer Empfindung, als wenn die Maschinen auch in seinem Kopfe arbeiteten und stilleständen.

»Ich sehe noch immer Rachael nicht!« sagte er.

Die Nacht war naß, und manche Gruppe junger Frauen eilte an ihm vorbei, die Umhängetücher um das bloße Haupt geschlagen und diese unter dem Kinn dicht, damit sie den Regen abhielten. Er mußte Rachael wohl kennen; denn ein flüchtiger Blick auf die Vorbeigehenden sagte ihm, daß sie sich nicht unter ihnen befinde. Endlich waren alle vorbeigegangen, die kommen konnten. Er wandte sich um und meinte mit einem Ton der Enttäuschung: »Nun, so muß ich sie eben verfehlt haben.«

Er hatte aber noch nicht drei Straßen durchkreuzt, als er wieder eine verhüllte Gestalt voraneilen sah. Er strengte seinen Blick so an, daß vielleicht ihr bloßer, auf dem nassen Pflaster undeutlich reflektierter Schatten – wenn er nur diesen ohne die Gestalt selbst hätte sehen können, die längs der Lampenreihe bald deutlicher sichtbar wurde, bald verschwand – schon genügt hätte, um ihm zu sagen, wer es sei. Er änderte seinen Schritt rasch in einen schnelleren und sachteren, eilte vorwärts, bis er ganz in der Nähe der Gestalt war. Dann nahm er wieder seinen früheren Gang an und rief: »Rachael«

Sie wandte sich um und stand nun gerade im Lampenschimmer. Sie schob das Umschlagetuch ein wenig zurück und zeigte ein ruhiges ovales Gesicht von dunkler Farbe und ziemlich zartem Ausdruck, das von einem Paar äußerst sanfter Augen belebt und durch ihr wohlgeordnetes schwarzglänzendes Haar hervorgehoben wurde. Das Gesicht stand sonst nicht mehr in erster Jugendblüte; sie war eine Frau von fünfunddreißig Jahren.

»Ach, Stephen, bist du’s?« Das sagte sie mit einem Lächeln, das sich ganz deutlich zeigte, obwohl nur ihre lieblichen Augen sichtbar waren. Sie zog das Kopftuch wieder zusammen, und beide schritten miteinander fort.

»Ich dachte, du wärest noch hinter mir, Rachael?«

»Nein.«

»Bist heut zeitig fertig?«

»Ich bin manchmal etwas früher fertig, Stephen, manchmal etwas später. Ich kann es nie genau bestimmen, wann ich heimgehe.«

»Auch nicht, ob man den andern Weg einschlägt, wie es mir scheint, Rachael?«

»Nein, Stephen.«

Er betrachtete sie enttäuscht, zugleich aber mit ehrfurchtsvoller, geduldiger Überzeugung, daß sie in allem, was sie täte, recht haben müsse. Dieser Blick war ihr nicht unbemerkt geblieben; sie legte ihre Hand für einen Augenblick sacht auf seinen Arm, um ihm ihren Dank dafür auszudrücken.

»Wir sind so treue Freunde, Stephen, und so alte Freunde, und fangen jetzt an, alte Leute zu werden.«

»Nein, Rachael, du bist so jung wie du je gewesen.«

»Es würde keinem von uns beiden recht sein, daß man alt würde, Stephen, ohne daß der andere ebenfalls alt würde, wenigstens so lange nicht, wie wir beide zusammen leben«, erwiderte sie lachend. Auf jeden Fall sind wir aber so alte Freunde, daß es jammerschade und eine Sünde wäre, wenn wir uns nicht aufrichtig die Wahrheit sagten. Es ist besser, wenn wir nicht zu viel zusammengehen, zuweilen, ja! denn es wäre wirklich gar zu schlimm, wenn es gar nicht mehr geschehen sollte«, fügte sie mit einer Heiterkeit hinzu, die auch ihn heiter stimmen sollte.

»Es ist allemal hart, Rachael.«

»Versuch‘ nicht daran zu denken, dann wird es schon besser.«

»Hab‘ das schon lang genug versucht, und ist nicht besser geworden. Aber du hast recht; die Leute könnten reden, sogar über dich. Du bist mir seit vielen Jahren so viel gewesen, du hast mir soviel Gutes getan und durch dein heiteres Wesen mir selbst soviel Lebensmut gegeben, daß dein Wort für mich Gesetz ist. Ach Mädel, ein gern befolgtes, freundliches Gesetz! Besser als manches wirkliche Gesetz.«

»Laß dich ja nicht mit Gesetzen ein, Stephen«, antwortete sie rasch, nicht ohne einen ängstlichen Blick auf sein Gesicht. »Laß die Gesetze Gesetze sein.«

»Ja«, sagte er mit einem langsamen Kopfnicken. »Laß sie Gesetze sein. Laß alles sein. Laßt alle Dinge für sich. Es ist Hokuspokus und nichts weiter.«

»Immer Hokuspokus?« fragte Rachael mit einer zweiten leisen Berührung seines Armes, als wollte sie ihn aus der Melancholie reißen, in die er so versunken war, daß er im Gehen an den langen Enden seines losen Halstuchs kaute. Er ließ die Zipfel los, wandte sich freundlich zu ihr und sagte mit gutmütigem Lachen:

»Ah, Rachael, Mädel! Immer Hokuspokus, dabei bleib‘ ich. Ich komme oft und oft auf den Hokuspokus zurück und kann nie darüber hinauskommen.«

Sie waren schon eine Strecke gegangen und waren jetzt in der Nähe ihrer Wohnungen. Die der Frau kam zuerst. Die Wohnung lag in einer der vielen kleinen Straßen, für die der beliebte Leichenbesorger (der eine hübsche Summe aus diesem einzigen, ein bißchen armseligen Luxus der Nachbarschaft zog) eine schwarze Leiter bereithielt. Denn die, die zeit ihres Lebens täglich die schmalen Treppen hinauf- und hinuntergeklettert waren, sollten dann noch das Vergnügen haben, aus dieser Arbeitswelt einmal zum Fenster hinauszuspazieren. Sie stand an der Ecke still, legte ihre Hand in die seine und wünschte ihm gute Nacht.

»Gute Nacht, liebes Mädel, gute Nacht!«

Sie ging mit ihrer zierlichen Gestalt und ihrem gelassenen weiblichen Schritt die dunkle Straße hinab, und er stand da, ihr nachblickend, bis sie in eines der Häuschen verschwunden war. Es war nicht das leiseste Flattern ihres groben Umschlagtuches in den Augen dieses Mannes ohne Interesse und kein Ton ihrer Stimme ohne Echo in seinem inneren Herzen.

Als sie seinen Blicken entschwunden war, machte er sich wieder auf den Heimweg und blickte ein paar Mal zum Himmel empor, wo die Wolken rasch und wild dahinsegelten. Nun waren sie zerrissen, der Regen hatte aufgehört, der Mond guckte durch die hohen Schornsteine von Coketown in die tiefen Oefen hinunter und zeichnete die titanischen Schatten der nun ruhenden Dampfmaschinen auf den Mauern ab, die sie einschlossen. Unser Mann schien, wie er so dahinging, mit der Nacht heiterer zu werden. Seine Wohnung lag in einer andern Straße, die der früheren ähnlich und nur noch schmaler war und befand sich oberhalb eines kleinen Ladens. Wie es eigentlich kam, daß es die Leute der Mühe wert fanden, dort ihre armseligen Spielwaren zu kaufen oder zu verkaufen, in dem Laden, dessen Schaufenster zugleich billige Zeitungen und Schweinefleisch enthielt (den folgenden Abend sollte eine Keule ausgewürfelt werden), das braucht hier nicht erörtert zu werden. Er nahm einen Lichtstumpf von dem Gesims, zündete ihn an einem andern Lichtstumpf auf dem Ladentisch an, ohne die Eigentümerin zu stören, die in ihrem kleinen Zimmer eingeschlafen war, und ging in seine Wohnung hinauf.

Es war ein Zimmer, bei dessen verschiedenen vorangegangenen Bewohnern die schwarze Leiter mehrfach zu Gast gewesen war, sah aber jetzt so nett aus, wie ein solches Zimmer nur hergerichtet werden konnte. Einige Bücher und Schreibpapier lagen auf einem Schreibtisch in der Ecke; die Möbel waren vollständig, und obgleich die Zimmerluft dumpfig war, so sah das Zimmer doch rein aus.

Er ging zum Herd, um das Licht daneben auf einen dreibeinigen runden Tisch zu stellen. Dabei stolperte er über einen Gegenstand. Als er zurückfuhr, um ihn zu betrachten, erhob dieser sich. Es war eine Frau, die da gesessen hatte.

»Um’s Himmels willen, Weib«, rief er und fuhr vor der Gestalt noch weiter zurück. »Bist du wieder zurückgekommen?«

Was für ein Weib! Ein krüppelhaftes, betrunkenes Geschöpf, das bloß imstande war, in der sitzenden Stellung sich aufrecht zu erhalten. Sie stützte sich mit der einen schmutzigen Hand auf dem Boden, mit der andern versuchte sie vergeblich, sich das wirre Haar aus dem Gesicht zu streichen. Aber die schmutzige Hand machte auch das Haar nur noch schmutziger. Ein Geschöpf, in ihrer moralischen Verkommenheit nur noch um so viel schmutziger, daß es schon eine Schmach war, sie auch nur anzublicken.

Nachdem sie einige ungeduldige Flüche ausgestoßen und sich mit der Hand, die zu ihrer Unterstützung nicht nötig war, sich einfältig gekratzt hatte, war endlich das Haar genugsam aus ihrem Gesichte entfernt, um ihn zu erblicken. Dann saß sie da, den Leib hin- und herschaukelnd und machte mit ihrem schlaffen Arm Bewegungen, als sollten die das Lachen begleiten, was sie befiel, während ihr Gesicht einen dummen und schläfrigen Ausdruck zeigte.

»Nun, Junge, bist du auch da?« Einige heisere Töne, die das ausdrücken sollten, entfuhren ihr endlich höhnisch. Dann sank ihr Kopf vorwärts auf die Brust.

»Wieder zurück?« kreischte sie nach einigen Minuten, als ob er es in diesem Augenblick erst gesagt hätte. »Ja! Und wieder zurück, immer und immer so oft. Zurück? Ja, zurück. Warum nicht?«

Durch die Heftigkeit, mit der sie das ausrief, munter gemacht, krabbelte sie in die Höhe und stand da, sich mit den Schultern an der Wand stützend. Dabei hing ihr in der einen Hand ein Bruchstück von Hut, und sie suchte den Mann durchbohrend anzublicken. »Ich werde dich wieder ausverkaufen und ich werde dich wieder ausverkaufen und ich werde dich ein dutzendmal ausverkaufen«, rief sie mit einer Gebärde, die halb wie eine rasende Drohung, halb wie ein herausfordernder Tanz aussah. »Fort von meinem Bett!« Er saß auf dessen Rand und barg das Gesicht in den Händen. »Geh‘ fort davon! Es ist mein Eigentum: ich habe ein Recht darauf.«

Als sie darauf zuwankte, wich er ihr mit Schaudern aus und ging – das Gesicht immer bedeckt – nach dem entgegengesetzen Ende des Zimmers. Sie warf sich schwerfällig aufs Bett und fing bald tüchtig zu schnarchen an. Er sank auf einen Stuhl und bewegte sich in jener Nacht nur einmal. Er tat es, um noch eine Decke über sie zu werfen, als ob die Hände vor seinen Augen selbst ihm in der Dunkelheit nicht genügten, um sie seinen Augen zu verbergen.

Elftes Kapitel.


Elftes Kapitel.

Noch vor Morgengrauen standen die »Feenpaläste« alle zugleich in voller Beleuchtung, und man konnte die monströsen Rauchschlangen sehen, die sich über Coketown hinwälzten. Klappern von Holzschuhen auf dem Straßenpflaster, hastiges Schellen der Glocken und all die melancholisch-wahnsinnigen Elefanten, die für die Monotonie des Tages poliert und geölt waren, alle Maschinen stampften wieder in ihrer schwerfälligen Tätigkeit.

Stephen neigte sich über seinen Webstuhl, ruhig, wachsam und anhaltend. Er bildete wie jeder, der in diesem Wald von Webstühlen gleich ihm arbeitete, einen scharfen Kontrast zu dem rasselnden, ratternden und aufreibenden Mechanismus, mit dem er beschäftigt war. Fürchtet nicht, ihr guten Leute mit einem ängstlichen Gemüt, daß die Natur von der Kunst in Vergessenheit gestoßen werden könnte. Stellet Gottes Werk und Menschenwerk nebeneinander, und das erste wird, wenn es auch nur aus einer Truppe »Hände« von sehr geringer Bedeutung besteht, im Vergleich als das weitaus Würdigere erscheinen.

Vierhundert und noch mehr »Hände« in diesem Mühlwerk – zweihundertundfünfzig Pferdekräfte. Man weiß bis zum letzten Pfund anzugeben, wieviel die Maschine zu leisten vermag. Sämtliche Berechner der Nationalschuld aber können nicht die Fähigkeit zum Guten oder Bösen, zur Liebe oder zum Haß, zum Patriotismus oder zur Rebellion, zur Verwandlung der Tugend in Laster oder zum Gegenteil, in der Seele eines dieser stillen Arbeiter mit den gesetzten Mienen und den sicheren Bewegungen, auch nur für einen einzigen Augenblick angeben. In der Maschine liegt kein Geheimnis, in diesen aber – selbst in den Geringsten von ihnen – ruht ein ewiges, undurchdringliches Mysterium. – Wie wäre es, wenn wir die Arithmetik für materielle Gegenstände reservierten und bei diesen hehren unbekannten Größen andere Hilfsmittel in Anwendung brächten?

Der Tag ward heller und zeigte sich draußen, trotz der drinnen schimmernden Lichter. Diese wurden gelöscht und die Arbeit ward fortgesetzt. Der Regen fiel und die Rauchschlangen wälzten sich, dem Fluche dieses ganzen Stammes sich unterwerfend, über die Erde. Im Hofe draußen aber war der Dampf aus dem Abzugsrohr, das Durcheinander von Fässern und altem Eisen, die glitzernden Kohlenhaufen und selbst die herumgestreute Asche von einem Regen- und Nebelschleier umhüllt.

Die Arbeit ward fortgesetzt, bis die Mittagsglocke ertönte. Vermehrtes Klappern auf dem Straßenpflaster. Der Weberstuhl, die Räder und Hände wurden sämtlich für eine Stunde außer Tätigkeit gesetzt.

Stephen kam aus dem heißen Mühlwerk, verstört und erschöpft, in den feuchten Wind und in die naßkalten Straßen. Er verließ seine Kameraden und sein eigenes Viertel. Er nahm nur ein Stück Brot auf dem Weg zu sich und wandte sich gegen einen Hügel, wo sein Prinzipal in einem roten Haus lebte. Das Haus hatte schwarze Fensterläden von außen, grüne Jalousien von innen, eine schwarze Haustür, zu der zwei weiße Stufen führten. »Bounderby« (mit Buchstaben, die ihm sehr ähnelten) stand auf dem Metallschild zu lesen, und unter diesen befand sich ein runder, metallener Türgriff, der wie ein ehernes »Punktum« aussah.

Mr. Bounderby befand sich beim Gabelfrühstück. Stephen hatte das erwartet. Ob sein Diener ihm ankündigen wollte, daß einer der »Hände« um die Erlaubnis bäte, ihn zu sprechen? Als Antwort die Anfrage, wie der Name dieser »Hand« laute. Stephen Blackpool. Gegen Stephen Blackpool lag nichts Mißliebiges vor – ja, er dürfte kommen.

Stephen Blackpool im Sprechzimmer. Mr. Bounderby (den er bloß vom Ansehen kannte) beim Gabelfrühstück mit Hammelkotelett und Sherry beschäftigt. Mrs. Sparsit am Kamin mit einer Stickerei beschäftigt. Sie sitzt wie eine Dame zu Pferde, mit einem Fuß in einem Bügel von Baumwollgarn. Es gehörte zu Mrs. Sparsits Würde und dienstlicher Stellung, selbst kein Gabelfrühstück zu nehmen. Sie beaufsichtigte das Mahl offizieller Weise, gab jedoch vor, daß sie bei der Vornehmheit ihrer Person dieses zweite Frühstück für eine Schwäche halte.

»Nun, Stephen«, sagte Mr. Bounderby, »was gibt’s mit Euch?«

Stephen machte eine Verbeugung. Keine knechtische – diese »Hände« werden sich nimmer dazu verstehen! Gott bewahre, mein Herr, Sie werden sie nie darauf ertappen, wenn sie auch zwanzig Jahre um Sie gewesen sind! – Und um sich für Mrs. Sparsit artig-angemessen zu verbeugen, stopfte er die Enden seines Halstuches in die Weste.

»Nun, Ihr wißt«, sagte Mr. Bounderby, indem er etwas Sherry nahm, »wir hatten nie Schwierigkeiten mit Euch und Ihr gehörtet nie zu denen, die unbillige Forderungen stellten. Ihr erwartet nicht, in einem sechsspännigen Wagen zu stolzieren und Schildkrötensuppe und Wildbret mit goldenen Löffeln zu essen, wie es so viele andere treiben.« Mr. Bounderby stellte das immer als das einzige, unmittelbare und direkte Streben einer »Hand« dar, die nicht vollständig zufrieden war, »und deshalb bin ich auch überzeugt, daß Ihr nicht gekommen seid, um eine Klage vorzubringen. Nun wißt Ihr, daß ich dessen im voraus gewiß bin.«

»Nein, Sir, ich bin gewiß wegen so etwas nicht gekommen.«

Mr. Bounderby schien, trotz seiner früheren festen Überzeugung, angenehm davon überzeugt zu sein. »Sehr gut«, entgegnete er, »Ihr seid eine solide ›Hand‹, ich habe mich also nicht getäuscht. Nun, laßt mich alles hören, was es gibt. Da es nicht jenes ist, so laßt mich hören, was es gibt. Was habt Ihr zu sagen? Heraus damit, Stephen!«

Stephen warf zufällig einen Blick auf Mrs. Sparsit. »Ich kann mich entfernen, Mr. Bounderby, wenn Sie es wünschen«, sagte diese sich aufopfernde Lady, und tat so, als ob sie den Fuß aus dem Steigbügel nehmen wollte.

Mr. Bounderby hielt sie zurück, indem er einen Mundvoll Hammelkotelette in der Schwebe hielt, ehe er ihn verschluckte, und dabei seine linke Hand ausstreckte. Nachdem er seine Hand zurückgezogen und den Bissen verschluckt hatte, sagte er zu Stephen:

»Nun, Ihr müßt wissen, daß diese gute Lady eine geborene Lady ist, eine hochgestellte Lady. Ihr müßt nicht glauben, daß sie, weil sie jetzt meinen Haushalt beaufsichtigt, nicht hoch auf dem Baume sich befunden – ach, auf dem Gipfel des Baumes! Wenn Ihr nun etwas zu sagen habt, das nicht vor einer Lady von Geburt gesagt werden kann, so wird diese Lady das Zimmer verlassen. Habt Ihr jedoch etwas zu sagen, das vor einer Lady von Geburt wirklich gesagt werden kann, so wird diese Lady bleiben, wo sie ist.«

»Sir, ich glaub‘, ich hab‘ nie nichts zu sagen gehabt, das nicht vor einer Lady von Geburt gesagt werden kann, seit ich selbst geboren bin«, lautete die Antwort mit einem leichten Erröten.

»Sehr gut«, sagte Mr. Bounderby, indem er den Teller von sich stieß und sich zurücklehnte. »Also los!«

»Ich bin gekommen«, fing Stephen nach kurzem Nachdenken an, indem er seine Augen erhob, »um mir bei Ihnen Rat zu holen. Brauche nicht gar zu viel. Neunzehn Jahre sind es her, seit ich an einem Ostermontag bin verheiratet worden. Sie war ein junges Mädchen, ziemlich hübsch und hatte guten Ruf. Gut! Fing bald an umzuschlagen. War nicht meine Schuld. Weiß Gott, bin kein schlechter Ehemann für sie gewesen.«

»Ich habe das alles schon früher gehört«, sagte Mr. Bounderby. »Sie geriet in fremde Gesellschaft, ergab sich dem Trunk, verließ die Arbeit, verkaufte die Möbel, versetzte die Kleider und gebärdete sich ganz rechthaberisch.«

»Ich hatte Geduld mit ihr.«

»Desto dummer von Euch«, meinte Mr. Bounderby vertraulich zu seinem Weinglas.

»Ich hatte viel Geduld mit ihr. Ich suchte sie davon abzubringen – nochmals und nochmals. Probierte dies, probierte jenes und probierte was anderes. Kam oft nach Hause und fand alles verschwunden, was ich in der lieben Welt besaß, und sie selbst ohne einen leisen Gedanken bewusstlos am Boden liegen. Das passierte nicht einmal – nicht zweimal – sondern zwanzigmal.«

Jeder Zug seines Gesichts vertiefte sich, wie er so sprach, und spiegelte auf rührende Weise die Leiden ab, die er ertragen.

»Vom Regen in die Traufe und immer schlimmer als je. Sie verließ mich. Sie machte sich überall zuschanden, ganz entsetzlich. Sie kam zurück, kam wieder und wieder. Was konnt ich tun, um sie daran zu hindern? Ich bin ganze Nächte durch die Straßen gerannt, nur um nicht nach Hause zu gehen. Bin zur Brücke gegangen, um darüber zu springen und alles los zu sein. Ich habe gar so vieles ertragen, woran ich nicht dachte, als ich jung war.«

Mrs. Sparsit, die die Stricknadeln leicht hin und her bewegte, erhob die römischen Augenbrauen und schüttelte mit dem Kopfe, als wollte sie sagen: »Die vornehmen Leute kennen Beschwerden sowohl wie die kleinen. Sehen Sie doch – natürlich in aller Bescheidenheit! – mich an.«

»Ich gab ihr Geld, um sie von mir fernzuhalten. Fünf Jahre lang hab‘ ich ihr Geld gegeben. Ich habe mir wieder anständiges Hausgerät angeschafft. Ich habe ein schweres und trübes Leben geführt, brauch mich aber keiner einzigen Minute zu schämen. Vorige Nacht ging ich nach Hause. Da lag sie auf dem Fußboden. Da ist sie nun!«

In der Gewalt seines Unglücks und in der Stärke seines Elends loderte er für einen Augenblick einem stolzen Manne gleich auf. Im nächsten Augenblick stand er da, wie er bisher dagestanden – in seiner gewöhnlichen gebückten Stellung. Sein nachdenkliches Gesicht war gegen Mr. Bounderby mit einem sonderbaren Ausdruck gerichtet, der halb klug und halb verlegen war, als ob er etwas höchst Schwieriges hätte enträtseln wollen. Den Hut hielt er fest in seiner linken Hand und stützte diese in seine Hüfte. Sein rechter Arm gab seinen Worten durch eine rauhe Eigentümlichkeit und Kraft in seinem Gebärdenspiel ernsthaften Nachdruck, was nicht weniger geschah; nicht am wenigsten, wenn er ihn etwas gebogen hielt, sobald er im Reden pausierte.

»Ich habe das alles, wie Ihr wisst«, sagte Mr. Bounderby, »mit Ausnahme des letzten Vorfalles, schon längst gewusst. Es ist eine schlimme Geschichte – ja, das ist es. Ihr hättet lieber mit Eurem Stand zufrieden sein und nicht heiraten sollen. Es ist indessen zu spät, das zu sagen.«

»War es hinsichtlich des Alters eine ungleiche Heirat, Sir?« fragte Mrs. Sparsit.

»Ihr hört, was diese Lady fragt. War diese schlimme Angelegenheit eine ungleiche Heirat hinsichtlich des Alters?« sagte Bounderby.

»Nicht so ganz. Ich selbst war einundzwanzig und sie noch nicht ganz zwanzig.«

»Wirklich, Sir«, sagte Mrs. Sparsit mit großer Gelassenheit zu ihrem Obern. »Ich schloss daraus – daß es eine so unglückliche Heirat ist, daß eine Altersverschiedenheit dabei obgewaltet haben müsse.«

Mr. Bounderby blickte die gute Lady scharf von der Seite an mit einem komisch-dummen Mienenspiel. Er stärkte sich hierauf mit etwas Sherry.

»Nun? Warum fahrt Ihr nicht fort?« fragte er, etwas ärgerlich gegen Stephen Blackpool gewendet.

»Ich habe Sie fragen wollen, Sir, wie ich mir das Weib vom Hals schaffen kann.« Stephen verlieh dem vermischten Ausdruck seines aufmerksamen Gesichtes einen noch tieferen Ernst. Mrs. Sparsit stieß einen leisen Ausruf aus, als hätte sie einen moralischen Stoß erlitten.

»Was meint Ihr?« fragte Mr. Bounderby, der aufgestanden war, um sich mit dem Rücken gegen den Kamin zu lehnen. »Wovon sprecht Ihr? Ihr habt sie aufs Geratewohl genommen?«

»Ich muß sie loswerden. Ich kann es nicht länger mehr ertragen. Ich hab‘ nur darum solange dabei existieren können, weil ich das Mitleid und den Trost eines Mädchens hatte, des besten unter den lebenden oder toten. Vielleicht hab‘ ich es nur ihr zu verdanken, daß ich nicht verrückt geworden bin.«

»Er will frei werden, um, wie ich fürchte, das Frauenzimmer zu heiraten, von dem er spricht, Sir!« bemerkte Mrs. Sparsit mit gedämpfter Stimme, höchst betrübt über die Sittenlosigkeit dieser Leute.

»Das will ich. Die Lady hat richtig gesprochen. Das will ich. Ich wollte das selbst noch sagen. Ich hab‘ in den Zeitungen gelesen, daß die Großen (denen es wohl ergehen möge – ich wünsche ihnen nichts Schlimmes) nicht aufs Geratewohl so fest miteinander verbunden sind, daß sie ihre unglücklichen Ehen nicht wieder auflösen könnten, um nochmals zu heiraten. Wenn sie sich nicht gut vertragen, weil sie ein ungleiches Temperament haben, so haben sie allerhand verschiedene Zimmer in ihren Häusern, und sie können abgesondert leben. Wir armen Leute haben nur ein Zimmer, und wir können das nicht. Wenn das nicht geht, so haben sie Gold und anderes Geld, und sie können sagen: ›Dies ist für mich und das für dich.‹ Dann kann ein jeder seine Wege gehen. Wir können das nicht. Trotz alledem können sie sich wegen kleinerer Ungerechtigkeiten freimachen, während Hunderte und aber Hunderte leiden müssen, und zwar mehr noch die Frauen als die Männer – sie können sich wegen kleinerer Unbilden, als die meinen sind, freimachen. Ich will nun mein Weib loswerden und möchte nun gern wissen, auf welche Weise?«

»Auf keine Weise!« erwiderte Mr. Bounderby.

»Wenn ich ihr etwas antue, gibt’s ein Gesetz, um mich zu bestrafen?«

»Freilich gibt’s eins.«

»Wenn ich von ihr fortlaufe, gibt’s ein Gesetz, um mich zu bestrafen?«

»Freilich gibt’s eins.«

»Wenn ich das andere liebe Mädchen heirate, gibt’s ein Gesetz, um mich zu bestrafen?«

»Freilich gibt’s eins.«

»Wenn ich mit ihr lebte, ohne sie zu heiraten – den Fall angenommen, daß so etwas sein könnte, was eigentlich nie geschehen würde oder könnte, da sie so gut ist – gibt es ein Gesetz, mich in jedem unschuldigen Kinde zu bestrafen, das mir gehören würde?«

»Freilich gibt’s eins.«

»Zeigt mir nun, um Gottes willen«, rief Stephen Blackpool, »das Gesetz, womit mir zu helfen wäre.«

»Dieses Lebensverhältnis«, sagte Mr. Bounderby, »ist geheiligt und – und – muß aufrechterhalten werden.«

»Nein, nein – sagen Sie das nicht, Sir. In dieser Weise kann es nicht aufrechterhalten werden. Nicht in dieser Weise. In dieser Weise muß es zugrunde gehen. Ich bin ein Weber und kam schon als Kind in die Fabrik, aber ich habe Augen, um zu sehen, und Ohren, um zu hören. Ich lese die Zeitungen – jede Gerichtsperiode, jede Sessionszeit – und Sie lesen sie auch – ich weiß es! – mit banger Besorgnis, wie die Unmöglichkeit, auf irgendeine Art von einander loszukommen, Blut über unser Land bringt und viele Ehepaare (ich sage aber, noch mehr die Frauen als die Männer) zu Kampf, Mord und Totschlag führt. Räumt uns doch dieses Recht ein. Mein Fall ist ein sehr trauriger, und ich möchte von Ihnen – wenn Sie so gut sein wollten – erfahren, welches Gesetz mir helfen könnte.«

»Ich will Euch nun was sagen«, bemerkte Bounderby, indem er die Hände in die Tasche steckte. »Es gibt ein solches Gesetz.«

Stephen nickte mit dem Kopf, indem er in seine frühere Ruhe versank und aufmerksam hinhorchte.

»Aber es ist durchaus nichts für Euch. Es kostet Geld. Kostet eine ungeheure Summe.«

»Wie viel würde das sein?« fragte Stephen ruhig.

»Nun, Ihr müsstet zu dem Gerichtshof für Ehesachen mit dem Prozess gehen, dann müsstet Ihr zu dem Common Law mit einem Prozess gehen, und Ihr müsstet zum Oberhaus mit einem Prozess gehen – dann müsstet Ihr einen Berechtigungsschein des Parlaments zu erlangen suchen, daß ihr wieder heiraten dürft. Das würde Euch (wenn der Wind günstig bläst), wie ich glaube, an tausend bis fünfzehnhundert Pfund kosten«, sagte Mr. Bounderby. »Vielleicht die doppelte Summe.«

»Gibt’s kein anderes Gesetz?«

»Auf keinen Fall.«

»Nun denn, Sir«, sagte Stephen erblassend und machte mit der rechten Hand eine Bewegung, als gäbe er alles den vier Wänden preis. »Es ist alles Hokuspokus. Es ist alles zusammen nichts als Hokuspokus, und je früher ich sterbe, desto besser ist’s.«

(Mrs. Sparsit war jetzt von neuem über die Gottlosigkeit dieser Leute in Betrübnis versetzt.)

»Ach was! sprecht keinen Unsinn, mein Lieber«, sagte Mr. Bounderby, »von Dingen, die Ihr nicht versteht, und nennt die Institutionen Eures Landes nicht Hokuspokus, oder Ihr werdet eines schönen Morgens selbst in ein Hokuspokus geraten. Die Institutionen Eures Landes sind nicht Eure Angelegenheit, und das einzige, worum Ihr Euch zu kümmern habt, ist, Eure Arbeit zu besorgen. Eure Frau ist Euch nicht durch ein betrügerisches Spiel zugefallen, sondern Ihr habt sie aus freien Willen genommen. Wenn sie sich schlecht bewährt – nun, alles was uns zu sagen übrig bleibt, ist, daß sie sich eben besser hätte bewähren sollen.«

»Hokuspokus«, sagte Stephen mit einem Kopfschütteln, als er sich der Tür näherte – »es ist alles Hokuspokus.«

»Ich will Euch nun was sagen«, fuhr Mr. Bounderby in einer Abschiedsermahnung fort. »Mit Euren Gesinnungen, die ich als ruchlos bezeichnen muß, habt Ihr diese Lady vollständig empört, die, wie ich Euch bereits gesagt habe, eine Lady von Geburt ist, und die, wie ich Euch noch nicht gesagt habe, ihre eigenen Unglücksfälle in der Ehe gehabt hat, die sich auf zehntausend Pfund beliefen – auf, sage und schreibe zehntausend Pfund (er wiederholte es mit großem Behagen). Bis jetzt seid Ihr nun eine solide ›Hand‹ gewesen, meine Meinung ist aber, und das will ich Euch geradezu sagen, daß Ihr anfangt, eine schlechte Bahn einzuschlagen. Ihr habt irgendeinem boshaften Fremden oder sonst jemandem Gehör geschenkt – sie sind immer dabei – und das beste, was Ihr tun könnt, ist, Euch das alles aus dem Kopf zu schlagen. Nun, Ihr wisst nun«; hier nahm sein Gesicht einen Ausdruck besonderer Schläue an, »ich kann ebenso tief in einen Schleifstein gucken wie jeder andere – ja, noch tiefer als viele andere Leute, weil mir die Nase in meiner Jugend tüchtig gerieben wurde. Ich wittere etwas von Schildkrötensuppe, Wildbret und goldenen Löffeln. Ja, das tue ich«, rief Mr. Bounderby, den Kopf in seiner hartnäckigen Schlauheit schüttelnd. »Weiß der Himmel, das tue ich.«

Mit einem ganz andern Kopfschütteln und tiefem Seufzer sagte Stephen: »Ich danke Ihnen, Sir. Guten Tag.«

So verließ er Mr. Bounderby, der sich vor seinem Bilde an der Wand aufblähte, als wollte er sich hineinexplodieren. Mrs. Sparsit aber strickte weiter, mit ihrem Fuß im Steigbügel und ganz betrübt über die Laster des Volkes.

Zwölftes Kapitel.


Zwölftes Kapitel.

Stephen Blackpool stieg die zwei weißen Stufen herab und schloss die schwarze Tür mit dem metallenen Türschild. Er tat das, indem er das messingene Punktum anzog und gab diesem zum Abschied mit seinem Rockärmel noch eine kleine Politur; denn er merkte, daß es von seiner warmen Hand angelaufen war. Mit zur Erde gesenktem Blick ging er über die Straße und schritt kummervoll dahin, als er sich plötzlich am Arm berührt fühlte.

E« war nicht die Berührung durch die Hand, die er in einem solchen Augenblick am meisten ersehnt hätte – die Berührung, die die aufgeregten Wogen seiner Seele hätte beschwichtigen können, wie die erhobene Hand der höchsten Liebe und Geduld das Toben des Meeres dämpfen konnte – und doch war es die Berührung einer Frauenhand. Seine Augen fielen, als er stillstand und sich umwandte, auf eine alte Frau, die von hoher Gestalt und noch stattlich war, obgleich die Zeit sie schon hatte verblühen lassen. Ihre Kleidung war sehr reinlich und einfach, der Staub der Landstraße haftete an ihren Schuhen – sie musste eben von einer Fußreise gekommen sein. Ihre Aufgeregtheit in dem ungewohnten Straßenlärm – der ärmliche Schal, den sie über dem Arm trug – der schwerfällige Regenschirm und der kleine Korb – die weiten Handschuh, an die ihre Hände nicht gewöhnt waren – alles verriet eine alte Frau vom Lande, die in den einfachen Sonntagskleidern nach Coketown kam, um, wie es gewiß selten geschah, irgend etwas hier zu besorgen.

Stephen Blackpool bemerkte das alles mit der schnellen Beobachtungsgabe seiner Klasse, neigte sein aufmerksames Gesicht – sein Gesicht, das wie die Gesichter so vieler seines Standes, durch anhaltendes Arbeiten mit Augen und Händen inmitten eines ungeheuren Lärms, einen konzentrierten Blick sich angeeignet hatte, den wir im Antlitz tauber Menschen gewöhnlich antreffen – zu ihr nieder, um sie besser zu verstehen.

»Bitte, mein Herr«, sagte die Alte, »Hab‘ ich Euch nicht aus dem Hause jenes Gentleman kommen sehen?« Dabei deutete sie nach der Besitzung von Mr. Bounderby. »Ich glaube. Ihr wart es, wenn ich nicht das Mißgeschick hatte, mich in der Person zu irren, der ich nachfolgte.«

»Ja, liebe Frau«, erwiderte Stephen, »ich war’s.«

»Habt Ihr – entschuldigt gefälligst die Neugier einer alten Frau – habt Ihr den Herrn gesehen?«

»Ja, liebe Frau.«

»Und wie sah er aus, mein Herr? War er bei Kräften, frisch, gesund und munter?«

Sie richtete sich mit dem Kopf in die Höhe, um ihre Gebärden ihren Worten anzupassen. Da durchkreuzte Stephen der Gedanke, daß er diese Frau schon früher gesehen, und daß sie ihm damals unsympathisch gewesen sei.

»O ja«, antwortete er, sie aufmerksamer betrachtend, »er war das alles.«

»Und gesund«, fragte die Alte, »wie der frische Wind?«

»Ja«, entgegnete Stephen, »er aß und trank so vernehmlich und derb wie eine dicke Hummel.«

»Danke«, sagte die Alte mit unendlicher Zufriedenheit. »Danke sehr.«

Er hatte die alte Frau früher wohl nie gesehen. Dennoch schwebte ihm die unbestimmte Erinnerung vor, als habe er schon mehr als einmal von einer ähnlichen alten Frau geträumt.

Sie schritt neben ihm her, und ihre frohe Laune übertrug sich auf ihn. Er bemerkte, daß Coketown ein betriebsamer Ort sei, nicht wahr? Worauf sie zur Antwort gab: »Ei, gewiß, schrecklich betriebsam.« Dann sagte er, sie komme vom Lande, wie er sehe? Das bejahte sie.

»Mit dem Frühschnellzug. Ich kam vierzig Meilen mit dem Frühschnellzug heute, und vierzig Meilen werde ich heute nachmittag wieder zurücklegen. Ich ging heute morgen zu Fuß neun Meilen zu der Eisenbahnstation, und wenn ich auf meinem Weg niemanden finde, der mich mitnimmt, so werde ich dieselben neun Meilen am Abend wieder zurücklegen. Da« ist bei meinem Alter ein schönes Stück Arbeit, Sir!« sagte die alte Frau, mit fröhlich leuchtenden Augen.

»Sicherlich. Aber so oft könnt Ihr das kaum, liebe Frau?«

»Nein, nein. Einmal im Jahr«, antwortete sie kopfschüttelnd, »gebe ich auf diese Weise meine Ersparnisse aus, nur einmal jedes Jahr. Ich komme regelmäßig, um durch die Straßen zu eilen und die Herren zu sehen.«

»Bloß um sie zu sehen?« fragte Stephen.

»Das genügt mir«, antwortete sie mit großem Ernst und merkwürdigem Eifer. »Ich verlange nicht mehr. Ich habe hier auf dieser Seite gestanden, um jenen Herrn«, hier drehte sie den Kopf abermals nach Mr. Bounderbys Wohnung um, »herauskommen zu sehen. Aber er verweilt lange dieses Jahr, und ich habe ihn nicht erblickt. Ihr kamt statt seiner heraus. Wenn ich nun zurückgehen muß, ohne einen Blick auf ihn geworfen zu haben – ich bedarf nur eines Blickes – so hilft das nichts. Ich habe Euch gesehen und ich muß damit zufrieden sein.« Während sie das sagte, betrachtete sie Stephen, als wolle sie sich seine Gesichtszüge einprägen, wobei ihre Augen den früheren Glanz verloren hatten.

So sehr er den verschiedenen Geschmack auch gelten ließ und so unterwürfig er auch gegen die Patrizier von Coketown war, so schien ihm das doch ein außergewöhnliches Interesse zu sein, daß sich jemand wegen solcher Sache so viel Mühe gab. Er ward ordentlich verwirrt davon. Sie kamen gerade an der Kirche vorüber, und da er die Uhr erblickte, beschleunigte er seinen Schritt.

»Es geht wohl zur Arbeit?« fragte die Alte, indem sie leichterweise auch den ihren beschleunigte. Ja, die Zeit war beinahe um. Als er ihr mitteilte, wo er arbeitete, wurde die Alte eine noch seltsamere Alte als früher.

»Seid Ihr nicht glücklich?« fragte sie ihn.

»Nun – es gibt – niemanden, der nicht seine Sorgen hat, Frau«, antwortete er ausweichend: denn die Alte schien es für ausgemacht zu halten, daß er in der Tat sehr glücklich sein müsse, und er hatte nicht das Herz, sie zu enttäuschen. Er wußte, daß es des Ungemachs in der Welt genug gebe, und wenn die Alte schon solange gelebt hatte und darauf rechnen konnte, daß ihm nur so wenig davon zuteil geworden, nun, um so besser für sie und nicht schlimmer für ihn.

»Ja, ja! Ihr habt wohl häuslichen Kummer?« fragte sie.

»Manchmal. Dann und wann eben«, antwortete er leichthin.

»Aber wenn ihr bei einem solchen Herrn in Arbeit steht, so folgt Euch der Kummer doch nicht in die Fabrik?«

»Nein, nein, er folgt mir nicht dahin«, sagte Stephen. »Da ist alles ohne Tadel, alles in Ordnung.« (Er ging nicht soweit, um zu ihrem Vergnügen zu bemerken, daß eine Art göttlichen Rechtes daselbst obwalte: wir haben freilich neuerdings ähnliche herrliche Behauptungen verlauten hören.)

Sie befanden sich nun in der schwarzen Seitengasse, in der Nähe der Fabrik, wohin die »Hände« sich drängten. Die Glocke schellte, und die Schlange war eine Schlange von verschiedenen Windungen, und der Elefant machte sich bereit. Die sonderbare Alte schien selbst von der Glocke entzückt zu sein. Es war die allerschönste Glocke, die sie je vernommen, und klang großartig.

Sie fragte ihn, als er vor seinem Eintreten gutmütig anhielt, um ihr die Hand zu schütteln, wie lange er hier schon arbeite?

»Ein Dutzend Jahre«, sagte er.

»Ich muß die Hand küssen«, sagte sie, »die in dieser schönen Fabrik ein Dutzend Jahre gearbeitet.« Sie zog sie empor, obgleich er sie daran hindern wollte, und führte sie an die Lippen. Die Einfalt ihres Wesens konnte er sich bei ihrem Alter und ihrer Einfachheit nicht erklären; aber selbst in diesem phantastischen Benehmen lag ein gewisses Etwas, das weder für Zeit noch Ort unschicklich war, ein gewisses Etwas, von dem es schien, als ob sonst niemand ein gleiches so ernsthaft und mit so natürlicher und rührender Art hätte tun können.

Eine volle halbe Stunde hatte er, über diese Alte in Nachdenken versunken, an seinem Webstuhl gesessen. Als er nun für irgendeine Zurichtung sich umwenden musste und einen Blick durch das Fenster in der Ecke warf, sah er sie noch vor dem Gebäude in Bewunderung versunken dastehen. Unbekümmert um Rauch, Kälte und Nässe und ihre zwei langen Reisen, staunte sie das Haus an, als ob das schwerfällige Knarren, das aus seinen vielfachen Stockwerken ertönte, wie rauschende Musik in ihren Ohren klänge.

Endlich war sie fort, und der Tag folgte ihr, und die Lichter erglänzten wieder, und der Expresstrain flog angesichts der Feenpaläste über die Schwibbogen in raschem Fluge vorüber: wenig ward inmitten des Maschinengeklappers davon gespürt, und bei dem Krachen und Knarren wurde kaum etwas gehört. Seine Gedanken waren indessen zu seinem trübseligen Zimmer über dem kleinen Laden und zu der schmachvollen Gestalt zurückgeeilt, die schwer auf dem Bette, noch schwerer aber ihm auf dem Herzen lag.

Die Maschinen erschlafften – schlugen schwach wie ein ermattender Puls – hielten inne. Abermals die Glocke – der Lichtschimmer und die Hitze verschwanden – die Fabriken sahen in der schwarzen, nassen Nacht düster darein – und ihre hohen Schornsteine erhoben sich in die Luft gleich den Türmen von Babel.

Es ist wahr, daß er mit Rachael erst am vorigen Abend gesprochen hatte und ein wenig mit ihr gegangen war. Nun lag aber das neue Unglück auf ihm, wobei ihm sonst niemand auch nur für einen Augenblick Trost zu gewähren vermochte. Darum, und auch weil er wußte, daß er eine Besänftigung für seinen zornigen Unmut nötig hatte, und weil er weiter wußte, wie ihn schon ihre Stimme trösten konnte, glaubte er, er dürfe gegen ihren Wink handeln und auf sie warten. Er wartete, aber sie hatte ihn getäuscht. Sie war bereits fort. An keinem Abend des ganzen Jahres kam es ihm so schwer an, ihr sanftes Gesicht zu entbehren.

Oh! Wahrlich besser, keinen häuslichen Herd besitzen, wohin man sein müdes Haupt legen kann, als einen wirklich haben und wegen solcher Gründe sich scheuen, ihn zu betreten. Er aß und trank, denn er war erschöpft – aber er wußte nicht was, noch kümmerte er sich darum. Er irrte in dem kalten Regen umher, immerfort sinnend und sinnend und brütend und brütend.

Kein einziges Wort über eine zweite Heimat war je zwischen ihnen gewechselt worden. Aber Rachael hatte ihm seit Jahren Mitleid bewiesen: und ihr allein hatte er während dieser ganzen Zeit sein gedrücktes Herz über die Ursache seines Elends erschlossen. Er wußte wohl, daß, wenn er um ihre Hand anhalten dürfte, sie ihm diese nicht verweigern würde. Er dachte an den häuslichen Herd, zu dem er im jetzigen Augenblick mit Stolz und Vergnügen geeilt wäre – welch ein anderer Mann er jetzt gewesen, wie leicht es ihm dann um das Herz gewesen wäre, das jetzt so schwer beladen war. Er dachte an die wiederhergestellte Ehre, an Selbstachtung und Ruhe –was jetzt alles zerstört war. Er dachte an den Verlust seiner besten Lebenszeit, an den Wechsel, der in seinem Charakter in jeder Beziehung zum Schlechten stattgefunden, an die schreckliche Art seines Daseins, da er mit Hand und Fuß an ein totes Weib gebunden war, da ihn ein Dämon in ihrer Gestalt folterte. Er dachte an Rachael, wie jung sie war, als sie sich zum ersten Mal unter solchen Umständen begegneten, wie herangereift sie jetzt war, und wie bald sie alt werden sollte. Er dachte an die Mädchen und Jungfrauen, die sie zum Altar hatte schreiten sehen, wie viele Familien sie kannte, in denen die Kinder heranwuchsen; wie sie sich trotz allem zufrieden gab, ihren ruhigen, einsamen Pfad weiterging, nur um seinetwillen. Er erinnerte sich, wie er zuweilen den Schatten der Melancholie über ihr freundliches Gesicht hat schweben sehen, was ihn mit Gewissensqualen und Verzweiflung erfüllte. Er stellte sich ihr Bild neben der schmachvollen Erscheinung von der vergangenen Nacht vor und dachte: Ist es möglich, daß die ganze irdische Laufbahn eines so sanften, guten und sich aufopfernden Wesens von so einem erbärmlichen Geschöpf, wie jene ist, abhängig sein sollte!

Erfüllt von diesen Gedanken – so sehr erfüllt, daß er ein seltsames Gefühl eigenen Zersprengtwerdens empfand, als träte er in eine neue und krankhafte Beziehung zu den Dingen, die ihn umgaben, und als sähe er den Lichtkreis von jedem Nebellicht rot glänzen – ging er Obdach suchend nach Hause.

Kapitel 1


Oliver Twist

Handelt von dem Orte, wo Oliver Twist geboren ward, und von Umständen, die seine Geburt begleiteten

In einer Stadt, die ich aus mancherlei Gründen weder nennen will, noch mit einem erdichteten Namen bezeichnen möchte, befand sich unter anderen öffentlichen Gebäuden auch eines, dessen sich die meisten Städte rühmen können, nämlich ein Armenhaus. In diesem wurde an einem Tage, dessen Datum dem Leser kaum von Interesse sein kann, der Kandidat der Sterblichkeit geboren, dessen Namen die Kapitelüberschrift nennt.

Lange noch, nachdem er bereits durch den Armenarzt in dieses irdische Jammertal eingeführt war, blieb es höchst zweifelhaft, ob das Kind lange genug leben würde, um überhaupt eines Namens zu bedürfen. Es hielt nämlich ungernein schwer, Oliver zu bewegen, die Mühe des Atmens auf sich zu nehmen, allerdings eine schwere Arbeit, die jedoch die Gewohnheit zu unserm Wohlbefinden nötig gemacht hat. So lag er, eine geraume Zeit nach Luft ringend, auf einer kleinen Matratze, wobei sich die Waagschale seines Lebens entschieden einer besseren Welt zuneigte. Wäre Oliver damals von sorglichen Großmüttern, ängstlichen Tanten, erfahrenen Wärterinnen und hochgelehrten Ärzten umgeben gewesen, so wäe er unzweifelhaft mit dem Tode abgegangen, so aber war niemand bei ihm als eine arme alte Frau, die infolge ungewohnten Biergenusses ziemlich benebelt war, und ein Armenarzt, der vertragsgemäß bei Geburten Hilfe leisten mußte. Oliver hatte deshalb die Sache mit der Natur allein auszufechten. Das Ergebnis war, daß Oliver nach einigen Anstrengungen atmete, nieste und endlich damit zustande kam, den Bewohnern des Armenhauses die Ankunft einer neuen Bürde für die Gemeinde durch ein so lautes Schreien anzukündigen, als sich füglich von einem Jungen erwarten ließ, der die ungemein nützliche Beigabe einer Stimme erst seit drei und einer viertel Minute besaß. Da erhob sich das bleiche Gesicht einer jungen Frau mit Mühe von den Kissen und eine schwache Stimme flüsterte kaum vernehmbar: „Lassen Sie mich das Kind sehen, dann will ich gern sterben.“

Der Arzt saß vor dem Kamin und war bemüht, seine Hände bald durch Reiben, bald durch Ausstrecken über die Kohlen warm zu halten; als aber die junge Frau sprach, stand er auf, trat an das Kopfende des Bettes und sagte mit mehr Freundlichkeit, als man ihm zugetraut hätte: „Oh! Sie müssen nicht vom Sterben sprechen!“

Die Wöchnerin streckte die Hand nach ihrem Kinde aus, der Arzt legte es ihr in die Arme. Sie küßte es leidenschaftlich auf die Stirn, dann fuhr sie mit den Händen über ihr Gesicht, blickte wild um sich, schauderte, sank zurück – und starb.

„Sie hat ausgerungen“, sagte der Arzt nach einer kurzen Untersuchung zu der alten Frau. „Ihr braucht nicht nach mir zu schicken, wenn das Kind schreit, wahrscheinlich wird es etwas unruhig sein.“ Er zog bedächtig seine Handschuhe an. „Ihr könnt ihm dann ein wenig Haferschleim geben.“ Er setzte den Hut auf und trat, bevor er das Zimmer verließ, noch einmal ans Bett und sagte: „Es war ein hübsches Mädchen; woher kam sie?“

„Sie wurde gestern abend auf Anordnung des Armenvorstehers hier eingeliefert“, antwortete die alte Frau. „Man fand sie auf der Straße ohnmächtig; sie muß weit gelaufen sein, denn ihre Schuhe waren ganz zerrissen, jedoch, woher sie kam oder wohin sie wollte, weiß niemand.“

Der Arzt beugte sich über die Verblichene und hob ihre linke Hand hoch.

„Ich sehe schon, es ist die alte Geschichte“, sagte er kopfschüttelnd, „kein Trauring. Na! Gute Nacht!“

Er ging zu seinem Abendessen, und die alte Frau setzte sich auf einen Schemel in der Nähe des Kamins und begann das Kind zu kleiden.

In der Decke, die Oliver bisher umhüllt hatte, konnte man ihn ebensogut für das Kind eines Edelmannes als für das eines Bettlers halten. Aber jetzt in dem alten verwaschenen Kinderzeug, dlas durch langjährige Benutzung gelb geworden war, trug er Zeichen und Abzeichen seiner Stellung, nämlich die eines Gemeindekindes, einer Waise des Armenhauses, eines zum Hungern bestimmten Lasttieres, das von allen verachtet und von niemand bemitleidet, durch die Welt geknufft und gepufft wird.

Oliver schrie laut und kräftig; hätte er wissen können, daß er eine Waise war und der zärtlichen Fürsorge von Kirchen- und Armenvorstehern ausgeliefert, so hätte ervielleicht noch lauter geschrien.

Handelt davon, wie Oliver Twist heranwuchs, erzogen und ernährt wurde

In den ersten acht oder zehn Monaten war Oliver das Opfer eines systematischen Betrugs und einer unausgesetzten Gaunerei. Er wurde nämlich aufgepäppelt. Die Armenhausbehörde meldete den ausgehungerten und elenden Zustand des Waisenkindes pflichtschuldigst an den Gemeindevorstand. Dieser forderte einen Bericht darüber, ob sich „in dem Hause“ keine Frauensperson befände, die in der Lage sei, dem kleinen Oliver Twist die Nahrung zu reichen, deren er bedurfte. Die untertänige Antwort der Armenhausbehörde fiel verneinend aus, worauf der Gemeindevorstand den hochherzigen und menschenfreundlichen Entschluß faßte, Oliver in einem fünf Kilometer entfernten Filialarmenhaus unterzubringen. Dort wuchsen unter der mütterlichen Aufsicht einer älteren Frau zwanzig bis dreißig andere jugendliche Übertreter der Armengesetze auf, ohne von Kleidung und Nahrung allzusehr belästigt zu werden. Die Matrone nahm die kleinen Verbrecher gegen eine Entschädigung von wöchentlich sieben und einem halben Pence für den Kopf auf, und damit läßt sich ein Kind recht gut ernähren. Der Betrag reicht sogar zu, den Magen zu überladen und das Kind krank zu machen. Die alte.Dame war eine kluge und erfahrene Frau, sie wußte, was für Kinder – und noch mehr, was für sie selber gut war. Sie verwendete den größeren Teil des Kostgeldes zu ihrem eigenen Nutzen und setzte die heranwachsende Jugend auf noch kleinere Rationen, als von der Behörde beabsichtigt war.

Jedermann kennt die Geschichte eines praktischen Philosophen, der eine herrliche Theorie erfunden hatte, die ein Pferd befähigte, gänzlich ohne Nahrung zu leben. Der Versuch gelang so weit, daß er sein eigenes Pferd bis auf einen Strohhalm den Tag herunterbrachte und auch ohne Zweifel ein sehr mutiges, feuriges und gar nichts fressend des Tier aus ihm gemacht hätte, wenn es nicht vierundzwanzig Stunden vor dem Tage krepiert wäre, wo es sich zum ersten Male ausschließlich von der Luft ernähren sollte. Unglücklicherweise hatte das System der Frau, deren Fürsorge Oliver Twist anvertraut war, gewöhnlich einen ähnlichen Erfolg. Gerade wenn ein Kind so weit gekommen war, von dem kleinstmöglichen Teile der möglichst schwächsten Nahrung zu leben, so kam es acht-, bis neunmal in zehn Fällen vor, daß es an Hungertyphus erkrankte, oder sich verbrannte oder einen schweren Fall tat, lauter Zufälligkeiten, durch die das bedauernswerte kleine Wesen in eine andere Welt abgerufen und zu den Vätern versammelt wurde, die es in dieser nicht gekannt hatte.

Man kann nicht erwarten, daß diese Erziehungsmethode glänzende Ergebnisse zeitigte. Oliver Twist war an seinem neunten Geburtstage ein blasses, schmächtiges, im Wachstum zurückgebliebenes Kind. Aber Natur oder Vererbung hatte in seine Brust einen gesunden, kräftigen Geist gepflanzt, der auch, dank der spärlichen Diät der Anstalt hinreichend Raum hatte, sich auszudehnen. Vielleicht ist es nur diesem Umstande zuzuschreiben, daß er sich überhaupt seines neunten Geburtstages erfreuen durfte. Er feierte denselben in der erlesenen Gesellschaft zweier anderen jungen Herren im Kohlenkeller, wo sie nach einer tüchtigen Tracht Schläge eingesperrt worden waren, weil sie sich erdreistet hatten, hungrig zu sein. An diesem Tage wurde Frau Mann, die würdige Vorsteherin der Anstalt durch die unerwartete Erscheinung des Gemeindedieners, Herrn Bumble, in Schrecken gesetzt. Er bemühte sich gerade, die Gartentür zu öffnen.

„Herr du meine Güte! Sind Sie es, Herr Bumble?“ rief Frau Mann, indem sie ihren Kopf aus dem Fenster steckte, anscheinend hocherfreut dem Kirchendiener zu.

„Susanne, hole rasch den Oliver und die beiden anderen Rangen aus dem Keller und wasche sie. – Ach, wie mich das freut, Herr Bumble. Freue mich wirklich, Sie mal wiederzusehen“

Herr Bumble war ein dicker und außerdem jähzornige Mann und anstatt die freundliche Begrüßung zu erwidern, gab er der Gartentür einen Stoß, wie ihn nur der Fuß eines Gemeindedieners zu geben imstande ist.

„Mein Gott“, sagte Frau Mann hinauseilend – denn die drei Jungen waren inzwischen aus dem Keller geholt worden – „daß ich das vergessen konnte. Der lieben Kinder wegen hatte ich ja die Tür verriegelt. Treten Sie näher, Herr Bumble, bitte kommen Sie rein.“

Obgleich diese Einladung mit einer Liebenswürdigkeit vorgebracht wurde, die sogar das Herz eines Kirchenältesten erweicht, hätte, besänftigte sie den Gemeindediener durchaus nicht.

„Ist es etwa ein geziemendes und höfliches Benehmen, Frau Mann“, fragte Herr Bumble, „die Gemeindebeamten am Gartentor stehen zu lassen, wenn sie in Angelegenheiten, die die Gemeindewaisen betreffen, hierher kommen?‘

„Glauben Sie mir, ich war gerade dabei, den lieben Kindern zu erzählen, daß Sie kämen“, erwiderte Frau Mann unterwürfig.

Herr Bumble hatte eine hohe Meinung von seiner Beredsamkeit und seiner Wichtigkeit. Die eine hatte er entfaltet und die andere geltend gemacht. Er wurde dadurch milde gestimmt.

„Schon gut, Frau Mann“, entgegnete er in sanfterem Tone, „ich will es Ihnen glauben. Gehen Sie nur voran, Frau Mann, ich komme dienstlich und habe Ihnen etwas auszurichten.“

Frau Mann führte den Gemeindediener in ein kleines Zimmer, holte einen Stuhl herbei und nahm ihm dienstbeflissen den dreieckigen Hut und seinen Stock ab. Sie legte beides auf den Tisch vor ihm. Herr Bumble wischte sich den Schweiß von der Stirn und blickte wohlgefällig auf den dreieckigen Hut. Dann lächelte er. Tatsächlich, er lächelte. Gemeindediener sind auch nur Menschen, und Herr Bumble lächelte.

„Nehmen Sie mir nicht übel, was ich Ihnen jetzt sage“, bemerkte Frau Mann mit bestrickender Liebenswürdigkeit, „aber Sie haben einen weiten Spaziergang gemacht, darf ich Ihnen mit einem Gläschen aufwerten, Herr Bumble?“

„Nicht einen Tropfen, nicht einen!“ erwiderte Herr Bumble und wehrte mit seiner rechten Hand würdevoll, aber nicht unfreundlich ab.

„Sie dürfen’s mir nicht abschlagen“, sagte Frau Mann, der der Ton seiner Weigerung und die ihn begleitende Gebärde nicht entgangen war. „Nur ein kleines Gläschen mit ein wenig kaltem Wasser und ’nem Stückchen Zucker.“ Herr Bumble hustete.

„Nur einen Tropfen!“ fuhr Frau Mann im überredenden Tone fort.

„Was ist es denn?“ fragte der Gemeindediener.

„Nun, es ist etwas, von dem ich immer einen kleinen Vorrat haben muß, um es den lieben Kindern in den Kaffee gießen zu können, wenn sie nicht wohl sind“, versetzte Frau Mann, indem sie einen Eckschrank öffnete und eine Flasche nebst Glas zum Vorschein brachte. „Es ist Wachholder.“

„Den geben Sie den Kindern mit dem Kaffee, Frau Mann?“ fragte er, dabei mit seinen Augen den interessanten Vorgang der Mischung verfolgend.

„Ja, der liebe Gott weiß es, ich tu’s, so teuer er auch ist. Sie wissen ja, mein Herr, daß ich sie nicht vor meinen Augen leiden sehen könnte!‘

„Nein“, sagte Herr Bumble, „nein, das könnten Sie nicht. Ich weiß, daß Sie eine menschlich denkende Frau sind, Frau Mann“ (hier setzte sie ihm das Glas hin), „ich werde bei passender Gelegenheit den Gemeindevorstand besonders darauf aufmerksam machen.“ (Er zog das Glas näher an sich.) „Sie fühlen wie eine Mutter“ (er hob das Glas), „ich – mit Vergnügen trinke ich auf Ihre Gesundheit, Frau Mann“, damit trank er das Glas zur Hälfte leer.

„Doch nun zu unserm Geschäft!“ rief der Gemeindediener, indem er eine lederne Brieftasche herauszog. „Das mit der Nottaufe versehene Kind Oliver Twist ist heute neun Jahre alt geworden.“

„Gott segne ihn!“ fiel Frau Mann ein und rieb sich mit dem Schürzenzipfel ihr linkes Auge rot.

„Und trotz der angebotenen Belohnung von zehn Pfund, die nachher auf zwanzig erhöht wurde, trotz der äußersten – ich möchte fast sagen übernatürlichen – Anstrengungen seitens der Gemeinde sind wir nicht imstande gewesen, seinen Vater oder die Heimat, noch den Namen und den Stand seiner Mutter ausfindig zu machen.“

„Wie kommt es aber, daß er überhaupt einen Namen hat?“ fragte Frau Mann.

Der Gemeindediener warf sich in die Brust und entgegnete: „Den habe ich erfunden!“

„Sie, Herr Bumble?“

„Jawohl. Wir geben unsern Findlingen Namen nach dem Alphabet. Der letzte war ein S – ich taufte ihn Swubble. Dieser war ein T – ich benannte ihn Twist.“

„Sie sind ja ein wahrer Gelehrter, Herr Bumble.“

„Vielleicht“, sagte der Gemeindediener geschmeichelt, „kann sein, Frau Mann. – Oliver ist nun zu alt für dieses Haus, der Vorstand hat beschlossen, ihn wieder zurückzunehmen,.und ich soll ihn abholen. Bringen Sie ihn mal her.“

„Ich werde ihn sofort holen“, sagte Frau Mann und verließ das Zimmer. Oliver war inzwischen von dem Schmutz, der sein Gesicht und seine Hände bedeckte, so weit gereinigt worden, als es durch eine einmalige Wäsche geschehen konnte. An der Hand seiner wohlwollenden Beschützerin betrat er nun das Zimmer.

„Mach einen Diener vor dem Herrn, Oliver“, sagte Frau Mann.

Oliver machte eine tiefe Verbeugung sowohl vor Herrn Bumble auf dem Stuhl, als auch vor dem Dreispitz auf dem Tische.

„Willst du mit mir gehen, Oliver?“ fragte Herr Bumble mit hoheitsvoller Stimme.

Oliver wollte gerade sagen, daß er gern mit jedem fortgehen würde, als er bemerkte, daß ihm Frau Mann, die hinter den Stuhl des Gemeindedieners getreten war, mit wütender Miene die Faust zeigte. Er verstand diese Zeichensprache.

„Wird sie auch mitgehen?“ fragte der arme Junge.

„Nein, aber sie wird dich hin und wieder besuchen“, sagte Herr Bumble.

Das war kein sonderlicher Trost für Oliver. Trotz seiner Jugend war er jedoch klug genug, sich so zu gehaben, als verließe er Frau Mann nur ungern. Es wurde ihm nicht schwer, Tränen ins Auge zu locken, da Hunger und kürzlch überstandene Mißhandlungen recht geeignet sind, sie herbeizuführen. So weinte Oliver sehr natürlich. Frau Mann umarme ihn wohl tausendmal und gab ihm ein großes Butterbrot, damit er nicht allzu hungrig im Armenhuse ankäme. Unnötig zu sagen, daß ihm das Butterbrot leber war als die tausend Umarmungen der Frau Mann. Mit einer kleinen braunen Tuchmütze auf dem Kopf vere ließ nun Oliver die armselige Stätte, wo nie ein freundliches Wort oder ein zärtlicher Blick das Dunkel seiner Kinderjahre erhellt hatte.

Herr Bumble holte mit weiten Schritten aus, und der kleine Jnge trabte neben ihm her, wobei er alle fünf Minuten fragte, ob sie nicht bald „da“ seien.

Oliver war noch keine Viertelstunde im Armenhause und kaum mit der Vertilgung eines zweiten Stückchen Brotes fertig, als Bumble ihm sagte, daß heute abend eine Vorstandssitzung sei, und daß er unverzüglich vor dem Kollegium zu erscheinen habe.

Die Begriffe von Sitzung und Kollegium waren Oliver nicht besonders klar. Er wußte deshalb nicht, ob er bei dieser Nachricht lachen oder weinen sollte. Bumble führte ihn in ein großes weißgetünchtes Zimmer, wo acht bis zehn wohlbeleibte Herren um einen Tisch saßen. Oben am Tische machte sich auf einem Lehnstuhl, der etwas höher als die übrigen Stühle war, ein besonders wohlgenährter Herr mit einem sehr runden, roten Gesichte breit.

„Verbeuge dich vor den Vorstandsmitgliedern!“ sagte Bumble, und Oliver tat es.

„Wie heißt du, Junge?“ fragte der Mann im hohen Lehnstuhl.

Der Anblick so vieler Herren brachte Oliver so aus der Fassung, daß er zu zittern anfing. Er antwortete daher nur leise und schüchtern.

„Junge!“ sagte der Vorsitzende, „du weißt doch, daß du eine Waise bist?“

„Was ist das?“ fragte der arme Kerl.

„Du weißt doch, daß du keinen Vater und keine Mutter hast und daß du von der Gemeinde erzogen wirst, nicht wahr?“

„Jawohl, Herr“, erwiderte Oliver, bitterlich weinend.

„Warum heulst du?“ fragte ein Herr mit einer weißen Weste. In der Tat, der Grund, weshalb er weinte, war sehr schwer zu finden.

„Ich hoffe, du betest jeden Abend vorm Zubettgehen für die Leute, die dich aufziehen, wie es sich für einen Christen geziemt“, fragte ein anderer Herr mit barscher Stimme.

„Ja, Herr“, stotterte der Junge.

„Nun, wir haben dich hierherkommen lassen, damit du erzogen wirst und ein nützliches Gewerbe lernst“, sagte der Vorsitzende.

„Du wirst daher morgen früh um sechs Uhr anfangen, Werg zu zupfen“, fügte der Herr mit der weißen Weste hinzu.

Für die Verbindung dieser beiden Wohltaten machte Oliver auf einen Wink des Gemeindedieners eine tiefe Verbeugung und wurde dann schnell in einen großen Saal geführt, wo er sich auf einer harten Pritsche in den Schlaf weinte.

Armer Oliver! Er dachte nicht daran, als er so in einer glücklichen Selbstvergessenheit schlummernd dalag, daß jene Männer am selben Tage einen Entschluß gefaßt hatten, der den größten Einfluß auf sein künftiges Geschick haben sollte. Und doch war es der Fall, wie wir in folgendem sehen werden.

Die Mitglieder des Gemeinderats waren sehr weise, einsichtsvolle, philosophische Männer. Als sie ihre Aufmerksamkeit dem Armenhaus zuwandten, fanden sie mit einem Male, was bisher noch kein gewöhnlicher Sterblicher entdeckt hatte, daß es den Armen darin zu gut gefiel. Es war in ihren Augen ein rechtes Vergnügungslokal für die besitzlosen Klassen, ein Wirtshaus, wo nichts bezahlt wurde jahrein, jahraus Frühstück, Mittagessen, Tee und Abendbrot auf öffentliche Kosten –, ein Elysium aus Backsteinen und Mörtel mit Spiel und Tanz, ohne jede Arbeit.

„Oho“, sagten die Gemeinderäte, „das muß anders werden, und zwar sofort.“ Sie setzten daher als Richtlinie fest, daß die armen Leute die Wahl haben sollten (denn es war nicht ihre Absicht, jemand zu zwingen), in dem Hause langsam oder außer dem Hause schnell Hungers zu sterhen. Zu diesem Zwecke schlossen sie mit den Wasserwerken einen Vertrag über die Lieferung einer unbegrenzten Menge Wasser und trafen mit dem Getreidelieferanten eine Übereinkunft, von Zeit zu Zeit kleine Mengen Hafermehl herbeizuschaffen. So erhielten dann die Insassen des Armenhauses dreimal täglich einen dünnen Haferschleim, außerdem zweimal in der Woche eine Zwiebel und sonntags eine halbe Semmel.

Schon in den ersten sechs Monaten nach Olivers Rückkehr war dieses System in vollem Gange. Der Raum, in dem die Jungen abgefüttert wurden, war eine große Halle aus Stein, an deren einem Ende ein kupferner Kessel stand. Aus diesem schöpfte der Speisemeister, unterstützt von einigen Frauen, zur Essenszeit den Haferschleim. Von dieser köstlichen Speise erhielt jeder Junge einen Napf voll, und nicht mehr – festliche Anlässe ausgenommen, an denen sie auch noch ein nicht allzu großes Stück Brot bekamen. Die Näpfe brauchten nicht abgewaschen zu werden, die Jungens bearbeiteten sie mit ihren Löffeln so lange, bis sie wieder spiegelblank waren.

Kinder haben fast immer Hunger. Oliver und seine Kameraden hatten die Qualen des langsamen Hungertodes drei Monate lang ausgehalten. Da erklärte ein ziemlich großer Junge, dessen Vater eine kleine Kneipe hatte, und der daher reichliches Essen gewöhnt war, er fürchte seinen Schlafkameraden einmal nachts aufzuessen, wenn er nicht noch einen weiteren Napf Haferschleim täglich erhielte. Dabei rollten seine Augen wild. Die Jungen beratschlagen und losten dann, wer nach dem Abendessen zum Speisemeister gehen und um mehr bitten solle. Das Los fiel auf Oliver Twist.

Der Abend kam heran, der Speisemeister stellte sich an den Kessel, und nachdem ein langes Tischgebet über das kurze Mahl gesprochen war, wurde der Haferbrei aus, geteilt. Dieser war schnell im Magen der Kinder verschwunden, als Oliver aufstand und mit Napf und Löffel vor den Speisemeister hintrat. Hunger und Elend ließen ihn alle Rücksichten vergessen, doch zitterte er, als er sagte:

„Bitte, Herr, ich möchte noch etwas mehr.“

Der wohlgenährte, rotbäckige Koch wurde bei diesen Worten blaß und mußte sich am Kessel festhalten. Er blickte mit starrem Entsetzen auf den kleinen Rebellen und stieß schließlich mit schwacher Stimme aus: „Was?“

„Bitte, Herr, ich möchte noch etwas mehr!“

Da schlug ihn der Küchenmeister mit dem Löffel über den Kopf, packte Oliver bei den Händen und rief laut nach dem Gemeindediener.

Der Verwaltungsausschuß hielt eben eine Sitzung ab, als Herr Bumble aufgeregt ins Zimmer stürzte. Er wandte sich an den Vorsitzenden:

„Verzeihung, Herr Limbkins! Oliver Twist hat mehr haben wollen!“

Alle waren starr.

„Mehr?“ fragte Herr Limbkins. „Nehmen Sie sich zu, sammen, Bumble, und antworten Sie mir klar und deutlich. Habe ich das so zu verstehen, daß er noch mehr verlangte, nachdem er bereits seinen vorschriftsmäßigen Anteil erhalten hatte?“

„Jawohl, Herr!“

„Der Junge wird am Galgen enden“, sagte der Herr mit der weißen Weste. „Ich bin ganz sicher, daß der Bursche dereinst gehängt wird!“

Niemand widersprach dieser Prophezeiung. Nach kurzer Beratung wurde Oliver eingesperrt. Am nächsten Morgen wurde ein Anschlag an das Tor geklebt, der jedem, der Oliver der Gemeinde abnähme, eine Summe von fünf Pfund verhieß. Mit anderen Worten, Oliver Twist wurde nebst fünf Pfund jedem Mann oder jeder Frau – wer eben einen Lehrling oder einen Laufburschen brauchte – angeboten.

Berichtet, wie Oliver Twist dicht daran war, eine Stellung zu bekommen, die keine Sinekure gewesen wäre

Oliver blieb eine Woche lang in einer dunklen, eisamen Kammer eingesperrt. Er weinte den ganzen Tag über bitterlich. Wenn dann die lange, traurige Nacht kam, legte er seine Händchen auf die Augen, um nicht ins Dunkel starren zu müssen, kroch in eine Ecke und versuchte zu schlafen. Alle Augenblicke aber fuhr er aus seinem Schlaf auf und drückte sich dann dichter an die Mauer, als ob er sich selbst in ihrer kalten, harten Fläche einen Schutz gegen die ihn umgebende Finsternis verspräche.

Nun begab es sich, daß eines Morgens der Schornsteinfegermeister Gamfield die Landstraße entlangzog. Er dachte darüber nach, wie er gewisse Mietsrückstände, um die ihn sein Hauswirt ziemlich energisch gemahnt hatte, bezahlen solle. Er wußte nicht, wie er die ihm fehlenden fünf Pfund herbeischaffen könnte, und marterte damit bald sein Gehirn, bald den Kopf seines Esels. Da fiel ihm plötzlich der Anschlag ins Auge, als er beim Armenhause vorbeikam.

„Halt!“ sagte der Meister zu dem Esel, doch dieser, ebenfalls in tiefes Sinnen versunken, trabte, ohne auf den Befehl seines Herrn zu achten, ruhig weiter. Gamfield fluchte wie ein Heide und versetzte dem Esel einen Schlag auf den Kopf, daß dieser halb betäubt war und stillstand. Dann begann der Meister aufmerksam den Anschlag zu lesen.

Der Herr mit der weißen Weste stand, die Hände auf dem Rücken, am Tore. Er hatte dem kleinen Streit zwischen Gamfield und seinem Esel gespannt zugeschaut und lächelte gutgelaunt. Gamfield lächelte gleichfalls, als er das Schriftstück durchgelesen hatte, denn fünf Pfund waren gerade die Summe, die er brauchte. Was die Beigabe des Jungen anbelangt, so wußte der Meister, der die Armenhauskost kannte, daß es sich nur um ein ziemlich schmächtiges Menschenexemplar handeln könnte. Er buchstabierte also den Anschlag nochmals von Anfang bis zu Ende durch und redete dann den Herrn mit der weißen Weste an, indem er gleichzeitig grüßend die Hand an seine Pelzmütze legte:

„Diesen Jungen hier will also die Gemeinde als Lehrling vergeben?“

„Ja, lieber Freund“, erwiderte der Herr mit der weißen Weste leutselig, „warum?“

„Wenn die Gemeinde ihn ein leichtes, angenehmes Handwerk lernen lassen will, so möchte ich mein Schornsteinfegergeschäft empfehlen“, entgegnete der Meister. „Ich brauche einen Lehrling und bin bereit, ihn zu nehmen!“

„Kommen Sie rein“, sagte der Herr mit der weißen Weste.

Gamfield folgte diesem in das Sitzungszimmer und trug Herrn Limbkins seinen Wunsch vor.

„Es ist ein schmutziges Handwerk, man hat auch erlebt, daß Jungens in den Schornsteinen erstickt sind“, meinte Limbkins.

„Dies kommt daher“, versetzte Gamfield, „daß man das Stroh anfeuchtete, ehe man es im Kamin anzündete, um die Jungen herunterzuholen. Es gab nur Rauch aber kein Feuer. Rauch hat aber keinen Zweck, denn er veranlaßt einen Jungen nicht runterzukommen, er macht ihn nur schläfrig, und das ist es ja gerade, was solch ein Bursche will. Jungen sind faul und widerspenstig, meine Herren, und ein schönes, heißes Feuer das beste, um sie im Galopp herunterzubringen. Es ist auch ein humanes Mittel, meine Herren, denn wenn einer im Schornstein steckenbleibt und sich die Füße verbrennt, dann tut er schon selbst alles mögliche, um sich aus dieser Lage zu befreien.`

Die Vorstandsmitglieder berieten sich einige Minuten, dann verkündete Herr Limbkins:

„Wir haben Ihren Vorschlag überlegt, können aber nicht drauf eingehen.“

„Ganz und gar nicht“, sagte der Herr mit der weißen Weste.

„Entschieden nicht“, fügten die andern Vorstandsmitglieder hinzu.

„So soll ich ihn also nicht haben, meine Herren?“ fragte Gamfield.

„Nein“, antwortete Herr Limbkins, „oder Sie müßten mit einer kleineren Summe zufrieden sein, da es doch ein zu schmutziges Handwerk ist.“

„Was wollen Sie geben, meine Herren? Seien Sie nicht zu hart gegen einen armen Mann!“

„Nun, ich meine, drei Pfund und zehn Schillinge wären genug“, sagte Herr Limbkins.

„Schon zehn Schilling zuviel“, bemerkte der Herr mit der weißen Weste.

„Also, sagen wir vier Pfund, meine Herren“, versetzte Gamfield, „und Sie sind den Jungen für immer los. Vier Pfund, das ist anständig.“

„Drei Pfund und zehn Schillinge“, wiederholte Herr Limbkins unbeugsam.

„Wir wollen die Differenz teilen, meine Herren, drei Pfund und fünfzehn Schillinge also!“

„Nicht einen Penny mehr“, lautete die feste Antwort Herrn Limbkins.

„Sie sind mächtig hart zu mir“, sagte Gamfield kleinlaut.

„Unsinn“, sagte der Herr mit der weißen Weste. „Es wäre ein feines Geschäft auch ohne jeden Zuschuß. Greifen Sie zu, Mann. Er ist gerade der richtige Junge für Sie. Ab und zu hat er den Rohrstock nötig, und sein Essen braucht auch nicht üppig zu sein, denn er ist von seiner Geburt an nie überfüttert worden. Ha! Ha! Ha!

Der Handel wurde also geschlossen, und Bumble bekam den Auftrag, Oliver Twist noch am selben Nachmittag vor den Friedensrichter zu führen, um seinen Lehrbrief genehmigen und unterzeichnen zu lassen.

Der kleine Oliver wurde daher zu seinem großen Erstaunen aus der Haft entlassen und erhielt den Befehl, ein reines Hemd anzuziehen. Er hatte kaum diese ungewohnte gymnastische Übung beendet, als ihm Herr Bumble eigenhändig einen Napf voll Haferschleim und das sonntägliche Stück Brot brachte. Bei diesem Anblick fing Oliver kläglich an zu weinen, denn er dachte nichts anderes, als daß die Behörde ihn zu irgendeinem nützlichen Zwecke schlachten lassen wollte, da sie ihn wohl sonst kaum in dieser Weise mästen würde.

„Weine dir nicht die Augen rot, Oliver, sondern iß und sei dankbar“, sagte Herr Bumble würdevoll. „Du sollst Lehrling werden, Ofiver!“

„Lehrling, Herr?!“ rief der Junge zitternd.

„Jawohl, Oliver, die guten Herren, die an dir Elternstelle vertreten haben, wollen dich in die Lehre geben, damit du später im Leben vorwärts kommst und ein tüchtiger Kerl wirst. Das kostet der Gemeinde drei Pfund und zehn Schillinge, denke mal, Oliver, drei Pfund zehn Schillinge – siebzig Schillinge! – hundertvierzig Sixpences – und all das für einen ungezogenen Waisenjungen, den keiner leiden kann.“‚

Als Herr Bumble innehielt, um Atem zu schöpfen, rannen dem armen Oliver nur so die Tränen über die Backen, und er schluchzte bitterlich.

„Weine nicht!“ sagte Herr Bumble, der von der Wirkung seiner Beredsamkeit sehr befriedigt war. „Wisch dir die Tränen mit dem Ärmel ab und laß sie nicht -in die Suppe fallen. Das ist töricht.“ Das stimmte, denn in der Suppe war ohnehin schon Wasser genug.

Auf dem Wege zum Friedensrichter belehrte Herr Bumble seinen kleinen Begleiter, daß er dort weiter nichts zu tun habe, als recht glücklich auszusehen. Wenn ihn dann der Herr frage, ob er in die Lehre gehen wolle, so müsse er sagen, furchtbar gern. Oliver versprach zu gehhorchen, um so mehr als Herr Bumble die zarte Andeutung fallen ließ, er könne nicht sagen, was man ihm antun würde, wenn er nicht diesen seinen Unterweisungen getreulich nachkäme. Als sie an Ort und Stelle eintrafen, wurde Oliver in ein kleines Zimmer gebracht und von Herrn Bumble ermahnt, dort so lange zu verweilen, bis er ihn holen würde.

Klopfenden Herzens wartete der Junge bereits eine halbe Stunde, als endlich Herr Bumble seinen Kopf, der jetzt der Zierde des dreieckigen Hutes entbehrte, durch die Tür steckte und laut sagte:

„Nun, liebes Kind, komm zu dem Herrn.“ Dabei warf er Oliver einen drohenden Blick zu und flüsterte ihm zu: „Denke dran, was ich dir sagte, Bengel.“

Oliver sah bei diesem sich widersprechenden Ton der Anreden unschuldig zu Herrn Bumble auf. Dieser führte ihn sogleich in ein anstoßendes Zimmer, dessen Tür offen stand. Hinter einem Pult saßen dort zwei alte Herren mit gepuderten Perücken. Einer las eine Zeitung, der andere studierte mit Hilfe einer Schildpattbrille ein kleines vor ihm liegendes Pergament. Herr Limbkins stand vorn an einer Seite des Pultes und Meister Gamfield mit teilweise gewaschenem Gesicht auf der anderen.

Der alte Herr mit der Brille war über seinem Pergament eingenickt, und es entstand eine kurze Pause, nachdem Herr Bumble Oliver vor das Pult geführt hatte.

„Das ist der Junge, Euer Gnaden“, sagte Herr Bumble.

Der die Zeitung lesende Herr sah auf und zupfte den andern alten Herrn am Ärmel, worauf dieser erwachte.

„Ach, das ist also der Junge?“ fragte er.

„Ja, Euer Gnaden“, versetzte Herr Bumble. „Mach dem Herrn Richter eine Verbeugung, Oliver.“

Oliver machte seinen schönsten Diener.

„Der Junge will also gern Kaminfeger werden?“ sagte der Friedensrichter.

„Er ist ganz verrückt danach, Euer Gnaden“, sagte Bumble, „er würde davonlaufen, wenn wir ihn zwingen wollten, etwas anderes zu lernen!“

„Und dieser Mann da soll sein Meister sein, nicht wahr? Sie werden ihn doch gut behandeln, und was das Essen und die Kleidung anbelangt, nicht Not leiden lassen, versprechen Sie das?“

„Wenn ich einmal gesagt habe, ich will, so werde ich esauch tun“, entgegnete Gamfield mürrisch.

„Ihre Ausdrucksweise ist nicht gerade fein, mein Freund, aber Sie scheinen ein offener, ehrlicher Mensch zu sein“, sprach der Richter, den Meister dabei durch seine Brillengläser flüchtig anguckend. Wäre er nicht halb blind und beinahe schon kindisch gewesen, so hätte ihm die Brutalität in Gamfields Gesicht auffallen müssen.

„Ich denke das zu sein“, entgegnete der Meister mit einem häßlichen Blick.

„Daran zweifle ich nicht, mein Freund“, fuhr der alte Herr fort und suchte nach dem Tintenfaß.

Es war für Olivers Schicksal ein kritischer Augenblick. Hätte das Tintenfaß da gestanden, wo es der alte Herr vermutete, so hätte er seine Feder eingetaucht und den Lehrbrief unterzeichnet. Gamfield hätte dann Oliver gleich mitgenommen. Aber da es unmittelbar vor seiner Nase stand, so suchte er natürlich vergebens nach ihm auf dem Pulte herum. Er begegnete dabei dem verstörten Blicke Olivers, der trotz aller ermahnenden Winke und Püffe Bumbles seinen künftigen Lehrherrn mit Furcht und Schrecken betrachtete. Halb blind wie er war, fiel es doch dem Friedensrichter auf. Er hielt daher inne, legte die Feder hin und schaute von Oliver zu Herrn Limbkins hinüber, der unbefangen zu erscheinen versuchte und lächelnd eine Prise nahm.

„Mein Junge“, sagte der alte Herr und beugte sich über das Pult. Oliver fuhr bei diesem Tone zusammen, denn er war einer freundlichen Anrede nicht gewohnt. „Mein Kind, du siehst blaß und verstört aus. Was ist dir?“

„Tretet ein wenig auf die Seite, Bumble“, sagte der andere Ratsherr, die Zeitung weglegend. Er sah Oliver teilnahmsvoll an und sprach: „Junge, sag uns, was dir ist, habe keine Angst!“

Oliver fiel auf die Knie und bat mit gefalteten Händen, man möge ihn lieber in die finstere Kammer sperren, ihm nichts zu essen geben, ihn prügeln, ja totschlagen, nur solle man ihn nicht mit diesem schrecklichen Manne fortschicken.

„Nun“, sagte Herr Bumble, indem er feierlich Augen und Hände gen Himmel hob, „von allen lügnerischen, hinterlistigen Waisenkindern, die mir je vorgekommen sind, bist du der frechste.“

„Haltet den Mund, Gemeindediener!“ sagte der zweite alte Herr, als sich Herr Bumble in dieser Weise Luft gemacht hatte.

„Verzeihung, Euer Gnaden!“ entgegnete Bumble, der seinen Ohren nicht traute, „haben Euer Gnaden mich gemeint?“

„Jawohl. Sie sollen den Mund halten!“

Herr Bumble war starr. Einem Gemeindediener den Mund zu verbieten Das war ja Revolution.

Der Friedensrichter guckte seinen Kollegen bedeutungsvoll an und sagte dann:

„Wir versagen dem Lehrbriefe unsere Genehmigung“; damit schob er das Pergament beiseite.

„Ich hoffe“, stotterte Herr Limbkins, „Sie werden nicht glauben, daß die Behörde fahrlässig gehandelt hat, noch dazu auf das unhaltbare Zeugnis eines Kindes hin.“

„Wir sind nicht berufen, darüber eine Meinung auszusprechen“, versetzte der alte Herr ziemlich scharf. „Nehmen Sie den Jungen wieder mit und behandeln Sie ihn anständig. Er scheint’s nötig zu haben.“

Am nächsten Morgen wurde Oliver wieder für fünf Pfund ausgeboten.

Oliver findet eine Stelle und macht den ersten Schritt ins Leben

Angesehene Familien schicken die jüngeren Söhne, die sonst keine Aussicht haben vorwärtszukommen, gern auf die See. Der Armenhausvorstand beschloß dieses weise Beispiel nachzuahmen. Er glaubte, es wäre das beste für Oliver. Vielleicht würde ihn ein Schiffer in der Trunkenheit zu Tode prügeln oder sonstwie um die Ecke bringen. Herr Bumble erhielt also den Auftrag, einen Schiffer ausfindig zu machen, der Oliver nehmen würde. Als er von dieser Mission zurückkehrte, traf er in der Haustür den Leichenbestatter Herrn Sowerberry. Dieser war trotz seines ernsten Berufes keinem Scherze abgeneigt. Er schüttelte Herrn Bumble die Hand und sagte:

„Ich habe den beiden Weibern, die gestern abend starben, eben Maß genommen.“

„Sie werden noch reich werden, Herr Sowerberry.“

„Glauben Sie? Aber die von der Gemeinde bewilligten Preise sind zu gering, Herr Bumble.“

„Die Särge sind auch dementsprechend klein“, erwiderte der Gemeindediener würdevoll lächelnd.

Herr Sowerberry fand diesen Witz furchtbar komisch und lachte anhaltend. Endlich sagte er:

„Größere sind bei dem neuen Verpflegungssystem auch nicht nötig.“

„Übrigens, Herr Sowerberry, wissen Sie keinen, der einen Lehrjungen gebrauchen kann?“ fragte Herr Bumble, der das Gespräch ablenken wollte. „Sehr günstige Bedingungen, sehr günstig.“

Währenddessen zeigte er mit seinem Stock nach dem Anschlag an der Tür und schlug dreimal bedeutungsvoll auf die großgedruckten Worte „fünf Pfund“.

„Nun, wie wär’s?“

„Ach, Sie wissen, Herr Bumble, daß ich viel Armensteuer bezahle.“

„Nun?“

„Da dachte ich, wenn ich soviel bezahle, hätte ich auch ein Recht, wieder etwas davon rauszukriegen. Ich möchte deshalb schon den Jungen nehmen.“

Herr Bumble faßte den Leichenbestatter am Arme und führte ihn ins Haus. Dort hatte Herr Sowerberry eine Unterredung von fünf Minuten mit dem Vorstand, und man kam überein, daß Oliver ihm noch am selben Abend auf Probe übergeben werden solle. Dies wurde Oliver von den Herren mitgeteilt und ihm gleichzeitig angedroht, daß man ihn auf die See schicken würde, wenn er es in der Lehre nicht aushielte und der Gemeinde nochmal lästig fiele. Oliver hörte das schweigend an, dann führte ihn der würdige Herr Bumble an den neuen Schauplatz von Leiden. Als sie dem Orte ihrer Bestimmung näher kamen, sagte Herr Bumble:

„Schiebe dir die Mütze aus dem Gesicht, und halte den Kopf hoch.“

Der Leichenbesorger hatte eben die Fensterladen seiner Werkstätte geschlossen und trug beim Schein einer Kerze einige Posten in sein Buch ein, als Herr Bumble eintrat.

„Sind Sie es, Bumble?“ sagte Sowerberry und blickte von seinem Buche auf.

„Niemand anders“ versetzte der Gemeindediener, „und da ist der Junge.“

Oliver machte einen Diener.

„Also das ist der Junge“, sagte der Leichenbesorger und hob die Kerze hoch, um ihn besser betrachten zu können. „Liebe Frau, komm doch mal herein.“

Frau Sowerberry kam aus einem kleinen Zimmer hinter der Werkstätte, sie war eine kleine, magere Person mit einem Gesicht wie eine Xanthippe.

„Das ist der Junge aus dem Armenhause, von dem ich dir gesprochen habe.“

„,Mein Gott“, sagte sie, der ist aber doch zu klein.“

„Klein ist er freilich“, bemerkte Herr Bumble, „aber er wird wachsen, sicher, er wird wachsen.“

„Das glaub‘ ich wohl“, sagte Frau Sowerberry, „aber von unserer Kost. – Da, geh die Treppe herunter, kleines Gerippe! Charlotte, gib dem Jungen etwas von dem, was für den Hund zurückgestellt war, der kriegt nichts mehr, da er heute morgen nicht nach Hause gekommen ist“, rief sie dem Dienstmädchen zu.

Oliver verschlang mit Gier den Hundefraß.

„Nun“ sagte Frau Sowerberry, „bist du fertig?“ Sie hatte mit Entsetzen und düsterer Ahnungen voll zugesehen, wie ein solcher Appetit in Zukunft zu befriedigen sei. Oliver bejahte.

„So komm mit. Dein Bett ist unter dem Ladentisch. Ich denke, es macht dir nichts aus, unter den Särgen zu schlafen. Doch gleichviel, eine andere Schlafstelle können wir dirnicht geben.“

Oliver lernt seine neue Umgebung kennen und nimmt zum erstenmal an einem Leichenbegängnis teil. Er faßt eine ungünstige Meinung vom Geschäfte seines Meisters

Am Morgen wurde Oliver durch lautes Pochen an der Ladentür geweckt. Während er in seine Kleider fuhr und die Sperrkette zu lösen begann, ließ sich eine Stimme vernehmen:

„Öffne die Tür, ein bißchen schnell!“

„Sofort, Herr“, antwortete Oliver und schloß an der Tür.

„Ich vermute, du bist der neue Lehrling, nicht wahr?“ sagte die Stimme durchs Schlüsselloch.

„Jawohl“

„Wie alt?“

„Zehn Jahre.“

„Dann setzt es Keile, wenn ich erst drin bin. Paß bloß auf, du Armenhäusler!“ Dann hörte man pfeifen.

Oliver schob zitternd die Riegel zurück und machte die Tür auf. Ein paar Augenblicke sah Oliver die Straße rauf und runter, im Glauben, der Unbekannte sei einige Schritte weitergegangen. Er sah aber niemand als einen dicken Bengel, der auf einem Stein vor dem Hause saß und ein Butterbrot verschlang.

Da Oliver sonst niemand in der Nähe sah, sagte er zu ihm:

„Verzeihung, haben Sie geklopft?“

„Jawohl“, antwortete der Bengel.

„Wünschen Sie einen Sarg?“ fragte Oliver harmlos.

Der Bengel schnitt ein grimmiges Gesicht und schrie ihn an, es werde nicht lange dauern, bis er selbst einen brauchte, wenn er sich derartige Witze mit seinem Vorgesetzten erlaube.

„Du weißt wohl nicht, wer ich bin, Armenhäusler?“ fuhr der Bengel fort und kam näher.

„Allerdings nicht!“.

„Ich bin Herr Noah Claypole, und du bist mein Untergebener“, sagte der Bengel. „Mach die Fensterladen auf, Faultier!“ Mit diesen Worten versetzte Herr Claypole unserm Oliver einen Tritt und ging mit gewichtiger Miene in den Laden.

Bald nachdem Oliver die Fensterladen aufgemacht hatte, kamen Herr und Frau Sowerberry herunter. Claypole und Oliver gingen nun die steile Treppe zur Küche hinab, um zu frühstücken. Charlotte, die Köchin, legte Noah die besten Bissen vor, während Oliver mit dem Abfall vorliebnehmen mußte.

Noah war zwar der Zögling einer Armenschule, aber keine Waise. Seine Mutter war eine Waschfrau, und sein Vater ein abgedankter, immer betrunkener Soldat. Sie wohnten in der Nachbarschaft. Die Ladenschwengel schimpften Noah „Lederhose“ , „Barmherzigkeitsschüler“ und dergleichen, und er steckte es schweigend ein. Nun warf ihm der Zufall eine namenlose Waise in den Weg, und an dieser nahm er nun mit Wucherzinsen Rache.

Oliver war schon drei Wochen im Hause des Leichenbesorgers, als eines Morgens Herr Bumble in die Werkstätte trat und aus seiner großen ledernen Brieftasche ein Blatt Papier herausnahm, das er Herrn Sowerberry einhändigte.

„Aha“, sagte letzterer, „wohl eine Bestellung auf einen Sarg, nicht wahr?“

„Zuerst auf einen Sarg und dann auf ein Begräbnis“, erwiderte Herr Bumble, sich verabschiedend.

„Nun“, meinte Herr Sowerberry und nahm den Hut, „je eher dieses Geschäft erledigt wird, desto besser ist es. Noah, du bleibst in der Werkstatt, und du, Oliver, setzt die Mütze auf und kommst mit mir.“ Sie zogen los und waren bald vor dem Haus, wo man ihrer Dienste bedurfte. Es stand in einer schmutzigen, armseligen Gasse. Sie stiegen die Treppe hinauf und machten an einer offenenen Tür halt, die weder Klingel noch Klopfer hatte. Herr Sowerberry pochte. mit dem Finger an. Ein junges Mädchen von vierzehn Jahren öffnete. Sie waren am richtigen Orte. In einem kleinen, der Tür gegenüberliegenden Alkoven lag unter einer Decke die Leiche.

Der Leichenbesorger zog ein Band aus der Tasche, kniete an der Seite der Toten, eines jungen Mädchens, nieder und nahm Maß. Dann eilte er, Oliver hinter sich herziehend, rasch hinaus.

Am nächsten Tage kehrten Oliver und sein Meister wieder nach diesem Ort des Jammers zurück, wo sie bereits Herrn Bumble mit vier Männern aus dem Armenhause trafen, die Trägerdienste leisten sollten. Der rohe Sarg wurde zugeschraubt und auf die Straße gebracht. „Ihr müßt rasch machen“, flüsterte Sowerberry der Mutter der Toten zu. „Wir haben uns etwas verspätet, und es wäre unschicklich, den Geistlichen warten zu lassen. Los, Leute, – und so schnell wie ihr könnt.“

Man hätte übrigens nicht nötig gehabt, sich so zu beeilen, denn als sie den Kirchhof erreichten, war noch kein Geistlicher zu sehen. Der Küster, der in der Sakristei saß, meinte, es könne wohl noch eine Stunde dauern, bis der Prediger käme. Man setzte den Sarg am Rande des Grabes nieder. Zerlumpte Jungen, die dieses Schauspiel nach dem Friedhof gelockt hatte, spielten herum und machten sich das Vergnügen, über den Sarg hin und her zu springen. Sowerberry und Bumble saßen in der Sakristei beim Küster und lasen die Zeitung. Endlich, nach einer guten Stunde, sah man Herrn Bumble, Sowerberry und den Küster nach dem Grabe eilen, und gleich darauf erschien der Geistliche. Herr Bumble prügelte, um den Anstand zu wahren, ein paar Jungen durch. Der Prediger las aus dem Gebetbuch so viel als sich in fünf Minuten zusammenfassen ließ. Drauf gab er dem Küster seinen Talar und eilte fort.

„Nun, Bill“, sagte der Leichenbesorger ztim Totengräber, „wirf das Grab zu.“

Nachher wurde der Kirchhof geschlossen, und Sowerberry fragte auf dem Heimweg Oliver, wie es ihm gefallen hätte. Mit einigem Zögern sagte dieser, nicht sehr gut.

„Ach, mit der Zeit wirst du dich schon dran gewöhnen“, meinte der Meister. „Wenn man es gewöhnt ist, ist’s einem gar nichts, Junge.“

Oliver machte sich so seine Gedanken, ob Herr Sowerberry lange gebraucht habe, sich an etwas der Art zu gewöhnen. Er hielt es aber für besser, seine Frage für sich zu behalten.

Oliver erlaubt sich kräftiger aufzutreten

Der Probemonat war vorüber und Oliver wurde endgültig als Lehrling eingestellt. Die Jahreszeit war damals gerade ungesund und Särge fanden guten Absatz. Im Laufe einiger Wochen hatte Oliver ziemlich Erfahrung gesammelt. Da er seinen Meister in den meisten Geschäften begleitete, um sich die Ruhe des Gemütes und jene Herrschaft über seine Nerven anzueignen, die ein so notwendiges Erfordernis für einen Leichenbesorger sind, so hatte er oft Gelegenheit, Zeuge der Ergebung und Seelenstärke zu sein, mit der soviele Menschen ihre Heimsuchungen und Verluste trugen.

Wurde ein reicher alter Herr oder eine reiche alte Dame beraben, die von einer ganzen Anzahl Neffen und Nichten zur letzten Ruhe begleitet wurden, so konnte Oliver in den meisten Fällen beobachten, daß dieselben Verwandten, die während der Krankheit der Verblichenen sich ganz trostlos gebärdet hatten, recht fröhlich miteinander plauderten, als ob nichts in der Welt imstande wäre, ihre gute Launezu trüben. Männer ertrugen den Verlust ihrer Frauen mit der heldenmütigsten Ruhe. Frauen, die um den dahingeschiedenen Gatten Trauerkleider anlegten, schienen nur darauf bedacht zu sein, recht anziehend auszusehen.

Daß Oliver sich durch das Beispiel dieser guten Leute in eine gleiche Gemütsruhe hineingearbeitet hätte, wage ich als sein Lebensbeschreiber nicht zu behaupten. Ich kann nur sagen, daß er monatelang die schlechte Behandlung Noahs mit Geduld über sich ergehen ließ. Charlotte mißhandelte ihn, weil es Noah tat, und Frau Sowerberry war seine erklärte Feindin, da Herr Sowerberry ihn gern zu haben schien.

Oliver fühlte sich daher zwischen diesen drei Gegnern und den vielen Leichenbegängnissen nicht ganz so behaglich als das hungrige Ferkel, das aus Versehen in die Kornkammer einer Brauerei eingeschlossen wurde.

Oliver und Noah befanden sich eines Tages zur Essenszeit allein in der Küche. Charlotte war gerade abgerufen worden, und so mußte man aufs Essen warten. Die Wartezeit glaubte Noah nicht würdiger ausfüllen zu können, als daß er Oliver höhnte und neckte. Noah legte also seine Beine auf das Tischtuch, zupfte Oliver an den Haaren, kniff ihn in die Ohren, nannte ihn einen Kriecher und versprach ihm, dabei zu sein, wann und wo immer man ihn hängen würde. Da diese Neckereien ihren Zweck verfehlten, Oliver zum Weinen zu bringen, wurde Noah noch ausfallender. Er fragte:

„Armenhäusler!Wie geht’s deiner Mutter?“

„Sie ist tot“, versetzte Oliver, „unterstehdich aber nicht, über sie zu reden.“ Dabei wurde er feuerrot im Gesicht und um seinen Mund zuckte es verräterisch, als ob er im nächsten Augenblick losweinen müßte. Noah sah dies mit Befriedigung und fuhr fort:

„Woran starb sie denn?“

„An gebrochenem Herzen, wie mir eine alte Wärterin gesagt hat“,murmelte Oliver vor sich hin. „Ich kann mir denken, was das heißt.“

Als Noah eine Träne über Ollvers Backen rinnen sah, pfiff er ein lustiges Lied und sagte dann:

„Was bringt dich denn so zum Heulen?“

„Du nicht“ versetzte Oliver, indem er rasch die Träne wegwischte. „Glaub das nur nicht.“

„Was, ich nicht?“ höhnte Noah.

„Nein, du nicht“, entgegnete Oliver scharf. „Nun ist’s aber genug. Wenn du noch ein Wort über sie sagst, dann sollst du mal sehen.“

„Na, was denn? Was soll ich sehen. Armenhäusler, du wirst frech! Und deine Mutter! Wird auch ’ne feine Nummer gewesen sein. Du lieber Himmel!“ Noah rümpfte die Nase.

Oliver fraß seinen Ärger in sich und schwieg. Dadurch ermuntert, fuhr Noah im Ton spöttischen Mitleides fort:

„Du weißt, da ist nichts mehr zu ändern, auch tust du uns allen leid, aber du mußt doch wissen, daß deine Mutter eine ganz schlimme Person war, vollkommen herunter gekommen.“

„Was sagst du da“, fragte Oliver schnell aufblickend.

„Ein ganz heruntergekommenes Frauenzimmer, Armenhäusler“, versetzte Noah kühl, „und es ist nur gut, daß sie auf diese Weise starb, sonst hätte sie sicher im Gefängnis oder am Galgen geendet.“

Glutrot im Gesicht, sprang Oliver auf und Noah an die.Kehle, nahm dann seine ganze Kraft zusammen und schmetterte ihn mit einem Schlag zu Boden.

„Er bringt mich um!“ schrie Noah. „Charlotte! Frau Sowerberry! Hilfe, Hilfe! Oliver mordet mich! Er ist verrückt geworden! Char – lotte!“

Noahs Hilfegeschrei wurde durch ein lautes Kreischen Charlottens,und ein noch lauteres der Meisterin erwidert. Erstere eilte durch eine Seitentür in die Küche, während Frau Sowerberry so lange auf der Treppe stehen blieb, bis sie sich überzeugt hatte, daß keine Gefahr für ihr Leben zu fürchten sei.

„Du verfluchter Lump“, schrie Charlotte, indem sie Oliver mit kräftiger Faust packte, „du undankbarer, meuchelmörderischer, nichtswürdiger Schurke“, dabei schlug sie unbarmherzig auf ihn ein. Nun stürzte auch noch Frau Sowerberry in die. Küche und zerkratzte Oliver das Gesicht. Diesen günstigen Stand der Angelegenheit machte sich Noah zunutze, er sprang auf und knuffte Oliver von hinten.

Als alle drei müde waren und nicht mehr weiter prügeln konnten, schleppten sie den sich wehrenden, aber keineswegs entmutigten Oliver in den Keller und schlossen ihn da ein. Frau Sowerberry sank in einen Stuhl und brach in Tränen aus.

„Himmel, sie stirbt“, rief Charlotte. „Schnell, liebster Noah, ein Glas Wasser.“

„Ach, Charlotte“, stöhnte die Meisterin, „wir müssen Gott danken, daß wir nicht alle in unseren Betten ermordet wurden.“

„Ja, der arme Noah war schon halbtot, als ich hinzukam.“

„Armer Junge!“ sagte Frau Sowerberry mitleidig. „Doch was machen wir nun? Der Meister ist nicht zu Hause, und in zehn Minuten wird Oliver die Tür eingestoßen haben!“

Seine Fußtritte hörte man auch schon gegen diese donnern.

„Ich glaube, das beste wäre, man holte die Polizei“ , meinte Charlotte.

„Oder das Militär“, fügte Herr Noah Claypole hinzu.

„Nein“, rief Frau Sowerberry, die sich plötzlich an Olivers alten Freund erinnerte, lauf zu Herrn Bumble, Noah, und bitte ihn, er möge unverzüglich hierherkommen. Renne, eine Mütze brauchst du nicht.“

Ohne Zeit zu verlieren, stürzte Noah fort.

Oliver bleibt widerspenstig

Noah Claypole rannte ohne Aufenthalt nach dem Armenhause, wo er atermlos ankam. Nachdem er sich einige Minuten an der Tür ausgeruht hatte, setzte er eine klägliche Miene auf und klopfte dann laut an das Pförtchen. Nächdem man ihm geöffnet hatte, schrie Noah in ängstlichem Tone:

„Herr Bumble, Herr Bumble!“ Dieser eilte herbei.

„Ach, Herr Bumble!“ rief Noah, „Oliver hat – –“

„Was, – doch nicht etwa weggelaufen?“

„Nein, Herr, weggelaufen ist er nicht, aber ganz bösartig ist er geworden. Er hat mich umbringen wollen, und dann wollte er auch Charlotte und die Meisterin ermorden. Es war ganz schrecklich.“ Noah fing laut zu heulen an. Der Herr mit der weißen Weste ging gerade über den Hof; er trat auf Bumble zu und fragte, was mit dem Jungen los sei.

„Es ist ein Junge aus der Armenschule“, versetzte Herr Bumble, „der von dem jungen Twist beinahe ermordet worden wäre, jawohl, Herr.“

„Donnerwetter“, rief der Herr, „habe ich’s nicht gesagt? Ich hatte immer das Gefühl, daß Oliver Twist mal gehängt werden würde.“

„Er wollte auch die Köchin umbringen“, fuhr Herr Bumble bleichen Gesichts fort.

„Und die Meisiterin auch“, fügte Noah hinzu.

„Und den Meister ebenfalls –, so, sagtest du doch, Noah?“ ergänzte Herr Bumble.

„Nein, der war ausgegangen, sonst würde er ihn auch ermordet haben. Er sagte aber, er wolle –“

„So, sagte er das wirklich, er wolle“, fragte der Hery mit der weißen Weste.

„Ja, Herr!“ erwiderte Noah, „und die Meisterin wünscht zu wissen, ob Herr Bumble Zeit hat, hinüberzukommen und Oliver durchzuprügeln. Der Meister ist nämlich nicht zu Hause.“

„Gewiß, mein Junge, gewiß!“ sagte der Herr und streichelte Noahs Kopf. „Du bist ein guter Junge. Hier hast du einen Penny. Gehen Sie schnell mit Ihrem Stock zu Sowerberrys und schonen Sie Oliver Twist nicht.“

„Gewiß nicht,. Herr“, sagte Bumble und holte dann seinen Hut. Er begab sich in aller Eile, soweit es sich mit seiner Würde vertrug, nach der Werkstatt des Leichenbesorgers.

Hier hatte sich der Stand der Dinge nicht geändert. Da Oliver fortfuhr, mit ungeminderter Kraft gegen die Kellertüre zu stoßen, so hielt es Herr Bumble für klug, erst zu parlamentieren, bevor er die Tür öffnete. Er rief deshalb durchs Schlüsselloch:

„Oliver!“

„Lassen Sie mich raus“, erwiderte dieser von innen.

„Kennst du meine Stimme?“ fragte Herr Bumble.

„Und du fürchtest dich nicht, Junge? Zitterst nicht?“

„Nein!“

Eine solche Antwort hatte Herr Bumble nicht erwartet. Er war baff.

„Wissen Sie, Herr Bumble sagte Frau Sowerberry, der Junge muß verrückt sein, sonst würde er es nicht wagen, so mit Ihnen zu sprechen.“

„Das ist nicht Verrücktheit“, versetzte Herr Bumble nach einigen Augenblicken tiefen Nachdenkens, „das ist das Fleisch.“

„Was für Fleisch?“ fragte die Meisterin.

„Jawohl, das Fleisch. Sie haben ihn überfüttert. Daher kommt diese störrische Seele und der Geist des Widerspruchs, die für einen Menschen in seiner Lage nicht passen. Was haben überhaupt Arme mit Seele und Geist zu schaffen. Es ist genug, daß wir ihren Körper leben lassen. Hätten Sie dem Bengel nichts als Haferschleim gegeben, so wäre so etwas nie vorgefallen.“

In diesem Augenblick kam Herr Sowerberry nach Hause, und man erzählte ihm Olivers Verbrechen mit so viel Übertreibungen, daß er in einen mächtigen Zorn geriet. Er schloß die Kellertür im Nu auf und packte Oliver beim Kragen.

„Du bist mir ja ein nettes Früchtchen“, brüllte der Meister und gab ihm ein paar Maulschellen.

„Noah schmähte meine Mutter“, erwiderte Oliver trotzig.

„Wenn schon, du Strolch“, schrie die Meisterin. „Sie. hat’s verdient und noch viel mehr.“

„Sie hat’s nicht verdient“, entgegnete Oliver.

„Doch“, geiferte Frau Sowerberry.

„Das ist ’ne Lüge“, schrie der Junge.

Frau Sowerberry brach in einen Strom von Tränen aus, und dies ließ dem Meister keine Wahl. Er mußte seine teure Gattin zufriedenstellen, und so prügelte er denn, wenn auch ungern, den armen Jungen in einer Weise durch, die Herrn Bumbles nachträgliche Anwendung des Amtsstockes eigentlich unnötig machte. Dann wurde Oliver bei Wasser und Brot wieder eingeschlossen und durfte spät am Abend unter den Stichelreden Noahs und Charlottes sein trauriges Bett bei den Särgen aufsuchen.

Als Oliver in der düsteren Werkstätte allein war, ließ er seinen Gefühlen freien Lauf. Er hatte die Schmähungen mit Verachtung angehört und jede Mißhandlung ohne einen Schmerzenslaut hingenommen. Hier aber, wo ihn niemand sehen konnte, fiel er auf die Knie, verbarg sein Gesicht in den Händen und weinte heiße Tränen. Lange blieb Oliver in dieser Stellung. Als er wieder aufstand, war das Licht fast heruntergebrannt. Er horchte und entfernte dann leise die Riegel von der Tür. Er sah hinaus. Es war eine kalte, finstere Nacht. Kein Lüftchen wehte. Er schloß leise wieder die Tür, dann band er seine wenigen Kleidungsstücke mit einem Taschentuch zusammen und erwartete den Morgen auf einer Bank. Als die Sonne aufging, öffnete er aufs neue die Tür, sah sich scheu um und drückte sie dann hinter sich ins Schloß. Auf der Straße sah er sich nach rechts und links um, unschlüssig, wohin er fliehen sollte. Schließlich nahm er den Weg, der bergan führte, und bemerkte nach kurzer Zeit, daß er ganz nahe der Anstalt war, wo er seine ersten Kinderjahre zugebracht hatte.

Er langte bei dem Hause an. Niemand schien zu dieser frühen Stunde in demselben wach zu sein. Oliver blieb stehen und guckte durch das Gartengitter. Ein Kind jätete eben auf einem Beete Unkraut aus. Als es sein blasses Gesicht erhob, erkannte Oliver die Züge eines seiner früheren Kameraden.

„Pst, Dick!“ rief Oliver, und der Junge lief ans Tor und streckte seine dünnen Armchen zum Gruße durch das Gitter. „Ist niemand auf, Dick?“

„Außer mir, keiner“, entgegnete der Junge.

„Hör mal, du darfst nicht sagen, daß du mich gesehen hast, Dick“, sprach Oliver. „Ich bin weggelaufen. Man hat mich geschlagen und schrecklich mißhandelt. Ich will jetzt mein Glück in der Fremde versuchen. – Du siehst aber blaß aus, Dick.“

„Ich hörte, wie der Doktor sagte, ich müßte sterben“, sagte Dick mit einem schwachen Lächeln. „Ach, wie ich mich freue, dich wiedergesehen zu haben, Oliver, aber halt dich nicht auf. Eile.“

„Erst sage ich dir jedoch Lebewohl“, entgegnete Oliver. Ich werde dich wiedersehen, Dick; ganz gewiß. Du wirst noch gesund und glücklich werden.“

„Das hoffe ich auch, wenn ich einmal tot bin, früher nicht. Ich fühle, daß der Doktor recht hat, denn ich träume soviel vom Himmel und von Engeln und freundlichen Gesichtern, die ich nie sehe, wenn ich wach bin. Küsse mich“, sagte. der Kleine, indem er an dem niedrigen Tore emporkletterte und seine Ärmchen um Olivers Nacken schlang. „Lebwohl, lieber Oliver! Gott segne dich!“

Es war der Segenswunsch eines kleinen Kindes, aber es war der erste, den Oliver je über sein Haupt herabrufen hörte. Er vergaß ihn nie in allen Kämpfen, Mühen und Leiden seines späteren Lebens.

Oliver geht nach London, unterwegs begegnet er einem schnurrigen jungen Herrn

Bis Mittag wanderte Oliver, ohne zu rasten, die Landstraße entlang. Der Meilenstein, an dem er jetzt wagte auszuruhen, sagte ihm, – daß er noch hundert Kilometer von London entfernt sei. Dieser Name erweckte in der Seele des Knaben eine Flut von Gedanken. – London! – Diese große Stadt! – Niemand – nicht einmal Herr Bumble – konnte ihn dort auffinden. Er hatte im Armenhause oft alte Leute sagen hören, daß ein pfiffiger Junge in London nicht Hungers sterben würde. Nachdem er weiter sechs Kilometer zurückgelegt hatte, überlegte er, wie er wohl am besten hinkommen könne. Er hatte eine Brotrinde, ein Hemd, zwei Paar Strümpfe in seinem Bündel und einen Penny – ein Geschenk Sowerberrys – in der Tasche.

Ein reines Hemd, dachte Oliver, ist etwas sehr Angenehmes – wie auch das Paar gestopfter Strümpfe und der Penny aber für einen Marsch von vierundneunzig Kilometern nur geringe Hilfe. Oliver legte an diesem Tage dreißig Kilometer zurück und genoß die ganze Zeit über nichts als seine trockene Brotrinde und einige Glas Wasser. Mit Einbruch der Nacht kroch er in einen Heuhaufen und schlief bald fest ein. Er erwachte am nächsten Morgen durchgefroren und hungrig. Sein Penny ging für ein kleines Laib Brot drauf. An diesem Tage konnte er nicht mehr als achtzehn Kilometer schaffen. Nach einer weiteren im Freien zugebrachten Nacht fühlte er sich noch elender und konnte sich kaum auf den Beinen halten.

Er wartete am Fuße eines steilen Berges, bis eine Postkutsche kam, deren außensitzende Passagiere er anbettelte. Diese wollten sehen, wie weit er für einen halben Penny laufen könnte. Eine Weile versuchte Oliver mit der Kutsche Schritt zu hälten, aber die wunden Füße und seine Müdigkeit ließen es nicht lange zu. Als die Reisenden dies sahen, steckten sie ihren halben Penny wieder in die Tasche und nannten ihn einen faulen Hund.

In einigen Ortschaften waren große Warnungstafeln aufgestellt, die jeden Bettler mit Gefängnis bedrohten. Wenn sich nicht ein gutherziger Schrankenwärter und eine gutmütige alte Frau seiner erbarmt und ihm zu essen gegeben hätten, so.wäre es Oliver wahrscheinlich wie seiner Mutter ergangen; er wäre vor Hunger auf der Landstraße umgefallen.

Am siebenten Tage nach seiner Flucht hinkte Oliver morgens früh langsam in die kleine Stadt Barnet hinein. Die Fensterläden waren geschlossen, die Straßen leer. Die Sonne erhob sich soeben in all ihrer Herrlichkeit, aber, ihre Strahlen dienten nur dazu, dem Jungen, der mit blutenden Füßen auf einer Türschwelle saß, seine ganze trostlose Lage und Verlassenheit zu zeigen.

Allmählich öffneten sich die Fensterläden, und auf den Straßen zeigten sich Menschen. Einige blieben stehen, um Oliver anzustarren, aber niemand half ihm, ja, man nahm sich nicht einmal die Mühe, ihn zu fragen, woher er käme.

Da trat plötzlich ein Junge auf ihn zu, der ihn schon lange heimlich beobachtet hatte. Er sagte:

„Hallo, Dicker, was ist los mit dir?“

Der Junge mochte ungefähr von Olivers Alter sein und hatte ein ziemlich gemeines Gesicht, Stumpfnase, niedrige Stirn, kleine, stechende Augen, krumme Beine und war für sein Alter klein, dabei furchtbar schmutzig. Er benahm sich jedoch ganz wie ein Erwachsener. Sein Rock war zu weit und reichte ihm bis zu den Hacken. Der Hut saß so leicht auf seinem Kopfe, daß er jeden Augenblick herunterzufallen drohte, doch gab ihm der Junge dann mit einem Ruck einen Schwung, wodurch er wieder in die richtige Lage kam.

„Ich bin hungrig und müde“, antwortete Oliver mit Tränen in den Augen, „sieben Tage bin ich in einem fort gewandert.“

„In einem fort? Sieben Tage? Ich verstehe, wohl auf Schenkels Befehl? – Ich glaube, du weißt nicht mal, was ein Schenkel ist?“

„Doch“, erwiderte Oliver sanft, „das ist der obere Teil des Beins.“

„Mensch, du bist naiv!“ rief der junge Herr aus. „Ein Schenkel ist ein Friedensrichter, und wer auf Schenkels Befehl geht, kommt nicht vorwärts. Er muß immer aufwärts, ohne daß es je bergab ginge. Noch nie in der Mühle gewesen?“

„In was für einer Mühle?“ fragte Oliver.

„Na in der Tretmühle. – Doch du schiebst Kohldampf und mußt was zwischen die Zähne kriegen. Viel Moos habe ich ja auch nicht, aber es wird für dich schon reichen. Stell dich auf deine Hammelbeine und komm.“

Der junge Herr half Oliver aufstehen und nahm ihn mit in eine Schenke. Dort ließ er Bier, Brot und Schinken bringen. Oliver machte sich tüchtig über die Mahlzeit her, wobei ihn sein neuer Freund aufmerksam beobachtete. Als er mit dem Essen fertig war, fragte ihn der fremde Junge:

„Du willst nach London?“

„Ja.“

„Hast du schon ’ne Wohnung?“

„Nein.“

„Geld?“

„Nein.“

Der junge Herr pfiff durch die Zähne.

„Wohnst du in London?“ fragte jetzt Oliver.

„Ja, wenn ich zu Hause bin. – Aber du brauchst ’ne Schlafstelle, nicht wahr?“

„Freilich, ich habe seit einer Woche unter keinem Dach mehr geschlafen.“

„Laß dir darum keine grauen Haare wachsen, ich muß heute abend wieder nach London und kenne dort einen ganz respektablen alten Herrn, bei dem du umsonst wohnen kannst. Es muß dich allerdings ein Bekannter bei ihm einführen. Mich kennt er aber zur Genüge“, fügte der fremde Junge verschmitzt lächelnd hinzu.

Dieses unerwartete Anerbieten war zu verführerisch, um ausgeschlagen zu werden. Es entspann sich nun zwischen den beiden Jungen eine vertrauliche Unterhaltung, in deren Verlauf Oliver erfuhr, daß sein neuer Freund Jack Dawkins heiße und ein besonderer Liebling jenes alten Herrn sei. Dawkins Äußeres sprach allerdings nicht zugunsten einer solchen Protektion, da er aber ziemlich lockere Redensarten führte und auch gestand, daß seine Freunde ihn den pfiffigen Gannef(*Spitzbuben*) nannten, so folgerte Oliver, er möge wohl ein leichtsinniger Mensch sein, an dem die guten Lehren seines Wohltäters verlorengingen. Er beschloß daher bei sich, sich die gute Meinung des alten Herrn zu verschaffen und den weiteren Verkehr mit dem Gannef abzubrechen, wenn er ihn, wie er bereits jetzt schon vermutete, unverbesserlich finden sollte.

Da Dawkins nicht vor Einbruch der Nacht in London eintreffen wollte, so wurde es fast elf Uhr, als sie den Schlagbaum von Islington erreichten. Der Gannef riet Oliver, sich dicht hinter ihm zu halten, und eilte durch ein Gewirr kleiner Straßen und Gäßchen mit einer Geschwindigkeit, daß unser Held mächtig aufpassen mußte, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.

Trotzdem konnte sich Oliver nicht enthalten, ein paar hastige Blicke auf seine Umgebung zu werfen. Er befand sich jetzt an einer Stelle, wie er sie nie armseliger und schmutziger gesehen hatte. Die sich bergab ziehende Straße war schmal und dreckig und ihre Luft mit Gestank erfüllt Er konnte zwar ziemlich viel kleine Läden bemerken, aber die einzigen Warenvorräte schienen in Haufen von Kindern zu bestehen, die sogar in dieser späten Stunde vor den Türen herumkrochen. Die einzigen Stellen, die in dieser Atmosphäre gediehen, waren die Kneipen, in denen sich die niedrigste Klasse der Irländer mit Schimpfen und Raufen unterhielt. Bedeckte Gänge und Höfe, die sich von der Hauptstraße abzweigten, führten zu kleineren Häusergruppen, wo sich betrunkene Männer und Frauen buchstäblich im Kote wälzten. Aus dem Schatten der Torwege lösten sich große, verdächtig aussehende Kerle, die nichts Gutes im Schilde zu führen schienen, und schlichen scheuen Blicks über die Straße.

Sie waren am oberen Ende der Straße angelangt, und Oliver überlegte gerade, ob es nicht besser sei, davonzulaufen, als ihn sein Führer am Arm ergriff und durch die offene Tür in ein Haus in der Nähe der Field Lane zog. Sobald sie drin waren, schloß Dawkins die Tür ab.

„Der Gannef pfiff und antwortete auf eine Stimme von unten: „Was ist los?“

„Gannoven(*Spitzbuben*)!“

Unmittelbar darauf zeigte sich am hinteren Ende des Ganges ein schwacher Lichtschein, und das Gesicht eines Mannes erschien am zerbrochenen Geländer einer alten Kellertreppe.

„Ihr seid zwei, wer ist der andere?“

„Ein neuer Kumpel(*Kamerad*)“,.versetzte Jack Dawkins und stieß Oliver vorwärts.

„Wo kommt er her?“

„Aus der Fremde. Ist Fagin oben?“

„Ja, er sortiert die Rotzlappen(*seidene Taschentücher*). Geht hinauf.“ Die Kerze und das Gesicht verschwanden.

Oliver stolperte an der Hand Dawkins die Treppe hinauf. Oben angelangt, öffnete dieser die Tür eines Hinterzimmers und zog Oliver hinein.

Die Wände und die Decke des Gemachs waren von Alter und Schmutz ganz schwarz. Auf einem elenden Tisch brannte eine Kerze, die in den Hals einer Bierflasche gesteckt war. Über dem Feuer hing eine Bratpfanne, in der einige Würste prasselten, und daneben stand, eine Gabel in der Hand, ein alter, zusammengeschrumpfter Jude, dessen spitzbübisches Gesicht von verfilztem, rotem Haar umrahmt war. Er hatte einen schmierigen flanellenen Schlafrock an und schien seine Aufmerksamkeit zwischen der Bratpfanne und einem Kleiderständer zu teilen, auf dem eine Anzahl seidener Taschentücher hing. Um den Tisch saßen vier oder fünf Jungen, keiner älter als der Gannef, und rauchten aus langen Tonpfeifen Tabak und tranken Schnaps wie Alte. Sie drängten sich um Dawkins, als dieser dem Juden etwas zuflüsterte, und grinsten dann Oliver an.

„Das ist er, Fagin“, sagte Jack Dawkins laut; „mein Freund, Oliver Twist.“

Der Jude grinste, machte Oliver eine tiefe Verbeugung, nahm seine Hand und sagte, er freue sich, seine Bekannt,schaft gemacht zu haben. Hierauf umringten ihn die rauchenden jungen Herren und schüttelten ihm kräftig die Hände. Einer war besorgt, ihm die Mütze abzunehmen und aufzuhängen, während ein anderer seinen Diensteifer so weit trieb, ihm in die Taschen zu greifen, um ihm die Mühe zu ersparen, sie vor Schlafengehen auszuleeren. Hätte der Jude nicht mit der Gabel die Köpfe der liebenswürdigen Jünglinge bearbeitet, so hätten sich deren Höflichkeiten noch viel weiter erstreckt.

„Wir freuen uns alle sehr, dich kennenzulernen, Oliver“, sagte der Jude. „Gannef, nimm die Würste weg und laß Oliver an den Kamin, damit er sich wärmen kann. Du guckst nach den Taschentüchern, Liebling? Sind ’ne ganze Menge, nicht wahr? Wir haben sie für die Wäsche zusammengesucht, das ist alles, Oliver, ja, das ist alles! Ha! Ha! Ha!

In das Gelächter stimmten die hoffnungsvollen Schüler des alten Herrn laut ein. Dann setzte man sich zu Tisch.

Als Oliver seinen Teil gegessen, reichte ihm der Jude ein Glas Grog und ließ es ihn sogleich austrinken, weil noch ein anderer des Glases bedürfe. Nachdem Oliver dies getan, fiel er in einen tiefen Schlaf und wurde von seinem Freunde Jack auf ein aus alten Säcken bereitetes Lager getragen.

Enthält weitere Mitteilungen über den spaßhaften alten Herrn und seine hoffnungsvollen Schüler

Oliver erwachte am nächsten Morgen erst spät aus einem langen und festen Schlafe. Es befand sich nur noch der alte Jude im Zimmer, der sich zum Frühstück Kaffee kochte und leise vor sich hinpfiff. Oliver schlief zwar nicht mehr, er war aber auch noch nicht hellwach. Er sah mit halbgeschlossenen Augen den Juden und hörte sein leises Pfeifen.

Als der Kaffee fertig war, setzte der Alte die Pfanne auf den Kaminrost und stand einige Minuten unschlüssig da, als ob er nicht wisse, was er nun machen solle. Er drehte sich nach Oliver um und rief ihn an. Dieser antwortete jedoch nicht, sondern schien zu schlafen.

Der Jude beruhigte sich hierbei und verriegelte leise die Tür. Dann hob er eine Diele hoch und brachte ein Kästchen zum Vorschein, das er behutsam auf den Tisch stellte. Seine Augen funkelten, als er es öffnete und hineinsah. Er zog einen alten Stuhl an den Tisch, setzte sich und nahm eine herrliche, mit Brillanten besetzte, goldene Uhr heraus.

„Aha“, sagte der Jude, indem sich sein Gesicht zu einem scheußlichen Grinsen verzog, „verflucht schlaue Hunde! – Dichte gehalten bis zuletzt! Dem alten Pfaffen nicht das Versteck verpfiffen! Alten Fagin nicht reingelegt. Nu, was hätt’s auch genützt? Wären dem Strick doch nicht entgangen. Nein, nein, nein! Brave Jungens!“

Unter diesen und ähnlichen halblaut gesprochenen Betrachtungen legte der Jude die Uhr wieder behutsam an ihre Stelle zurück und holte dann wenigstens ein halbes Dutzend andere aus dem Kästchen, die er alle mit dem gleichen Vergnügen betrachtete. Dann kam die Reihe an Ringe, Busennadeln, Armbänder und solche Kostbarkeiten, die Oliver nicht einmal mit Namen kannte. Zuletzt nahm der Alte ein ganz kleines Geschmeide heraus. Es schien sich eine schwer zu lesende Inschrift darauf zu befinden, denn :der Jude legte es auf den Tisch, beschattete es mit der Hand und brütete lange darüber. An dem Gelingen seines Versuches verzweifelnd, lehnte er sich schließlich in seinen Stuhl zurück und murmelte vor sich hin:

„Es ist doch was Schönes ums Hängen! Tote bereuen nicht und machen keine Dummheiten. Plaudern auch nichts aus. Das ist gut fürs Geschäft. Fünf aufgehängt der Reihe nach, und keiner übriggeblieben, mich zu verpfeifen.“

Plötzlich fielen des Alten Augen auf Oliver, dessen Blicke in stummer Neugier auf ihn gerichtet waren. Er warf den Deckel des Kästchens hastig zu und ergriff das auf dem Tische liegende Brotmesser, dabei zitterte er am ganzen Körper.

„Was ist das?“ schrie Fagin. „Warum beobachtest du mich? Warum bist du wach? Was hast du gesehen? Rede, Junge, schnell, wenn dir dein Leben lieb ist.“

„Ich konnte nicht länger schlafen, Herr“, erwiderte Oliver demütig. „Es tut mir sehr leid, wenn ich Sie gestört habe.“

„Bist du nicht schon seit einer Stunde wach?“ fragte der Jude mit finsterem Blick.

„Nein, Herr, bestimmt nicht“, antwortete Oliver.

„lst’s auch wahr?“ versetzte der Jude, und er nahm eine noch drohendere Haltung ein.

„Auf mein Wort, es ist wahr, ich bin wirklich nicht wach gewesen“, entgegnete Oliver ernst.

„Schon gut, schon gut, mein Lieber!“ sagte der Jude, indem er sein früheres Wesen wieder annahm. Er spielte noch ein wenig mit dem Messer, ehe er es weglegte, um Oliver glauben zu machen, er hätte es nur aus Zerstreuung in die Hand genommen. „Ich wußte das schon vorher und wollte dir nur einen kleinen Schreck einjagen. Du bist ein braver Junge. Ha! ha! du bist ein braver Junge, Oliver.“ Er rieb sich kichernd die Hände, guckte aber unruhig nach dem Kästchen hin.

„Hast du etwas von den hübschen Sachen gesehen, Liebling?“ sagte dei Jude nach einer kurzen Pause und legte die Hand auf das Kästchen.

„Ja, Herr“, erwiderte Oliver.

„Ach!“ rief erblassend der Jude. „Sie sind – ja sie sind mein Eigentum, Oliver, mein winziges Eigentum, mein alles für meine alten Tage. Die Leute nennen mich einen Geizhals. Ja, das tun sie.“

Oliver dachte, der alte Herr müßte tatsächlich ein rechter Geizhals sein, sonst würde er nicht so elend wohnen. Dann fiel ihm aber ein, daß die Fürsorge für den Gannef und die übrigen Jungen ihn ein schönes Geld kosten möge. Oliver fragte nun bescheiden, ob er aufstehen dürfe.

„Gewiß, Liebling“, antwortete der Jude. „Dort in der Ecke steht ein Krug Wasser, hole ihn, ich werde dir eine Waschschüssel geben.“

Oliver tat, wie ihm geheißen, und als er sich umdrehte, war das Kästchen verschwunden. Nachdem er sich gerade gewaschen hatte, trat der Gannef mit einem jungen Kameraden ins Zimmer. Dieser wurde Oliver als Karl Bates förmlich vorgestellt, er war einer von den rauchenden Jungen des gestrigen Abends.

Sie setzten sich zum Frühstück nieder, und der Jude fragte mit einem bedeutungsvollen Blick auf Oliver den Gannef:

„Liebe Kinder, hoffentlich habt ihr heute morgen schon fleißig gearbeitet?`

„Aber mächtig“, entgegnete Dawkins.

„Wie ’n Pferd“, fügte Bates hinzu.

„Ihr seid brave Jungen! Was hast du erwischt, Gannef?“

„Ein paar Brieftaschen.“

„Gespickte?“ fragte der Jude aufgeregt.

„So ziemlich“, sagte Dawkins und holte eine rote und eine grüne aus der Tasche.

Der Alte durchsuchte sie sorgfältig und meinte dann: „Nicht so schwer, als sie hätten sein können, aber schöne Stücke, gediegene Arbeit. Nicht wahr, Oliver?“

„Ja, allerdings, Herr“, erwiderter Oliver. Bei dieser Antwort brach Karl Batees in ein lautes Gelächter aus, zur großen Verwunderung Olivers, der absolut keinen Grund dazu sah.

„Und was hast du mitgebracht?“ fragte Fagin den Karl Bates.

„Rotzlappen“, versetzte der junge Herr; dabei zog er vier Schnupftücher aus der Tasche.

Der Jude besichtigte sie genau und sagte dann: „Sie sind gut, sehr sogar. Aber du hast sie nicht richtig gezeichnet, wir müssen die Buchstaben mit der Nadel wieder auftrennen. Das kann Oliver machen. Willst du? Ha! ha! ha!“

„Gern“, sagte dieser.

„Möchtest du nicht auch so leicht wie Karl Bates Taschentücher besorgen, hättest du Lust, Liebling?“ fragte der Jude.

„Große Lust, wenn Sie es mich lehren wollten, Herr.“

Karl Bates fand in dieser Antwort etwas so unwiderstehlich Komisches, daß er abermals in ein schallendes Gelächter ausbrach. Er wäre dabei fast erstickt, da er gerade den ganzen Mund voll Kaffee hatte. „Er ist doch gar zu naiv!“ sagte Karl gleichsam als Entschuldigung für sein unhöfliches Benehmen. Der Gannef strich Oliver über das Haar und sagte, er würde es schon noch lernen. Als der Jude sah, daß Oliver rot wurde, brachte er das Gespräch auf einen anderen Gegenstand. Er fragte, ob bei der heutigen Hinrichtung viele Leute da waren. Aus den Antworten der beiden Jungen ging hervor, daß sie auch zugeguckt hatten. Oliver wunderte sich deshalb nicht wenig, wie sie trotzdem noch soviel hatten arbeiten können.

Als sie fertig mit Frühstücken waren, spielte der lustige alte Herr mit den beiden Jungen ein gar seltsames Spiel. Der Alte steckte nämlich eine Schnupftabakdose in die eine und eine Brieftasche in die andere Hosentasche. Eine Uhr, die an einer um den Hals geschlungenen Kette hing, brachte er in seiner Westentasche unter. An sein Hemd befestigte er eine unechte Brillantnadel. Dann knöpfte er den Rock fest zu, verstaute sein Brillenfutteral und das Schnupftuch in den Rocktaschen. Mit einem Stock in der Hand, ging er im Zimmer auf und ab, ganz so wie man alte Herren in den Straßen der Stadt umherschlendern sieht. Er blieb hin und wieder bei dem Kamin oder bei der Tür stehen und tat so, als ob er aufmerksam ein Schaufenster besähe. Dabei guckte er sich aber immer um, als wenn er sich vor Dieben fürchtete. Von Zeit zu Zeit klopfte er auf die Taschen, um sich zu überzeugen, daß er nichts verloren habe. Er meinte die Sache so natürlich, daß Oliver lachen mußte, und zwar lachte er derart, daß ihm die Tränen über die Backen liefen. Die ganze Zeit über waren die beiden Jungen dem alten Herrn gefolgt. Sobald er sich jedoch umdrehte, zogen sie sich mit unnachahmlicher Geschwindig;keit zurück. Schließlich trat ihm der Gannef auf die Zehen, oder strauchelte wie zufällig über seinen Stiefel, während Karl Bates ihn von hinten anrempelte. In diesem Augenblick entwendeten sie ihm mit außerordentlicher Geschicklichkeit Schnupftabaksdose, Brieftasche, Busennadel, Uhr, Taschentuch und sogar das Brillenfutteral. Fühlte der alte Herr eine Hand in einer seiner Taschen, so kündigte er das durch einen Schrei an, und das Spiel begann von neuem.

Das war so eine ganze Weile fortgegangen, als ein paar Damen erschienen, die die jungen Herren besuchen wollten. Eine hieß Bet, die andere Nancy. Sie hatten üppiges Haar, waren aber nicht ordentlich frisiert. Ihre Schuhe und Strümpfe waren im schlechten Zustande. Hübsch konnte man die Mädchen eigentlich nicht nennen, aber sie hatten ein frisches Aussehen und sympathische Gesichtszüge. Auch benahmen sie sich so gefällig und ungezwungen, daß sie Oliver für recht artige Mädchen hielt, was sie ohne Zweifel auch waren.

Die Besucherinnen blieben ziemlich lange. Man trank Schnaps und die Unterhaltung wurde bald sehr heiter und lebhaft. Schließlich meinte Karl, es wäre Zeit sich auf die Socken zu machen, was nach Olivers Vermutung ein französischer Ausdruck für Ausgehen sein mußte, denn unmittelbar danach brachen alle vier auf, nachdem der freundliche alte Jude ihnen noch vorher reichlich Geld gegeben hatte.

Als sie fort waren, sagte Fagin:

„Nicht wahr, das ist ein lustiges Leben?“

„Haben sie denn ihre Arbeit schon getan?“

.Ja`, erwiderte der Jude, „das heißt, wenn sie nicht zufällig unterwegs neue bekommen. Die nehmen sie natürlich mit, darauf kannst du dich verlassen. An denen kannst du dir ein Beispiel nehmen, besonders an dem Gannef. Der wird noch mal werden ein großer Mann und auch dich zu einem machen, wenn du ihm dir nimmst zum Vorbilde. – Hängt mir übrigens das Schnupftuch aus der ‚Tasche?“

„Jawohl.“

„Versuch’s mal herauszuziehen, ohne daß ich es merke. Du hast ja heute mittag gesehen, wie man es machen muß.“‚

Oliver machte es so, wie er es beim Gannef gesehen hatte.

„Hast du es?“ fragte der Jude.

„Hier ist es, Herr.“

„Du bist ein gewandter Bursche“, sagte der alte Herr und fuhr mit der Hand über Olivers Haar. „Ich habe niemals einen gelehrigeren Jungen gesehen. Hier hast n‘ Schilling. Fahr nur weiter so fort, dann wirste noch werden der größte Mann deiner Zeit. – Und nun werde ich dir zeigen, wie man die Namen aus den Schnupftüchern macht.“

Oliver konnte nicht recht begreifen, wie er dadurch, daß er dem alten Herrn im Scherze das Schnupftuch aus der Tasche gezogen hatte, ein großer Mann werden könne. Er dachte aber, der Jude müsse das besser wissen, war dieser doch um soviel älter als er. Er machte sich also unbekümmert daran, die Buchstaben aus den Taschentüchern zu entfernen.

Oliver lernt seine neuen Bekannten besser kennen und muß die Erfahrung teuer bezahlen

Oliver blieb eine Reihe von Tagen dauernd im Zimmer des Juden und fing an, sich nach frischer Luft zu sehnen. Er machte die Zeichen aus den Taschentüchern heraus, die in ziemlich großer Zahl ins Haus gebracht wurden. Hin und wieder nahm er auch an dem erwähnten Spiel teil, das Fagin regelmäßig jeden Morgen mit den beiden Jungen aufführte. Oliver hatte den alten Herrn verschiedenemal gebeten, mit Jack und Karl gemeinsam auf Arbeit ausgehen zu dürfen, endlich erhielt er die ersehnte Erlaubnis. Da seit einigen Tagen keine Schnupftücher da waren, an denen Oliver hätte arbeiten können, so gab der alte Herr wohl aus diesem Grunde seine Zustimmung.

Die drei Jungen zogen los und schlenderten gemächlich die Straße-entlang. Oliver fand keinen Geschmack an dem langsamen Gang seiner Genossen und kam auf die Vermutung, daß sie den alten Herrn betrögen und der Arbeit aus dem Wege gingen. Der Gannef hatte außerdem noch die üble Gewohnheit, kleinen Jungen die Mütze vom Kopf zu reißen, während Karl Bates ziemlich freie Ansichten hinsichtlich des Eigentumsrechts an den Tag legte. Von den Ständen der Straßenhändler ließ er hier einen Apfel, dort eine Zwiebel verschwinden. Dies mißfiel unserm Oliver so sehr, daß er gerade zu erklären beabsichtigte, er wolle nach Hause gehen, als er durch das eigenartige Benehmen des Gannefs von diesem Vorhaben abgebracht wurde. Dieser stand plötzlich still, legte den Finger an die Lippen und hielt seine Genossen zurück.

„Was ist los?“ fragte Oliver.

„Pst!“ machte der Gannef. „Siehst du jenen alten Knacker-an der Bücherbude?“

„Den alten Herrn da drüben? Ja, den sehe ich.“

„Bei dem wollen wir arbeiten“, sagte Dawkins.

„Scheint erstklassig zu sein“, bemerkte Karl.

Oliver guckte in größter Überraschung von einem auf den anderen. Die beiden Jungen gingen unauffällig auf die andere Straßenseite und schlichen sich dann dicht hinter den alten Herrn. Oliver harrte mit stummer Verwunderung der weiteren Vorgänge.

Der alte Herr schien den besseren Kreisen anzugehören, trug Puder in den Haaren und hatte eine goldene Brille auf. Er hatte sich aus einem Regal ein Buch genommen und sich so ins Lesen vertieft, als säße er zu Hause in seinem Lehnstuhl. Möglich, daß er dort zu sein wähnte,.denn er war offensichtlich durch die Lektüre so abgelenkt, daß er weder für die Straße noch für die Jungen ein Auge übrig hatte.

Man denke sich Olivers Entsetzen, als er sah, wie der Gannef dem alten Herrn das Schnupftuch aus der Tasche zog und es dann Karl Bates zusteckte. Im Augenblick war ihm das Geheimnis der Taschentücher, der Uhren und Kleinodien des Juden klar. Als er die beiden wegrennen sah, fing er auch aus Leibeskräften zu laufen an. Doch gerade als Oliver Reißaus nahm, griff der alte Herr nach seinem Tuch in die Tasche und wandte sich rasch um, als er es nicht finden konnte. Wie er nun den Jungen so Hals über Kopf davonlaufen sah, kam er auf den naheliegenden Gedanken, daß dieser ihn bestohlen hätte. Das Buch in der Hand haltend, lief er mit dem Ruf: „Haltet den Dieb!“ hinter ihm her. Doch. er war nicht der einzige, der dieses Geschrei erhob. Der Gannef und Karl Bates hatten, um nicht durch Rennen aufzufallen, sich in den ersten besten Torweg an der Ecke zurückgezogen. Sobald sie das Gebrüll: „Haltet den Dieb“ vernahmen und Oliver laufen sahen, errieten sie schnell den Zusammenhang. Sie schlossen sich dessen Verfolgern an und riefen kräftig mit.

„Haltet den Dieb! Haltet den Dieb!“ Es liegt ein Zauber in diesem Rufe. Der Krämer verläßt seinen Ladentisch, der Kutscher seinen Wagen, der Schlächter seine Fleischbank, der Bäcker seinen Trog, der Milchmann seine Kannen, der Junge seine Murmel, der Steinsetzer seine Ramme, der Straßenhändler seinen Karren und das Kind seine Fibel. Alles eilt, Hals über Kopf, im hellen Haufen fort, schreit, brüllt, überrennt ruhige Spaziergänger und macht die Hunde wild. Straßen, Gassen, Höfe – alles hallt von dem Rufe wider.

„Haltet den Dieb! Haltet den Dieb!“ Die Leidenschaft, etwas zu jagen, ist der menschlichen Brust tief eingepflanzt. Ein armes, atemloses Kind, keuchend vor Erschöpfung, Todesangst im Auge und große Schweißtropfen im Gesicht, strengt alle seine Kräfte an, den Verfolgern einen Vorsprung abzugewinnen. Man läßt aber nicht von ihm ab. Jeden Augenblick rückt man ihm näher. Je mehr seine Kräfte sinken, desto lauter wird der Lärm, das Gebrüll und der Ruf: „Haltet den Dieb!“

Endlich ist er eingeholt, niedergeschlagen und liegt auf dem Pflaster. Die Menge drängt sich um ihn. Jeder will den Verbrecher sehen.

„Tretet zurück!“ „Laßt ihn doch zu Atem kommen!“

„Ach was, er verdient es nicht!“ „Wo ist der Herr?“

„Da. er kommt die Straße herunter.“ „Platz für den Herrn!“ „Ist das der Junge, Herr?“ „Ja.“

Oliver lag, ganz beschmutzt, mit blutendem Munde da. Er blickte verwirrt auf die ihn umgebende Menge.

„Ja, ich fürchte, daß er es ist“, wiederholte der alte Herr. „Der arme Junge hat sich sicher verletzt.“

„Das war ich, Herr“, sagte ein großer, ungeschlachter Kerl „Ich schlug ihn in die Fresse, daß er hinfiel.“

Der Bursche griff grinsend an seine Mütze und erwartete wohl eine Belohnung für seine Tat. Der alte Herr warf ihm jedoch einen Blick des Abscheus zu und sah sich ängstlich um, als ob er selbst davonzulaufen gedächte. Da kam endlich ein Polizist, wie denn bei solchen Anlässen die Polizei gewöhnlich immer zuletzt kommt. Er hatte sich einen Weg durch die Menge gebahnt und packte Oliver nun beim Kragen.

„Aufgestanden“, brüllte er.

„Ich bin’s wirklich nicht gewesen, Herr. Es waren zwei andere Jungen“, sagte Oliver mit gefalteten Händen, dann sah er sich um: „Sie müssen hier in der Nähe sein.“

„Ach nein, es ist keiner da“, sagte der Polizist. Er meinte es ironisch, dabei war es die reine Wahrheit, denn der Gannef und Karl Bates hatten sich bei der ersten Gelegenheit, aus dem Staube gemacht. „Steh auf!“

„Ach, tun Sie ihm nichts“, sagte der alte Herr mitleidig.

„Ich tue ihm schon nichts“, antwortete der Polizist und riß ihm zum Beweise dafür die Jacke beinahe vom Leibe. „Nun komm schon! Donnerwetter, steh auf, du kleiner Strolch, du!“

Oliver versuchte mühsam aufzustehen‘, er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Der Polizist packte ihn beim Kragen und zerrte ihn im Laufschritt durch die Straßen. Der alte Herr ging neben dem Polizisten her und eine johlende Menge begleitete die drei auf ihrem Weg.

Handelt von dem Polizeirichter Herrn Fang und gibt eine kleine Probe seiner Gerechtigkeit

Das Vergehen war in der unmittelbaren Nachbarschaft eines sehr bekannten Polizeiamtes der Hauptstadt begangen. Die johlende Menge hatte daher nur das Vergnügen, Oliver durch zwei oder drei Straßen zu begleiten. Angekommen, wurde Oliver in eine furchtbar schmutzige Zelle gesperrt. Der alte Herr sah, als.sich der Schlüssel in dem Schlosse drehte, fast ebenso kläglich wie Oliver aus. Mit einem tiefen Seufzer blickte er auf das Buch, das die unschuldige Ursache dieses aufregenden Auftritts gewesen war.

„Es ist etwas im Gesicht des Jungen“, sagte der alte Herr gedankenvoll zu sich selbst, „ein Ausdruck ist darin, der mich rührt und mich für ihn einnimmt. Sollte er nicht unschuldig sein? Er sah aus, wie – ja wie –“, hier hielt der alte Herr plötzlich inne; „Herrgott im Himmel, wo habe ich ein ähnliches Gesicht früher schon mal gesehen?“

Der alte Herr sann einige Augenblicke nach und trat dann in ein Wartezimmer des Polizeiamtes. Hier zog er sich in einen Winkel zurück und ließ eine Reihe von Gesichtern an seinem geistigen Auge vorbeiziehen. „Nein, es muß Einbildung sein“, sagte der alte Herr, den Kopf schüttelnd. Er stieß einen Seufzer aus und vertiefte sich wieder in die alte Schwarte.

Ein Gerichtsdiener berührte ihn an der Schulter und ersuchte ihn, ihm ins Amtszimmer zu folgen. Er schloß eilig das Buch und stand alsbald dem berühmten Herrn Fang gegenüber.

Das Amtszimmer lag nach vorn hinaus und hatte getäfelte Winde. Herr Fang saß am oberen Ende hinter einer Schranke. Neben der Tür war ein hölzerner Verschläg in dem sich bereits der arme, am ganzen Körper zitternde Oliver befand. Herr Fang war ein Mann von mittlerer Größe. Mager, glatzköpfig, hatte er ein finsteres, stark gerötetes Gesicht. Wenn er wirklich nicht mehr trank, alt ihm zuträglich war, so hätte er gegen sein Gesicht eine Verleumdungsklage anstrengen können. Beträchtlicher Schadenersatz wäre ihm sicher gewesen.

Der alte Herr verbeugte sich höflich, trat an das Pult und überreichte seine Karte. Zufälligerweise las Herr Fang gerade in der Zeitung einen Artikel, der eine seiner neuen Entscheidungen abfällig besprach. Er war daher höchst übel gelaunt und guckte ärgerlich auf.

„Wer sind Sie?“ herrschte er den alten Herrn an.

Der alte Herr wies etwas überrascht auf seine Karte.

„Gerichtsdiener“, sagte Herr Fang, indem er mit der Zeitung die Karte verächtlich vom Pult fegte, „wer ist dieser Mensch?“

Mein Name“, sagte der alte Herr würdig, „mein Name, Herr, ist Brownlow. Gestatten Sie mir nun auch, nach dem Namen des Richters zu fragen, der ohne irgendeinen Anlaß einen anständigen Mann so beleidigend behandelt.“

„Gerichtsdiener!“ fuhr Herr Fang unbeirrt fort, „wessen ist dieser Bursche angeklagt?“

„Euer Gnaden, er ist kein Angeklagter, sondern tritt als Kläger gegen diesen jungen auf“, erwiderte der Gerichtsdiener.

Seine Gnaden wußten das sehr gut, konnten jedoch auf diese Weise ohne Gefahr unverschämt werden.

„Tritt als Kläger gegen den Jungen auf, – so, so!“ sagte Herr Fang und maß Brownlow mit einem verächtlichen Blick. – „Nehmen Sie ihm den Eid ab.“

„Ehe man mich vereidigt, bitte ich ein paar Worte sagen zu dürfen“, sprach Herr Brownlow: „närnlich, daß ich nie geglaubt hätte, wäre es mir nicht selbst passiert –“

„Halten Sie den Mund, Herr!“ rief Herr Fang im Befehlston.

„Nein, Herr“, versetzte der alte Herr.

„Wenn Sie nicht augenblicklich den Mund halten, lasse ich Sie hinausführenl“ brüllte Herr Fang. „Sie sind ein ganz unverschämter Mensch. Wie können Sie es wagen, einen Richter anzuschnauzen?“

„Was sagen Sie da?“ rief der alte Herr puterrot.

„Vereidigen Sie den Menschen!“ sagte Fang zu einem Schreiber. „Ich will nichts mehr hören. Vereidigen Sie ihn.“

Herrn Brownlows Entrüstang war aufs höchste gestiegen, und er wollte seinen Gefühlen auch Luft machen. Da er aber befürchtete, damit Oliver zu schaden, so unterdrückte er sie und ließ sich vereidigen.

„Nun“, beginn Herr Fang, „wessen wird der Junge beschuldigt. Was haben Sie vorzubringen, Herr?“

„Ich stand an einer Bücherbude –“

»Schweigen Sie, Herr!“ unterbrach ihn Herr Fang. „Wo ist der Polizist? Hier, vereidigen Sie den Polizisten. Nun, was wissen Sie von der Sache?“

Der Polizist berichtete mit gebührender Unterwürfigkeit, was ihm von der Anklage bekannt geworden war. Er habe auch Oliver untersucht und nichts bei ihm gefunden. Weiter könne er nichts angeben.

„Sind Zeugen da?“ fragte Herr Fang.

„Nein, Euer Gnaden“, erwiderte der Polizist.

Herr Fang saß einige Minuten schweigend da, wandte sich dann an den Kläger und sprach mit immer zunehmender Heftigkeit:

„Wollen Sie nun endlich sagen, wessen Sie diesen Knaben beschuldigen? Sie haben geschworen. Wenn Sie Ihr Zeugnis verweigern, so werde ich Sie wegen Nichtachtung des Gerichts in Strafe nehmen. Ja, das will ich bei –“

Bei wem oder bei was ließ sich nicht vernehmen, denn der Schreiber und der Gefängniswärter brachen in diesem Augenblick in ein lautes Husten aus. Ersterer ließ auch noch ein schweres Buch auf die Erde fallen, zufällig natürlich, so daß man das Wort nicht verstehen konnte.

Unter mancherlei Unterbrechungen und wiederholten Beleidigungen gelang es endlich Herrn Brownlow, den Tatbestand auseinanderzusetzen. Er drückte dabei den Wunsch aus, daß das Gericht so nachsichtig, als es das Gesetz erlaube, mit dem Jungen verfahren möchte. „Er ist bereits verletzt“, schloß der alte Herr seine Ausführungen, „und ich fürchte, er fühlt sich gar nicht wohl.“

„Ich glaube es auch“, sagte Herr Fang höhnisch lächelnd. „Höre mal, du kleiner Landstreicher, mach hier kein Theater, damit kommst du bei mir nicht durch. Wie heißt du?“

Oliver wollte antworten, konnte aber keinen Ton herausbringen. Er wurde leichenblaß, und alles schien sich um ihn zu drehen.

„Wie heißt du, verstockter Lümmel?“, schrie ihn Herr Fang wiederholt an. „Gerichtsdiener, wie heißt er?“

Dieser, ein alter Mann, beugte sich über Oliver und wiederholte die Frage. Als er fand, daß der Junge tatsächlich außerstande war zu antworten, nannte er, um den Richter nicht noch wütender zu machen, aufs Geratewohl einen Namen.

„Er sagt, er heiße Tom White, Euer Gnaden!“

„Wo wohnt er?“ fuhr Herr Fang fort.

„Wo er kann, Euer Gnaden“, antwortete der Gerichtsdiener, indem er sich so anstellte, als spräche er Oliver nach.

„Hat er Eltern?“ fragte Herr Fang.

„Er sagt, sie seien in seiner frühesten Jügend gestorben, Euer‘ Gnaden“, entgegnete der Gerichtsdiener, indem er auf gut Glück die in solchen Fällen übliche Antwort gab.

Oliver hob jetzt den Kopf hoch, sah mit flehenden Blicken um sich, und bat leise um einen Schluck Wasser.

„Quatsch!“ sagte Herr Fang. „Willst mich wohl zum Narren halten?“

„Ich glaube, ihm ist wirklich schlecht, Euer Gnaden“, wandte der Gerichtsdiener ein.

„Ich weiß das besser“, brülIte Herr Fang.

„Halten Sie ihn, Gerichtsdiener“, rief der alte Herr, unwillkürlich die Hände ausstreckend, „er fällt gleich.“

„Nichts da, Gerichtsdiener“, schrie Herr Fang, „lassen Sie ihn fallen, wenn er Lust hat.“

Oliver machte von dieser gütigen Erlaubnis Gebrauch und fiel ohnmächtig zu Boden.

„Ich wußte, daß es Verstellung war“, sagte Herr Fang. „Laßt ihn liegen, er wird’s bald müde werden!“

„Wie gedenken Sie in diesem Falle zu verfahren, Herr?“ frägte leise der Gerichtsschreiber.

„Summarisch“, antwortete Herr Fang. Er wird drei Monate eingesperrt –, natürlich mit harter Arbeit. Schafft ihn fort!“

Einige Beamte schickten sich gerade an, den bewußtlosen Oliver in seine Zelle zu tragen, als ein ältlicher Mann von anständigem, aber erbärmlichem Äußern atemlos ins Zimmer stürzte und vor den Richter trat:

„Halt, halt! Tragt ihn noch nicht fort. Um Himmels willen, wartet einen Augenblick!“

„Was ist los? Wer sind Sie? Hinaus mit dem Menschen. Räumt den Gerichtssaal!“ schrie Herr Fang.

„Ich will aussagen“, rief der. Mann .“Ich lasse mich nicht hinauswerfen. Ich sah alles mit an. Ich bin der Besitzer der Bücherbude. Ich verlange vereidigt zu werden. Ich lasse mich nicht abweisen. Sie müssen mich anhören, Herr Fang. Sie dürfen mein Zeugnis nicht ablehnen!“

Der Mann war in seinem Rechte und trat bestimmt auf. Man konnte nicht darüber hinweggehen.

„Lassen. Sie den Menschen schwören“, knurrte Herr Fang mürrisch. „Nun, was haben Sie zu bekunden?“

„Folgendes. Ich sah drei Jungen – diesen hier und zwei andere – auf der anderen Seite der Straße dahinschlendern, als dieser Herr vor meiner Bude stand und las. Der Diebstahl wurde von einem anderen Jungen begangen. Ich habe es genau gesehen und auch bemerkt, daß dieser Junge hier darüber ganz erstaunt und wie vor den Kopf geschlagen war!“

„Warum kamen Sie nicht schon früher?“ fragte Fang nach einer Pause.

„Ich bin allein in meiner Bude und hatte keine Vertretung. Erst vor fünf Minuten konnte ich jemand auftreiben und bin dann Hals über Kopf hierhergeeilt.“

„Also der Ankläger las, nicht wahr?“, fragte Fang nach einer weiteren Pause.

„Ja“, erwiderte der Mann, „im selben Buche, das er jetzt noch in der Hand hat!“

„So – in diesem Buch? Ist es denn bezahIt?“erkundigte sich Herr Fang.

„Nein, noch nicht“, erwiderte der Buchhändler mit einem kleinen Lächeln.

„Himmel, das habe ich über der Geschichte hier ganz vergessen“, sagte der zerstreute alte Herr ganz unbefangen.

„Ein feiner Mann, aber eine Klage gegen einen armen Jungen vorbringen“, sagte Herr Fang und bemühte sich krampfhaft, eine menschenfreundliche Miene anzunehmen.

„Nach meiner Ansicht haben Sie sich unter sehr verdächtigen Umständen in den Besitz dieses Buches gesetzt und dürfen sich beglückwünschen, wenn der Eigentümer keine Anklage gegen Sie erhebt. Lassen Sie sich das zur Warnung dienen, sonst möchte das Gesetz einmal gegen Sie in Anwendung kommen. Der Junge ist freizulassen. Räumen Sie den Saal.“

„Donnerwetter“, schrie der alte Herr. Der so lange aufgespeicherte Zorn kam nunmehr zum Ausbruch. „Donnerwetter, ich will –“

„Gerichtsdiener! Räumen Sie den Saal! Hören Sie?“ brüllte der Richter.

Man führte den entrüsteten alten Herrn, der ein Bild der Wut und des Trotzes darbot, schnell auf den Hof heraus. Dort fand er den kleinen Oliver auf dem Steinpflaster liegend, sein Gesicht war leichenblaß, und ein krampfartiges Zittern ging durch seinen Körper. „Armes Kind!“ sagte Herr Brownlow, als er sich über ihn beugte. „Will niemand so gut sein und mir einen Wagen holen?“ Man holte einen und bettete Oliver auf einen Sitz, während Herr Brownlow auf dem anderenPlatz nahm.

„Darf ich Sie begleiten?“ fragte der Buchhändler.

„Himmel, ich hatte Sie ganz vergessen. Steigen Sie ein, lieber Freund. Und das unglückliche Buch habe ich auch noch. Der arme Junge! Geschwind, es ist keine Zeit zu verlieren.“

Nachdem der Buchhändler in den Wagen geklettert war, zogen die Pferde an.

In dem für Oliver besser gesorgt wird als je. Die Erzählung geht zu dem lustigen alten Herrn und seinen hoffnungsvollen Schülern zurück.

Nach ziemlich langer Fahrt hielt.die Kutsche vor einem hübschen Hause in einer ruhigen Straße, unweit Pentonville. Herr Brownlow ließ für seinen Schützling rasch ein Bett herrichten und sorgte für ihn mit einer Aufmerksamkeit, die keine Grenzen kannte.

Oliver blieb jedoch viele Tage für die Wohltaten seiner neuen Freunde unempfindlich. Ein starkes Fieber zehrte an seiner Kraft. Schwach, abgemagert und blaß erwachte er endlich wie aus einem langen, wüsten Traume. Er richtete sich mit Mühe in seinem Bette auf und blickte sich ängstlich um.

„Wo bin ich? Wer hat mich hergebracht?“ murmelte er leise. Der Vorhang vor seinem Bett wurde schnell zurückgezogen, und eine mütterliche alte Frau näherte sich ihm.

„Still, Liebling“, sagte die alte Dame sanft. „Du mußt dich ganz ruhig verhalten, sonst wirst du wieder kränker. Leg dich nur brav wieder hin.“ Mit diesen Worten drückte sie ihn sanft in die Kissen zurück. Drauf strich sie ihm das Haar aus der Stirn und schaute ihm so gütig und wohlwollend ins Gesicht, daß er sich nicht enthalten konnte, seine abgemagerten Händchen auf ihre zu legen und sie dann um seinen Nacken zu schlingen.

„Lieber Gott“, sagte die Frau mit Tränen in den Augen, „wie dankbar der Kleine ist. Was würde wohl seine Mutter fühlen, wenn sie so wie ich an seinem Krankenbette gesessen hätte und ihn jetzt sehen könnte.“

„Vielleicht sieht sie mich“, flüsterte Oliver und faltete die Hände. „Vielleicht hat sie bei mir gesessen. Mir ist ganz so, als ob sie hier gewesen wäre.“

„Das war das Fieber, Liebling“, sagte die alte Dame sanft.

„Wahrscheinlich“, erwiderte Oliver, „denn der Himmel ist weit weg, und man ist dort zu glücklich, als daß Engel an das Bett eines armen Jungen herunterkommen sollten. Aber wenn meine Mutter wußte, daß ich krank war, so mußte sie doch selbst im Himmel mit mir Mitleid haben. Denn sie war selbst sehr krank, ehe sie starb. Aber vielleicht weiß sie nichts von mir“, fügte Oliver nach kurzem Schweigen hinzu, „denn wenn sie gesehen hätte, wie man mich schlug, so muß sie traurig gewesen sein. Ach, ihr Gesicht sah immer so lieb und glücklich aus, wenn ich von ihr träumte.“

Die alte Dame sagte nichts, aber wischte sich gerührt die Augen. Dann streichelte sie ihm die Backen und ermahnte ihn, ganz ruhig zu liegen, damit es nicht wieder schlimmer werde.

Oliver verhielt sich daher still und fiel bald in einen sanften Schlaf. Aus diesem wurde er erst durch einen Herrn geweckt, der an seinem Bette stand und seinen Puls fühlte.

„Nicht wahr, mein Kind, du fühlst dich bedeutend wohler?“ fragte der Herr.

„Ja, ich danke“, entgegnete Oliver.

„Das wußte ich“, fuhr der Herr fort. Du hast auch Hunger, nicht wahr?“

„Nein, Herr“, antwortete Oliver.

„Hm! Ich wußte ja, du könntest nicht hungrig sein. Er hat keinen Hunger, Frau Bedwin“, sagte der Herr mit weiser Miene.

Die alte Dame neigte ehrfurchtsvoll den Kopf, womit sie andeuten wollte, daß sie den Doktor für einen sehr klugen Mann halte. Der Doktor schien so ziemlich dieselbe Meinung von sich zu haben.

„Du möchtest schlafen, nicht wahr, mein Kind?“ sprach der Doktor.

„Nein, Herr.“

„Nicht?“ versetzte der Doktor mit einem zufriedenen Blick. „Du fühlst dich also nicht schläfrig? Auch nicht durstig, wie?“

„Ja, Herr, durstig sehr.“

„Genau, wie ich’s erwartete, Frau Bedwin“, sagte der Doktor. Es liegt in der Natur der Sache, daß er Durst hat, vollkommen. Sie können ihm etwas Tee geben und eine geröstete Brotschnitte, aber ohne Butter. Halten Sie ihn nicht zu warm, Frau Bedwin, aber passen Sie gut auf, daß er sich nicht erkältet.“

Frau Bedwin knickste, und der Doktor verabschiedete sich. Oliver schlief bald darauf wieder ein, und als er erwachte, war es beinahe Mitternacht. Frau Bedwin sagte ihm freundlich gute Nacht und überließ ihn der Obhut einer dicken alten Frau, die eben gekommen war. Diese erzählte Oliver, daß sie die Nacht bei ihm wachen werde, und setzte sich eine große Nachtmütze aufs Haupt. Nachdem sie sich ihren Stuhl dicht an den Kamin gezogen und ein Gebetbuch vor sich auf den Tisch gelegt hatte, fing sie an einzunicken. In zehn Minuten war sie fest eingeschlafen.

Oliver lag noch einige Zeit wach, dann fiel er in jenen tiefen und ruhigen Schlaf, den nur das Genesungsstadium schwerer Krankheiten zu geben vermag.

Als Oliver die Augen öffnete, war es bereits heller, lichter Tag. Er fühlte sich froh und glücklich. Die Krisis war vorüber, er gehörte wieder der Welt an.

Nach drei Tagen konnte er schon, allerdings durch Kissen gestützt, in einem Lehnstuhl sitzen. Frau Bedwin hatte ihn in ihr eigenes Zimmer bringen lassen und fing vor Freude, ihn auf dem Weg zur Genesung zu sehen, laut zu weinen an.

„Kümmere dich nicht darum, Liebling“, sagte die alte Frau, „ich muß mich einmal recht ausweinen. Jetzt ist schon alles wieder vorüber, und mir ist leichter.“

„Sie sind auch zu gut zu mir“, sagte Oliver.

„Laß gut sein, liebes Kind“, versetzte Frau Bedwin. „Nun ist es aber Zeit, daß du deine Fleischbrühe kriegst. Der Doktor sagte, Herr Brownlow werde dich vielleicht heute vormittag besuchen.“ Sie machte ihm eine kräftige Brühe zurecht und beobachtete dabei, daß Oliver sein Auge aufmerksam auf ein Porträt geheftet hatte, das seinem Stuhle gegenüber an der Wand hing.

„Hast du Bilder gern, Liebling?“ fragte sie.

„Ich weiß nicht, ich habe noch zu wenig gesehen. Aber wie schön und sanft ist das Gesicht der Dame.“

„Ach“, sagte Frau Bedwin, „die Maler machen die Damen immer hübscher als sie sind, sonst würden sie keine Kundschaft kriegen.“

„Stellt es jemand vor?“

„Ja, es ist ein Porträt.“

„Von wem?“ fragte Oliver lebhaft.

„Ja, das kann ich dir nicht sagen. Es scheint dir zu gefallen, Kind?“

„Es ist gar zu schön!“

„Aber du fürchtest dich doch nicht davor?“ sagte Frau Bedwin, als sie verwundert den ängstlichen Blick bemerkte, mit dem das Kind das Gemälde betrachtete.

„O nein“, erwiderte Oliver rasch, „aber die Augen blicken so traurig und sind immer auf mich gerichtet; wo ich auch sitzen mag. Mir ist immer so, als sei das Bild lebendig und wolle mit mir sprechen, könne aber nicht.“

„Um Himmelswillen!“ rief Frau Bedwin aufspringend, „sprich nicht so, Kind. Du bist noch schwach und angegriffen von deiner Krankheit. Ich werde. deinen Sessel herumdrehen, dann kannst du es nicht mehr sehen!“

Oliver sah es jedoch im Geiste so deutlich, ab ob der Sessel nicht gerückt worden wäre. Da er aber die alte Dame nicht kränken wollte, so lächelte er ihr freundlich zu, als sie ihn anblickte. Jetzt ließ sich ein leises Pochen an der Tür vernehmen.

„Herein!“ rief Frau Bedwin, und ins Zimmer trat Herr Brownlpw.

Oliver machte einen vergeblichen Versuch aufzustehen, um seinen Wohltäter zu begrüßen, dem die Tränen in die Augen traten.

„Armer Junge, armer Junge“, sagte er, „wie geht es dir heute?“

„Sehr gut, Herr“, entgegnete Oliver, „und ich danke Ihnen auch für die große Güte, mit der Sie sich meiner angenommen haben.“

„Du bist ein guter Junge“, sagte Herr Brownlow, mit seinen Tränen kämpfend. „Was haben Sie ihm zu essen gegeben, Frau Bedwin? Wohl eine leichte Brühe?“

„Er hat eben einen Teller herrlicher, kräftiger Fleischbrühe bekommen“ sagte Frau Bedwin etwas empfindlich.

„Hm“, meinte Herr Brownlow mit leichtem Achselzucken, „ein paar Gläser Portwein hätten ihm vielleicht besser getan. Wie denkst du darüber, Tom White?“

„Ich heiße Oliver, Herr“, entgegnete der kleine Patient etwas verwundert.

„Oliver?“ fragte Herr Brownlow. „Oliver? – also Olliver White?“

„Nein, Twist. Oliver Twist.“

„Seltsamer Name. Warum sagtest du aber dem Richter, du heißest White?“

„Das habe ich ihm doch nicht gesagt“, erwiderte Oliver erstaunt.

Dies klang wie eine Lüge, so daß der alte Herr ihn strenge ansah. Es war aber unmöglich, die Aussage des Jungen zu bezweifeln, denn auf Olivers Stirn war die Wahrheit geschrieben.

„Ein Mißverständnis also“, bemerkte Herr Brownlow. Er behielt aber Oliver fest im Auge, da der frühere Gedanke einer Ahnlichkeit zwischen seinen Zügen und irgendeinem bekannten Gesicht sich ihm wieder aufdrängte.

„Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse?“ sagte Oliver mit bittendem Augenaufschlag.

„Nein, nein – aber – großer Gott, was ist das? Frau Bedwin, sehen Sie – da!“ schrie der alte Herr.

Er deutete hastig auf das Porträt und dann auf Oliver.

Die Ähnlichkeit war sprechend.

Oliver entging die Ursache von Herrn Brownlows plötzlichem Ausruf und hatte einen furchtbaren Schrecken gekriegt. Er war ohnmächtig geworden.

Nachdem der Gannef und sein trefflicher Freund mit Befriedigung festgestellt hatten, daß die Menge in Oliver den vermeintlichen Dieb sah, und für sie nichts mehr zu befürchten war, machten sie sich auf den Heimweg.

„Was wird Fagin sagen?“ meinte der Gannef mit ernstem Gesicht.

„Na, was wird er sagen?“ erwiderte Karl Bates.

„Schließlich den Kopf kann er uns nicht abreißen“, meinte der Gannef. Das sollte ein Trost sein, aber keine Beruhigung. Karl Bates fühlte das auch und wurde nachdenklich.

Einige Minuten nach diesem kurzen Gespräch weckte das Geräusch von Fußtritten auf der knarrenden Treppe den alten Juden aus seinen Betrachtungen. Er war gerade beim Essen.

„Hm, was ist das?“ murmelte er, „ich höre bloß zwei. Wo mag der dritte sein? Sie werden ihn doch nicht geklappt haben? Horch!“

Langsam öffnete sich die Tür, und der Gannef und Karl Bates traten ins Zimmer.

Dem Leser werden einige neue Bekanntschaften vorgestellt, außerdem enthält es verschiedene hübsche Sachen, die zu dieser Geschichte gehören.

„Wo ist Ollver?“ rief der Jude wütend, „wo ist der Junge?“

Die jugendlichen Diebe waren über die Heftigkeit ihres Lehrmeisters so erschrocken, daß sie nicht sofort antworten konnten.

„Was ist aus dem Jungen geworden?“ schrie der Jude und packte den Gannef am Kragen, dabei schreckliche Verwünschungen ausstoßend. „Sprich, oder ich erwürge dich.“

„Die Polente(*Polizei*) hat ihn erwischt – das ist alles“, versetzte der Gannef mürrisch. „Nun lassen Sie mich mal los“, damit befreite er sich aus den Händen des Juden und ergriff äie Bratgabel. Er wollte damit gerade dem Alten zuleibe gehen, als die Tür aufging und ein stämmiger Kerl mit einem weißen, zottigen Hund eintrat.

„Was ist hier los, Fagin?“ Der Sprecher war ein Mann von ungefähr fünfundvierzig Jahren mit einem plumpen, unrasierten Gesicht, in dem zwei düster blickende Augen saßen. Eins davon schillerte in allen Regenbogenfarben, die Folgen eines gutgezielten Faustschlages.

„Warum bist du so aufgeregt, alter Gauner, und willst den Jungen verhauen?“ Er setzte sich bedächtig. „Es wundert mich nur, daß sie dir nicht den Hals abschneiden. Ich würde es an ihrer Stelle tun!“

„Stille, Herr Sikes, stille“, versetzte der Jude zitternd, „sprecht nicht so.laut.“

„Ich pfeife auf deine Anrede mit Herr“‚, sagte der Strolch, „du hast immer einen Schurkenstreich vor, wenn du mir so kommst. Du kennst meinen Namen, und ich werde ihm keine Schande machen, wenn meine Zeit gekommen ist.“

„Schön, nun denn – Bill Sikes“, sagte der Jude kriechend, „Ihr scheint schlechter Laune zu sein.“

„Kann sein“, erwiderte Sikes, ,bei dir scheint es jedoch auch der Fall zu sein. Aber nimm dich in acht, Halunke, wenn du schwatzst –“

„Seid Ihr verrückt?!“, rief der Jude, indem er Sikes am Ärmel erwischte und auf die Jungen zeigte.

Sikes begnügte sich pantomimisch unter seinem linken Ohre einen Knoten zu machen, und ließ dann den Kopf auf die rechte Schulter sinken. Eine sinnbildliche Darstellung, die der Jude vollkommen zu verstehen schien. Dann verlangte er Schnaps und fügte scherzend hinzu:

„Daß du mir aber kein Gift hineintust.“

Hätte er jedoch den teuflischen Seitenblick sehen können, mit dem der Jude sich in die Lippen biß, als er an den Wandschrank ging, so hätte er seine Mahnung sicher nicht für unnötig gehalten.

Nachdem Sikes einige Gläser Schnaps hinuntergestürzt hatte, zog er gnädig die beiden jungen Herrn in ein Gespräch. Der Gannef erzählte umständlich und mit allerhand Ausschmückungen von Olivers Verhaftung.

„Ich fürchte, er wird uns verpfeifen, und wir kommen dann in Teufels Küche“, sagte der Jude.

„Höchstwahrscheinlich“, antwortete Sikes boshaft grinsend. „Du fällst unbedingt rein.“

„Doch wenn mir das Handwerk gelegt wird“, fuhr der Jude fort, die andern dabei scharf ansehend, „kommen auch noch andere in den Schlamassel. Jedenfalls würde es Euch schlimmer ergehen als mir.“

Sikes sprang auf und wollte gegen Fagin heftig werden. Dieser zuckte jedoch nur mit den Achseln und starrte die gegenüberliegende Wand an. Es trat eine lange Pause ein. Schließlich begann Sikes im gedämpfen Tone:

„Wir müssen rauskriegen, was sich vor dem Richter mit Oliver zugetragen hat.“

Der Jude nickte zustimmend.

„Wenn er nicht gepfiffen hat und ist verurteilt, brauchen wir nichts zu befürchten, bis er wieder rauskommt. Dann aber müssen wir ein wachsames Auge auf ihn haben und versuchen, ihn in unsere Hände zu bekommen.“

Der Jude nickte wieder. Der Plan war gut, aber seiner Ausführung stellte sich ein großes Hindernis entgegen. Die vier Herren hatten einen nicht zu besiegenden Widerwillen dagegen, mit irgend etwas, das Polizei hieß, in Berührung zu kommen. Sie saßen stumm da und sahen sich unsicher an, als die zwei jungen Damen auftauchten, die Oliver bei einer früheren Gelegenheit kennengelernt hatte.

„Wie gerufen“, sagte der Jude. „Bet wird hingehen, nicht wahr, meine Liebe?“

„Wohin?“ fragte die junge Dame.

„Nur ein wenig auf die Polizei, Liebling“, sagte der Jude schmeichelnd.

Wir müssen der Dame Gerechtigkeit widerfahren lassen und sagen, daß sie dieses Ansinnen nicht geradezu ablehnte. Sie.erklärte bloß mit Nachdruck, der Henker solle sie holen, wenn sie auf die Polizei ginge. Eine ungemein zarte Ablehnung der Bitte, die beweist, daß das junge Mädchen zuviel Gutmütigkeit besaß, um ihre Mitmenschen durch eine runde und entschiedene Weigerung zu kränken. Der Jude wandte sich nun an Nancy:

„Was sagen Sie dazu, meine Liebe?“

„Geben Sie sich keine Mühe, Fagin, ich tue es auch nicht“, versetzte diese.

„Wie soll ich das verstehen?“ brauste Sikes auf.

„So, wie ich es gesagt habe, Bill“, sagte Nancy ruhig.

„Du bist gerade die rechte Person dazu“, entgegnete Sikes, „niemand kennt dich in dieser Gegend.“

„Ist mir auch sehr lieb, wünsche gar nichts anderes!“

„Also sie wird gehen, Fagin“, sagte Sikes.

„Sie wird sich hüten“, entgegnete Nancy.

„Doch, sie wird’s machen, Fagin“, bekräftigte Sikes. Und er hatte recht. Das Mädchen ließ sich durch Drohungen und Versprechungen endlich bewegen, den Auftrag auszuführen.

Aus den Vorräten des Juden wählte sie eine weiße Schürze, die sie umband, und einen Strohhut. In die Hand nahm sie ein Deckelkörbchen.

„Ach, mein Bruder! Mein armer, lieber, kleiner Bruder!“ rief Nancy, in Tränen ausbrechend. „Was ist aus ihm geworden? Wo hat man ihn hingebracht? Ach, habt Erbarmen, liebe Leute, und sagt mir, was mit dem Kinde geschehen ist. Bitte, bitte, sagt es mir doch.“

Als Nancy diese Worte im kläglichsten Tone hervorgebracht hatte, verbeugte sie sich lächelnd gegen die Zuhörer und verschwand.

„Das ist ein Mädel, Jungens“, sagte der Jude. „Da könnt ihr euch ein Beispiel dran nehmen.“

„Sie ist eine Zierde ihres Geschlechts“, rief Herr Sikes und hob sein Glas. „Sie lebe hoch!“

Nancy schlug indessen den nächsten Weg zur Polizei ein. Dort angekommen, trat sie durch die Hintertür in das Gebäude ein und klopfte leise mit dem Schlüssel an eine der Zellentüren. Dann horchte sie. Da sich nichts in der Zelle rührte, so hustete sie und horchte wieder. Abermals keine Antwort. Nancy wandte sich daher unmittelbar an den Gerichtsdiener und fragte mit den kläglichsten Jammertönen nach ihrem lieben Bruder.

„Er ist nicht hier“, sagte der alte Gerichtsdiener.

„Mein Gott, wo ist er denn?“ meinte Nancy trostlos.

„Nun, der Herr hat ihn mitgenommen.“

„Was für ein Herr, um Himmelswillen?“ rief Nancy.

Der Gerichtsdiener erzählte ihr den ganzen Vorgang und schloß damit, daß der alte Herr unweit Pentonville wohne.

Nancy eilte auf schnellstem Wege zum Juden zurück.

Sie hatte sich kaum ihres Berichtes entledigt, als Herr Bill Sikes schnell seinen Hund rief, den Hut auf den Kopf stülpte und sich schleunigst ohne Gruß entfernte.

„Wir müssen Oliver finden“, sagte der Jude in großer Aufregung. „Nancy, mein Liebling, ich muß ihn wiederhaben. Auf Sie und den Gannef kann ich mich am besten verlassen. Hier habt ihr Geld. Ich schließe heute nacht diese Wohnung, ihr wißt ja, wo ihr mich finden könnt. Eilt, zögert keinen Augenblick.“ Mit diesen Worten schob er sie aus dem Zimmer, und nachdem er hinter ihnen die Tür doppelt verschlossen und verriegelt hatte, holte er das Kästchen aus seinem Versteck hervor und verbarg in aller Eile Uhren und Juwelen unter seinen Kleidern.

„Bis jetzt hat er noch nichts ausgeplaudert“, sprach der Jude zu sich, indem er in seiner Arbeit fortfuhr. „Wenn er uns aber bei seinen neuen Freunden zu verpfeifen gedenkt, so werden wir ihm wohl noch das Maul stopfen können.“

Umfaßt weitere Einzelheiten über Olivers Aufenthalt bei Herrn Brownlow, nebst der merkwürdigen Prophezeihung, die ein gewisser Herr Grimwig über ihn aussprach, als man Oliver mit einem Auftrage ausschickte.

Oliver erholte sich bald wieder von der Ohnmacht, in die er bei Herrn Brownlows plötzlichem Ausruf gefallen war. Der alte Herr und Frau Bedwin vermieden es sorgfältig, im Gespräch wieder auf das Gemälde zurückzukommen. Der Junge war noch zu schwach, um zum Frühstück zu gehen. Als er am nächsten Tage in das Zimmer der Haushälterin hinuntergebracht wurde, suchten seine Blicke sofort das Bildnis der schönen Dame. Das Gemälde war aber entfernt worden.

„Ja“, sagte Frau Bedwin, „es ist fort, wie du siehst.“

„Oh, warum hat man es weggenommen?“ versetzte Oliver mit einem Seufzer.

„Weil Herr Brownlow sagte, daß es dich zu beängstigen scheine und daher deiner Wiederherstellung hinderlich sein könnte“, entgegnete die alte Dame.

„Ach nein, es beängstigte mich gar nicht“, sprach Oliver, „ich mochte es gern ansehen.“

„Nun, nun, liebes Kind, mache nur, daß du bald wieder gesund wirst“, sagte die gute Frau. „Man wird es dann wieder aufhängen, das verspreche ich dir. Doch jetzt wollen wir von etwas anderm sprechen.“

Oliver hörte aufmerksam zu, als ihm Frau Bedwin von ihrem verstorbenen Manne und ihren wohlerzogenen Kindern erzählte. Sie plauderte munter drauflos, bis die Zeit zum Teetrinken herankam. Nachdem dieser eingenommen war, unterrichtete sie Oliver im Kartenspielen, was er ebenso schnell auffaßte, wie sie zu lehren imstande war. Dann vertieften sie sich angelegentlich in diese Beschäftigung, bis es für den Patienten Zeit war, ins Bett zu gehen.

Die Tage der Genesung waren für Oliver Tage des Glückes. Jedermann war so lieb und gütig zu ihm, daß er im Himmel zu sein glaubte. Er hatte kaum wieder soviel Kräfte erlangt, um sich ankleiden zu können, als ihm Brownlow einen neuen Anzug anfertigen ließ. Da man Oliver sagte, er könne mit den alten Kleidern anfangen, was er wolle, so schenkte er sie einem Dienstmädchen, die sehr gut zu ihm gewesen war. Er riet ihr, die Lumpen an einen Juden zu verkaufen und dadurch zu etwas Geld zu kommen.

Eines Abends, als Oliver plaudernd bei Frau Bedwin saß, ließ Herr Brownlow sagen, daß er.Oliver auf seinem Stüdierzimmer sprechen möchte.

Frau Bedwin putzte ihn schnell schön heraus und führte ihn bis an die Tür des Studierzimmers. Oliver klopfte an, und als Herr Brownlow „Herein“ rief, trat er in ein kleines, ganz mit Bilchern angefülltes Hintergemach, durch dessen Fenster man in einige schöne, kleine Gärten sah. Vor dem Fenster stand ein Tisch, an dem Herr Brownlow lesend saß. Bei Olivers Eintritt schob er das Buch von sich und hieß den Jungen, näherzukommen und sich zu setzen. Oliver gehorchte, nicht wenig verwundert, wo all die Leute herkommen sollten; eine derartige Menge von Büchern zu lesen. Bücher, die geschrieben schienen, um die Welt weiser zu machen. Eine Verwunderung, die tagtäglich erfahrenere Leute mit unserm Helden teilen.

„Das ist ein ansehnlicher Haufen Bücher, nicht wahr, mein Junge?“ fragte Herr BrownIow, als er die Neugierde gewahrte, mit der Oliver die vom Boden bis zur Decke reichenden Bücherschränke betrachtete.

„Ach ja, ich habe noch nie so viele gesehen!“

„Wenn du immer hübsch artig bleibst, so sollst du sie auch lesen. Das wird dir besser gefallen, als das bloße Anschauen des Einbandes – das heißt nicht immer. Es gibt nämlich auch Bücher, an denen die Außenseite das Beste ist.“

„Das sind gewiß diese schweren da“, erwiderte Oliver, indem er auf einige dicke Quartanten mit reicher Vergoldung des Einbandes deutete.

„Nicht immer“, sagte der alte Herr lächelnd.

„Möchtest du wohl gern ein Gelehrter werden und Bücher schreiben, wie?“

„Ich würde es vorziehen, sie lieber zu lesen.“

„Wie? du willst kein Bücherschreiber werden?“

Oliver sann eine Weile nach, dann sagte er, es dünkte Ihn weit besser, Buchhändler zu sein.

Der alte Herr lachte herzlich und bemerkte, er hätte etwas sehr Gescheites gesagt. Oliver freute sich darüber, obgleich er nicht wußte, was das Gescheite war.

„Nun“, sagte der alte Herr wieder ernst, „hab keine Angst. Wir wollen keinen Schriftsteller aus dir machen, solange es noch ein ehrliches Handwerk oder Gewerbe zu erlernen gibt.“

„Ich danke Ihnen“, entgegnete Oliver, und der alte Herr lachte von neuem, und zwar über den Ernst, mit dem unser Held diese Antwort vorbrachte. Er ließ auch noch einige Worte von einem merkwürdigen Instinkt fallen, auf die aber Oliver nicht besonders acht gab, da er sie nicht verstand.

„Nun, mein Sohn“, fuhr Herr Brownlow in einem ernsteren Tone fort, „du mußt jetzt wohl auf das merken, was ich dir zu sagen habe. Ich will ohne Rückhalt mit dir reden, denn ich glaube, du wirst mich so gut verstehen können, wie manche ältere Person!“

„Ach, sagen Sie nur nicht, daß Sie mich fortschicken wollen. Weisen Sie mir nicht die Tür, daß ich wieder auf den Straßen herumwandern muß. Lassen Sie mich hier bleiben und Ihnen dienen. Erbarmen Sie sich über einen armen Jungen, bitte!“

„Mein liebes Kind“, sagte der alte Herr gerührt, „hab keine Furcht, ich werde dich nicht fortjagen, wenn du mir keinen Anlaß dazu gibst.“

„Nie werde ich das, niemals.“

„Ich hoffe es nicht und glaube auch nicht, daß du es je tun wirst“, versetzte der alte Herr. „Ich habe mich zwar früher oft in denen getäuscht, welchen ich Wohltaten erweisen wollte. Dir will ich jedoch vertrauen, weil ich wärmeren Anteil an dir nehme, als ich mir selbst erklären kann. Diejenigen, welche ich am innigsten geliebt habe, schlummern längst in den Gräbern, aber obgleich das Glück und die Freude meines Lebens mit ihnen begraben sind, habe ich doch mein Herz zu keinem Sarge gemacht und meine schönsten Gefühle drin verschlossen.“

Der alte Herr sprach dies leise vor sich hin, mehr zu sich als zu Oliver, der kaum zu atmen wagte. Nach einer kleinen Weile fuhr er in heiterem Tone fort:

„Genug, ich sage das nur, weil dein Herz jung ist und ich hoffe, daß du dich um so mehr vorsehen wirst mich zu betrüben, wenn du weißt, daß ich bereits großen Kummer und viele Leiden erduldet habe. Du sagst, du wärest eine Waise und ohne Verwandte in der Welt. Erkundigungen, die ich angestellt habe, bestätigen deine Angaben. Erzähle mir jetzt deine Geschichte – woher du kommst wer dich erzogen hat und wie du in die Gesellschaft geraten bist, in der ich dich gefunden habe. Sprich aber die Wahrheit. Wenn ich sehe, daß du kein Verbrechen begangen hast, wirst du an mir zeitlebens einen Freund und Beschützer haben.“

Olivers Schluchzen erstickte eine Weile seine Worte. Als er gerade anfangen wollte zu erzählen, kündigte das Dienstmädchen den Besuch des Herrn Grimwig an.

„Kommt er herauf?“ fragte Herr Brownlow das Mädchen.

„Ja“, versetzte das Mädchen. „Er fragte, ob es Keks im Hause gäbe, und als ich bejahte, sagte er, er wolle hier Tee trinken.“

Herr Brownlow lächelte und bemerkte zu Oliver, daß Grimwig ein alter Freund von ihm wäre, ein ungeschliffener Diamant.

„Soll ich mich entfernen?“ fragte Oliver.

.“Nein, du kannst hierbleiben.“

In diesem Augenblick trat, auf einen starken Stock gestützt, ein starker, alter Herr ins Zimmer. Er war auf einem Bein etwas gelähmt und humpelte. Im ausgestreckten Arm hielt er seinem Freunde ein Stückchen Orangenschale entgegen und rief polternd:

„Da, sehen Sie das? Ist es nicht zum Wahnsinnigwerden, daß ich in keines Menschen Hause vorsprechen kann, ohne.so was auf der Treppe zu finden. Durch eine Orangenschale bin ich lahm geworden, und eine Orangenschale wird noch mal mein Tod sein. Ich will meinen eigenen Kopf aufessen, wenn mich nicht eine 0rangenschale noch unter die Erde bringt. – Hallo! was ist das?“ fügte er mit einem Blick auf Oliver hinzu und trat einige Schritte zurück.

„Der junge Oliver Twist, von dem wir bereits gesprochen haben“, versetzte Herr Brownlow.

Oliver verbeugte sich.

„Das ist also der Junge“, begann Herr Grimwig.

„Ja, das ist der Junge“,. versetzte Herr Brownlow und nickte Oliver dabei zu.

„Nun, wie geht’s dir?“ fragte Herr Grimwig.

„Ich danke, viel besser“, antwortete Oliver.

Herr Brownlow schien zu befürchten, daß sein absonderlicher Freund irgend etwas Unangenehmes auf der Zunge hätte. Er trug daher Oliver auf, Frau Bedwin zu bestellen, daß sie den Tee bereithalten solle. Nachdem Oliver gegangen, fragte Herr Brownlow:

„Ist es nicht ein hübscher Junge?“

„Weiß nicht“, erwiderte Grimwig mürrisch.

„Wie, Sie wissen es nicht?“

„Nein, ich weiß es nicht. Kann nie einen Unterschied an Jungen entdecken. Kenne nur zwei Arten von Jungen, nämlich Mehlsuppengesichter und Beefsteakgesichter.“

„Und zu welchen gehört Oliver?“

„Zu den Mehlsuppengesichtern. Ein Bekannter, von mir hat einen Jungen, dessen Gesicht so recht die Fleischmastung ausdrückt. Sie nennen ihn einen schönen Jungen, weil er einen so runden Kopf, rote Backen und glänzende Augen hat. Mir ist der Bursche etwas Schreckliches – ein Körper und Gliedmaßen, die die Nähte seines blauen Anzuges auseinanderzusprengen drohen. Dazu kommt noch die Stimme eines Schifferknechts und der Hunger eines Wolfes. Ich kenne den Schlingel.“

„Nun, derartige Eigenschaften besitzt Ofiver nicht und verdient deshalb nicht Ihren Zorn.“

„Wenn nicht derartige, so hat er vielleicht noch schlimmere“, entgegnete Herr Grimwig.

Herr Brownlow hustete nervös, was Herrn Grimwig mächtig zu ergötzen schien.

„Ja, er hat vielleicht noch schlimmere, sage ich“, wiederholte Hee Grimwig. „Woher kommt er? Was ist er? Er hat Fieber gehabt – warum? Fieber ist bei ordentlichen Leuten nicht gewöhnlich. Schlechtes Volk hat bisweilen Fieber. Ich habe einen Menschen gekannt, der in Jamaika gehängt wurde, weil er seinen Herrn umgebracht hatte. Er hatte sechsmal das Fieber und wurde deshalb nicht zur Begnadigung empfohlen.“

Im Innern seines Herzens mußte Herr Grimwig aber zugeben, daß Oliver etwas Gewinnendes an sich hatte. Sein starker Hang zum Widersprechen und sein Grundsatz, sich nie von einem andern ein Urteil über das Aussehen eines Jungen vorschreiben zu lassen, hatte ihn bewogen, seinem Freunde Opposition zu machen. Als daher Herr Brownlow zugestand, daß er sich noch nicht eingehend über Oliver erkundigt hätte, kicherte Herr Grimwig bdshaft und fragte mit höhnischem Lächeln, ob die Haushälterin auch abends immer das Silbergeschirr nachzähle, denn er würde sich nicht wundern, wenn einen schönen Tages mal ein paar Löffel fehlten – – usw.

Herr Brownlow, der selbst etwas temperamentvoll war, nahm jedoch all dies gemütlich hin, da er die Eigentümlichkeiten seines Freundes kannte. Als dieser die Keks und den Tee lobte, wurde die Unterhaltung wieder angenehmer, so daß selbst Oliver, der inzwischen zurückgekommen war, freier zu atmen begann.

„Und wann gedenken Sie sich den ausführlichen und wahrhaften Bericht von Oliver Twists Leben und Taten erstatten zu lassen?“ fragte Grimwig, nachdem der Tee getrunken war. Er streifte dabei Oliver mit einem Blick.

„Morgen früh“, entgegnete Herr Brownlow. „Ich möchte dann allein mit ihm sein. Komm morgen um zehn Uhr zu mir herauf, mein Kind!“

„Ja, Herr Brownlow“, sagte Oliver mit einigem Zögern. Er war etwas verwirrt, da ihn Grimwig scharf ansah.

„Ich will Ihnen etwas sagen“, flüsterte Herr Grimwig BrownIow zu, „er wird morgen früh nicht zu Ihnen heraufkommen. Haben Sie nicht bemerkt wie er zögerte? Er betrügt Sie, lieber Freund!“

„Ich möchte drauf schwören, daß dies nicht der Fall ist« , erwiderte Herr Brownlow mit Wärme.

,;Wenn es nicht so ist, wie ich sagte, so will ich meinen Kopf – -„, damit stieß Grimwig seinen Stock heftig auf die Erde.

„Ich setze mein Leben auf die Wahrhaftigkeit des Jungen“, sagte Herr Brownlow und schlug mit. der Hand auf den Tisch.

„Und ich meinen Kopf auf seine Tücke“, schrie Herr Grimwig.

„Nun, wir werden ja sehen“, sagte Herr Brownlow, seinen Unmut bezwingend.

„Allerdings, wir werden es sehen“, sagte Herr Grimwig mit einem herausforderndem Lächeln.

Das Schicksal wollte es, daß in diesem Augenblick Frau Bedwin mit einigen Büchern hereintrat, die Brownlow am Vormittag bei demselben Buchhändler gekauft hatte, der schon einmal in unserer Geschichte eine Rolle spielte. Sie legte sie auf den Tisch und wollte das Zimmer wieder verlassen, als Brownlow sagte:

„Lassen Sie den Boten einen Augenblick warten, er muß noch etwas mitnehmen.“

„Er ist bereits fort“, versetzte Frau Bedwin.

„Rufen Sie ihm nach, die Sache ist wichtig. Die Bücher sind noch nicht bezahlt, und der Mann braucht sein Geld. Auch will ich ihm einige mir zur Ansicht gesandten Bücher zurückgeben.“

Man lief dem Boten nach, dieser war aber nirgends mehr zu sehen.

„Schicken Sie doch Oliver damit hin“, sagte Grimwig mit ironischem Lächeln. „Sie wissen, er wird sie sicher abliefern.“

„Ja, lassen Sie sie mich hintragen“, sagte Oliver. „Ich renne schnell hin.“

Der alte Herr wollte gerade erklären, daß Oliver auf keinen Fall gehen sollte, als ein boshaftes Husten Grimwigs ihn bestimmte, den Jungen doch zu schicken. Sein Freund sollte die Ungerechtigkeit seines Argwohnes einsehen lernen.

„Du kannst gehen, Oliver. Die Bücher liegen auf dem Stuhle neben meinem Tische. Bringe sie her!“

Oliver war froh, sich nützlich machen zu können. Die Bücher unterm Arm und die Mütze in der Hand, erwartete er den Auftrag.

„Sage also dem Buchhändler“, sprach Brownlow und sah dabei Grimwig scharf an, „du brächtest die Bücher wieder zurück und wolltest die vier Pfund und zehn Schillinge, die ich ihm schuldig bin, bezahlen. – -Hier ist eine Fünfpfundnote; er wird dir zehn Schillinge herausgeben.“

„In zehn Minuten bin ich wieder zurück“, sagte Oliver lebhaft, verbeugte sich und verließ das Zimmer. Frau Bedwin folgte ihm zur Haustür und bezeichnete ihm den Weg zum Buchhändler. „Gott sei mit dir“, murmelte sie, als sie ihm nachblickte. Es tut mir leid, daß ich ihn aus den Augen lassen soll.“

In diesem Augenblick sah sich Oliver um und winkte ihr zu, ehe er um die Ecke bog. Frau Bedwin erwiderte seinen Gruß und ging dann nach ihrem Zimmer zurück.

„Nun wollen wir sehen, in spätestens zwanzig Minuten wird er wieder zurück sein“, sagte Herr Brownlow und zog seine Uhr aus der Tasche, die er auf den.Tisch legte. „Inzwischen wird es dunkel geworden sein.“

„Sie glauben also wirklich, daß er wiederkommt?“ fragte Grimwig ironisch.

„Sie nicht?“ fragte Brownlow lächelnd zurück.

„Nein“, sagte er, indem er mit der Faust auf den Tisch schlug. „Der Junge hat einen neuen Anzug auf dem Leibe, einen Packen wertvoller Bücher unter dem Arme und eine Fünfpfundnote in der Tasche. Er wird wieder zu seinen alten Freunden, den Langfingern, gehen und Sie auslachen. Wenn der Junge je wieder hierher zurückkehrt, will ich meinen Kopf aufessen.“

Mit diesen Worten rückte er seinen Stuhl näher an den Tisch und so saßen die beiden Freunde, die Uhr vor sich, in schweigender Erwartung da. – –

Es wurde so dunkel, daß man die Zahlen der Uhr nicht mehr erkennen konnte, aber die beiden alten Herren saßen immer noch schweigend da – und warteten.

Zeigt, wie lieb der alte Jude und Fräulein Nancy Oliver Twist hatten

In einer armseligen Kneipe einer finsteren Straße in der Gegend von Little Saffron Hill, saß über einer kleinen Kanne und einem Schnapsglase brütend Herr William Sikes. Zu seinen Füßen lag ein weißer, rotäugiger Hund, der bald seinem Herrn zublinzelte, bald eine an der Seite seiner Schnauze befindliche große, frische Wunde leckte.

„Ruhig, Biest!“ rief plötzlich Herr Sikes und gab dem Hunde einen Fußtritt. Dieser biß ihn dafür in den Stiefel und zog sich dann knurrend unter eine Bank zurück. Dies entflammte Herrn Sikes Zorn mächtig. Er kniete nieder und begann das Tier mit einem Feuerhaken aufs wütendste anzugreifen. Der Hund sprang,schnappend und knurrend bald nach rechts, bald nach links. Der Kampf schien eben für den einen oder den anderen der beiden Kämpfer eine bedenkliche Wendung nehmen zu wollen, als plötzlich die Tür aufging. Der Hund schoß sofort hinaus und ließ Herrn Sikes allein.

Zu einem Streite gehören wenigstens zwei, sagt das Sprichwort, und da der Hund entkommen war, band Herr Sikes mit dem Eintretenden an.

„Was zum Teufel brauchst du zwischen mich und meinen Hund zu treten?“ fragte Sikes grob.

„Das hab ich doch nicht gewußt, wirklich nicht“, antwortete Fagin demütig – denn der neue Gast war niemand anders als der Jude.

„Nicht gewußt, Spitzbube?“ brummte Sikes unwirsch. „Hast du denn den Radau nicht gehört?“

„Keinen Ton, so wahr ich lebe“, entgegnete der Jude.

„Ja, ja, du hörst nie etwas“, sagte Sikes mit Hohnlachen, „ebensowenig wie man dich hört, wenn du rein und raus schleichst. Ich wünschte nur, du wärst vor einer Minute der Hund gewesen!“

„Warum?“ fragte der Jude mit gezwungenem Lächeln. „Darum, weil das Gesetz einem nicht verbietet, seinen Hund abzumurksen, während es um das Leben von Leuten deines Schlages besorgt ist, die nicht halb so viel wert sind als ein Köter“, entgegnete Sikes grimmig.

Der Jude rieb sich die Hände und setzte sich an den Tisch nieder. Obgleich ihm nicht besonders wohl zumute war, zwang er sich doch zu einem Lächeln über den „Scherz“ des Freundes.

„Ja, grinse nur“, sagte Sikes, „grinse nur immerzu. Über mich wirst du nicht lachen, ich habe dich in der Hand, Fagin, und der Teufel soll mich holen, wenn ich dich aus den Fingern lasse. Geh‘ ich verschütt, so gehst du auch. Also paß gut auf, daß sie mich nicht kriegen!“

„Schon gut, mein Lieber“, entgegnete der Jude, „wir haben das gleiche Interesse, ich weiß das ganz genau, Bill, dasselbe Interesse.“

„Na schön“, sagte Sikes, dem es so vorkam, als sei das Interesse mehr auf Seite des Juden, „was hast du mir eigentlich zu sagen?“

„Es ist alles glücklich durch den Schmelztiegel gewandert“, antwortete der Jude, „und dies ist Euer Anteil. Es ist zwar etwas mehr, als Euch zusteht, Bill, aber da, ich weiß, daß Ihr mir ein andermal wieder gefälfig sein werdet, so-„

„Hör bloß mit dem Geschmuse auf“, fiel der Dieb ungeduldig ein. „Wo ist’s? Rück heraus!“

„Ja doch, Bill, einen Augenblick“, versetzte der Jude begütigend. „Hier ist’s – bei Heller und Pfennig.“ Er brachte ein kleines, in braunes Papier eingeschlagenes Päckchen zum Vorschein, das ihm Sikes aus den Händen riß und hastig öffnete. Nachdem er die darin befindlichen Goldstücke gezählt hatte, fragte der Dieb:

„Ist das alles?“

„Jawohl“, antwortete der Jude.

„Hast du auch unterwegs das Päckchen nicht aufgemacht und ein paar Stücke verdrückt?“ fuhr Sikes argwöhnisch fort. „Stell dich nur nicht beleidigt, es wäre nicht das erstemal. Klingle mal.“

Fagin setzte den Klingelzug in Bewegung, und kurz darauf trat ein anderer Jude ein. Jünger zwar als Fagin, aber ebenso spitzbübisch und abstoßend in seinem Äußern.

Bill zeigte nur auf die leere Kanne, worauf der Jude, der den Wink verstand, sich entfernte, um sie wieder zu füllen. Beim Herausgehen hatte er jedoch Fagin einen bedeutungsvollen Blick zugeworfen, den dieser mit einem leichten Kopfschütteln beantwortete. Diese Zeichensprache ging Sikes verloren, da er sich gerade zufällig bückte. Hätte er sie bemerkt, würde er wohl wenig Gutes für sich selber daraus gefolgert haben.

„Ist jemand hier, Barney?“ fragte Fagin den wieder eintretenden Juden.

„Nur Fräulein Nancy“, erwiderte dieser.

„Nancy?“ rief Sikes. „Ein patentes Mädel.“

„Ja, sie ist drinnen am Büfett und hat sich einen Teller Rindfleisch geben lassen“, bemerkte Barney.

„Schick sie her! Schnell!“ rief Sikes.

Barney warf einen fragenden Blick auf Fagin, da ihm dieser aber kein Zeichen gab, so entfernte er sich und kehrte bald mit Nancy zurück.

„Du bist ihm auf der Spur, Nancy, nicht wahr?“ fragte Sikes und bot ihr ein Glas Schnaps an.

„Ja, Bill“, entgegnete die junge Dame und leerte das Glas mit einem Zuge. „Mühe genug hat es gekostet. Der Junge ist krank gewesen und mußte das Bett hüten, dann –“

„Sie sind ein Prachtmädel, Nancy!“ sagte Fagin. Ein Augenblinzeln des Juden warnte das Mädchen vor allzu großer Offenheit. Sie lenkte deshalb das Gespräch mit Herrn Sikes auf andere Gegenstände und erklärte nach ungefähr zehn Minuten, gehen zu müssen. Herr Sikes bemerkte, daß er denselben Weg habe, und sie gingen zusammen fort. Der Hund folgte in einiger Entfernung seinem Herrn. Nachdem Sikes das Zimmer verlassen hatte, schüttelte Fgin die geballte Faust hinter ihm her und murmelte einen schweren Fluch. Dann setzte er sich wieder an den Tisch und vertiefte sich in die Lektüre des Londoner Kriminalanzeigers.

Inzwischen eilte Oliver Twist dem Bücherladen zu und dachte darüber nach, wie glücklich und zufrieden er jetzt sei. Aus diesen Träumereien wurde er durch den Ruf geschreckt: „oh, mein lieber Bruder“. und fühlte gleichzeitig seinen Hals von einem Paar weiblichen Armen umschlungen.

.“Lassen Sie mich los“, rief Oliver sich wehrend. „Was wollen Sie denn von mir? Warum halten Sie mich auf?“

Die einzige Antwort hierauf war seitens des Mädchens:

„Gott sei Dank, ich habe ihn gefunden! O Oliver, böser Junge, wieviel Kummer hast du mir bereitet. Komm nach Hause, Liebling, komm! Ich bin ja so froh, ihn gefunden zu haben.“

Das junge Mädchen brach in Tränen aus und bekam so schreckliche Krämpfe, daß ein paar dabeistehende Weiber einen vorübergehenden Schlächterlehrling fragten, ob er es nicht für richtiger hielte, zum Arzt zu laufen. Der Lehrling, wenn auch nicht gerade gefühllos, schien aber ein ziemlich träger Bursche zu sein, denn er erwiderte, seiner Ansicht nach wäre das nicht nötig.

„Mir ist schon wieder besser“, sagte das Mädchen und nahm Oliver bei der Hand. „Aber nun komm schnell mit mir nach Hause, du böser, böser Junge, du!“

„Was ist denn los?“ fragte eine der Frauen.

„Ach, er ist vor ungefähr vier Wochen seinen Eltern, arbeitsamen und achtbaren Leuten, entlaufen und hat sich einer Diebesbande angeschlossen. Der armen Mutter ist darüber fast das Herz gebrochen.“

„Geh nach Hause, Bösewicht“, schrien die Weiber.

„Solch ein verdammter Bengel.“

„Das ist nicht wahr“, rief Oliver in großer Angst , „Ich kenne sie gar nicht. Ich habe weder Schwester noch Vater, noch Mutter. Ich bin eine Waise und wohne zu Pentonville.“

„Lieber Gott, wie frech er schon geworden ist“, schluchzte das junge Mädchen.

„Ach, Nancy!“ schrie Oliver, entsetzt zurückfahrend, als er ihr ins Gesicht sah.

„Ihr seht, er kennt mich“, sagte Nancy zu den Umstehenden. „Er kann es nicht leugnen. Helft mir, gute Leute, ihn nach Hause bringen, sonst sterben seine armen Eltern noch vor Kummer und Sorge, und mir bricht er das Herz.“

„Donnerwetter, was ist los?“ rief ein Mann, der aus einer Kneipe stürzte. „Ach, der junge Oliver, komm nach Hause zu deiner armen Mutter, du Galgenstrick. Sofort gehst du mit!“

„Ich gehöre nicht zu ihnen. Ich kenne sie nicht. Hilfe! Hilfe!“ brüllte Oliver und wehrte sich verzweifelt gegen den festen Griff des Mannes.

„Hilfe!“ wiederholte der Mann. „Ich will dir gleich helfen, Lümmel! Was sind das für Bücher? Wahrscheinlich gestohlen! Gib mal her.“

Mit diesen Warten entriß er ihm die Bände und gab ihm einen heftigen Schlag auf den Kopf.

„So ist’s recht, der einzige Weg, ihn wieder zur Vernunft zu bringen“, riefen die Zuschauer.

„Er kann noch mehr haben“, sagte Sikes, indem er Oliver einen zweiten Schlag versetzte und dann beim Kragen packte. „Marsch, du Taugenichts, und nimm dich vor meinem Hund dort in acht.“

Noch schwach von der eben erst überstandenen Krankheit, betäubt durch die Schläge und das Plötzliche des Angriffs, was konnte da wohl ein armes Kind machen? Es war dunkel geworden, nirgends Hilfe, so war jeder Widerstand fruchtlos. Oliver wurde in aller Eile durch ein Labyrinth enger, finsterer Höfe geschleppt und zu so schnellen Schritten gezwungen, daß die wenigen Hilferufe ungehört verhallten.

Die Gaslampen wurden angezündet. Frau Bedwin wartete besorgt an der offenen Haustür, und das Dienstmädchen war wohl zwanzigmal die Straße hinabgelaufen, ohne eine Spur von Oliver zu entdecken. Die beiden alten Herren saßen beharrlich im dunklen Zimmer, zwischen sich die Uhr auf dem Tische – und warteten.

Erzählt von Olivers Schicksalen nach seiner Begegnung mit Nancy

Die engen Straßen und Gassen endeten an einem großen Platz, der als Viehmarkt benutzt wurde. Sikes ging jetzt langsamer, da das Mädchen ganz außer Luft und Atem war. Er herrschte Oliver mit rauher Stimme an, Nancys Hand zu fassen.

„Hast du gehört?“ brüllte Sikes, als Oliver zögerte und sich umblickte.

Sie befanden sich in einem dunkeln, abgelegenen Teil der Stadt und Oliver erkannte, daß jeder Widerstand vergeblich sein würde. Er streckte daher seine Hand aus, die Nancy sofort mit der ihrigen erfaßte.

„Gib mir die andere“, sagte Sikes und packte ihn bei der noch freien Hand.

Sie kamen jetzt zum Smithfieldmarkt. Die Nacht war finster und neblig. Es schlug acht.

„Acht Uhr, Bill!“ sagte Nancy, als die Uhr ausgeschlagen hatte.

„Das brauchst du mir nicht zu erzählen, ich hab‘ ja Ohren“, erwiderte Sikes.

„Ob sie die Uhr auch schlagen hören?“ meinte Nancy.

„Natürlich“, versetzte Sikes. „Es war so um Bartholomae, als ich im Kittchen saß, und da war keine Pfennigtrompete auf dem ganzen Markt, die ich nicht quäken hörte.

„Die armen Jungens!“ seufzte Nancy. „Ach, Bill, was es für schneidige junge Kerle sind!“

„Ja, ja, so sind die Weiber, an etwas anderes denken sie nicht“, entgegnete Sikes. „Schneidige Kerle, meinetwegen; sie sind so gut wie tot, also kann’s mir gleichgültig sein.“

Mit diesem Trost schien Sikes eine Anwandlung von Eifersucht niederzukämpfen. Er faßte Olivers Handgelenk fester und eilte weiter. Nach einer halben Stunde bogen sie in eine enge, schmutzige Gasse, in der fast nur Trödler zu wohnen schienen. Vor einem anscheinend unbewohnten Laden machten sie halt.

„Gott sei Dank“, sagte Sikes und sah sich vorsichtig um.

Nancy bückte sich, und Oliver hörte eine Klingel. Sie gingen nun auf die andere Seite der Straße und stellten sich für einen Augenblick unter eine Laterne. Jetzt wurde geräuschlos die Haustür geöffnet, und Sikes packte Oliver ohne weitere Umstände am Kragen. In einer Sekunde befanden sich alle drei im Innern des Hauses. Sie warteten im dunklen Hausflur, bis die Person, die sie eingelassen, die Tür wieder verschlossen und verriegelt hatte.

„Ist jemand hier?“ fragte Sikes.

„Nein“, antwortete eine Stimme, die Oliver schon früher gehört zu haben glaubte.

„Ist der Alte da?“ fuhr der Spitzbube fort.

„Ja“, entgegnete die Stimme, „er geht aber mächtig sparsam mit seinen Worten um. Glaube nicht, daß er sehr erfreut ist, Sie zu sehen. Sicher nicht.“

„Bring eine Funzel!“, sagteSikes, „sonst brechen wir uns noch den Hals oder treten den Hund, und das ist gefährlich.“

„Einen Augenblick, werde sofort Licht bringen“, erwiderte eine Stimme. Nach einer Minute zeigte sich die Gestalt des Herrn John Dawkins, sonst auch der Gannef geheißen, in der rechten Hand eine brennende Kerze haltend. Der junge Herr gab Oliver kein anderes Zeichen des Wiedererkennens als ein höhnisches Grinsen, dann winkte er den Dreien, ihm zu folgen. Sie kamen durch eine leere Küche, und als sie die Tür eines niedrigen, dumpfen Gemaches öffneten, wurden sie mit einem schallenden Gelächter empfangen.

„Wer kommt denn da?“ brüllte Karl Bates, indem er sich vor Lachen die Seiten hielt. „Das ist er ja. Gucken Sie ihn an, Fagin. Sehen Sie ihn sich bloß mal an. Das ist ein Hauptspaß! Ich kann nicht mehr! Ich sterbe vor Lachen!‘ Damit legte er sich der Länge nach mit dem Rücken auf die Erde und strampelte minutenlang mit den Beinen. Dann sprang er auf, entriß dem Gannef die Kerze, und beleuchtete Oliver von allen Seiten. Zu gleicher Zeit machte der Jude, seine Nachtmütze abnehmend, unserm verwirrten Helden tiefe Verbeugungen. Der Gannef, ernster veranlagt und beim Geschäft keinen Spaß kennend, durchsuchte inzwischen eifrig Olivers Taschen.

„Ein vornehmer Herr“, sagte Bates. „Sehen Sie sich nur seine Klamotten an. Das feinste Tuch und der modernste Schnitt, Fagin! Und dann noch seine Bücher!“

„Entzückt Sie so wohl zu sehen, mein Herr“,. begann der Jude, indem er sich mit ironischer Höflichkeit vor Oliver verbeugte. Der Gannef wird Ihnen geben einen, anderen Anzug, damit Sie sich nicht gleich verderben Ihren Sonntagsstaat. Warum haben Sie uns nicht geschrieben, daß Sie kommen würden? Wir hätten Ihnen dann etwas Warmes zum Abendessen aufgehoben.“

Karl Bates begann aufs neue – und zwar so unbändig zu lachen, daß auch Fagin sein Gesicht verzog und sogar der Gannef lächelte. Da aber dieser in jenem Augenblick die Fünfpfundnote aus Olivers Tasche zog, so ist es zweifelhaft, ob die Lustigkeit seines Kameraden oder der wichtige Fund sein Lächeln hervorrief.

„Hallo, was ist, das?“ fragte Sikes vortretend, als der Jude die Banknote ergriff. „Das ist mein, Fagin!“

„Nein, mein“, sagte der Jude, „mein ist es. Ihr könnt die Bücher haben!“

„Wenn ich, das heißt, wenn ich und Nancy nicht die Fünfpfundnote kriegen“, sagte Sikes ganz energisch und setzte sich seinen Hut auf, „so nehme ich den Jungen wieder mit.“

Der Jude und Oliver fuhren zusammen, aber aus ganz verschiedenen Gründen. Hoffte doch letzterer, der Streit möchte damit endigen, daß er wieder zurückgebracht würde.

„Schnell, rück ‚raus! Was, du willst es nicht hergeben?“ ,schrie Sikes.

„Es ist ungerecht, Sikes, Nicht wahr, Nancy, er ist ungerecht?“ versetzte Fagin.

„Gerecht oder ungerecht! Gib her“, damit riß Sikes dem Juden die Banknote aus den Fingern. Er faltete sie zusammen und knüpfte sie in seine Halsbinde.

„Das ist für unsere Mühe“, fuhr Sikes fort, „und wenig genug. Du kannst meinetwegen die Bücher behalten und dazin lesen, wenn du Lust hast. Oder kannst sie auch verkaufen.“

„Sie gehören dem alten Herrn“, sagte Oliver händeringend, „dem guten, alten Herrn, der mich in sein Haus nahm und mich pflegte, als ich todkrank daniederlag. Ach, bitte, schicken Sie es ihm zurück, schicken Sie ihm Geld und Bücher zurück. Behalten Sie mich mein Leben lang hier, aber geben Sie ihm sein Eigentum wieder. Er wird sonst glauben, ich hätte ihn bestohlen; die alte Dame und.alle anderen, die so gut zu mir waren, werden denken, ich sei ein Dieb. Oh, haben Sie Mitleid mit mir und senden Sie Bücher und Geld zurück.“ Mit diesen Worten fiel Oliver vor dem Juden auf die Knie und rang verzweiflungsvoll die Hände.

„Der Junge hat recht“, sprach Fagin, sich im Kreise umsehend. „Man wird dich allerdings für den Dieb halten, Oliver. Ha! ha! ha! –“ kicherte der Jude. „Einen besseren Zeitpunkt hätten wir gar nicht wählen können.“

„Stimmt“, sagte Sikes. „Ich wußte das, als ich ihn mit den Büchern herankommen sah. Jetzt ist alles in schönster Ordnung.“

Oliver hatte wie ein Unzurechnungsfähiger während dieses Gespräches von dem einen Sprecher auf den anderen gesehen, er war sich nicht im geringsten darüber klar, was um ihn vorging. Plötzlich stürzte er aus dem Zimmer und rief laut und flehentlich um Hilfe. Das ganze Haus hallte von seinem Geschrei wider.

„Halt den Hund zurück, Bill!“ kreischte Nancy und schloß die Tür, durch die der Jude mit seinen beiden Zöglingen eben Oliver nachgeeilt war. „Halt den Hund zurück, er wird sonst den Jungen in Stücke reißen.“

„Geschieht ihm recht“, brüllte Sikes und suchte sich den Händen des Mädchens zu entwinden. „Laß mich los, oder ich schmeiß‘ dich an die Wand.“

„Mir gleich,“ schrie Nancy in heftigem Ringen mit dem Manne, „das Kind soll nicht vom Hunde zerrissen werden, da mußt du mich erst kaltmachen.“

„Das kann dir leicht passieren, wenn du mich nicht los läßt“, knirschte Sikes und schleuderte das Mädchen in eine Ecke des Zimmers. In diesem Augenblick kam der Jude mit seinen beiden Zöglingen zurück, die Oliver nachzerrten.

„Was ist denn hier, los?“ fragte der Jude sich umblickend.

„Das Weib ist verrückt geworden, glaub‘ ich“, erwiderte Sikes wütend.

„Durchaus nicht“, rief Nancy blaß und atemlos von dem Kampf. „Glauben Sie das ja nicht Fagin.“

„Dann halte den Mund“, schrie der Jude drohend.

„Habe ich nicht nötig“, kreischte Nancy..“Was sagst du nun?“

Fagin schien es im gegenwärtigen Augenblick nicht geraten, sich in einen weiteren Wortwechsel mit ihr einzulassen. Er wandte sich deshalb an Oliver und fuhr ihn an:

„Du wolltest also fortlaufen, mein Lieber“, dabei nahm er einen Knotenstock, der am Kamin lag, in die Hand. „Wolltest um Hilfe rufen, zur Polizei gehen! Das wollen wir dir austreiben.“ Hier packte er den Jungen und schlug ihn mit dem Stock über den Rücken. Als er zum zweiten Male ausholen wollte, eilte Nancy herbei und entwand den Stock seinen Händen. Sie schleuderte ihn in den Kamin, daß die Funken nur so im Zimmer herumflogen.

„Ich dulde es nicht“, schrie sie und stampfte mit dem Fuß zornig auf den Boden. „Ihr habt den Jungen, was wollt ihr mehr. Laßt ihn zufrieden, oder ich tue euch was an, selbst wenn es mich vor der Zeit an den Galgen bringen sollte.“

„Ach, Nancy!“ sagte- der Jude beschwichtigend nach einer Pause, während der er und Sikes sich verblüfft angeguckt hatten. „Sie spielen heute abend Ihre Rolle besser als je.“

„Wirklich?“ versetzte das Mädchen, „nehmt euch in acht, daß ich euch nicht tatsächlich mal was vorspiele. Das wäre schlimm für euch. Ich sage euch das rechtzeitig, damit ihr euch vorseht.“

„Was soll das heißen?“ tobte Sikes und stieß eine Flut von Verwünschungen gegen sie aus. „Der Teufel soll dich holen! Du hast wohl vergessen, wer du bist und was du bist?“

„O nein, ich weiß das ganz genau“, versetzte das Mädchen mit hysterischem Lachen.

„Na, dann sei ruhig“, sagte Sikes, „oder ich mach‘ dich für eine lange Zeit still.“

Das Mädchen lachte wieder und warf einen flüchtigen Blick auf ihn; dann drehte sie sich um und biß sich auf die Lippen, daß sie bluteten.

„Du bist mir gerade die Rechte, die Menschenfreundin ‚rauszubeißen“, fuhr Sikes im verächtlichen Tone fort. „Eine nette Freundin für das Kind, wie du den Jungen nennst.“

„Der Allmächtige ist mein Zeuge, daß ich es bin“, rief Nancy leidenschaftlich. „Lieber läge ich tot auf der Straße oder säße im Gefängnis, als daß ich mich dazu hergegeben hätte, ihn in euere Hände zu bringen. Er ist von diesem Augenblick an ein Dieb, ein Lügner, ein Teufel, kurz alles, was man sich nur Schlimmes denkt. Ist das nicht für den alten Halunken genug, muß er ihn auch noch prügeln?“

„Sehen Sie, Sikes“, sagte der Jude in einem belehrenden Tone, „wir müssen höflich sein und freundliche Worte gebrauchen. Immer höflich, Bill!“

„Höfliche Worte!“ schrie das Mädchen, das in seiner Wut schrecklich anzusehen war. „Freundliche Worte! Du Schurke! Du verdienst sie auch von mir. Ich stahl für dich, als ich noch ein Kind war, nicht halb so alt wie dieses (sie zeigte auf Oliver) und treibe nun seit zwölf Jahren dasselbe Gewerbe. Weißt du das nicht? Sprich!“

„Nun“, sagte der Jude begütigend, „wenn du es tatest, so hattest du doch dein Brot davon.“

„Das stimmt“, sprudelte das Mädchen mit steigender Heftigkeit heraus. Ihre Worte überstürzten sich förmlich.

„Es ist mein Brot, und die kalten, nassen, schmutzigen Straßen sind mein Heim. Und du bist der Lump, der mich heraustrieb und der mich Tag und Nacht hinaustreiben wird, bis ich verrecke!“

Kapitel 2

„Nun hör auf“, fiel der Jude gereizt ein, „sonst passiert dir was, das dir recht unangenehm sein könnte.“

Das Mädchen sagte nichts mehr, aber zerraufte sich wie eine Verrückte das Haar und zerriß sich das Kleid, dann stürzte sie wütend auf den Juden los. Im rechten Augenblick packte Sikes sie jedoch am Handgelenk, sonst hätte sie ohne Zweifel sehr deutliche Zeichen ihrer Rache in des Juden Gesicht zurückgelassen. Nachdem sie vergeblich versuchte, sich von Sikes Griff zu befreien, fiel sie plötzlich in Ohnmacht.

„Nun ist alles wieder in Ordnung“, meinte Sikes und trug sie in eine Ecke des Zimmers. .Sie hat eine Riesenkraft, wenn sie in Wut ist!“

Der Jude wischte sich die Stirn und lächelte: „mit Weibern zu tun zu haben, ist schlimm, aber sie sind schlau, und ohne sie geht’s in unserm Geschäft nicht. – Karl, bring Oliver zu Bett!“

„Nicht wahr, Fagin, er soll morgen seinen Sonntagsstaat nicht tragen?“ Der Jude verneinte. Oliver wurde nun in das anstoßende Gemach geführt, wo ein Bett aus alten Säcken in der Ecke stand. Karl brachte lachend denselben alten Anzug zum Vorschein, den Oliver in Brownlows Hause dem Dienstmädchen geschenkt hatte. Fagin hatte die Lumpen von einem Juden gekauft und dadurch die erste Spur von unseres Helden Aufenthalt erhalten.

„Zieh deinen Sonntagsanzug aus“, sagte Karl; „ich will ihn Fagin zum Aufheben geben. Das wird ein Hauptspaß.“

Widerwillig gehorchte Oliver und wurde dann von Karl im Finstern gelassen, der hinausging und die Tür hinter sich abschloß. Karls Lachen und die Stimme Betsys, die gekommen war, um ihrer Freundin beizustehen, hätten ihn unter glücklicheren Umständen wach erhalten. Er war jedoch krank und müde und verfiel deshalb in einen tiefen Schlaf.

Olivers Schicksal bleibt dauernd ungünstig. Ein großer Mann kommt nach London, um seinem Rufe zu schaden

Wir bitten den Leser jetzt, uns nach der Stadt zu begleiten, wo unser kleiner Held zur Welt kam.

Herr Bumble trat eines Morgens früh aus dem Armehause und ging würdevoll die Straße hinunter. Er trug zwar seinen Kopf immer gebührend hoch, heute jedoch noch höher als gewöhnlich. Herr Bumble hielt sich nicht mit den kleinen Krämern auf, die ihn ansprechen wollten, sondern grüßte sie nur mit einer leichten Handbewegung. An dem Landhaus machte er schließlich halt, wo Frau Mann die armen Kinder nach den Grundsätzen der Armenbehörde betreute.

„Was mag dieser verwünschte Gemeindediener schon in aller Herrgottsfrühe wollen?“ sagte Frau Mann, als sie sein bekanntes, ungeduldiges Klopfen an der Gartentür vernahm. – „Ah! Sieh da, Herr Bumblel freut mich, Sie zu sehen. Bitte, treten Sie näher.“

„Frau Mann“, sagte Herr Bumble, indem er sich würdevoll setzte, „Frau Mann, ich wünsche Ihnen einen guten Morgen!“

„Danke, gleichfalls, Herr Bumble“, versetzte Frau Mann liebenswürdig lächelnd. „Es geht Ihnen hoffentlich gut?“

„So, so Frau Mann“, erwiderte Herr Bumble; „man ist nicht auf Rosen gebettet.“

„Ach, das ist nur zu wahr!“ Hätten die Armenkinder das hören können, sie hätten alle ausnahmslos Frau Mann beigepflichtet.

„Das Leben eines Gemeindebeamten, Frau Mann“, fuhr Bumble fort und schlug mit seinem Stock auf den Tisch, „ist ein Leben voll Mühe, Arbeit und Ärger. Dagegen ist jedoch nichts zu machen, alle Leute im öffentlichen Leben müssen sich Anfeindungen gefallen lassen.“

Obgleich Frau Mann nicht wußte, was er damit sagen wollte, seufzte sie teilnahmsvoll.

„Ich gehe nach London, Frau Mann“, fuhr Bumble fort.

„Ach, wirklich?“

„Ja, und zwar in der Postkutsche. Ich und zwei Arme. Es handelt sich um die Feststellung ihrer Heimatszustädigkeit. Die Armenhausbehörde hat mich mit ihrer Vertretung betraut. Es wird sich dann herausstellen“, fuhr Herr Bumble fort und richtete sich stolz auf, „ob die Herren vom Gericht in Clerkenwell sich nicht in mir gewaltig verrechnet haben. So leicht werden Sie mit mir nicht fertig.“

„Sie reisen also mit der Post. Ich dachte, man transportiere die Armen immer auf Karren?“

. „Nur, wenn sie krank sind. Bei Regenwetter setzen wir die armen Kranken auf offene Karren, damit sie sich nicht erkälten.“

„Ach so!“

„Es ist eine Retourkutsche und daher sehr billig“, sagte Herr Bumble. „Die beiden Armen sind in einem ziemlich elenden Zustande, und die Gemeinde fährt um zwei Pfund besser, wenn sie sie fortschickt, als wenn sie sie begraben lassen muß. Das heißt, wir müssen sie einer andern Gemeinde zuweisen können, was, wie ich glaube, gehen wird. Sie dürfen uns nur nicht den Possen spielen und unterwegs sterben. Ha! Ha! Ha!“

„Doch wir vergessen unser Geschäft“, sagte der Gemeindediener, nachdem er genügend gelacht hatte. „Hier ist das Kostgeld für den Monat.“ Er holte eine kleine Rolle Silbergeld aus seiner Tasche hervor und bat um Quittung, die Frau Mann auch sofort ausschrieb. Dann fragte Bumble nach dem Wohlergehen der Kinder.

„Gott segne die lieben kleinen Herzblättchen. Sie sind alle so gesund, als es die Umstände erlauben – bis auf die zwei, die in der letzten Woche starben.“

Herr Bumble verabschiedete sich nun nach einer Weile und ging heim.

Am nächsten Morgen um sechs Uhr nahm er mit den beiden Armen seinen Sitz auf der Außenseite der Kutsche ein und langte fahrplanmäßig in London an. Nachdem Herr Bumble seine Schützlinge, die halb erfroren waren, für die Nacht untergebracht hatte, ließ er sich in dem Gasthause, wo die Kutsche hielt, ein bescheidenes Essen, bestehend aus Beefsteak, Austernsauce und Porter, bringen und studierte dann die Zeitung.

Das erste, was Herrn Bumble ins Auge fiel, war folgende Ankündigung:

Fünf Guineen Belohnung.

Letzten Donnerstagabend ist ein Knabe, namens Oliver Twist, aus seiner Wohnung in Pentonville verschwunden und hat nichts mehr von sich hören lassen. Die Möglichkeit besteht, daß er entfüht wurde. Obige Belohnung soll derjenige erhalten, der über den Verbleib des besagten Oliver Twist Angaben machen kann, oder der sonst etwas von seiner Herkunft weiß, da der Inserent sich auch für diese lebhaft interessiert.

Der Anzeige war eine genaue Besch reibung von Oliver nebst Herrn Brownlows Adresse beigegeben.

Herr Bumble machte große Augen und las die Anzeige dreimal durch. Doch ehe fünf Minuten vergingen, war er auf dem Wege nach Pentonville. –

„Ist Herr Brownlow zu Hause?“ fragte Bumble das Mädchen, welches die Tür öffnete.

„Ich weiß nicht – was wünschen Sie?“

Herr Bumble hatte kaum den Namen Oliver Twist genannt, als Frau Bedwin, die an der Tür gehorcht hatte, hastig in den Hausflur eilte.

„Kommen Sie herein“, sagte die alte Frau; „ich wußte ja, daß wir von ihm hören würden. Der arme Junge. Gott segne ihn.«‘

Das Mädchen war inzwischen die Treppe hinaufgegangen und kehrte jetzt mit der Bitte zurück, daß Herr Bumble ihr folgen möchte.

Er wurde in das kleine Studierzimmer geführt, wo Herr Brownlow und sein Freund Grimwig sich bei einer Flasche Wein gütlich taten.

„Sie kommen auf meine Anzeige?“ fragte BrownIow.

„Jawohl.“

„Sie sind Gemeindediener?“

„Jawohl.“

„Wissen Sie, wo der arme Junge sich befindet?“

„So wenig, wie irgendein anderer“, versetzte Bumble.

„Nun, was wissen sie von ihm?“ fragte der alte Herr. „Sprechen Sie, lieber Freund, wenn Sie etwas zu sagen haben. Was wissen Sie von ihm?“

„Wahrscheinlich nichts Gutes“, bemerkte Herr Grimwig beißend, nachdem er Herrn Bumbles Gesichtszüge aufmerksam betrachtet hatte.

Dieser schüttelte feierlich den Kopf.

„Sehen Sie?“ sagte Grimwig triumphierend.

Herr Brownlow ersuchte Bumble nun, ihm in kurzen Worten mitzuteilen, was er von Oliver wüßte.

Es würde ermüdend sein, die Erzählung mit den Worten des Gemeindedieners wiederzugeben, da sie volle zwanzig Minuten dauerte. Ihr Inhalt war kurz der: Oliver sei ein Findling, das Kind geineiner und lasterhafter Eltern, tückisch, undankbar und boshaft. Er habe auf einen harmlosen Jungen einen blutdürstigen und hinterlistigen Angriff gemacht und sei dann bei Nacht und Nebel aus dem Hause seines Lehrherrn entlaufen. Zum Beweise, daß er wirklich der Mann sei, als den er sich vorstellte, legte Herr Bumble seine Papiere vor.

„Ich fürchte, es ist alles nur zu wahr“, sagte der alte Herr, nachdem er die Papiere flüchtig durchgesehen hatte. „Nehmen Sie das Geld, es ist nicht viel für die Wichtigkeit Ihrer Mitteilungen. Ich hätte gern das Dreifache gegeben, wenn sie für den Jungen günstiger gelautet hätten.“

Hätte Herr Bumble das früher gewußt, so würde er wahrscheinlich seiner Erzählung eine ganz andere Färbung gegeben haben. Kopfschüttelnd steckte er die fünf Guineen ein und entfernte sich.

Herr Brownlow war so niedergeschlagen, daß selbst Herr Grimwig es für richtig hielt, seine bissigen Bemerkungen einzustellen. Der alte Herr zog heftig an der Klingel.

„Frau Bedwin“, sagte Herr Brownlow, nachdem die Haushälterin eingetreten war, „der Junge ist ein Betrüger.“

„Unmöglich“, versetzte die alte Frau mit Nachdruck, „rein unmöglich.“

„Ich sage Ihnen aber, es ist so“, entgegnete der alte Herr scharf. „Es war sein ganzes Leben läng ein kleiner Bösewicht.“

„Das werde ich nie glauben“, erwiderte Frau Bedwin fest. „Er war ein liebes, sanftes und dankbares Kind!“

„Ruhig!“ sagte Brownlow. „Ich will den Namen des Jungen nie wieder hören. Um Ihnen das zu sagen, hatte ich geklingelt. Sie können jetzt gehen, aber denken Sie daran, ich habe im Ernst gesprochen.“

In Herrn Brownlows Hause gab es in dieser Nacht betrübte Herzen, aber auch Olivers Herz war todtraurig, wenn er seiner gütigen Freunde gedachte. Hätte er geahnt, was sie über ihn gehört hatten, es wäre gebrochen.

Wie Oliver in der sittenverbessernden Gesellschaft seiner ehrenwerten Freunde die Zeit verbrachte

Am Mittag des nächsten Tages, als der Gannef und Karl Bates zu ihren gewöhnlichen Geschäften ausgegangen waren, benutzte Herr Fagin die Gelegenheit, Oliver eine lange Rede über die schreckliche Sünde der Undankbarkeit zu halten. Er setzte ihm eingehend auseinander, wie er sich derselben in ganz ungewöhnlich hohem Grade schuldig gemacht habe, indem er sich von seinen besorgten Freunden entfernte und ihnen sogar zu entfliehen versuchte. Dabei hätte man doch auf seine Wiederauffindung so viel Mühe und Kosten verwendet. Herr Fagin legte großes Gewicht auf den Umstand, daß er Oliver ins Haus genommen und verpflegt habe. Ohne die ihm rechtzeitig gewährte Hilfe wäre er doch wahrscheinlich Hungers gestorben. Aber sie würden noch die besten Freunde werden, wenn sich Oliver folgsam und anstellig zeige. Der Jude nahm jetzt seinen Hut, zog einen alten geflickten Überrock an und ging fort, nicht ohne vorher das Zimmer abzuschließen.

So blieb Oliver während des ganzen Tages und einer Anzahl nachfolgender Tage eingesperrt und sich selbst überlassen. Er hatte genügend Zeit, seinen Gedanken nachzuhängen, die sich immer mit seinen Freunden in Pentonville beschäftigten, und was diese wohl für eine Meinung von ihm gefaßt haben mochten. Nach Ablauf einer Woche ließ der Jude die Tür unverschlossen, und Oliver stand es frei, im Hause umherzugehen.

Es war überall schmutzig im Hause, aber die Zimmer im oberen Stockwerk hatten große Türen und hölzerne Wandtäfelchen. Es mußte vor langer Zeit mal besseren Leuten gehört haben und war wohl einmal schön und heiter gewesen, so traurig und verkommen es auch jetzt aussah. In den Ecken der Wände hatten Spinnen ihre Netze ausgespannt, und wenn er leise in ein Zimmer trat, liefen die Mäuse erschreckt in ihre Löcher zurück. In allen Zimmern waren die morschen Fensterläden fest verschlossen. Das Licht konnte nur durch kleine, eingebohrte Löcher eindringen und erfüllte die Zimmer mit seltsamen Schattengestalten. Hintenhinaus befand sich eine Dachkammer, deren Fenster keine Läden hatten, sondern die nur vergittert waren. Hier sah Oliver oft stundenlang hinaus, aber er hatte nur einen Blick auf ein Gewirr von .Dächern, Schornsteinen und Giebeln.

Eines Nachmittags, als der Gannef und Karl Bates sich zu einer Abendunternehmung vorbereiteten, setzte jener es sich in den Kopf, eine größere Sorgfalt auf seine Toilette zu verwenden. Eine Schwäche, die wir, um gerecht zu sein, nur als eine ausnahmsweise vorkommende bezeichnen müssen. Er befahl Oliver gnädig, ihm bei diesem Geschäft an die Hand zu gehen.

Oliver war froh, sich nützlich machen zu können. Er kniete auf dem Boden nieder und nahm, während der Gannef auf dem Tische saß, dessen Füße in seinen Schoß, und putzte ihm die Stiefel.

Der Gannef blickte eine Weile gedankenvoll auf Oliver nieder und sprach dann halb für sich, halb zu Karl Bates:

„Wie schade, daß er kein Gannove ist!“

„Ach“, sagte Karl, „er weiß seinen Vorteil nicht auszunützen.“

„Ich glaube, du weißt nicht einmal, was ein Gannove ist?“

„Doch, ich glaube, ich weiß es“, versetzte Oliver hastig aufsehend. „Es ist ein Dieb. Du bist einer, nicht wahr?“ fügte er schüchtern hinzu.

„Ja“, erwiderte der Gannef, „und ich bin stolz darauf. Ich bin ein Dieb, wir alle sind Diebe – Karl – Fagin –Sikes – Nancy – Betsy – bis auf den Hund hinunter, und der ist nicht der schlechteste!“

„Jedenfalls verrät er keinen“, fügte Karl Bates hinzu.

„Warum gehst du eigentlich nicht bei Fagin in die Lehre, Oliver?“

„Könntest dein Glück machen“, sagte der Gannef grinsend.

„Und dich später mal als Rentier zurückziehen – ja, und wie ein Herr leben, wie ich es zu tun gedenke in dem nächsten vierten Schaltjahr, am zweiundvierzigsten Dienstage in der Trinitatiswoche“, fuhr Karl fort.

„Es gefällt mir nicht“, sagte Oliver schüchtern, „ich wollte, man ließe mich fort. Ich – ich – möchte lieber gehen.“

„Und Fagin möchte lieber, daß du bliebst“, entgegnete Karl.

Oliver wußte das nur zu gut, er hielt es aber für gefährfich, noch weiter darüber zu sprechen, deshalb fuhr er seufzend im Stiefelputzen fort.

„Geh“, rief der Gannef, „hast du gar kein Ehrgefühl? Möchtest du wieder hingehen und. deinen Freunden zur Last fallen? Ich könnte nicht so sein.“

„Aber ihr könnt eure Freunde im Stich lassen“, erwiderte Oliver mit mattem Lächeln, „und sie einer Strafe preisgeben, die ihr verdient habt?“

„Das geschah nur mit Rücksicht auf Fagin. Die Greifer wissen, daß wir gemeinschaftlich arbeiten, und er hätte Uhgelegenheiten gehabt. Das war der Grund, weshalb wir ausgerissen sind, nicht wahr, Karl? Guck mal hier“, fuhr der,Gannef fort und zog aus der Tasche eine Handvoll Schillinge, „so leben wir! Wer schert sich drum, wo es herkommt. Greif zu! Wo ich diese erwischt habe, gibt’s noch eine ganze Masse. Du willst nicht, du willst nicht? O du Dummkopf.“

„Nicht wahr, Oliver, es ist nicht recht?“ fragte Karl Bates. „Er wird dafür noch mal Bammelmann machen, nicht?“

„Ich weiß nicht, was das ist“, versetzte Oliver.

„Das will es heißen“, sagte Karl und machte mit seinem Taschentuch die Pantomime des Gehängtwerdens.

„Du bist schlecht erzogen“, meinte der Gannef, „aber Fagin wird schon noch etwas aus dir machen. Fang nur gleich an, sonst verlierst du nur Zeit.“

Karl Bates unterstützte diesen Rat mit einigen moralischen Nutzanwendungen und schilderte in glühenden Farben das Leben, was sie jetzt führten.

„Und dann bedenke, Nolly(*Oliver*)“, sagte der Gannef, „wenn du die Taschentücher und Uhren nicht nimmst, so stiehlt sie ein anderer. Wer sich daher eine solche Gelegenheit nicht zunutze macht, ist ein Dummkopf.“

„Er hat vollkommen recht, vollkommen“, sagte Fagin, der inzwischen leise eingetreten war. „Er gibt dir das Ganze in der Nußschale, ja in einer Nußschale, Freundchen. Dem Gannef kannst du glauben. Ha! Ha! Ha! Er kennt genau den Katechismus seines Geschäfts!“

Das Gespräch wurde nicht weiter fortgesetzt, denn der Jude war mit Fräulein Betsy und einem Herrn nach Hause gekommen, den Oliver noch nie gesehen hatte.

Dieser, als Tom Chitling angeredet, war etwas älter als der Gannef und mochte wohl achtzehn, Lenze zählen. Er benahm sich gegen diesen mit einer Ehrerbietung, die bewies, daß er sich bewußt war, dem Gannef an Geist und Geschäftsgewandtheit nicht ebenbürtig zu sein. Tom hatte kleine blinzelnde Augen und ein pockennarbiges Gesicht. Er trug eine Pelzmütze, eine dunkle Jacke, schmierige Barchenthosen und eine Schürze. Er sah ziemlich heruntergekommen aus und entschuldigte es damit, daß seine „Zeit“ erst seit einer Stunde um sei und er noch nicht dazu gekommen war, seinen Anzug zu wechseln. Er schloß daran die Bemerkung, daß er in zweiundvierzig langen, harten Arbeitstagen keinen Tropfen Schnaps angerührt hätte. Er wolle sich hängen lassen, wenn er nicht so sei wie ein Pulverfaß.

„Was glaubst du wohl, woher dieser Herr kommt, Oliver?“ fragte der Jude grinsend, als die anderen Jungen eine Schnapsflasche auf den Tisch stellten.

„Ich – weiß nicht“, stotterte Oliver.

„Wer ist denn das?“ fragte Tom Chitling, Oliver verächtlich ansehend.

„Ein junger Freund von mir“, antwortete Fagin.

„Dann ist er gut aufgehoben“, sagte Tom und sah Fagin bedeutungsvoll an. „Kümmere dich nicht darum, woher ich komme, Junge. Ich wette einen Taler, daß du den Weg dahin schnell genug finden wirst.“

Man lachte, und dann flüsterte Tom dem Juden einige Worte zu. Sie setzten sich an den Kamin, und Fagin ließ Oliver an seiner Seite Platz nehmen. Man sprach von den großen Gewinnen des Geschäfts, der Geschicklichkeit des Gannefs und der Freigebigkeit Fagins. Als dieses Thema und zu gleicher Zeit auch Herr Tom Chitling erschöpft war – denn der Aufenthalt im Gefängnis wird nach einigen Wochen etwas angreifend –, entfernte sich Betsy, und die ganze Bande begab sich zur Ruhe.

Von diesem Tage an wurde Oliver nur noch selten allein gelassen. Er war fast dauernd in Gesellschaft von Jack oder Karl, die Tag für Tag mit dem Juden das alte Spiel spielten. Ob zu ihrer eigenen oder zu Olivers Ausbildung, wußte Fagin am besten. Manchmal erzählte der alte Mann auch Geschichten von Diebstählen, die er in jüngeren Jahren begangen hatte. Er mischte darin so viel Drolliges und Spaßhaftes, daß Oliver häufig nicht umhin konnte, herzlich mitzulachen und die Geschichten lustig zu finden. Trotz seiner besseren Einsicht!

Der schlaue alte Jude hatte den Jungen im Netz. Er hatte Olivers Geist durch Einsamkeit und Langeweile darauf vorbereitet, jede Gesellschaft seinen traurigen Grübeleien vorzuziehen. Langsam flößte er ihm das Gift ein, das die Unschuld seiner Seele trüben und sein Herz für immer schwarz machen sollte.

In dem ein denkwürdiger Plan beraten und beschlossen wird

Es war eine kalte und windige Nacht, als der Jude gut vermummt aus seiner Höhle auftauchte. Er blieb auf der Schwelle stehen, während die Jungen die Tür von innen verschlossen und verriegelten. Nachdem dies geschehen, eilte er so schnell, als er konnte, die Straße hinab.

Das Haus, in das man Ofiver gebracht hatte, befand sich in der Nähe von Whitechapel. – Der Jude stand an der nächsten Ecke einen Augenblick still und sah sich argwöhnisch um. Dann ging er über die Straße und schlug die Richtung nach Spitalfields ein.

Der Schmutz lag dicht auf dem Pflaster, und ein dunkler Nebel hing über den Straßen. Es regnete, und alles war kalt und feucht anzufühlen. Eine Nacht, so recht geeignet für die Unternehmungen eines Wesens, wie der Jude es war. Als der greuliche Alte unter dem Schutz der dunkeln Mauern und Torwege dahinschlich, glich er ganz einem eklen Gewürm, welches in dem Schlamm und Dunkel, das ihn geboren, nach einem leckeren Mahle sucht.

Er kam auf seinem Gange durch viele krumme und enge Gassen nach Bethnal Green. Hier bog er plötzlich links ab und tauchte dann in ein Labyrinth von schmutzigen Straßen unter, die es in diesem bevölkerten Stadtteil zu Dutzenden gibt.

Der Jude war augenscheinlich mit der Gegend gut vertraut, denn ohne irgendwelches Zögern eilte er durch mehrere Straßen, bis er eine Gasse erreichte, an deren äußerstem Ende nur eine Laterne brannte. Er klopfte an die Tür eines Hauses und stieg die Treppe hinauf, nachdem man ihm gegen Bekanntgabe des Losungswortes geöffnet hatte.

Als er die Klinke einer Tür berührte, hörte man das Knurren eines Hundes, und eine rauhe Mannesstimme fragte, wer da sei.

„Nur ich, Bill; nur ich, Freundchen“, sagte der Jude und guckte herein.

„So bring deinen schuftigen Leichnam ‚rein“, erwiderte Sikes. – „Kusch, dummes Vieh! Kennst du denn den Teufel nicht, auch wenn er vermummt ist.“

Der Hund hatte sich augenscheinlich durch Fagins Regenmantel täuschen lassen, denn sobald der Jude ihn abwarf, zog sich das Tier wieder in seine Ecke zurück und wedelte mit dem Schwanze.

„Nun?“ fragte Sikes.

„Tja, mein Lieber! – Ach Nancy.“

Der Jude war etwas verlegen, da er nicht wissen konnte, wie er von dem Mädchen empfangen werden würde. Doch Nancy tat ganz harmlos; sie winkte Fagin zu sich an den Kamin heran und meinte: es wäre eine kalte Nacht und sie wolle das Mißverständnis vergessen.

„Ja, es ist wirklich kalt“, entgegnete der Jude. .Es geht einem durch und durch.“

„Gib ihm was zu trinken, Nancy. Donnerwetter, spute dich! Es wird einem ja ganz übel, wenn man das dürre Gerippe so klappern sieht, als sei es eben erst dem Grabe entstiegen.“

Nancy holte eiligst eine Flasche und Sikes füllte ein Glas mit Brandy, das er dem Juden hinhielt.

Der Jude berührte es mit den Lippen und sagte dann:

„Danke, Bill, nicht mehr, habe genug.“

„Du hast wohl Angst, wir wollen dir was“, fragte Sikes, den Juden mit einem Blick durchbohrend. Er ergriff mit einem heiseren Grunzen das Glas und goß den Rest seines Inhalts in den Kamin. Dann füllte er es aufs neue und trank es aus.

Fagin sah sich im Zimmer um, nicht aus Neugierde, denn er war schon öfters dagewesen, sondern aus Argwohn, wie es ihm zur zweiten Natur geworden war. Es war ein ärmlich möbliertes Gemach, und man sah darin nichts Verdächtiges als ein paar schwere Knüttel in einer Ecke und einen ‚Totschläger‘ auf dem Kaminsims.

„Weshalb bist du gekommen“, fragte jetzt Sikes den Juden.

„Wegen der Villa in Chertsey“, erwiderte dieser leise.

„Nun und – Was weiter?“

„Ach, lhr wißt schon, was ich meine, Bill. Nicht wahr, Nancy, er weiß es recht gut?“

„Nein, er weiß es nicht“, sagte Sikes höhnisch, „oder will es nicht wissen, was auf dasselbe rauskommt. Schleime dich nur ruhig aus und nenne die Dinge beim rechten Namen. Tue doch nicht so, als ob du nicht das Ding ausbaldowert hast!“

„Pst, Bill“, machte Fagin, der sich umsonst bemüht hatte, Sikes Unwillen zu beschwichtigen. „Man wird uns hören, Freundchen, man wird uns hören!“

„Meinetwegen“, erwiderte Sikes, „mir ist’s gleich.“ Er dämpfte aber doch unwillkürlich seine Stimme.

„Nun, es war von mir aus doch nur Vorsicht“, sagte der Jude schmeichelnd, „weiter nichts als Vorsicht. Also was die Villa in Chertsey anbelangt – wann soll es sein, Bill, sprich? – Großartiges Silbergeschirr!“ fügte er händereibend hinzu und seine Augen funkelten beutegierig.

„Gar nicht“, erwiderte Sikes kalt.

„Was, gar nicht?“ wiederholte der Jude in grenzenlosem Erstaunen.

„Gar nicht, wenigstens geht’s nicht so, wie wir dachten.“

„Dann habt Ihr die Sache nicht richtig angefaßt“, meinte Fagin ärgerlich. „Mir könnt Ihr doch nichts erzählen!“

„Ich werde es dir schon erzählen“, entgegnete Sikes höhnisch. „Also, Toby Crackit hat seit ‚vierzehn Tagen alle möglichen Versuche gemacht, einen von der Dienerschaft zu gewinnen.“

„Ihr wollt also sagen“, unterbrach ihn der Jude, „daß keiner der beiden Bedienten überredet werden konnte?“

„Gerade das wollte ich sagen“, antwortete Sikes. „Sie sind schon zwanzig Jahre im Hause der alten Frau und würden’s nicht tun, selbst wenn wir ihnen fünfhundert Pfund bieten würden!“

„Und das weibliche Personal?“ fragte Fagin.

„Auch nicht dran zu denken.“

„Nicht mal durch den schneidigen Toby Crackit? Wie doch die Weiber nun einmal sind!“

„Auch vergeblich, trotzdem er sich einen Backenbart angeklebt und eine schöne gelbe Weste getragen hatte.“

„Er hätte es mit einem Schnurrbart und Soldatenhosen versuchen sollen“, meinte der Jude nach kurzem Besinnen.

„Das hat er auch getan, hatte aber ebensowenig Zweck.“

Fagin machte ein langes Gesicht dazu und versank in tiefes Nachdenken. Dann meinte er seufzend, wenn Crackits Berichte stimmen, müßte man den Plan wohl aufgeben. „Es ist furchtbar traurig, so viel zu verlieren, wenn, man sein Herz daran gehängt hat.“

„Ja“, sagte Sikes, „es ist ein mächtiges Pech.“

Es folgte nun ein langes Schweigen. Der Jude versank in tiefe Gedanken, wobei sein Gesicht den Ausdruck wahrhaft teuflischer Spitzbüberei annahm. Sikes warf ihm von Zeit zu Zeit verstohlene Blicke zu, während Nancy sich mäuschenstill verhielt und so tat, als hätte sie vom ganzen Gespräch nichts gehört.

„Fagin“, sagte Sikes, plötzlich die Stille unterbrechend, „ist es fünfzig Scheine extra wert, wenn man’s durch Einbruch schafft?“

„Ja!“ sagte der Jude, aufschnellend.

„Gilt’s?“ fragte Sikes.

„Ja, abgemacht“, antwortete Fagin, die Hand des andern drückend. Er strahlte im Gesicht und seine Augen glänzten.

„Dann“, erwiderte Sikes und schob die Hand des Juden verächtlich beiseite, „dann kann es sofort losgehen. Toby und ich sind gestern nacht über die Gartenmauer geklettert und haben die Türen und Fensterläden untersucht. Die Villa ist zwar in der Nacht gut verrammelt, aber es gibt eine Stelle, wo man bequem einbrechen kann.“

„Wo ist denn die Stelle?“ fragte Fagin lebhaft.

„Also, man geht über den Rasenplatz“, flüsterte Sikes, „und –“

„Ja, und –“ unterbrach ibn Fagin mit aufgerissenen Augen, dabei beugte er sich gespannt vor.

„Dann –“, rief Sikes schnell abbrechend, als ihm das Mädchen, fast ohne den Kopf zu bewegen, einen warnenden Blick zuwarf. „übrigens geht dich die Stelle gar nichts an, ohne mich kannst du es doch nicht machen. Wenn man mit dir zu tun hat, muß man verdammt vorsichtig sein.“

„Wie Ihr denkt, mein Lieber. Braucht Ihr keine Hilfe, schafft Ihr beide es allein?“

„Wir brauchen nur noch ein Brecheisen und ’nen Jungen. Das erstere haben wir, den Buben mußt du uns besorgen!“

„Einen Jungen?“ rief der Jude. „Ach, dann geht’s durchg ein Fenster, nicht wahr?“

„Kann dir gleich sein“, erwiderte Sikes. „Der Junge darf aber nicht zu groß sein.“ Nachdenklich fuhr er fort: „Wenn ich nur den Buben des Schornsteinfegers Ned kriegen könnte, der hätte ihn mir billig ausgeliehen. Aber da haben sie den Vater eingespunnt, und mit einemmal kommt solch ein Verein für verlassene Kinder und nimmt den Bengel aus einem Geschäft, wo er Geld verdienen konnte. Man lehrt ihn schreiben und lesen, damit er Handwerker werden kann. Aber so ist ’s“, fuhr Herr Sikes fort, der über diese Ungerechtigkeit immer mehr in Wut geriet „so ist’s, und wenn diese Vereine Geld genug hätten – was aber Gott sei Dank nicht der Fall ist – so würden für unsern Beruf in einigen Jahren kaum ein halbes .Dutzend Jungen übrigbleiben.“

„So viel würden uns kaum bleiben“, stimmte der Jude zu, der während dieser Rede seine Gedanken ganz wo anders hatte und nur die letzten Worte aufschnappte.

„Was ist los?“

Der Jude machte mit dem Kopf ein Zeichen, als wenn es ihm lieb wäre, daß Nancy, die immer noch mit dem Gesicht gegen den Kamin saß, jetzt das Zimmer verließe. Erst zuckte Sikes ungeduldig die Achseln, er hielt diese Vorsicht für unnötig, dann aber forderte er doch Nancy auf, ihm einen Krug Bier zu holen.

„Du brauchst kein Bier“, sagte Nancy, ruhig sitzenbleibend, und schlug die Arme übereinander.

„Ich habe aber Durst!“ erwiderte Sikes.

„Unsinn!“ versetzte das Mädchen gelassen. „Fahrt nur weiter fort, Fagin. Ich weiß, was er sagen will, Bill, vor mir braucht er sich nicht zu genieren!“

Der Jude zögerte, und Sikes guckte verwundert erst Nancy und dann Fagin an.

„Nanu, du wirst dich vor unserer alten Nancy nicht fürchten?“ sagte er schließlich. „Die kennst du doch lange genug, um ihr zu mißtrauen, zum Donnerwetter! Die verpfeift uns nicht, nicht wahr, Mädel?“

„Das sollt‘ ich meinen, Bill!“ erwiderte die junge Dame, dabei rückte sie ihren Stuhl an den Tisch und stützte den Kopf auf die Ellbogen.

„Das schon, mein Lieber. Ich weiß das, aber –“ Fagin hielt inne.

„Aber was?“ fragte Sikes.

„Aber vielleicht kriegt sie wieder einen Rappel, wie neulich“, antwortete der Jude.

Bei diesen Worten brach das Mädchen in ein lautes Gelächter aus und stürzte ein Glas Brandy hinunter. Sie schüttelte den Kopf herausfordernd und sagte, das wäre ja lächerlich. Sie könnten vor ihr ruhig sprechen. „Redet nur ungeniert von Oliver, Fagin.“

Dies schien die beiden Herren zu beruhigen, denn der Jude nahm mit zufriedenem Lächeln seinen Sitz wieder ein, und Herr Sikes folgte seinem Beispiel.

„Die Nancy ist doch ein schlaues Mädel, wie mir selten eines vorgekommen ist“, dabei klopfte ihr der Jude schmunzelnd auf die Schulter. „Sie hat ganz recht, ich wollte tatsächlich von Oliver reden, ha! Ha! Ha!“

„Wieso?“ fragte Sikes.

„Das ist für Euch der Junge, mein Lieber“, erwiderte Fagin, heiser flüsternd. Sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen.

„Der?“ rief Sikes aus.

„Den kannst du nehmen sagte Nancy. „Wenigstens ich täte es an deiner Stelle. Er ist vielleicht nicht so abgefeimt wie die anderen, aber das ist ja auch nicht nötig. Er hat ja nur eine Tür aufzumachen, darin ist er zuverlässig, Bill.“

„Stimmt das ist er“, sagte Fagin. „Er ist die letzten Wochen in einer guten Schule gewesen, und es wird Zeit, daß er anfängt, sich sein Brot selbst zu verdienen. Außerdem sind die anderen alle zu groß.“

„Ja, die richtige Figur hat er“ meinte Sikes.

„Und er wird auch alles tun, was ihr verlangt, Bill. Er kann nicht anders, vorausgesetzt daß Ihr ihn gut in Zucht haltet.“

„Daran soll es nicht fehlen, verlaß dich drauf“, entgegnete Sikes. „Macht der Bengel dumme Geschichten, wenn wir bei der Arbeit sind, siehst du ihn lebend nicht wieder, Fagin. Teufel auch! Überlege dir das wohl, ehe du ihn mir schickst.“ Er holte ein schweres Brecheisen unter der Bettstelle vor und schwang es drohend.

„Habe bereits älles überlegt“, sagte der Jude entschieden. „Habe ihn scharf beobachtet. Laßt ihn nur einmal klar werden, daß er einer der Unsrigen ist! Wenn sich der Gedanke in seinem Kopf festgesetzt hat, er sei ein Dieb gewesen, so ist er uns verfallen. Für sein ganzes Leben. Ha! Ha! Es hätte gar nicht besser kommen können.“

Er kreuzte seine Arme über der Brust und wand den Kopf und die Schultern, sozusagen, in einen Knäuel zusammen. Er umarmte sich buchstäblich selber vor Freude.

„Uns verfallen?“ sagte Sikes. „Dir, willst du wohl sagen.“

„Vielleicht stimmt’s, mein Lieber“, sagte Fagin schrill lachend. „Mein also, wenn es Euch so besser gefällt.“

„Und warum“, sprach Sikes grollend, „gibst du dir eigentlich soviel Mühe mit dem Gelbschnabel? Du hast doch die Auswahl unter fünfzig Jungen, die jede Nacht im Hyde Park pennen!“

„Die kann ich nicht gebrauchen“, versetzte Fagin etwas verwirrt. „Sie sind nichts wert, denn wenn sie in Schlamassel geraten, so steht ihnen gleich auf dem Gesicht geschrieben, was sie ausgefressen haben, und sie gehen kapores. Mit Oliver, richtig dressiert, kann man mehr erreichen als mit zwanzig andern. Zudem“, fuhr er gefaßter fort, „hat er uns jetzt in der Hand, wenn er wieder entwischen sollte. Er muß deshalb mit uns in dasselbe Boot. Es ist gleichgültig, wie er dareingekommen ist, aber bleiben muß er. Und ist dies nicht besser, als wenn wir den armen Jungen um die Ecke bringen müßten. Abgesehen davon, daß das gefährlich wäre, würden wir auch dabei verlieren.“

„Wann soll es geschehen?“ fragte Nancy. Sie schnitt dadurch einen heftigen Gefühlsausbruch des Herrn Sikes ab, der die geheuchelte Menschenfreundlichkeit Fagins nicht gut anhören konnte.

„Ja, Bill“, fragte ebenfalls der Jude, „wann soll es sein?“

„Ich habe mich mit Toby auf übermorgen nacht verabredet“, versetzte Sikes mürrisch, „wenn ich ihm nicht noch vorher absage.“

„Schön“, sagte Fagin, „es ist doch kein Mondschein?“

„Nein!‘

„Habt Ihr auch alle nötigen Vorkehrungen zur Fortschaffung der Beute getroffen?“ fragte der Jude.

Sikes nickte.

„Und wegen –“

„Ach, es ist alles in Ordnung“, fiel ihm Sikes ins Wört, „kümmere dich nicht um die Einzelheiten. Bringe den Jungen morgen abend her, eine Stunde nach Tagesanbruch geht’s los. Du hast weiter nichts als das Maul und den Schmelztiegel bereit zu halten. Mehr verlangen wir nicht.“

Nach einigen Hin, und Herreden aller drei wurde beschlossen, daß Nancy am nächsten Abend Oliver von Fagin abholen solle. Dieser meinte nämlich, er würde dem Mädchen lieber als irgendeinem anderen folgen, weil sie neulich so energisch für ihn eingetreten war. Man war sich ferner darüber einig, daß der arme Oliver zum Zwecke der beabsichtigten Unternehmung Herrn William Sikes ohne Vorbehalt übergeben werden solle. Dieser könne nach Gutdünken mit dem Jungen verfahren und wäre nicht verantwortlich für irgendeinen möglichen Unfall oder eine notwendige Züchtigung.

Nach Abschluß dieser Verhandlungen fing Sikes an, ein Glas Brandy nach dem anderen hinunterzustürzen und fuchtelte dabei mit dem Brecheisen in beunruhigender Weise herum. Darauf begann er gemeine Lieder zu singen, die er dann und wann mit wilden Flüchen unterbrach. Endlich bestand er in einem Anfall von Zunftstolz darauf, seine Einbrecherwerkzeuge vorzuführen. Er hatte jedoch kaum den Kasten mit ihnen gebracht und aufgemacht, um die Eigentümlichkeiten der verschiedenen Instrumente auseinanderzusetzen und auf die besondere Schönheit ihrer Konstruktion hinzuweisen, als er zu Boden stürzte und auf der Stelle einschlief.

„Gute Nacht, Nancy“, sagte Fagin und vermummte sich wieder.

„Gute Nacht.“

Ihre Blickt trafen sich, und der Jude faßte sie scharf ins Auge. Doch er fand keinen Anlaß zum Argwohn, denn sie benahm sich ruhig und gelassen. Indem er dem wie tot daliegenden Herrn Sikes noch einen leichten Tritt gab, ging er hinaus und die Treppe hinunter.

„So ist es immer“, brummte der Jude auf dem Nachhauseweg vor: sich hin. „Es ist das schlimmste bei diesen Weibern, daß die unbedeutendste Kleinigkeit in ihnen irgendein längst vergessenes Gefühl wieder weckt – gut ist nur, daß es nie lange währt. Ha! Ha! Der Kerl gegen den Jungen! Ich halte einen Beutel Gold auf den Kerl!“

Mit diesen angenehmen Gedanken beschäftigt, verfolgte Fagin seinen Weg durch Dreck und Nässe, bis er seine Höhle wieder erreichte. Der Gannef war noch wach und erwartete ungeduldig seine Rückkehr.

„Ist Oliver zu Bett? Ich muß ihn sprechen!“ waren des Juden erste Worte, als sie die Treppe hinaufstiegen. „Schon lange“, antwortete der Gannef und öffnete eine Tür. „Hier ist er.“

Der Junge schlief fest auf einer harten Matratze auf dem Fußboden. Angst, Kummer und die lange Gefangenschaft hatten ihm die Blässe des Todes aufgedrückt – des Todes, nicht wie er im Sarge erscheint, sondern wie man ihn wahrnimmt. Wenn das Leben aus dem Körper entflohen ist, und die Seele gen Himmel fliegt, ohne daß die schwere Luft der Erde schon Zeit hatte, den Staub umzuwandeln, den sie heiligte.

„Jetzt nicht“, murmelte der Jude und wandte sich still weg. „Morgen, morgen.“

In dem Oliver Herrn William Sikes übergeben wird

Als Oliver am Morgen erwachte, war er nicht wenig überrascht, statt seiner alten ein Paar neue Schuhe mit starken, dicken Sohlen neben seinem Lager zu finden. Anfangs freute er sich über diese Entdeckung, denn er hoffte, sie wäre die Vorläuferin seiner Erlösung. Er gab diesen Gedanken aber bald auf, als ihm der Jude beim Frühstück mitteilte, daß er am Abend nach Bill Sikes Wohnung gebracht werden solle.

„Muß – muß ich – dort bleiben?“ fragte Oliver ängstlich.

„Nein, Liebling, du sollst nicht dort bleiben“, versetzte Fagin. „Wir möchten dich nicht gern verlieren. Sei unbesorgt, Oliver, du kommst wieder zu uns zurück. Ha! Ha! Ha! So grausam werden wir nicht sein, dich wegzuschicken. O, nein!“

Der alte Mann, der sich über das Kaminfeuer gebückt hatte und eine Brotschnitte röstete, blickte sich bei diesen ironischen Worten um und kicherte, um zu zeigen, er wisse recht wohl, wie gern Oliver weglaufen würde.

„Ich glaube, du möchtest gern wissen“, fuhr Fagin fort, ihn dabei scharf anblickend, „was du bei Bill sollst, nicht wahr?“

Oliver errötete unwillkürlich bei diesen Worten, denn er glaubte, der Alte habe seine Gedanken gelesen. Er erwiderte jedoch dreist:

„Ja, ich möchte es wohl wissen.“

„Nun, was denkst du wohl?“ fragte Fagin ausweichend.

„Weiß es wirklich nicht“, versetzte Oliver.

„Na. dann warte, bis es dir Bill sagen wird.“ Er wandte sich damit mißvergnügt ab, denn er ärgerte sich, daß der Junge keine größere Neugierde verriet.Nach einer Weile sagte der Alte. „Du kannst ein Licht anzünden“ und legte eine Kerze auf den Tisch. „Da ist ein Buch, in dem du lesen magst, bis man dich abholt. Gute Nacht.“

„Gute Nacht“, sagte Oliver leise.

Der Jude ging auf die Tür zu. Ehe er sie öffnete, sah er sich nach dem Jungen um und rief ihn mit Namen an.

Oliver sah auf; der Jude zeigte auf die Kerze und bedeutete ihm, sie anzuzünden. Der Junge gehorchte und bemerkte, als er den Leuchter auf den Tisch stellte, daß Fagin ihn mit düsteren Blicken betrachtete.

„Nimm dich in acht, Oliver, hüt‘ dich!“ sagte der Alte und hob warnend die rechte Hand hoch. „Er ist ein roher Mensch und scheut kein Blutvergießen, wenn er in Wut ist. Was auch passiert, schweige und tue, was er dir, befiehlt. Denke daran!“ Er sagte die letzten Sätze mit starker Betonung, und sein finsterer Gesichtsausdruck wich einem gräßlichen Grinsen; dann nickte er mit dem Kopf und verließ das Zimmer.

Als Fagin verschwunden war, stützte Oliver seinen Kopf auf die Hand und dachte mit Herzklopfen den eben vernommenen Worten nach. Je mehr er über des Juden Warnung nachsann, desto weniger vermochte er sich den Sinn derselben zu erklären. Er konnte sich nicht denken, daß man Böses gegen ihn im Schilde führe, wenn man ihn zu Sikes schickte. Das hätte man ebenso bequem gehabt, wenn er bei Fagin bliebe. Nach langem Grübeln kam er zu dem Schlusse, daß er dazu bestimmt sei, Sikes so lange als Aufwärter zu dienen, bis ein anderer, besser geeigneter Junge ihn ablösen würde. Er blieb einige Minuten in Gedanken versunken und putzte dann seufzend das Licht. Darauf nahm er das Buch zur Hand, das ihm der Jude gegeben hatte, und fing zu lesen an.

Er blätterte anfangs rein mechanisch in dem Buche, doch wurde bald seine Aufmerksamkeit durch eine Stelle gefesselt, die ihn veranlaßte, eifriger im Lesen fortzufahren. Es waren Schilderungen des Lebens und der Taten großer Verbrecher. Die abgegriffenen, schmutzigen Seiten des Buches ließen darauf schließen, daß es viel studiert worden war. Er las von furchtbaren, das Blut erstarrenden Verbrechen, von geheimen Mordtaten, die an einsamen Wegen begangen wurden, von Leichen, die man in tiefen Abgründen und Brunnen vor den Augen der Menschen verbergen wollte, die aber nicht in ihren Gräbern bleiben konnten, so tief sie auch sein mochten. Die vielmehr nach Jahren wieder zum Vorschein kamen und durch ihren Anblick ihre Mörder so entsetzten, daß sie vor Grausen ihre Schuld bekannten und flehten, man möge sie hinrichten und so die Qual ihres Gewissens endigen. Die entsetzlichen Schilderungen waren so natürlich und lebendig, daß die schmutzigen Blätter sich vom Blute zu röten schienen.

In wahnsinniger Angst klappte der Junge das- Buch zu und warf es in eine Ecke. Dann fiel er auf die Knie und betete zu Gott, er möge ihn vor solchen Taten bewahren und ihn lieber gleich sterben lassen, als ihn für solche entsetzliche Verbrechen aufbewahren. Dann wurde er allmählich ruhiger und betete mit leiser, gebrochener Stimme um Errettung aus den ihn umgebenden Gefahren.

Er war mit seinem Gebet zu Ende, aber noch hielt er das Gesicht mit den Händen bedeckt, als ihn ein Rascheln weckte.

Er fuhr auf, und als er an der Tür eine Gestalt erblickte, rief er:

„Was ist das? Wer ist da ?“

„Ich – ich bin es nur!“ antwortete eine bebende Stimme.

Oliver hob das Licht in die Höhe und erkannte Nancy.

„Stell das Licht wieder hin“, sagte das Mädchen und wandte das Gesicht zur Seite; „es blendet meine Augen.“

Der Junge sah, daß sie sehr blaß war, mitleidig fragte er daher, ob sie krank wäre. Doch ohne zu antworten, warf sie sich auf einen Stuhl, so daß sie Oliver den Rücken kehrte, und rang die Hände.

„Gott verzeihe es mir“. rief sie endlich – „ich habe nie an alles dies gedacht.“

„Ist etwas vorgefallen?“ fragte Oliver. Kann ich Ihnen helfen? Wenn ich kann, will ich’s gerne tun.“

Sie wiegte sich hin und her, faßte sich an die Kehle und schnappte nach Luft.

„Nancy!“,schrie Oliver, „was ist Ihnen?“

Des Mädchens Arme und Beine zuckten wie im Krampf, sie hüllte sich fröstelnd in ihren Schal.

Oliver fachte das Feuer im Kamin zu größerer Glut an, sie rückte ihren Stuhl an den Kamin und saß eine Weile stumm da. Endlich hob sie den Kopf und blickte umher.

„Ich weiß nicht, wie mir zuweilen wird“, sagte Nancy und tat so, als ob sie mit dem Ordnen ihres Kleides beschäftigt sei. „Ich glaube, die dumpfe Luft in dieser Stube ist schuld daran. Nun, Nolly, bist du bereit?“

„Soll ich mit Ihnen gehen?“

„Ja, ich komme. von Bill“, antwortete Nancy.

„Ich will dich zu ihm bringen.“

„Wozu?“ fragte der Junge zurückweichend.

„Wozu?“ wiederholte das Mädchen, indem sie die Augen emporhob, aber schnell wegsah, als sie Olivers Blick begegnete. „Oh, zu nichts Bösem,“

„Das glaube ich nicht“, sagte Oliver, der sie aufmerkosam beobachtet hatte.

„Das kannst du halten, wie du willst“, erwiderte sie mit gezwungenem Lachen. „Also zu nichts Gutem!“

Oliver hatte erkannt, daß das Mädchen zuweilen bessere Regungen hatte und dachte einen Augenblick daran, ihr Mitleid anzuflehen. Dann fiel ihm jedoch ein, daß es kaum elf Uhr sei und mithin wohl noch Leute auf den Straßen sein würden. Von diesen würde der eine oder der andere sicher seiner Erzählung Glauben schenken und ihm helfen. Als ihm dies durch den Kopf flog, ging er auf Nancy zu und sagte hastig, er sei bereit.

Dieser war nicht entgangen, was in seinem Innern vorging und sah ihn, während er sprach, scharf an.

„Pst“, sagte sie, als sie sich über ihn beugte und, vorsichtig um sich blickend, auf die Tür zeigte. „Du kannst dir nicht helfen. Ich habe alles Mögliche deinetwegen versucht, aber vergebens. Du bist von allen Seiten umstellt, und wenn du auch vielleicht einmal loskommst, jetzt ist noch nicht der richtige Augenblick dafür gekommen!“

Betroffen durch die Entschiedenheit in ihrem Benehmen, blickte ihr Oliver verwundert ins Gesicht. Sie schien es aufrichtig zu meinen, sie war blaß und aufgeregt und zitterte stark.

„Ich habe dich schon einmal vor Mißhandlungen geschützt und werde es auch künftig tun, – ich tue es sogar jetzt“, fuhr das Mädchen lauter fort, „denn wenn jemand anders dich geholt hätte, wäre man weit gröber mit dir umgegangen. Ich habe mich für dich verbürgt, daß du ruhig und artig sein würdest. Wenn du mir Schande machst, so wirst du mir und dir schaden, vielleicht an meinem Tode schuld sein. Sieh her! das alles habe ich schon für dich erduldet! So wahr, als Gott sieht, daß ich es dir zeige.“ Sie wies ihm einige blaue Flecken an Hals und Armen vor und fuhr dann hastig fort: „Vergiß das nicht und laß mich deinetwegen nicht noch mehr ausstehen. Wenn ich dir helfen könnte, würde ich es gern tun, aber es steht nicht in meiner Macht. Sie wollen dir kein Leid zufügen, und wozu man dich auch immer zwingen mag – dich trifft keine Schuld. Gib mir die Hand. Schnell, deine Hand!“

Sie ergriff Olivers Hand, die er ihr unwillkürlich reichte, blies das Licht aus und zog ihn die Treppe hinunter. Die Tür wurde von jemand, den man in der Dunkelheit nicht erkennen konnte, geöffnet und, sobald sie auf der Straße waren, ebenso schnell wieder geschlossen. Vor dem Hause hielt eine Droschke, sie zog ihn hinein und schloß die Fenster. Der Kutscher bedurfte keiner Weisung, sondern fuhr sofort in scharfem Trabe fort.

Nancy hielt Oliver noch immer fest an der Hand und flüsterte ihm weiterhin Warnungen und Versprechungen ins Ohr. Alles war so rasch vor sich gegangen, daß er sich kaum besinnen konnte, wo er wäre und wie er hierher käme. Da hielt auch schon die Droschke vor dem Hause, in dem Sikes wohnte.

Oliver warf einen schnellen Blick auf die leere Straße und ein Ruf um Hilfe schwebte ihm auf den Lippen. Nancys bittende Stimme, sie zu schonen, tönte ihm im Ohr. Er zögerte, und damit war die günstige Gelegenheit verpaßt; er befand sich plötzlich im Hause, das sofort verriegelt wurde.

„Wir sind da“, sagte das Mädchen, zum erstenmal seine Hand loslassend. – „Bill!“

„Hallo“, antwortete dieser, der mit einem Licht oben an der Treppe erschien. „Ihr kommt zur rechten Zeit! Nur herein!“

Das war für einen Menschen von Sikes‘ Temperament eine ungewöhnlich herzliche Begrüßung, und Nancy war darüber augenscheinlich sehr vergnügt.

„Tom hat den Hund mitgenommen“, bemerkte Sikes, während er leuchtete, „er wäre uns im Wege gewesen.“

„Das ist gut“, erwiderte Nancy.

„Du hast also den Bengel“, sagte Bill, die Tür schließend, nachdem sie ins Zimmer getreten waren.

„Ja, hier ist er“, antwortete Nancy.

„Ging er ruhig mit?“ fragte Sikes.

„Wie ein Lamm“, entgegnete das Mädchen.

„Freut mich zu hören“, sagte Sikes, Oliler drohend anblickend, „es wäre ihm sonst auch schlecht ergangen. Komm her, Junge, ich muß dir eine Vorlesung halten, je eher, desto besser!“

Mit diesen Worten riß Sikes seinem neuen Zögling die Mütze vom Kopfe und warf sie in eine Ecke. Dann setzte er sich an den Tisch und rief Oliver zu sich heran.

„Weißt du, was das ist?“ fragte Sikes, eine Pistole ergreifend, die auf dem Tische lag.

Oliver bejahte.

„Nun denn, guck her! Dies ist Pulver, dies eine Kugel und dies ein Pfropfen.“

Oliver flüsterte, daß er das alles begreife.

Nun lud Herr Sikes die Pistole mit großer Umständlichkeit und sagte dann:

„So, jetzt ist sie geladen.“

„Ja, ich sehe es“, sprach Oliver, am ganzen Leibe zitternd.

„Nun“, fuhr der Räuber fort und setzte den Lauf der Pistole an Olivers Schläfe. Dieser konnte einen Angstschrei nicht unterdrücken. „Wenn du auf der Straße das Maul auftust, ohne gefragt zu sein, kriegst du die Kugel in den Hirnkasten. Hast du dir also vorgenommen, ohne Erlaubnis zu reden, so sprich erst vorher dein letztes Gebet. Soviel ich weiß, wird sich keiner viel nach dir erkundigen, wenn du in dieser Weise erledigt bist. Wenn ich mir die Mühe machte, dir dies auseinanderzusetzen, so geschah es nur zu deinem eigenen Besten. Hast du mich verstanden?“

„Du willst mit kurzen Worten sagen, Bill“, nahm jetzt Nancy das Wort und sah dabei Oliver bedeutungsvoll an, „daß du ihm durch eine Kugel in den Kopf das Ausplaudern verleiden willst, falls er dir einen schlimmen Streich spielt. Selbst auf die Gefahr hin, dafür gehängt zu werden. Eine Gefahr, die du ja täglich wegen vieler anderer Dinge in deinem Berufsleben auf dich nimmst.‘

„Ganz recht“, bemerkte Sikes beifällig. „Die Weiber können doch immer alles in die kürzesten Worte fassen, ausgenommen, wenn sie zanken, denn da können sie kein Ende finden. Und nun, da er Bescheid weiß, kannst du uns etwas zu essen geben. Nachher wollen wir noch ein bißchen pennen, ehe wir aufbrechen.“

Dieser Aufforderung nachkommend, deckte Nancy schnell den Tisch und holte eine Schüssel Hammelfleisch und einen Krug Bier aus der Küche. Als das Abendessen beendet war, goß Herr Sikes noch ein paar Gläser Brandy hinter die Binde und befahl Nancy, ihn Punkt fünf Uhr zu wecken. Dann warf er sich auf sein Lager. Oliver legte sich, dem Befehle seines neuen Herrn gehorchend, ohne sich auszuziehen, auf eine Matratze neben Sikes‘ Bett. Nancy blieb vor dem Kamin sitzend, wach, um die beiden zur bestimmten Zeit zu wecken.

Oliver glaubte, das Mädchen würde ihm vielleicht noch einige Ratschläge zuflüstern, sie rührte sich aber nicht. So schlief er endlich ein.

Als er erwachte, stand eine Teekanne auf dem Tisch, und Nancy war eifrig mit der Bereitung des Frühstücks beschäftigt. Sikes war dabei, verschiedene Sachen in die Taschen seines über einer Stuhllehnie hängenden Mantels zu stecken. Der Tag war noch nicht angebrochen; die Kerze brannte noch; draußen war dunkle Nacht. Ein starker Regen schlug gegen die Fensterscheiben., und der Himmel sah schwarz und wolkig.aus.

„Nun“, brummte Sikes, als Oliver aufsprang, „bereits halb sechs! spute dich oder du kriegst kein Frühstück mehr. Es ist schon spät.“

Nachdem der Junge ein wenig gefrühstückt hatte, band ihm Nancy ein Halstuch um, und Sikes hing ihm einen großen, groben Mantelkragen über die Schultern. Sikes ergiff ihn nun bei der Hand und zeigte ihm mit drohender Gebärde, daß die Pistole in einer Seitentasche seines Mantels stecke. Nachdem er sich kurz von Nancy verabschiedet hatte, zog er Oliver mit sich fort.

Dieser wandte sich an der Tür einen Augenblick um, in der Hoffnung, von dem Mädchen noch einen Blick zu erhaschen, doch Nancy hatte ihren Platz vor dem Kamin wieder eingenommen und rührte sich nicht.

Unterwegs

Der Morgen war unfreundlich, als sie auf die Straße traten. Es regnete in Strömen und düstere Wolken bedeckten den Himmel. Auf den Straßen standen große Pfützen, und die Rinnsteine flossen über. Alles schien in diesem Stadtteil noch in den Federn zu sein, denn die Fensterläden waren überall fest geschlossen und die Straßen öde und leer.

Als sie in die Bethnal Greenstraße gelangten, schien der Tag erst wirklich anzubrechen. Die Wirtshäuser, in denen die Gaslampen noch brannten, waren bereits geöffnet. Allmählich machten auch die anderen Läden auf, und hin und wieder begegnete man Menschen. Je näher sie der City kamen, desto mehr nahm der Lärm und das Geschäftsgewühl zu. Es war nun so hell, wie es an einem solchen trüben Tage sein konnte. Sie kamen nach länger Wanderung nach Holborn.

„Junge“, sagte Sikes mit einem Blick auf die Uhr der Andreaskirche, „beinahe sieben Uhr. Du mußt schneller ausschreiten, Faulpelz.“ Er riß ihn mit sich fort. Auf der Straße nach Kensington holten sie einen leeren Karren ein, und Sikes fragte den Kutscher mit so viel Höflichkeit, als ihm zu Gebote stand, ob er sie in Richtung Isleworth mitnehmen wolle. Der Kärrner bejahte, und sie fuhren bis Brentford mit, wo Sikes mit Oliver abstieg. Sie schlugen einen Seitenweg ein und erreichten Hampton. Dort kehrten sie in einer kleinen Gastwirtschaft ein und ließen sich kaltes Fleisch geben. Als sie damit fertig waren, zündete sich Sikes eine Pfeife an, so daß Oliver glaubte, die Reise ginge nicht weiter. Da er von dem vielen Laufen sehr müde war, verfiel er in einen tiefen Schlaf.

Es war dunkel, als er durch Sikes wieder wach gerüttelt wurde. Sie machten sich nun auf den Weg und kamen nach Shepperton. Da bemerkte Oliver, daß gerade unter ihnen Wasser rauschte und sie bei einer Brücke angelangt waren. Sikes bog links zum Ufer hinab.

„Ach, das Wasser!“ dachte Oliver, vor Furcht fast vergehend. „Er hat mich an diesen einsamen Platz gebracht, um mich umzubringen!“

Er war gerade im Begriff, sich niederzuwerfen und verzweifelt um sein Leben zu kämpfen, als er sah, daß sie vor einem einsamen, verfallenen Hause standen. Es war dunkel und scheinbar unbewohnt.

Sikes, der dauernd Oliver an der Hand hielt, näherte sich leise der niedrigen Tür und drückte auf die Klinke. Diese wich dem Drucke, und sie traten ein.

Der Einbruch

„Hallo!“ rief eine laute, aber heisere Stimme, als sie den Fuß in den Hausflur setzten.

„Mach nicht solchen Radau“, sagte Sikes, die Tür verriegelnd. „Bring eine Funzel, Toby!“

„Aha, mein Kumpel“, sagte dieselbe Stimme. „Eine Kerze, Barney, eine Kerze! Führe den Herrn hinein, Barney. Wache aber vorher auf, wenn’s dir recht ist!“

Der Sprecher schien einen Stiefelknecht oder einen ähnlichen harten Gegenstand nach der angeredeten Person zu werfen, um ihn aus dem Schlafe zu wecken, denn man hörte etwas Schweres zu Boden fallen und kurz darauf ein undeutliches Brummen, wie das eines aus dem Schlaf gestörten Menschen.

„Hörst du nicht?“ rief dieselbe Stimme, „Bill Sikes ist da, und du pennst, als ob du Opium genommen hättest oder noch Stärkeres! Nun, wird’s bald? – oder muß ich den Feuerhaken gebrauchen, um dich ganz munter zumachen?“

Ein Paar bepantoffelte Füße schlürften jetzt hastig über den Fußboden, und aus einer Tür zur Rechten tauchte erst ein schwaches Licht und dann die Gestalt desselben Individuums auf, das wir von dem Wirtshaus zu Saffron-Hill her kennen.

„Ah, Herr Sikes“, rief Barney mit wahrer oder erheuchelter Freude. „Willkommen, Herr!“

„Marsch“, sagte Sikes jetzt zu Oliver. „Vorwärts, oder ich trete dir die Hacken ab.“

Mit einem Fluch über die verwünschte Langsamkeit des Jungen.stieß er Oliver in ein niedriges, dunkles Zimmer. Dort lag auf einem furchtbar schmutzigen Bett ein Mann lang ausgestreckt und rauchte aus einer langen Tonpfeife. Herr Crackit, denn dieser war es, besaß nicht viel Haare. Weder auf dem Kopfe, noch im Gesicht; die wenigen aber, die er hatte, waren von rötlicher Farbe und in Locken gedreht. Er war etwas über Mittelgröße und augenscheinlich schwach auf den Beinen.

„Bill, mein Junge“, sagte er, den Kopf nach der Seite drehend, „freue mich, dich zu sehen. Ich fürchtete schon, du hättest die Sache aufgegeben, dann hätte ich die Geschichte auf eigene Faust unternommen. Nanu, wer ist denn das?“

„Das ist der Junge!“ versetzte Sikes und schob einen Stuhl vor den Kamin.

„Einer von Figins Buben?“ fragte Barney mit höhnischem Grinsen.

„Ach so – von Fagin“, sagte Toby und musterte Oliver aufmerksam. „Ein Prachtjunge für die Taschen der alten Weiber in der Kirche. Sein Ponim ist so gut wie ein Kapital.“

„Ach, laß das“, sagte Sikes ungeduldig und flüsterte seinem Freunde einige Worte ins Ohr. Herr Crackit brach darauf in lautes Lachen aus und beehrte Oliver mit einem langen Blick der Verwunderung.

„Nun“, meinte Sikes, indem er Platz nahm, „wenn ihr für uns etwas zu essen und zu trinken habt, her damit. Es wird uns Mut machen, mir wenigstens. Setz dich ans Feuer, Junge, und ruhe dich aus. Du mußt heute nacht mit, weit ist es zwar nicht.“

Oliver sah ihn schüchtern und verwundert an, rückte einen Schemel an den Kamin und verbarg seinen schmerzenden Kopf in den Händen. Er wußte kaum, wo er war und was um ihn vorging.

„Da“, sagte Toby, als der Judenjüngling etwas Essen und eine Brandyflasche auf den Tisch stellte. „Auf glückliches Gelingen!“

Er stand dem Trinkspruch zu Ehren auf, stellte die ausgerauchte Pfeife behutsam in eine Ecke, trat an den Tisch und füllte ein Weinglas mit Brandy. Er hob es hoch und trank es mit einem Zuge aus. Herr Sikes tat das gleiche.

„Einen Tropfen für den Jungen“, fuhr Toby fort und goß das Glas halb voll. „Hinunter damit, du Unschuld vom Lande!“

„Ich weiß nicht“, stotterte Oliver mit kläglichem Gesicht, „habe noch nie –“

„Hinunter damit!“ wiederholte Toby. „Denkst du vielleicht, ich weiß nicht, was dir gut ist? Sag du ihm, daß er trinkt, Bill!“

„Es wäre gut, wenn er’s täte“, sprach Sikes drohend.

„Hol mich der Teufel, man hat mit dem Jungen mehr Mühe als mit einer ganzen Familie Gannoven. Sauf, du Teufelsbraten!“

Eingeschüchtert durch die drohenden Gebärden der beiden, schluckte Oliver den Inhalt hastig hinunter und mußte gleich darauf furchtbar husten. Darob brachen Toby und Barney in ein lautes Gelächter aus, und selbst der mürrische Herr Sikes verzog den Mund zu einem Lächeln. . Als Sikes seinen Hunger gestillt hatte, denn Oliver konnte weiter nichts als eine Brotrinde essen, die man ihm aufzwang, legten sich die beiden Männer zu einem kurzen Schlafe nieder. Oliver blieb auf seinem Schemel beim Kamin sitzen, während sich Barney, in eine Decke gehüllt, vor dem Kamin auf den Boden ausstreckte.

Um halb zwei Uhr sprang Toby Crackit auf und sagte, es wäre Zeit.

Im Nu waren alle auf den Beinen. Sikes und sein Kumpel vermummten Hals und Kinn mit schwarzen Tüchern und zogen ihre weiten Mäntel an. Barney öffnete einen Schrank und entnahm ihm verschiedene Gegenstände, die er eilig in ihre Taschen verpackte. Nachdem Sikes sich überzeugt hatte, daß von ihren Einbrecherwerkzeugen nichts fehlte, nahm er und Toby einen tüchtigen Knüttel in die Hand und hängte Oliver den Mantelkragen wieder um.

„Nun los!“ sagte Sikes und streckte seine Hand aus.

Oliver reichte ihm mechanisch die seinige.

„Nimm ihn bei der anderen Hand, Toby“, fuhr Sikes fort. „Barney, sieh draußen nach!“

Dieser ging hinaus und kam mit der Nachricht zurück, daß alles ruhig sei. Die beiden Einbrecher verließen nun mit Oliver in ihrer Mitte das Haus. Es war pechschwarze Nacht. Sie gingen über die Brücke und waren bald in Chertsey.

„Tippeln wir schon durch die Stadt“, flüsterte Sikes. „In dieser Nacht wird niemand unterwegs sein, der uns beobachten könnte.“

Toby war einverstanden, und so schritten sie hastig durch die Hauptstraße der kleinen Stadt, die zu so später Stunde ganz verödet war. Um zwei Uhr hatten sie das Städchen im Rücken. Sie gingen nun schneller und bogen in einen Weg ein, der nach links führte. Nach zehn Minuten machten sie vor einer Villa halt, die von einer Mauer umgeben war und welche Toby sofort erklomm.

„Jetzt den Jungen!“ sagte Toby. „Reiche ihn mir herauf.“

Ehe Oliver sich’s versah, hatte ihn Sikes hochgehoben und im nächsten Augenblicke lag er neben Toby auf der anderen Seite der Mauer im Grase. Sikes folgte gleich darauf, und dann schlichen sie vorsichtig dem Hause zu. Jetzt wurde es dem armen Jungen, der vor Angst und Schrecken fast wahnsinnig war, zum erstenmal klar, daß die beiden Halunken auf Raub und Einbruch, wenn nicht gar auf Mord ausgingen. Er schlug dit Hände zusammen und seinen Lippen entfloh unwillkürlich ein Ausruf des Entsetzens. Seine Augen umflorten sich, kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, er wankte und sank in die Knie.

„Steh auf!« knirschte Sikes wutbebend. „Steh auf, oder ich jage dir eine Kugel durch den Kopf.“ Damit zog er seine Pistole aus der Tasche.

„Ach, um Gotteswillen, lassen Sie mich doch gehen“, schrie Oliver, „lassen Sie mich doch Iaufen. Ich will nie wieder nach London kommen, niemals! Ach, seien Sie doch barmherzig und zwingen Sie mich nicht zum Stehlen! Haben Sie doch Erbarmen!“

Sikes.stieß einen fürchterlichen Fluch aus und spannte den Hahn der Pistole. Toby schlug sie ihm aber aus der Hand und hielt Oliver den Mund zu. Dann zog er ihn fort nach dem Hause hin. Er sagte:

„Pst! Zum Bitten ist jetzt keine Zeit. Wenn du noch einmal die Schnauze aufreißt, kriegst du eins auf den Schädel. Das ist ebenso gut und macht keinen Lärm. – Komm, Bill, brich den Fensterladen auf. Ich wette, daß der Junge jetzt gehorcht. Hab‘ schon ältere und erfahrenere Burschen gesehen, die in solcher Lage mit einemmal die Hosen voll hatten.“

Sikes rief schreckliche Verwünschungen auf Fagins Haupt herab, daß er ihm zu einem solchen Unternehmen einen Jungen wie Oliver geschickt hatte. Er setzte geräuschlos das Brecheisen an, und mit Tobys Beistand war in kurzer Zeit der Fensterladen erbrochen.

Es war ein kleines Gitterfenster an der Hinterseite des Hauses, etwa fünf Fuß über der Erde. Die Öffnung war zwar klein, aber doch groß genug, um einen Jungen von Olivers Größe durchzulassen. Dank Sikes‘ Geschicklichkeit war das Gitter schnell ausgebrochen und kein Hindernis mehr vorhanden.

„Nun paß auf, kleiner Strolch“, flüsterte Sikes, indem er eine Blendlaterne aus der Tasche zog, „ich steck‘ dich jetzt durchs Fenster. Dann gehst du mit der Laterne die Treppe herauf und über den Flur zur Haustür. Die machst du auf und läßt uns herein!“

„Oben an der Tür ist ein Riegel vor, an den du wahrscheinlich nicht herankannst“, fiel Toby ein. „Du mußt daher auf einen Stuhl klettern, es sind ihrer drei im Flur.“

Er stellte sich nun unter das Fenster, den Kopf gegen die Wand gestemmt. Die Hände hatte er auf die Knie gestützt, so daß man über seinen Rücken wegklettern konnte.

Dies tat Sikes sofort und steckte Oliver, mit den Füßen voran, sachte durchs Fenster.

„Nimm die Laterne“, flüsterte Bill. „Siehst du die Treppe da vor dir?“

Oliver, mehr tot als lebendig, hauchte „Ja!“ Sikes deutete mit dem Pistolenlaufe nach der Haustür und sagte, daß er ihn für den Fall des geringsten Zögerns sofort erschießen würde. Seine Kugel träfe sicher.

„In einer Minute kannst du es gemacht haben“, flüsterte Sikes, „Horch!“

„Was ist los?“ fragte Toby.

Sie lauschten gespannt.

„Nichts!“ sagte Sikes. „Nun vorwärts, Oliver!“

Der Junge hatte sich inzwischen gesammelt und war fest entschlossen, die Treppe hinaufzurennen und Lärm zu schlagen, selbst wenn es ihm das Leben gekostet hätte. Von diesem Gedanken erfüllt, schlich er leise vorwärts.

„Komm zurück!“ schrie Sikes plötzlich laut. „Zurück, zurück!“

Erschreckt durch diese plötzliche Unterbrechung der Totenstille und einen darauffolgenden lauten Schrei, ließ Oliver die Laterne fallen und wußte nicht, ob er weitergehen oder fliehen solle.

Das Geschrei wiederholte sich – ein Licht erschien – die Gestalten von zwei bestürzten, halb angekleideten Männern oben auf der Treppe schwammen vor seinen Augen – ein Blitz -ein Knall – Rauch – ein Krachen, er wußte nicht wo –, dann taumelte er zurück.

Sikes war auf einen Augenblick verschwunden, aber nur für einen Augenblick, denn noch ehe der Rauch verzogen war, hatte er Oliver am Kragen. Er feuerte seine Pistole auf die sich zurückziehenden Männer ab und zog ihn durchs Fenster.

„Halte dich fester an mich“, sagte Sikes. „Toby, ein Halstuch – schnell. Sie haben ihn getroffen. Donnerwetter, wie der Junge blutet!“

Oliver hörte noch verschwommen lautes Geklingel, vermischt mit dem Knall von Gewehrschüssen und dem Geschrei von Menschen. Dann fühlte er sich rasch fortgetragen. Nach und nach erstarb der Lärm in der Ferne, eine tödliche Kälte durchschauerte ihn – er war bewußtlos geworden.

Welches das Wesentliche einer anmutigen Unterhaltung zwischen Herrn Bumble und einer Dame enthält und zugleich offenbart, daß auch ein Gemeindediener für manche Sachen empfänglich sein kann

Es war ein bitterkalter Abend, und der Schnee lag fußhoch. Es war ein Abend, an dem jeder, der ein Heim hat, sich dicht an das flackernde Kaminfeuer drängt und Gott dankt, daß er zu Hause ist – eine Nacht, wo die Unglücklichen ohne Heim und Obdach nichts Besseres tun können, als sich hinzulegen und zu sterben.

So sah es draußen aus, als Frau Corney, die Hausmutter der Armenanstalt, wo Oliver Twist das Licht der Welt erblickte, sich in ihrem kleinen Zimmer an den Kamin setzte., in dem ein lustiges Feuer prasselte, und wohlgefällig den kleinen runden Tisch überschaute. Sie war nämlich im Begriff, sich an einer Tasse Tee zu letzen; und als sie ihren Blick wieder dem Feuer zuwandte, wo der kleinste aller nur erdenklichen Teekessel sein lustiges Lied sang, wuchs ihre innere Zufriedenheit in einem solchen Maße, daß sie vergnügt lächelte.

„Nun“, sprach die würdige Dame vor sich hin, indem sie ihren Ellbogen auf den Tisch stützte und sinnend ins Feuer sah, „gewiß haben wir alle große Ursache, Gott dankbar zu sein, wollten wir es nur einsehen.“

Frau Corney schüttelte traurig den Kopf, als ob sie die Geistesblindheit der Armen beklage, die es nicht erkannten, fuhr dann mit einem silbernen Löffel (Privateigentum!) in eine zinnerne Teebüchse und begann den Tee zu bereiten.

Was für geringfügige Anlässe nicht die Ruhe schwacher Gemüter stören können! Der schwarze kleine Teetopf lief über, während Frau Corney in diesen moralischen Betrachtungen versunken war, und das Wasser verbrühte ein wenig ihre Hand.

„Verwünschter Topf“, sagte sie und setzte ihn hastig nieder, „das dumme Ding hält nur ein paar Tassen. Ach, du lieber Himmel!“

Der kleine Teetopf und die einzelne Tasse hatten in ihrer Seele traurige Erinnerungen an Herrn Corney geweckt, der noch nicht länger als fünfundzwanzig Jahre tot war. Eine tiefe Rührung bemächtigte sich ihrer.

„Ich bekomme nie wieder einen solchen Mann“, sagte sie mißmutig. „Nie wieder einen wie er.“

Sie kostete gerade die erste Tasse Tee, als leise an die Tür geklopft wurde.

„Nur herein!“ rief Frau Corey ärgerlich. Wahrscheinlich will wieder eines von den alten Weibern sterben, denn die sterben immer, wenn ich beim Essen bin. Bleibt nicht in der Tür stehen, es kommt kalt herein. Was ist denn los?“

„Nichts, gar nichts“, antwortete eine männliche Stimme.

„Ach, du meine Güte“, rief die Matrone schon freundlicher, „sind Sie’s, Herr Bumble?“

„Zu Diensten“, erwiderte dieser und trat, seinen Dreispitz in der einen und ein Bündel in der andern Hand, ins Zimmer. „Soll ich die Tür schließen?“

Die Dame zögerte verschämt mit der Antwort. Es hätte als unschicklich angesehen werden können, wenn sie mit Herrn Bumble bei geschlossener Tür geplaudert hätte. Dieser benutzte das Zaudern und machte die Türe zu, ohne weitere Erlaubnis abzuwarten.

„Schlechtes Wetter, Herr Bumble“, sagte die Matrone.

„In der Tat, sehr schlecht“, erwiderte dieser, „besonders für die Gemeinde! Wir haben heute nachmittag zwanzig Brote und anderthalb Käse verteilt, Frau Corney, und doch sind die Armen nicht zufrieden.“

„Wann wären sie es je“, entgegnete die Dame, behaglich ihren Tee schlürfend.

„Wann? Sie haben recht. Da ist ein Mann, der in Anbetracht seiner großen Familie ein Brot und ein ganzes Pfund Käse erhielt. Glauben Sie wohl, daß er sich dafür bedankt hat? Jawohl, um Kohlen hat er noch gebeten, wenn es auch nur ein Taschentuch voll wäre, sagte er. Kohlen! Was will er mit Kohlen? Wahrscheinlich seinen Käse damit rösten und dann wiederkommen und mehr erbetteln! So machen’s diese Leute, Frau Corney.“

Die hielt mit ihrem Unwillen nicht zurück.

»Vorgestern kam ein Mann“, fuhr Bumble fort, „sie waren ja verheiratet, also kann ich’s sagen – der kaum ein Hemd auf dem Leibe hatte, (Frau Corney schlug verschämt die Augen nieder) an die Tür unseres Direktors, als dieser gerade eine Mittagsgesellschaft hatte. Er bat um Unterstützung. Der Direktor ließ ihm ein Pfund Kartoffeln und ein halbes Pfund Hafermehl geben. ‚Mein Gott‘ sagte der Undankbare, ‚was soll ich damit. Sie hätten mir ebensogut ein Brille geben können!‘ ‚Schön‘,versetzte unser Direktor und nahm die Gabe wieder an sich, ‚dann .werdet Ihr gar nichts kriegen‘ – ‚So werde ich auf offener Straße sterben‘, erwiderte der Landstreicher – ‚Das werdet Ihe Euch noch überlegen‘, meinte der Direktor.“

„Ha! Ha! Das war gut. Das sieht Herrn Grannett ähnlich! Und was geschah weiter?“

„Was geschah?“ wiederholte Bumble. „Er ging weg und starb tatsächlich auf der Straße. Was sagen Sie zu solchem Eigensinn?“

„Unglaublich! Aber halten Sie eine Unterstützung außer dem Hause nicht für direkt zwecklos? Sie sind ein Mann von Erfahrung und müssen das wissen.“

„Nein, Frau Corney“, sagte der Gemeindediener überlegen, „Unterstützung außer dem Hause richtig angewandt – wohlgemerkt, richtig angewandt –, ist für die Gemeinde das Beste. Man befolgt dabei den Grundsatz, den Armen gerade das zu geben, was sie nicht brauchen. Es wird ihnen dann über, wiederzukommen. – Doch das sind Amtsgeheimnisse, so etwas dürfen wir nur unter uns Gemeindebeamten laut werden lassen!“

Er fing jetzt an sein Bündel auszupacken und sagte:

„Hier ist Portwein, den der Vorstand für die Kranken bewilligt hat, echter Portwein, glockenklar, ohne den geringsten Bodensatz.“

Er stellte die beiden mitgebrachten Flaschen auf die Kommode und wollte sich verabschieden. Frau Corney fragte nun verschämt, ob sie ihm nicht ein Täßchen Tee anbieten dürfe. Herr Bumble legte Hut und Stock auf einen Stühl und rückte einen andern an den Tisch. Während er sich langsam niederließ, blickte er die Matrone an. Sie hatte ihre Augen auf den kleinen Teetopf geheftet. Herr Bumble hustete und verzog sein Gesicht zu einem Lächeln.

Frau Corney holte eine zweite Tasse aus dem Schrank, und als sie sich wieder setzte, begegneten ihre Augen denen des galanten Gemeindedieners. Sie errötete und machte sich an dem Teetopf zu schaffen. Herr Bumble hustete abermals.

„Süß?“ fragte die Matrone und nahm die Zuckerdose in die Hand.

„Sehr süß, bitte.“

Er sah dabei Frau Comey zärtlich an, soweit ein Gemeindediener zärtlich blicken kann.

„Sie haben eine Katze, wie ich sehe, und auch ein Kätzchen“, plauderte Herr Bumble.

„Sie können gar nicht glauben, Herr Bumble, wie gern ich diese Tierchen habe“, entgegnete die Matrone.

„Niedliche Dingerchen“, sagte Herr Bumble beistimmend, „und so ans Haus gewöhnt.“

„O ja“ sagte die Dame, „sie sind zu gerne bei mir, und ich habe sie so lieb.“

„Frau Corney“, sagte Bumble feierlich, „ich muß sagen, eine Katze, die bei Ihnen lebt und Sie nicht liebhat, muß ein rechter Esel sein.“

„Ach, Herr Bumble“, sagte sie mit verweisendem Ton.

„Warum soll man nicht reden dürfen, wie es einem ums Herz ist. – Eine solche Katze würde ich mit Vergnügen ersäufen.“

„Dann sind Sie ein hartherziger Mensch.“

„Hartherzig?“ wiederholte Bumble und rückte seinen Stuhl näher. „Sind Sie hartherzig, Frau Corney?“

„Mein Gott, was ist das für eine komische Frage von einem ledigen.Manne! Warum wollen Sie das wissen?“

Herr Bumble trank seinen Tee bis zum letzten Tropfen aus, wischte sich die Lippen ab und brachte der Matrone bedächtig einen Kuß bei.

„Herr Bumble!“ rief die zartfühlende Dame – aber nur ganz leise, denn sie hatte vor Schreck fast die Stimme verloren, „Herr. Bumble, ich werde schreien.“

Dieser gab keine Antwort, sondern schlang langsam und würdevoll seinen Arm um den Leib der Matrone.

Da Frau Corney erklärt hatte, sie werde schreien, so hätte sie es auch sicher getan, wenn nicht ein Klopfen an die Tür eine solche Anstrengung überflüssig gemacht hätte. Herr Bumble sprang hastig auf und fing mit großem Eifer an, die Portweinflaschen abzustauben, während die Matrone mit scharfer Stimme „Herein!“ rief.

Eine abschreckend häßliche, alteArmenhäuslerin steckte den Kopf durch die Tür und sagte: „Ich bitte um Verzeihung, Frau Corney, die alte Sally liegt im Sterben.“

„Was geht mich das an?“ sagte die Matrone.ärgerlich, „kann ich es ändern, wie?“

„Nein“, sagte die alte Frau, „niemand kann das. Menschliche Hilfe kann ihr nichts mehr nützen. Aber sie hat noch etwas auf dem Herzen, so sagt sie, sie habe Ihnen noch etwas anzuvertrauen und könne nicht ruhig sterben, bis sie es Ihnen gesagt habe.“

Nun fing die würdige Frau Corney an, mächtig auf die alten Weiber zu schimpfen, die nicht mal sterben könnten, ohne ihre Vorgesetzten absichtlich zu belästigen. Sie wickelte sich in einen dicken Schal und bat Herrn Bumble zu bleiben, bis sie wiederkäme. Dann ging sie mit der alten Frau keifend aus dem Zimmer.

Als Herr Bumble allein war, benahm er sich auf eine ziemlich eigentümliche Weise. Er öffnete den Schrank und zählte die Teelöffel, wog die Zuckerzange in der Hand, dann prüfte er eine silberne Milchkanne auf ihre Echtheit. Nachdem er so seine Neugierde befriedigt hatte, setzte er seinen Dreispitz schief auf den Kopf und tanzte etlichemal mit vielem Anstand um den Tisch herum. Nach dieser Tanzaufführung nahm er seinen Hut wieder ab und lehnte sich gegen den Kamin.Er schien im Geiste eine Bestandaufnahme von dem im Zimmer befindlichen Mobiliar zu machen.

Handelt von einem äußerst armen Geschöpf

Das arme Weib, das Frau Corney in ihrer Bequemlichkeit gestört hatte, war keine unpassende Todesbotin. Ihr Körper war unter der Last der Jahre gekrümmt, alle ihre Glieder zitterten, und ihr durch einen Schlaganfall schiefgezogenes Gesicht glich mehr der grotesken Schöpfung eines phantastischen Malers, als einem Werke aus den Händen der Natur.

Ach, wie selten trifft man bei alten Leuten Gesichter, die uns durch ihre Schönheit erfeuen. Die Sorgen und die Leiden der Welt ändern sowohl das Antlitz als auch die Herzen.

Die alte Frau humpelte durch die Gänge und über die Treppen, bis sie erschöpft stehenblieb und Frau Corney das Licht in die Hand gab mit dem Bemerken, sie käme nach, sobald sie könne. Die Matrone ging nun rasch dem Zimmer zu, wo die Sterbende lag.

Es war eine kalte Bodenkammer, in der ein düsteres Licht brannte. Neben dem Krankenbette saß eine alte Frau, während der Lehrling des Armenhausapothekers am Kamin stand und sich aus einer Federpose einen Zahnstocher schnitt.

„Es ist heute abend kalt, Frau Corney“, sagte der Jüngling, als die Matrone eintrat.

„Sehr kalt, in der Tat“, versetzte die Dame sehr höflich und neigte den Kopf.

„Sie sollten von Ihrem Lieferanten bessere Kohlen fordern“, sagte der Apothekerlehrling, „diese taugen nichts.“

„Das ist Sache des Vorstandes. Das wenigste, was er tun könnte, wäre freilich, für ein warmes Zimmer zu sorgen, denn unser Amt ist schwer genug.“

Hier unterbrach ein Stöhnen der kranken Frau das Gespräch.

„Ach“, sagte der junge Mann und schaute nach dem Bette hin, „mit der ist es bald vorbei.“

„Ist’s schon so weit?“

„Würde mich wundern, wenn sie’s noch ein paar Stunden machte. – Hallo, schläft sie, Alte?“

Die Wärterin beugte sich über das Bett und sah nach, dann nickte sie. Plötzlich richtete sich jedoch die Kranke. auf und streckte die Arme nach der Wärterin aus.

„Wer ist das?“ fragte sie diese mit hohler Stimme.

Der Apothekerlehrling schlich auf den Zehenspitzen aus dem Zimmer.

„Leg dich wieder hin“ sagte die Wärterin.

„Nein, nein, ich will es ihr sagen. Kommen Sie hier her. Näher. Ich werde es Ihnen ins Ohr flüstern.“

Frau Corney setzte sich auf einen Stuhl an Ihrem Bette.

„Schicken Sie die Wärterin fort, geschwinde!“ sagte die Kranke, und jene verließ das Zimmer.

„Nun hören Sie mich an“, sagte die Sterbende so laut, als es ihre schwindenden Kräfte gestatteten. „In diesem Zimmer – ja, sogar in diesem Bette lag einst ein hübsches, junges Geschöpf. Es wurde mit wunden Füßen, staub- und schmutzbedeckt ins Haus gebracht. Sie gab in meiner Anwesenheit einem Knaben das Leben und starb. Ich will mal nachdenken – in welchem Jahr war es doch?“

„Das tut nichts zur Sache“, versetzte die Matrone uno geduldig. „Sagen Sie lieber, was es mit der Verstorbenen für eine Bewandtnis hat.“

„Was es mit ihr für eine Bewandtnis hat? Ich habe sie bestohlen“, schrie die Sterbende gellend, und ihr Gesicht glühte – „ich habe sie bestohlen, sie war noch nicht kalt, als ich sie bestahl.“

„Um Gottes willen – was häben Sie ihr gestohlen?“

„Es! Das einzige, was sie hatte. Sie brauchte Kleider, um nicht zu frieren, Nahrung, um nicht zu hungern, aber sie hatte es an ihrem Herzen aufbewahrt. Es war von Gold, echtem Gold,. und sie hätte sich dadurch das Leben retten können.“

„Gold?“ wiederholte Frau Corney, sich schnell über das Weib hinbeugend, als es auf das Bett zurücksank. „Weiter, weiter! Was ist damit? Wer war die Mutter? Wann war es?“

„Sie trug mir auf, es aufzuheben, und vertraute es mir an als der einzigen Frau, die um sie war. Ich stahl es Ihr schon in Gedanken, als sie es mir zuerst zeigte. Ach, vielleicht bin ich auch an des Kindes Tod schuld! Man hätte ihn wohl besser behandelt, wenn man alles gewußt hätte.“

„Was gewußt? Reden Sie doch!“

„Der Junge wurde seiner Mutter so ähnlich“, fuhr das Weib fort, ohne die Frage zu beachten, „daß ich immer an sie erinnert wurde, sooft ich sein Gesicht sah. Armes Mädchen! Und noch so jung – und so sanft! – Warten Sie, ich habe noch mehr zu sagen. Nicht wahr, ich habe Ihnen noch nicht alles gesagt?“

„Nein, nein“, antwortete Frau Corney, „nur schnell, ehe es zu spät ist.“

„Die Mutter“, sagte die Sterbende und nahm ihre letzten Kräfte zusammen, „die Mutter flüsterte mir ins Ohr, als sie den Tod nahen fühlte, daß, wenn ihr Kind am Leben bliebe, einst der Tag kommen dürfte, an dem es keinen Grund haben würde, sich des Namens seiner Mutter zu schämen.“

„Des Kindes Name?“ drängte die Matrone.

„Oliver!“ sagte die Sterbende mit matter Stimme. „Und das Gold, das ich. stahl, war –“

„Jja, was war es?“ fragte Frau Corney. Sie beugte sich schnell über das Weib, um die Antwort zu vernehmen, aber sie prallte zurück, als die Sterbende sich noch einmal langsam und steif aufrichtete, die Decke mit beiden Händen krampfhaft faßte, und nachdem sie einige unverständliche Worte gemurmelt hatte, leblos auf die Kissen zurücksank.

– – – – – – – – – – –

„Maustot“, sagte die Wärterin, als Frau Corney die Tür wieder geöffnet hatte.

„Und wußte auch nichts Wichtiges zu erzählen“, bemerkte die Matrone in gleichgültigem Tone. Damit ging sie.

Worin unsere Geschichte zu Herrn Fagin und Genossen zurückkehrt

Während sich diese Ereignisse im Armenhause zutragen, saß Herr Fagin am rauchenden Kamin, still vor sich hinbrütend, in seiner alten Höhle, aus der Oliver von Nancy neulich abgeholt worden war. Er war in tiefe Gedanken versunken und blickte in völliger Geistesabwesenheit in das trübe Feuer.

An einem Tische hinter ihm saßen der Gannef, Karl, Bates und Herr Chitling bei einer Partie Whist. Der Gannef spielte mit dem Strohmann gegen die beiden anderen. Es war merkwürdig, daß diese dauernd verloren, ein Umstand, der Herrn Bates nicht etwa aufbrachte, sondern höchlichst amüsierte. Er lachte nach Beendigung jedes Spiels hell auf und versicherte, daß er sich noch nie so gut unterhalten hätte. Als Herr Chitling nach Bezahlung seiner Spielschuld mit kläglicher Miene sagte: „Ich habe nie einen Spieler wie dich giesehen, Jack, denn du gewinnst ja immer. Selbst wenn wir gute Karten haben, können wir gegen dich nicht aufkommen“, brach Karl Bates in ein derartiges Gelächter aus, daß der Jude aus seinen Grübeleien gerissen wurde und verwundert fragte, was los sei.

„Ich wollte, Sie hätten dem Spiele zugesehen, Fagin. Tommy Chitling hat nicht einen Point gewonnen.“

„Ei, ei“, sagte der Jude grinsend, der des Gannefs Mogelei hinreichend kannte, „versuch’s nochmal, Tom, versuch’s nochmal!“

„Danke, Fagin, ich verzichte, habe vollkommen genug. Der Gannef hat ein solches Schwein, da ist nichts zu machen.“

„Ja, Freundchen, wenn du gegen den Gannef gewinnen willst, mußt du früher aufstehen“, versetzte der Alte.

„Nein“, sagte Karl Bates, „er muß am besten auch noch die ganze Nacht die Stiefel anbehalten und sich für jedes Auge ein Fernrohr besorgen. Dann kommt er vielleicht früh genug und ist passend ausgerüstet, um gegen den Gannef erfolgreich anzukämpfen.“

Herr Dawkins nahm diese Schmeicheleien mit philosophischer Ruhe hin und zeichnete zu seinem Vergnügen einen Plan des Newgate-Gefängnisses mit Kreide auf den Tisch. Er pfiff sich dazu ein Lied.

Nach einer Weile sagte der Gannef zu Herrn Chitling:

„Weißt du, Tommy, du bist doch mächtig stumpfsinnig. – An was mag er wohl denken, Fagin?“

„Wie sollte ich das wissen, wahrscheinlich an seinen Verlust oder an den sechswöchigen Landaufenthalt, den er eben hinter sich hat. Ha, ha! Stimmt’s, Tommy?“

„Ach wo“, rief der Gannef, Herrn Chitling in die Rede fallend, der eben antworten wollte. „Was meinst du, Karl?“

„Ich glaube“, sagte dieser grinsend, „er denkt an Betsy, hinter der er mächtig her ist. Seht, wie er rot wird. Das ist ein Hauptspaß! Tommy Chitling verliebt! Fagin, ist es nicht zum Totlachen?“

„Ach, laß Ihn in Ruhe“, sagte der Jude mißbilligend und puffte Karl in die Seite. „Betsy ist ein nettes Mädel. Mach dich nur an sie ‚ran, Tommy.“

„Ein für allemal, Fagin“, schrie Herr Chitling mit rotem Kopf, „das ist meine Sache, die keinen Menschen hier etwas angeht.“

„Du hast vollkommen recht“, sagte der Jude, „aber Karl muß immer schwatzen, das weißt du doch. Betsy ist ein nettes Mädel, und wenn du tust, was sie dir rät, wirst du dein Glück machen.“

„Horcht!“,rief der Gannef in diesem Augenblick, „ich habe die Klingel gehört.“ Er ergriff das Licht und schlich sachte die Treppe hinauf.

Während die übrigen sich im Dunkeln befanden, ertönte die Klingel abermals. Nach einer Minute erschien der Gannef wieder und flüsterte Fagin geheimnisvoll etwas zu.

„Was?“ schrie der Jude, „allein?“

Der Gannef nickte und gab Karl einen vertraulichen Wink, weniger lustig zu sein.

Der alte Mann biß sich in seine gelben Finger und überlegte einige Augenblicke. Sein Gesicht zeigte Spuren großer Aufregung, als fürchte er schlimme Nachrichten zu erhalten. Endlich erhob er den Kopf und fragte:

„Wo ist er?“

Der Gannef deutete nach oben und machte Anstalten, das Zimmer zu verlassen.

„Ja“, sagte der Jude als Antwort auf diese stümme Frage, „bring ihn herunter. Pst! – stille, Karl! – leise! – Tom! Sachte!“

Totenstille trat ein, als der Gannef mit einem Mann die Treppe herunterkam, der ein großes, sein Gesicht halb verhüllendes Tuch abwarf, nachdem er sich vorher hastig im Zimmer umgesehen hatte. Es war der schmucke Toby Crackit, ungewaschen und unrasiert.

„Wie geht’s dir, Fagin?“ sagte er. „Steck das Tuch nur in meinen Hut, daß ich es finden kann, wenn ich wieder gehe, Gannef. Aber ehe ich von Geschäftssachen rede, schafft erst etwas zu essen und trinken herbei, damit ich zum erstenmal seit drei Tagen wieder ein paar Krümel in den Magen bekomme.“

Fagin befahl dem Gannef, was an Eßbarem da war, aufzutischen, und setzte sich dem Einbrecher gegenüber, der Mitteilungen harrend, die dieser nun machen würde.

Es hatte nicht den Anschein, als ob es Toby sehr eilig habe, das Gespräch zu eröffnen. Anfangs begnügte sich der Jude, geduldig sein Gesicht zu beobachten, um darin etwas zu lesen. Vergebliche Mühe. Toby sah zwar ermüdet und übernächtigt aus, aber seine Gesichtszüge‘ zeigten dieselbe selbstgefällige Ruhe, die ihm gewöhnlich eigen war. Fagin zählte ungeduldig jeden Bissen, den der Einbrecher in den Mund steckte. Plötzlich sprang der Jude auf und ging unruhig im Zimmer auf und ab. Toby aß gleichmütig weiter, bis er nicht mehr konnte. Dann forderte er den Gannef auf, sich zu entfernen, und schickte sich endlich zu sprechen an.

„Zuerst und vor allen Dingen, Fagin was macht Bill?“

„Was?“ schrie der Jude vom Stuhl aufschnellend, auf den er sich inzwischen wieder gesetzt hatte.

„Donnerwetter, du willst doch nicht etwa sagen, daß –“‚, stotterte Toby und wurde blaß wie der Tod.

„Was sagen?“ schrie Fagin wütend und stampfte mit dem Fuße auf. „Wo sind sie? – Sikes und der Junge! – wo sind sie? – wo sind sie geblieben? – wo stecken sie? – warum sind sie nicht hier?“

„Der Einbruch mißglückte“, erwiderte Toby leise.

„Das weiß ich“, sagte der Jude und riß eine Zeitung aus seiner Tasche; „da steht es drin. Was noch?“

Sie schossen, und der Junge wurde getroffen. Wir rannten wie die Besessenen, querfeldein, über Hecken und Gräben. Man machte Jagd auf uns. Es war zum Teufel holen, die ganze Gegend war hinter uns her, und Hunde uns auf den Hacken!“

„Und der Junge?“ keuchte Fagin.

„Bill hatte ihn auf dem Rücken und jagte mit ihm dahin wie der Wind. Nach einer Weile blieben wir stehen, um ihn zwischen uns zu nehmen; er ließ jedoch den Kopf hängen und rührte sich nicht. Die Verfolger kamen immer näher, und da hieß es, jeder ist sich selbst der Nächste, wenn er nicht Bekanntschaft mit dem Henker machen wollte. Wir trennten uns und ließen den Jungen in einem Graben liegen, ob tot oder lebendig, weiß ich nicht.“

Der Jude wollte nichts mehr hören, er raufte sich die Haare und brüllte laut auf. Dann rannte er aus dem Zimmer auf die Straße hinaus.

In dem eine geheimnisvolle Person auf der Bildfläche erscheint und mancherlei Dinge sich ereignen, die sich von dieser Geschichte nicht trennen lassen

Der alte Mann war bereits an der Straßenecke, ehe er anfing, sich von dem Schrecken einigermaßen zu erholen, den ihm Tobys Bericht eingejagt hatte. Er unterbrach seinen Lauf nicht, sondern stürmte wie von Sinnen unentwegt weiter. Ein Wagen hätte ihn um ein Haar überfahren, wenn nicht die lauten Zurufe des Publikums ihn auf die drohende Gefahr aufmerksam gemacht hätten. Er vermied soviel wie möglich die Hauptstraßen und gelangte auf Nebengäßchen endlich nach Snow-Hill. Hier beschleunigte er seine Schritte noch mehr und verfiel erst wieder in seinen gewöhnlichen schiebenden Gang, als er in eine Sackgasse eingebogen war, in der er sich in seinem Element fühlte.

Unweit der Stelle, wo Snow-Hill und Holborn-Hill zusammentreffen, führt ein enges und häßliches Gäßchen nach Saffron-Hill. In seinen schmutzigen Läden sind große Haufen seidener Taschentücher von jeder Größe und den verschiedensten Mustern zum Verkauf gestellt,

denn hier wohnen die Handelsleute, die sie den Dieben abkaufen. Hunderte solcher Tücher flattern, mit hölzernen Klammern befestigt, an Ladentür und Schaufenster, während im Innern ganze Stöße derselben in den Regalen liegen. So klein auch das Gäßchen, mit Namen Fieldo-Lane, ist, so hat es doch seinen Friseur, sein Café, seine Kneipe und seine Garküche. Es bildet eine eigene Handelskolonie, ein Stapelplatz gestohlener Waren. Frühmorgens und im Abenddunkel erscheinen schweigsame Handelsleute, die in düsteren Hinterzimmern ihre Geschäfte abschließen und dann ebenso geheimnisvoll wieder verschwinden, wie sie gekommen sind. Hier legt der Trödler und Lumpenhändler seine Ware als Aushängeschild für den kleinen Dieb aus.

Dies war der Ort, wohin der Jude seine Schritte lenkte.

Er war den Bewohnern des Gäßchens gut bekannt, denn viele von ihnen, die sich des Kaufs oder Verkaufs wegen lauernd vor ihren Läden aufhielten, nickten ihm bei seinem Vorübergehen vertraulich zu. Er erwiderte die Begrüßung in gleicher Weise, jedoch ohne anzuhalten. Am äußersten Ende der Gasse blieb er endlich stehen und redete einen kleinen Mann an, der so viel von seiner Person in einen Kinderstuhl gezwängt hatte, als dieser aufnehmen konnte. Der Handelsmann saß vor seinem Laden und rauchte eine Pfeife.

„Ach, Herr Fagin, Ihr Anblick ist Labsal für Verschmachtende!“ sagte der ehrenwerte Händler in Erwiderung auf des Juden Frage nach seinem Befinden.

„Die Nachbarschaft war mir ein wenig zu heiß, Lively“, versetzte Fagin und zog die Augenbrauen hoch.

„Ja, diese Klagen sind mir auch ein paarmal zu Ohren gekommen“, antwortete der Trödler, „aber es wird auch mal wieder weniger heiß; meinen Sie nicht auch?“

Fagin nickte zustimmend und fragte dann, indem er nach Saffron-Hill zeigte, ob heute abend wohl jemand dort wäre.

„In den ‚Krüppeln‘?“ fragte das Männchen. Fagin nickte.

„Muß mal nachdenken. Ja, soviel ich mich entsinnen kann, sind ungefähr ein halbes Dutzend hingegangen. Ich glaube aber nicht, daß Ihr Freund dabei war!“

„Sikes also nicht?“ fragte Fagin enttäuscht.

„Non est ventus, wie die Rechtsgelehrten sagen“, entgegnete der kleine Mann mit einem pfiffigen Blick und schüttelte verneinend den Kopf. „Haben Sie heute nichts zu verkaufen?“

„Nein, heute nicht“, sagte der Jude und wandte sich zum Gehen.

„Gehen Sie in die ‚Krüppel‘, Fagin?“ fragte das kleine Männchen. „Warten Sie einen Augenblick, ich komme mit.“

Doch der Jude gab ihm zu verstehen, daß er es vorziehe, allein zu sein. Und da sich obendrein der kleine Mann nicht so leicht von seinem Kinderstuhl losmachen konnte, so mußte für diesmal das angesehene Wirtshaus „Zu den Krüppeln“ der Ehre verlustig gehen, Herrn Lively zu seinen Gästen zu zählen. Bis er sich auf die Beine gebracht hatte, war Fagin verschwunden, und so zwängte .sich Herr Lively wieder in den Kinderstuhl und nahm mit wichtiger Miene seine Pfeife wieder in die Hand.

Die „Drei Krüppel“ oder vielmehr die „Krüppel“ waren das Gasthaus, in dem wir Herrn Sikes und seinen Hund schon mal getroffen hatten. Es war einer gewissen Sorte von Gästen wohlbekannt. Fagin gab dem Mann am Schenktisch nur ein Zeichen und ging dann geradezu die Treppe hinauf. Oben öffnete er die Tür eines Zimmers und trat leise ein. Er sah sich, die Augen mit der Hand beschattend, vorsichtig um.

Das Zimmer war durch zwei Gaslampen erhellt, deren Licht jedoch nicht durch die mit Läden gut geschlossenen Fenster nach außen drang. In dem von Tabaksrauch angefüllten Raum konnteFagin kaum etwas erkennen. Nach und nach aber, als sich der Rauch durch den Luftzug der offenen Tür etwas verzogen hatte, tauchte eine Anzahl von Köpfen aus dem Qualm auf. Wenn sich das Auge mehr an den Schauplatz gewöhnt hatte, so konnte der Beobachter allmählich eine zahlreiche, aus Männern und Frauen bestehende Gesellschaft wahrnehmen, die sich um einen langen Tisch drängte. An dessen oberem Ende saß der Vorsitzende, in der Hand das Zeichen seiner Würde, einen Holzhammer haltend, während an einem verstimmten Piano in der entgegengesetzten Ecke ein Musiker sich niedergelassen hatte, der sich einer bläulichen Nase erfreute und eine von Zahnweh geschwollene Backe hatte.

Als der Jude leise ins Zimmer trat, hatte der Klavierspieler gerade durch einen präludierenden Lauf über alle Tasten die kunstbegeisterten Gäste zu einem Verlangen nach einem Liede veranlaßt, und sie gaben ihren Wunsch in ziemlich lärmender Weise zu erkennen. Als die Ruhe einigermaßen wiederhergestellt war, unternahm es eine junge Dame, die Gesellschaft mit einer aus vier Strophen bestehenden Ballade zu unterhalten. Der die Sängerin begleitende Künstler zappelte sich aus Leibeskräften ab, um seiner Musik den gehörigen Schwung zu geben. Als dieser Kunstgenuß zu Ende war, gab der Herr Vorsitzende mit dem Hammer ein Zeichen, und sofort begannen ein paar Herren zu seiner Rechten und Linken ein Duett, wofür sie großen Beifall ernteten.

Die Gesellschaft wies einige interessante Typen auf. Da war zuerst mal der Herr Vorsitzende in der Person des Wirtes selbst – ein schwerfälliger ungehobelter Kerl – der während des Gesanges seine Augen überall umherschweifen ließ und auf alles, was geschah und gesprochen wurde, sorgfältig achtete. Dann die Sänger neben ihm die mit Künstlergleichmut die Lobsprüche der Gesellschaft hinnahmen und sich nebenbei herabließen, ein Dutzend Gläser Grog zu leeren, die ihnen von ihren lärmendsten Bewunderern gespendet wurden. Man sah hier Verschmitztheit, Brutalität und Trunkenheit in allen Abstufungen. Den dunkelsten und traurigsten Teil dieses düsteren Gemäldes bildeten jedoch die Weiber – lauter Mädchen oder junge Frauen, die sich alle noch im Mai ihres Lebens befanden, und von denen einige die letzten Spuren einstiger Jugendfrische zeigten, während bei den meisten in ihrem wüsten Aussehen kein Zeichen edler Weiblichkeit mehr zu entdecken war.

Während der Gesangsdarbietungen sah sich Fagin die Gesellschaft scharf an, konnte aber augenscheinlich das Gesicht, welches er suchte, nicht finden. Schließlich gelang es ihm den Blick des vorsitzenden Wirtes auf sich zu ziehen und ihm einen Wink zu geben. Dann verließ er das Zimmer so unauffällig, wie er eingetreten war.

„Was wünschen Sie, Herr Fagin“, fragte der Wirt, der dem Juden auf den Treppenabsatz gefolgt war. „Wollen Sie nicht an unserem Tisch Platz nehmen? Wir würden es uns zur Ehre schätzen!“

Der Jude schüttelte ungeduldig den Kopf und fragte flüsternd:

„Ist er da?“

„Nein“, antwortete der Wirt.

„Und keine, Nachricht von Barney?“ fragte Fagin.

„Keine, er wird sich auch nicht rühren, bis die Luft rein ist. – Verlassen Sie sich darauf, man ist ihnen auf der Spur, und sobald er sich zeigte, würde man ihn klappen. Barney wird sich in Sicherheit gebracht haben, sonst hätte ich schon etwas von ihm gehört. Darüber können Sie ganz ruhig sein.“

„Kommt er heute nacht nicht her?“ fragteeter Jude, das „er“ stark betonend.

„Sie meinen Monks?“ entgegnete der Wirt zögernd.

„Pst, ja doch.“

„Sicherlich“, versetzte der Mann und zog eine goldene Uhr aus der Tasche. „Er müßte eigentlich schon hier sein. Wenn Sie zehn Minuten warten wollen, so –“

„Nein, nein“, sagte Fagin hastig, als käme ihm die Abwesenheit der betreffenden Person sehr gelegen, so gerne er sie auch gesehen hätte. „Sagen Sie ihm doch, ich hätte ihn besuchen wollen, und er solle heute abend noch – nein, morgen – er solle also morgen zu mir kommen. Da er nicht hier ist, wird’s wohl auch bis morgen Zeit haben!“

„Schön , sagte der Wirt. „Weiter nichts?“

„Nein, kein Wort mehr“, sagte der Jude und ging die Treppe hinunter.

„Hören Sie mal“, rief ihm der Mann im Flüsterton nach, „hier ist noch ein Schlag zu mächen. Phil Barker ist hier – mächtig duhn, dermaßen, daß ihn ein Kind neppen könnte!“

„So, so! Aber Phil Barkers Zeit ist noch nicht gekommen“, antwortete der Jude leise zurück. „Er hat noch etwas zu tun, ehe wir uns mit ihm verkrachen können. Also gehen Sie nur wieder zu Ihrer Gesellschaft zurück und sagen Sie den Leuten, sie sollen ihr Leben nur ordentlich genießen – wer weiß, wie lange noch. Ha! Ha! Ha!“ –

Der Wirt stimmte in das Lachen des Alten ein und kehrte zu seinen Gästen zurück. Sobald der Jude allein war, verdüsterten sich seine Mienen wieder. Nach kurzem Besinnen winkte er eine Droschke heran und ließ sich nach Bethnal Green fahren. Ein paar hundert Schritte von Sikes Wohnung stieg er aus und legte den Rest seines Weges zu Fuß zurück.

„Nun“, brummte der Jude vor sich hin, als er an die Tür klopfte, „wenn man hier ein abgekartetes Spiel mit mir treibt, so werde ich es bald heraushaben, meine Liebe, so verschlagen du auch bist.“

Fagin schlich leise die Treppe hinauf und trat ohne anzuklopfen in Nancys Zimmer. Das Mädchen war allein und lag mit dem Kopf auf dem Tisch. Das Haar hing ihr in Strähnen herunter.‘

„Sie ist betrunken“, dachte der Jude, „Oder ihr ist schlecht zumute.“

Als der Alte die Tür schloß, wurde das Mädchen durch das Geräusch wach. Sie fragte ihm offen ins Gesicht sehend, was es Neues gäbe, und hörte aufmerksam zu, als er Toby Crackits Bericht wiederholte. Ohne ein Wort zu sagen, nahm sie nach Beendigung der Erzählung ihre frühere Stellung wieder ein. Sie schob das Licht ungeduldig beiseite, wechselte verschiedenemal nervös ihre Lage und scharrte mit den Füßen. Das war jedoch alles.

Während sie schwieg, blickte der Jude unruhig im Zimmer umher. Er schien sich überzeugen zu wollen, ob Sikes nicht etwa heimlich zurückgekehrt sei. Durch seine Untersuchung anscheinend zufriedengestellt, hustete er einigemal und machte verschiedene vergebliche Versuche, ein Gespräch mit dem Mädchen anzuknüpfen. Schließlich fragte er im liebenswürdigsten Tone:

„Und was meinen Sie wohl, Kindchen, wo Bill jetzt ist?“

Das Mädchen antwortete in kaum verständlichen Worten, sie könne das nicht wissen. Sie schien zu weinen.

„Und der Junge?“ fuhr Fagin fort und versuchte einen Blick auf ihr Gesicht zu werfen. „Das arme Kindl Denken Sie nur, Nancy, sie haben es in einem Graben liegengelassen!“

„Da ist es besser dran als bei uns“, versetzte das Mädchen aufblickend. „Und wenn es Bill nicht nachteilig wäre, würde ich wünschen, Oliver läge tot im Graben, und seine Gebeine vermoderten dort.“

„Was?“ rief der Jude in großem Erstaunen.

„Ja, es ist mein Ernst. Ich bin froh, wenn ich ihn nicht mehr sehen muß und weiß, daß er das Schlimmste überstanden hat. Es ist mir furchtbar, ihn in meiner Nähe zu haben. Wenn ich ihn sehe, muß ich mich selbst und euch alle verabscheuen!‘

„Ach, du bist betrunken, Mädel“, sagte der Jude verächtlich.

„Wirklich? Deine Schuld ist’s nicht, wenn ich es nicht bin! Wenn’s nach dir ginge, wäre ich immer betrunken, nur jetzt nicht. Meine Gemütsverfassung paßt dir nicht, nicht wahr?“

„Allerdings nicht“, sagte Fagin aufgebracht.

„So ändert’s“, versetzte das Mädchen mit einem Auflachen.

„Werde ich auch“, schrie der Jude, durch die unerwartete Störrigkeit des Mädchens und die Verdrießlichkeiten des Abends im höchsten Grade erbittert. „Paß auf, Dirne, höre gut auf die Worte eines Mannes, der nur drei Worte zu sagen braucht, und Sikes wird gehängt. Wenn er zurückkommt und den Jungen nicht mitbringt – wenn er glücklich davongekommen ist und liefert mir Oliver, tot oder lebend, nicht wieder ab –, so ist es besser, Mädchen, du bringst ihn selbst um, wenn du nicht willst, daß er Bammelmann macht!“

„Was soll das heißen?“ fragte Nancy unwillkürlich.

„Das will heißen, daß der Junge mir viele hunderte Pfund wert ist“, schrie Fagin sinnlos vor Wut. „Soll ich, was mir der Zufall gefahrlos in die Hände gespielt hat durch die Dummheiten einer betrunkenen Bande verlieren, deren Leben ich in meiner Hand halte. Und soll ich mich auch noch an einen richtigen Teufel ketten, der die Macht hat und nur zu wollen braucht, um –“

Er keuchte vor Wut und rang nach Worten, doch plötzlich zügelte er seinen Zorn und nahm sich zusammen. Hatte er vorher noch mit geballten Fäusten in der Luft herumgefuchtelt, so sank er jetzt in einen Stuhl zurück und bebte bei dem Gedanken, eine Schurkerei selbst ausgeplaudert zu haben. Nach kurzem Schweigen sah er sich verstohlen nach Nancy um und war beruhigt, als er sie in der teilnahmslosen Stellung wie zuerst sah.

„Nancy, Kindchen“, krächzte Fagin jetzt wieder in seinem gewöhnlichen Tone, „hast du alles gehört, was ich sagte?“

„Ach, laßt mich zufrieden. Ist es Bill diesmal nicht geglückt, dann ein andermal. Er hat manche feine Sache für Euch geschoben und wird’s auch in Zukunft tun. Wenn’s aber nicht geht, dann geht’s eben nicht. Also nun Schluß!“

„Aber der Junge, Kindchen?“ sagte der Jude und rieb sich nervös die Hände.

„Ich hoffe, er ist tot“, fiel das Mädchen schnell ein, „und dadurch allem Ungemach, besonders aber Euren Händen entronnen – wenn nur Bill nicht dabei zu Schaden gekommen ist. Das glaube ich jedoch nicht, denn wenn Toby sich in Sicherheit bringen konnte, so kann es Bill jedenfalls zweimal!“

„Und was meine vorigen Worte anbelangt, liebes Kind“, bemerkte der Jude, und sah sie mit seinen schielenden Augen lauernd an.

„Ihr müßt es nochmals sagen, wenn Ihr was von mir wollt. Es wäre aber besser, bis morgen zu warten. Für einen Augenblick habt Ihr mich munter gemacht, jetzt ist mir aber schon wieder ganz dämlich zumute.“

Fagin stellte noch mehrere Fragen an sie, um sich zu überzeugen, ob das Mädchen seine unvorsichtigen Andeutungen beachtet und behalten hätte. Sie antwortete jedoch so unbefangen und ließ sich durch seine lauernden Blicke so wenig in Verlegenheit bringen, daß sich sein ursprünglicher Gedanke zu bestätigen schien, sie hätte zu tief ins Glas geguckt. Nancy war allerdings nicht frei von diesem Laster, das bei Fagins Schülerinnen so häufig war und von ihm auch noch ermutigt wurde. Ihr unordentliches Aussehen und der starke Branntweingeruch, der das Zimmer erfüllte, schien ein Beweis für Fagins Annahme zu sein. Er fühlte sich durch diese Feststellung sehr erleichtert und schickte sich zum Gehen an. Er verließ also seine junge Freundin, die noch immer mit dem Kopfe auf dem Tische lag und schlief.

Es war elf Uhr und bitterkalt, er eilte deshalb, nach Hause zu kommen. Der scharfe Wind schien die Straßen sowohl von Menschen, als auch von Schmutz leer gefegt zu haben. Für den Juden war der Wind günstig, denn er trieb denselben vor sich her.

Herr Fagin hatte seine Straßenecke erreicht und wollte eben seinen Hausschlüssel aus der Tasche holen, als eine dunkle Gestalt aus dem tiefen Schatten eines gegenüberliegenden Hauses auftauchte und sich geräuschlos an seine Seite schlich.

„Fagin!“ flüsterte eine Stimme dicht an seinem Ohre.

„Ist das –“

„Ja“, fiel der Fremde schnell ein. „Ich laure hier schon zwei Stunden auf Euch, wo zum Teufel seid Ihr denn gewesen?“

„War in Ihren Angelegenheiten fort, mein Lieber“, antwortete : der Jude, ihn unruhig ansehend und seine Schritte mäßigend, „die ganze Nacht in Ihren Angelegenheiten.“

„Das wäre“, versetzte höhnisch der Fremde. „Nun – und was ist dabei herausgekommen?“

„Nicht viel Gutes“, entgegnete Fagin.

„Doch auch nichts Schlimmes, hoffe ich“, sagte der Mann und blieb bestürzt stehen.

Der Jude schüttelte den Kopf und wollte antworten, doch der Fremde unterbrach ihn und meinte, er solle ihm das zu Hause erzählen, er wäre halb erfroren. Fagin schnitt ein Gesicht, als wenn ihm das unangenehm wäre, und murmelte etwas von ungeheizter Stube. Der Mann wiederholte jedoch seinen Wunsch so gebieterisch, daß derJude ihn in sein Haus hineinließ.

„Hier ist’s dunkel wie im Grabe“, sagte der Mann, ein paar Schritte vorwärts tappend. „Beeilt Euch, Licht zu holen, ich kann so etwas nicht leiden.“

„Schließen Sie die Tür“, flüsterte Fagin und hatte noch nicht ausgesprochen, als jene mit lautem Krachen zuflog.

„Dafür kann ich nicht“, sprach der andere und tappte weiter, „der Wind hat sie zugeschlagen. Sorgt für Licht, oder ich stoße mir noch in diesem verwünschten Loch den Schädel ein.“

Fagin schlich die Küchentreppe hinab und kehrte bald mit einem brennenden Licht und der Kunde zurück, daß Toby Crackit im Hinterzimmer und die Jungen im Vorderzimmer schliefen. Er winkte nun dem Fremden und führte ihn die Treppe hinauf.

„Wir können uns die paar Worte hier sagen“, meinte Pagin und öffnete im ersten Stockwerk eine Tür. „Da in den Fensterläden Löcher sind und wir unsern Nachbarn nie Licht zeigen, so will ich den Leuchter auf die Treppe stellen. – So!“

Bei diesen Worten bückte sich der Jude, setzte das Licht auf die Treppe gerade der Zimmertür gegenüber und trat ins Gemach. Mit Ausnahme eines zerbrochenen Lehnstuhles und eines hinter der Tür stehenden alten Sofas ohne Bezug waren weiter keine Möbel vorhanden. Der Fremde warf sich sofort aufs Sofa, indes der Jude den Lehnstuhl näher rückte. Es war nicht ganz finster, denn die Tür stand halb offen; so saßen sie sich zuerst schweigend gegenüber. Nach einer Weile flüsterten sie miteinander, und ein Horcher hätte leicht gewahren können, daß der Fremde mächtig aufgeregt zu sein schien und Fagin sich gegen einige seiner Ausführungen verteidigte. Sie mochten in dieser Weise wohl eine Viertelstunde verhandelt haben, als Monks (mit diesem Namen redete der Jude den Fremden im Laufe des Gespräches an) mit etwas lauterer Stimme fortfuhr:

„Ich sage Euch, es war schlecht überlegt. Warum habt Ihr ihn nicht hier behalten und einen Taschendieb aus ihm gemacht?“

„Nun höre einer bloß mal an“, sagte Fagin achselzuckend.

„Wie, wollt Ihr etwa damit sagen, Ihr hättet’s nicht gekonnt, wenn Ihr gewollt,hättet?“ sagte Monks finster. „Habt Ihr es nicht dutzendmal mit anderen Jungen verstanden? Hättet Ihr ein Jahr Geduld mit ihm gehabt, wäre es Euch eine Kleinigkeit gewesen, daß er vom Gericht verurteilt und deportiert worden wäre, vielleicht auf Lebenszeit.“

„Wem wäre damit gedient gewesen, lieber Freund?“ sagte der Jude unterwürfig.

„Mir!“ antwortete Monks.

„Aber mir nicht“, entgegnete Fagin noch demütiger. „Er hätte mir vielleicht noch nützlich werden können. Wenn zwei bei einem Geschäft beteiligt sind, so ist es nur recht und billig, daß beider Vorteil berücksichtigt wird, nicht wahr?“

„Schön, was weiter?“ fragte Monks verdrießlich.

„Ich hatte bald heraus, daß es nicht leicht war, ihn fürs Geschäft zu erziehen. Er war nicht wie die anderen Jungen unter solchen Umständen!“

„Hol’s der Teufel, nein“, brummte der Mann, „er wäre sonst längst ein Dieb geworden.“

„Es war unmöglich, ihn zum Schlechten anzuhalten“, fuhr Fagin fort und betrachtete dabei ängstlich Monks Miene. „Mit Drohungen und Strenge war auch nichts bei ihm auszurichten. Was konnte ich tun? Ihn wieder mit Karl und dem Gannef auf Tour schicken? Wir hatten an dem ersten Mal genug, es war für uns alle gefährlich.“

„Dafür kann ich doch nichts“, bemerkte Monks.

„Sicher nicht“, versetzte der Jude, „ich klage ja auch nicht, denn ohne diesen Vorfall wären Sie nie auf den Jungen aufmerksam geworden. Sie hätten nie die Entdeckung gemacht, daß er es sei, den Sie suchten. Schön, ich brachte ihn mit Hilfe des Mädchens wieder zurück und jetzt hält sie ihm mit einemmal die Stange.“

„Erwürgt das Frauenzimmer“, schrie Monks unwirsch.

„Ja, das geht nicht, lieber Freund“, erwiderte Fagin lächelnd. „Ich kenne diese Art Mädels gut. Sobald der Junge weniger unschuldig sein wird, wird sie sich nicht mehr um ihn kümmern. Sie wollen einen Dieb aus ihm machen. Wenn er noch am Leben ist, werde ich’s nochmal versuchen, und wenn – wenn –“ sagte der Jude und rückte mit seinem Stuhl näher, „doch es ist nicht wahrscheinlich – aber wenn es zum Schlimmsten gekommen ist und Oliver ist tot – -„

„Dann ist’s nicht meine Schuld!“ fiel Monks mit bestürzter Miene ein und umklammerte Fagins Arm mit zitternden Händen. „Ihr wißt genau, daß ich dabei meine Hand nicht im Spiele hatte. Alles, nur nicht seinen Tod, sagte ich gleich anfangs. Ich will kein Blut vergießen, es kommt stets ans Tageslicht und läßt einem außerdem keine Ruhe. Wenn sie ihn totgeschossen haben, ich bin nicht schuld, verstanden! – Donnerwetter, was ist in dieser verfluchten Kabache los! – Was war das? –“

„Was?“ schrie der Jude und umfaßte den Erschrockenen, als er aufsprang, mit beiden Armen. „Was – Wo?“

„Dort!“ brüllte der Mann, nach der gegenüberliegenden Wand stierend. „Der Schatten – ich sah den Schatten eines Weibes in Hut und Mantel, wie einen Hauch an der Wandtäfelung vorbeigleiten.“

Beide stürzten aufgeregt aus dem Zimmer ins Treppenhaus. Sie horchten angespannt, allein tiefe Stille herrschte im ganzen Hause.

„Es war Einbildung!“ sagte Fagin und nahm das Licht auf.

„Ich will drauf schwören, daß ich’s sah“, versetzte Monks zitternd. „Der Schatten beugte sich vor, als ich ihn zuerst bemerkte und glitt weg, sobald ich von ihm sprach.“

Der Jude warf ihm einen verächtlichen Blick zu und forderte ihn höflich auf, ihm zu folgen. Sie stiegen die Treppe hinauf und sahen sich in allen Zimmern um, sie waren kahl und leer. Dann stiegen sie zum Hausflur und von da in den Keller hinunter, alles war öde und still wie der Tod.

„Was sagen Sie nun?“ fragte Fagin, als sie wieder auf dem Hausflur anlangten. „Außer uns sind nur noch Toby und die Jungen im Hause, und die sind gut aufgehoben. Sehen Sie her.“

Er zog zwei Schlüssel aus der Tasche und erklärte, daß er seine Zöglinge eingeschlossen hatte, um jede Störung ihrer Unterhaltung unmöglich zu machen.

Herr Monks wurde wankend und gab zu, daß ihm seine aufgeregte Phantasie einen Streich gespielt haben könnte. Die Unterhaltung wollte er heute aber nicht mehr fortsetzen, da es schon ein Uhr sei. So trennte sich denn das würdige Paar.

Sucht die Unhöflichkeit eines früheren Kapitels wieder gutzumachen, das eine Dame ohne weiteres im Stiche ließ

Da es einem Schriftsteller wegen seiner Unbedeutendheit nicht ziemt, eine so wichtige Person, wie ein Gemeindediener ist, mit über die Arme geschlagenen Rockschößen am Kamin stehen zu lassen, bis es dem Geschichtserzähler beliebt, ihn zu erlösen; und da es sich mit seiner Stellung oder seiner Galanterie noch weit weniger verträgt, in ähnlich vernachlässigender Weise eine Dame zu behandeln; der der besagte Beamte zärtliche und verliebte Blicke zugeworfen und süße Worte ins Ohr geflüstert hat, Worte, die aus dem Munde eines solchen Mannes das Herz eines jeden Mädchens oder einer jeden Frau erbeben machen müßten, – so beeilt sich der gewissenhafte Erzähler mit seiner höchst wahren Geschichte.

Herr Bumble hatte also die Teelöffel abermals gezählt, die Zuckerzange aufs neue gewogen, den Milchtopf noch genauer untersucht und sich über den Zustand der Möbel bis auf die Roßhaarpolster der Stühle herunter die nötige Gewißheit verschafft – ehe ihm auch nur der Gedanke kam, es wäre nachgerade Zeit, daß Frau Corney zurückkehrte. Da fiel Herr Bumble auf den unschuldigen Zeitvertreib, seine Neugierde durch einen Blick in das Innere der im Zimmer befindlichen Kommode zu befriedigen.

Um sich zu vergewissern, daß niemand käme, horchte Herr Bumble am Schlüsselloch und fing dann mit der untersten der drei Schubladen an. Die verschiedenen Kleider von gutem Stoff gefielen ihm ausnehmend wohl. In einem der oberen Schubfächer stieß er auf ein kleines, verschlossenes Kästchen, das er schüttelte; der Klang von Gold- und Silbermünzen war seinen Ohren liebliche Musik. Nun schritt Herr Bumble würdevoll wieder zum Kamin und nahm seine alte Stellung wieder ein. Mit entschlossenem Gesichtsausdruck sagte er dann zu sich selbst: „Ich werde es tun!“ Darauf lächelte er pfiffig, als wollte er sagen, was für ein verfluchter Schwerenöter er doch sei, dabei betrachtete er mit Interesse und Vergnügen seine strammen Waden.

Er war noch in deren bewundernden Anblick versunken, als Frau Corney ins Zimmer stürzte, sich atemlos auf einen Stuhl am Kamin warf und mit einer Hand die Augen bedeckte. Die andere legte sie aufs Herz und rang nach Luft.

„Frau Corney“, sagte Herr Bumble, sich über sie beugend, „was ist Ihnen? Ist etwas passiert? Bitte reden Sie doch, ich stehe hier, wie auf – auf –“ Er konnte in seiner Bestürzung nicht das Wort „Nadeln“ finden und sagte daher. – „Flaschenscherben“.

„Ach, Herr Bumble, ich bin wie zerschlagen.“

„Wer hat das gewagt, zerschlagen? Ich weiß schon“, fuhr er mit angeborener Majestät fort, „dieses gottverlassene Armenpack.“

„Schrecklich, dran zu denken“, sagte die Matrone schaudernd.

„Denken Sie nicht dran!“ versetzte Herr Bumble.

„Ich kann’s nicht lassen“, wimmerte Frau Corney.

„Dann stärken Sie sich und trinken ein Glas Wein“, meinte der Gemeindediener teilnahmsvoll.

„Nicht um die ganze Welt“, erwiderte die Matrone. „Das könnte ich nicht – oh, nein! – Im Wandschrank auf dem obersten Brett – ach –“

Die gute Frau, die jetzt in Krämpfe fiel, konnte nur schwach mit der Hand hinzeigen, aber Herr Bumble stürzte auf denselben zu und entnahm ihm eine grüne Flasche. Er goß eine Teetasse voll und hielt sie der Dame an die Lippen.

„Es wird mir schon besser“, sagte Frau Corney, nachdem sie die Tasse halb geleert hatte.

Herr Bumble erhob voller Dankbarkeit gegen Gott seine Augen zur Zimmerdecke, senkte sie dann auf die Tasse und brachte diese an seine Nase.

„Pfefferminze“, erklärte Frau Corney mit schwacher Stimme und lächelte dabei Herrn Bumble an. „Kosten Sie es mal – es ist noch ein bißchen anderes darin.“

Dieser kostete mißtrauisch die Arznei, leckte darauf die Lippen, kostete abermals und setzte die Tasse leer nieder.

.Es ist sehr stärkend“, sagte die Dame.

„Sehr, in der Tat.“

Nach diesen Worten rückte er seinen Stuhl an die Seite der Matrone und fragte zärtlich, was ihr passiert wäre.

„Ach nichts“, versetzte Frau Corney, „ich bin ein recht törichtes, schwaches Geschöpf.“

„Nicht schwach“, sagte Bumble und rückte noch näher. „Sind Sie wirklich schwach, Frau Corney?“

„Wir sind alle schwache Geschöpfe“, erwiderte die Matrone, damit eine Bibelstelle zitierend.

„Ja, das stimmt“, meinte Herr Bumble.

Beide schwiegen einige Minuten, dann erwies der Gemeindediener die Wahrheit dieses Satzes dadurch, daß er seinen linken Arm von Frau Corneys Stuhllehne fortnahm und mit sanftern Druck um ihre Taille legte.

„Wir sind allesamt schwache Geschöpfe“, sagte Herr Bumble.

Frau Corney seufzte.

„Seufzen Sie doch nicht, Frau Corney!“

„Ich kann nicht anders“, antwortete diese und seufzte nochmal.

„Das ist ein sehr gemütliches Zimmer meinte Herr Bumble. „Noch eins dazu, und es wäre eine ideale Wohnung.“

„Das wäre für eine einzelne Person zu viel“, flüsterte die Matrone.

„Aber nicht für zwei“, flötete Herr Bumble. ..Was meinen Sie, Frau Corney?“

Bei seinen Worten senkte sie den Kopf, und er tat dasselbe, um ihr ins Gesicht sehen zu können. Frau Corney blickte züchtig seitwärts und machte ihre Hand los, um nach dem Taschentuch zu greifen. Unwillkürlich legte sie sie aber wieder in seine Hand.

„Die Behörde liefert Ihnen die Kohlen, nicht wahr?“ fragte Herr Bumble und drückte zärtlich ihre Hand.

„Und das Licht“, antwortete die Matrone, den Händedruck leicht erwidernd.

„Heizung, Licht und Wohnung frei“, sagte Herr Bumble. „Frau Corney, Sie sind ein Engel!‘

Einem derartigen Gefühlsausbruch konnte die Dame nicht widerstehen. Sie sank in Bumbles Arme, und dieser drückte einen feurigen Kuß auf ihre keusche Nase.

„Sie sind die Krone der Schöpfung“, rief Herr Bumble entzückt. „Sie wissen doch, mein Engel, daß Herr Slout heute abend kränker geworden ist?“

„Ja“, sagte Frau Corney verschämt.

„Der Doktor meint, er macht keine Woche mehr. Durch seinen Tod würde die Stelle des Armenhausvaters frei und müßte wieder besetzt werden. Ach, Frau Corney, welche Aussichten! Was für eine schöne Gelegenheit, zwei Herzen und Haushaltungen zu vereinigen!“

Frau Corney schluchzte.

„Das kleine Wörtchen“, sagte Herr Bumble und beugte sich über die verschämte Matrone. „Das einzige kleine – kleine Wörtchen, angebetete Corney!“

Ja – a – a“, hauchte die Dame.

„Und noch eins“, fuhr Herr Bumble fort, „wann soll es sein?“

Frau Corney versuchte zweimal zu sprechen, aber jedesmal versagte ihre Stimme. Endlich faßte sie sich ein Herz, schlang ihre Arme um seinen Hals und sagte, sobald es ihm beliebe, denn er wäre doch ein zu großer Schwerenöter.

Nachdem die Angelegenheit in so befriedigender Weise erledigt war, wurde der Vertrag durch eine weitere Tasse Pfefferminzarznei feierlich bestätigt, was bei der Aufregung der Dame durchaus notwendig war. Dabei erzählte Frau Corney von dem Tode des alten Weibes.

„Gut“, sagte Bumble, seinen Pfefferminz schlürfend. „ich werde auf dem Nachhauseweg bei Sowerberry vorsprechen und ihn morgen früh herschicken. – Was hat dich so erschreckt, Liebling?“

„Ach, nichts Besonderes, Lieber“, antwortete die Dame ausweichend.

„Es muß doch aber etwas gewesen sein, Schatz. Du wirst es doch deinem Bumble anvertrauen.“

„Noch nicht“, erwiderte die Dame. „Später, wenn wir verheiratet sind.“

„Wenn wir verheiratet sind?“ rief Herr Burnble. „Hat sich etwa einer der Armenhäusler eine Unverschämtheit herausge – -?“

„Nein, nein, Liebster“, fiel Frau Corney hastig ein.

„Wenn ich das denken müßte“, fuhr Herr Bumble fort „daß einer dieser Gesellen seine gemeinen Augen zu erheben wagte –“

„Keiner hätte sich das getraut, Liebling“, antwortete die Dame.

„Das ist ihr Glück“, meinte Herr Bumble drohend und ballte die Faust. „Mit dem hätte ich aber auch gesprochen, daß er es ein zweites Mal nicht getan hätte.“ Herr Bumble begleitete diese Worte mit so vielen kriegerischen Gesten, daß die Dame von diesem Beweise seiner aufopfernden Liebe äußerst gerührt wurde. Sie beteuerte mit großer Zärtlichkeit, er wäre auch „ihr liebes Täubchen“.

Das Täubchen schlug nun den Rockkragen in die Höhe, setzte seinen Dreispitz auf und umarmte seine Zukünftige zärtlich und lange. Dann ging er, um wieder dem kalten Nachtwinde Trotz zu bieten. Er hielt sich noch einige Minuten im Zimmer der männlichen Armen auf, um sie ordentlich auszuschimpfen und sich selbst den Beweis zu erbringen, daß er dem Amte eines Armenhausvaters mit der nötigen Strenge vorzustehen imstande sei. Mit sich selbst zufrieden und voll schöner Träume hinsichtlich seiner zukünftigen Beförderung verließ er das Armenhaus und erreichte bald den Laden des Herrn Sowerberry.

Dieser war mit seiner Frau zu einer Abendgesellschaft eingeladen und deshalb abwesend. Da Noah Claypole zu keiner Zeit geneigt war, sich weitergehenderen physischen Anstrengungen zu unterziehen, als die Funktionen des Essens und Trinkens es erforderten, so stand der Laden offen, obgleich die Ladenschlußstunde längst vorbei war.

Herr Bumble klopfte mit einem Stock verschiedene Male vergebens auf den Ladentisch. Durch das Glasfenster des kleinen hinter dem Laden befindlichen Zimmers sah er Licht schimmern. Er trat heran, um zu sehen, was drinnen vorging. Was sich seinen Augen darbot, war erstaunlich.

Der Tisch war gedeckt und mit Brot und Butter, Tellern und Gläsern, einem Kruge schäumenden Bieres und einer Flasche Wein besetzt. Am oberen Ende der Tafel rekelte sich Herr Noah Claypole in einem Armsessel und hatte ein mächtiges Butterbrot in der Hand. Dicht neben ihm stand Charlotte und öffnete Austern, die Herr Claypole mit Gier verschlang. Eine ungewöhnliche Röte in der Nasengegend deutete an, daß der junge Herr angetrunken war.

„Hier ist noch eine riesig fette, lieber Noah“, sagte Charlotte, „die mußt du noch essen, die eine noch.“

„Wie gut doch Austern schmecken“, bemerkte Herr Claypole, nachdem er sie geschlürft hatte. „Schade, daß man nicht unendlich viel davon essen kann, ohne unwohl zu werden.“

„Ja, ’s ist wirklich traurig“, stimmte Charlotte zu. „Willst du noch eine, sieh mal diese mit dem schönen Bart?“

„Kann keine mehr unterbringen“, antwortete Noah, „tut mir leid! – Komm her, Charlotte, ich will dir einen Kuß geben.“

„Was?“ schrie Bumble, in das Zimmer stürzend, „willst du das nochmal sagen, Bürschchen?“

Charlotte stieß einen Schrei aus und verbarg ihr Gesicht hinter der Schürze, während Herr Claypole, ohne seine Stellung zu verändern, in trunkenem Schrecken den Gemeindediener anstarrte.

„Willst du das noch einmal sagen, du schamloser Wicht?“ tobte Herr Bumble. „Wie kannst da so etwas in den Mund nehmen; Schlingel? Und wie können Sie sich unterstehen, ihn dazu zu ermutigen, Sie freches Weibsbild, Sie? Von Küssen reden! Pfui!“

„Ich wollte es gar nicht“, sagte Noah weinerlich. „Sie küßt mich immer, ob ich es will oder nicht.“

„Ach, Noah!“ rief Charlotte vorwurfsvoll.

„Ist’s etwa nicht wahr? Du kannst es nicht abstreiten“, erwiderte Noah. „Immer küßt sie mich und faßt mich ans Kinn und ist zärtlich zu mir.“

„Schweig!“ schrie Herr Bumble streng.“ Packen Sie sich, Mamsell, und du, Noah, machst den Laden zu und redest kein Wort mehr, bis dein Meister nach Hause kommt – auf deine eigene Gefahr. Wenn er kommt, so sagst du ihm, Herr Bumble sei dagewesen, und der Meister solle morgen früh einen Sarg für ’ne alte Frau nach dem Armenhaus schicken. Hörst du, Bengel? – Küssen! Die Sündhaftigkeit und Verderbtheit der unteren Klassen in dieser Gemeinde ist himmelschreiend. Da müßte das Parlament einschreiten!“ Mit diesen Worten verließ er in würdevoller Haltung das Haus des Sarglieferanten.

Nun wollen wir uns ein wenig nach dem jungen Oliver Twist umsehen und schauen, ob er noch in dem Graben liegt, wo Sikes und Toby Crackit ihn verlassen haben.

Sieht sich nach Oliver um und berichtet über seine weiteren Abenteuer

„Daß euch die Wölfe an die Gurgel führen“, knirschte Sikes und legte den verwundeten Oliver über sein gebeugtes Knie, um sich nach seinen Verfolgern umzusehen.

Der Nebel und die Dunkelheit ließ nur wenig erkennen. Das Rufen der Menschen und Bellen der Hunde erfüllte die Luft, und schauerlich tönte die Sturmglocke.

„Halt, du feiger Hund“, rief der Einbrecher Toby Crackit nach, der von seinen langen Beinen den besten Gebrauch machte und schon einigen Vorsprung gewonnen hatte. „Halt!“

Die Wiederholung dieses Wortes brachte Toby zum Stehen, denn er war sich nicht ganz klar darüber, ob er schon außer Pistolenschußweite sei. Sikes schien in einer Laune zu sein, die keinen Scherz vertrug.

„Hilf mir den Jungen weiterschaffen“, brüllte Sikes, seinem Kumpan energisch zuwinkend. „Komm zurück!“

Toby tat, als ob er umkehre, wagte jedoch mit leiser, atemloser Stimme einige Einwendungen zu machen.

„Schneller!“ schrie Sikes, legte Oliver in einen trockenen Graben und zog die Pistole aus der Tasche. „Halte mich ja nicht zum Narren!“

In diesem Augenblick wurde der Lärm lauter, und als Sikes sich umsah, bemerkte er, daß die Verfolger schon über den Zaun des Feldes kletterten, auf dem er sich befand. Ein paar Hunde rannten bereits vorweg.

„Ist nichts mehr zu wollen, Bill“, rief Toby. „Laß den Jungen liegen und türme!“

Mit diesen Worten machte Herr Crackit rechtsum und rannte davon, so schnell ihn die Beine tragen konnten.

Sikes knirschte mit den Zähnen, sah sich nochmal schnell um und bedeckte Oliver mit dem Mantelkragen. Dann lief er längs der Hecke hin, um die Aufmerksamkeit der Verfolger von der Stelle, wo der Junge lag, abzulenken. An einer zweiten Hecke, die mit der ersten im rechten Winkel zusammenstieß, stand er still und setzte dann mit einem kühnen Sprung drüber weg, nachdem er noch vorher seine Pistole fortgeworfen hatte.

„Caesar! Neptun! Hierher! Zurück!“ rief eine zittrige Stimme. Die Hunde, die auch kein großes Vergnügen an der Hetzjagd zu haben schienen, gehorchten sofort. Und drei Männer machten nun halt, um gemeinsam zu beraten.

„Mein Rat – das heißt mein Befehl – ist, daß wir sofort wieder nach Hause gehen“, sagte der dickste von den dreien.

„Mir ist alles recht, was Herr Giles für richtig hält“, versetzte ein kleinerer, aber keineswegs schlanker Mann, der sehr blaß aussah und äußerst höflich war, wie man das häufig bei furchtsamen Leuten findet.

Ich möchte nicht unmanierlich erscheinen, meine Herren“, sagte der dritte Mann, der die Hunde zurückgerufen hatte, „Herr Giles muß es am besten wissen!“

„Gewiß“, sagte der kleinere, „und was auch immer Herr Giles sagen mag, wir dürfen ihm nicht widersprechen. Ich weiß, was sich gehört. Gott sei Dank weiß ich das!“ Dabei klapperten ihm die Zähne im Munde vor Furcht.

„Du fürchtest dich, Brittles!“ sagte Herr Giles.

„Durchaus nicht.“

„Doch“, meinte Herr Giles.

„Ist ein Irrtum“, entgegnete Brittles.

„Du lügst, Brittles!“ rief Herr Giles.

Der dritte Mann schlichtete den Streit In höchst philosophischer Weise, indem er meinte, daß sie sich alle drei fürchteten.

„Da mögt Ihr für Euch selbst gesprochen haben“, versetzte Herr Giles, der am meisten blaß war.

„Allerdings“ erwiderte jener, „es ist doch ganz natürlich, daß man sich in solcher Lage fürchtet. Ich fürchte mich.“

„Ich auch“, sagte Brittles, „aber es ist unnötig, daß einem das geradezu ins Gesicht gesagt wird.“

Diese freimütigen Eingeständnisse besänftigten Herrn Giles, der nun auch gestand, daß er sich gleichfalls fürchte. Alle drei machten jetzt kehrt und liefen in schönster Eintracht zurück. Nach einer kleinen Weile bestand der engbrüstige Herr Giles darauf, daß ausgeruht werde, außerdem wolle er sich für seine vorigen übereilten Worte entschuldigen.

„Es ist doch erstaunlich“, fuhr Herr Giles fort, nachdem er einige Entschuldigungsworte gesagt hatte, „wozu ein Mensch fähig sein kann, wenn sein Blut in Wallung gekommen ist. Ich hätte einen Mord begangen, wenn uns einer der Spitzbuben in die Hände gefallen wäre!“

Die beiden anderen meinten, sie hätten gegebenenfalls auch gemordet.

Dieses Gespräch führten die zwei Männer, welche die Einbrecher bei ihrer Tat überrascht hatten, und ein wandernder Kesselflicker, der in einem Nebengebäude ein Nachtlager erhalten hatte. Dieser hatte sich mit seinen zwei Hunden der Diebesjagd angeschlossen. Herr Giles versah in der Villa der alten Dame den Dienst eines Haus- und Kellermeisters, und Brittles war das Faktotum. Er war schon als Kind zu der alten Dame gekommen, und obgleich er bereits in den Dreißigern war, wurde er immer noch wie ein Junge behandelt.

Die drei eilten nun auf den Baum zu, wo sie ihre Laterne hatten stehenlassen, und nahmen sie an sich. Dann trabten sie heim.

Mit Tagesanbruch wurde es kälter, und dichter Nebel bedeckte das Land. – Oliver lag noch immer bewußtlos da, wo Sikes ihn hingelegt hatte. Es fing stark zu regnen an, aber Oliver fühlte die Nässe nicht. Nach einer ganzen Weile weckte ihn ein heftiger Schmerz, und er schrie laut auf. Sein linker, mit einem Halstuch notdürftig verbundener Arm hing schwer und regungslos an seiner Seite nieder, und der Verband war mit Blut getränkt. Er war so schwach, daß er sich kaum aufrichten konnte. Er machte dann den Versuch, sich zu erheben, aber es war vergebliches Bemühen, er fiel der Länge nach zu Boden.

Nachdem sich Oliver von diesem neuen Ohnmachtsanfalle erholt hatte, sagte er sich, daß er unfehlbar sterben müsse, wenn er liegenbleibe. Er versuchte deshalb aufs neue aufzustehen und zu gehen. Ihm war schwindelig, und er wankte wie ein Betrunkener hin und her. Er hielt sich trotzdem auf den Beinen und taumelte mit herabhängendem Kopfe vorwärts, ohne zu wissen wohin. Er kroch fast mechanisch durch die Lücken der Hecken, die ihm den Weg versperrten, bis er eine Straße erreichte. Er sah sich um und sah in nicht allzu großer Entfernung ein Haus, das er möglicherweise erreichen konnte. Vielleicht hatte man dort Mitleid mit ihm, und wenn nicht, dünkte es ihn besser, in der Nähe menschlicher Wesen als einsam auf freiem Felde zu sterben. Er nahm seine ganze Kraft zusammen und wankte auf das Haus zu. Als er näherkam, erinnerte er sich, es schon früher gesehen zu haben. Auf Einzelheiten konnte er sich zwar nicht besinnen, aber das Äußere des Gebäudes kam ihm bekannt vor.

Ach, diese Gartenmauer! Und dort auf dem Rasen hatte er vor den beiden Halunken auf den Knien gelegen. Es war dasselbe, in das sie eingebrochen waren.

Als Oliver dies erkannte, bemächtigte sich seiner eine solche Furcht, daß er darüber seine schmerzende Wunde ganz vergaß und nur an Flucht dachte. Flucht? Er konnte ja kaum stehen, und wenn er auch im vollen Besitz seiner Kräfte gewesen wäre, wohin hätte er fliehen können? Er stieß die Gartentür auf, sie war unverschlossen. Er wankte über den Rasenplatz, klomm die Eingangstreppe hinauf und klopfte leise an die Tür. Dann schwanden seine Sinne, und er sank ohnmächtig nieder.

Zur selben Zeit erholten sich die Herren Giles und Brittles sowie der Kesselflicker von den Strapazen der Nacht durch eine Tasse Tee und allerlei Kleinigkeiten. Es war sonst nicht die Art des Herrn Giles, sich zu einer allzu großen Vertraulichkeit gegen Untergebene herabzulassen. Gegen diese benahm er sich eher mit einer gewissen würdevollen Leutseligkeit, die, so gewinnend sie war, doch stets an seine höhere Stellung erinnerte. Aber Tod, Feuersnot und Einbruch machen alle Menschen gleich. Also Herr Giles saß mit ausgestreckten Beinen vor dem Küchenherd, den linken Ellenbogen auf den Tisch gestützt, und gestikulierte lebhaft mit dem rechten Arm, als er seinen Zuhörern einen genauen und umständlichen Bericht des Einbruchs gab. Diese hörten mit atemloser Spannung zu, besonders aber das Hausmädchen und die Köchin.

„Es war ungefähr halb drei Uhr“, erzählte Herr Giles, „ich will aber nicht darauf schwören, ob es nicht vielleicht ein bißchen näher an drei war – als ich aufwachte, mich in meinem Bette umdrehte, etwa so –“ hier drehte sich Herr Giles in seinem Stuhle und zog den Zipfel des Tischtuches über sich hin, um dadurch die Bettdecke zu versinnbildlichen – „und ein Geräusch zu hören glaubte!“

Bei dieser Stelle der Erzählung erblaßte die Köchin und forderte das Hausmädchen auf, die Türe zu schließen; diese sagte es Brittles; Brittles beauftragte damit den Kesselflicker, und dieser tat so, als ob er es nicht höre.

„Ich glaubte ein Geräusch zu hören“, fuhr Herr Giles fort, „doch sagte ich mir anfangs, es sei eine Täuschung. Gerade schickte ich mich an, wieder einzuschlafen, als ich das Geräusch aufs neue und deutlicher vernahm.“

„Was war es denn für ein Geräusch?“ fragte die Köchin.

„So eine Art von knarrendem Geräusch“, antwortete Herr Giles.

„Ich meine, es hörte sich eher so an, als wenn man eine Eisenstange über ein Reibeisen zieht“, sagte Brittles.

„So war es, als du es hörtest“, versetzte Herr Giles, „aber damals hatte es einen knarrenden Ton. Ich warf die Bettdecke ab, setzte mich im Bette auf und horchte.“

„Ach, du lieber Himmel“, riefen die Köchin und das Hausmädchen gleichzeitig und rückten mit den Stühlen näher zusammen.

„Ich hörte es jetzt ganz deutlich“, fuhr Herr Giles fort, „und sagte mir: da will jemand einbrechen; was tun? Zuerst den armen Jungen, den Brittles, wecken, damit er nicht im Bett umgebracht oder ihm die Kehle durchgeschnitten wird, ohne daß er es merkt.“

Hier richteten sich aller Blicke auf Brittles, der den Erzähler mit offenem Munde anstarrte, während sich auf seinem Gesicht Entsetzen malte.

„Ich warf also die Bettdecke beiseite“, berichtete Herr Giles weiter, und er nahm dasselbe Manöver mit dem Tischtuch vor, „stand leise auf, zog meine –“

„Es sind Damen anwesend, Herr Giles“, flüsterte ihm der Kesselflicker zu.

„- Schuhe an“, fuhr Giles mit großem Nachdruck fort und sah den Unterbrecher groß an, „langte nach der geladenen Pistole, die mit dem Silberzeugkasten immer heraufgebracht wird, und schlich auf den Zehen zu seiner Kammer. Als ich ihn weckte, sprach ich: ‚Brittles, erschrick nicht‘.“

„Ja, so sagten Sie“, bemerkte dieser leise.

„Wir sind verloren, aber hab keine Angst, Brittles!“

„War er erschrocken?“ fragte die Köchin.

„Nicht im geringsten“, erwiderte Herr Giles. „Er war so mutig – fast so unverzagt wie ich!“

„Wenn mir das passiert wäre, ich wäre auf der Stelle gestorben“, meinte das Hausmädchen.

„Sie sind eben ein Weib“, sagte Brittles, der den tapferen Helden herausbiß.

„Brittles hat recht“, sagte Herr Giles mit beifälligem Kopfnicken, „von Weibern läßt sich nichts anderes erwarten. Wir aber, als Männer, nahmen Brittles Laterne und tappten in der stockfinsteren Nacht die Treppe hinunter – ungefähr so.“

Herr Giles war von seinem Stuhl aufgestanden und, um seine Schilderung durch geeignete Mimik zu beleben, mit geschlossenen Augen einige Schritte vorwärts gegangen. Plötzlich fuhr er sowohl, als auch die übrige Gesellschaft heftig zusammen und eilte zu seinem Stuhle zurück. Die Köchin und das Hausmädchen kreischten.

„Man hat an die Haustür geklopft“, sagte Herr Giles, „jemand muß öffnen gehen.“

Niemand rührte sich.

„Es ist doch komisch, daß man am frühen Morgen schon Einlaß begehrt“, meinte Herr Giles, leichenblaß im Gesicht. „Aber die Tür muß aufgemacht werden. Jemand muß öffnen! Hört ihr nicht?“

Er sah bei diesen Worten Brittles an, dieser schien sich aber aus Bescheidenheit nicht als „Jemand“ zu betrachten. Er gab jedenfalls keine Antwort. Herr Giles heftete seinen Blick nun fragend auf den Kesselflicker, aber dieser war plötzlich eingeschlafen, und von dem weiblichen Personal konnte von vornherein natürlich nicht die Rede sein.

„Wenn Brittles die Tür lieber in Gegenwart von Zeugen öffnen will“, meinte Giles nach kurzem Schweigen, „so will ich gern mitgehen.“

„Ich auch“, fügte der Kesselflicker hinzu, der ebenso schnell wieder, aufwachte, als er eingeschlafen war.

Auf diese Bedingungen hin kapitulierte Brittles, und als man beim Öffnen der Fensterläden sah, daß es heller Tag sei, ging die ganze Gesellschaft mit den Hunden die Treppe hinunter, wobei die Weiber die Nachhut bildeten. Herr Giles riet, den Hunden in die Schwänze zu kneifen, damit sie recht wütend bellten und dadurch einem draußenstehenden Feinde Angst und Schrecken einjagten. Dann faßte er den Kesselflicker fest am Arm, damit dieser nicht ausrücke, wie er scherzend sagte, und befahl nun die Tür zu öffnen. Brittles gehorchte, ängstlich sah einer dem andern über die Schulter, aber nichts Verdächtiges war zu sehen. Nur der kleine Oliver Twist lag da, erschöpft und blaß, und schlug die Augen stumm um Mitleid flehend auf.

„Ein Junge!“ rief Herr Giles und drängte den Kesselflicker mutig zurück. „Was ist mit ihm los? Sieh mal, Brittles, erkennst du ihn?“

Dieser stieß, als er Oliver erkannte, einen lauten Schrei aus. Herr Giles ergriff den Jungen bei einem Arme und einem Beine – zum Glück nicht bei dem verwundeten – und zog ihn in den Hausflur.

„Hier ist er!“ schrie Herr Giles mächtig aufgeregt die Treppe hinauf. „Hier ist einer der Diebe, gnädige Frau! Wir haben einen Spitzbuben erwischt, gnädiges Fräulein! Er ist verwundet, ich habe ihn getroffen.“

Die Köchin und das Hausmädchen eilten die Treppe hinan, um die Nachricht zu hinterbringen, daß Herr Giles einen Einbrecher gefangen habe. Der Kesselflicker gab sich inzwischen die größte Mühe, Oliver wieder zu sich zu bringen, damit er nicht stürbe, bevor er gehängt würde. – Durch diesen Lärm ließ sich jetzt eine sanfte weibliche Stimme vernehmen, die sofort dem Tumult ein Ende machte. „Giles!“

„Hier bin ich, gnädiges Fräulein. Erschrecken Sie nicht, ich bin nicht zu Schaden gekommen. Er leistete keinen besonders starken Widerstand.“

„Pst!“ machte die junge Dame, „nicht so laut. Ist der arme Mensch schwer verwundet?“

„Sehr schwer, gnädiges Fräulein“, erwiderte Giles selbstgefällig.

„Es sieht so aus, als ob es mit ihm zu Ende ginge, gnädiges Fräulein“, brüllte Brittles nach oben. „Wollen Sie nicht herunterkommen und ihn ansehen, falls er –“

„Aber schreien Sie doch nicht so entsetzlich“, sagte die junge Dame, „ich werde mit meiner Tante sprechen.“

Sie eilte leichtfüßig weg und kehrte bald wieder mit dein Befehl zurück, den Verwundeten auf Herrn Giles Zimmer zu tragen. Brittles aber sollte nach Chertsey reiten und so schnell wie möglich einen Polizisten und einen Arzt holen.

„Wollen Sie nicht mal einen Blick auf ihn werfen, gnädiges Fräulein?“ fragte Giles stolz, als wenn Oliver ein seltener Vogel wäre, den er dank seiner Geschicklichkeit erlegt hatte.

„Jetzt nicht, nicht um alles in der Welt. Armer Kerl! Behandeln Sie ihn gut, Giles – um meinetwillen.“

Der alte Diener sah zu der Sprecherin, wie sie sich entfernte, voller Stolz und Bewunderung auf; als wäre sie seine eigene Tochter. Dann beugte er sich über Oliver und half ihn mit fast weiblicher Sorgfalt die Treppe hinauftragen.

Gibt einen einleitenden Bericht über die Bewohner des Hauses, in das Oliver geflüchtet war

In einem hübschen Zimmer mit altmodischen, aber bequemen Möbeln saßen zwei Damen an einem wohlbesetzten Frühstückstisch. Herr Giles in schwarzem Anzug wartete auf. Er stand kerzengerade zwischen dem Büfett und dem Frühstückstisch, hocherhobenen Hauptes, den linken Fuß vorgestellt und die rechte Hand in die Weste gesteckt. In der Linken hielt er ein Tablett und schien von der Wichtigkeit seiner Person ganz durchdrungen zu sein.

Die eine der Damen war schon hoch in Jahren, aber ihre Haltung war noch so gerade wie die steife Rückenlehne des Eichenstuhls, auf dem sie saß. Ihre Kleidung war gewählt aber altmodisch, mit einigen Zugeständnissen an den Tagesgeschmack, was aber dem Kostüm nur zum Vorteil gereichte. Würdevoll, mit gefalteten Händen, saß sie da und hatte ihre Augen – deren Glanz das Alter kaum hatte trüben können – auf ihre Gesellschafterin gerichtet. Diese, im Frühling ihres Lebens, war eine Jungfrauengestalt von solcher Lieblichkeit, daß wir in ihr ohne Vermessenheit die Wohnung eines Engels vermuten dürften, wenn es den Zwecken Gottes entspräche, die Himmelsbewohner in sterbliche Hüllen zu kleiden.

Sie befand sich im siebzehnten Lebensjahre, und ihre Erscheinung war so zierlich und edel, so mild und zart, so rein und schön, als sei die Erde nicht ihre Heimat und paßten deren Bewohner nicht für sie als Umgang. Der Geist, der aus ihren dunkelblauen Augen strahlte, schien weder ihrem Alter noch der Welt anzugehören. Ihr Lächeln aber, das frohe, glückliche Lächeln, verhieß häuslichen Frieden und häusliches Glück.

Sie war eifrig mit dem Zubereiten des Tees beschäftigt, und wenn sie zufällig die Augen erhob und die alte Dame sah, legte sie in den Blick so viel Zärtlichkeit und Liebe, daß selbst selige Geister bei ihrem Anblick wohlgefällig gelächelt hätten.

„Brittles ist bereits eine Stunde fort, nicht wahr, Giles?“ fragte die alte Dame.

„Eine Stunde und zwölf Minuten, gnädige Frau“, versetzte Herr Giles, auf seine silberne Uhr blickend, die er an einer schwarzen Schnur trug.

„Er ist immer so langsam“, bemerkte die Dame.

„Brittles war immer ein langweiliger Junge“, meinte Giles.

„Es wird mit ihm immer schlimmer anstatt besser“, sagte die alte Dame.

„Es wäre unverantwortlich, wenn er sich unterwegs aufhielte, um etwa mit anderen Jungen zu spielen“, fügte die junge Dame lächelnd hinzu.

Herr Giles überlegte gerade, ob es sich mit dem Respekt vertrüge, selbst ein wenig zu lächeln, als ein Einspänner vorfuhr, aus dem ein dicker Herr sprang und durch das Haus in das Zimmer stürzte, wo er beinahe Herrn Giles und den Frühstückstisch umgerannt hätte.

„Das ist ja unerhört!“ rief der dicke Herr. „Meine beste Frau Maylie – um Himmelswillen – und noch dazu mitten in der Nacht – so was ist mir noch nicht vorgekommen!“

Unter diesen Teilnahmebezeugungen schüttelte er beiden Damen die Hände, nahm Platz und fragte, wie es ihnen ginge.

„Sie hätten vor Schreck tot umfallen können – auf der Stelle. Warum schickten Sie nicht zu mir? Mein Diener wäre in einer Minute hiergewesen – ebenso ich und mein Assistent. Wir wären glücklich gewesen, Ihnen gefällig sein zu können. Unter solchen Umständen! So unerwartet und mitten in der Nacht.“

Der Doktor schien besonders darüber empört zu sein, daß der Einbruch so unerwartet und zur Nachtzeit versucht wurde, als ob es bei den Herren Mitgliedern der Verbrecherzunft üblich wäre, um die Mittagszeit an ihr Geschäft zu gehen und ihre Absicht ein paar Tage vorher durch die Post anzukündigen.

„Und Sie, Fräulein Rosa?“ fragte der Doktor, sich an die junge Dame wendend. „Ich –“

„Mir geht’s gut“, fiel ihm Rosa ins Wort, „aber oben liegt ein armer Mensch verwundet, und die Tante wünscht, Sie möchten nach ihm sehen.“

„Ach ja, richtig“, sagte der Doktor. „Das ist Ihr Werk, Giles, wie ich höre.“

Dieser errötete stark und erwiderte, er habe die Ehre gehabt.

„Die Ehre?“ fragte der dicke Herr, „nun ich weiß nicht; vielleicht ist es ebenso ehrenvoll, einen Dieb in einer Waschküche, wie einen Gegner auf zwölf Schritte zu treffen. Nehmen Sie an, er hätte in die Luft geschossen und Sie haben ein Duell gehabt, Giles.“

Herr Giles, der die scherzhafte Behandlung des Gegenstandes als einen ungerechten Versuch ansah, sein Verdienst zu schmälern, antwortete ehrerbietig, daß es seinesgleichen nicht zustände, ein Urteil abzugeben, daß er aber des Glaubens sei, die Sache sei für die Gegenpartei kein Spaß gewesen.

„Ohne Zweifel, ohne Zweifel“, sprach der Doktor. „Wo ist er? Führen Sie mich zu ihm. Wenn ich herunterkomme, spreche ich bei Ihnen nochmals vor, Frau Maylie. Das ist also das kleine Fenster, durch das er hereinkam? Das hätte ich kaum für möglich gehalten!“

Plaudernd folgte er Herrn Giles die Treppe hinauf. Inzwischen erlaube ich mir dem Leser mitzuteilen, daß Herr Losberne ein im Umkreise von zehn Meilen als „Der Doktor“ bekannter Wundarzt war, der seine Beleibtheit mehr seinem heiteren Gemüt als einem üppigen Leben verdankte. Er war ein gemütlicher und biederer, aber etwas wunderlicher alter Junggeselle, wie man ihn in einem fünfmal größeren Umkreise kaum wiederfindet.

Der Doktor blieb länger fort, als die Damen dachten. Es wurde ein flacher Kasten aus dem Wagen geholt, ziemlich oft geklingelt, und die Dienstboten liefen ununterbrochen die Treppen hinauf und hinunter; lauter Zeichen, aus denen man schließen konnte, daß oben etwas Wichtiges vorgehen müsse. Endlich kam er zurück, machte ein geheimnisvolles Gesicht und schloß die Tür behutsam hinter sich.

„Das ist etwas ganz Außerordentliches, Frau Maylie“, begann der Doktor und stellte sich mit dem Rücken gegen die Tür, als ob er verhindern wolle, daß jemand hereinkäme.

„Hoffentlich ist die Verwundung nicht gefährlich?“ fragte die alte Dame.

„Nun, das wäre den Umständen nach nichts Außergewöhnliches“, erwiderte der Doktor, „obgleich ich nicht glaube, daß es der Fall ist. Haben Sie den Dieb gesehen?“

„Nein“, sagte die alte Dame.

„Auch nichts über ihn gehört?“

„Nein.“

„Verzeihung, gnädige Frau“, fiel Giles ein, „ich wollte gerade von ihm erzählen, als Herr Doktor kam.“

Die Sache verhielt sich eigentlich so, daß Herr Giles es nicht hatte über sich gewinnen können, einzugestehen, das Opfer seines Schusses sei bloß ein Kind gewesen. Da er im Augenblick noch auf dem Gipfel seines Ruhmes stand und um seiner Heldentat willen von allen Seiten mit Lobsprüchen überhäuft wurde, so hätte es ihm schier das Herz gebrochen, wenn er nicht die Aufklärung, die aller seiner Herrlichkeit ein Ende machen mußte, um einige köstliche Minuten hätte hinausschieben können.

„Rosa wünschte den Menschen zu sehen“, sagte Frau Maylie, „ich habe es aber nicht zugegeben!“

„Hm“, meinte der Doktor, „es ist nichts besonders Abschreckendes in seinem Äußern. Haben Sie etwas gegen einen Besuch in meiner Anwesenheit?“

„Wenn es nötig ist, gewiß nicht“, erwiderte die alte Dame.

„Dann möchte ich darum bitten“, sagte der Doktor, Jedenfalls bin ich überzeugt, daß Sie es später bereuen würden, wenn Sie es unterlassen hätten. Er ist vollkommen ruhig und gut versorgt. Darf ich bitten, Fräulein Rosa? – Sie brauchen keine Angst zu haben, mein Ehrenwort!“

Was die beiden Damen und Doktor Losberne von Oliver dachten

Unter vielen geschwätzigen Versicherungen, daß sie der Anblick des Verbrechers angenehm überraschen werde, bot der Doktor Fräulein Rosa den Arm, reichte Frau Maylie die andere Hand -und führte die Damen mit etwas altfränkischer Galanterie die Treppe hinauf.

„Nun“, sagte der Doktor leise, als er sachte auf die Klinke der Tür drückte, „ich bin gespannt zu hören, was Sie von ihm halten. Er ist zwar unrasiert, sieht aber trotzdem nicht wie ein Räuber aus. Einen Augenblick – ich will erst nochmal nachsehen, ob er in der Verfassung ist, Besuch zu empfangen!“

Er ging zuerst ins Zimmer, sah sich darin um, winkte dann seinen Begleiterinnen hereinzukommen, schloß die Tür und schob langsam die Bettgardine zurück. Man sah im Bett statt eines wüst aussehenden Verbrechers, wie man erwartete, ein Kind, das vor Schmerz und Erschöpfung in tiefen Schlaf versunken war. Der verwundete Arm lag verbunden auf seiner Brust, während der Kopf auf dem anderen ruhte, der durch Olivers lang hinabwallendes Haar fast verdeckt wurde.

Der wackere Doktor hielt die Gardine in der Hand und sah den Kleinen schweigend an. Inzwischen trat die junge Dame näher und setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bette. Sie strich dem Jungen das Haar aus dem Gesicht, und als sie sich über ihn beugte, fielen einige Tränen auf seine Stirn.

Oliver regte sich und lächelte im Schlaf, als ob dieses Zeichen von Mitleid und Erbarmen irgendeinen süßen Traum von nie gekannter Liebe in ihm hervorriefe.

„Was bedeutet das nur?“ rief die alte Dame. „Dieser arme Junge kann doch nie und nimmer ein Spitzbube sein.“

„Das Laster“, seufzte der Arzt und zog die Gardine wieder zu, „schlägt seinen Wohnsitz in gar vielen Tempeln auf, und wer kann sagen, ob es sich nicht auch hinter einer schönen Außenseite versteckt.“

„Aber doch nicht in so früher Jugend?“ meinte Rosa.

„Mein liebes Fräulein“, entgegnete der Doktor, traurig den Kopf schüttelnd, „das Laster ähnelt dem Tode und beschränkt sich nicht allein auf die Alten und Abgelebten, es sucht sich nur zu oft unter den Jüngsten und Schönsten seine Opfer.“

„Ach können Sie wirklich glauben, daß dieser zarte Knabe sich freiwillig dem Auswurf der Menschheit angeschlossen hat?“ fragte Rosa.

Der Doktor bewegte den Kopf in einer Weise, die anzudeuten schien, daß er es für möglich halte; dann führte er die Damen mit der Bemerkung, der Kranke könnte gestört werden, in ein anstoßendes Zimmer.

„Aber selbst, wenn er verbrecherisch gewesen wäre“, fuhr Rosa fort, „bedenken Sie, wie jung er ist. Vielleicht hat er nie Mutterliebe, vielleicht nie ein Heim gekannt und ist durch schlechte Behandlung, Prügel oder Hunger an Menschen geraten, die ihn zu Verbrechen zwangen. Tante, liebste Tante, bedenken Sie das, ehe Sie das kranke Kind ins Gefängnis schleppen lassen, das jedenfalls das Grab für jede Möglichkeit einer Besserung werden muß. Haben Sie daher Mitleid mit ihm, ehe es zu spät ist!“

„Liebes Kind“, sagte die alte Dame und drückte das weinende Mädchen an ihre Brust, „glaubst du, ich werde dem .Knaben ein Haar krümmen lassen?“

„O nein, sicher nicht“, versetzte Rosa lebhaft.

„Meine Tage sind gezählt“, fuhr die alte Dame fort, „und der HErr wird mir gnädig und barmherzig sein, wie ich auch mit anderen Erbarmen habe! Was kann ich zur Errettung des Knaben tun, Herr Doktor?“

„Ich will darüber nachdenken, gnädige Frau. Muß mal überlegen.“

Herr Losberne steckte die Hände in die Tasche und ging einigemal im Zimmer auf und ab. Er zog die Stirn in ernste Falten und murmelte vor sich hin: „ich hab’s“ und dann auch wieder: „nein, so geht’s nicht“. Endlich blieb er stehen und hob an:

„Wenn Sie mir unbeschränkte Vollmacht geben Giles und Brittles, den großen Jungen, ins Bockshorn zu jagen, glaube ich, läßt’s sich machen. Sie können es ihnen ja wiedergutmachen. Nicht wahr, Sie haben nichts einzuwenden?“

„Nein, vorausgesetzt, daß es kein anderes Mittel zur Rettung des Kindes gibt“, erwiderte Frau Maylie.

„Es gibt kein anderes, mein Wort darauf.“

„Dann gibt Ihnen Tante unbeschränkte Vollmacht“, sagte Rosa unter Tränen lächelnd. „Aber gehen Sie nicht härter mit den beiden um, als unumgänglich nötig ist.“

„Sie scheinen zu glauben“, entgegnete der Doktor, „daß alle Welt heute hartherzig ist, Sie selbst ausgenommen, Fräulein Rosa. Ich will nur hoffen, daß der erste Ihrer würdige junge Mann, der Ihr Mitgefühl in Anspruch nimmt, Sie in einer ebenso weichherzigen Stimmung treffen möge; und ich möchte wünschen, selbst ein junger Bursche zu sein, um von der günstigen Gelegenheit Nutzen ziehen zu können.“

„Sie sind ein ebenso großes Kind wie unser Brittles“, versetzte Rosa rotwerdend.

„Nun“, sagte der Doktor mit herzlichem Lachen, „dazu gehört nicht viel; aber um auf unsern Jungen zurückzukommen. Den Hauptpunkt unseres Übereinkommens haben wir noch gar nicht erörtert. Er wird etwa in einer Stunde aufwachen; und obgleich ich dem schafsköpfigen Ortspolizisten gesagt habe, daß man mit dem Jungen wegen seines gefährlichen Zustandes nicht sprechen dürfe, glaube ich doch, daß wir es unbedenklich tun können. Ich stelle nun die Bedingung, daß ich ihn in Ihrer Gegenwart ausfragen darf. Lassen seine Antworten erkennen, – und und ich halte es für mehr als möglich – daß er wirklich durchaus verdorben ist, so soll er ohne weiteres seinem Schicksal überlassen werden, wenigstens ich kümmere mich dann nicht mehr um ihn.“

„O nein, Tante!“ flehte Rosa.

„Doch, Tante!“ sagte der Doktor. „ist es abgemacht?“

„Er kann kein hartgesottener Verbrecher sein“, meinte Rosa, „das ist unmöglich.“

„Nun also“, erwiderte der Doktor, „um so weniger ist Grund vorhanden, auf meinen Vorschlag nicht einzugehen.“

Man einigte sich schließlich und setzte sich, um Olivers Erwachen zu erwarten.

Die Geduld der beiden Damen wurde auf eine härtere Probe gestellt, als man nach Herrn Losbernes Reden annehmen konnte. Stunde auf Stunde verging, und immer noch lag Oliver im tiefsten Schlaf. Es war Abend geworden, als ihnen der Doktor mitteilen konnte, daß Oliver erwacht und verhandlungsfähig sei. Der Junge wäre allerdings durch den großen Blutverlust sehr geschwächt, aber sein Gewissen verlange so dringend etwas zu beichten, daß es besser wäre, ihn reden zu lassen, als ihm bis morgen Ruhe und Schweigen zu verordnen, was unter anderen Umständen ratsamer gewesen wäre.

Die Unterredung währte lange, denn Oliver erzählte ihnen seine ganze Lebensgeschichte und mußte verschiedenemal vor Schmerz und Schwäche innehalten. Es hörte sich feierlich an, als im dunklen Zimmer die schwache Stimme des kranken Kindes flüsterte und einen traurigen Bericht gab von dem Jammer, Elend und Leiden, die schlechte, grausame Menschen über ihn gebracht hatten.

Sobald die Beichte zu Ende war, wurde Oliver wieder zur Ruhe gebracht, und der Doktor begab sich hinunter, um Herrn Giles aufs Korn zu nehmen. Er wischte sich die Augen und verfluchte dieselben wegen ihrer Schwäche.

In der Küche waren alle Dienstboten versammelt, Herr Giles, Herr Brittles, das weibliche Personal, der Kesselflicker, der in Anbetracht seiner geleisteten Dienste eine besondere Einladung erhalten hatte und der schafsköpfige Polizist. Dieser hatte einen Polizeiknüppel, einen Wasserkopf, einen großen Mund und große Stiefel an. Er sah aus, als ob er eine diesen großartigen Eigenschaften entsprechende Menge Bier sich einverleibt hätte, was auch tatsächlich der Fall war.

Man sprach immer noch über die Ereignisse der vergangenen Nacht, und Herr Giles war eben dabei, seinen Mut und seine Geistesgegenwart in das richtige Licht zu setzen, wobei ihm Brittles, den Bierkrug in der Hand, kräftig sekundierte, als der Doktor eintrat.

„Sitzengeblieben!“ rief derselbe mit einer Handbewegung.

„Danke“, sagte Herr Giles. „Die gnädige Frau ordnete an, daß Bier verteilt werden sollte, und da ich Verlangen nach Gesellschaft hatte, bin ich aus meinem Zimmer hierher gekommen, um meinen Schoppen zu trinken.“

Brittles und die übrigen Damen und Herren murmelten etwas von „großer Ehre“ und „Leutseligkeit des Herrn Giles“, worauf sich dieser mit einer Gönnermiene umsah, als wenn er sagen wollte, daß er ihre Gesellschaft nicht verlassen würde, solange sie sich anständig benähmen.

„Wie geht es dem Kranken, Herr Doktor?“ fragte Giles.

„So, so, la la, ich fürchte, Sie haben sich dabei in eine arge Patsche gebracht, Herr Giles.“

„Ich hoffe, Sie wollen damit nicht andeuten, daß er sterben muß“, sagte Giles erschrocken. „Ich würde meines Lebens nicht mehr wieder froh. Ich könnte keinen Jungen töten – nicht einmal den Brittles da, und wenn man mir das Silbergeschirr des ganzen Landes dafür böte.“

„Davon ist nicht die Rede“, erwiderte der Doktor. „Herr Giles, sind Sie ein guter Christ?“

„Ja, Herr Doktor, das hoffe ich“, stotterte dieser und wurde weiß wie die Wand.

„Und wie steht’s mit dir, Junge?“ fuhr der Doktor zu Brittles gewandt fort.

„Mein Gott“, sagte Brittles zusammenzuckend, „ich bin dasselbe wie Herr Giles.“

„Dann sagt mir, ihr beide, wollt ihr es auf euern Eid nehmen, daß der Junge derselbe ist, welcher in der vergangenen Nacht durch das kleine Fenster kam? Heraus mit der Sprache! Redet!“

Der Doktor, als gutmütig überall bekannt, stellte diese Frage in so drohendem Tone, daß Giles und Brittles sich vor Schreck und Erstaunen starr ansahen.

„Passen Sie auf ihre Antwort gut auf, Polizist, ich bitte darum“, sagte der Doktor und hob in feierlicher Weise seinen Zeigefinger hoch. „Es kann später darauf ankommen.“