53. Kapitel


53. Kapitel

Was John Westlock zu Tom Pinchs Schwester sagte; was Tom Pinchs Schwester zu John Westlock sagte; was Tom Pinch zu ihnen beiden sagte, und wie sie zusammen den Rest des Tages verlebten

Herrlich funkelte die Tempelfontäne im Sonnenschein, und lachend spielte ihre flüssige Musik, und lustig tanzten die Wassertropfen und guckten neckisch unter den Bäumen hervor und duckten sich augenblicklich wieder, um sich zu verbergen, als die kleine Ruth und ihr Begleiter vorbeikamen.

Warum das Pärchen sich der Fontäne näherte, ist ein Geheimnis; zu schaffen hatten sie dort nichts. Der Ort lag gar nicht auf ihrem Wege; im Gegenteil. Sie hatten mit der Fontäne ebensowenig zu tun wie mit der Liebe oder irgend etwas derart. Wenn Tom Pinch und seine Schwester sich an der Fontäne ein Rendezvous gaben, so war das etwas ganz anderes; wenn Ruth ein bißchen warten mußte, so wäre es sehr ärgerlich gewesen, dies an einem andern als einem hübschen ruhigen Orte zu tun; und in Anbetracht aller Umstände war dies hier ein so ruhiger Ort, wie sich nur einer finden ließ. Aber wenn Mr. Westlock sie nach Hause führen sollte und Arm in Arm mit ihr eine andere Richtung einschlug, so war doch der Umstand, daß sie zu derselben Fontäne gelangten, ganz außerordentlich.

Wie dem übrigens auch sein mag, sie waren da – und wie sonderbar, sie schienen wie in stummem Einverständnis hierher gewandert zu sein, und das Wunderbarste dabei war, daß sie nicht wenig staunten, sich plötzlich dort zu sehen, denn an und für sich liegt doch im Anblick einer Fontäne nichts so Verwirrendes.

»Was für ein hübsches Plätzchen das ist!« rief John; er sagte es voller Ernst und von tiefer Liebe zu dem Ort durchdrungen.

»Ja, ein reizendes Plätzchen«, bekräftigte die kleine Ruth; »so schattig!«

Sie blieben eine Weile stehn; der Tag war wunderschön, und da sie nun einmal stehenblieben, so war es ganz natürlich, daß sie auch einen Blick nach Garden Court hinunterwarfen, denn Garden Court führt in den Garten, der Garten an den Strom, und die Aussicht dahin ist so schön und schimmert wie Silber an einem Sommertag. Warum guckte also die kleine Ruth nicht mit hin? Warum bemühte sie sich so, ihren allerliebsten, winzigen, schmalen, kleinen Fuß mit aller Gewalt in den zersprungenen Winkel eines fühllosen alten Quadersteins im Pflaster zu pressen und der Lücke so genau anzupassen? Wenn die Matrone mit dem feuerroten Gesicht, die John den Haushalt führte, sie hätte sehen können, als sie zusammen weitergingen, hätte sie für ihre Stellung in Mr. Westlocks Haus in Furnivals Inn wohl nicht mehr viel gegeben.

Das Pärchen ging weiter. Aber nicht durch die Straßen von London, nein, durch eine verzauberte Stadt, wo das Straßenpflaster aus Luft gewebt war, sich das Toben und Lärmen der Geschäftigkeit zu sanfter Musik milderte, wo alles glücklich dahinlebte und Raum und Zeit verschwunden waren. Zwei gutmütige, stämmige Bierkutscher ließen gerade ein paar große Fässer in einen Keller hinunter, und als John Ruth über den Strick hinüberhalf oder sie vielmehr hinüberhob, meinten sie, er müsse ihnen außerordentlich dankbar sein für die prachtvolle Gelegenheit, die sie ihm boten; himmlische Bierkutscher!

Grüne, schöne Weide in der Sommerzeit, tiefes, weiches Stroh im Winter und ewigen Überfluß an Hafer und Klee wünschte John dem edlen Roß, das da vor dem Gig auf dem Pflaster tanzte und Ruth so erschreckte, daß sie seinen Arm mit beiden Händen umfaßte und ihn anflehte, zum Pastetenbäcker hineinzuflüchten, von wo sie dann erschrocken zur Türe hinausguckte und ihn mit ihren lieben Augen fragend ansah, ob er glaube, daß sie jetzt ungefährdet weitergehn könnten. Wäre doch ein ganzes Gespann mit Rossen, ein Löwe, ein Bär, ein toller Stier oder etwas derart gekommen, um sie abermals zu veranlassen, mit ihren Händchen seinen Arm zu umschlingen.

Sie plauderten – und unterhielten sich von Tom, von den Begebnissen des Tages, von der Zuneigung, die Mr. Chuzzlewit zu Tom gefaßt, von den glänzenden Aussichten, die diesem dadurch erwüchsen, und was dergleichen mehr war. Je angelegentlicher sie übrigens plauderten, desto ängstlicher vermied die kleine Ruth jede Pause, denn lieber wollte sie alles Gesprochene noch einmal sagen als schweigen. Und wenn sie doch die Geistesgegenwart verließ, was häufig genug stattfand, so sah sie noch zehntausendmal bezaubernder und unwiderstehlicher aus als zuvor.

»Martin wird vermutlich bald heiraten«, sagte John.

Ruth glaubte es gleichfalls, aber niemals hat wohl ein berückendes, kleines Frauenzimmerchen etwas mit so schwacher Stimme gelispelt wie Ruth.

Schon wieder voller Furcht, daß eine jener beunruhigenden Pausen im Anzüge sei, bemerkte sie rasch, Martin bekomme eine schöne Frau, und ob Mr. Westlock das nicht auch glaube.

»Ja«, sagte John, »– o – ja.«

Sie fürchtete, er sei schwer zu befriedigen, da er das so zögernd sage.

»Sagen Sie lieber, ich sei schon befriedigt«, versetzte John. »Ich habe sie kaum gesehen – kümmerte mich auch gar nicht um sie – ich hatte diesen Morgen keine Augen für sie.«

»O Gott!«

Es war gut, daß sie ihren Bestimmungsort erreicht hatten, denn Ruth wäre nicht imstande gewesen, weiterzugehen. Wie wäre es auch möglich gewesen bei solchem Zittern. – Tom war noch nicht nach Hause gekommen. Sie traten also in das dreieckige Wohnstübchen und waren allein. Matrone mit dem feuerroten Gesicht und dem zerknitterten Hut, wie wird es dir wohl jetzt ergehen!

Ruth setzte sich auf das kleine Sofa und knüpfte ihr Hutband los. John nahm neben ihr Platz – sehr, sehr, sehr nahe. – Wie wild ihr das Herzchen schlug!

»Liebste, angebetete Ruth, wenn ich Sie weniger liebte, hätte ich Ihnen längst sagen können, daß ich Sie anbete. Gleich von Anfang an war ich in Sie verliebt, und noch nie ist ein Wesen auf Erden wahrhaftiger geliebt worden als Sie, liebe Ruth, von mir.«

Sie verbarg das Gesicht in ihren Händen. Sie sagte nichts, aber ihre Tränen – Tränen der Freude, des Stolzes, der Hoffnung und der zitternden Liebe – aus ihrem übervollen jungen Herzen heraus waren Antwort genug.

»Angebetetste, wenn dieses Geständnis – und ich wage es fast zu hoffen – nicht schmerzlich oder betrübend für Sie ist, so machen Sie mich glücklicher, als ich auszusprechen vermag oder Sie sich denken können. Angebetete Ruth, meine gute, sanfte, bezaubernde Ruth, ich hoffe, daß ich den Wert Ihres Herzens und den Wert Ihrer engelreinen Seele zu schätzen weiß. Lassen Sie mich Ihnen beweisen, daß ich ihn kenne, und Sie werden mich glücklicher machen, Ruth –«

»Nein, nicht glücklicher«, schluchzte sie, »als Sie mich bereits machen. Niemand kann glücklicher sein, John, als ich es durch Ihre Liebe schon bin.«

Matrone mit dem feuerroten Gesicht und dem zerknitterten Hut, sehen Sie sich nach einer andern Stelle um. Mit Ihrem Regiment ist es jetzt vorüber – bemühen Sie sich nicht weiter.

Kein scheuendes Pferd, keine Löwen, keine Bären oder tollen Stiere waren mehr nötig: Ruths kleine Händchen falteten sich jetzt um Johns Arm auch ohne sie, und es war alles viel besser und hübscher so. Keine Bierkutscher, keine großen Fässer waren mehr nötig als Gelegenheitsmacher. Die weiche, kleine Hand legt sich scheu und ganz natürlich auf die Schulter des Geliebten, und wenn sämtliche Pferde Arabiens mit einem Male scheu geworden wären, so hätte es nicht besser ausfallen können.

Dann fing das Pärchen wieder an, von Tom zu sprechen.

»Ich hoffe, er wird sich freuen, wenn er’s hört«, sagte John mit leuchtenden Augen.

Ruth schloß ihre kleinen Händchen noch etwas fester zusammen bei diesen Worten und blickte liebevoll zu ihm empor.

»Ich muß ihn doch nie verlassen, nicht wahr, Geliebter? Ich glaube, ich könnte Tom nie verlassen.«

»Glaubst du denn, ich würde das von dir verlangen?« rief John und küßte sie auf die Lippen.

»Ich wußte es, daß du es nie verlangen würdest«, antwortete sie, und die hellen Tränen standen ihr in den Augen.

»Und ich will es dir schwören, Ruth, wenn du es willst. Tom verlassen! Das würde ein merkwürdiger Anfang sein. Tom verlassen, Geliebte! Wenn Tom und wir nicht unzertrennlich sind und er nicht alle Liebe in unserm Heim finden sollte, dann möge dieses Heim lieber nie existieren. Und das ist ein schwerer Eid, Ruth!«

»Tom wird so glücklich, so stolz und froh sein«, jubelte Ruth, zitternd vor Glück. »Aber wie er staunen wird! Ich weiß, er denkt nicht im entferntesten an eine solche Möglichkeit.«

Allmählich rückte sie dann mit dem heraus, was sie von Toms Geheimnis wußte, und wie sie es entdeckt hatte, und John war voll Leid und Teilnahme darüber. Aber sie wollten, sagte er, deswegen nur um so mehr versuchen, ihn glücklich zu machen und ihm seine Herzenswünsche an den Augen abzulesen. Und dann schilderte er ihr mit dem ganzen Eifer und der Innigkeit junger Liebe, wie er jetzt vortreffliche Gelegenheit habe, sich auf dem Lande als Baumeister niederzulassen. Wie er schon daran gedacht habe, er könne auf diesem Wege Tom eine Beschäftigung verschaffen und es einleiten, daß sie behaglich miteinander leben könnten, ohne daß Tom sich abhängig fühlen müßte. Und sie waren so glücklich, wie der Tag lang war. Freude im Herzen und in den Mienen, hörte Ruth dies alles mit an, und sie bauten sich Luftschlösser und kauften Tom im Geiste eine auserlesene Bibliothek und ließen eine Orgel für ihn bauen, auf der er dann nach Herzenslust spielen könne. Da mit einem Male hörten sie ihn an die Türe klopfen.

Wie sehr sich auch die kleine Ruth danach sehnte, ihrem Bruder alles Vorgefallene mitzuteilen, war sie doch bei seiner Ankunft sehr aufgeregt – um so mehr, als sie wußte, daß Mr. Chuzzlewit ihn begleitete. Sie fragte daher mit Zittern:

»Was soll ich nur tun, lieber John? Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß er es von jemand anderem als von mir hört, und doch bin ich nicht imstande, ihm alles mitzuteilen, wenn wir nicht allein sind.«

»Handle ganz, Geliebte, nach deinem natürlichen Instinkt, und wie es der Augenblick dir eingibt«, riet John. »Ich bin überzeugt, dann wird es am besten sein.«

Er hatte kaum ausgesprochen und Ruth kaum Zeit gehabt, auf dem Sofa ein bißchen weiter von ihm wegzurücken, als Tom und Mr. Chuzzlewit hereinkamen. Der alte Herr trat zuerst über die Schwelle, und Tom folgte ihm gleich darauf.

In der Geschwindigkeit hatte sich Ruth entschlossen, Tom für eine kleine Weile in das obere Stübchen hinauf zu winken und ihm dort alles zu gestehen. Als sie jedoch sein liebes, altes Gesicht in der Türe erscheinen sah, war sie so ergriffen, daß sie sich ihm in die Arme warf, ihr Köpfchen an seine Brust legte und schluchzend rief:

»Wünsche mir Glück, Tom! Mein lieber, lieber Bruder!«

Tom blickte sie überrascht an und sah dicht neben sich John Westlock stehen, der ihm die Hand entgegenstreckte.

»John!« rief Tom, »John!«

»Lieber Tom«, sagte Mr. Westlock bewegt, »gib mir die Hand; wir sind Schwäger, Tom.«

Tom faßte seine Hand mit beiden Händen, drückte sie mit aller Macht, umarmte dann seine Schwester mit Innigkeit und legte sie John Westlock an die Brust.

»Sage mir nichts weiter John! Das Geschick ist so gütig gegen uns – ich –«; er fand keine Worte mehr, sondern verließ das Zimmer, und Ruth folgte ihm.

Und als sie endlich wieder zurückkamen, sah Ruth noch schöner und Tom womöglich noch treuer und gütiger aus als je. Und wenn er auch, überwältigt von Freude, noch nicht imstande war, über die Sache zu sprechen, so legte er doch seine Hände mit einem Nachdruck in die seines Freundes, der mehr bekundete als die vollendetste Rede.

»Es freut mich, daß Sie den heutigen Tag dazu gewählt haben«, sagte Mr. Chuzzlewit zu Mr. Westlock mit demselben pfiffigen Lächeln wie damals, als sie sich getrennt hatten – »wenn ich mir’s auch gleich gedacht habe. Ich hoffe, Tom und ich sind doch entsprechend lang ausgeblieben? Es ist so lange her, seit ich selbst solche Dinge praktisch erlebte, daß ich schon ganz unsicher wurde.«

»Sie scheinen aber immer noch ziemlich genaue Kenntnisse davon zu besitzen, Sir«, erwiderte John lachend, »wenn Sie vorauszusehen imstande waren, was sich heute begeben würde.«

»Nun, ich wüßte eben nicht, Mr. Westlock«, sagte der alte Herr, »daß dazu besonders viel prophetische Gabe gehörte, nachdem ich Sie und Ruth zusammen gesehen habe. Aber kommen Sie jetzt zu mir, mein hübsches Kind, und sehen Sie mal, was ich und Tom diesen Morgen mitsammen gekauft haben, während Sie mit diesem jungen Handelsmann hier Ihre Geschäfte abmachten.«

Die Art, wie sich der alte Herr an ihre Seite setzte und sie fast wie ein Kind behandelte, war eigentlich recht komisch, aber doch so voller Innigkeit, daß einem das Herz dabei aufgehen mußte. Und wie vortrefflich die hübsche kleine Ruth zu dem hübschen Bild paßte.

»Also, sehen Sie mal her«, sagte er und nahm ein Etui aus der Tasche. »Was für ein hübsches Halsband, nicht wahr? Wie das blitzt! Und dazu ein Paar Ohrringe, Armbänder und ein Gürtel. Das gehört Ihnen. Für Mary habe ich denselben Schmuck gekauft. Tom konnte absolut nicht begreifen, wozu ich zwei brauchte. Kurzsichtig ist er, das muß man ihm lassen. Ohrringe, Armbänder und ein Gürtel, schön, nicht wahr? Lassen Sie jetzt mal sehen, wie es Ihnen steht! Mr. Westlock soll Ihnen selbst den Schmuck anlegen.«

Es war ein reizendes Bild, wie Ruth ihren runden, weißen Arm hinhielt und John tat, als wäre das Bracelett unendlich schwer zu befestigen, wie sie dann den schönen kleinen Gürtel anzog und dazu ebenfalls Johns Hilfe brauchte, weil ihre Finger so gar nicht gehorchen wollten. Und wie verwirrt und verschämt sie aussah, während die Glut ihre Wangen färbte und ihr Antlitz strahlte wie die funkelnden Juwelen. Es war das lieblichste Bild, das man unter den gewöhnlichen Erlebnissen eines ganzen Jahres nur sehen konnte.

»Der Schmuck und die Trägerin passen so vortrefflich zusammen«, sagte der alte Herr, »daß ich wahrhaftig nicht weiß, welches von den beiden eigentlich die Zierde ist. Mr. Westlock könnte mir darüber zwar ohne Zweifel Auskunft geben, aber ich will ihn nicht fragen, da er wohl nicht unparteiisch ist. Also, tragen Sie den Schmuck in Gesundheit und Glück, meine Liebe, und möge er Ihnen eine Erinnerung an einen Freund sein, der Sie liebt.«

Er klopfte sie auf die Wange und wendete sich zu Tom:

»Auch hier muß ich die Rolle des Vaters übernehmen, Tom. Es gibt nicht viele Väter, die zwei solche Töchter an demselben Tage verheiraten. Aber wir wollen die Unwahrscheinlichkeit den Grillen eines alten Mannes zuliebe übersehn; soviel Nachsicht müssen Sie mir schon schenken«, setzte er hinzu, »denn der Himmel weiß, ich habe in meinem ganzen Leben leider nur zu wenig Grillen befriedigt, die das Glück andrer im Auge hatten.«

Über diesen Gesprächen verging die Zeit so rasch, daß, ehe sie sich’s versahen, nurmehr eine Viertelstunde zur Mittagszeit fehlte. Aber ein Fiaker brachte sie bald nach dem Tempel, wo sie bereits alles für ihren Empfang vorbereitet fanden. Mr. Tapley war hinsichtlich Anordnung des Dinners mit unbeschränkter Vollmacht versehen worden und hatte sich seiner Aufgabe so ehrenvoll entledigt, daß unter seiner und seiner zukünftigen Gattin vereinter Leitung ein prachtvolles Bankett vorbereitet war. Mr. Chuzzlewit bestand darauf, daß auch sie bei Tische Platz nähmen, und der junge Martin unterstützte eifrig den Wunsch seines Großvaters, aber Mark ließ sich durch nichts dazu bewegen und bemerkte, die Ehre, solchen Gästen aufzuwarten, sei so überwältigend für ihn, daß er sich schon jetzt als Wirt im Gasthaus zum »Fidelen Tapley« fühle und sich nicht in dem Wahne stören lassen wolle, das Fest finde bereits unter dem Dache dieses trefflichen Hotels statt.

Und um sich in dieser Vorstellung noch mehr zu bestärken, gab Mr. Tapley allerhand Anweisungen über die Aufstellung der Gerichte usw. usw. an die im Geiste anwesenden Gasthauskellner, und da seine Befehle gewöhnlich den vorhergehenden zuwiderliefen und stets in der launigsten Weise ausgedrückt wurden, so veranlaßte das stets eine große Heiterkeit, in die Mr. Tapley jedesmal aufs herzlichste mit einstimmte. Der junge Martin saß oben an, Mr. Pinch unten an der Tafel, und wenn es ein Gesicht gab, das an Heiterkeit und Fröhlichkeit alle andern noch weit schlug, so war es das Toms.

Er war überhaupt für alle tonangebend. Jedermann trank ihm zu, jedermann blickte nach ihm hin, jedermann dachte an ihn, und jedermann liebte ihn. Er brauchte nur einen Augenblick Gabel und Messer aus der Hand zu legen, und schon stand jemand da, um ihm die freigewordene Rechte zu drücken. Vor dem Dinner hatten Martin und Mary an seiner Seite Platz genommen und so herzlich und innig von ihrem künftigen Glück mit ihm gesprochen, und sie betonten so nachdrücklich, daß es durch seine Gesellschaft und Liebe erst vollständig werde, daß er bis zu Tränen gerührt wurde. Es war einfach zu viel für ihn. Sein Herz zersprang fast vor Glück, wie er sagte, und das war beinahe die Wahrheit; so groß auch sein Herz war, so quoll es doch über an diesem Tage vor lauter Glück und Seligkeit.

Auch Mr. Fips, der alte Fips von Austin Friars, war beim Dinner zugegen und benahm sich wie die fidelste alte Haut, die nur jemals ihrem geselligen Temperament dadurch Zwang angetan, daß sie sich in ein dunkles Bureau eingeschlossen. »Wo ist er?« waren Mr. Fips‘ erste Worte, als er über die Schwelle trat. Und dann stürzte er auf Tom zu und beteuerte ihm, er wolle sich für seinen ganzen früheren Zwang jetzt schadlos halten. Zuerst drückte er ihm die eine Hand, dann die andre, dann faßte er ihn an der Weste, und dann fragte er ihn ununterbrochen: »Wie geht es Ihnen?« Und dann sang er Couplets und hielt Reden, und dem Weine setzte er so tüchtig zu wie nur einer.

Und das Glück, abends nach Hause zu gehen und in Erinnerungen an die schöne Nacht von Furnivals Inn zu schwelgen! Die Freude des jungen Paares, alle seine kleinen Pläne Tom mitzuteilen und mit anzusehn, wie sein Gesicht immer mehr und mehr strahlte.

Als sie zu Hause anlangten, ließ Tom seinen Freund und Ruth im Wohnzimmer und ging unter dem Vorwande, sich ein Buch zu suchen, in sein eignes Zimmer hinauf. Dabei dachte er wunder was er Schlaues ausgeführt habe.

»Selbstverständlich wollen sie allein sein«, sagte er sich, »und ich habe das jetzt so natürlich arrangiert, daß ich nicht zweifle, sie erwarten mich jeden Augenblick zurück. Es ist ein famoser Spaß.«

Er hatte aber noch nicht lange dagesessen und gelesen, als es an seine Türe klopfte.

»Darf ich hereinkommen?« fragte John.

»Freilich, freilich.«

»Geh, komm zu uns, Tom! Du darfst hier nicht so alleine sitzen; wir wollen dich fröhlich sehen und nicht melancholisch.«

»Mein lieber Freund« – begann Tom mit strahlendem Lächeln.

»Oho, Schwager! Tom, Schwager!«

»Also lieber Schwager«, fuhr Tom fort, »du brauchst keine Angst zu haben, daß ich traurig bin. Wie könnte ich es auch sein, wo ich weiß, daß du und Ruth beide so glücklich miteinander seid. – – Es kommt mir vor, ich bin heute ein großer Redner, John«, setzte er nach einer kleinen Pause hinzu; »aber trotzdem finde ich nicht die Worte, dir zu sagen, welch unaussprechliche Wonne mir an diesem Tag zuteil geworden ist. Es würde unpassend von mir sein und nicht angebracht, wenn ich darüber mit dir reden wollte, daß du ein mitgiftloses Mädchen heiraten willst, wo ich weiß, daß du ihren Wert erkennst – ja, ich bin fest überzeugt davon, und das ist mehr wert als alles Geld.«

»Da hast du recht, Tom!« entgegnete John. »Wer könnte sie sehen und nicht lieben! Wer sie kennt, Tom, der muß sie hochhalten. Wer müßte nicht im Besitz eines solchen Herzens gleichgültig gegen alle Schätze der Welt werden! Wer könnte das Glück und das Entzücken meiner Liebe fühlen, Tom, ohne nicht auch ihren Wert zu würdigen! Du sagtest, deine Freude sei unaussprechlich – nein, nein, Tom – die meinige ist es.«

»Nein, nein, John«, widersprach Tom – »die meinige, die meinige!«

Ihr freundschaftlicher Zwist wurde durch Ruth selbst geschlichtet, die jetzt zur Türe hereinguckte mit einem Blick, der deutlich verriet, wie sehr und von Herzen sie John liebte.

Was Tom betrifft, so war er im siebenten Himmel. Wie sie so an seiner Seite saßen, stundenlang hätte er da sitzen und sie ansehen können.

War es wohl töricht von ihm, sich zu freuen, daß sie in einer solchen Zeit an ihn gedacht hatten und wollten, er möge immer bei ihnen bleiben? Waren ihre Liebkosungen töricht? War es töricht von ihnen, daß sie erst so spät sich trennten? War es Torheit, daß John von der Straße aus noch lange zu Ruths Fenster emporblickte und den matten Schimmer von Licht dahinter höher als alle Diamanten der Erde schätzte? War es töricht, daß Ruth seinen Namen auf den Lippen trug und niederkniete und ihr reines Herz vor jenem ausschüttete, von dem solche Liebe herab auf Erden strahlt?

Wenn das lauter Torheiten sind, dann freue dich, Matrone mit dem feuerroten Gesicht und dem zerknitterten Hut! Wenn aber nicht – dann ist’s wohl aus mit deinen Diensten bei John Westlock. Dann setze deinen zerknüllten Hut für einen andern Junggesellen auf, denn mit dem Dienst ist es für immer vorbei.

54. Kapitel


54. Kapitel

Macht dem Autor große Sorge, da es das letzte in diesem Buche ist

Bei Todgers‘ herrschte große Aufregung, denn es galt, gewaltige Vorbereitungen für ein opulentes Frühstück zu treffen. Der segensreiche Tag war gekommen, an dem Miss Pecksniff mit Mr. Augustus Moddle durch das Band des heiligen Ehestandes für immer vereinigt werden sollte. Miss Pecksniff befand sich in einem Gemütszustand, der nicht nur der großen Veranlassung, sondern auch ihrer selbst vollständig würdig war. Sie troff förmlich vor Sanftmut und Versöhnlichkeit und hatte mehrere Kübel voll glühender Kohlen bereit, um sie auf die Häupter ihrer Feinde zu »sammeln«. Auch nicht die Spur von Groll oder Bosheit wohnte in ihrem Herzen.

Streitigkeiten in der Familie, betonte sie immer wieder, seien etwas Schreckliches, und wenn sie auch ihrem teuern Papa niemals verzeihen könne, so wolle sie doch ihre übrigen Verwandten empfangen. Sie sei viel zu lange getrennt gewesen, bemerkte sie, viel zu lange, als daß nicht der Himmel die schwersten Strafen über die Familie habe verhängen müssen. Daß Jonas‘ Tod eine Strafe Gottes für alle diese Zwistigkeiten war, davon war sie fest überzeugt, und in diesem Glauben wurde sie noch durch die Leichtigkeit bestärkt, mit der sie diese Heimsuchung zu ertragen wußte.

Um jetzt ein Opfer zu bringen – nicht etwa aus Triumph, sondern aus reiner Demut heraus –, schrieb sie daher an ihre starkgeistige Verwandte und teilte ihr mit, wann die Trauung stattfinden werde. Ihr und ihrer Töchter hochfahrendes Betragen sei zwar sehr verletzend gewesen, aber sie hoffe, daß sie von Gewissensbissen verschont geblieben wären. Sie wünsche nunmehr ihrerseits ihren Feinden zu vergeben und Frieden mit der ganzen Welt zu schließen, ehe sie zu der feierlichen Zeremonie schreite und den Lebensbund eingehe mit dem edelsten der Männer, und biete ihnen jetzt in Freundschaft die Hand. Wenn besagte starkgeistige Dame darauf eingehe, so lade sie (Miss Pecksniff) ihre sämtlichen Verwandten ein, der Trauung beizuwohnen, und bitte zugleich ihre drei rotnasigen Töchter (die Anspielung auf die Nasen ließ Miss Pecksniff natürlich weg), als Brautjungfern zu fungieren.

Die starkgeistige Dame antwortete darauf, daß sie und ihre Töchter, was das Gewissen anbeträfe, sich einer robusten Gesundheit erfreuten, was, wie sie überzeugt sei, Miss Pecksniff gewiß mit Freuden hören werde. Sie habe Miss Pecksniffs Schreiben mit größter Freude empfangen, um so mehr, als sie die armseligen Eifersüchteleien, mit denen sie und die ihrigen seinerzeit angegriffen worden wären, niemals ernst genommen, sondern stets als eine harmlose Quelle unschuldiger Erheiterung angesehen habe. Sie werde mit Freuden Miss Pecksniffs Trauung beiwohnen, und auch ihre lieben drei Töchter schätzten sich glücklich an einer so spannenden – und so überraschend kommenden – diese Worte hatte die starkgeistige Dame unterstrichen – Gelegenheit teilzunehmen.

Nach Erhalt dieser hoheitsvollen Zusage dehnte Miss Pecksniff ihre Amnestie und Einladung auch auf Mr. und Mrs. Spottletoe, auf Mr. George Chuzzlewit, den ledigen Vetter, auf das unverheiratete alte Fräulein, das stets Zahnweh hatte, auf den behaarten jungen Gentleman mit der unterexponierten Visage – kurz, auf sämtliche noch am Leben befindlichen Überbleibsel jener Gesellschaft, die sich dereinst in ihres Vaters Wohnstube versammelt hatte, aus. – In der Erfüllung der Pflichten läge eine Süßigkeit, bemerkte sie, als sie sämtliche Briefe zugeklebt und in den Postkasten geworfen hatte, die die Bitternisse des menschlichen Lebens mehr als ausglichen.

Die Hochzeitsgäste hatten sich noch nicht versammelt, und es war noch so früh am Morgen, daß Miss Pecksniff sich mit aller Muße ankleiden konnte, als in der Nähe des Monumentes ein Wagen vorfuhr und Mark, vom Bock springend, Mr. Chuzzlewit beim Aussteigen half. Der Wagen hielt und wartete. Ebenso Mr. Tapley. Mr. Chuzzlewit begab sich zu Todgers‘!

Die entartete Nachfolgerin Mr. Baileys geleitete ihn zum Speisesaal, wo gleich darauf – man hatte seinen Besuch erwartet – Mrs. Todgers erschien.

»Sie sind, wie ich sehe, zur Hochzeit angekleidet«, sagte Mr. Chuzzlewit.

Mrs. Todgers bejahte. Vor lauter Vorbereitungen war sie so wirr im Kopf, daß sie kaum wußte, was man sie gefragt hatte.

»Es stimmt durchaus nicht mit meinen Wünschen überein, daß sie gerade jetzt stattfinden soll, das kann ich Ihnen versichern, Sir«, sagte sie. »Aber Miss Pecksniff hat sich’s nun mal in den Kopf gesetzt, und Zeit ist es schließlich auch, daß sie sich verheiratet. Das ist nun mal nicht zu leugnen, Sir.«

»Nein«, gab Mr. Chuzzlewit zur Antwort. »Allerdings nicht. – Und ihre Schwester ist nicht mit dabei?«

»Ach Gott, nein. Das arme Ding!« seufzte Mrs. Todgers und schüttelte wehmütig den Kopf. »Seit sie das Entsetzliche erfahren hat, ist sie nicht aus meinem Zimmer gekommen – dem Zimmer nebenan, Sir.«

»Glauben Sie, daß sie gefaßt genug ist, mich zu sehen?« fragte Mr. Chuzzlewit.

»O sicherlich, Sir.«

»So will ich keine Zeit verlieren.«

Mrs. Todgers führte Mr. Chuzzlewit in die kleine Hinterstube mit der Aussicht auf die Zisterne, und da saß die arme Gratia in Trauerkleidern – ach, wie so ganz anders, als damals, als sie das erstemal hier gewohnt hatte. Das Zimmer sah so düster und kummervoll aus wie sie selbst, aber sie hatte wenigstens einen treuen Freund an ihrer Seite – den alten Chuffey.

Als Mr. Chuzzlewit neben ihr Platz nahm, ergriff sie seine Hand und drückte sie an die Lippen. Die Tränen standen ihr in den Augen. Seit ihrem Abschied auf dem Kirchhof hatte sie ihn nicht wiedergesehen.

»Ich habe vorschnell über Sie geurteilt«, begann Mr. Chuzzlewit nach einer Weile mit leiser Stimme. »Es war grausam von mir. – Sagen Sie mir, daß Sie mir verzeihen.«

Sie küßte ihm abermals die Hand und behielt sie in der ihrigen, dabei dankte sie ihm schluchzend für alle die Güte, die er ihr erwiesen.

»Tom Pinch«, fuhr Mr. Chuzzlewit fort, »hat mir getreulich alles berichtet, was Sie ihm für mich auftrugen, obschon er es damals für sehr unwahrscheinlich hielt, je Gelegenheit zu haben, Ihrem Wunsche entsprechen zu können. Glauben Sie mir, wenn ich je wieder mit einem übelberatenen und unentschlossenen Wesen zu tun haben sollte, das seine Stärke als vermeintliche Schwäche verbirgt, so will ich lange und barmherzig Nachsicht haben.«

»Ach, die hatten Sie mit mir«, antwortete Gratia, »bitte, reden Sie nicht so. Ich sagte mir Ihre Worte immer wieder vor, als mein Unglück kaum mehr erträglich war, und will sie jetzt für andere gebrauchen als Rat, wenn man dessen bedarf. Sie haben zu mir gesprochen, nachdem Sie mich Tag für Tag gesehen und lange beobachtet haben. Sie haben es wirklich gut mit mir gemeint. Sie hätten vielleicht freundlicher zu mir sprechen können und mein Vertrauen durch größere Milde zu gewinnen suchen sollen; aber der Ausgang wäre immer derselbe geblieben.«

Mr. Chuzzlewit schüttelte schmerzlich das Haupt und, wie es schien, nicht ohne Selbstvorwürfe.

»Wie kann ich annehmen«, fuhr Gratia fort, »daß Ihre Dazwischenkunft etwas genützt hätte, wo ich doch weiß, wie halsstarrig ich war! Damals dachte ich nicht an die Zukunft, mein lieber, guter Mr. Chuzzlewit – ich dachte überhaupt nicht – Überlegung war mir fremd, Herz hatte ich auch nicht, und ob er mich liebte, war mir ebenfalls gleichgültig. Erst die Not hat mich zur Besinnung gebracht, und ich würde meine Leiden nicht ungeschehen machen, selbst wenn ich könnte. Weiß ich doch, daß sie immer noch leicht sind, verglichen mit den Qualen, die hundert bessere Menschen als ich jeden Tag durchzumachen haben. Das Unglück ist mir wie ein Freund gewesen, ohne den ich immer dieselbe geblieben wäre, und nichts sonst hätte mich wohl so umzuwandeln vermocht. Mißtrauen Sie mir nicht, weil ich weine, aber ich kann meine Tränen nicht zurückhalten. Ja, ich bin dem Himmel dankbar für mein Unglück.

»Das ist sie, weiß Gott!« bekräftigte Mrs. Todgers. »Sie können es ihr glauben, Sir.«

»Ich glaube es auch«, sagte Mr. Chuzzlewit. »Aber jetzt hören Sie mich an, mein Kind. Das Vermögen Ihres verstorbenen Gatten wird vom Gericht mit Beschlag belegt werden, wenn es nicht schon aufgezehrt ist durch die große Schuldverschreibung an die bankerotte Versicherungsanstalt, die die Spitzbuben, da sie ihnen auf dem Kontinent drüben nichts nützte, hergeschickt haben – weniger um der Gläubiger willen, die sie geschädigt, als um ihren Haß gegen Jonas zu befriedigen; sie glauben, er sei noch am Leben. Das Vermögen Ihres Mannes ist daher wohl bis auf den letzten Penny verloren. Der Besitz Ihres Vaters ist in ähnlicher Weise herangezogen, und was vielleicht noch übrig bleibt, wird bestimmt auf dem Prozeßweg durch die Advokatenkosten drauf gehen. Von dieser Seite aus könnten Sie also auf keine Aufnahme rechnen.«

»Ich könnte es auch nicht über mich bringen, zu meinem Vater zurückzukehren«, rief Gratia, denn unwillkürlich drängte sich ihr der Gedanke auf, daß er mit schuld daran war, daß sie Jonas geheiratet hatte. »Ich könnte es nicht über mich bringen.«

»Ich weiß das«, sagte Mr. Chuzzlewit, »und eben weil ich es weiß, bin ich zu Ihnen gekommen. Kommen Sie mit mir. Ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß alle, die um mich sind, Sie herzlich willkommen heißen werden. Wenn Ihre Gesundheit wiederhergestellt sein wird und Sie sich erholt haben werden, um mit Ruhe diesen Empfang zu ertragen, so können Sie sich in der Nähe von London nach Belieben einen ruhigen Aufenthalt wählen – nicht gar zu weit entfernt, damit diese gute Frau, sooft es ihr gefällt, Sie besuchen kann. Sie haben viel gelitten, aber Sie sind noch jung, und eine bessere Zukunft erwartet Sie. Kommen Sie mit mir. Sagen Sie zu, denn ich weiß, daß Ihre Schwester Ihnen nicht helfen wird. Sie betreibt diese Heirat mit einer Hast und einer Ostentation, die, gelinde gesagt, kaum anständig ist und überdies unschwesterlich und schlecht. Verlassen Sie das Haus, bevor die Gäste ankommen, denn man hat vor, Ihnen wehe zu tun. Ersparen Sie Ihrer Schwester die Sünde und kommen Sie mit mir.«

Mrs. Todgers redete Gratia ebenfalls zu, obschon sie sich nur sehr ungern von ihr trennte. Sogar der alte Chuffey, der natürlich in den Plan mit eingeschlossen war, redete Mr. Chuzzlewits Vorschlag das Wort. Hastig kleidete sich Gratia an und war eben im Begriff, zu gehen, als ihre Schwester in das Zimmer stürzte.

Sie hatte nur Gratia zu finden gehofft und war daher in nicht geringer Verlegenheit, als sie auch Mr. Chuzzlewit erblickte. Ihre Frisur war zwar bereits herrlich aufgebaut, und sie hatte einen Hut mit Orangenblüten auf, um durch dessen Anblick ihre Schwester zu verletzen, aber sonst war sie noch im Unterrock.

»Sie wollen also heute Hochzeit machen, Miss?« fragte der alte Herr und musterte sie mit einem nicht sehr freundlichen Blick.

»Allerdings, Sir«, versetzte Charitas bescheiden. »Aber – o Gott der Aufzug – nein wirklich, Mrs. Todgers –«

»Ich sehe«, schnitt ihr Mr. Chuzzlewit das Wort ab, »Ihr Zartgefühl ist verletzt. Das überrascht mich nicht. Sie haben die Zeit zu Ihrer Vermählung eben ein wenig unglücklich gewählt.«

»Ich muß um Entschuldigung bitten, Mr. Chuzzlewit«, fuhr Charitas schnippisch auf, »aber wenn Sie diesbezüglich etwas einzuwenden haben, so muß ich Sie schon ersuchen, sich mit Augustus verständigen zu wollen. Es kommt mir nicht sehr gentlemanlike vor, daß Sie mir Vorstellungen machen, wo Augustus jederzeit besser mit Ihnen verhandeln könnte. Ich stehe den Betrügereien fern, die man an meinem Vater verübt hat, und da ich ausdrücklich wünsche, bei dem jetzigen feierlichen Anlaß mit jedermann aufs beste auszukommen, so hätte es mich gefreut, wenn Sie uns mit Ihrer Anwesenheit beim Frühstück beehrt hätten. Aber so, wie die Sachen stehen, will ich Sie natürlich nicht weiter belästigen. Ich sehe, daß Sie bereits von gewisser andrer Seite gegen mich eingenommen worden sind. Ich empfinde nun zwar eine natürliche Zuneigung zu dieser gewissen andern Seite und ein wohlangebrachtes Mitleid für ebendieselbe Seite, aber von Aufopferung meinerseits kann nicht mehr länger die Rede sein, Mr. Chuzzlewit. Das hieße zu große Anforderungen an mich stellen. Da habe ich denn doch zu viel Selbstachtung vor mir – schon als Braut des Mannes, der mich zum Altar führt.«

»Ihre Schwester hat sich durchaus nicht über Sie beklagt«, sagte Mr. Chuzzlewit; »übrigens steht sie jetzt im Begriff, mit mir zu gehen.«

»Es soll mich nur freuen, wenn es ihr endlich einmal nach Wunsch geht«; rief Miss Pecksniff und warf den Kopf zurück, »da kann man ihr ja von Herzen gratulieren. Ich wundere mich schließlich auch nicht, daß der heutige Tag ein schmerzliches Ereignis für sie bedeutet, aber meine Schuld ist es nicht, Mr. Chuzzlewit.«

»Miss Pecksniff«, sagte der alte Mann ruhig, »ich hätte es lieber gesehen, wenn Sie Ihrer Schwester ein herzlicheres Lebewohl gesagt hätten. Es hätte mich vielleicht mit Ihnen versöhnt. Früher oder später werden Sie gewiß einen Freund brauchen können.«

»Ich bitte um Verzeihung, Mr. Chuzzlewit«, unterbrach ihn Miss Pecksniff mit Würde, »aber alle meine Freundschaftsgefühle im Leben sind jetzt auf Augustus konzentriert. Solange Augustus mir gehört, brauche ich keinen Freund. Wenn Sie von Freundschaft sprechen, Sir, so muß ich Sie ein für allemal bitten, sich darüber mit Augustus zu verständigen. Das ist mein Begriff von der religiösen Feier, der ich in kurzer Frist mit Augustus am Altar beiwohnen werde. Ich trage zu keiner Zeit irgend jemandem Groll nach, und am allerwenigsten gebe ich solchen Gedanken in diesem Augenblick des Triumphs meiner Schwester gegenüber Raum. Ich wünsche ihr im Gegenteil alles Glück. Übrigens, da ich Augustus schuldig bin, bei einem Anlasse pünktlich zu sein, bei dem sich von ihm eine begreifliche Ungeduld voraussetzen läßt – ja wahrhaftig, Mrs. Todgers –, so muß ich jetzt um die Erlaubnis bitten, Sir, mich entfernen zu dürfen.«

Mit diesen Worten verschwand der Brauthut mit so viel Glanz und Würde, als es angesichts des Piqueunterrockes noch möglich war.

Mr. Chuzzlewit reichte Gratia seinen Arm, ohne ein Wort zu sagen, und führte sie hinaus. Mrs. Todgers mit im Winde rauschendem Sonntagsstaat begleitete sie an den Wagen, fiel Gratia beim Abschied um den Hals und lief dann schluchzend in ihr schmutziges Heim zurück. Äußerlich war die Brave mager und unscheinbar, aber ihr Herz war treu wie Gold. Vielleicht war der Samariter auch mager und unscheinbar – vielleicht fiel es auch ihm schwer, sich seinen Unterhalt zu erwerben.

Mr. Chuzzlewit folgte ihr mit den Blicken, bis sie die Haustüre hinter sich zugemacht hatte. Dann erst bemerkte er Mr. Tapley.

»Oh, Mark«, rief er, »ich habe Sie ja gar nicht gesehen. Nun, was gibt’s?«

»Das Allerwunderbarste, das man sich nur denken kann, Sir«, rief Mark ganz außer Atem, »ein Zusammentreffen ohnegleichen. Ich will hellblau anlaufen, wenn das da drüben nicht unsre beiden alten Nachbarn sind.«

»Was für Nachbarn?« rief der alte Herr und spähte zum Wagenfenster hinaus. »Wo denn?«

»Ich ging gerade auf und ab, und keine zehn Schritte von hier«, berichtete Mr. Tapley, »da kamen sie auf mich zu wie ihre eigenen Gespenster – für die ich sie übrigens auch hielt. Es ist das wundervollste Ereignis, das sich jemals zugetragen hat. Da hol mich doch gleich dieser und jener –«

»Von was reden Sie denn?« rief Mr. Chuzzlewit, von Marks Aufregung angesteckt. »Wo sind denn die Nachbarn?«

»Dort, Sir«, rief Mr. Tapley, »hier mitten in der City von London. Dort auf dem Stein. Dort sind sie, Sir. Ich werde sie doch kennen. Gott segne ihre braven Gesichter.«

Dabei deutete Mr. Tapley auf einen Mann und eine Frau in dem Monumenthof, eilte auf sie zu und umarmte sie abwechselnd wohl hundertmal.

»Nachbarn in Amerika, Nachbarn in Eden«, rief er dabei. »Nachbarn im Sumpf, Nachbarn im Busch, Nachbarn im Fieber. Wir beiden wären ohne sie gestorben.«

Mr. Chuzzlewit hatte kaum erfahren, wer die Leute waren, als er den Kutschenschlag weiß Gott wie aufsprengte, fast herausfiel und unter sie humpelte, als ob er, wie Mr. Tapley wahnsinnig geworden sei. Dann schüttelte er ihnen gleichfalls die Hände und legte auf jede nur mögliche Weise seine lebhafteste Freude an den Tag.

»Steigen Sie hinten auf!« rief er. »Steigen Sie auf, fahren Sie mit mir! Und Sie müssen sich auf den Bock setzen, Mark! Nach Hause, nach Hause!«

»Nach Hause, nach Hause!« jubelte Mr. Tapley und ergriff in einem Anfall von Begeisterung die Hand des alten Mannes. »Ganz meine Ansicht, Sir. Die Heimat soll leben. – Entschuldigen Sie, daß ich mir solche Freiheiten herausnehme, Sir, aber ich kann mir nicht helfen. Es blühe und gedeihe der ›Fidele Tapley‹! Alles sollen Sie bekommen, was im Hause zu kriegen ist, nur keine Rechnung nicht. – Also, nach Hause, nach Hause! Hurra!«

Und vorwärts ging’s, als der alte Herr wieder eingestiegen war. Und Marks Begeisterung verflog durchaus nicht auf dem Wege, sondern machte sich so zügellos und rücksichtslos Luft, als wären sie mitten in den Wiesen von Salisbury.

Die Hochzeitsgäste bei Todgers‘ begannen sich zu versammeln.

Mr. Jinkins, der einzige von den Kostgängern, der eingeladen war, fand sich zuerst an Ort und Stelle ein. Er trug einen funkelnagelneuen Anzug mit allerlei gewundenen Verzierungen um die Taschen herum, die der Kleiderkünstler extra zu Ehren des Tages erfunden hatte. Der unglückliche Augustus war selbst in bezug auf Mr. Jinkins nachsichtig geworden. Er hatte nicht genug Willenskraft mehr gehabt, sich seiner Einladung, die Miss Pecksniff so dringend befürwortet, zu widersetzen. »Meinetwegen soll er also kommen«, hatte er Miss Pecksniff gesagt. »Er war von jeher meine Todesklippe; soll er nur kommen. Haha! Jinkins soll nur kommen.«

Und Mr. Jinkins hatte sich mit tausend Freuden eingestellt; er war jetzt, wie gesagt, der erste am Platze. Einige Minuten lang hatte er keine andere Gesellschaft als das Frühstück, das im Empfangszimmer ungemein geschmackvoll aufgebaut war. Bald fand sich jedoch auch Mrs. Todgers ein, und dann folgten rasch aufeinander der ledige Vetter, der stark behaarte junge Gentleman und schließlich auch Mr. Spottletoe samt Gemahlin.

Mr. Spottletoe beehrte Mr. Jinkins mit großer Herablassung und Leutseligkeit. »Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte er, »und viel Glück und Segen.« Er war nämlich der Meinung, Mr. Jinkins sei der Glückliche.

Mr. Jinkins klärte sofort das Mißverständnis auf und verständigte die Herrschaften, daß er lediglich die Honneurs für seinen Freund Moddle mache, der nicht mehr im Hause wohne und noch nicht zugegen sei.

»Noch nicht da?« rief Mr. Spottletoe sehr erregt.

»Nein, noch nicht.«

»No Servus«, rief Mr. Spottletoe, »der fängt ja gut an. Scheint ein recht netter junger Mann zu sein! Möchte nur gerne wissen, wie’s kommt, daß jeder, der mit dieser Familie in Berührung kommt, sich eine grobe Ungebührlichkeit zuschulden kommen läßt. Tod und Teufel! Noch nicht da! Noch nicht da, um uns zu empfangen!«

Der Neffe mit der unterexponierten Visage meinte, der Herr warte vielleicht auf ein Paar neue Stiefel.

»Reden Sie nicht von Stiefeln, Sir!« verwies Mr. Spottletoe mit nicht zu hemmender Entrüstung. »Und wenn er in Pantoffeln oder barfuß kommen müßte, so gehörte es sich, daß er käme. Bringen Sie keine so dummen Entschuldigungen für Ihren Freund vor, Sir!«

»Er ist doch gar nicht mein Freund!« entschuldigte sich der Neffe. »Hab ihn doch gar nie gesehen.«

»Also, dann reden Sie nicht!« rief Mr. Spottletoe.

In diesem Augenblick ging die Türe auf, und Miss Pecksniff wankte, von ihren drei Brautjungfern gestützt, herein. Die starkgeistige Dame bildete die Nachhut. Sie hatte bisher draußen gewartet, um im richtigen Moment den Effekt zu verderben.

»Wie befinden Sie sich, Madame?« wendete sich Mr. Spottletoe im Tone feindseliger Herausforderung zu ihr. »Ich glaube, die Anwesenheit meiner Gattin dürfte Ihnen doch nicht entgangen sein? Oder?«

Die starkgeistige Dame bedauerte mit der Miene des größten Interesses Mrs. Spottletoes Gesundheitszustand, da die liebe Frau so schmal geworden sei, daß man sie de facto übersehen müsse.

»Na, sie ist wenigstens eher zu sehen als der Bräutigam, Madame«, entgegnete Mr. Spottletoe gereizt. »Das heißt, wenn er nicht gerade seine Aufmerksamkeit einem besonderen Zweige dieser Familie widmet, was übrigens ganz im Einklang mit seinem gewöhnlichen Benehmen stehen würde.«

»Wenn Sie mich meinen, Sir«, fing die Dame mit dem männlichen Geiste an –

»Bitte, bitte«, fiel ihr Miss Pecksniff ins Wort, »lassen Sie Augustus in diesem feierlichen Moment meines und seines Lebens nicht zum Anlaß der Störung jener Harmonie werden, die er und ich stets aufrechtzuerhalten wünschen. Augustus ist bisher noch keinem von meinen Verwandten vorgestellt worden. Er wünschte es nicht.«

»Nun, dann erlauben Sie mir die Bemerkung«, rief Mr. Spottletoe wütend, »daß der Mann, der nach der Ehre trachtet, sich dieser Familie anzuschließen, und nicht ›haben will‹, daß er ihren Mitgliedern vorgestellt werde – ein unverschämter Laffe ist. Das ist meine Ansicht von ihm.«

Die starkgeistige Dame gab mit größter Sanftmut zu, sie sei beinahe derselben Meinung, und ihre drei Töchter erklärten laut, es sei »eine Schändlichkeit«.

»Sie kennen Augustus nicht!« rief Miss Pecksniff unter Tränen. »Nein, wirklich, Sie kennen ihn nicht. Er ist die Demut und Milde selbst. Warten Sie nur, bis Sie ihn sehen, und ich bin überzeugt, er wird sich sofort Ihrer aller Herzen gewinnen.«

»Es handelt sich hier nur um die Frage«, rief Mr. Spottletoe dazwischen und verschränkte die Arme, »wie lange wir hier noch warten sollen! Ich bin an so etwas nicht gewöhnt! Ich verlange allen Ernstes zu wissen, wie lange man uns noch zumutet, hier zu warten.«

»Mrs. Todgers! Mr. Jinkins!« rief Charitas. »Ich fürchte, es liegt hier ein Mißverständnis vor. Wahrscheinlich ist Augustus direkt in die Kirche gegangen.«

Das war allerdings möglich, und da die Kirche sich in der Nähe befand, eilte Mr. Jinkins fort, um Mr. Moddle zu suchen. Mr. George Chuzzlewit, der ledige Vetter, begleitete ihn, da ihm alles lieber war, als in der Nähe eines Frühstücks zu sitzen, ohne zugreifen zu dürfen. Aber sie kamen beide zurück und brachten keine andere Nachricht mit, als daß der Küster sagen lasse, wenn sie diesen Morgen noch getraut werden wollten, würden sie gut tun, sich zu beeilen, da der Pfarrer durchaus keine Lust habe, den ganzen Tag zu vertrödeln. Die Braut wurde jetzt sehr unruhig – allen Ernstes unruhig. »Gott im Himmel, was konnte vorgefallen sein. Augustus! Geliebter Augustus!«

Mr. Jinkins machte sich erbötig, eine Droschke zu nehmen und in der neu möblierten Wohnung nachzusehn. Auch die starkgeistige Dame sprang Miss Pecksniff mit Trost bei. Es sei das ein kleines Pröbchen von dem, was ihrer in der Ehe harre, sagte sie. Das sei ganz gut und treibe ihr die Rosinen aus dem Kopf. Auch die rotnasigen drei Töchter sparten nicht mit Trostesworten. Vielleicht komme er schließlich doch noch, sagten sie, und der Neffe mit dem unterexponierten Gesicht warf etwas hin, was so klang wie: Augustus sei schon »vorzeitig ins Wasser gesprungen«. Mr. Spottletoes Wut trotzte allen Bitten und Vorstellungen seiner Gattin. Alle sprachen zugleich, und überall suchte sich Miss Pecksniff mit gerungenen Händen Trost, ohne welchen zu finden, als endlich Mr. Jinkins, der unter der Türe dem Postboten begegnet war, mit einem Brief zurückkehrte und ihn ihr aushändigte.

Miss Pecksniff riß das Kuvert auf, warf einen Blick auf das Schreiben, stieß einen durchdringenden Schrei aus, warf es auf den Boden und fiel in Ohnmacht.

Man hob den Brief auf. Die Anwesenden drängten sich wie eine Herde Schafe zusammen, sahen einander über die Achsel und lasen, wie folgt:

Gravesend, Schoner »Cupido«. Mittwoch abend.

Ewig gekränkte Miss Pecksniff!

Ehe diese Zeilen Sie erreichen, ist der Unterzeichnete, wenn nicht tot – so doch direkt auf dem Wege nach Van Diemens Land.

Es hat keinen Zweck, mich zu verfolgen. Lebendig wird man mich nicht bekommen.

Die Last – dreihundert Registertonnen, verzeihen Sie, daß ich in meiner Betäubung von dem Schiff spreche –, die auf meinem Herzen gelegen hat, war fürchterlich. Oft, wenn Sie meine Stirne mit Küssen bedeckten, um mich zu beschwichtigen, haben Selbstmordgedanken mein Gehirn durchzuckt, und ebensooft – so unglaublich es auch scheinen mag – habe ich die Idee wieder verworfen.

Ich liebe eine andre. Aber die gehört jetzt einem andern. Alles, was ich liebe, scheint überhaupt einem andern zu gehören. Nichts in der Welt habe ich mehr, nicht einmal meine Stelle, die ich mir verscherzte – indem ich übereilterweise so auf und davon gelaufen bin.

Wenn Sie mich je geliebt haben, so hören Sie jetzt meine letzte Bitte – die letzte Bitte eines elenden, vernichteten Flüchtlings: Schicken Sie beiliegenden Schlüssel – es ist der Schlüssel zu meinem Pult – aufs Kontor, und zwar expreß. Adresse: Bobb & Cholberry – pardon, ich wollte schreiben: Chobb & Bolberry – aber mein Geist ist bereits vollkommen umnachtet. Ich habe ein Federmesser – mit einem Hirschhornheft in Ihrem Nähetui gelassen, bezahlen Sie damit den Boten. Möge es ihn glücklicher machen, als ich gewesen bin.

Ach, Miss Pecksniff, warum haben Sie mich nicht in Ruhe gelassen! War es nicht grausam – grausam von Ihnen? O mein Gott, waren Sie denn nicht Zeuge meiner Empfindungen – haben Sie denn nicht die Tränen in meinen Augen gesehen – haben Sie mir nicht selbst vorgeworfen, daß ich an jenem schrecklichen Abend, als wir uns zum letzten Male sahen, mehr als gewöhnlich geweint hätte? Es war in demselben Hause wo ich einst friedlich wohnte – in Mrs. Todgers‘ Gesellschaft.

Aber es war bestimmt – im Talmud steht’s geschrieben –, daß Sie sich selbst in das unerforschliche und düstre Schicksal verstricken sollten, das zu erfüllen meine Sendung ist, und das sich sogar jetzt um meine Schläfen windet. Ich will Ihnen keine Vorwürfe machen, denn ich habe Ihnen viel Leid zugefügt. Möge das angeschaffte Mobiliar Ihnen als Schadenersatz dienen.

Leben Sie wohl! Werden Sie die stolze Braut eines Herzogs und vergessen Sie mich! Möge es lange dauern, bis Sie das Leid und den Schmerz kennenlernen, mit dem ich mich unterschreibe – mitten unter dem rohen Geheul – der Matrosen – als Ihr unveränderlicher, jedoch niemals der Ihrige gewesene

Augustus.

Die Herrschaften lasen so gierig den Brief und dachten so wenig an Miss Pecksniff, als ob sie die allerletzte auf Erden sei, die sein Inhalt etwas angehe. Aber Miss Pecksniff war allen Ernstes ohnmächtig geworden.

Die bittere Kränkung, das entsetzliche Gefühl, Zeugen – und noch obendrein solche Zeugen – selbst dazu eingeladen zu haben, der Gedanke, daß die starkgeistige Dame und die rotnasigen Töchter gerade in der Stunde, in der sie sie hatte demütigen wollen, triumphieren sollten! nein, das war unerträglich. Miss Pecksniff war allen Ernstes in Ohnmacht gefallen.

Was dröhnen da für erhabene Töne durch die Luft? Was ist das für eine dämmrige Stube?

Und wer ist die freundliche Gestalt, die dort vor der Orgel sitzt? Tom ist’s, der gute alte Freund! Sein Haar ist frühzeitig grau geworden, trotzdem er seine Tage sorglos und friedvoll inmitten seiner alten Freunde verbracht hat. Aus den Tönen, mit denen er das Zwielicht zu begrüßen pflegt, spricht die Musik seines Herzens und erzählt sich die Geschichte seines Lebens von selbst.

Dein Leben verläuft still, ruhig und glücklich, Tom. In deinen sanften Melodien mag so etwas durchklingen wie das Gedenken an deine alte Liebe, aber es ist eine angenehme, milde, süßflüsternde Erinnerung, ähnlich der, mit der wir hin und wieder der Toten gedenken. Sie quält und schmerzt dich nicht.

Rühre die Tasten leise, Tom, so leise, wie du willst, und doch wird deine Hand nicht halb so leicht auf das Instrument niederfallen, wie sie gegen deinen alten Tyrannen ist, der jetzt so tief, tief gesunken ist. Und nie wird das Instrument deinem Anschlage mit so hohlem heiserm Tone antworten, wie er es immer zu tun pflegt.

Ein betrunkener, bettelhafter Winkelschreiber namens Pecksniff mit seiner zänkischen, altjüngferlichen Tochter verfolgt dich und lauert auf dich, Tom, bettelt dich an und erinnert dich, daß er dein Glück besser begründet habe als sein eigenes. Dann versäuft er das Geld und erzählt den Zechkumpanen von seiner früheren Freigebigkeit gegen dich und deiner jetzigen Undankbarkeit. Und dann zeigt er auf die abgeschabten Ellbogen in seinen Ärmeln, legt seine sohlenlosen Schuhe auf die Bank und bittet seine Zuhörer, sich selbst zu überzeugen, wie es ihm ergehe, während du dahinlebest in Saus und Braus. Alles das weißt du, Tom. Und doch hast du Nachsicht mit ihm.

Mit lächelnder Miene gehst du jetzt allmählich in eine andere Tonart über, zu einem raschern, fröhlichen Takt, und kleine Füßchen fliegen bei dieser Musik, dich zu umtanzen, und leuchtende junge Augen blicken in dein Antlitz, und von allen am meisten liebst du ein kleines Geschöpfchen, Tom – ihr Kind, nicht Ruths –, du blickst ihm nach, wie es dich umtanzt und umhüpft; und wer ist bisweilen verwundert, dich so gedankenschwer zu sehen, und klettert auf dein Knie, um seine kleine Wange an die deine zu legen? – Wer liebt dich, Tom, mehr als alle übrigen, wenn das möglich ist? Wer wollte einmal in kranken Tagen von niemandem als von dir gepflegt sein und war sofort still und nicht mehr ungeduldig, Tom, als du neben seinem Bettchen saßest?

Und jetzt gehst du zu einer feierlichen Melodie über – zu einer Melodie, die alten Freunden und verklungenen Zeiten gewidmet ist. Und während deine Hand zögernd die Tasten berührt und die weichen Harmonien anschwellen, steigen Gesichte von Freunden und alten Zeiten vor dir auf. Der Geist jenes toten alten Mannes, der dir deine Wünsche von den Augen ablas, und dich nie hochzuhalten aufgehört hat, ist darunter. Und mit ruhigem Antlitz wiederholt er die Worte, die er auf seinem Totenbett zu dir sprach, und segnet dich.

Und aus dem Garten, Tom, den Kinderhände mit Blumen bestreut haben, kommt deine Schwester, die kleine Ruth, so leichtfüßig und leichtherzig wie in alten Tagen, um an deiner Seite Platz zu nehmen. Von der Gegenwart und der Vergangenheit, mit der sie in allen deinen Gedanken so zärtlich verbunden ist, schwingen sich deine Melodien zur Zukunft auf. Und wie es in und außer dir widerhallt, so blickt dein leuchtendes Gesicht auf sie mit einer Liebe und einem Vertrauen nieder, die über das Grab hinausgehen. Die erhabene Musik umgibt sie mit einer Wolke von Melodien, hilft jeden Gedanken an irdische Trennung tilgen und hebt euch beide, Tom, zum Himmel empor.

6. Kapitel


6. Kapitel

Enthält nebst wichtigen Pecksniffschen und architektonischen Dingen einen ausführlichen Bericht über die Fortschritte, die Mr. Pinch in dem Vertrauen und der Freundschaft des neuen Zöglings machte

Es war Morgen, und die schöne Aurora, von der schon so viel geschrieben, gesagt und gesungen worden, zupfte mit ihren Rosenfingern Miss Pecksniff an der Nase. Die rosenfarbene Göttin hatte nun einmal schon die Gewohnheit, die schöne Cherry jeden Morgen so zu begrüßen, oder, prosaischer ausgedrückt, die Nasenspitze des süßen Mädchens war jedesmal um die Frühstücksstunde lebhaft gerötet, sozusagen: frostig; während sich ein ähnliches Phänomen in der Laune der jungen Dame zeigte, die dann etwas scharfer und sauertöpfischer Qualität war und etwas Essigartiges hatte.

Diese überschüssige Säure führte gewöhnlich zu allerhand kleinen Folgen, als da waren: bedeutende Verwässerung von Mr. Pinchs Tee, ungewöhnliche Verkürzung seiner Person hinsichtlich der Butter und dergleichen. Am Morgen nach dem Empfangsbankett jedoch ließ sie ihn so frei und ungehindert mit Speise und Trank schalten und walten, daß er förmlich in Verwirrung geriet und sich wie ein unglücklicher Gefangener vorkam, der erst im hohen Alter seine Freiheit wiedererlangt und von ihr keinen rechten Gebrauch mehr zu machen weiß. Es fehlte ihm die gütige Hand, die ihm sonst immer sein Scheibchen Brot abschnitt, ihn hinsichtlich des Zuckers mit einem Stückchen abspeiste oder ihm die übrigen so liebgewordenen kleinen Aufmerksamkeiten erwies. Auch lag etwas fast Schauerliches in der Ungeniertheit des neuen Zöglings, der mit der größten Kaltblütigkeit Mr. Pecksniff um das Brot »bemühte« und sich sogar zu einer Schnitte von dem ausschließlich dem Herrn vom Hause reservierten Privatschinken verhalf. Und dabei schien er überdies zu glauben, das alles sei ganz in der Ordnung und sein Kollege werde seinem Beispiele folgen. Wenigstens ging das deutlich aus seiner Bemerkung hervor, »warum er denn nicht esse?« – Ein Wort, so inhaltsschwer und fürchterlich, daß Tom unwillkürlich die Augen niederschlug und sich wie ein Frevler an Mr. Pecksniffs Güte vorkam. Wirklich, das Entsetzen, eine so rücksichtslose Bemerkung vor der versammelten Familie an sich gerichtet zu wissen, mußte an sich schon wie ein Frühstück wirken. Der Bissen quoll ihm im Munde, obgleich er vielleicht noch nie so hungrig gewesen war wie gerade heute.

Die jungen Damen jedoch und auch Mr. Pecksniff blieben trotz dieser schweren Prüfung unverändert guter Laune, und es schien eine Art geheimen Einverständnisses unter ihnen zu herrschen. Als das Frühstück beinahe vorüber war, erklärte Mr. Pecksniff lächelnd die Ursache dieser allgemeinen Fröhlichkeit.

»Es geschieht nicht oft, Martin«, sagte er, »daß wir – meine Töchter und ich – unser ruhiges Haus verlassen, um uns in den Wirbel von Lustbarkeiten, die es draußen in der Welt gibt, zu stürzen. Aber heute gedenken wir es dennoch zu tun.«

»Wirklich, Sir?« rief der neue Schüler.

»Ja«, versetzte Mr. Pecksniff und klopfte auf einen Brief, den er seiner Brusttasche entnommen hatte. »Ich bin nach London bestellt. – In Berufsangelegenheiten, mein lieber Martin; – in Berufsangelegenheiten. Ich habe nun meinen Mädchen schon lange versprochen, sie mitzunehmen, wenn wieder einmal ein solcher Auftrag an mich erginge. Wir fliegen heute abend mit der Landkutsche aus – wie weiland Noahs Taube, mein lieber Martin –, und es wird wohl eine Woche vergehen, ehe wir unsre Ölzweige wieder in der Flur abladen. Wenn ich sage: ›Ölzweige‹«, erklärte Mr. Pecksniff, »so verstehe ich darunter unser bescheidenes Reisegepäck.«

»Ich hoffe, die jungen Damen werden viel Vergnügen auf ihrem Ausfluge haben«, sagte Martin.

»Oh, das können Sie sich denken!« rief Gratia und klatschte in die Hände. »Denk nur, Cherry, Herzensschwester: London! – Schon der Gedanke!«

»Feuriges Kind!« säuselte Mr. Pecksniff träumerisch. »Und doch liegt eine wehmütige Süßigkeit in diesen jugendlichen Hoffnungen! Es liegt etwas Angenehmes darin, zu wissen, daß sie nie in Erfüllung gehen können. Ich erinnere mich noch wie heute, daß ich in den Tagen meiner Kindheit wähnte, die Mixed Pickles wüchsen auf den Bäumen und jeder Elefant würde mit einer unbezwingbaren Burg auf dem Rücken geboren. Dann fand ich, daß sich die Sache anders verhielt; – und doch waren mir diese Phantasiegebilde ein Trost und eine Stärkung in den Stunden der Anfechtung. Selbst als ich die schmerzliche Entdeckung machen mußte, ich habe eine Viper am Busen genährt und nicht einen menschlichen Zögling, selbst in diesen schmerzvollen Stunden haben sie mich aufrechterhalten.«

Bei dieser schrecklichen Anspielung auf John Westlock quoll Mr. Pinch abermals der Bissen im Munde, denn er hatte erst heute morgen einen Brief von ihm erhalten, was Mr. Pecksniff natürlich recht gut wußte.

»Sie werden achtzugeben haben, mein lieber Martin«, sagte Mr. Pecksniff, seinen frühern heitern Ton wieder aufnehmend, »daß das Haus in unsrer Abwesenheit nicht davonläuft. Wir übergeben alles Ihrer Obhut. Wir haben kein Geheimnis vor Ihnen. Alles liegt frei und offen da. Nicht wie bei dem jungen Mann im morgenländischen Märchen. Nicht wie diesem, mein lieber Martin, ist es Ihnen verboten, gewisse Winkel dieses Hauses zu betreten. Sie werden im Gegenteile ersucht, sich’s überall so bequem zu machen, wie Sie nur wollen. Seien Sie fröhlich und lassen Sie sich’s gutgehen, lieber Martin, und schlachten Sie meinetwegen auch das Mastkalb!«

Ohne Zweifel hatte also der Treffliche durchaus nichts dagegen, wenn der junge Mann was immer für ein Kalb im Hause, fett oder mager, schlachtete und briet; da indes zufälligerweise kein solches Tier auf Mr. Pecksniffs Weideland graste, so mußte man diese Erlaubnis offenbar eher für eine höfliche Phrase als für eine buchstäblich zu nehmende Einladung halten. Sie bildete das Schlußornament der Unterhaltung, denn kaum hatte sie Mr. Pecksniff von sich gegeben, stand er auf und ging nach dem Treibhause architektonischen Genies, nämlich nach dem Vorderstübchen im zweiten Stock, voran.

»Lassen Sie mal sehen«, begann er und stöberte unter den Plänen herum, »wie Sie sich während meiner Abwesenheit am besten beschäftigen können. Gesetzt, Sie arbeiteten eine Idee zu einem Monument für den Lord-Mayor von London aus, oder einen Grabstein für einen Sheriff, allenfalls auch einen Kuhstall für den Meierhof eines Landedelmannes. – – Nun, wissen Sie was«, fügte er hinzu, faltete die Hände und sah seinen jungen Vetter mit nachdenklichem Interesse an, »ich möchte mich gern überzeugen, wie Sie sich einen Kuhstall denken.«

Martin schien diese Aufgabe keineswegs zu behagen.

»Oder einen Brunnen«, fuhr Mr. Pecksniff fort, »es ist eine nette, sozusagen keusche Arbeit. Auch habe ich gefunden, daß ein Laternenpfahl sehr geeignet ist, den Geist zu veredeln und ihm eine klassische Richtung zu geben. Ein ornamentaler Schlagbaum zum Beispiel übt einen merkwürdigen Einfluß auf die Einbildungskraft aus. – Was meinen Sie dazu, wenn Sie mit einem Schlagbaume anfingen?«

»Ganz, wie es Ihnen beliebt«, brummte Martin unschlüssig.

»Halt«, rief Mr. Pecksniff. »Ich hab’s. Da Sie ehrgeizig und ein geschickter Zeichner sind, so sollen Sie sich – ha, ha! – so sollen Sie sich an diesen Entwürfen zu einem Elementarschulgebäude versuchen, wobei Sie natürlich Ihren Plan den gedruckten Bedingungen anzupassen hätten. Auf mein Wort«, rief er aufgeräumt, »ich bin sehr neugierig, was Sie aus der Elementarschule machen werden. Wer weiß, ein junger Mann von Ihrem Geschmack verfällt vielleicht auf etwas zwar an und für sich Unausführbares und Unmögliches, das sich aber schließlich doch in eine Form bringen läßt. Allerdings, mein lieber Martin, in den letzten vervollkommnenden Strichen allein gibt sich lange Erfahrung und vieljähriges Studium zu erkennen. – – – Ha, ha, ha! Es wird mir wahrhaftig«, fuhr Mr. Pecksniff fort und klopfte seinem Freund launig auf den Rücken, »es wird mir wahrhaftig einen Riesenspaß machen, zu sehen, wie Sie mit der Elementarschule zurechtkommen.«

Martin übernahm bereitwillig die Arbeit, und Mr. Pecksniff ging sofort daran, ihm die zur Ausführung nötigen Materialien anzuvertrauen; dabei erging er sich immerwährend im Ausmalen des magischen Effektes, den oft ein paar Endstriche von der Hand eines Meisters hervorbrächten. Dieser Effekt war in der Tat – wie gewisse Leute, nämlich die alten Feinde des trefflichen Mannes, behaupteten – manchmal fast wunderbar gewesen. Oft hatte Mr. Pecksniff lediglich durch geniales Hinzufügen eines zweiten Hinterfensters, einer Küchentüre, eines halben Dutzends Treppen oder sogar nur einer Dachrinne den Entwurf eines Zöglings zu seiner eignen Arbeit gemacht und namhafte Beträge dafür eingesteckt. Doch das ist eben die Zauberkraft des Genies, daß alles, was seine Hand berührt, sich in Gold verwandelt!

»Und wenn Sie Ihren Geist durch eine Abwechslung erquicken wollen«, schloß Mr. Pecksniff, »so wird Sie Thomas Pinch in der Kunst unterweisen, den Garten zu vermessen, das Niveau des Weges zwischen dem Hause und dem Wegweiser auszurechnen oder eine andre praktische und angenehme Aufgabe zu lösen. Im Hinterhof befindet sich ein Karren voll Ziegelsteinen und etlichen Dutzenden alter Blumentöpfe. Wenn Sie, mein lieber Martin, sie in einer Weise aufschichten würden, die mich bei meiner Rückkehr etwa an die St.-Peters-Kirche in Rom oder an die Sophienmoschee in Konstantinopel erinnert, so wäre dies nicht nur sehr lehrreich für Sie, sondern auch eine hübsche Überraschung für mich. – – Und nun ganz vorderhand von Berufssachen. Es wird mir ein Vergnügen sein, während ich meinen Mantelsack packe, unten in meinem Zimmer ein paar Privatangelegenheiten mit Ihnen zu besprechen.« Martin begleitete ihn, und sie blieben wohl eine Stunde oder so in geheimer Konferenz beisammen, während Tom oben wartete. Als der junge Mann zurückkehrte, war er sehr schweigsam und finster und blieb auch den ganzen Tag über so, so daß Tom, nachdem er ein paarmal versucht hatte, eine gleichgültige Unterhaltung anzuknüpfen, nicht so unzart sein wollte, sich ihm weiter aufzudrängen, und daher lieber schwieg.

Übrigens würde Tom, selbst wenn sein neuer Freund noch so redselig gewesen wäre, nicht Muße gehabt haben, viel Worte zu machen, denn erst rief ihn Mr. Pecksniff hinunter und trug ihm auf, sich auf den Koffer zu stellen und antike Statuen zu mimen, damit der Deckel zuginge, und dann befahl ihm Miss Charitas, ihren Reisekorb mit Stricken zuzubinden. Dann wieder ließ sich Miss Gratia von ihm eine Hutschachtel ausbessern; dann galt es ein möglichst ausführliches Verzeichnis des ganzen Gepäcks zu schreiben, dann alles die Treppe hinuntertragen zu helfen, die Transportschubkarren bis zu dem alten Wegweiser am Ende der Gasse zu beaufsichtigen, und schließlich mußte er auf die Ankunft der Kutsche warten. Kurz, sein Tagewerk würde selbst einem Lastträger von Beruf hübsch sauer geworden sein, doch bei seinem guten Willen empfand er es nicht so, und während er auf dem Gepäck saß und wartete, bis endlich die Pecksniffs, von dem neuen Schüler begleitet, die Gasse herunterkommen würden, hüpfte ihm das Herz vor Freude und Hoffnung, sein Wohltäter werde mit ihm zufrieden sein.

»Ich fürchtete schon«, sagte er, zog einen Brief aus der Tasche und wischte sich mit seinem Sacktuch die Stirne ab – denn trotz des kalten Tages war es ihm doch bei der Arbeit recht heiß geworden –, »ich würde keine Zeit finden, die paar Zeilen zu schreiben. Und das wäre jammerschade gewesen. Wenn man nicht reich ist, kommt das Postporto ernstlich in Betracht. Das arme Mädchen wird sich freuen, von mir zu hören, daß Pecksniff immer noch so gütig zu mir ist. Ich hätte wohl John Westlock bitten können, sie aufzusuchen und ihr alles Schöne von mir auszurichten, aber ich fürchtete, er könne Pecksniff bei ihr schlechtmachen, und das hätte sie beunruhigt. Und dann sind ihre Leute so eigen, und ein Besuch eines jungen Mannes wie John würde vielleicht ein schiefes Licht auf sie geworfen haben. – – Arme Ruth!«

Tom Pinch schien ein wenig geneigt, sich für eine kleine Weile in melancholischen Gedanken zu ergehen, aber bald tröstete er sich und gab sich wieder seinen Selbstbetrachtungen hin:

»Ich bin wirklich ein sauberer Patron, wie John immer sagte – ein lieber Kerl! Nur schade, daß er Pecksniff nicht mehr schätzte. – Statt das Getrenntsein von ihr so schmerzlich zu empfinden, sollte ich für das außerordentliche Glück dankbar sein, das mich hierhergeführt hat. Meiner Treu, ich muß wirklich mit einem silbernen Löffel im Mund auf die Welt gekommen sein, daß ich Pecksniff in den Weg lief. Und jetzt wieder das Glück, das ich bei dem neuen Schüler habe! Noch nie ist mir ein so freundlicher, nobler und freimütiger Mensch vorgekommen. Im Handumdrehen waren wir die besten Kameraden. Und außerdem ist er ein Verwandter von Pecksniff und ein gescheiter, prächtiger junger Mensch, der sich so leicht seinen Weg durch die Welt bahnen wird wie ein Wurm den seinen durch ein Stück Käse. – – Doch da kommt er ja und schreitet die Gasse herunter, als wäre die Erde schon sein eigen.«

Wirklich kam auch Martin gerade des Weges, und zwar anscheinend nicht im mindesten außer sich, weder durch die Ehre, Miss Gratia Pecksniff am Arme führen zu dürfen, noch durch den zärtlichen Abschied, den die junge Dame von ihm nahm. Miss Charitas und Mr. Pecksniff gingen hinterdrein. Da in diesem Augenblick auch die Postkutsche ankam, verlor Tom keine Zeit und ersuchte seinen Lehrer eiligst um gütige Besorgung seines Briefes.

»Oh!« sagte Mr. Pecksniff und warf einen Blick auf die Adresse. »An Ihre Schwester, Thomas? Ja, gewiß. Soll geschehen, Mr. Pinch. Seien Sie unbesorgt. Sie soll ihn zuverlässig erhalten, Mr. Pinch.«

Er gab dieses Versprechen mit so herablassender Gönnermiene, daß Tom tief fühlte – es war ihm dies vorher gar nicht in den Sinn gekommen –, er habe um etwas außerordentlich Großes gebeten, weshalb er sich überschwenglich bedankte. Die beiden Misses Pecksniff waren natürlich bei der bloßen Erwähnung von Mr. Pinchs Schwester höchlichst ergötzt. Unglaublich! Schon der Gedanke, es könne auch eine Miss Pinch geben! Ha ha.

Tom freute sich herzlich über ihre Heiterkeit. War es doch wiederum ein Beweis ihres Wohlwollens und ihrer Teilnahme für ihn. Er lachte daher ebenfalls, rieb sich die Hände, wünschte ihnen eine angenehme Reise und glückliche Heimkehr; mit einem Wort, er war die Fröhlichkeit selbst. – Als die Kutsche dahinrollte, die »Ölzweige« auf dem Bock und die Taubenfamilie im Innern, blieb er noch winkend und sich verbeugend stehen – über das ungewöhnlich liebenswürdige Benehmen der jungen Damen so erfreut, daß er für den Moment gar nicht auf Martin Chuzzlewit achtete, der gedankenvoll am Wegweiser lehnte und, seit er seiner schönen Last losgeworden, kaum vom Boden aufgeblickt hatte.

Die tiefe Stille, die auf die geräuschvolle Abfahrt der Kutsche folgte, sowie die belebende scharfe Luft des Winternachmittags weckten beide fast zu gleicher Zeit aus ihrem Grübeln. Wie verabredet kehrten sie um und gingen Arm in Arm zum Hause zurück.

»Wie verstimmt Sie sind!« sagte Tom. »Was fehlt Ihnen denn?«

»Nichts, was der Rede wert wäre. Sehr wenig mehr als gestern, und doch hoffentlich viel mehr, als es morgen der Fall sein wird. Ich bin mißgelaunt, Pinch.«

»Oh«, rief Tom, »schade. Und ich bin gerade heute so vortrefflich aufgelegt. Ich hätte vielleicht einen bessern Gesellschafter abgeben können als sonst. – Es war doch sehr hübsch von Ihrem Vorgänger John, daß er an mich geschrieben hat – meinen Sie nicht?«

»Nun ja«, brummte Martin gleichgültig. »Ich hätte geglaubt, jetzt, wo er mitten im Vergnügen steckt, würde er gar keine Zeit übrig haben, an Sie zu denken, Pinch.«

»Genau dasselbe habe ich auch geglaubt«, rief Tom. »Aber nein, er hält Wort und schreibt: ›Mein lieber Pinch, ich denke oft an dich‹ und was dergleichen freundliche Worte mehr sind.«

»Er muß ein verteufelt gutmütiger Kerl sein«, sagte Martin etwas verdrießlich; »er kann das doch nicht wirklich im Ernst meinen.« »Wie? Sie glauben – –?« fragte Tom und sah seinem Kollegen forschend ins Gesicht. »Sie meinen, er schreibt das – – bloß so?«

»Nun, ist es denn wahrscheinlich«, versetzte Martin ernst, »daß ein junger Mann, der kaum diesem Zwinger entwischt und jetzt in London frei und Herr seiner Zeit und Vergnügungen ist, Muße oder Lust haben kann, gern an jemanden oder etwas zurückzudenken, das er hier zurückgelassen hat? Fragen Sie sich selbst, Pinch, ob das besonders wahrscheinlich ist.«

Nach kurzem Besinnen gab Mr. Pinch in betrübtem Tone zu, daß so etwas anzunehmen allerdings unvernünftig sei. Übrigens müsse das Martin ohne Zweifel besser wissen.

»Natürlich weiß ich’s besser«, bemerkte Martin.

»Ja, ich fühle das«, gestand Mr. Pinch sanft. »Ich fühle das.«

Dann verfielen beide wieder in tiefes Schweigen, bis sie zu Hause anlangten. Es war inzwischen dunkel geworden.

Nun hatte Miss Charitas in Erkenntnis der Unmöglichkeit, die Überreste des gestrigen Abendschmauses in der Kutsche mitzunehmen oder sie auf künstlichem Wege bis zur Rückkehr der Familie genießbar zu erhalten, alles auf ein paar Tellern offen stehen lassen. So winkte denn den beiden jungen Leuten das hohe Glück, sich im Wohnzimmer über zwei chaotische Haufen von Speiseüberbleibseln, bestehend aus ausgetrockneten Orangenschnittchen, einigen vertrockneten Sandwiches, unterschiedlichen zerbröckelten Trümmern des genealogischen Kuchens und mehreren ganzen Kapitänszwiebacken, hermachen zu dürfen. Und damit es zur Würze dieser Leckereien nicht an einem auserlesenen Labetrunke fehle, waren die Neigen der zwei Flaschen Johannisbeerwein zusammengegossen und mit einem Papierstöpsel zugepfropft worden, so daß zu einem lukullischen Mahle nichts fehlte.

Martin Chuzzlewit betrachtete diese prunkhaften Vorbereitungen mit tiefster Verachtung, schürte (zum größten Schaden für Mr. Pecksniffs Kohlenvorrat) das Feuer zu einer hellen Flamme an und setzte sich verdrießlich in den bequemsten Sessel, den er finden konnte, davor. Um sich besser in die kleine Kaminecke, die ihm frei blieb, drücken zu können, ließ sich Mr. Pinch auf Miss Gratias Schemel nieder, setzte sein Glas auf den Ofenteppich, nahm seinen Teller aufs Knie und fing an, sich gütlich zu tun.

Hätte Diogenes wieder aufleben, sich samt seinem Faß in Mr. Pecksniffs Wohnstube rollen und Tom Pinch sehen können, wie er, Teller und Glas vor sich, auf Gratias Schemel kauerte, so wäre es ihm auch in der sauertöpfischsten Stimmung unmöglich gewesen, ein gutmütiges Lächeln zu unterdrücken. Toms tiefe Zufriedenheit, der Hochgenuß, mit dem er sich über die dürren Sandwiches hermachte, die ihm wie Sägemehl im Munde zerbröckelten, das unaussprechliche Behagen, mit dem er den scharfen Wein tropfenweis schlürfte und dann mit den Lippen schmatzte, als wäre es eine Sünde, auch nur ein Atom seines köstlichen Wohlgeschmackes zu verlieren, der Blick, womit er hin und wieder, das Glas in der Hand, innehielt, im Stillen Toaste ausbringend, und dann der ängstliche Schatten, der sein zufriedenes Gesicht überflog, wenn seine Blicke auf ihrer entzückten Wanderung durch das trauliche Gemach plötzlich der finsteren Miene seines Gefährten begegneten – kein Zyniker der Welt, und hätte er den Menschenhaß eines Greifen in der Brust getragen, wäre imstande gewesen zu widerstehen.

So mancher würde vielleicht Tom auf den Rücken geklopft, ihm mit einem Glas des Johannisbeerweines, obgleich er saurer war als der schärfste Weinessig, Bescheid getan – ja, ihn sogar wohlschmeckend gefunden haben. Andere hätten vielleicht seine ehrliche Hand ergriffen und ihm für die Lehre gedankt, die er ihnen mit seinem einfachen Wesen gegeben. Einige würden mit ihm, andere über ihn gelacht haben – und zur letzteren Klasse gehörte auch Martin Chuzzlewit, der, unfähig, sich länger zurückzuhalten, in ein langes und lautes Gelächter ausbrach.

»Recht so«, sagte Tom und nickte beifällig. »Kopf hoch! Das ist das Richtige!«

Über diese Aufmunterung mußte der junge Martin abermals lachen.

»Ich habe wahrhaftig noch nie einen so närrischen Kauz wie Sie gesehen, Pinch!« rief er, als er wieder zu Atem gekommen war.

»Wirklich nicht? Nun, ich glaub’s Ihnen gern, daß Sie mich etwas sonderbar finden. Ich habe eben noch fast gar nichts von der Welt gesehen und Sie wahrscheinlich schon sehr viel?« »Ziemlich viel für mein Alter«, gestand Martin, rückte seinen Stuhl noch näher an das Feuer und stemmte seine Füße an das Kamingitter. »Aber zum Kuckuck, ich muß jemanden haben, dem ich mein Herz ausschütte. Seien Sie es diesmal, Pinch.«

»Aber mit Freuden!« rief Tom. »Sie erweisen mir damit einen großen Freundschaftsdienst.«

»Ich geniere Sie doch nicht?« fragte Martin und blickte auf Mr. Pinch hernieder, der eben über sein Bein hinweg ins Feuer sah.

»Durchaus nicht!«

»Um es kurz zu machen, müssen Sie also wissen«, fing Martin mit einer gewissen Anstrengung an, die verriet, daß es sich um eine für ihn nicht besonders angenehme Eröffnung handelte, »daß ich von Kindheit auf zu großen Erwartungen erzogen und stets in dem Glauben gehalten wurde, es müsse mir eines Tages ein sehr großes Vermögen zufallen. Dies würde auch zuverlässig eingetreten sein, wenn nicht gewisse Umstände, die ich Ihnen in Kürze mitteilen will, meine Enterbung herbeigeführt hätten.«

»Durch Ihren Vater?« fragte Mr. Pinch mit großen Augen.

»Durch meinen Großvater. – Ich habe schon seit so vielen Jahren keine Eltern mehr, daß ich mich kaum mehr an meinen Vater erinnern kann.«

»Auch bei mir ist das der Fall«, sagte Tom, berührte leise die Hand des jungen Mannes, zog aber gleich wieder schüchtern den Arm zurück. »Leider! Leider!«

»Nun, was das betrifft, Pinch«, fuhr Martin in seiner raschen wegwerfenden Weise fort und schürte wieder das Feuer, »so ist’s ja sehr gut und schön, seine Eltern zu lieben, wenn man welche besitzt, oder sie nach ihrem Tode in gutem Andenken zu halten, wenn man überhaupt etwas Näheres von ihnen weiß. Da ich jedoch meine Eltern kaum von Angesicht zu Angesicht kannte, so werden Sie wohl begreifen, daß bei mir von einer besondern Sentimentalität diesbezüglich nicht die Rede sein kann. Auch müßte ich lügen, wenn ich sagen wollte, es wäre anders.«

Mr. Pinch blickte gerade gedankenvoll auf das Kamingitter. Da sein Freund innehielt, fuhr er mit den Worten: »Natürlich, natürlich!« auf und war dann wieder ganz Ohr.

»Mit einem Wort«, erklärte Martin, »ich bin fast mein ganzes Leben lang von meinem Großvater erzogen worden. Er hat nun ohne Frage viele gute Eigenschaften, aber andererseits kann ich Ihnen die Tatsache nicht verhehlen, daß er auch zwei sehr große Fehler besitzt, die seine schlimme Seite ausmachen. Erstens ist er von einem Starrsinn, der kaum seinesgleichen hat, und dann ist er ein geradezu beispielloser Egoist.«

»Wirklich?« rief Tom.

»Hinsichtlich dieser beiden Punkte«, fuhr Martin fort, »ist er geradezu unübertroffen. Allerdings habe ich von Leuten, die es wissen müssen, oft genug gehört, das sei seit unvordenklichen Zeiten ein Erbfehler unserer Familie, und ich glaube auch gern, daß etwas Wahres daran ist, obschon ich nicht aus eigener Erfahrung darüber sprechen kann. – Alles, was ich tun kann, ist, dem Himmel danken, daß sie sich nicht auf mich vererbt haben, und achtgeben, daß ich sie nicht auch annehme.«

»Natürlich«, meinte Mr. Pinch. »Sehr, sehr richtig.«

»Und nun, Sir«, nahm Martin seine Erzählung wieder auf, stocherte mit dem Schüreisen im Feuer herum und zog seinen Stuhl noch näher an den Kamin, »sehen Sie, gewöhnte er sich in seiner Selbstsucht an, alle möglichen Ansprüche an mich zu stellen und in seinem Starrsinn nicht davon abzugehen. Die Folge davon war, daß er von mir alle erdenkliche Achtung, Unterwürfigkeit – ja, wo seine Wünsche mit ins Spiel kamen, geradezu grenzenlose Selbstverleugnung und so weiter verlangte. Ich habe mir viel von ihm gefallen lassen, weil ich Verpflichtungen gegen ihn hatte (wenn überhaupt von solchen gegenüber einem Großvater die Rede sein kann), und dann, weil ich wirklich eine aufrichtige Zuneigung zu ihm empfand. Trotzdem gab es alle Naselang Streit auf Streit, denn ich konnte mich sehr oft nicht in seine Art und Weise schicken – wohlgemerkt, durchaus nicht etwa meinetwillen, sondern –, weil – –«

Hier stockte er und wurde ziemlich verlegen.

Mr. Pinch war auf der ganzen Welt der letzte, der verstanden hätte, wie man jemandem aus einer derartigen Verlegenheit hilft, und blieb daher stumm wie ein Fisch.

»Also gut, da Sie verstehen, was ich meine«, fing Martin hastig wieder an, »so brauche ich ja nicht lange nach einem passenden Ausdruck zu suchen. Ich komme jetzt zum Kern meiner Geschichte und der Veranlassung meines Hierseins. Ich bin verliebt, Pinch.«

Mr. Pinch sah mit gesteigertem Interesse zu ihm auf.

»Also, kurz und gut, ich bin verliebt – und zwar verliebt in eines der schönsten Mädchen, die je unter der Sonne wandelten. Sie ist jedoch gänzlich mittellos und vollständig von dem Willen meines Großvaters abhängig, und wenn er erführe, daß sie meine Gefühle erwidert, so wäre es um ihr Obdach und um alles, was sie auf Erden besitzt, geschehen. Es ist doch nichts sonderlich Selbstsüchtiges in dieser Liebe, glaube ich?«

»Selbstsüchtiges!« rief Tom. »Sie haben edel gehandelt. – Sie mit Inbrunst zu lieben, wie es bei Ihnen der Fall ist, und ihr doch in Anbetracht ihrer abhängigen Stellung nicht einmal zu erklären – –«

»Ja, von was sprechen Sie eigentlich, Pinch?« fuhr Martin ärgerlich auf. »Machen Sie sich nicht lächerlich, mein guter Freund! Was soll ich ihr nicht entdeckt haben?«

»Ich bitte um Verzeihung«, stotterte Tom; »ich glaubte, Sie hätten es so gemeint, sonst würde ich es nicht gesagt haben.«

»Wenn ich ihr nicht gestanden hätte, daß ich sie liebe, wozu wäre da mein Verliebtsein gut gewesen? Zu nichts als zu beständigem Kummer und Herzweh!«

»Ganz richtig«, bestätigte Tom. – »Nun kann ich auch erraten, was sie sagte, als Sie sich ihr entdeckten!« fügte er mit einem bewundernden Blick in Martins schöne Züge bei.

»Nun, das wohl nicht, Pinch«, versetzte Martin mit leichtem Stirnrunzeln, »denn sie hat ein wenig mädchenhafte Begriffe von Pflicht, Dankbarkeit und was dergleichen mehr ist – kurz, Dinge, denen nicht so leicht auf den Grund zu kommen ist. – – In der Hauptsache haben Sie übrigens recht. – Ich sah, ihr Herz gehörte mir.«

»Das dachte ich mir«, sagte Tom, »ganz natürlich!« Und sehr zufrieden mit seinem Scharfsinn tat er einen langen Zug aus seinem Weinglase.

»Trotzdem ich von Anfang an mit größter Vorsicht vorgegangen war«, fuhr Martin fort, »hatte ich doch die Geschichte nicht ganz so geschickt eingeleitet, daß mein Großvater, der voll Argwohn und Mißtrauen ist, meine Liebe zu ihr nicht gemerkt hätte. Er sagte ihr zwar kein Wort davon, nahm mich aber unter vier Augen vor und bezichtigte mich, ich wolle ihm das junge Wesen entfremden. – Sie erkennen hieraus seine Selbstsucht, daß er sich eine ergebene Gefährtin erziehen wollte, wenn er mich dereinst, sowie er es für gut fand, verheiratet haben werde. Das brachte mich natürlich in Harnisch, und ich sagte ihm klipp und klar, ich gedächte, mich so zu verheiraten, wie ich es für gut fände, und hätte nicht vor, mich durch ihn oder irgendeinen andern Auktionator an den Meistbietenden losschlagen zu lassen.«

Mr. Pinch riß die Augen noch weiter auf und blickte noch angelegentlicher als bisher ins Feuer.

»Sie können sich denken, Tom, daß ihm das gewaltig in die Nase stach und daß er gerade keine Komplimente über mich ausgoß. Die Sache spitzte sich schließlich darauf zu, daß ich meine Ansprüche entweder an sie oder an ihn aufgeben sollte. Nun müssen Sie sich aber vor Augen halten, Pinch, daß ich das Mädchen nicht nur aufs leidenschaftlichste liebe, sondern auch, daß ein Hauptzug meines Charakters eine ganz entschiedene – –«

»Hartnäckigkeit ist«, ergänzte Tom arglos.

Die Bemerkung wurde jedoch nicht so gut aufgenommen, wie er erwartet hatte, denn Martin erwiderte sogleich unwillig:

»Sie sind wirklich ein unglaublicher Mensch, Pinch!«

»Ich bitte um Verzeihung«, stotterte Tom rasch. »Ich glaubte, Sie suchten nach einem Ausdruck.«

»Gewiß, aber doch nicht nach diesem! Ich sagte Ihnen bereits, Hartnäckigkeit sei keine Charaktereigenschaft von mir – oder vielleicht nicht? Ich wollte mit Ihrer gütigen Erlaubnis sagen, daß Festigkeit meine Haupttugend ist.«

»Ja, gewiß«, rief Tom eifrig nickend. »Ja, ja, ich sehe!«

»Und um dieser Festigkeit willen«, fuhr Martin fort, »konnte ich natürlich auch nicht einen Zollbreit nachgeben.«

»Gewiß nicht, gewiß nicht«, brummte Tom.

»Im Gegenteil; je mehr er drängte, desto entschiedener mußte ich mich dagegen stemmen.«

»Freilich, freilich!«

»Nun also«, erklärte Martin, lehnte sich in seinem Stuhle zurück und winkte gleichgültig mit der Hand ab, als ob der Gegenstand damit erledigt und nichts mehr darüber zu sagen sei – »das ist das Ende vom Lied, und deswegen bin ich jetzt hier!«

Mr. Pinch starrte einige Minuten so verwirrt ins Feuer, als hätte ihm jemand ein ungemein schwieriges Rätsel aufgegeben, und sagte dann:

»Pecksniff haben Sie natürlich schon früher gekannt?«

»Nur dem Namen nach. Ich hatte ihn nie gesehen, denn mein Großvater hielt nicht nur sich selbst, sondern auch mich von allen seinen Verwandten fern. Unsre Trennung fand jedoch in einer Stadt der benachbarten Grafschaft statt, von da aus kam ich nach Salisbury und las Pecksniffs Annonce. Sie sagte mir zu, da ich von jeher eine gewisse natürliche Neigung für die Gebiete hatte, die er darin anführte. Und da es gerade Pecksniff war, ließ ich mir’s doppelt angelegen sein, womöglich zu ihm zu kommen, um so mehr, als er – –«

»Ein so vortrefflicher Mann ist«, fiel Tom händereibend ein. »Ja, das ist ein wahres Wort. Sie hatten vollkommen recht.«

»Aufrichtig gesprochen«, entgegnete Martin kühl, »geschah es nicht deshalb, sondern weil mein Großvater einen alteingewurzelten Haß gegen ihn hegte. Und nach der tyrannischen Behandlung, die mir der alte Mann hat zuteil werden lassen, mußte begreiflicherweise in mir der natürliche Wunsch rege werden, allen seinen Ansichten gerade entgegenzuhandeln. – – Nun, wie gesagt, hier bin ich. Mein Verhältnis zu der jungen Dame, von der ich Ihnen erzählt habe, wird sich wahrscheinlich ziemlich in die Länge ziehen, denn unser beider Aussichten sind nicht gerade glänzend, und ich denke natürlich nicht ans Heiraten, ehe ich nicht die Mittel dazu besitze. Sie werden einsehen, daß ich mich nicht – mir nichts, dir nichts – in Armut, Entbehrung, Liebe ohne Brot und dergleichen stürzen oder vielleicht in einer Mansarde drei Treppen hoch wohnen kann.«

»Ihrer Braut gar nicht zu gedenken«, bemerkte Tom Pinch mit gedämpfter Stimme.

»Sehr richtig«, versetzte Martin und stand auf, um sich am Kamin anzulehnen und seinen Rücken zu wärmen. »Ihrer gar nicht zu gedenken. Obgleich es von ihr nicht allzuviel verlangt wäre –, erstens, weil sie mich sehr liebt, und zweitens, weil ich um ihretwillen sehr viel geopfert habe, und, wie Sie sich denken können, noch viel mehr geopfert haben würde.«

Es dauerte sehr lange, bis Tom »freilich ja« sagte – so lange, daß man in der Zwischenzeit ganz gut hätte ein Schläfchen machen können. Aber endlich sagte er es doch.

»Nun knüpft sich an diese Liebesgeschichte ein sonderbarer Zwischenfall«, sprach Martin weiter, »den ich noch erwähnen muß. Sie erinnern sich, was Sie mir in bezug auf Ihre schöne Kirchenbesucherin auf der Herfahrt mitgeteilt haben?«

»Natürlich«, rief Tom, stand von seinem Schemel auf und setzte sich in den Stuhl, von dem Martin soeben aufgestanden war, um Pinchs Gesicht besser sehen zu können. »Selbstverständlich.«

»Das war sie.«

»Ich fühlte, was Sie sagen wollten«, entgegnete Tom mit leiser Stimme und sah Martin fest dabei an. »Ist das Ihr voller Ernst?«

»Das war sie«, wiederholte der junge Mann; »nach all dem, was ich von Pecksniff gehört habe, zweifle ich nicht einen Augenblick, daß sie mit meinem Großvater kam und wieder abreiste. – Trinken Sie doch nicht soviel von diesem sauern Zeug! – Sie ziehen sich noch etwas zu.«

»Ich fürchte auch, es ist nicht sehr gesund«, sagte Tom und setzte das Glas, das er bereits eine Weile leer in der Hand gehalten hatte, nieder. »Das war sie also wirklich?«

Martin nickte bejahend und meinte dann unwirsch, wenn er nur ein paar Tage früher gekommen wäre, würde er sie haben sprechen können; jetzt dürfte sie wohl schon wieder hundert Meilen von hier weg sein. Nachdem er sodann einigemal ungeduldig im Zimmer auf und ab gegangen war, warf er sich in einen Stuhl und grollte wie ein verwöhntes Kind.

Tom Pinch hatte ein weiches, gefühlvolles Herz und konnte es nicht ertragen, einen ihm gleichgültigen Menschen leiden zu sehen – geschweige denn jemanden, an dem er Anteil nahm, und der ihm (wie er felsenfest überzeugt war) mit Freundschaft entgegenkam. Was auch einige Augenblicke zuvor seine Gedanken gewesen sein mochten – und seinem Gesicht nach zu urteilen, waren sie ziemlich ernsthafter Natur – er ließ sie sofort fallen und suchte seinen jungen Freund nach Kräften zu trösten.

»Mit der Zeit wird alles wieder gut werden«, sagte er. »Wenn Sie auch gegenwärtig mit Prüfungen und Widerwärtigkeiten zu kämpfen haben, so wird es nur dazu dienen, euch für bessere Tage inniger miteinander zu verketten. Ich habe immer gelesen, daß es so ist, und ein inneres Gefühl sagt mir, daß das recht und natürlich ist. Was bisher noch nicht glatt ging«, fügte er mit einem Lächeln hinzu, das trotz seines wenig schönen Gesichts etwas weit Lieblicheres hatte als der leuchtendste Blick so manch stolzen Antlitzes, »was bisher noch nicht glatt ging, von dem darf man nicht erwarten, daß es um unsertwillen im Handumdrehen anders wird. Wir müssen es eben nehmen, wie es ist, und ihm mit Geduld und guten Mutes die beste Seite abgewinnen. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß ich fast nichts vermag, aber ich habe den allerbesten Willen, und wenn ich mich Ihnen je in was immer für einer Weise nützlich machen kann, so soll es mit Freuden geschehen.«

»Danke Ihnen«, entgegnete Martin und drückte ihm die Hand. »Auf mein Wort, Sie sind ein guter Kerl. – – – Gewiß«, fügte er nach einer Pause hinzu, während der er seinen Stuhl wieder ans Feuer rückte, »würde ich nicht zögern, von Ihrer Dienstwilligkeit Gebrauch zu machen, wenn Sie mir irgendwie behilflich sein können; aber, zum Teufel auch!« – er fuhr sich ungeduldig durch die Haare und blickte ärgerlich Tom an – »Ihre Hilfe, die Sie mir anbieten, Pinch, ist für mich so wenig wert wie eine Brotröstgabel oder eine Bratpfanne.«

»Außer, was den guten Willen betrifft«, sagte Tom leise.

»Natürlich. Das versteht sich von selbst. – – Wenn Zuneigung allein etwas vermöchte, würde es mir nicht an Beistand fehlen. – Übrigens, wissen Sie, was Sie tun könnten, wenn Sie Lust dazu haben – und zwar jetzt gleich?«

»Das wäre?« fragte Tom begierig.

»Lesen Sie mir vor.«

»Mit tausend Freuden«, rief Mr. Pinch enthusiastisch und griff nach der Kerze. »Entschuldigen Sie, wenn ich Sie einen Augenblick im Finsteren lasse, ich will nur ein Buch holen. Was möchten Sie, Shakespeare?«

»Ja!« antwortete Martin gähnend und sich räkelnd. »Das tut’s, ich bin müde von dem heutigen Trubel und der ungewohnten Umgebung. In einem solchen Falle gibt es auf der ganzen Welt keinen köstlicheren Genuß, als sich in Schlaf lesen zu lassen. Sie machen sich doch nichts daraus, daß ich einschlafe, während Sie vorlesen?«

»Durchaus nicht!« beteuerte Tom.

»So fangen Sie an, sobald es Ihnen beliebt. – Sie brauchen nicht aufzuhören, wenn Sie mich schläfrig werden sehen – Sie müßten denn selbst müde sein –, denn es ist riesig angenehm, nach und nach von den Tönen wieder geweckt zu werden. – Haben Sie das nie versucht?«

»Nein, nie.«

»Nun, so kann’s ja dieser Tage einmal geschehen, wenn wir beide entsprechend aufgelegt dazu sind. Nehmen Sie nur das Licht mit; aber beeilen Sie sich!«

Mr. Pinch verlor keine Zeit und kam in zwei Minuten mit einem seiner geliebten Bände von dem Sims neben seinem Bett wieder zurück. Martin hatte sich’s in der Zwischenzeit so bequem gemacht, wie es die Umstände gestatteten, nämlich sich vor dem Kamin aus drei Stühlen und Gratias Schemel als Kissen ein Sofa improvisiert, auf dem er sich selbst der Länge nach ausstreckte.

»Lesen Sie aber nicht zu laut, wenn ich bitten darf.«

»Nein, nein«, versprach Tom.

»Es friert Sie aber doch nicht?«

»Nicht im geringsten!«

»Nun, dann los!«

Mr. Pinch schlug die Seiten seines Buches so zart und behutsam um, als wären sie lebendige, innig geliebte Wesen, traf dann seine Wahl und begann vorzulesen. Noch ehe er es bis zu fünfzig Zeilen gebracht hatte, schnarchte sein Freund bereits laut.

»Der arme Mensch!« murmelte Tom und blickte ihm über die Stuhllehne ins Gesicht. »Er ist noch so jung und hat schon so viel gelitten. Wie treuherzig und großmütig von ihm, mir so viel Vertrauen zu schenken!– – – Also, das war – – sie!«

Dann erinnerte er sich plötzlich seines Versprechens, nahm sein Buch wieder auf und fuhr fort zu lesen, wo er stehengeblieben war, daß er darüber sogar das Schneuzen seiner Kerze vergaß, bis der Docht wie ein Pilz aussah. Er wurde allmählich so warm bei der Lektüre, daß er gar nicht daran dachte, das Feuer nachzuschüren – bis er durch Martin Chuzzlewit daran erinnert wurde, der nach Verfluß von etwa einer Stunde auffuhr und schaudernd vor Kälte rief:

»Wahrhaftig, das Feuer ist ausgegangen! Kein Wunder, daß mir träumte, ich sei erfroren. Holen Sie doch ein paar Kohlen. – Nein, was Sie für ein seltsamer Kauz sind, Pinch!«

7. Kapitel


7. Kapitel

Mr. Chevy Slyme legt große Unabhängigkeit an den Tag, und dem blauen Drachen wird ein Glied ausgerissen

Martin machte sich am andern Morgen mit so viel Eifer und Beflissenheit an seine »Elementarschule«, daß Mr. Pinch wiederum Grund hatte, die natürlichen Talente dieses jungen Gentlemans anzustaunen und dessen unendliche Überlegenheit anzuerkennen.– Martin nahm seine Komplimente sehr gnädig auf, und da er Pinch – in seiner Art – wirklich recht lieb gewonnen hatte, so prophezeite er, sie würden stets die allerbesten Freunde bleiben und er sei überzeugt, daß keiner von ihnen je Grund haben werde, sich nicht mit Freude des Tages zu erinnern, an dem sie miteinander bekannt geworden. Mr. Pinch, dem dies aus der Seele gesprochen war, freute sich natürlich unendlich darüber und fühlte sich so geschmeichelt durch die wohlwollenden Versicherungen von Freundesgefühl und Gönnerschaft, daß er gänzlich unfähig war, sein Entzücken in Worte zu kleiden. – Und wirklich ließ sich auch von diesem Bündnis, so wie die Sachen lagen, sagen, daß es längere Dauer versprach als so manche beschworene und verheißungsvolle Freundschaft. Solange der eine Teil sich darin gefiel, den Gönner zu spielen, und der andere sich darüber herzlich freute, wie hier der Fall lag, so lange war es so gut wie ausgeschlossen, daß sich je zwischen ihnen die Zwillingsdämonen Neid und Stolz erheben konnten.

Am Nachmittag nach der Abreise der Familie waren beide emsig beschäftigt – Martin mit seiner Elementarschule und Tom mit der Berechnung gewisser Pachtzinsbezüge, von denen er Mr. Pecksniffs Provisionen in Abrechnung brachte. Während sie so dasaßen – Martin durch seine liebenswürdige Gewohnheit, beim Zeichnen laut zu pfeifen, den armen Mr. Pinch bei seiner kniffligen Arbeit fast zur Verzweiflung bringend –, wurden sie nicht wenig durch den Umstand erschreckt, daß sich plötzlich ein menschlicher Kopf zur Türe hereinsteckte und ihnen, obgleich äußerst zottig und auch sonst wenig beruhigend, höchst leutselig und in einer Weise zulächelte, die zugleich schelmisch, gewinnend und gönnerhaft war.

»Ich selbst bin nicht fleißig, meine Herren«, begann der Kopf, »weiß aber diese Eigenschaft an andern zu schätzen. Ich will grau und häßlich werden, wenn ich nächst dem Genie den Fleiß nicht für eine der charmantesten Eigenschaften des menschlichen Geistes halte. Meiner Seel, ich bin meinem Freunde Pecksniff zu größtem Dank verpflichtet, daß er mir zu dem Anblick einer so köstlichen Szene verholfen hat. Sie erinnern mich an Whittington, der später dreimal Lord-Mayor von London wurde. Ich gebe Ihnen mein großes Ehrenwort, daß Sie mir diesen historischen Charakter lebhaft ins Gedächtnis rufen. Sie sind ein paar Whittingtons, meine Herrn, nur ohne die Katze. Und das ist für mich sehr angenehm, da ich der Katzenspezies nicht sonderlich zugetan bin. Mein Name ist Tigg. Wie geht es Ihnen, meine Herren?«

Martin blickte Mr. Pinch fragend an, und Tom, der in seinem Leben noch nie etwas von einem Mr. Tigg gesehen hatte, faßte die seltsame Erscheinung näher ins Auge.

»Chevy Slyme?« fuhr Mr. Tigg fragend fort und küßte zum Zeichen der Freundschaft seine linke Hand. »Sie werden mich verstehen, wenn ich sage, daß ich der Bevollmächtigte Mr. Chevy Slymes bin – Ambassadeur am Hofe Chivs. – – Ha, ha!« »Hallo!« rief Martin und stutzte bei Nennung dieses Namens. »Bitte, was will er von mir?«

»Wenn Sie Pinch heißen –« begann Mr. Tigg.

»Nein«, erklärte Martin reserviert. »Dies hier ist Mr. Pinch.«

»Wenn dies Mr. Pinch ist«, rief Tigg, küßte abermals seine Hand und ließ seinen Leib seinem Kopfe in das Zimmer nachfolgen, »so wird er mir die Versicherung gestatten, daß ich ihn höchlichst schätze und respektiere, da ihn mein Freund Pecksniff mir gegenüber außerordentlich lobte – auch, daß ich seine Begabung hinsichtlich Orgelspieles sehr bewundere, wenn ich auch dieses Instrument – darf ich mich des Ausdrucks bedienen – nicht selbst – – ›quetsche‹. Wenn dies also Mr. Pinch ist, so möchte ich die Hoffnung auszudrücken wagen, daß er sich wohlbefinde und ihm der Ostwind keine Gesundheitsbeeinträchtigung zugefügt hat.«

»Ich danke Ihnen«, sagte Tom. »Ich befinde mich sehr wohl.«

»Das ist ein großer Trost«, rief Mr. Tigg. »Übrigens«, er hielt geheimnisvoll die Hand vor den Mund, »komme ich wegen des Briefes.«

»Wegen des Briefes?« fragte Tom laut. »Was für einen Brief meinen Sie?«

»Den Brief«, flüsterte Tom vorsichtig, »den Ihnen mein Freund Pecksniff unter der Adresse ›Chevy Slyme, Esquire‹ zurückgelassen hat.«

»Er hat mir keinen Brief gegeben.«

»Pst!« flüsterte Mr. Tigg. »Das macht nichts aus – obgleich ich wünschte, daß mein Freund Pecksniff die Sache zartfühlender arrangiert hätte – also – das Geld.«

»Das Geld?« rief Tom erschreckt.

»Sehr richtig. – – – Das Geld«, wiederholte Mr. Tigg, tippte Tom ein paarmal auf die Brust und nickte verständnisinnig, als wolle er sagen, man brauche den Umstand nicht unnötigerweise vor einer dritten Person ausführlich zu erwähnen und er würde es für eine besondere Gunst halten, wenn ihm Tom den Betrag so unauffällig wie möglich in die Hand gleiten ließe.

Mr. Pinch war jedoch über dieses ihm gänzlich unerklärliche Benehmen dermaßen erstaunt, daß er unumwunden erklärte, es müsse hier offenbar ein Irrtum obwalten, da er durchaus keinen Auftrag erhalten habe, der sich irgendwie auf den Herrn oder dessen Freund bezöge. Mr. Tigg nahm diese Erklärung mit der ernsten Bitte entgegen, Mr. Pinch möge die Güte haben, sie noch einmal zu wiederholen, und als ihm Tom in einer noch nachdrücklicheren Weise willfahrte, rekapitulierte er sie Satz für Satz und nickte bei jedem Wort feierlich mit dem Kopf. Als Tom zum zweitenmal fertig geworden war, ließ sich Mr. Tigg in einen Stuhl nieder und hielt an die beiden jungen Leute folgende Ansprache:

»Dann will ich Ihnen also sagen, um was es sich handelt, meine Herren. Im gegenwärtigen Augenblicke befindet sich hier in diesem Orte eine vollendete Legierung von Talent und Genie, die durch das, was ich nur als tadelnswerte Nachlässigkeit meines Freundes Pecksniff bezeichnen kann, in eine so furchtbare Situation versetzt wurde, wie sie eben nur bei der sozialen Lage im neunzehnten Jahrhundert möglich ist. In diesem Augenblicke befindet sich im ›Blauen Drachen‹ dieses Dorfes – einer ordinären, armseligen, bäurischen, nach Tabak stinkenden Bierkneipe – ein Individuum, von dem man – um mit dem Dichter zu sprechen – behaupten kann, daß es eigentlich mit nichts verglichen werden kann als mit sich selber. Und dieses Individuum wird nun seiner Zeche wegen dort zurückgehalten. Ha! ha! – Seiner Zeche wegen! Ich wiederhole es: – seiner Zeche wegen. Wir alle«, fuhr Mr. Tigg fort, »haben wohl schon von Fox‘ Märtyrerbuch gehört, desgleichen auch von dem Schuldturm und der Sternkammer; aber ich fürchte keinen Widerspruch, weder von Lebenden, noch von Toten, wenn ich kühnlich behaupte: meinen Freund Chevy Slyme einer Zeche wegen als Geisel zurückzuhalten, das spricht allem Hohn!«

Martin und Mr. Pinch sahen zuerst einander an und dann Mr. Tigg, der, die Arme auf der Brust gekreuzt, ihren Blick halb trostlos, halb bitter erwiderte.

»Mißverstehen Sie mich nicht, meine Herren«, sagte er und streckte seine rechte Hand aus. »Wäre es wegen etwas anderem als einer Zeche wegen geschehen, so hätte ich es ertragen und das menschliche Geschlecht immerhin noch mit einem gewissen Gefühl von Achtung betrachten können. Wenn aber ein Mann wie mein Freund Slyme einer Wirtshausrechnung wegen festgehalten wird – wegen eines an sich selbst schon so gemeinen nichtigen Dinges, so fühle ich: es ist da irgendwo eine Schraube von so ungeheurer Wichtigkeit losgeworden, daß das ganze Gebäude der Gesellschaft in seinen Grundfesten schwankt und man sich nicht einmal mehr auf Hauptprinzipien der Welt verlassen kann. – Kurz – meine Herren –, wenn ein Mann wie Slyme wegen einer armseligen Zeche zurückgehalten wird, so weise ich alles, was die Jahrhunderte gezeitigt, als Wahn zurück und glaube an nichts mehr. Ja, Fluch über mich, wenn ich sogar glaube, daß ich nicht glaube!«

»Es tut mir wahrhaftig herzlich leid«, begann Tom nach einer Pause, »aber Mr. Pecksniff hat mir nichts davon gesagt, und ohne seine Weisung darf ich nichts tun. Würde es nicht am besten sein, Sir, wenn Sie – ich weiß nicht, woher Sie kommen – aber ich meine, würde es nicht am besten sein, wenn Sie nach Hause führen und Ihrem Freunde von dort das Geld schickten?«

»Wie ist das möglich, da ich gleichfalls hier festgehalten werde!« rief Mr. Tigg. »Und noch obendrein, wo ich – dank der unerhörten und, ich muß sagen, unverantwortlichen Nachlässigkeit meines Freundes Pecksniff – kein Geld habe, um einen Platz im Postwagen zu bezahlen?«

Tom wollte schon den Gentleman darauf aufmerksam machen, daß es auch eine Briefpost im Lande gebe – was dieser ohne Zweifel in seiner Aufregung vergessen hatte – und er ja nur an irgendeinen Freund oder Bevollmächtigten zu schreiben brauche, um sich das Geld kommen zu lassen – seine Gutmütigkeit ließ ihn jedoch erraten, daß es Gründe geben könne, diesen guten Rat für sich zu behalten. Er schwieg daher eine Weile und fragte dann:

»Sagten Sie nicht, Sir, daß man Sie ebenfalls zurückhält?«

»Kommen Sie einmal her«, rief Mr. Tigg und stand auf. – »Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich einen Augenblick dieses Fenster öffne?«

»Durchaus nicht.«

»Sehr gut«, sagte Mr. Tigg und schob das Fenster in die Höhe. »Sehen Sie dort unten den Kerl mit dem roten Halstuch und ohne Weste?« »Natürlich!« rief Tom. »Das ist doch Mark Tapley.«

»So, Mark Tapley ist es!« entgegnete der Gentleman. »Also, Mark Tapley war so ungemein liebenswürdig, mich hierher zu begleiten und jetzt zu warten, ob ich auch wieder zurückkomme! – Und um dieser Aufmerksamkeit willen,« fügte Mr. Tigg hinzu und strich sich den Schnurrbart,« möchte ich sagen, es wäre besser für ihn gewesen, seine Frau Mutter hätte ihn in der Wiege erdrosselt, anstatt ihn zu solchen Schandtaten heranwachsen zu lassen!«

Mr. Pinch war ob dieser schrecklichen Drohung nicht so entsetzt, als daß ihm nicht noch Atem genug geblieben wäre, Mark heraufzurufen – eine Aufforderung, der dieser so schleunig Folge leistete, daß Tom und Mr. Tigg kaum ihre Köpfe zurückgezogen und das Fenster wieder geschlossen hatten, als er bereits im Zimmer stand.

»Hören Sie, Mark!« sagte Mr. Pinch. »Um Gottes willen, was geht denn zwischen Mrs. Lupin und diesem Gentleman vor?«

»Und welchem Gentleman?« fragte Mark. »Ich sehe hier keinen Gentleman, Sir, als Sie und den neuen Herrn da« – er machte Martin eine linkische Verbeugung – »und zwischen Ihnen und Mrs. Lupin ist durchaus nichts vorgefallen.«

»Possen, Mark!« rief Tom. »Sie sehen da Mr. –«

»Tigg,« ergänzte der Gentleman. »Ein bißchen Geduld; ich werde ihn gleich zermalmen. – Alles zu seiner Zeit!«

»Ach, den!« brummte Mark geringschätzig. »Ja, densehe ich allerdings. Ich könnte ihn zwar noch ein bißchen besser sehen, wenn er sich rasieren und das Haar schneiden lassen wollte –«

– Mr. Tigg schüttelte wütend den Kopf und schlug sich an die Brust. – »Hilft alles nichts«, sagte Mark. »An diese Tür können Sie klopfen, soviel Sie wollen. Da werden Sie keine Antwort kriegen, ich weiß das besser. Es steckt nichts dahinter als Watte, und zwar eine ziemlich schmierige.«

«Lassen Sie das, Mark«, bat Mr. Pinch und legte sich ins Mittel, um Feindseligkeiten zu verhüten, »beantworten Sie mir lieber, was ich Sie fragen werde. Sie sind doch hoffentlich nicht übler Laune?«

»Übler Laune, Sir?« rief Mark, übers ganze Gesicht lachend. »Nein, wahrhaftig nicht, Sir. Es macht einem ein bißchen Ehre – nicht viel zwar, aber doch ein bißchen –, wenn man fidel ist, trotzdem Kerle wie diese da wie brüllende Löwen mit Mähne herumziehen. – – Was es zwischen Mrs. Lupin und ihm gegeben hat? Je nun, eine unbezahlte Zeche hat es gegeben. – Ich glaube, es ist billig genug von Mrs. Lupin, daß sie ihm und seinem Freund nicht doppelte Preise anrechnete; sie sind doch geradezu ein Schandfleck für den ›Drachen‹. Das ist meine Meinung. Wenn ich an ihrer Stelle wäre, ich litte keine solchen Waldteufel in meinem Hause, und wenn man mir Wettrennpreise zahlte. – Das bloße Aussehen dieses Burschen könnte schon das Bier im Faß sauer werden lassen. – Und das Bier würde auch bestimmt sauer werden, wenn es Verstand hätte.«

»Sie haben mir noch immer meine Frage nicht beantwortet, Mark«, bemerkte Mr. Pinch.

»Nun, Sir«, entgegnete Mr. Tapley, »ich wüßte nicht, was es da lange zu beantworten gibt. Erst gehen die beiden in den ›Halbmond und die sieben Sterne‹, bis sie genügend in der Kreide stehen, dann kommen sie zu uns und treiben’s ebenso. Das gewöhnliche Zechprellen ist nichts gerade Neues für uns, Mr. Pinch; das hätte uns nicht so aufgeregt, wenn nicht das unverschämte Benehmen dieses Kerls gewesen wäre. – Nichts ist ihm gut genug; alle Weiber, meint er, seien sterblich in ihn verliebt und überglücklich, wenn er ihnen nur zublinzelt. Und die Männer, glaubt er, seien nur dazu da, um sich von ihm herumkommandieren zu lassen. Diesen Morgen noch sagte er zu mir in seiner gewöhnlichen liebenswürdigen Weise: ›Heute abend rücken wir aus, mein Bester.‹ – ›Wirklich, Sir?‹ sagte ich. ›Da soll ich Ihnen wohl die Rechnung vorbereiten, Sir?‹ – ›Ist nicht nötig, mein Bester‹, sagte er; ›Sie brauchen sich nicht damit zu bemühen. Ich werde Pecksniff schon anweisen, daß er die Kleinigkeit begleicht.‹ Darauf erwiderte der Drache: ›Besten Dank, Sir, daß Sie uns beehrt haben; aber da wir Sie nicht näher kennen und Sie ohne Gepäck reisen und Mr. Pecksniff nicht zu Hause ist – was Sie selbstverständlich nicht wissen –, so möchten wir gerne etwas Greifbares von Ihnen sehen.‹ So stehen die Sachen. Und jetzt frage ich Sie«, sagte Mr. Tapley und deutete mit der Hutkrempe auf Mr. Tigg, »welcher Herr oder welche Dame von gesundem Menschenverstand kann behaupten, daß der Bursche nicht ein ganz verdammter Lump ist!?«

»Sagen Sie, bitte«, mischte sich Martin ein und erstickte damit ein vernichtendes Anathema von seiten Mr. Tiggs im Keime, »wie hoch beläuft sich die Schuld?«

»Ach Gott, nicht besonders viel. – Höchstens drei Pfund, Sir«, meinte Mark. »Das würde auch weiter nichts ausmachen, – wenn nicht – wie gesagt – –«

»Ja, ja, das haben wir schon gehört«, unterbrach Martin Chuzzlewit kurz. »Pinch, auf ein Wort.«

»Was ist’s?« fragte Tom und zog sich mit seinem Kollegen in eine Ecke des Zimmers zurück.

»Offen gestanden – ich schäme mich fast, es auszusprechen – aber dieser Slyme ist ein Verwandter von mir, von dem ich nie viel Gutes gehört habe. Es paßt mir nicht, daß er sich hier herumtreibt, und ich möchte ihn für drei oder vier Pfund gerne loswerden. Sie haben wohl nicht so viel Geld, um diese Zeche zu begleichen?«

Tom schüttelte so nachdrücklich den Kopf, daß an seiner Aufrichtigkeit unmöglich zu zweifeln war.

»Das ist fatal, denn ich bin gleichfalls auf dem Trockenen. Falls Sie es gehabt hätten, würde ich Sie darum angegangen haben. – – Hm. – – Was, wenn wir aber der Wirtin sagen, wir wollten dafür gutstehen? Glauben Sie, daß sie darauf einginge?«

»Oh, sicher!« rief Tom. »Sie kennt mich. – Gottlob!«

»Dann wollen wir gleich zu ihr gehen und ihr den Vorschlag machen. Je eher wir diese Gesellschaft loswerden, desto besser. Da Sie bisher das Wort geführt haben, machen Sie dem Herrn vielleicht klar, was wir zu tun gedenken – wollen Sie?«

Mr. Pinch tat es mit Freuden und teilte Mr. Tigg das Nötige mit, der ihm dafür warm die Hand drückte und versicherte, sein Glaube an die Menschheit sei jetzt wieder gänzlich hergestellt. Nicht so sehr wegen des gütigen Beistandes als wegen des gelieferten Beweises, daß edle Naturen immer noch ein Verständnis für ihresgleichen auf Erden empfänden. Und er danke den Herren im Namen seines genialen Freundes ebenso warm und herzlich, als ob es sich um seine eigne Angelegenheit handle. In seiner schwungvollen Rede durch den allgemeinen Aufbruch gestört, bemächtigte er sich an der Haustüre des Rockärmels Mr. Pinchs, um weiteren Unterbrechungen vorzubeugen, und unterhielt seinen gutmütigen Zuhörer mit allerhand erbaulichen Gesprächen, bis sie vor dem »Drachen« anlangten.

Es bedurfte bei der blühenden Wirtin kaum Mr. Pinchs Fürsprache, da sie ihre beiden Gäste sowieso möglichst rasch los sein wollte. In Wirklichkeit hatten diese ihre kurze Haft lediglich Mr. Tapley zu verdanken, der eine prinzipielle Abneigung gegen großsprecherische Gentlemen mit durchlöcherten Ellenbogen hegte und ganz speziell gegen Prachtexemplare von der Sorte wie Mr. Tigg und sein Freund. Nachdem die Angelegenheit so in Kürze abgemacht war, wollten sich Mr. Pinch und Martin sogleich wieder entfernen, aber Mr. Tigg bat sie so inständig, ihm die Ehre zu erweisen, sie seinem Freunde vorstellen zu dürfen, daß sie teils aus Gutmütigkeit, teils aus Neugierde nachgaben und sich diesem ausgezeichneten Gentleman vorführen ließen.

Mr. Chevy Slyme brütete gerade über der Neige einer Brandyflasche vom gestrigen Abend und war mit der tiefsinnigen Aufgabe beschäftigt, mit dem nassen Boden seines Trinkglases eine Kette von Ringen auf den Tisch zu zeichnen. So elend und herabgekommen er auch jetzt aussah, so war er doch einst in seiner Art gewissermaßen tonangebend gewesen und hatte seine Ansprüche als Mann von unendlichem Geschmack und vielversprechenden Gaben allenthalben geltend gemacht. Die nötigen Requisiten zu diesem Beruf sind leicht beschafft: ein Naserümpfen, ein spöttisches Aufwerfen der Lippe, ein geringschätziges Lächeln – – was will man mehr! Aber dieses Pfropfreis des Stammes Chuzzlewit hatte es sich – nachdem seine Mittel aufgebraucht waren und er zu faul war für irgendwelche Tätigkeit – in einer schlimmen Stunde sogar beifallen lassen, eine Art Professor des guten Geschmacks werden zu wollen. Zu spät fand er, daß dazu etwas mehr erforderlich war als seine ursprünglichen Qualifikationen, um sich in diesem Berufe halten zu können, und schnell war er daher bis zu seiner gegenwärtigen Stufe herabgesunken. Nichts war ihm von seinem frühern Ich übriggeblieben als sein prahlerisches Wesen und seine Gallsucht, und ohne seinen Freund schien er gar nicht existieren zu können. Im gegenwärtigen Augenblick bot er in seinem trunkenweinerlichen Zustand, seiner Unverschämtheit und seinem Bettlerstolz eine so jämmerliche Figur, daß sogar sein Freund und Schmarotzer daneben einen ritterlichen Eindruck machte.

»Chiv«, begann Mr. Tigg und klopfte ihm auf den Rücken, »mein Freund Pecksniff war nicht zu Hause, und ich habe daher die Sache mit Mr. Pinch und seinem Freund in Ordnung gebracht. – – Mr. Pinch nebst Freund – Mr. Chevy Slyme.«

»Eine recht angenehme Lage, um sich Fremden vorstellen zu lassen«, versetzte Chevy Slyme und richtete seine blutunterlaufenen Augen auf Tom Pinch. »Ich glaube, ich bin der unglücklichste Mensch auf Erden!«

Tom bat ihn, nicht davon zu sprechen, und wollte sich nach einer Pause mit Martin entfernen, aber Mr. Tigg beschwor sie durch Räuspern und Nicken so dringend, sie möchten doch an der Tür stehen bleiben, daß sie unwillkürlich haltmachten.

»Ich schwöre«, rief Mr. Slyme, ließ seine Faust kraftlos auf den Tisch fallen und stützte dann den Kopf auf die Hand, während ein paar Tränen besoffenen Jammers aus seinen Augen niedertropften, »daß ich das elendeste Geschöpf weit und breit bin. Die Menschheit hat sich gegen mich verschworen. Ich bin der gebildetste Mensch, der je gelebt. Ich weiß alles und jedes, bin voll Geist, voller Kenntnisse, voll neuer Ansichten – und doch in der schmachvollen Lage, in diesem Augenblick einer elenden Zeche wegen zwei Fremden verpflichtet sein zu müssen!«

Mr. Tigg schenkte seinem Freund das Glas wieder voll, drückte es ihm in die Hand und gab den beiden durch Zeichen zu verstehen, daß sie Chevy Slyme sogleich in einem bessern Lichte zu sehen bekommen würden.

»Zwei Fremden verpflichtet für eine Wirtshausrechnung! Was?!« wiederholte Mr. Slyme, nachdem er dem Glase verdrießlich zugesprochen. »Nette Sachen das! Und Scharen von Betrügern werden indessen berühmt – Kerle, die ebenso unwürdig sind, mir die Schuhriemen zu lösen, wie – wie – – Tigg, ich rufe dich zum Zeugen an, daß ich der verfolgteste Hund bin, der über die Erde hinstreicht.« Mit einem Gewinsel, das wirklich etwas Hündisches hatte, setzte er wieder das Glas an den Mund. Er mußte einigen Mut oder Stärkung daraus geschöpft haben, denn, als er es niedersetzte, lachte er laut und verächtlich auf. – Abermals machte Mr. Tigg Martin und Tom sehr nachdrückliche Gebärden, daß jetzt der Augenblick gekommen sei, wo »Chiv« in seiner vollen Größe sich entpuppen werde.

»Ha, ha, ha!« lachte Mr. Slyme. »Zwei Fremden verpflichtet für eine Wirtshausrechnung! Ich! Verpflichtet zwei Architektenlehrlingen – Kerlen, die die Erde mit eisernen Ketten abmessen und Häuser bauen wie die Maurer. – Man nenne mir die Namen dieser beiden Lehrlinge! Wie können sie sich unterstehen, mir Verpflichtungen aufzuerlegen?«

Mr. Tigg war ganz außer sich vor Bewunderung über diesen edlen Charakterzug seines Freundes, wie er Mr. Pinch durch lebhaftes Gebärdenspiel deutlich zu erkennen gab.

»Sie sollen wissen, und alle Welt soll es wissen«, schrie Chevy Slyme, »daß ich keiner von den gemeinen, kriecherischen, zahmen Charakteren bin, die man im gewöhnlichen Leben antrifft. Ich bin unabhängig und frei. Mein Herz ist stolz. Ich habe eine Seele, die sich hoch erhebt über niedrige Rücksichten.«

»O Chiv, Chiv, Chiv!« murmelte Mr. Tigg. »Du hast eine edle unabhängige Natur, Chiv!«

»Geh hin und tue deine Pflicht«, herrschte ihn Mr. Slyme unwillig an. »Borg dir Geld aus für die Reise, und wer’s immer sei, der’s herborgt, sag ihm, daß ich einen hohen und stolzen Geist besitze und daß in meiner Seele höllisch tiefe Saiten erklingen, die eine Gönnerschaft nicht ertragen können. Hörst du? Sag ihnen, daß ich sie hasse und auf diese Art mir die Achtung vor mir selbst bewahre. Sag ihnen, daß noch nie ein Mensch sich selbst so geachtet hat wie ich mich!«

Er wollte noch hinzufügen, daß er zwei Arten von Menschen besonders hasse, nämlich alle, die ihm Wohltaten erwiesen, und alle, denen es besser ging als ihm selbst, da in beiden Fällen ihre Lage eine Kränkung für einen Mann von seinen unerhörten Verdiensten bedeute. – Er sprach es jedoch nicht aus, denn gleich darauf sank er mit dem Kopf auf den Tisch und verfiel in einen trunkenen Schlaf. – Zu hochmütig, um zu arbeiten, zu betteln, zu borgen oder zu stehlen, war er doch gemein genug, sich von einem andern die Kastanien aus dem Feuer holen zu lassen; zu patzig, um die Hand zu lecken, die ihn in seiner Not fütterte, war er doch Köter genug, hinterrücks zu beißen und sie zu zerfleischen!

»Hat es je«, rief Mr. Tigg und begleitete die jungen Leute hinaus und schloß sorgsam die Türe hinter sich, »hat es je einen so freien unabhängigen Geist gegeben wie diesen außerordentlichen Menschen? Je einen solchen Römer im Altertum wie unsern Freund Chiv! Je einen Mann von so streng klassischem Gedankenflug, von einer so togaartigen Einfachheit des Wesens? Gab es je einen Mann von so fließender Beredsamkeit? Ich frage Sie, meine Herrn, hätte er sich nicht im Altertum auf einen Dreifuß setzen und uns bis ins Grenzenlose prophezeien können, vorausgesetzt, man hätte ihn auf Staatskosten mit Grog versorgt?!«

Mr. Pinch war eben im Begriffe, diese kühne Behauptung mit seiner gewohnten Milde zu bezweifeln, als er bemerkte, daß sein Begleiter bereits die Treppe hinuntergegangen war. Er schickte sich daher an, ihm zu folgen.

»Sie wollen doch nicht schon gehen, Mr. Pinch?« fragte Tigg.

»Ja. – Ich danke«, antwortete Tom, »bitte, bemühen Sie sich nicht, bleiben Sie nur hier.«

»Wissen Sie, ich möchte noch gern ein Wörtchen im Vertrauen mit Ihnen reden«, versetzte Tigg. »Es würde mein Herz sehr erleichtern, wenn ich mich auf der Kegelbahn noch einige Minuten Ihrer Gesellschaft erfreuen könnte. Darf ich Sie um diese Gunst ersuchen?«

»O gewiß, wenn Ihnen soviel daran liegt«, erwiderte Tom. Er begleitete also Tigg, und als sie bei der Kegelbahn angekommen waren, zog dieser etwas, was wie die fossilen Überreste eines antediluvianischen Schnupftuchs aussah, aus seinem Hute und wischte sich die Augen damit.

»Sie haben mich heute in einem ungünstigen Lichte gesehen«, schluchzte Mr. Tigg.

»Bitte, reden wir nicht davon«, bat Tom.

»Es ist aber doch so«, rief Tigg. »Ich muß auf dieser Ansicht beharren. Hätten Sie mich an der Küste Afrikas an der Spitze meines Regiments sehen können, Mr. Pinch, wie ich ein Karree formierte – in der Mitte die Weiber, die Kinder und die Regimentskasse – und zum Angriff schritt, so würden Sie nicht glauben, daß jetzt derselbe Mann vor Ihnen steht. Sie würden den größten Respekt vor mir gehabt haben, Sir.«

– Tom schien diesbezüglich seine eigenen Ansichten zu haben und war daher von dieser Schilderung nicht ganz so hingerissen, wie Mr. Tigg wohl wünschen mochte. –

»Doch gleichviel! – Ich bitte um Verzeihung, wenn ich mich schwach zeigte. – – – Sie haben meinen Freund Slyme gesehen?«

»Kein Zweifel.«

»Und welchen Eindruck hat mein Freund Slyme auf Sie gemacht, Sir?«

»Keinen sehr angenehmen, muß ich sagen«, antwortete Tom stockend.

»Das tut mir leid, aber es überrascht mich nicht«, rief Mr. Tigg und hielt Tom an beiden Rockaufschlägen fest, »es ist auch meine Meinung. Aber, Mr. Pinch, wenn ich auch nur ein schlichter und gedankenloser Mensch bin, so weiß ich doch den Geist zu ehren. Ich ehre das Talent in meinem Freunde. Ich habe das Recht, Mr. Pinch, vor allen Menschen gerade an Sie um seines hohen Geistes willen zu appellieren, wenn ihm schon die Fähigkeit mangelt, in der Welt sein Glück zu machen. Und daher, Sir, – nicht um meinetwillen, der ich durchaus keine Ansprüche an Ihre Teilnahme habe, sondern um meines niedergedrückten, meines geistig so unendlich hochstehenden, stolzen Freundes willen, der zu wirklichen Ansprüchen berechtigt ist wie keiner sonst – bitte ich Sie um ein Darlehen von drei halben Kronen. Ich bitte Sie darum offen und ohne Erröten. Ich bitte darum, gewissermaßen wie um ein Recht. Und wenn ich hinzufüge, daß sie noch in dieser Woche zurückerstattet werden sollen, so fühle ich, daß Sie mich wegen dieser kleinlichen Worte innerlich nicht tadeln werden.«

Mr. Pinch zog einen altmodischen rotledernen Geldbeutel mit einem Stahlschloß, der wahrscheinlich seiner seligen Großmutter gehört hatte, hervor. Er enthielt eine einzige halbe Guinee – Toms ganzes Gehalt für dieses Quartal. »Halt!« rief Mr. Tigg, der ihn dabei scharf beobachtet hatte. »Ich wollte eben sagen, besser wäre noch eine halbe Guinee – – der Post wegen – Gold läßt sich bequemer zurückschicken. – – Ich danke Ihnen. Als Adresse genügt vermutlich: ›Mr. Pinch bei Mr. Pecksniff‹?«

»Ja, ganz richtig. Nur schreiben Sie, bitte, hinter Mr. Pecksniffs Namen: ›Hochwohlgeboren‹. Also an mich bei Mr. Seth Pecksniff, Hochwohlgeboren.«

»Bei Seth Pecksniff, Hochwohlgeboren«, buchstabierte Mr. Tigg und schrieb sich die Adresse mit einem Bleistiftstümpfchen sorgfältig auf. »Wir sagten, glaube ich, diese Woche?«

»Ja; oder meinetwegen auch Montag«, bemerkte Tom.

»Nein, nein, pardon! Montag, das geht nicht«, protestierte Mr. Tigg. »Wenn wir diese Woche ausgemacht haben, so ist Samstag der späteste Termin. Wurde diese Woche festgesetzt?«

»Wenn Sie’s schon so genau nehmen – ja«, entgegnete Tom. Mr. Tigg merkte sich auch dies genau an, überlas noch einmal die Notiz mit ernstem Stirnrunzeln und setzte dann, um das Geschäft noch korrekter und buchungsmäßiger zu machen, dem ganzen die Anfangsbuchstaben seines eigenen Namens bei. Sodann versicherte er Mr. Pinch, es sei jetzt alles vollkommen in Ordnung, drückte ihm mit großer Wärme die Hand und entfernte sich.

Da Mr. Pinch fürchtete – und wohl mit Recht –, Martin könne dieses Interview ins Lächerliche ziehen, wollte er nicht sogleich nachkommen und ging daher in der Kegelbahn auf und ab, bis Mr. Tigg und sein Freund den »Drachen« verlassen hatten. – Gerade als sie abzogen, begegnete er Mark vor dem Wirtshaus.

»Ich wollte eben sagen«, bemerkte Mark und deutete den beiden nach, »daß das so eine Art Dienst für mich wäre, wenn man davon leben könnte. Solchen Individuen aufzuwarten wäre doch noch besser, als Totengräber zu sein, Sir.«

»Hierzubleiben wäre besser als beides, Mark«, entgegnete Tom. »Lassen Sie sich raten und bleiben Sie, wo’s Ihnen gutgeht.«

»Dazu ist es jetzt zu spät, Sir«, sagte Mark. »Ich habe ihr bereits gekündigt, und morgen früh geht’s fort.«

»Wirklich fort? Und wohin denn?« »Nach London, Sir.«

»Und was dort?« fragte Mr. Pinch.

»Das weiß ich selbst noch nicht, Sir. Seit ich Ihnen mein Herz ausgeschüttet habe, hat sich noch nichts Geeignetes gefunden. All die Berufe, an die ich dachte, waren viel zu heiter, und man hätte keine besondere Ehre dabei einlegen können. Ich werde mich wohl um einen Privatdienst umsehen müssen, Sir. Ich möchte meine Kraft allenfalls an einer frommen Familie versuchen, Mr. Pinch.«

»Ob das aber die fromme Familie aushielte?« meinte Tom.

»Da könnten Sie recht haben, Sir. – Wäre ich imstande, bei einer gottlosen Familie unterzukommen, wäre das meinen Kräften vielleicht angemessener. Aber da ist wieder die Schwierigkeit: Wo finde ich das Richtige? Ein junger Mensch kann doch nicht gut in die Zeitung einrücken lassen: ›Stelle wird gesucht. Es wird mehr auf Gottlosigkeit als auf hohen Lohn gesehen.‹ Oder meinen Sie doch, Sir?«

»Nein, nein«, gab Tom zu. »Das geht keinesfalls.«

»Eine neidische Familie«, fuhr Mark mit gedankenvoller Miene fort, »eine streitsüchtige Familie, eine boshafte Familie, oder sogar eine so ganz durch und durch niederträchtige Familie würde mir einen Wirkungskreis öffnen, in dem ich etwas leisten könnte. Am besten von allen Leuten hätte mir der alte Herr gepaßt, der hier krank lag. Der war so der richtige Plagegeist. – Nun, ich muß eben warten und zusehen, was kommt, Sir. Hoffen wir das Schlimmste.«

»Sie sind also fest entschlossen zu gehen?« fragte Mr. Pinch.

»Mein Koffer ist bereits beim Fuhrmann, Sir, und ich gehe morgen zu Fuß fort. Wenn mich die Kutsche einholt, so sitze ich auf. Aber jetzt Gott befohlen, Mr. Pinch, leben Sie wohl – und auch Sie, mein Herr. Leben Sie wohl alle beide – und viel Glück und Wohlergehen!«

Lachend erwiderten die beiden Kollegen diesen Abschiedsgruß und gingen Arm in Arm nach Hause. Unterwegs teilte Mr. Pinch Martin zur näheren Erklärung die Einzelheiten von Mr. Mark Tapleys wunderlichem Ehrgeiz mit, die der Leser bereits kennt. Hartnäckig wich Mark den ganzen Nachmittag bis zum Abend seiner Gebieterin aus, denn er hatte gemerkt, daß sie sehr niedergeschlagen war, und glaubte seinerseits nicht so ganz für die Folgen eines verlängerten Tête-à-tête hinter dem Schankverschlag stehen zu können. Bei dieser Taktik wurde er durch den großen Andrang in der Bierstube unterstützt. Die Kunde von seinem Vorhaben war nämlich ruchbar geworden, und es gab deshalb den ganzen Abend ein förmliches Gedränge, da jeder noch auf seine Gesundheit trinken wollte, was natürlich in der Folge ein gewaltiges Krügegeklapper veranlaßte. Endlich wurde das Haus für die Nacht geschlossen. Mark mußte jetzt – da war nicht mehr zu helfen – die beste Miene zum bösen Spiel machen und begab sich daher anscheinend sehr verdrießlich zur Büfettüre.

»Wenn ich ihr in die Augen schaue«, sagte er sich, »so ist’s um mich geschehen. Ich fühle schon jetzt, wie’s mich reißt.«

»Endlich kriegt man Sie zu sehen«, begann Mrs. Lupin.

»Ja«, brummte Mark. »Da bin ich.«

»Und Sie sind also wirklich fest entschlossen, uns zu verlassen, Mark?«

»Nun freilich«, sagte Mark, ohne die Augen aufzuschlagen.

»Ich dachte«, fuhr die Wirtin mit ermutigendem Stocken fort, »Sie hätten den ›Drachen‹ gern?«

»Ich habe ihn auch gern«, antwortete Mark.

»Nun also«, fragte die Wirtin – und es war gewiß eine sehr natürliche Frage – »warum wollen Sie ihn denn dann verlassen?«

Da Mark auf diese Frage keine Antwort gab, nicht einmal, als sie wiederholt wurde, zählte ihm Mrs. Lupin daher sein Geld auf die Hand und fragte ihn – nicht ungütig, ganz im Gegenteil –, was er sonst noch etwa möchte.

Das Sprichwort sagt schon, es gebe gewisse Dinge, denen Fleisch und Blut nicht widerstehen können. Eine Frage wie diese, und noch dazu in solcher Art, zu einer solchen Zeit und von einer solchen Person gestellt, war – soweit es wenigstens Marks Fleisch und Blut betraf – gewiß eines dieser Dinge. Mark sah wider Willen auf und blickte, nachdem dies einmal geschehen war, nicht mehr zu Boden – stand doch die Blüte aller rundlichen, drallen, hübschen, glutäugigen, mit Wangengrübchen geschmückten Wirtinnen, die je auf Erden gewandelt, leibhaftig vor ihm.

»Nun, ich will Ihnen was sagen«, rief Mark, wurde plötzlich ganz Feuer und Flamme und schlang den Arm um Mrs. Lupins Taille – was diese ganz und gar nicht beunruhigte, wußte sie doch, was Mark für ein wackerer junger Mensch war – »wenn ich mir nehmen dürfte, was mir am meisten gefiele, so wären Sie es. Jawohl, Sie und nur Sie«, rief Mr. Tapley, nickte nachdrücklich und blieb mit seinen Blicken, ohne daran zu denken, was er sich so fest vorgenommen, an den Kirschenlippen der hübschen Witwe hängen. »Und kein Mensch würde sich wundern, wenn ich’s täte!«

Mrs. Lupin sagte, sie sei geradezu aus den Wolken gefallen. Wie er nur solches Zeug reden könne. Sie hätte das nie von ihm gedacht.

»Wahrhaftig, ich hätte es früher auch nie von mir gedacht!« entgegnete Mark und zog seine Augenbrauen in komischem Erstaunen in die Höhe. »Ich dachte immer, wir würden ganz mir nichts, dir nichts voneinander scheiden, und hatte mir eben vorhin noch, ehe ich eintrat, vorgenommen, es so zu halten. Aber Sie haben etwas an sich, das einem das Herz aufgehen macht. – Doch reden wir mal gescheit miteinander« – fügte er im ernsten Tone hinzu, um jedem Irrtum vorzubeugen – »Sie wissen, daß ich Ihnen keine Liebeserklärung nicht machen will.«

Eine Sekunde lang überflog ein Schatten – wenn auch kein gerade finsterer – das offene Gesicht der Wirtin, verschwand jedoch gleich wieder und machte einem herzlichen Lachen Platz.

»Meinen Sie nicht«, sagte sie, »wenn Sie an so was nicht denken, daß es besser wär, wenn Sie Ihren Arm wegtäten?«

»Warum sollt ich denn das?« rief Mark. »Es ist doch nichts Unrechtes dabei!«

»Natürlich ist nichts Unrechtes dabei«, entgegnete Mrs. Lupin, »sonst würde ich es auch nicht erlauben.«

»Na gut«, meinte Mark, »dann lassen wir’s halt dabei.«

Das war so vernünftig gesprochen, daß die Wirtin ihn lachend gewähren ließ, ihn aber zugleich aufforderte, mit dem, was er zu sagen habe – und zwar schnell – herauszurücken. – Übrigens sei er ein unverschämter Bursche, setzte sie hinzu. »Ha, ha! Mir kommt’s beinahe auch so vor«, lachte Mark, »ich hätt’s früher wahrscheinlich selbst nicht geglaubt. Aber macht nix, heut abend getrau ich mir schon was zu sagen.«

»Also, raus damit – endlich schon!« rief Mrs. Lupin. »Ich möcht zu Bett gehen.«

»Na, so hören S’«, sagte Mark, »und ich möcht den Mann sehen, der sagt, daß er je eine freundlichere Frau als Sie gesehen hat – was möcht eigentlich sein, wann wir zwei mitsamm –« »Aber Unsinn!« rief Mrs. Lupin. »Reden Sie nicht so dummes Zeug daher!«

»Gar kein dummes Zeug«, protestierte Mark, »und ich möcht Sie bitten, daß Sie mich bis zu End hören. Also, was möcht sein, wenn wir zwei zusamm ein Paar wären? Wenn mir jetzt schon nicht recht wohl in dem schönen ›Drachen‹ ist, wie könnt ich dann erst zufrieden sein?! Schon gar nicht. Das ist doch gar keine Frag nicht. Wenn Sie noch so gut aufgelegt wären, möchten Sie sich doch immer damit abquälen, ob Sie nicht zu alt für meinen Geschmack würden, und möchten sich einreden, daß ich an Sie angebunden wär wie der Drachen ober der Tür, und immer ausreißen möcht. – Ich weiß ja nicht, ob es so kommen würde«, fuhr Mark gedankenvoll fort, »aber sein könnt’s doch immerhin. Sie wissen, ich bin ein unsteter Mensch und hab gern Abwechslung. Ich glaub immer, daß ein Mensch von meiner Gesundheit und meiner guten Laune eigentlich nur dann Ehre einlegen kann, wenn er dort fidel ist, wo andere sich unglücklich fühlen. Vielleicht hab ich unrecht, aber sehen Sie, wenn’s auch so wär, was könnt’s da Besseres geben als Ausprobieren? Es ist also wohl das beste, wenn ich geh. Besonders, wo Sie mir erlaubt haben, alles das rund herauszusagen. So können wir wenigstens als gute Freunde scheiden, wie wir’s immer gewesen sind, seitdem ich zum erstenmal hier unter dem Dach dieses edlen Drachen eingezogen bin, an den ich«, setzte Mr. Tapley zum Schlüsse hinzu, »bis zum letzten Atemzug mit Hochachtung denken werde.«

Eine kleine Weile blieb die Wirtin ganz stumm sitzen, dann legte sie ihre beiden Hände in die Mr. Tapleys und drückte sie herzlich. »Sie sind halt ein guter Mensch«, sagte sie und sah ihm mit einem Lächeln, das sich an ihr ein wenig ernst ausnahm, ins Gesicht. »Ich glaube, Sie sind mir heute abend ein besserer Freund gewesen, als ich je einen in meinem ganzen Leben gehabt hab.«

»Ach, was das betrifft, wissen Sie«, entgegnete Mark, »das sind Possen. Aber, so wahr ich lebe!« rief er und sah sie mit einer Art Begeisterung an. »Wenn es Ihnen wirklich darum zu tun wäre – wieviel annehmbaren Freiern könnten Sie nicht den Kopf verdrehen!«

Mrs. Lupin lachte herzlich über dieses Kompliment, schüttelte ihm wieder die Hände und bat ihn, wenn er je einen Freund in der Not brauche, ihrer nicht zu vergessen. Dann verließ sie fröhlich das kleine Schenkzimmer und begab sich die Drachentreppe hinauf.

»Sie singt ein Liedchen im Gehen«, murmelte Mark lauschend, »damit ich nicht glauben soll, sie sei traurig. Na, da ist’s doch wenigstens ein bißchen Ehre, wenn man dabei fidel ist!«

Mit diesem Trosteswort, das recht kläglich klang, ging er nichts weniger als fidel zu Bett.

Am nächsten Morgen stand er noch früher auf als gewöhnlich und war schon bald nach Sonnenaufgang auf den Beinen. Doch das half alles nichts; der ganze Ort war gleichfalls schon wach, um Mark Tapley scheiden zu sehen: – die Buben, die Hunde, die Kinder, die alten Männer, die Fleißigen und die Müßiggänger, alle waren sie da und riefen jeder sein: »Leb wohl, Mark!« und jedem tat es leid, daß er ging. Tapley hatte auch so eine Art Ahnung, daß seine gewesene Gebieterin aus ihrem Kammerfenster heraussähe, aber er konnte es nicht übers Herz bringen, hinaufzuschauen.

»Lebt wohl – alle miteinander!« rief er, schwenkte seinen Hut auf seinem Wanderstab und marschierte mit raschen Schritten die schmale Gasse hinauf. »Brave Kerle, die Wagenmacher – hurra! Da kommt der Fleischerhund aus dem Garten nach Haus, alter Kerl! – Und Mr. Pinch geht zu seiner Orgel – leben Sie wohl, Sir! Und der kleine Dachshund vom Nachbar! Obs d‘ schaust, daß d‘ heimkommst! Und Kinder, genug, um das Menschengeschlecht bis zum jüngsten Tag fortzupflanzen – lebt wohl, ihr Buben und Mädels! – Na, da kann man wirklich mal Ehre einlegen – da braucht’s die ganze Manneskraft, um fidel zu bleiben. – Aber ich bin ungeheuer fidel! Nicht ganz so zwar, wie ich möchte – aber doch beinah. – Adjö, adjö!«

8. Kapitel


8. Kapitel

Was alles Mr. Pecksniff und seinen beiden lieblichen Töchtern auf der Reise nach London passierte

Als Mr. Pecksniff und die beiden jungen Damen am Ende der Gasse in die schwerfällige Postkutsche stiegen, fanden sie zu ihrer großen Freude die Innenplätze unbesetzt, was ihnen um so angenehmer schien, als die Außensitze überfüllt waren und die Reisenden sehr erfroren aussahen. Denn, wie Mr. Pecksniff sehr richtig bemerkte – nachdem er und seine Töchter ihre Füße tief im Stroh eingegraben, sich selbst bis ans Kinn eingemummt und beide Fenster geschlossen hatten –, fühlt sich der Mensch bei rauhem Wetter um so behaglicher, je deutlicher ihm zum Bewußtsein kommt, daß andere frieren. Und das, sagte er, sei ganz natürlich und eine sehr schöne Einrichtung, die sich nicht bloß auf Kutschen beschränke, sondern auf viele Gebiete geselligen Lebens erstrecke. »Denn«, meinte er, »wenn jedermann im Warmen säße und Speise und Trank die Hülle und Fülle hätte, müßte man des Genusses entbehren, den Heldenmut zu bewundern, mit dem eine gewisse Menschenklasse Kälte und Hunger erträgt. Und wenn wir nicht besser daran wären als andere, wie wäre es mit unserer Dankbarkeit bestellt, die« – sprach Mr. Pecksniff mit Tränen in den Augen und drohte einem Bettler, der gerade hinten aufsitzen wollte, mit der Faust – »bekanntlich eines unserer edelsten Gefühle ist.«

Mit gebührender Ehrfurcht lauschten die beiden Schwestern diesen moralischen Belehrungen von den Lippen ihres Vaters und gaben durch ein Lächeln ihre Zustimmung zu erkennen. Um die heilige Flamme der Dankbarkeit desto besser in seiner Brust nähren zu können, bemerkte Pecksniff zu seiner ältesten Tochter, er müsse sie leider schon in der ersten Stunde ihrer Reise um die Rumflasche bemühen. Sodann sog er aus dem engen Halse dieses steinernen Gefäßes eine reichliche Erfrischung.

»Was sind wir?« fragte er schmatzend und stöpselte sie wieder zu. »Sind wir etwas anderes als Kutschen? Einige von uns gehören zu den langsamen –«

»O Gott, Pa!« rief Charitas.

»Einige von uns, sage ich«, wiederholte der Treffliche mit Nachdruck, »gehören zu den langsamen Kutschen, einige von uns sind Eilwagen. – Unsere Leidenschaften sind die Pferde – jedenfalls sich bäumende Tiere.«

»Wahrhaftig, Pa!« riefen die beiden Schwestern einstimmig. »Wie peinlich!«

»Jedenfalls sich bäumende Tiere!« beharrte Mr. Pecksniff so entschlossen auf seiner Ansicht, daß man hätte sagen können, er habe sich in diesem Augenblick selbst gewissermaßen moralisch gebäumt – »und die Tugend ist der Hemmschuh. Auf der Mutter Armen treten wir in die Welt und eilen der Grabschaufel zu.« Begreiflicherweise von dieser Kraftanstrengung sehr erschöpft, nahm Mr. Pecksniff eine weitere Erquickung und legte sich zurück, um drei Stationen weit zu schlafen.

Es gehört zu den Eigenheiten der Menschen, wenn sie in Kutschen schlafen, daß sie verdrießlich aufwachen und einander mit den Beinen inkommodieren, was um so peinlicher wirkt, je mehr Hühneraugen die Zehen zieren. Mr. Pecksniff, der von diesem gemeinsamen Lose der Menschheit keine Ausnahme machte, war, als er von seinem Schläfchen erwachte, so ausgesprochen das Opfer dieser Gebresten, daß er eine unwiderstehliche Neigung empfand, seine üble Laune an seinen beiden Töchtern auszulassen. Auch hatte er bereits begonnen, sie in Form aufs Geratewohl geführter Fußtritte und anderer schwer zu parierender pedestrischer Attacken an den Tag zu legen, als die Kutsche plötzlich anhielt und nach einer kurzen erwartungsvollen Pause der Schlag aufgerissen wurde.

»Aber wohlgemerkt«, rief eine dünne scharfe Stimme aus der Dunkelheit, »ich und mein Sohn nehmen Innenplätze nur, weil das Dach voll ist, bezahlen aber bloß für Außenplätze. Abgemacht, was?«

»Sehr wohl, Sir«, erwiderte der Schaffner.

»Ist schon jemand drin?« forschte die Stimme.

»Drei Passagiere.«

»Dann bitte ich die drei Passagiere, mir diese Abmachung zu bezeugen, wenn sie so gut sein wollen«, sagte die Stimme. »Mein Junge, ich glaube, wir können jetzt unbesorgt einsteigen.«

Gleich darauf nahmen zwei Personen in dem Fuhrwerke Platz, das laut feierlichem Parlamentsakt autorisiert war, sechs Personen – vorausgesetzt, daß ihr Leibesumfang es zuließ, den Wagenschlag zu passieren – von Station zu Station zu befördern.

»Das war ein Glück« flüsterte der alte Mann, als die Kutsche wieder weiterfuhr. »Sehr politisch von dir, mein Junge, daß du es gleich bemerktest. – Hi, hi, hi! Wir hätten doch gar keinen Außensitz nehmen können. Ich wäre an Rheumatismus gestorben.«

Ob es dem pflichtgetreuen Sohn vielleicht einfiel, er habe durch unbeabsichtigte Verlängerung der Lebenstage seines Vaters gewissermaßen übers Ziel hinausgeschossen, oder ob dies so verstimmend auf ihn wirkte, ließ sich schwer feststellen. – Jedenfalls gab er seinem Vater einen derartigen Rippenstoß als Antwort, daß dieser einen Hustenanfall erlitt, der volle fünf Minuten ohne Unterlaß währte und schließlich Mr. Pecksniff zu der heftigen Äußerung reizte:

»Da hört sich denn doch alles auf! Leute, die sich den Kopf erkältet haben, gehören hier nicht herein!«

»Bei mir«, entgegnete der alte Mann nach einer kurzen Pause, »sitzt die Erkältung nicht im Kopf, sondern auf der Brust, – Pecksniff.«

Die Stimme, der Tonfall, die Anwesenheit des halbwüchsigen schweigsamen Burschen und die Nennung seines Namens – alles verriet Mr. Pecksniff sofort, wer da eingestiegen war.

»Hm! Ich meinte, es sei ein Fremder«, brummte er und kehrte sofort zu seiner gewohnten Milde zurück, »und jetzt sehe ich einen Verwandten vor mir. – Mr. Anthony Chuzzlewit und sein Sohn, Master Jonas«, erklärte er seinen Töchtern. »Sie werden mir eine scheinbar rauhe Bemerkung verzeihen. Ich wünsche nicht, die Gefühle wessen immer, zumal, wenn ich mit dem Betreffenden durch Familienbande verkettet bin, zu verletzen. – Ich mag zwar ein Heuchler sein«, sagte er spitzig, »bin aber kein Unmensch.«

»Puh, puh!« krächzte der alte Mann. »Was besagt denn das Wort, Pecksniff? Heuchler! Wir sind doch alle Heuchler. Unlängst waren wir alle Heuchler. Ich dachte, wir wüßten das alle ganz genau, sonst hätte ich Sie nicht so tituliert. Wir würden doch gar nicht zusammengekommen sein, wenn wir nicht Heuchler gewesen wären. Der einzige Unterschied zwischen Ihnen und den übrigen war – soll ich Ihnen den Unterschied sagen, Pecksniff?«

»Wenn Sie so gut sein wollen, mein guter, werter Herr, bitte, sagen Sie es nur.«

»Also, die widerwärtigste Eigenschaft an Ihnen ist, daß Sie bei Ihren Tiraden sozusagen nie einen Partner haben. Sie möchten am liebsten alle täuschen, sogar diejenigen, die selbst die Kunst praktizieren. Und dann haben Sie so eine Art, als ob Sie – hi, hi, hi – als ob Sie womöglich selbst glaubten, was Sie sagen. Wenn das Wetten meine Sache wäre, was jedoch nicht der Fall ist und nie der Fall war«, versicherte der Alte, »so möchte ich eine schöne Summe einsetzen, daß Sie, so gewissermaßen in stillem Einverständnis, sogar vor Ihren Töchtern hier den Schein wahren. Sehen Sie, wenn ich dagegen ein derartiges Geschäftchen vorhabe, so sage ich Jonas ruhig, was es ist, und wir sprechen ganz offen darüber. – Sie sind doch nicht am Ende beleidigt?«

»Beleidigt, mein werter Herr!« rief Mr. Pecksniff strahlend, als ob man ihm das größte Kompliment gemacht hätte.

»Reisen Sie nach London, Mr. Pecksniff?« mischte sich Master Jonas ein.

»Ja, so ist es, wir reisen nach London. Hoffentlich werden wir doch den ganzen Weg über das Vergnügen Ihrer Gesellschaft haben?«

»Na, ich dächte, Sie sollten da lieber meinen Vater fragen«, erwiderte Jonas. »Wissen Sie, ich möchte mich nicht gern verschnappen.« Begreiflicherweise fand Mr. Pecksniff diese Antwort äußerst humoristisch. Nachdem sich seine Heiterkeit ein wenig gelegt hatte, gab ihm Jonas zu verstehen, daß er und sein Vater allerdings nach Hause in die Hauptstadt reisten und daß sie seit jenem denkwürdigen Familientag sich in der Umgebung aufgehalten hätten, um einige Geldgeschäfte abzumachen, die sie gleich bei ihrem Herwege im Auge gehabt. Denn, sagte Mr. Jonas, es sei ihre Gewohnheit, womöglich immer zwei Fliegen mit einem Klapps zu erschlagen und nie einen Kreßling wegzuwerfen, außer um einen Walfisch zu ködern. Nachdem er Mr. Pecksniff so gründlich belehrt, schlug er ihm vor, mit ihm den Platz zu wechseln, wenn er nichts dagegen habe, um mit den »Mädeln« ein bißchen plaudern zu können. Da Mr. Pecksniff bereitwillig darauf einging, kam Jonas gleich darauf in der anderen Ecke neben der schönen Miss Gratia zu sitzen.

Die Erziehung des Mr. Jonas war von seiner Wiege an äußerst zielbewußt gewesen. Das erste Wort, das er buchstabieren lernte, war »Geld«, und das zweite (beim Übergang zu den zweisilbigen) »Gewinn«. Dieses Erziehungssystem hätte vollendet genannt werden können, wenn es nicht zu zwei Nebenprodukten geführt hätte, die sein wachsamer Vater wahrscheinlich nicht ganz klar vorausgesehen hatte. Diese unheilvollen Resultate waren erstens, daß Jonas, so lange von seinem Erzeuger darauf dressiert, jedermann zu übervorteilen, unmerklich den Hang angenommen hatte, auch seinen ehrwürdigen Lehrer zu begaunern, und zweitens, daß er – gemäß früh erworbener Gewohnheit, alles als Eigentumsfrage anzusehen – zuletzt auch seinen Vater als ein gewisses Kapital betrachtete, das kein Recht hatte, zu zirkulieren, und unbedingt so bald wie möglich festzulegen sei – in diesem Falle in der Kassa, die man gemeinhin »Sarg« zu nennen pflegt.

»Nun, Cousine«, sagte Mr. Jonas, »Sie wissen doch, daß wir entfernt miteinander verwandt sind – Sie gehen also nach London, so so?«

Miss Gratia bejahte und zwickte dabei, ausgelassen kichernd, ihre Schwester in den Arm.

»Massenhaft junge schöne Herren in London, Cousine!« fuhr Mr. Jonas fort und rückte ein wenig mit dem Ellenbogen näher. »Wirklich, Sir?« rief die junge Dame. »Nun, hoffentlich werden sie uns nicht inkommodieren.«

Und nachdem sie mit großer Sittsamkeit diese Antwort gegeben, wurde sie so sehr von ihrer Heiterkeit überwältigt, daß sie das Lachen im Schal ihrer Schwester verbeißen mußte.

»Aber Grazy«, rief die verständigere junge Dame. »Wirklich, ich muß mich deiner schämen! Wie kannst du dich nur so aufführen, du wildes Ding!«

Miss Gratia lachte daraufhin natürlich nur noch um so mehr.

»Ich habe schon neulich eine gewisse Ausgelassenheit in ihrem Blick bemerkt«, wendete sich Mr. Jonas zu Charitas. »Ja, Sie haben es hinter den Ohren. Wahrhaftig ja – Cousine.«

»Ach, die altmodische Vogelscheuche!« murmelte Gratia. – – »Liebste Cherry, auf mein Wort, du mußt dich neben ihn setzen. Ich sterbe, wenn er so weiterspricht – ja, wahrhaftig!«

Und um dieses schreckliche Ereignis von sich abzulenken, sprang die quecksilberne junge Dame von ihrem Sitze auf und drückte ihre Schwester auf den eben verlassenen Platz.

»Brauchen sich nichts daraus zu machen, wenn Sie mich auch ein bißchen drücken«, rief Mr. Jonas. »Ich hab das bei Mädeln ganz gern. Kommen Sie nur noch näher, Cousine!«

»Nein, nein, ich danke, Sir«, versetzte Charitas.

»Da lacht die natürlich schon wieder«, sagte Mr. Jonas, »und mir scheint gar, über meinen Vater. Na, wie wird das erst werden, wenn er seine alte Flanellnachtmütze aufsetzt! – – Sagen Sie, ist’s mein Vater, der da drüben so schnarcht, Pecksniff?«

»Ja, Mr. Jonas.«

»Möchten Sie nicht so gut sein und ihm auf den Fuß treten?« fragte der junge Gentleman. »Grad in dem Haxen neben dem Ihrigen hat er die Gicht.«

Da Mr. Pecksniff zögerte, dieser menschenfreundlichen Aufforderung nachzukommen, tat es Mr. Jonas selbst und schrie dabei:

»Heda, Vater, wach auf, sonst kriegst du wieder das Alpdrücken und schreist los. – Haben Sie je schon mal Alpdrücken gehabt, Cousine?« fragte er seine Nachbarin mit der ihm charakteristischen Galanterie und dämpfte seine Stimme wieder. »Bisweilen«, antwortete Charitas, »nicht oft.«

»Und die drüben? Was? Hat sie schon mal Alpdrücken gehabt?«

»Ich weiß es nicht«, versetzte Charitas. »Fragen Sie sie doch selbst.«

»Man kann doch mit ihr nicht reden«, knurrte Jonas. »Sie lacht doch in einem fort. Hören Sie nur, da bricht sie schon wieder los! Was denn, Sie! Sie sind halt die verständigere Cousine!«

»Ach, gehen Sie, Sie Schlimmer«, rief Charitas.

»Ja, ja, was wahr ist, ist wahr! Sie wissen’s doch selber auch.«

»Gratia ist ein bißchen lebhaft«, gab Miss Charitas zu. »Aber sie wird mit der Zeit schon gesetzter werden.«

»Na, das wird wohl hübsch lang brauchen, wenn’s überhaupt glückt«, meinte Jonas. »Machen Sie sich doch ein bißchen breiter.«

»Ich fürchte nur, ich drücke Sie«, zierte sich Charitas, kam aber trotzdem seiner Aufforderung nach.

Nach ein paar Bemerkungen über den »entsetzlichen Rumpelkasten« mit seinem ewigen Haltmachen trat ein Stillschweigen ein, das bis zur Abendessenszeit von niemandem in der Gesellschaft unterbrochen wurde.

Obgleich Mr. Jonas seine Cousine Charitas in der Station zu Tisch führte und sich neben sie setzte, so schielte er doch ziemlich deutlich auch auf »die andere«. Er blickte recht oft nach Gratia hinüber und schien Vergleiche zwischen den beiden Schwestern anzustellen, die – wahrscheinlich infolge der üppigeren Körperformen – zugunsten der jüngeren ausfielen. Besonders viel Zeit nahm er sich indes nicht zu diesen Betrachtungen, da ihn das Souper zu sehr interessierte, das, wie er seiner schönen Gefährtin ins Ohr flüsterte, á la table d’hôte berechnet werde; – je mehr man daher esse, desto besser käme man dabei auf die Spesen. Sein Vater und Mr. Pecksniff gingen vermutlich nach demselben Prinzip vor – wenigstens richteten sie unter allen Speisen, die in ihren Bereich kamen, so gewaltige Verheerungen an, daß ihre Gesichter bald in Fettglanz erstrahlten.

Als sie auch mit dem besten Willen keinen Bissen mehr essen konnten, bestellten sowohl Mr. Pecksniff als Mr. Jonas zweimal für je sechs Pence Grog, da der umsichtige junge Gentleman erklärte, sie kämen dabei wegen des Eichmaßes besser weg, als wenn sie zusammen für zwölf Pence Brandy in einer Flasche kommen ließen. Nachdem sich Mr. Pecksniff seinen Anteil an der belebenden Flüssigkeit einverleibt hatte, begab er sich unter dem Vorwande, nach der Kutsche sehen zu wollen, heimlich zum Ausschank und ließ sich seine kleine Flasche füllen, um sich auf der Weiterfahrt in der Finsternis unbemerkt nach Muße erquicken zu können.

Als die Kutsche wieder reisefertig war, nahmen alle ihre alten Plätze wieder ein und rumpelten weiter. Ehe sich jedoch Mr. Pecksniff zu einem Schläfchen anschickte, hielt er es noch für angezeigt, sich einer Art Dankgebet mit folgenden Worten zu entledigen:

»Der Verdauungsprozeß ist, wie ich mir von anatomischen Freunden sagen ließ, eine der wundervollsten Einrichtungen der Natur. Ich weiß nicht, wie es bei anderen sein mag – aber ich empfinde es stets als eine große Genugtuung, zu wissen, daß ich durch einfaches Zumirnehmen eines frugalen Mahles die schönste Maschinerie in Gang setze, von der wir Kunde haben. Es ist mir zu solchen Zeiten in der Tat, als ob ich einen allgemeinen öffentlichen Dienst verrichte. Wenn ich – gestatten Sie diesen Ausdruck – mich selber aufgezogen habe«, sagte Mr. Pecksniff voll Innigkeit, »und weiß, daß ich gehe: so fühle ich gleichsam an der Lehre, die das Uhrwerk mir gibt, wie sehr ich mich als Wohltäter meiner Gattung betätige.«

Dagegen ließ sich nichts einwenden, und da auch niemand einen Versuch dazu machte, schickte sich Mr. Pecksniff, erfüllt von dem Bewußtsein seines moralischen Nutzens, wieder zum Schlaf an.

Der Rest der Nacht wurde wie bisher verbracht; Mr. Pecksniff und der alte Anthony stießen fleißig mit den Köpfen zusammen und wachten dann jedesmal erschreckt auf, oder sie drückten ihre Gesichter in die Wagenecken und tätowierten sie sich im Schlaf mit dem Muster der Polsterung. Passagiere stiegen ein und aus, frische Pferde wurden vorgespannt, ausgespannt und abermals vorgespannt, kurz, die Reise schien kein Ende nehmen zu wollen. Endlich fing die Kutsche an, über ein gräßlich unebenes Pflaster zu holpern und zu poltern. – Mr. Pecksniff erwachte, sah aus dem Fenster und stellte fest, daß es Morgen sei und sie sich an Ort und Stelle befänden.

Sehr bald darauf hielt die Diligence vor dem Postbureau in der City, und die Straße war bereits so belebt, daß Mr. Pecksniffs Worte hinsichtlich des »Morgens« reichlich bestätigt schienen, trotzdem es, nach dem Aussehen des Himmels zu schließen, ebensogut noch Mitternacht hätte sein können. So dichter Nebel lag, daß es ihnen schien, als befänden sie sich in einer Wolkenstadt, zu der sie die lange Nacht hindurch an einer traumhaften magischen Bohnenstange emporgeklettert seien; – und auf dem Pflaster lag eine dicke Paste, die wie Ölschmiere aussah und von einem der Außenpassagiere – fraglos einem Wahnsinnigen – für – – Schnee erklärt wurde.

Mr. Pecksniff verabschiedete sich hastig von Anthony und seinem Sohn und ließ sein und seiner Töchter Gepäck in dem Postbureau, von wo es später abgeholt werden sollte. Dann rannte er wie besessen, eine Tochter an jedem Arm, über alle möglichen Straßen hinüber, die sonderbarsten Sackgassen und Höfe hinauf und hinunter, unter den finstersten Bogengängen weg – bald hüpfte er über eine Gosse, dann riß er wieder aus, um nicht überfahren zu werden, – bald war er der Meinung, den Weg verloren zu haben, dann wieder richtig zu gehen, das eine Mal voll hoher Zuversicht, das andere Mal aufs äußerste verzagt. Aber stets schwitzte er wie ein Braten und lief wie ein Windhund, bis sie endlich in einer Art gepflastertem Hof in der Nähe des Monumentes haltmachten. Das heißt, Mr. Pecksniff behauptete es, denn von dem Monument selbst konnten sie so wenig sehen, als hätten sie in Salisbury mit verbundenen Augen Blindekuh gespielt.

Mr. Pecksniff spähte einen Augenblick umher, dann klopfte er an die Tür eines Hauses, das sogar unter den auserlesen schmutzigen Gebäuden in der Nähe sich dieses Prädikats in superlativo erfreute. Davor hing eine kleine ovale Tafel, wie ein Teebrett, mit der Aufschrift »Logier- und Speisehaus für Handelsbeflissene von M. Todgers«.

M. Todgers schien noch nicht auf zu sein, wenigstens klopfte Pecksniff zweimal und klingelte dreimal, ohne daß dies auf irgendein lebendes Wesen, einen Hund über der Straße drüben ausgenommen, den geringsten Eindruck gemacht hätte. Endlich wurden eine Kette und etliche Riegel mit rostigem Kreischen zurückgeschoben – als ob das Wetter sogar das Metall heiser gemacht hätte –, es erschien ein kleiner Junge mit einem großen roten Kopf, einer Nase, die nicht der Rede wert war, und einem sehr kotigen Krempstiefel über dem linken Arm und rieb sich in seiner Überraschung die erwähnte Nase mit dem Rücken einer Schuhbürste.

»Noch im Bett, mein Junge?« fragte Mr. Pecksniff.

»Noch im Bett!« antwortete der Kleine. »I wollt, sie wären noch alle im Bett. – Alles schreit auf amal nach die Stiefeln. I hab gemoant, Sie san dö Zeidung und hab mi gwundert, warum Sös net wie sunst durchs Gitter schieben. Was wollen S‘ denn?«

In Anbetracht seines noch sehr zarten Alters hätte man die Art, wie der Knabe diese Frage vorbrachte, finster, ja fast trotzig nennen können, aber Mr. Pecksniff nahm keinen Anstoß daran und steckte ihm eine Karte in die Hand mit der Weisung, sie hinaufzutragen und ihm und seinen Töchtern ein geheiztes Zimmer anzuweisen. »Oder wenn das Speisezimmer geheizt ist«, setzte Mr. Pecksniff hinzu, »tut’s das inzwischen auch.«

Sodann führte er – da letzteres der Fall war – seine Töchter ohne weitere Umstände in ein Parterrezimmer, wo bereits der Tisch mit einem etwas knapp bemessenen Tuch darüber für das Frühstück gedeckt, das heißt mit einem großen Teller voll gesottenen, nelkenroten Ochsenfleisches, einem jener Brote von ausgezeichneter Beschaffenheit, die im Volksmunde sich des Namens »Pfennigmuggel« erfreuen, sowie einem reichlichen Vorrat von Unter- und Obertassen geschmückt war.

In dem Kamingitter staken ein halbes Dutzend Paar Schuhe und Stiefel von verschiedener Größe, soeben gereinigt – und mit den Sohlen nach oben gekehrt, um den Trockenprozeß zu beschleunigen; – desgleichen ein Paar kurze schwarze Gamaschen, auf deren einer mit Kreide die Worte »Eigentum Mr. Jinkins’« standen, während die andere eine Profilskizze – wahrscheinlich ein Porträt Mr. Jinkins‘ – aufwies – beides vermutlich ein Scherz eines Gentlemans, der zu diesem Zweck seine Toilette unterbrochen haben, heruntergeschlichen und nach vollbrachter Tat wieder auf sein Zimmer zurückgeeilt sein mochte.

M. Todgers‘ Logier- und Speisehaus für Handelsbeflissene war ohne allen Zweifel zu jeder Tagesstunde ein dunkles Quartier, an diesem Morgen aber ganz besonders finster. In der Flur herrschte ein sonderbarer Geruch vor, als ob die konzentrierte Essenz aller Mittagsmahle, die seit Erbauung des Hauses hier gekocht worden, oben auf der Küchentreppe spuke und sich, wie der schwarze Mönch im Don Juan, nicht wolle vertreiben lassen. Besonders stach ein gewisser Kohlduft hervor, wie wenn sämtliche Gemüse, die je hier bereitet worden, gewissermaßen als Immergrün unausrottbar weiterblühten. Das Speisezimmer war getäfelt und erfüllte den Fremdling mit der instinktiven Ahnung einer zahlreichen Anwesenheit von Ratten und Mäusen. Die außerordentlich finstere und breite Stiege hatte so dicke und schwere Geländer, daß man sie ruhig als Brücke hätte verwenden können. In einer dunkeln Ecke auf dem ersten Treppenabsatz stand eine riesige mürrische alte blinde Wanduhr mit einem widersinnigen Ornament von drei Messingkugeln auf dem Kopf, die nur zu dem Zweck laut zu ticken schien, um unvorsichtige Leute zu warnen, sich an ihr nicht den Kopf anzurennen. Seit Menschengedenken war kein Tüncher oder Tapezierer zu Todgers gekommen, was deutlich aus dem schwarzen, staubigen Aussehen der Wände hervorging. Oben im Treppenhause schielte ein altes und auf jede mögliche Art verklebtes und geflicktes Deckenfenster auf alles, was unten vorging, mißtrauisch herunter und verlieh Todgers‘ Etablissement das Aussehen eines zur Zucht menschlicher Mißgeburten bestimmten Gurkenmistbeetes.

Mr. Pecksniff und seine lieblichen Töchter hatten noch keine zehn Minuten an dem wärmenden Kamin gestanden, als sich Fußtritte auf der Treppe vernehmen ließen und gleich darauf die präsidierende Gottheit der Anstalt ins Zimmer geeilt kam. Mrs. Todgers war eine Dame von etwas knöchernem und hartzügigem Äußern, mit einer Reihe von Locken an der Vorderfassade ihres Kopfes, die wie kleine Bierfäßchen aussahen, und darüber – als Abschluß – eine schwarze Spinnenwebe als Kopfputz. Sie trug ein Körbchen am Arm, nach dem Klirren zu schließen, mit Schlüsseln gefüllt. In der anderen Hand hielt sie eine brennende Talgkerze, die sie, nachdem sie Mr. Pecksniff einen Augenblick bei Licht gemustert, auf den Tisch niedersetzte, um ihre Gäste mit desto größerer Herzlichkeit willkommen heißen zu können.

»Oh, Mr. Pecksniff!« rief Mrs. Todgers. »Willkommen in London! Wer hätte an einen solchen Besuch gedacht nach so – o Gott! – nach so vielen Jahren! Wie geht es Ihnen, Mr. Pecksniff?«

»So gut wie immer; und stets freue ich mich von neuem, wenn ich Sie sehe«, antwortete Mr. Pecksniff. »Wahrhaftig, Sie sind in der Zwischenzeit noch jünger geworden!«

»Das könnte man von Ihnen behaupten!« entgegnete Mrs. Todgers. »Sie haben sich wirklich nicht im mindesten verändert.«

»Nun, und was sagen Sie dazu?« rief Mr. Pecksniff und wies auf die beiden jungen Damen. »Macht mich das nicht älter?«

»Doch nicht Ihre Töchter?« rief Mrs. Todgers und erhob staunend die Hände. »Nein, nein, Mr. Pecksniff! Ihre zweite Frau und deren Brautjungfer!«

Mr. Pecksniff lächelte geschmeichelt, schüttelte den Kopf und erwiderte: »Meine Töchter, Mrs. Todgers, tatsächlich meine Töchter.«

»Ach!« seufzte die gute Dame. »Ich muß es Ihnen wohl glauben. Und jetzt, wo ich sie genauer betrachte, wundere ich mich, daß ich sie nicht gleich erkannt habe. – – Wirklich, meine lieben Misses Pecksniff, Sie glauben gar nicht, wie glücklich mich Ihr Papa gemacht hat, daß er Sie mitbrachte.«

Und überwältigt von ihren Gefühlen – oder von der rauhen Morgenluft – zog sie ein kleines Taschentuch aus dem Körbchen und führte es an die Augen.

»Meine gute Madame«, nahm Mr. Pecksniff das Wort, »ich kenne Ihre Hausregeln und weiß, daß Sie nur Herren in Pension nehmen. Aber, als ich meine Reise antrat, überlegte ich, ob Sie nicht doch vielleicht mit meinen Töchtern eine Ausnahme machen würden.«

»Vielleicht?!« rief Mrs. Todgers in Ekstase. »Vielleicht?!«

»So will ich denn sagen, ich sei überzeugt davon gewesen«, verbesserte Mr. Pecksniff. »Ich weiß, daß Sie ein kleines Privatzimmer haben, und da könnten meine Töchter vielleicht Unterkunft finden, ohne an der allgemeinen Tafel erscheinen zu müssen.«

»Ihr lieben Mädchen!« rief Mrs. Todgers. »Ich muß mir noch einmal die Freiheit nehmen.«

Darunter verstand sie, sie müsse die beiden jungen Damen noch einmal umarmen; – was sie denn auch mit großer Wärme tat. – Eigentlich nur, um Zeit zu gewinnen, denn augenblicklich war das ganze Haus bis auf ein einziges Bett besetzt, das jetzt überdies für Mr. Pecksniff hergerichtet werden mußte. – Das Problem, wo die beiden Mädchen untergebracht werden sollten, war so schwierig zu lösen, daß Mrs. Todgers noch eine ganze Weile nach dieser zweiten Umarmung gedankenverloren – halb Zärtlichkeit, halb Berechnung im Auge – dastehen mußte.

»Ich denke, es wird sich machen lassen«, sagte sie endlich. »Ein Schlafdiwan in dem dritten kleinen Zimmer rechts – ach, ihr lieben, lieben Mädchen!«

Und abermals umarmte sie die beiden Misses Pecksniff und bemerkte sodann, sie könne wahrhaftig nicht angeben, welche von ihnen der seligen Frau Mama – sie hatte diese nie gesehen – ähnlicher sei. Sie glaube, die jüngere. – Schließlich fragte sie, da die Herren gleich herunterkommen würden, ob es den Damen, die gewiß von der Reise sehr müde sein müßten, nicht beliebe, sich inzwischen in ihr eigenes Privatzimmer zu begeben. Es läge im gleichen Stockwerk, ginge hinten hinaus und habe, wie besonders hervorzuheben, den in London nicht zu unterschätzenden Vorteil, daß es kein Visavis besäße, wie die Damen bemerken würden, wenn sich der Nebel verziehe. Das war auch durchaus nicht aufgeschnitten; denn die Aussicht von dort betrug höchstens zwei Fuß und erstreckte sich auf eine braune Mauer mit einem schwarzen Wasserreservoir darauf. In das anstoßende Schlafzimmer der jungen Damen gelangte man durch eine äußerst bequeme kleine Türe – sie ging nur auf, wenn sich eine kräftige Person mit voller Wucht dagegen warf – und konnte von dort den Ausblick auf eine andere Ecke der Mauer und eine andere Seite des Wasserreservoirs genießen. »Nicht die feuchte Seite«, erklärte Mrs. Todgers, »die hat Mr. Jinkins.« In dem ersten dieser Sanktuarien wurde unverzüglich Feuer gemacht, und zwar von dem jugendlichen Portier, der inzwischen beim Stiefelputzen laut gepfiffen, sich abwechslungsweise mit Kohle Ornamente auf die Hosen gezeichnet und sich infolgedessen – dabei von Mrs. Todgers unglücklich-unseligerweise ertappt – eine kräftige Ohrfeige zugezogen hatte. Nachdem sodann die Gnädige den jungen Damen eigenhändig das Frühstück bereitet hatte, entfernte sie sich, um im Speisezimmer den Vorsitz zu übernehmen, wo der bereits erwähnte auf Mr. Jinkins‘ Kosten ausgeführte Spaß einen etwas geräuschvollen Auftritt herbeigeführt zu haben schien. »Ich darf euch wohl nicht fragen, meine Lieben«, sagte Mr. Pecksniff zur Türe hereinsehend, »wie euch London gefällt? Oder?«

»Wir haben noch recht wenig davon gesehen, Pa«, klagte Grazy. – »Eigentlich gar nichts!« schmollte Cherry.

»Das ist freilich wahr«, gab Mr. Pecksniff zu. »Aber wir haben ja auch unser Vergnügen und nicht nur unser Geschäft noch vor uns; alles zu seiner Zeit. Alles zu seiner Zeit.«

Ob Mr. Pecksniffs Geschäfte in London wirklich so eng mit seinem Berufe zusammenhingen wie er seinem neuen Schüler zu verstehen gegeben, auch das wird sich »zu seiner Zeit« zeigen.

9. Kapitel


9. Kapitel

London und Todgers‘ Logier- und Kosthaus

Wohl noch nie mag es in einer Stadt, einem Marktflecken oder einem Dorf auf der Welt eine so eigentümliche Anstalt als die von Mrs. Todgers gegeben haben. Und doch war Todgers‘ Etablissement ganz der Hauptstadt würdig und nicht viel anders als Hunderte und Tausende ähnlicher Häuser, die London in diesem Stadtteil einengt, drängt, quetscht, mit ziegelsteinernen Ellenbogen knufft und des Lichtes und der frischen Luft beraubt.

In der Umgebung von Todgers‘ Anstalt konnte man nicht herumschlendern wie vielleicht anderswo; da hieß es, seinen Weg wohl eine Stunde weit durch Gassen und Gäßchen, Durchlässe und Höfe zu tappen, bis man endlich auf etwas stieß, was man füglich eine Straße nennen konnte. Den Fremden wandelt eine Art verzweifelte Ergebung an, wenn er in diese unwegsamen Irrgänge gerät, in denen er sich unbedingt für verloren geben muß. Da hinein, dort heraus und im Kreis herum, bis ihn schließlich eine Mauer oder ein eisernes Geländer aufhält und er sich – ergeben in Gottes Willen – zur Umkehr genötigt sieht – überzeugt, daß sich schließlich alles zum Guten wenden müsse. Es sind Beispiele bekannt, daß Leute – zu Todgers zum Mittagessen eingeladen – eine halbe Ewigkeit im Kreise herumgingen, ohne die Schornsteine des Etablissements aus den Augen zu verlieren, und es doch nicht finden konnten und schließlich – zwar schweren Herzens, aber doch – wieder nach Hause gingen. Niemals hat wohl jemand Todgers‘ Etablissement auf bloße mündliche Weisung hin, und wäre sie kaum fünfzig Schritt davon entfernt erteilt worden, aufzufinden vermocht. Bedächtige Fremde aus Schottland oder dem Norden von England sollen sich zwar – angeseilt an einen Gassenjungen als Führer oder in die Fußstapfen von Briefträgern tretend – glücklich zurechtgefunden haben. Aber das waren eben seltene Ausnahmen, die nur die Regel bestätigen. Der Ariadnefaden zu Todgers‘ Etablissement ist nur wenigen Auserwählten anvertraut!

In der Nähe von Todgers‘ Logierhaus haben verschiedene Obsthändler ihre Stände, und das ist der Grund, weshalb sich den Sinnen des Wanderers zuerst der Geruch von Orangen aufdrängt – nämlich von schadhaften mit blauen und grünen Beulen versehenen –, die in Kisten oder dumpfen Kellern dahinsiechen. Den ganzen Tag hindurch wogt ein Strom von Lastträgern von den Löschplätzen der Themse her, die, mit zum Bersten überfüllten Orangenkisten auf dem Rücken, langsam durch die Gassen ziehen, während sich unter dem Torweg des Wirtshauses vom Morgen bis in die Nacht hinein ganze Haufen von Leuten zusammendrängen, um auszuruhen oder eine Erfrischung zu sich zu nehmen. Seltsame einsiedlerhafte Pumpbrunnen stehen in der Nachbarschaft von Todgers‘ Logierhaus herum, verstecken sich in Sackgäßchen und leisten den Feuerleitern Gesellschaft. Auch Kirchlein gibt es die Menge, mit so manchem gespenstischen kleinen Friedhof dahinter, überwuchert von der gewissen kümmerlichen Vegetation, die freiwillig aus Grüften und Ruinen, aus Schutt und dumpfigem Grasboden aufzusprießen pflegt. Auf einigen dieser schmutzigen Ruheplätze, die mit einem gewöhnlichen Friedhofsrasen ebenso viel Ähnlichkeit haben wie in den benachbarten Fenstern die irdenen Töpfe für Bartnelken und Goldlack mit ländlichen Gärten, stehen Bäume – hohe Bäume, die Jahr für Jahr ihre Blätter treiben, aber, wie man aus den kränklichen Zweigen entnehmen kann, mit der träumerischen Sehnsucht nach Licht, wie Vögel in Käfigen. Lahme alte Wächter hüten zur Nachtzeit hier die Toten, bis sie sich endlich selbst der schweigsamen Brüderschaft anschließen; nur, daß sie dann gesunder schlafen – von einer andern Art »Schilderhäuschen« umschlossen – als früher jemals über der Erde und sich dann selber bewachen lassen, anstatt noch länger Wächter zu sein.

In den engen Durchfahrten in der Nähe taucht hin und wieder ein altes, mit Schnitzwerk versehenes Eichenportal auf, dahinter vor alters gar oft der Lärm nächtlicher Schwelgerei und üppiger Gelage erscholl. Jetzt sind diese ehemaligen Paläste nichts weiter als dunkle, öde Warenmagazine, deren Echo mit schweren Wollen- und Baumwollballen die Kehle gestopft worden ist – Gebäude, die in ihrem Schweigen, ihrer Einsamkeit und Abgestorbenheit etwas Finsteres, Geisterhaftes haben. Dann liegen düstere Höfe ringsum verstreut, in die sich höchstens einmal ein verspäteter Wanderer verirrt und wo ungeheure Güterballen, für stromauf- oder stromabwärts bestimmt, unablässig an hohen Kränen zwischen Himmel und Erde schweben.

In der Nähe von Todgers‘ Logierhaus gibt es mehr Schubkarren, als man wohl für die Bedürfnisse einer ganzen Stadt für nötig halten sollte – keine aktiven Schubkarren, sondern eine Vagabundenrasse, die beständig in den engen Gassen vor den Türen ihrer Herren herumfaulenzt, den Durchgang versperrt, und wenn einmal eine verirrte Mietkutsche oder ein rumpelnder Frachtwagen des Weges kommt, Anlaß zu einem Lärm gibt, daß die ganze Umgegend lebendig wird und sogar die Glocken des nächsten Kirchturms vibrieren. In den Schlünden und Rachen der Torwege und Sackgassen halten Weingroßhändler und Spezerei-Engrossisten vollkommene, kleine Städte, und tief unter den Fundamenten der Gebäude ist der Grund unterwühlt von Stallungen, aus denen an stillen Sonntagen das Halftergerassel der von Ratten geplagten Karrengäule spukhaft empordringt wie das Kettenklirren ruheloser Gespenster aus Spinnstubenmärchen.

Bände und aber Bände würde die Schilderung der wunderlichen alten Tavernen füllen, die in der Nähe von Todgers‘ Logierhaus ein schläfriges, geheimnisvolles Dasein fristen, mit ihren kuriosen alten Stammgästen, die mit rasselndem Husten, asthmatisch und kurzatmig, nur noch inbetreff Geschichtenerzählens wunderbar gute Blasbälge besitzen und gewaltige Gegner der Dampfkraft und all des neumodischen Zeugs sind, die die Aeronautik für sündhaft halten, die Entartung des Zeitalters beklagen und zu der Ansicht hinneigen, die Sittlichkeit gehe zu Ende mit dem Perückenpuder und Englands alte Größe werde mit der Frisierkunst zu Grabe getragen.

Was Todgers‘ Logierhaus selbst betrifft – um von ihm bloß als Gebäude und nicht von seiner Eigenschaft und seinem Verdienst als Beherbergungs- und Speiseanstalt für Handelsbeflissene zu sprechen –, so war es seiner Umgebung vollkommen würdig. Für das Stiegenhaus hatte es ein einziges Fenster seitwärts im Erdgeschoß, das der Sage nach seit hundert Jahren nicht geöffnet worden und von dem Schmutz des Nebengäßchens dahinter derart mit einer zähen Schlammkruste überzogen war, daß keine Scheibe hätte herausfallen können, und wenn jede in zwanzig Stücke zersprungen gewesen wäre. Aber das große Geheimnis von Todgers‘ Logierhaus war der Keller, zu dem man nur durch ein kleines Hinterpförtchen und ein rostiges Gitter gelangen konnte. Seit Menschengedenken hatte er in keiner Verbindung mit dem Haus gestanden, sondern war stets das zinsfreie Eigentum irgendeines Unbekannten gewesen. Es ging die Sage, er stäke voller Schätze, wenngleich deren Art – ob nun Silber, Erz, Gold, Weinfässer oder Pulvertonnen – sowohl für Todgers‘ Etablissement wie für dessen sämtliche Insassen ein Gegenstand tiefer Ungewißheit und vollkommenster Wurstigkeit war.

Der Giebel des Hauses war besonders der Beachtung wert. Über das Dach hin erstreckte sich eine Art Terrasse, geschmückt mit Stangen und den verwitterten Überresten pensionierter Wäschestricke und ein paar mit Erde gefüllter Teekisten, in denen einige vergessene verdorrte Pflanzen wie alte Spazierstöcke staken. Wer immer zu diesem Observatorium emporklomm, wurde zuvörderst durch einen Schlag auf den Kopf von einer kleinen Falltür betäubt und sodann beinahe erstickt von der Rauchsäule aus dem Küchenschornstein, über den jeder Eindringling beim Aufwärtsklimmen seinen Kopf einen Augenblick zu halten gezwungen war. Hatte man aber einmal diese Fährnisse hinter sich, so konnte man von Todgers‘ Giebel aus Dinge schauen, die allerdings sehenswert waren. Erstlich und zuvörderst erblickte man, wenn der Tag hell war, über die Dächer sich weithin erstreckend einen langen, dunklen Pfad: – den Schatten des Monuments; und wenn man sich umwandte, stand das hohe Original selbst dicht vor einem, jedes Haar gesträubt auf dem goldenen Kopf, als sei es entsetzt über das Treiben der Stadt. – Dann sah man alte Stadttürme, Kirchtürme, Glockentürme, blinkende Wetterfahnen und einen ganzen Wald von Schiffsmasten – Giebel, Dächer, Dachfenster ohne Zahl und Ende – Rauch und Lärm genug für eine ganze Welt.

Allmählich tauchten dann aus dem Gewirr unwesentlichere Gegenstände auf und zogen ohne ersichtlichen Grund aus dem Getümmel hervorspringend die Aufmerksamkeit des Beschauers auf sich, mochte er nun wollen oder nicht. So schienen zum Beispiel die beweglichen Kappen eines Schornsteinungetüms sich hin und wieder gravitätisch miteinander zu besprechen und sich ihre Beobachtungen über das, was unten vorging, zuzuflüstern. Andere von buckliger Gestalt stellten sich hartnäckig und boshafterweise quer, um die Aussicht zu versperren. Der Mann, der über der Straße drüben im Mansardenfenster seine Feder schnitt, wurde plötzlich von unendlicher Wichtigkeit in der Szene und ließ eine lächerliche, ganz unverhältnismäßige Lücke im Bilde zurück, als er sich entfernte. Die Kapriolen eines Stückes Tuch auf einer Färberstange boten mit einem Male weit mehr Interesse als all die wechselnden Bewegungen der Volksmassen. Und noch während der Beschauer sich ärgerlich darüber wunderte, wie dies nur möglich sei, schwoll der Tumult zu einem Gebrüll an; die Masse von Gegenständen schien sich zu verdichten und hundertfältig auszudehnen. Verschüchtert sah sich dann der Fremdling um, kehrte schneller, als er gekommen, in Todgers‘ inneres Heim wieder zurück und erzählte Mrs. Todgers in neun unter zehn Fällen, er würde zuverlässig auf dem kürzesten Weg – nämlich kopfüber – auf die Straße hinabgelangt sein, wenn er noch länger geblieben wäre.

Und so sagten auch die beiden Misses Pecksniff, als sie mit Mrs. Todgers von diesem Beobachtungsposten zurückkehrten, es dem jungen Portier überlassend, die Türe zu schließen und ihnen nachzukommen, oder, wie es in diesem Falle zutraf, sich mit der seinem Geschlechte und Lebensalter eigentümlichen Freude an der Möglichkeit, herunterzustürzen und zu zerschellen, auf der Brustwehr noch ein wenig zu ergehen.

Am zweiten Tage ihres Aufenthaltes in London standen die Misses Pecksniff und Mrs. Todgers bereits auf sehr vertrautem Fuß miteinander; wenigstens hatte Mrs. Todgers ihre jungen Freundinnen schon zum zweitenmal in alle Einzelheiten der drei unglücklichen Liebschaften ihrer frühern Jahre und in das Leben, die Aufführung und den Charakter Mr. Todgers‘ eingeweiht, der seine eheliche Laufbahn etwas unversehens abgebrochen zu haben schien, um auf völlig ungesetzliche Weise sich dem häuslichen Glück zu entziehen und sich im Ausland als Junggeselle von neuem zu etablieren.

»Auch Ihr Papa erwies mir seinerzeit manche Aufmerksamkeit, meine lieben Kinder«, fuhr Mrs. Todgers in ihren vertraulichen Eröffnungen fort, »doch das große Glück, Ihre Mama zu werden, war mir versagt. – – – Sie erraten wohl kaum, wen dies darstellen soll?«

Sie lenkte damit die Aufmerksamkeit ihrer jungen Freundinnen auf ein ovales Miniaturbild, das, von einem kleinen Blasenpflaster kaum zu unterscheiden, eine nebelhafte Skizzierung ihres eigenen Antlitzes darstellte.

»Wirklich, zum Sprechen ähnlich!« riefen die beiden Misses Pecksniff wie aus einem Munde.

»So behauptete man wenigstens früher,« gab Mrs. Todgers zu und wärmte sich nach Herrenart den Rücken am Kamin; »ich hätte nicht gedacht, meine Lieben, daß Sie es so schnell erkennen würden.« Sie würden es an allen Orten und unter allen Umständen erkannt haben, versicherten die jungen Damen. »Hätten wir es auf der Straße oder in einem Ladenfenster gesehen, so würden wir ohne weiteres gerufen haben: ›Sieh doch nur, das ist ja Mrs. Todgers!‹«

»Wenn man einem Hauswesen wie dem meinigen vorzustehen hat, erleiden die Züge traurige Verheerungen, meine lieben Misses Pecksniff«, erklärte Mrs. Todgers. »Ich kann Ihnen versichern, die Fleischbrühe allein macht einen schon um zwanzig Jahre älter.«

»O Gott!« riefen die beiden Misses Pecksniff.

»Die Angst, die man dabei aussteht, ob man’s auch allen recht macht, meine lieben Kinder, erhält den Geist in unablässiger Spannung. In der ganzen menschlichen Natur ist keine Leidenschaft so ausgeprägt wie die für Fleischbrühe unter den Herren Handlungsbeflissenen. Eine Ochsenkeule – was sage ich? – ein ganzer Ochse reicht nicht aus, um die Fleischbrühe, die sie jeden Mittag haben wollen, zu bestreiten. Ach, was ich deshalb schon ausgestanden habe!« rief Mrs. Todgers und blickte kopfschüttelnd zur Decke auf. »Nein, es übersteigt alle Grenzen.«

»Gerade wie Mr. Pinch, Grazy!« sagte Charitas. »Erinnerst du dich, daß wir stets einen gleichen Hang an ihm bemerkt haben?«

»Ja, liebe Cherry«, kicherte Grazy; »aber du weißt, er hat doch keine gekriegt.«

»Was denn, Sie, meine Lieben, Sie können sich’s einrichten, wie Sie wollen. Sie haben es nur mit den Schülern Ihres Vaters zu tun, und die müssen sich alles gefallen lassen«, lamentierte Mrs. Todgers; »aber in einem Etablissement für Handlungsbeflissene, wo jeder am Samstagabend sagen kann: ›Mrs. Todgers, heut über acht Tag sind wir von wegen diesem Käse geschiedene Leute‹, ist es nicht so leicht, in gutem Einvernehmen miteinander zu bleiben. Ihr Papa« – setzte die gute Dame hinzu – »war so freundlich, mich heute zu einer Ausfahrt mit Ihnen einzuladen; und wenn ich nicht irre, so gedenkt er bei Miss Pinch einen Besuch zu machen. Vermutlich eine Verwandte des Gentlemans, von dem Sie eben gesprochen haben, Miss Pecksniff?« »Um Himmels willen, Mrs. Todgers«, fiel ihr die lebhafte Grazy ins Wort, »nennen Sie ihn doch nicht einen Gentleman. Liebe Cherry, denk nur: Pinch ein Gentleman! Schon der Gedanke!«

»Was Sie für ein gottloses Mädchen sind!« rief Mrs. Todgers und umarmte Miss Gratia mit großer Zärtlichkeit. »Wahrhaftig, der reinste Spottvogel! Meine liebe, liebe Miss Pecksniff, wie glücklich muß nicht die Lebhaftigkeit Ihrer Schwester Ihren Papa und Sie machen!«

»Er ist die häßlichste, glotzäugigste Kreatur von der Welt, Mrs. Todgers«, erklärte Gratia. »Ein leibhaftiger Menschenfresser. Der garstigste, linkischste und abschreckendste Kerl, den Sie sich nur vorstellen können. – Man kann sich da ungefähr ausmalen, wie seine Schwester ausschauen muß. Ich werde laut herauslachen müssen, wenn ich sie sehe; – das weiß ich jetzt schon!« rief das charmante Mädchen. »Der bloße Gedanke, daß es überhaupt eine Miss Pinch geben kann, wirft einen schon um. – Oh, du allbarmherziger Himmel!«

Mrs. Todgers konnte sich gar nicht fassen vor Heiterkeit über den Humor der holden Jungfrau und erklärte, sie kriege wahrhaftig Angst vor ihr; sie sei gar zu streng.

»Wer ist streng?« rief eine Stimme an der Türe. »Ich hoffe, es gibt nichts dergleichen in unserer Familie!« Und dann guckte Mr. Pecksniff lächelnd ins Zimmer und fragte: »Darf ich eintreten, Mrs. Todgers?«

Mrs. Todgers schrie fast laut auf, denn die kleine Verbindungstüre zwischen den beiden Zimmern stand weit offen und ließ den Schlafdiwan in seiner ganzen monströsen Anstößigkeit erblicken. – Aber geistesgegenwärtig schloß sie sie rasch und rief, wenn auch nicht ohne Verwirrung:

»O ja, Mr. Pecksniff, bitte, treten Sie nur ein.«

»Wie befinden wir uns heute?« fragte Mr. Pecksniff aufgeräumt. »Und was haben wir vor? Sind wir bereit, aufzubrechen und Tom Pinchs Schwester zu besuchen? – – Ha, ha, ha! der arme Thomas Pinch.«

»Nun, sind wir bereit«, nahm Mrs. Todgers verständnisvoll nickend die Frage auf, »sind wir bereit, auf Mr. Jinkins‘ und der übrigen Herren Bitte eine geneigte Antwort zu geben? Das ist die erste Frage, Mr. Pecksniff.«

»Mr. Jinkins‘ Bitte, meine liebe Madame?« fragte Mr. Pecksniff, legte den einen Arm um Gratia und den andern um Mrs. Todgers, sie in der Zerstreuung vermutlich für Charitas haltend. »Wie kommen Sie auf Mr. Jinkins?«

»Weil er das Zirkular entworfen hat und überhaupt bei allem, was im Hause geschieht, den Ton angibt«, erklärte Mrs. Todgers aufgeräumt. »Nur deshalb.«

»Mr. Jinkins ist ein Mann von ausgezeichneten Talenten«, bemerkte Mr. Pecksniff. »Alle Achtung vor Mr. Jinkins. Ich ersehe aus seinem Wunsch, meinen Töchtern eine Aufmerksamkeit zu erweisen, einen weitern Beleg für seine freundschaftlichen Gesinnungen, Madame.«

»Nun gut«, meinte Mrs. Todgers, »wenn Sie sich so weit ausgesprochen haben, müssen Sie auch mit dem übrigen herausrücken, Mr. Pecksniff, und den lieben jungen Damen alles mitteilen.«

Dabei machte sie sich sanft von Mr. Pecksniff los und umarmte Miss Charitas, möglicherweise aus heißer, mütterlicher Liebe, vielleicht aber auch, weil die vernachlässigte junge Dame sie lauernd und gehässig, sogar entschieden verächtlich von der Seite angesehen hatte. Sei dem übrigens, wie es wolle, Mr. Pecksniff zögerte nicht länger, seine Töchter hinsichtlich Entstehung und Inhalt erwähnter, mit Unterschriften versehener Bitte zu belehren, die kurz dahin lautete, daß die Herren Handelsbeflissenen, die die Summe und das Um und Auf des eine große Gesamtheit umfassenden Namens »Todgers« bilden halfen, solange die Misses Pecksniff im Hause weilten, um die Ehre ihrer Anwesenheit bei der Table d’hôte bäten. – Es war ausdrücklich betont, die Damen möchten damit schon am morgigen Sonntag den Anfang machen. Mr. Pecksniff erklärte, daß er für seinen Teil gegen die Einladung nichts einzuwenden habe, da Mrs. Todgers damit einverstanden sei. Dann verließ er die Damen, um sein gnädiges Antwortschreiben zu verfassen, während diese sich mit ihren besten Hüten bewaffneten, um Miss Pinch eine gründliche Niederlage zu bereiten. Tom Pinchs Schwester war Gouvernante in einer ungemein stolzen Familie – vielleicht der reichsten Rot- und Gelbgießerfamilie, von der die Menschheit weiß. Sie wohnten in Camberwell in einem so großen und protzigen Hause, daß schon die Fassade wie die eines von Riesen bewohnten Schlosses gemeine Seelen mit Schrecken erfüllte und auch den Kühnsten erzittern machte. Vorne befand sich ein großes Tor mit einer großen Glocke, deren Handgriff an sich schon ein Ausrufungszeichen bedeutete, und eine große Portierloge, die so dicht ans Haus gebaut war, daß sie jede Aussicht zwar verbarrikadierte, aber den Pomp ungemein erhöhte. An diesem Eingang hielt ein großer Portier beständig Wacht, und wenn er einem Besuch gnädig Erlaubnis erteilte, einzutreten, erscholl eine zweite große Glocke, auf deren Klang nach einer geziemenden Weile an dem großen Hallentore ein großer Lakai erschien, mit so großen Achselfangschnüren auf der Livree, daß er sich alle Augenblicke an den Stuhllehnen festhakte und sozusagen das qualvolle Leben einer Schmeißfliege in einer Welt von Spinnweben führte.

Höchst prunkvoll fuhr nun Mr. Pecksniff in Begleitung Mrs. Todgers‘ und seiner Töchter in einem Einspänner vor diesem Prachtgebäude vor. Nach glücklicher Erledigung der geschilderten Einleitungszeremonien wurden die Herrschaften in das Haus geführt und gelangten nach längerer Irrfahrt endlich in ein kleines Zimmer mit Büchern, wo Mr. Pinchs Schwester eben ihre älteste Schutzbefohlene unterrichtete, ein kleines frühreifes Dämchen von dreizehn Jahren, das es bereits zu einer solchen Höhe von Schnürleibchenanstand und Erziehung gebracht hatte, daß es zur großen Freude aller ihrer Familienangehörigen und Verwandten nicht die geringste Spur von Mädchenhaftigkeit mehr durchblicken ließ.

»Besuch für Miss Pinch!« meldete der Lakai.

Er war offenkundig ein sehr talentvoller junger Mann, denn er entledigte sich der Botschaft ungemein taktvoll, das heißt, er traf vorzüglich den richtigen Ton zwischen dem kalten Respekt, womit er Gäste der Familie, und der warmen, persönlichen Anteilnahme, mit der er einen Besuch bei der Köchin angekündigt haben würde. »Besuch für Miss Pinch!«

Miss Pinch erhob sich hastig und mit solcher Aufregung, daß man leicht erriet, wie gering die Liste derer, die sie erwarten konnte, sein mochte. Gleichzeitig nahm die kleine Schülerin auf ihrem Stuhle eine beunruhigend steife Haltung an, sichtlich entschlossen, sich jedes Wort genau im Geiste zu notieren. Die Frau vom Hause war nämlich ungemein wißbegierig hinsichtlich der Naturgeschichte und der Gewohnheiten des Tieres, das man »Gouvernante« nennt, und munterte ihre Tochter stets auf, alles zu melden, was sie im Interesse der guten Sache erlauern könnte.

Höchst bedauerlich zwar, aber nichtsdestoweniger Tatsache war, daß Mr. Pinchs Schwester durchaus nicht häßlich genannt werden durfte, sogar im Gegenteil ein sehr sanftes, einnehmendes Gesichtchen und eine wenn auch kleine und zarte, so doch äußerst reizvolle Figur hatte. Sie sah in gewissem Sinne ihrem Bruder ähnlich, das heißt, sie hatte dieselbe Sanftmut im Benehmen und den gleichen schüchternen und doch vertrauensvollen Blick, aber es fehlte ihr doch soviel zu der Vogelscheuche, der Schlumpe, dem Scheusal oder dergleichen, wofür sie von den Misses Pecksniff zum voraus erklärt worden war, daß die beiden jungen Damen sie natürlich mit großem Unwillen betrachteten, deutlich fühlend, daß Miss Pinch nicht im entferntesten die Person war, um derentwillen sie sich herbemüht hatten.

Miss Gratia, die lustigere von beiden, schickte sich noch am besten in die Enttäuschung und setzte sich wenigstens äußerlich durch ein Gekicher über ihren Ärger hinweg, ihre Schwester hingegen gab sich überhaupt keine Mühe, sich zu verstellen, und drückte ihren Unmut ziemlich offen in einer geringschätzigen Miene aus. Mrs. Todgers stützte sich auf Mr. Pecksniffs Arm und legte eine gewisse vornehme Grämlichkeit an den Tag, die zu jeder Gemütsstimmung passen und alle Meinungsschattierungen in sich schließen konnte.

»Erschrecken Sie nicht, Miss!« begann Mr. Pecksniff, nahm Miss Pinchs Hand herablassend in seine linke und tätschelte sie mit der rechten. »Ich besuche Sie zufolge eines Versprechens, das ich Ihrem Bruder, Thomas Pinch, gegeben habe. Mein Name – fassen Sie sich, Miss – ist Pecksniff.« Der Treffliche betonte diese Worte mit besonderem Nachdruck, und es klang so etwas durch wie: »Junge Person, du siehst in mir den Wohltäter deines Stammes, den Gönner deines Hauses und den Brotherrn deines Bruders, der tagtäglich an meinem Tische mit Manna gespeist wird und in den Büchern des Himmels als ›Haben‹-Posten für mich eingetragen steht. Ich bin trotzdem keineswegs stolz; es bedarf dessen nicht.«

Die arme Miss Pinch fühlte dies alles wie ein Evangelium. Ihr Bruder hatte ihr in der Fülle seines schlichten Herzens oft dasselbe geschrieben und noch viel mehr. Als Mr. Pecksniff schwieg, senkte sie daher ihr Köpfchen und ließ eine Träne auf seine Hand fallen.

»Ah, Miss Pinch«, dachte die kleine scharfsinnige Schülerin, »Sie weinen vor Freuden. Das soll wohl heißen, Sie fühlen sich unglücklich auf Ihrem Posten!?«

»Thomas ist wohlauf«, berichtete Mr. Pecksniff, »läßt Sie grüßen und schickt Ihnen diesen Brief. Ich kann zwar gerade nicht behaupten, daß der arme Mensch sich je in unserer Kunst auszeichnen wird, aber er hat doch den besten Willen, was gleich nach wirklichem Können kommt, und daher müssen wir eben ein Auge zudrücken. – Was?«

»Ich weiß, daß es ihm an gutem Willen nicht fehlt«, rief Miss Pinch; »auch weiß ich genau, wie gütig und rücksichtsvoll Sie ihn behandeln. – Ach, wir schreiben einander oft, daß wir Ihnen nie dankbar genug sein können. Auch den jungen Damen« – setzte sie mit einem strahlenden Blick auf die Misses Pecksniff hinzu –, »ich weiß, wie sehr wir Ihnen allen verpflichtet sind.«

»Meine Lieben«, wendete sich Mr. Pecksniff an seine Töchter, »Toms Schwester sagt etwas, was ihr mit Vergnügen hören werdet.«

»Wir können durchaus kein Verdienst für uns in Anspruch nehmen, Papa!« lehnte Cherry schroff ab und gab, wie auch Gratia, Miss Pinch mit einem steifen Knicks zu verstehen, sie wünsche die gehörige Distanz gewahrt zu sehen. »Daß Mr. Pinch so gut versorgt ist, verdankt er dir allein, und wir können uns nur freuen, zu hören, daß er das, was du für ihn tust, gebührendermaßen anerkennt.« »Vortrefflich, Miss Pinch!« dachte die scharfblickende kleine Schülerin abermals. »Sie haben also einen dankbaren Bruder, der von anderer Leute Wohltaten lebt. So, so!«

»Es war sehr freundlich von Ihnen«, sagte Miss Pinch mit der schlichten Einfachheit und dem Lächeln ihres Bruders, »wirklich außerordentlich freundlich, daß Sie sich selbst zu mir bemühten. Wo Sie so wenig Gewicht auf die Wohltaten legen, die Sie spenden, können Sie sich gar nicht denken, wie sehr ich es empfinde, daß Sie mir Gelegenheit geben, Ihnen mündlich danken zu dürfen!«

»Sehr erfreulich; sehr verbunden; sehr hübsch gesagt«, murmelte Mr. Pecksniff.

»Und ich bin so froh«;, fuhr Ruth Pinch fort, nachdem die erste Befangenheit vorüber war, in das fröhliche herzliche Wesen verfallend, das auch ihren Bruder auszeichnete, der in seiner redlichen Einfalt auch immer gleich alles von der besten Seite nahm, »so froh, denken zu dürfen, daß Sie Tom jetzt bezeugen können, wie außerordentlich glücklich ich mich hier in meiner Stellung fühle und wie unnötig es ist, daß er sich stets mit Sorgen quält, weil ich wegen meines Unterhalts auf mich selbst angewiesen bin. – Wirklich, ich bin überzeugt, wir könnten ohne Murren oder Klage weit mehr ertragen, als uns je auferlegt wurde, solange nur eins von dem andern hört, daß es glücklich ist.«

– Wenn je auf dieser dann und wann recht verlogenen Erde ein wahres Wort gesprochen wurde, so war es diesmal gewiß bei Toms Schwester der Fall gewesen. –

»Ach!« rief Mr. Pecksniff, dessen Blick inzwischen auf die kleine Schülerin gefallen war. »Und wie geht es Ihnen, mein höchst interessantes liebes Kind?«

»Ganz gut. Danke, Sir«, antwortete die frostige Unschuld.

»Welch holdes Antlitz, meine Lieben«, fuhr Mr. Pecksniff zu seinen Töchtern gewendet fort, »und das entzückende Benehmen!«

Die beiden jungen Damen waren schon von Anfang an ganz hingerissen gewesen von dem Sprößling eines reichen Hauses, durch den man mutmaßlich den Eltern am schnellsten und leichtesten beikommen konnte, und Mrs. Todgers versicherte hoch und teuer, sie habe noch nirgends ein so engelhaftes Wesen gesehen. »Sie brauchte nur«, erklärte die wackere Frau, »sie brauchte nur noch ein paar Flügelchen zu haben, um ein vollendeter junger Sirup zu sein« – womit sie vermutlich einen Seraph oder eine Sylphide meinte.

»Wenn Sie das Ihren verehrten Herren Eltern geben und ihnen zugleich sagen wollten, meine liebenswürdige kleine Freundin«, säuselte Mr. Pecksniff und zog eine seiner Geschäftskarten hervor, »daß ich und meine Töchter –«

»Und Mrs. Todgers, Papa!« ergänzte Gratia.

»– und Mrs. Todgers aus London – also, daß ich, meine Töchter und Mrs. Todgers aus London nicht lästig fallen wollen, da wir einzig und allein beabsichtigten, ein wenig nach Miss Pinch zu sehen, deren Bruder als junger Mann bei mir in Diensten steht, und daß ich übrigens dieses in den reinsten Formen gehaltene Palais nicht verlassen kann, ohne als Architekt dem korrekten und eleganten Geschmack des Eigentümers meine ergebenste Huldigung zu zollen und die gerechte Würdigung ehrend anzuerkennen, die er der herrlichen Kunst angedeihen läßt, deren Pflege ich ein ganzes Leben geweiht und deren Ruhm zu fördern ich ein – ein Vermögen geopfert habe, so würde ich Ihnen sehr zu Dank verpflichtet sein.«

»Missis läßt sich Miss Pinch empfehlen«, meldete plötzlich eintretend der Lakai ganz in demselben Stile wie früher, »und läßt fragen, was das gnädige Fräulein momentan lernt.«

»Oh!« rief Mr. Pecksniff. »Da ist der junge Mann. Vielleicht kann er die Karte abgeben. Meine Lieben, wir stören im Unterricht. Lasset uns gehen.«

Einen Augenblick richtete Mrs. Todgers eine gewisse Verwirrung an, indem sie ihr flaches Armkörbchen aufschnallte und dem »jungen Mann« eine von ihren eigenen Karten zusteckte, die, außer umständlichen Erörterungen der Statuten ihres Logierhauses, eine Anmerkung mit dem Zusatze enthielt, M. T. nähme die Gelegenheit wahr, den Herren zu danken, die sie mit ihrem geneigten Zuspruch beehrt hätten, und sie um die Gewogenheit zu bitten, falls sie mit dem Mittagstisch zufrieden gewesen sein sollten, ihr Haus gütigst weiter zu empfehlen. – Mr. Pecksniff eroberte jedoch mit bewunderungswürdiger Geistesgegenwart das Dokument wieder zurück und verwahrte es in seiner eigenen Tasche.

Dann redete er Miss Pinch an, und zwar mit noch größerer Herablassung und Güte als vorher, galt es doch, dem Lakaien begreiflich zu machen, daß sie nicht Freunde, sondern Gönner des Mädchens seien:

»Guten Morgen. Leben Sie wohl. Gott behüte Sie! Sie können sich darauf verlassen, daß ich Ihrem Bruder Thomas meinen Schutz nicht entziehen werde. Seien Sie über diesen Punkt unbesorgt, Miss!«

»Ich danke Ihnen viel – vielmals«, entgegnete Toms Schwester mit großer Herzlichkeit, »wirklich tausend –«

»Keine Ursache«, unterbrach sie Mr. Pecksniff und tätschelte ihr gütig den Arm. »Nicht der Rede wert. Sie machen mich böse, wenn Sie noch ein Wort darüber verlieren. – Und Sie, mein süßes Kind«, wendete er sich zu der kleinen Schülerin, »leben Sie wohl! Nein, dieses feenhafte liebe Geschöpfchen« – setzte er hinzu und stierte dabei zerstreut den Lakaien an, als meine er ihn – »hat ein Licht auf meinen Lebenspfad geworfen, so strahlend, daß ich es wohl so leicht nicht werde vergessen können! – Nun, meine Lieben, seid ihr bereit?«

Die Damen waren aber noch nicht ganz fertig, denn sie mußten die Kleine doch erst liebkosen! Endlich rissen sie sich los, rauschten mit einem hochmütigen Kopfnicken und einem schon in der Geburt erstickten Knicks an Miss Pinch vorbei und stolzierten hinaus.

Der »junge Mann« brauchte ziemlich lange, um die Herrschaften hinauszubegleiten, denn Mr. Pecksniffs Entzücken über die geschmackvolle Konstruktion und Einrichtung des Hauses kannte keine Grenzen, und er konnte auch nicht umhin, des öftern (namentlich als sie in die Nähe des Wohnzimmers kamen) haltzumachen und seinem Lob mit lauter Stimme und in sehr gelehrten Ausdrücken Worte zu verleihen. Er hielt geradezu einen populären Vortrag über Architektonik, soweit diese natürlich auf Wohnhäuser anwendbar sein kann, und war noch im schönsten Redefluß, als sie den Garten erreichten. »Wenn ihr«, sprach er, trat rücklings von der Treppe zurück, legte den Kopf auf die Seite und kniff ein Auge zu, um die Proportionen des Baues besser beurteilen zu können, »wenn ihr, meine Lieben, den Fries betrachtet, der das Dach trägt, und das Leichte in der Konstruktion, namentlich dort am südlichen Winkel des Gebäudes, zu erkennen vermögt, so werdet ihr mit mir fühlen. – – – Oh, wie steht das werte Befinden, Sir, ich hoffe, Sie sind wohlauf?«

Mit diesem Ausruf unterbrach er seine Rede und verbeugte sich sehr höflich vor einem Herrn in mittleren Jahren, der jetzt an einem Fenster im oberen Stock sichtbar wurde. Er redete natürlich den Herrn nicht an, zumal ihn dieser gar nicht hätte hören können, sondern akkompagnierte seinen Gruß lediglich mit geziemenden Worten.

»Ich zweifle nicht, meine Lieben«, fuhr Mr. Pecksniff, zu seinen Töchtern gewendet, fort und tat, als mache er sie auf weitere bauliche Schönheiten aufmerksam, »daß dies der Eigentümer des Hauses ist. Es würde mich freuen, mit ihm näher bekannt zu werden, da es für mich sehr ersprießlich sein könnte. – Sieht er nach uns herunter, Charitas?«

»Er öffnet das Fenster, Papa!«

»Aha!« meinte Mr. Pecksniff leise. »Sehr gut! Er hat gemerkt, daß ich ein Sachverständiger bin. Ohne Zweifel hörte er mich drinnen schon. Schauet jetzt nicht hinauf! – Was die mit Hohlkehlen verzierten Pilaster im Portikus betrifft, meine Lieben –« begann er laut –

»Heda!« rief der Herr herunter.

»Sir? Ihr Diener«, erwiderte Mr. Pecksniff und zog den Hut. »Ich bin stolz darauf, Ihre werte Bekanntschaft zu machen.«

»Ich frage Sie, ob Sie aus dem Rasen heraustreten wollen!« brüllte der Herr.

»Ich bitte um Verzeihung, Sir«, entgegnete Mr. Pecksniff, im Zweifel, ob er recht gehört habe. »Wollten Sie –?«

»Heraus aus dem Rasen!« wiederholte der Herr mit Nachdruck. »Wir möchten nicht gern lästig fallen, Sir – –« begann Mr. Pecksniff lächelnd.

»Aber Sie fallen lästig! Über die Maßen lästig. Und verderben mir meinen Grasplatz. Sehen Sie denn nicht, daß ein Kiesweg da ist?! Zu welchem Zweck, glauben Sie wohl, habe ich ihn anlegen lassen? Das Tor dort aufgemacht und die Leute hinausgewiesen!«

Damit schlug der Herr das Fenster wieder zu und verschwand.

Mr. Pecksniff setzte seinen Hut auf und verfügte sich sehr bedächtig nach seinem Einspänner, dabei stumm und angelegentlich die Wolken betrachtend. Nachdem er Mrs. Todgers und seinen Töchtern einzusteigen geholfen hatte, blieb er noch eine Weile sinnend vor dem Wagen stehen, als sei er nicht ganz mit sich im reinen, ob es ein Fuhrwerk oder ein Tempel sei; erst, als er sich diesbezüglich völlig klar war, nahm er Platz, faltete die Hände über dem Knie und lächelte seinen drei Begleiterinnen zu.

Seine Töchter jedoch, weniger seelenruhig, ließen ihrem Unwillen freien Lauf. Das habe man davon, meinten sie, wenn man Kreaturen wie die Pinchs am Busen nähre. Das sei die Folge, wenn man sich wegwerfe, und das komme dabei heraus, wenn man sich in die demütigende Lage versetze, den Anschein zu erwecken, als sei man mit solchen kecken, frechen, verschmitzten und abscheulichen Dingern wie Toms Schwester bekannt. Sie hätten das übrigens kommen sehen und Mrs. Todgers gegenüber noch diesen Morgen davon gesprochen, wie dieselbe bezeugen könne. Der Eigentümer des Hauses habe, in der Meinung, sie seien mit Miss Pinch befreundet, ihrer Ansicht nach ganz recht gehandelt und nichts getan, was sich nicht unter solchen Umständen vernünftigerweise erwarten lassen müsse. – Und er sei, setzten sie etwas inkonsequenterweise hinzu, »ein gemeines Vieh und ein Rüpel«, worauf sie in einen Strom von Tränen ausbrachen, der alle weitern Beiwörter wegschwemmte.

Nun war jedoch Miss Pinch weit weniger die Veranlassung zu einer solchen Behandlung als vielmehr der »Sirup«, der unmittelbar nach Abgang des Besuches zum Rapport mit dem ausführlichen Bericht ins Hauptquartier geeilt war, in welch vermessener Weise man ihn mit einem Auftrag belästigt hatte, der Sache des Lakaien, und zwar von Anfang an, gewesen wäre; – ein Verbrechen, das in Verbindung mit Mr. Pecksniffs durchaus nicht aufdringlich gemeinten Bemerkungen über das Gebäude offenbar die Schuld an der barschen Abfertigung trug. Die arme Miss Pinch mußte natürlich dafür büßen und wurde von der Mutter des »Sirups« wegen ihrer ordinären Bekanntschaften so heruntergekanzelt, daß sie sich in Tränen in ihr Kämmerlein zurückzog und sich lange trotz ihres natürlichen Frohsinns über die Ehre, Mr. Pecksniff kennengelernt und einen Brief von ihrem Bruder erhalten zu haben, nicht freuen konnte.

Was Mr. Pecksniff betraf, so belehrte er seine Begleiterinnen, daß eine gute Handlung ihren Lohn stets in sich selbst trage; oder er gab ihnen vielmehr zu verstehen, wenn er bei genanntem Anlaß Fußtritte erhalten hätte, es in seelischer Hinsicht sogar noch besser gewesen wäre. Das war jedoch kein besonderer Trost für die jungen Damen, wenigstens grollten sie auf dem ganzen Rückweg in einem fort und verrieten mehr als einmal den lebhaften Wunsch, auf die stillergebene Mrs. Todgers loszufahren, der sie innerlich mit die Schuld an der üblen Behandlung gaben – schon infolge ihres nichtzuverkennenden Äußern als Logierhausbesitzerin, gar nicht zu sprechen von dem Verstoß mit der Karte und dem verdächtigen Armkörbchen.

In Todgers‘ Etablissement ging es noch am selben Abend sehr geräuschvoll zu, teils wegen einiger häuslicher Extravorbereitungen für morgen, teils auch wegen des in einem solchen Hause unvermeidlichen Samstagtumultes, da gegen Wochenschluß von früh bis abends die Wäschepäckchen der »Handelsbeflissenen« mit darauf gehefteten Rechnungen einzulaufen pflegten. An diesen Tagen gab es immer bis Mitternacht auf den Treppen viel Schlurfen von Überschuhen, ein rätselhaftes Auftauchen und Wiederverschwinden geheimnisvoller Lichter im Hausflur, rastloses Gepumpe am Brunnen und dito Klirren des eisernen Wassereimerhandgriffs. Von Zeit zu Zeit erhob sich auch ein kreischender Wortwechsel zwischen Mrs. Todgers und gewissen unbekannten Weibspersonen in verborgenen Hinterküchen, und mitunter erschollen Töne, wie wenn dem jugendfrohen Portier kleines Eisengerät oder sonstige Metallwaren nachgeworfen würden. Es gehörte zu den Sonnabendsbefugnissen dieses hoffnungsvollen Jünglings, die Hemdärmel bis an die Achseln aufgestreift, alle Teile des Hauses in einer groben, grünen Wollenzeugschürze unsicher zu machen, und zu seinen Sabbatfesten (an anderen Tagen war weniger Gelegenheit dazu), sooft er in die Nähe der Türe kam, Ausflüge in die benachbarten Gäßchen zu unternehmen, um daselbst mit der Straßenjugend »Räuber und Gendarm« oder andere Spiele zu spielen, bis er verfolgt und an den Händen oder an dem Ohrläppchen seiner Pflicht wieder zugeführt wurde.

Sosehr nun aber auch seine Tätigkeit zur Belebung des letzten Wochentages beizutragen pflegte, so sehr übertraf er sich selbst durch die Rolle, die er an diesem Samstag spielte.

Vorzugsweise beehrte er die Misses Pecksniff mit seiner besondern Aufmerksamkeit, und selten kam er an Mrs. Todgers‘ Privatzimmer, wo die beiden jungen Damen allein am Kaminfeuer saßen und sich beim Lichte einer einsamen Kerze beschäftigten, vorbei, ohne den Kopf hineinzustecken und sie mit Komplimenten wie: »Ah, da sind Sie!« oder: »Fein! Was?« und ähnlichen humoristischen Einfällen zu begrüßen.

»Hamm S‘ an Idöö, Fräuln«, flüsterte er, als er in seinem Hausgalopp gelegentlich wieder einmal haltmachte, »was mir murgen für a Suppn kriagn? Grad wird’s aufgossen. Meinen S‘ leicht a Wassersuppn? A gor ka Spur!« Um sich weiter dienstfertig zu zeigen, klopfte er gleich darauf abermals, steckte den Kopf herein und sagte:

»Ja – und Hendln gibt’s a morgen. Sakra, san dö fett – hamm S’an Idöö!«

Unmittelbar darauf rief er durch das Schlüsselloch: »Fisch gibt’s a – grad sans onkemma. – Aber lassen S‘ Eahna roten: Essen S‘ nix davo!« Und mit dieser gespenstigen Warnung verschwand er wieder.

Bald nachher kehrte er jedoch abermals zurück, um den Tisch für das Nachtessen zu decken, denn es war zwischen Mrs. Todgers und den jungen Damen ausgemacht worden, daß sie in dem Stübchen ungestört und abgesondert gemeinschaftlich ein paar Kalbsrippchen verzehren sollten. Bei dieser Gelegenheit bestritt er die Unterhaltung damit, daß er den glimmenden Lichtdocht in den Mund steckte und mit seiner Hilfe seine Backen transparent machte. Nachdem er dieses Kunststück produziert, wendete er sich wieder seinen Berufspflichten zu, die zur Zeit darin bestanden, die Messer blank zu putzen, das heißt, die Klingen anzuhauchen und sie dann an der Schürze abzuwischen. Nach Beendigung dieser anstrengenden Arbeit verzog er sein Gesicht zu einem breiten Grinsen und erklärte den Schwestern, er glaube, das Abendessen werde höllisch fein ausfallen.

»Dauert´s noch lange, bis es fertig ist, Bailey?« fragte Gratia.

»Na«, entgegnete Bailey, »kocht is schon. Vor i raufkommen bin, hat die Madam grad drin umanand gstierlt.«

Kaum jedoch waren diese Worte seinen Lippen entflohen, da erhielt er von rückwärts ein Kopfstück, daß er an die Wand taumelte, und Mrs. Todgers stand, einen Teller in der Hand, wie eine Rachegöttin vor ihm.

»O du kleiner Halunke!« rief sie zürnend. »Du ganz schlechter, falscher, boshafter Bube du.«

»Net boshafter als Sie selbst«, rief Bailey und schützte seinen Kopf mit der bekannten Parade des Boxerchampions Thomas Cribb. »Probiern S‘ dös fein noch amal, wann S‘ Eahna traun.«

»Es ist der abscheulichste Junge, der mir je unter die Augen gekommen ist«, erklärte Mrs. Todgers und stellte den Teller aus der Hand. »Die Herren bei uns lehren ihn immer solche Unarten, daß ich fürchte, er wird nicht eher gut tun, als bis er am Galgen hängt.«

»So? Meinen S‘?« rief Bailey. »Drum geben S‘ mir wahrscheinlich so wenig zum Essen, damit i mir net vorher noch ’n Magen verdirb?«

»Hinaus mit dir, du gottloser Junge!« schrie Mrs. Todgers und öffnete die Türe. »Hörst du, pack dich hinunter!«

Mit zwei oder drei geschickten Wendungen gewann Master Bailey das Freie und ließ sich den ganzen Abend hindurch nur ein einziges Mal wieder blicken, um einige Krüge mit heißem Wasser heraufzubringen und zur größten Verlegenheit der beiden Misses Pecksniff hinter dem Rücken der ahnungslosen Mrs. Todgers greuliche Grimassen zu schneiden. Erst, nachdem er auf diese Art seinen verletzten Gefühlen Luft gemacht, verfügte er sich endgültig ins Souterrain, um sich dort in Gesellschaft eines Schwarmes von Küchenschaben bei einem Sparlicht bis tief in die Nacht hinein mit Stiefelputzen und Kleiderausbürsten die Zeit zu vertreiben.

Wie das Gerücht ging, war Benjamin der eigentliche Name dieses jugendlichen Hausgeistes, obgleich er deren viele hatte. So kürzte man zum Beispiel »Benjamin« in »Onkel Ben«, und daraus wurde schließlich das einfache »Onkel«. – Durch eine leichte Ideenverschiebung ergab sich hieraus »Barnwell«, zum Andenken an einen gewissen berühmten Onkel gleichen Namens, der bekanntlich in seinem Garten in Camberwell, als er gerade tief in Gedanken verloren in seinem Lehnstuhl saß, von seinem Neffen Georg erschossen wurde. Die Herren Handelsbeflissenen in Todgers‘ Logierhaus liebten es auch, ihm je nach Umständen den Namen eines berüchtigten Übeltäters oder Ministers zu geben; und wenn die Tageschronik gerade arm an großen Männern war, nahmen sie sogar die Geschichte zu Hilfe und nannten ihn Mr. Pitt, Jung-Brownrigg und dergleichen. In der Zeit, in der unser Roman spielt, erfreute er sich der Bezeichnung »Old Bailey« – als Anspielung auf das gleichnamige berüchtigte Strafgefängnis oder vielleicht als Reminiszenz an die unglückliche »Miss Bailey«, die in jugendlichem Alter Hand an sich selbst gelegt und in einer Ballade den Kranz der Unsterblichkeit gewonnen hatte.

Die gewöhnliche Essenszeit in Todgers‘ Speiseanstalt war zwei Uhr – eine für alle Teile gleich bequeme Stunde, erstens für Mrs. Todgers wegen des Bäckers, und dann für die Gentlemen in bezug auf die Nachmittagsvergnügungen. An dem Sonntag jedoch, wo die beiden Misses Pecksniff eingeführt werden sollten, wurde das Dinner des vornehmeren Stiles wegen auf fünf Uhr verlegt.

Als die Stunde herannahte, erschien »Old Bailey« sehr aufgeregt in einem vollständigen Salonanzug aus lauter abgelegten Kleidungsstücken, die ihm sämtlich viel zu weit waren. Namentlich die Halsgarnitur schien so umfangreich, daß ihm ein als witziger Kopf gefeierter Gentleman sofort den neuen Spitznamen »Vatermörder« gab. Um dreiviertel über vier Uhr klopfte eine Deputation, bestehend aus Mr. Jinkins und einem andern Herrn namens Gänserich, an die Türe von Mrs. Todgers‘ Zimmer und erbat sich, nachdem sie den beiden Misses Pecksniff von dem würdigen Herrn Papa in aller Form vorgestellt war, die Ehre, die Damen hinunterbegleiten zu dürfen.

Das Gesellschaftszimmer in Todgers‘ Etablissement war nicht im üblichen Stile gehalten, und niemand würde es wohl für ein solches angesehen haben, wenn nicht Eingeweihte es ausdrücklich dafür erklärt hätten. Der Boden war mit Läufern belegt und die Decke, mit Einschluß eines großen Querbalkens in der Mitte, tapeziert. Außer den drei kleinen Nischenfenstern mit Sitzen davor und der Aussicht auf den Torweg gegenüber befand sich noch ein viertes in der Mauer, das ganz unverfroren in Mr. Jinkins‘ Schlafzimmer hineinsah. Und hoch oben lief die ganze Wand entlang ein Streifen von Glasscheiben, je zwei übereinander, um das Stiegenhaus am Tageslicht teilnehmen zu lassen. In dem Getäfel lauerten kuriose, treppenförmige Wandschränke mit kleinen Fensterchen wie an den Achttaguhren. Sogar die schwarz angestrichene Türe hatte unter ihrer Stirne zwei große Glasaugen mit inquisitorischen grünen Pupillen in der Mitte.

Hier waren jetzt sämtliche Gentlemen versammelt. Als Mr. Jinkins mit Charitas am Arm erschien, hörte man ein allgemeines: »Ah!« und »Bravo, Jink!«, das sich zu einer wahren Verzückung steigerte, als Mr. Gänserich mit Miss Gratia folgte und Mr. Pecksniff mit Mrs. Todgers den Zug beschloß.

Dann wurden die Herren vorgestellt, und zwar: ein sportsfreudiger Gentleman, der den Herausgebern der Sonntagsblätter harte Nüsse in Form von Anfragen über Wettrennentips aufzuknacken zu geben pflegte; ein emsiger Theaterbesucher, der einst selbst ernstlich daran gedacht hatte, zu debütieren, und nur durch die Gottlosigkeit der Massen daran gehindert worden war; ein sehr debattelustiger Herr und gewaltiger Redner; ein Literaturdilettant, der auf die übrigen Epigramme dichtete und jedermanns schwache Seite kannte, nur seine eigene nicht; dann ein Freund des Gesanges, ein eingefleischter Verehrer des Rauchtabaks, ein Verfechter geselliger Gelage und einige Anhänger des Whistspiels. – Die Passion für Billard und Wetten war einem großen Teil der anwesenden Herren gemeinsam und eine gewisse Vorliebe für geschäftliche Themen wohl allen, da sie sämtlich in einer oder der anderen Weise dem Handelsstande angehörten, was sie selbstverständlich nicht hinderte, allen möglichen Arten von Vergnügungen noch besonders zugetan zu sein. So hatte zum Beispiel Mr. Jinkins einen ausgesprochenen Zug zum Fashionablen; wenigstens besuchte er jeden Sonntag regelmäßig die Parks und kannte sehr viele Equipagen – vom Ansehen. Auch sprach er sehr geheimnisvoll von »feschen Weibern« und stand im Verdacht, sich einmal mit einer Gräfin fast kompromittiert zu haben. Mr. Gänserich war ein witziger Kopf, und niemand anderem als ihm verdankte man den humoristischen Einfall mit dem »Vatermörder« – ein Bonmot, das jetzt unter dem Titel »Gänserichs Letzter« von Mund zu Mund ging und sich allgemeinen Beifalles erfreute. Mr. Jinkins, müssen wir hinzusetzen, konditionierte als Buchhalter in dem Bureau eines Fischhändlers und zählte als Ältester in der Gesellschaft ungefähr vierzig Jahre. Er war aber auch der älteste Kostgänger des Etablissements und infolge dieser doppelten Seniorschaft, wie Mrs. Todgers bereits bemerkt hatte, tonangebend im Hause.

Das Auftragen des Dinners zog sich ungemein in die Länge, und die arme Mrs. Todgers, von Mr. Jinkins deshalb im Flüsterton mit Vorwürfen überschüttet, sah sich wohl zwanzigmal genötigt, hinauszueilen und so zu tun, als ob sie in der Küche nachgesehen hätte; – trotzdem geriet die Unterhaltung durchaus nicht ins Stocken, denn ein Gentleman aus der Parfümeriebranche erklärte eine hochinteressante Erfindung aus Deutschland in Form einer merkwürdigen Rasierseifenkugel, während der Literaturdilettant »auf Verlangen« einige sarkastische Strophen deklamierte, die er vor einigen Tagen anläßlich des Gefrierens des Wasserbehälters hinter dem Hause gedichtet hatte. Unter solchen Unterhaltungen und den daraus entspringenden Gesprächen verfloß die Zeit wie ein kurzer schöner Traum, bis endlich »Old Bailey« meldete, daß das Essen »kumme«.

Auf diese frohe Botschaft hin verfügten sich die Gäste, ohne zu zögern, in die Banketthalle, wobei einige witzige Geister die glücklichen Tischherren der beiden Misses Pecksniff nachahmten, indem sie ihren männlichen Partnern ritterlich galant den Arm reichten. Mr. Pecksniff sprach das Tischgebet – ein kurzes und andächtiges Gebet, in dem er Segen auf den Appetit aller Anwesenden herabflehte und die zahlreichen Armen, die heute nichts zu essen hatten, der Fürsorge des Himmels empfahl. Sodann griffen alle mit weniger Förmlichkeit als Appetit zu. Der Tisch bog sich unter der Last – nicht nur der den Misses Pecksniff bereits gestern angekündigten Leckerbissen, sondern auch von gekochtem Rindfleisch, gebratener Kalbsbrust, Schinken, Pasteten und eines Überflusses der gewissen schwer verdaulichen Pflanzenstoffe, die bei allen Pensionsinhaberinnen wegen ihrer sättigenden Eigenschaften so hoch in Ehren stehen. Außerdem gab es noch Doppelbier in Flaschen, Wein, Ale und unterschiedliche andere fremde und einheimische starke Getränke.

Alles dies mutete die beiden Misses Pecksniff gar lieblich an, um so mehr, da sie die Löwinnen des Tages waren. Sie saßen am oberen Ende der Tafel, zu beiden Seiten Mr. Jinkins‘, und wurden jede Minute von einem neuen Bewunderer mit einem »Prosit« beehrt. Wohl nie in ihrem ganzen Leben hatten sie sich so wohl und umworben gefühlt – besonders Gratia, die so brillierte und so treffliche Antworten gab, daß sie bald für ein wahres Wunder an Schlagfertigkeit galt. Kurz, wie die jungen Damen bemerkten, jetzt empfanden sie so recht, daß sie in London waren.

Ihr junger Gönner Master Bailey legte die lebhaftesten Sympathien mit diesen Empfindungen an den Tag und ermutigte beide Damen stets in gleicher Weise. Wenn er sich weniger beobachtet glaubte, beehrte er sie mit vertraulichem Blinzeln und anderen Zeichen des Verständnisses und berührte auch gelegentlich seine Nase mit dem Korkenzieher; wahrscheinlich eine Anspielung auf den bacchantischen Charakter des Banketts. Genaugenommen war vielleicht nicht einmal der Frohsinn der Misses Pecksniff oder die hungrige Wachsamkeit Mrs. Todgers‘ so beachtenswert wie das Tun und Lassen dieses merkwürdigen Knaben, den nichts aus der Fassung bringen oder stören konnte. Wenn zum Beispiel ein Stück Geschirr, ein Teller oder was sonst zufällig seinen Händen entglitt, was ein- oder zweimal der Fall war, so benahm er sich dabei ganz wie ein Mann von feinster Bildung, der die Sache nicht weiter erwähnt oder die Störung durch Äußerungen des Bedauerns noch peinlicher gestaltet. Auch störte er nicht durch Hinundherrennen, wie es so oft gut dressierte Dienstboten zu tun pflegen, sah vielmehr die Hoffnungslosigkeit, einer so großen Gesellschaft zu servieren, vollkommen ein und überließ es daher ruhig den Herren, sich selbst zu bedienen. Nur selten verließ er seinen Platz hinter Mr. Jinkins‘ Stuhllehne, von wo aus er, die Hände in den Taschen und die Beine gespreizt, zwanglos mit an der Konversation teilnahm. Das Dessert war glänzend. – Auch hier wurde nicht umständlich serviert. Die Teller für den Pudding wurden, nachdem der Käse aufgetragen worden, inzwischen in einem Kübel vor der Türe gewaschen und kamen, noch etwas naß und warm vom Reiben zwar, aber mit um so größerer Schnelligkeit wieder auf den Tisch. Mandeln schüsselweise, Orangen zu Dutzenden, Rosinen dem Pfunde nach, Zimmetsterne in Haufen und ganze Suppenschüsseln voller Nüsse! – Oh, Mrs. Todgers konnte schon – vorausgesetzt, daß sie wollte.

Dann kam noch mehr Wein, rote und weiße Sorten, und eine große Porzellanterrine mit Punsch, von dem Verfechter geselliger Gelage gebraut, der die Misses Pecksniff bat, ja nicht wegen der geringen Menge des Getränkes kleinmütig zu sein. Es sei im Hause noch genug Material vorhanden, um ein weiteres halbes Dutzend solcher Bowlen damit zu bestreiten. – Gütiger Himmel, wie die Damen da lachen mußten! Wie sie, nachdem sie davon geschlurft, husteten, weil das Getränk gar so scharf war, und dann wieder laut auflachten, als jemand beteuerte: hätte das Getränk nicht so eine verräterische Farbe, könne man es ganz gut wegen seiner Harmlosigkeit mit lauwarmer Milch verwechseln! Welch flammender Protest von den Lippen sämtlicher Herren, als die Damen Mr. Jinkins flehentlich ersuchten, den Punsch mit heißem Wasser verdünnen zu dürfen, und wie sie dann errötend doch nach und nach mit ihren Gläsern bis auf die Nagelprobe fertig wurden!

Doch die schwere Stunde naht.

»Die Sonne«, wie sich Mr. Jinkins ausdrückt, immer Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle, »ist im Begriff, das Firmament zu verlassen.« »Miss Pecksniff«, fragt Mrs. Todgers leise, »vielleicht–?«

»O Himmel, nein, nichts mehr, Mrs. Todgers.«

Mrs. Todgers steht auf; die Misses Pecksniff stehen auf; alles steht auf. Miss Gratia sieht nach ihrem Umschlagtuch hinunter. Wo ist es nur? O Gott, wo kann es nur sein? Bezauberndes Mädchen, sie hat es um. Nur ruht es nicht mehr an ihrem schönen Nacken! Lose umflattert es ihren schlanken Leib. Ein Dutzend Hände stehen ihr bei. Sie errötet und ist verwirrt. Den jüngsten Gentleman in der Gesellschaft dürstet nach Mr. Jinkins‘ Blut. Sie hüpft davon und holt unter der Türe ihre Schwester ein. Charitas hat ihren Arm um Mrs. Todgers‘ Leib geschlungen, und Miss Gratia schlingt den ihrigen um die schlanke Taille ihrer Schwester. O Göttin Diana, welches Bild! Das letzte, was man sieht, sind ein Stück Spitzenkragen und ein hüpfendes Füßchen. – »Meine Herren, auf das Wohl der Damen!«

Der Enthusiasmus ist grenzenlos. Der debattelustige Gentleman erhebt sich und läßt plötzlich einen Strom von Beredsamkeit los, der alles vor sich niederwirft. Es drängt ihn zu einem Toast – zu einem Toast, in den sämtliche Anwesende begeistert einstimmen werden! Es ist ein Mann zugegen, er hat ihn im Auge, ein Mann, dem sie alle tiefste Dankbarkeit schulden! Ihre rauhen Naturen sind heute veredelt worden durch die Zaubermacht lieblicher Weiblichkeit. Ein Gentleman weilt unter ihnen, zu dem zwei entzückende junge Damen mit Verehrung aufblicken, den sie als den Urheber ihres irdischen Daseins betrachten. Ja, als die beiden Misses Pecksniff noch mit kindlicher Zunge in der Wiege lallten, nannten sie diesen Gentleman bereits: »Vater!« – (Stürmischer Beifall.) – Sein Toast lautet daher: »Der Himmel segne Mr. Pecksniff!« – Alle drücken Mr. Pecksniff die Hand und trinken Bescheid. Der jüngste Gentleman wankt dabei, denn er fühlt, daß ein geheimnisvoller Einfluß dem Manne innewohnt, der das Wesen im nelkenroten Schal »Tochter« nennen darf.

Was sagt Mr. Pecksniff darauf? Oder vielmehr, was läßt er ungesagt? Nichts. – Man ruft nach mehr Punsch und trinkt. Die Wogen der Begeisterung gehen noch höher. Niemand stellt sein Licht länger unter den Scheffel. Der emsige Theaterbesucher deklamiert. Der sangesfreudige Herr beglückt die Gesellschaft mit einem Liede. Gänserich läßt den Gänserich früherer Witzworte meilenweit hinter sich. Er erhebt sich, um einen Toast auszubringen. Er gilt dem Patriarchen von Mrs. Todgers‘ Logierhaus, ihrem gemeinsamen Freund Jink, dem alten Jink, wenn dieser vertrauliche Ausdruck erlaubt ist. Der jüngste Gentleman protestiert wütend; – er kann das nicht zugeben – es darf nicht sein! Aber die Tiefe seiner Gefühle wird nicht verstanden. Man hält ihn für benebelt und achtet nicht auf ihn.

Mr. Jinkins dankt aus dem Grunde seines Herzens. Der heutige Tag ist bei weitem der stolzeste in seinem bescheidenen Erdenwallen. Wenn er umherblickt, so fühlt er, daß ihm die Worte mangeln, um seinen Dank ausdrücken zu können. Nur eines will er sagen: Man hat bewiesen, daß man bei Todgers treu zusammenhalten kann und gesellschaftlich höher steht als in den benachbarten Kosthäusern. Er erinnert seine geehrten Tischgenossen unter donnerndem Beifall an ein gewisses ähnliches Etablissement in Cannon Street, das man diesbezüglich rühmlich habe erwähnen hören. Er wünsche keine gehässigen Parallelen zu ziehen. Er wäre der letzte, dem etwas derartiges in den Sinn käme, aber wenn die Cannon-Street-Pension imstande sei, eine so hohe Vereinigung von Geist und Schönheit, wie sie heute Todgers‘ Tafel geziert, aufzuweisen und ein auch nur ähnliches Dinner zu servieren, wie sie es soeben eingenommen, so werde er sich’s zur Ehre anrechnen, besagtem Etablissement das Wort zu reden. – »Bis dahin aber, meine Herren, Todgers für immer!«

Abermals Punsch – Enthusiasmus – Reden! Jedermanns Gesundheit wird ausgebracht, nur die des jüngsten Gentlemans nicht. Grollend sitzt der Herr abgesondert von den anderen, hat die Ellenbogen auf die Lehne eines unbesetzten Stuhles gestützt und wirft verächtliche Blicke auf Jinkins. Gänserich bringt in einer zwerchfellerschütternden Rede die Gesundheit von »Old Bailey« aus. Der »Schnackler« geht um, und ein Glas wird zerbrochen. Mr. Jinkins fühlt, daß es Zeit ist, die Damen nicht länger allein zu lassen. Nur noch rasch ein Toast auf Mrs. Todgers. Sie verdient eine besondere Erwähnung. – »Hört hört!« – Sie alle finden zwar zu anderen Zeiten Fehler auf Fehler an ihr, aber in diesem Augenblick fühlt jeder, daß er sein Leben für sie lassen könnte. Man geht die Treppe hinauf, wo man so bald noch nicht erwartet wurde, wenigstens »nickt« Mrs. Todgers, Miss Charitas ordnet sich das Haar und Gratia, die sich aus einem Fenstersitz ein Sofa zurechtgemacht hat, liegt in anmutiger Stellung hingegossen. Sie erhebt sich hastig, wird aber von Mr. Jinkins inständig gebeten, sich doch ja nicht stören zu lassen; sie sehe so reizend aus in dieser Attitüde, daß es ewig schade wäre, wenn sie sie verändere. Sie lacht, gibt nach, fächelt sich und läßt ihren Fächer fallen. Alles stürzt hinzu, ihn aufzuheben. Da sie sich einstimmig als Schönheit des Tages erklärt sieht, wird sie grausam und launenhaft, läßt die Herren einander Aufträge ausrichten, die sie längst vergessen hat, wenn die Antwort zurückkommt, und erfindet tausend Qualen für die Herzen ihrer Verehrer. »Old Bailey« bringt Tee und Kaffee herauf. – Um Charitas hat sich gleichfalls eine kleine Gruppe von Bewunderern gesammelt, jedoch nur von solchen, die ihrer Schwester nicht nahekommen können. Der jüngste Gentleman in der Gesellschaft ist blaß, aber gefaßt, und sitzt abgesondert, denn sein Geist hält geheime Zwiesprache mit sich selbst, und seine Seele verabscheut das lärmende Getriebe. – Gratia entgeht seine Gegenwart und die Glut seiner Gefühle nicht, denn er sieht bisweilen in ihrem Augenwinkel einen Lichtblick der Ermutigung. – Sieh dich vor, Jinkins, daß du einen Verzweifelnden nicht bis zum Wahnsinn reizest!

Mr. Pecksniff war seinen jüngeren Freunden gefolgt und an Mrs. Todgers‘ Seite in einen Stuhl gesunken. Er hatte sich eine Tasse Kaffee über das Bein gegossen, dem Umstand aber offenbar keine Beachtung geschenkt. Auch schien er gar nicht zu wissen, daß eine Semmel auf seinem Knie lag.

»Und wie hat man sich gegen Sie benommen unten?« fragte Mrs. Todgers.

»Das Benehmen der Herren ist derart gewesen, meine teure Madame«, entgegnete Mr. Pecksniff, »daß ich nie ohne Rührung oder eine Träne werde daran zurückdenken können. – Oh, Mrs. Todgers, oh, oh!«

»Lieber Gott!« rief die wackere Frau. »Warum denn auf einmal so niedergeschlagen, Sir?« »Ich bin ein Mann, meine teure Madame«, antwortete Mr. Pecksniff mit tränenerstickter Stimme, »aber ich bin auch Vater. Und Witwer. Meine Gefühle lassen sich nicht ersticken, Mrs. Todgers, wie die kleinen Kinder im Tower. Sie sind gewachsen und gewachsen, und je mehr ich sie mit Kissen zu erdrücken suche, desto lebhafter erheben sie ihre Häupter.«

Plötzlich gewahrte er das Semmelfragment auf seinem Knie und starrte es traumverloren an. Dabei schüttelte er ratlos und geistesschwach den Kopf, schien es für einen bösen Genius zu halten und haderte leise mit ihm.

»Sie war schön, Mrs. Todgers«, murmelte er und richtete wieder seinen verglasten Blick auf die Pensionsinhaberin, »und hatte einiges Vermögen.«

»Ich habe davon gehört!« rief Mrs. Todgers mit lebhafter Teilnahme.

»Das sind ihre Töchter«, fuhr Mr. Pecksniff mit steigender Rührung fort, und deutete auf die jungen Damen.

Mrs. Todgers zweifelte keinen Augenblick daran.

»Gratia und Charitas – Charitas und Gratia. Hoffentlich keine unheiligen Namen, wie?«

»Mr. Pecksniff!« rief Mrs. Todgers. »Wie geisterhaft Sie lächeln! Sie sind doch nicht unwohl, Sir?«

Mr. Pecksniff preßte ihren Arm und antwortete mit matter, feierlicher Stimme:

»Chronisch.«

»Kolik?« schrie Mrs. Todgers entsetzt.

»Chron-isch«, wiederholte Mr. Pecksniff mit einiger Anstrengung. »Chronisch. Ein chronisches Leiden. Ich leide an ihm von meiner Kindheit an. Es wird mich begleiten bis zum Grabe.«

»Gott behüte!« rief Mrs. Todgers.

»Ja, es ist so«, sprach Mr. Pecksniff trostlos. »Und doch bin ich gewissermaßen froh darüber. – Sie haben Ähnlichkeit mit ihr, Mrs. Todgers.«

»Bitte, bitte, drücken Sie mich nicht so, Mr. Pecksniff. Was, wenn einer von den Herren uns zusähe!«

»Um ihretwillen«, lallte Mr. Pecksniff. »Erlauben Sie es mir – um ihres Andenkens willen. Um einer Stimme willen aus dem Grabe. Sie sind ihr sehr sehr ähnlich, Mrs. Todgers! Es ist eine seltsame Welt!«

»Ach ja; Sie haben recht«, seufzte Mrs. Todgers.

»Ich fürchte, es ist eine eitle, eine gedankenlose Welt«, fuhr Mr. Pecksniff niedergedrückt fort. »Diese jungen Leute rings um uns! Oh, haben sie überhaupt ein Gefühl für Verantwortlichkeit? Nein! – Geben Sie mir auch Ihre andere Hand, Mrs. Todgers.« Die Dame zögerte und erklärte, sie täte es nicht gern. »Hat eine Stimme aus dem Grabe kein Gewicht?« fragte Mr. Pecksniff mit trübseliger Zärtlichkeit. »Das ist irreligiös, mein teures Wesen!«

»Pst, wirklich«, flüsterte Mrs. Todgers, »wirklich, es geht nicht.«

»Ich bin es doch nicht, der spricht. Glauben Sie ja nicht, daß ich es bin. Es ist die Stimme – es ist ihre Stimme.«

Die selige Mrs. Pecksniff mußte eine ungewöhnlich heisere und rauhe Stimme gehabt haben, eine für eine Dame sogar seltsam schwere und lallende, wenn sie jetzt wirklich aus ihrem Gatten sprach. – Aber vielleicht war das Ganze nur ein Irrtum von seiner Seite.

»Heute ist ein Tag der Freude gewesen, Mrs. Todgers, aber auch zugleich ein Tag des Schmerzes für mich. Er hat mich an meine Verlassenheit gemahnt. – Was bin ich auf der Welt?«

»Ein vortrefflicher Gentleman, Mr. Pecksniff«, rief Mrs. Todgers.

»Darin läge wenigstens noch ein Trost«, meinte Mr. Pecksniff. »Bin ich es wirklich?«

»Zuverlässig! Es gibt keinen bessern auf dem ganzen Erdenrund«, beteuerte Mrs. Todgers.

Mr. Pecksniff lächelte unter Tränen und schüttelte mild das Haupt. »Sie sind sehr gütig; ich danke Ihnen. Ich finde mein größtes Glück darin, junge Leute emporzuheben. Das Wohl meiner Zöglinge geht mir über alles. Ich liebe sie von ganzem Herzen. Aber auch sie beten mich fast an – bisweilen wenigstens.«

»Stets! Immer!« verbesserte Mrs. Todgers. »Wenn die Welt behauptet, sie hätten sich bei mir nicht vervollkommnet, Madam«, flüsterte Mr. Pecksniff mit abgrundtiefem Blick und winkte Mrs. Todgers, sie möge ihr Ohr seinen Lippen näher bringen – »wenn die Welt sagt, sie hätten sich bei mir nicht vervollkommnet und müßten ein zu hohes Lehrhonorar bezahlen, so lügt sie! Doch genug davon! Sie verstehen mich. Ihnen, als einer alten Freundin, darf ich’s wohl sagen – sie lügt!«

»Oh, die Elenden!« rief Mrs. Todgers.

»Ja, Madame, Sie haben recht. Und ich schätze Sie hoch um dieser Bemerkung willen. – Noch ein Wort ins Ohr. Für Eltern und Vormünder – dies im Vertrauen, Mrs. Todgers –«

»Sie können sich vollständig auf mich verlassen«, versicherte die wackere Frau.

»Für Eltern und Vormünder«, wiederholte Mr. Pecksniff, »es bietet sich eine vortreffliche Gelegenheit, die Vorteile der besten praktischen Ausbildung in der Baukunst mit den Annehmlichkeiten eines häuslichen Heimes und dem beständigen Aufenthalt unter Personen zu vereinigen, die, wie unbedeutend ihr Wirkungskreis und wie beschränkt ihre moralischen Fähigkeiten auch sein mögen – wohlgemerkt!? –, doch stets ihrer moralischen Verantwortlichkeit eingedenk bleiben werden.«

Man kann sich denken, welch verblüfftes Gesicht Mrs. Todgers machte, da sie sich den Sinn dieser ziemlich unverständlichen Worte, die sie überdies schon irgendwo gelesen zu haben glaubte (nämlich auf den Reklameplakaten Mr. Pecksniffs) absolut nicht erklären konnte. Doch der Treffliche erhob den Finger zur Warnung, daß sie ihn nicht unterbrechen möge.

»Kennen Sie Eltern oder Vormünder, Mrs. Todgers«, fuhr er eindringlich fort, »die sich eine solche günstige Gelegenheit für einen jungen Gentleman zunutze zu machen wünschen? Eine Waise hätte den Vorzug. Kennen Sie irgendein Waisenkind mit drei- oder vierhundert Pfund?«

Mrs. Todgers überlegte, schüttelte aber dann den Kopf.

»Wenn Sie von einer Waise mit drei- oder vierhundert Pfund hören sollten, nicht wahr, so bedeuten Sie den Verwandten des lieben, verlassenen jungen Menschen, sie möchten sich brieflich – franko natürlich – an S. P., postamtlagernd Salisbury, wenden. – Ich weiß nicht, was das wieder ist! Erschrecken Sie nicht, Mrs. Todgers«, lallte Mr. Pecksniff und sank schwerfällig zurück, »Chronisch – chronisch! Geben Sie mir doch einen Schluck zu trinken.« »Gott im Himmel, Misses Pecksniff!« rief Mrs. Todgers laut. »Ihrem lieben Papa ist unwohl!«

Mit erstaunlicher Kraft richtete sich Mr. Pecksniff, als er plötzlich aller Augen auf sich gerichtet sah, auf, stellte sich auf die Füße und richtete einen Blick tiefgründiger Weisheit auf die Gesellschaft. Dann verzog er sein Antlitz allmählich zu einem Lächeln – zu einem matten, hilflosen, melancholischen Lächeln, mild, fast todestraurig.

»Beklaget mich nicht, meine Freunde«, sprach er wehmütig. »Weinet nicht um mich. Es ist chronisch.«

Und mit diesen Worten fiel er, nach einem vergeblichen Versuch, seine Schuhe auszuziehen, in den Kamin.

Der jüngste Gentleman in der Gesellschaft zog ihn im Nu wieder heraus. – Ja, noch ehe ein Haar seines Hauptes versengt war, hatte ihn Gratia glücklich wieder auf dem Teppich vor dem Kamine liegen – ihren Vater!

Sie war fast außer sich. Desgleichen ihre Schwester. Jinkins tröstete sie beide. Alle trösteten sie. Jeder hatte etwas zu sagen, nur der jüngste Gentleman in der Gesellschaft nicht, der mit edler Selbstaufopferung das schwere Werk vollbracht und jetzt Mr. Pecksniffs Haupt stützte, ohne von sonst jemandem die geringste Notiz zu nehmen. Endlich sammelte sich alles um den Leidenden, und man beschloß, ihn hinauf ins Bett zu schaffen. Der jüngste Gentleman bekam von Mr. Jinkins Vorwürfe, weil er Mr. Pecksniffs Rock zerrissen haben sollte! »Ha! Auch das noch! – Aber schon gut – schon gut!«

Dann schleppten sie den Patienten die Treppe hinauf und traten dem jüngsten Gentleman dabei unablässig auf die Zehen.

Mr. Pecksniffs Schlafgemach befand sich fast unter dem Giebel, und es war ein beschwerlicher Weg bis dahin; aber mit der Zeit brachten sie ihn doch glücklich an Ort und Stelle. Unterwegs forderte er die Herren zu wiederholten Malen auf, ihm doch einen Schluck zu trinken zu geben. Es schien förmlich eine Idiosynkrasie zu sein. – Der jüngste Gentleman in der Gesellschaft schlug ein Glas Wasser vor, zog sich aber dafür von Mr. Pecksniff sofort eine Flut von Schimpfwörtern zu.

Jinkins und Gänserich übernahmen den Rest der Arbeit und legten den Trefflichen so bequem wie möglich auf sein Bett. Da er geneigt schien, schlafen zu wollen, verließen sie ihn, aber noch hatten sie kaum den untersten Treppenabsatz gewonnen, da erschien oben am Geländer, spukhaft gekleidet, Mr. Pecksniff und schickte sich an, ihnen einen längeren Vortrag über das Wesen des menschlichen Lebens halten zu wollen.

»Meine Freunde«, rief er herab, »lasset uns unsern Geist erfreuen durch Fragen und Erwägungen aller Art. Fassen wir die Moral ins Auge. Lasset uns Betrachtungen über das menschliche Dasein anstellen. Wo ist Jinkins?«

»Hier, mein Herr, hier! Wollen Sie aber nicht lieber wieder zu Bett gehen?«

»Zu Bett gehen?!« rief Mr. Pecksniff. »Zu Bett gehen?! – So spricht der Tagedieb und der Träge; und ich höre ihn klagen: ›Ihr habet mich zu balde gewecket, dieweil ich noch schlummern will!‹ Wenn eine junge Waise die Strophen dieses schlichten Gedichtes aus Doktor Watts‘ Poesien deklamieren will, so bietet sich jetzt eine vortreffliche Gelegenheit.«

Niemand schien Lust dazu zu haben.

»Sehr wohltuend«, lallte Mr. Pecksniff nach einer Pause. »Außerordentlich wohltuend. Kühl und erfrischend; namentlich für die Beine. Die Beine sind eine gar herrliche Einrichtung am menschlichen Organismus, meine Freunde. Vergleichen wir ihre Konstruktion mit den hölzernen Beinen und achten wir dabei auf den Unterschied zwischen der Anatomie der Natur und der Anatomie der Kunst. – Wissen Sie«, fuhr er eindringlich fort wie in einer nebelhaften seltsamen Reminiszenz an die gewisse leutselige Art, in der er zu Hause neu angekommene Schüler vorzunehmen pflegte. »Wissen Sie, daß ich sehr gern sehen würde, wie sich Mrs. Todgers die Konstruktion eines hölzernen Beines denkt? Vorausgesetzt, daß sie sich darüber aussprechen will.«

Da nach dieser Rede zu schließen vernünftigerweise jede Hoffnung ausgeschlossen schien, er werde sich aus eigenem Antrieb zur Ruhe begeben, stiegen Mr. Jinkins und Mr. Gänserich die Treppe hinauf und schafften ihn von neuem zu Bett. Doch kaum erreichten sie auf dem Rückweg den zweiten Stock, stand er bereits wieder am Geländer. So ging das noch einige Male fort, und jedesmal erschien er mit einer neuen moralischen Phrase bewaffnet auf der Plattform, von dem lebhaften Wunsche, zur Veredelung seiner Mitmenschen beizutragen, beseelt, so daß schließlich Mr. Jinkins nichts anderes übrigblieb, als ihn im Bette festzuhalten und »Old Bailey« von Mr. Gänserich heraufholen zu lassen.

Sofort erfaßte der umsichtige Jüngling die Situation und schaffte frohgelaunt einen Schemel, ein Licht und sein Nachtessen zur Stelle, um seine Wache vor Mr. Pecksniffs Schlafstübchen erfolgreich überdauern zu können.

Sodann wurde die Türe verschlossen und der Schlüssel außen stecken gelassen. Ausdrücklich bedeutet, sofort Hilfe zu requirieren, falls apoplektische Symptome hörbar würden, die möglicherweise den Schlummer des Patienten stören könnten, erwiderte Mr. Bailey schlicht, er hoffe zu wissen, wieviel die Glocke geschlagen habe, und werde die Herren nicht unnötigerweise alarmieren.

48. Kapitel


48. Kapitel

Nachrichten von Martin, von Mark und einer dritten gewissen Person. – Die Kindesliebe zeigt sich in sehr häßlichem Lichte und wirft einen bedenklichen Schein in eine bisher dunkel gebliebene Ecke

Tom Pinch und Ruth saßen neben dem offnen Fenster bei ihrem Frühstück, und eine Reihe frischer kleiner Blumenstöcke, die Ruth eigenhändig auf dem innern kleinen Simse aufgestellt hatte, verbreiteten ihren lieblichen Geruch. Ruth hatte einen Geraniumzweig in Toms Knopfloch gesteckt, damit er, wie sie sagte, sommerlich aussehe – sie mußte den Zweig natürlich festbinden, denn der kindische Tom hätte ihn sonst sicher verloren. Auf der Gasse schritten die Blumenverkäuferinnen auf und nieder und riefen ihre Ware aus. Eine ungeschickte Biene, die sich zwischen zwei Fensterscheiben verirrt hatte, hämmerte beständig mit dem Kopf an das Glas und suchte sich in den schönen Morgen hinauszuretten, offenbar tief davon durchdrungen, ein böser Zauber müsse sie gefangen halten, da es ihr so gar nicht gelingen wollte. Der Morgen war schöner als je, und die würzige Sommerluft küßte Ruth und fächelte Tom, als wollte sie sagen: »Nun, wie geht’s euch, meine Kinder? Ich habe eine weite Reise gemacht, nur um euch zu grüßen.« Kurz, es war eine jener frohen Stunden, wo man wünscht oder doch wünschen sollte, daß jeder Mensch auf Erden glücklich sein möge, um den Hauch des Sommers und die Schönheit der Jahreszeit in seinem Herzen zu empfinden.

Das Frühstück verlief womöglich noch gemütlicher als sonst. Die kleine Ruth hatte jetzt zwei Zöglinge zu unterrichten und hatte jedem derselben dreimal in der Woche je zwei Stunden zu widmen. Außerdem hatte sie auch einige Kleinigkeiten gemalt und war hinter Toms Rücken in ein Geschäft gegangen, das mit solchen Artikeln handelte, nachdem sie oft lange davorgestanden und durchs Fenster geguckt hatte, ohne den Mut zu finden, einzutreten und die Frau im Laden zu fragen, ob sie ihr die Sachen abkaufen wolle. Und die Frau hatte sie ihr nicht nur abgekauft, sondern noch mehr davon bestellt. Und noch am selben Morgen hatte Ruth dies alles Tom gestanden und ihm den Erlös in einer kleinen Börse übergeben, die sie eigens zu diesem Zweck gestrickt hatte. Sie waren jetzt beide noch ganz entzückt darüber und hatten vielleicht auch ein paar glückliche Tränen darüber geweint. Aber jetzt war alles vorüber, und seit die Sonne zum letztenmal untergegangen war, hatte sie keine so seligen Gesichter beleuchtet als die der beiden Geschwister.

»Meine liebe, liebe Ruth«, sagte Tom so plötzlich, daß er darüber vergaß, das Brot abzuschneiden, das er seiner Schwester geben wollte, und das Messer im Brotlaib stecken ließ, »was doch unser Hauswirt für ein seltsamer Kauz ist. Ich glaube, er ist auch nicht ein einziges Mal wieder nach Hause gekommen, seit er mich damals in die leidige Patsche brachte. Mir scheint, er wird überhaupt nicht mehr wiederkommen. Was der nur für ein geheimnisvolles Leben führen mag?«

»Sehr seltsam, allerdings, Tom.«

»Das will ich meinen«, rief Tom. »Wenn es nur nicht mehr ist als bloß kurios. Ich will hoffen, daß keine Schurkerei dahintersteckt. Zuweilen kommt es mir ganz so vor. Aber, wenn ich ihn erwische«, sagte er und schüttelte den Kopf mit fürchterlich drohender Miene, »so muß er mir eine Aufklärung geben.«

In diesem Augenblick ertönte ein kurzes zweimaliges Klopfen an der Tür und ließ Tom alle seine Rachegedanken vergessen und setzte ihn dafür in das größte Erstaunen.

»Hallo«, rief er, »ist das aber ein früher Besuch! Es kann offenbar nur John sein!«

»Ich – nein – ich glaube nicht, daß er es ist – er – er klopft anders, Tom«, stotterte Ruth.

»So?« sagte Tom. »Nun, mein Prinzipal wird doch nicht am Ende plötzlich angekommen und von Mr. Fips hierher gewiesen worden sein, um sich den Schlüssel zu seinen Zimmern zu holen? Aber jemand fragt nach mir, das ist einmal sicher. Herein! Bitte, treten Sie gefälligst ein.« – Als aber der Besuch eintrat, empfing ihn Tom Pinch nicht mit einem: »Wünschen Sie mich zu sprechen, Sir? Mein Name ist Pinch, Sir, darf ich fragen, was Sie von mir wünschen«, oder mit einer ähnlichen reservierten Höflichkeit, sondern er rief laut auf: »O Gott, O Gott«, und packte den Ankömmling mit beiden Händen, außer sich vor Freude und vor namenloser Überraschung, an den Schultern.

Aber auch der Fremde war nicht weniger ergriffen als Tom, und so schüttelten sie einander lange die Hände, ohne daß einer von beiden ein Wort weiter hervorbrachte. Tom war der erste, der das Schweigen brach:

»Mark Tapley, Sie?« rief er und sprang zur Türe, um noch jemandem draußen die Hand zu schütteln. »Lieber, lieber Mark, nehmen Sie Platz. Wie geht’s, Mark? Wirklich, Sie sehen nicht um einen Tag älter aus als in den frühern Zeiten im ›Drachen‹. Na, und wie geht es Ihnen denn, Mark?«

»Bin außerordentlich fidel, Sir, ich danke Ihnen«, entgegnete Mr. Tapley mit strahlendem Gesicht und nicht endenwollenden Verbeugungen. »Ich hoffe, auch Sie befinden sich wohl, Sir?«

»Du mein Himmel!« rief Tom, ihn herzlich auf den Rücken klopfend, »was ist das für eine Freude, wieder Ihre alte bekannte Stimme zu hören. – Mein lieber Martin, bitte setzen Sie sich doch. Hier meine Schwester, lieber Martin, – Mr. Chuzzlewit, meine Liebe – und hier Mr. Mark Tapley aus dem ›Drachen‹. Gott, ist das eine Überraschung! Aber so nehmen Sie doch Platz! Gott, ist das eine Überraschung!«

Er war so aufgeregt, daß er auch nicht einen Augenblick stillhalten konnte, sondern beständig zwischen Mark und Martin hin und her lief und bald dem einen, bald dem andern die Hände schüttelte und sie wohl zum neunhundertundneunzigstenmal seiner Schwester vorstellte.

»Ich erinnere mich noch so gut an den Tag, wo wir uns trennten, Martin, als wäre es gestern gewesen«, rief er. »War das ein Tag! Und wie leidenschaftlich erregt Sie waren! Und erinnern Sie sich noch, Mark, wie ich Sie an jenem Morgen traf, als ich mit dem Gig nach Salisbury fuhr, um ihn abzuholen? Sie wollten sich damals nach einer andern Stelle umsehen. Und denken Sie noch an das Dinner, Martin, das wir in Salisbury mit John Westlock eingenommen haben? O du lieber Himmel! Ruth, meine Liebe, hier, das ist Mr. Chuzzlewit, und hier Mr. Mark Tapley aus dem ›Drachen‹. Bitte, bringe doch noch ein paar Tassen mit Untertassen. Nein, was ich für eine Freude habe, euch beide hier zu sehen!«

Er machte es jetzt gerade so, wie es John Westlock seinerzeit gemacht, als er ihn empfing: er lief um einen Laib Brot und um Butter, aber bevor er noch ein einziges Stück abgeschnitten, fiel ihm plötzlich wieder etwas anderes ein, und er lief abermals zurück, um erst zu erzählen, dann schüttelte er seinen Gästen nochmals die Hand und stellte sie abermals seiner Schwester vor und tat wieder, was er schon getan hatte, zum tausendstenmal noch einmal, aber alles, was er tat oder sagte, drückte nicht halb die Freude aus, die er innerlich über ihre glückliche Heimkehr empfand. Mr. Tapley war der erste, der seine Besonnenheit wiedergewann. Es dauerte nicht lange, da hatte er sich, noch ehe man sich’s recht versah, als Kammerdiener der kleinen Gesellschaft in aller Form etabliert; – sie merkten es erst, als sie ihn vermißten und ihn dann aus der Küche mit einem Kessel Wasser kommen sahen, das er in den Teetopf schüttete, und zwar mit einer Umsicht, wie man sie nur bei ihm finden konnte.

»Aber setzen Sie sich doch und frühstücken Sie, Mark!« rief Tom. »So sagen Sie ihm doch, er solle sich setzen und mit uns frühstücken, Martin!«

»Ach Gott, dergleichen hab ich längst als unmöglich aufgegeben«, versetzte Martin. »Er ist unverbesserlich und hat einen unvergleichlichen Dickschädel. Sie würden es ihm nicht übelnehmen, Miss Pinch, wenn Sie wüßten, was für ein wertvoller Mensch er ist.«

»O Gott, sie kennt ihn genau«, versicherte Tom. »Ich habe ihr so oft von Mark Tapley erzählt. Ist’s nicht so, Ruth?«

»Ja, Tom.«

»Alles gewiß nicht«, sagte Martin. »Die beste Seite von Mark Tapley ist nur einem einzigen Menschen bekannt, und der würde nicht mehr am Leben sein, um es zu erzählen, wenn Mark nicht gewesen wäre.«

»Mark!« rief Tom Pinch jetzt sehr energisch, »wenn Sie sich nicht augenblicklich niedersetzen, so fange ich an, Ihnen zu fluchen.«

»Nun, Sir«, versetzte Mr. Tapley freundlich, »ehe Sie mir das antun, will ich mich doch lieber fügen. Dachte nur, es sei so aller ehrenhaften Fidelität schnurstracks zuwider, wenn man so besonders gut aufgenommen wird.«

»Also noch immer die alte Sorge?« fragte Tom lächelnd.

»Nun, so halb und halb habe ich schon Ursache gehabt, fidel zu sein. Drüben auf der andern Seite des großen Wassers«, entgegnete Mr. Tapley. »Und ein bißchen Ehre war auch dabei einzulegen. Aber die ganze Menschheit scheint sich wieder gegen mich verschworen zu haben. Ich kann und kann die Sache nun einmal nicht bis zu Ende durchführen. Ich werde übrigens in meinem Testament die Verfügung treffen, daß man mir aufs Grab schreibt: er war ein Mann, der sich gerne groß gezeigt hätte, aber das Schicksal hat ihm die Möglichkeit dazu versagt.«

Dabei lachte Mr. Tapley übers ganze Gesicht, blickte fröhlich umher und machte dann eine Attacke auf das Frühstück mit einem Appetit, der nichts weniger als Vernichtung seiner Hoffnungen oder Kleinmut ausdrückte.

Unterdessen hatte Martin seinen Stuhl ein wenig näher zu Tom und seiner Schwester gerückt, um ihnen zu berichten, was in Mr. Pecksniffs Hause vorgegangen war, und zugleich einen kurzen Überblick über seine Leiden und Enttäuschungen in Amerika zu geben.

»Für Ihre so treue Erfüllung des Auftrages, den ich Ihnen hinterlassen, Tom«, fuhr er fort, »und für alle Ihre Güte und Uneigennützigkeit werde ich Ihnen nie genug danken können. Wenn ich meinem Dank auch noch den von Mary beifüge –«

Das Blut wich aus Toms Wangen und strömte dann wieder so heftig zurück, daß es jeden, der um seine Gefühle gewußt hätte, aufs tiefste erschüttert haben würde. Aber es war eine Erleichterung für ihn und ein Balsam für sein wundes Herz.

»Wenn ich noch meinem Dank den von Mary hinzufüge«, sagte Martin, »so haben Sie damit die einzige armselige Anerkennung, die ich Ihnen geben kann. Aber wenn Sie wüßten, wie tief und innig wir für Sie empfinden, Tom, so würden Sie gewiß Wert darauf legen.«

– Und wenn sie gewußt hätten, wie tief und innig Tom fühlte – doch das wußte keine menschliche Seele –, so würden sie ihn sicherlich bewundert haben.

Rasch wechselte Tom das Thema. Es tat ihm leid, den Gegenstand nicht weiter verfolgen zu können, da es Martin Freude zu machen schien, aber für den Augenblick konnte er es nicht über sich bringen. Wohl war nicht eine Spur von Bitterkeit oder Neid in seiner Seele, aber er konnte sich nicht so weit beherrschen, um Marys Namen ohne Beben auszusprechen. So fragte er, was Martin jetzt für Pläne habe.

»Ich habe es mir endgültig aus dem Kopf geschlagen, Sie zu protegieren, Tom«, sagte Martin. »Ich muß mich jetzt damit begnügen, mir erst selber einmal mein Brot zu verdienen. Ich habe es bereits einmal in London versucht, Tom, aber es ist mir nicht gelungen. Wenn Sie nun so gut sein wollen, mir mit Ihrem freundschaftlichen Rat zur Seite zu stehen, so hoffe ich, wird es vielleicht besser gehen. Ich will wirklich alles tun, Tom, und scheue mich vor nichts, auch nicht vor der niedrigsten Arbeit, nur mein Brot will ich mir verdienen. Höher versteigen sich meine Hoffnungen nicht mehr.«

»Was? Ihre Hoffnungen sollten sich nicht höher versteigen? Wie können Sie nur so etwas sagen!« rief Tom. »Hoffen Sie denn nicht mehr auf die Zeit, wo Sie dereinst mit ihr glücklich sein werden, Martin? Doch, doch! Sie müssen darauf hoffen, Martin! Meinen freundschaftlichen Rat?! Gewiß werde ich es an nichts fehlen lassen, soweit es an mir liegt, aber ich hoffe, es wird Ihnen ein besserer Rat zuteil werden, als ich Ihnen wohl zu geben vermag, wenn er auch kaum einer größeren Teilnahme für Sie entspringen kann als meiner. Sie müssen sich mit John Westlock besprechen; wir wollen uns auf der Stelle zu ihm begeben. Es ist noch so früh an der Zeit, daß ich Sie bequem nach seiner Wohnung begleiten kann, ehe ich an meine Geschäfte gehe. Ich muß sowieso dort vorbei und will Sie dort lassen, damit Sie mit ihm über Ihre Angelegenheiten reden können. Also kommen Sie, kommen Sie! Ich habe jetzt viel zu tun, müssen Sie wissen«, setzte er mit seinem liebenswürdigsten Lächeln hinzu, »und darf daher keine Zeit verlieren. Also höher versteigen sich Ihre Hoffnungen nicht? Hoffentlich glauben Sie das selber nicht! Aber ich kenne Sie. Sie werden sich bald so hoch emporschwingen, Martin, daß wir Sie ganz aus dem Gesichte verlieren und sie uns meilenweit hinter sich zurücklassen werden, ehe wir es uns versehen.«

»Ach, ich habe mich recht sehr verändert, Tom, seit damals, als Sie mich zuerst kennenlernten, Tom.«

»Unsinn, Unsinn«, rief Mr. Pinch, »warum hätten Sie sich denn verändern sollen? Sie reden ja rein, als wären Sie ein alter Mann. In meinem ganzen Leben habe ich noch niemanden so reden hören. Kommen Sie nur erst einmal zu John Westlock. Und Sie müssen natürlich mit, Mark Tapley. Ja, das hat alles dieser Mark angerichtet, und es geschieht Ihnen schon recht, Martin; warum haben Sie sich einen solchen Querkopf zum Gefährten gewählt.«

»Wahrhaftig, man legt keine Ehre ein, wenn man bei Ihnen fidel ist, Mr. Pinch«, protestierte Mark und lachte wieder übers ganze Gesicht. »In Ihrer Gesellschaft könnte sogar ein Armendoktor fidel sein. Ich müßte rein noch einmal nach Amerika, um mit einigermaßen Verdienst fidel zu sein, nachdem ich Sie gesehen habe.«

Tom lachte, sagte seiner Schwester Lebewohl und eilte mit Mark und Martin fort, um sich auf dem nächsten Wege zu John Westlock zu begeben. Seine Geschäftszeit fing bald an, und er setzte seine Stolz darein, immer pünktlich zu sein.

John Westlock war zu Hause, aber seltsamerweise ein wenig verlegen über den Besuch, und als Tom direkt in das Zimmer gehen wollte, wo sein Freund zu frühstücken pflegte, sagte er, er habe einen Fremden zu Besuch. Es schien ein sehr geheimnisvoller Mensch zu sein, dieser Fremde, denn John schloß bei diesen Worten sorgsam die Türe und führte seine Gäste in das Zimmer nebenan. Gleichwohl war er sehr erfreut, Mark Tapley wiederzusehen, wie er denn auch Martin Chuzzlewit mit größter Höflichkeit bewillkommnete. Martin hatte das Gefühl, daß er John nicht viel Sympathie einflöße, und glaubte auch zu bemerken, daß dieser Tom Pinch einige Male bedenklich, wenn nicht gar mitleidig anblickte. Er glaubte die Ursache zu erraten und errötete bei dem Gedanken daran.

»Ich fürchte, Sie sind beschäftigt«, sagte er daher, als Tom den Zweck ihres Besuches erzählt hatte, »wenn Sie gestatten, möchte ich Sie vielleicht lieber zu einer Zeit besuchen, wo Sie nicht verhindert sind.«

»Allerdings bin ich augenblicklich beschäftigt«, versetzte John mit einigem Widerstreben, »aber es betrifft, offen gestanden, die Sache, die mich augenblicklich in Anspruch nimmt, mehr Sie als mich.«

»Mich?« rief Martin.

»Die Angelegenheit ist ziemlich ernster Natur und betrifft ein Mitglied Ihrer Familie. Wenn Sie die Güte haben wollen, mich hier zu erwarten, so würde mich das sehr freuen, denn ich könnte Ihnen nachher alles unter vier Augen mitteilen, damit Sie selbst urteilen, wie weit die Angelegenheit Sie angeht.«

»Ich kann sowieso jetzt nicht bleiben«, fiel Tom ein.

»Sind Ihre Geschäfte denn so dringend«, unterbrach ihn Martin, »daß Sie nicht ein halbes Stündchen mehr hierbleiben können? Es wäre mir wirklich sehr lieb, wenn es irgendwie ginge. Was haben Sie denn für Geschäfte, Tom?«

Tom wurde verlegen, sagte aber, nachdem er eine Minute nachgedacht, offen heraus:

»Leider kann ich Ihnen darüber keine nähere Auskunft geben, Martin, aber ich hoffe, ich werde es bald dürfen. Der Grund dafür liegt eigentlich nur darin, daß mein Prinzipal mir verboten hat, darüber zu sprechen. Meine Situation ist überhaupt sehr merkwürdig«, setzte er unruhig hinzu, denn er wünschte auch den Schein zu vermeiden, als ob er irgendwie Zweifel in Martins Vertrauen setze – »aber ich kann wirklich nicht anders. Nicht wahr, du wirst mir das bestätigen, John?«

John Westlock bejahte, und Martin bat Mr. Pinch, doch kein Wort mehr weiter darüber zu verlieren. Nichtsdestoweniger natürlich wunderte er sich innerlich, warum Tom in betreff seiner Geschäfte so geheimnisvoll, so verlegen und so ganz anders war, als er sonst zu sein pflegte. Auch als Mr. Pinch sich bereits entfernt hatte, wollte ihm der Gedanke nicht aus dem Kopf.

Unmittelbar darauf verabschiedete sich Tom und nahm Mr. Tapley mit sich, der lachend um die Erlaubnis bat, ihn, wenn es ihm nichts ausmache, bis nach Fleet Street begleiten zu dürfen.

»Nun, und was gedenken Sie jetzt anzufangen, Mark?« fragte Tom, als sie zusammen nebeneinander her gingen.

»Je nun, Sir«, sagte Mark Tapley, »offen gestanden, gedenke ich mich zu verheiraten.«

»Warum nicht gar, Mark!« rief Tom.

»Jawohl, Sir, so ist’s. Ich habe mir die Sache lange überlegt.«

»Und wer ist die Glückliche, Mark?«

»Wer die Glückliche ist, Sir?« wiederholte Mr. Tapley.

»Ja, ja, die Glückliche. So tun Sie doch nicht, als ob Sie nicht wüßten, was ich meine«, versetzte Tom lachend.

Mr. Tapley unterdrückte seine eigene Lachlust und sagte mit komisch ernstem Gesicht:

»Sie können’s natürlich nie erraten, Mr. Pinch.«

»Wie wäre das auch möglich«, rief Tom. »Ich kenne doch keine von Ihren Flammen, außer vielleicht Mrs. Lupin.«

»Na, Sir, und wenn die’s wäre?«

Tom blieb stehen und blickte Mark Tapley an. Aber dieser machte einen Augenblick ein vollkommen ausdrucksloses Gesicht – so ausdruckslos wie eine Häusermauer mit geschlossenen Fenstern. Aber allmählich machte er ein Fenster nach dem andern auf, und schließlich lachte er über das ganze Gesicht.

»Gesetzt nun den Fall, sie wäre es, Sir?«

»Aber Sie haben mir doch einmal selbst gesagt«, rief Tom, »eine solche Verbindung wäre nichts für Sie!«

»Ja, ja, das habe ich früher auch geglaubt«, scherzte Mark, »aber inzwischen bin ich doch wankend geworden. Sie ist ein liebes, herziges Geschöpf.«

»Gewiß ist sie ein liebes, herziges Geschöpf«, versicherte Tom, »aber das ist sie doch von jeher gewesen.«

»Das will ich meinen«, pflichtete Mr. Tapley bei.

»Warum, um Gottes willen, haben Sie denn dann die wackere Frau nicht gleich von vornherein geheiratet, Mark, und sich erst lange in der Fremde herumgetrieben? Warum sie die ganze Zeit über allein lassen und der Hofmacherei von Fremden preisgeben?«

»Nun, Sir«, erklärte Mr. Tapley im Tone des größten Vertrauens, »ich will Ihnen sagen, wie das zuging. Sie kennen mich, Mr. Pinch, niemand kennt mich besser als Sie. Sie kennen meinen Charakter und wissen auch, worin meine Schwäche besteht. In meiner Natur liegt es, fidel zu sein, und meine schwache Seite ist, daß ich gerne fidel wäre, wo es eine Kunst ist, fidel zu sein. Also gut, Sir. Und so kam es, daß ich es mir in den Kopf setzte, sie müsse – wie soll ich nur sagen – sie müsse stolz auf mich sein«, setzte er bescheiden hinzu.

»Gewiß, gewiß«, rief Tom, »ich ahnte das, als wir damals darüber sprachen, wie Sie noch im ›Drachen‹ waren.«

Mr. Tapley nickte zustimmend.

»Sehr gut, Sir. Aber damals trug ich mich mit allerlei Hoffnungen und kam zu dem Schlusse, daß es keine Kunst sei, fidel zu sein, wenn man ein Leben führt, das von lauter Annehmlichkeiten umgeben ist. Wie ich mir so die schöne Seite des Lebens betrachtete, da dachte ich mir, ich müsse vor allem noch einmal recht viel Elend durchmachen; denn da sei wenigstens Ehre dabei zu holen, wenn man fidel bliebe. So zog ich voller Erwartungen in die Welt hinaus, um es zu probieren. Zuerst ging ich an Bord eines Schiffes, bemerkte aber bald – da es auch dort ganz leicht war, fidel zu sein –, daß da nicht viel Ruhm für mich zu ernten sei. Ich hätte mir’s wohl können zur Warnung dienen lassen und die Sache aufgeben sollen, aber ich tat es nicht. Dann ging ich in die Vereinigten Staaten, und da fing ich – ich kann’s nicht leugnen – zum erstenmal an, zu fühlen, daß man dort Ehre einlegen könne, wenn man bei guter Laune bleibt. Aber was geschah? Kaum fange ich an, in die Höhe zu kommen, da hintergeht mich mein Herr.«

»Er hintergeht Sie?« rief Tom.

»Er hintergeht mich im wahrsten Sinne des Wortes«, sagte Mr. Tapley mit strahlendem Gesicht. »Legt alle die Gewohnheiten ab, die den Dienst bei ihm noch als ein bißchen anerkennenswert hingestellt hätten, und macht mir Freude. Selbstverständlich kehre ich da sofort wieder heim. Gut. Und wie alle meine hoffnungsvollen Aussichten gescheitert sind und ich einsehe, daß ich mich nirgends mehr herausreißen kann, da packt mich die Verzweiflung, und ich sage mir: So will ich also tun, was gar keine Kunst ist; ich will ein liebes braves Geschöpf heiraten, das mich liebt und das ich ebenfalls liebe, ich will ein glückliches Leben führen und nicht mehr weiter kämpfen gegen das Schicksal, das alle meine Aussichten vernichtet hat.«

»Ihre Philosophie ist wohl so ziemlich das Närrischste, was ich mir denken kann, aber unweise ist sie darum eigentlich nicht«, sagte Tom herzlich lachend. »Mrs. Lupin hat natürlich ›ja‹ gesagt?«

»Wo denken Sie hin!« versetzte Mr. Tapley. »So weit ist sie noch nicht. Ich schreibe das vorzüglich dem Umstande zu, daß ich sie noch nicht danach gefragt habe. Aber gefreut haben wir uns beide mächtig, als wir uns an dem Abend, wo ich nach Hause kam, wiedersahen. Es ist schon soweit alles in Ordnung, Sir.«

»Nun, dann wünsche ich Ihnen von ganzem Herzen Glück«, sagte Tom. »Hoffentlich sehe ich Sie doch heute noch? – Inzwischen leben Sie wohl.«

»Leben Sie wohl, Sir! – – Adieu, Mr. Pinch«, setzte Mark innerlich hinzu, als er allein auf der Straße stand und Tom nachsah. »Du bist so recht ein Dämpfer für einen tüchtigen Ehrgeiz. Du weißt freilich nichts davon, daß du der erste warst, der meinen Hoffnungen den ersten Stoß versetzte. Ja, der Mr. Pecksniff hätte mich für mein ganzes Leben aufgerichtet! Aber mit einer Sanftmut wie der deinigen kann es der Mensch unmöglich aushalten. – Adieu, Mr. Pinch!«

Inzwischen waren Martin und John Westlock auf ganz andere Weise beschäftigt. Sie waren kaum allein, da begann Martin mit einer Anstrengung, die er nicht ganz verbergen konnte:

»Mr. Westlock, wir haben uns zwar nur ein einziges Mal gesehen, aber Sie kennen Tom so lange, daß ich vermuten muß, dieser Umstand allein veranlaßt Sie, so freundlich gegen mich zu sein. Ich kann nun aber nicht offen heraus mit Ihnen sprechen, bevor ich mich nicht von einer Last, die mich jetzt schwer bedrückt, befreie. Zu meinem Leidwesen muß ich sehen, daß Sie mir nicht so weit trauen, als daß Sie nicht glauben könnten, ich wäre imstande, Toms Uneigennützigkeit, sein gutes Herz oder sonst eine seiner guten Eigenschaften zu mißbrauchen.«

»Ich hatte nie die Absicht, einen solchen Eindruck bei Ihnen hervorzubringen«, versetzte John, »und bedaure wirklich sehr, daß es trotzdem geschehen ist.«

»Aber offenbar sind Sie dieser Ansicht, nicht wahr?« fragte Martin.

»Sie fragen mich so direkt und bestimmt«, entgegnete John, »daß ich nicht ganz in Abrede zu stellen vermag, Sie als einen Mann betrachtet zu haben, der – nicht etwa aus Übermut oder Schlechtigkeit, sondern aus bloßer Gedankenlosigkeit – Toms Wesen einst nicht gehörig würdigte und ihn nicht ganz so behandelte, wie er gewiß behandelt zu werden verdient. Glauben Sie mir, es ist viel leichter, Tom Pinch geringzuschätzen, als ihn nach Gebühr zu würdigen.«

John sprach durchaus nicht erregt, aber immerhin energisch, denn, ein einziges Wesen vielleicht ausgenommen, gab es auf der ganzen Welt niemanden, den er höher geschätzt hätte als Tom.

»Als ich an Jahren reifer wurde, lernte ich meinen Freund ebenfalls besser erkennen«, fuhr er fort, »und ich habe in ihm einen Menschen lieben gelernt, der unendlich besser ist als ich. Ich glaube nicht, daß Sie ihn recht verstanden haben, als wir uns damals in früheren Zeiten trafen, und vermute auch, daß Ihnen nicht besonders viel daran lag, ihn näher kennenzulernen. Die Umstände, aus denen ich dies schloß, waren sehr geringfügig – sogar harmlos, kann ich sagen, aber sie haben damals keinen sehr angenehmen Eindruck auf mich gemacht und drängten sich mir, sozusagen, mit Gewalt auf –, denn Sie dürfen nicht glauben, daß ich Sie vielleicht absichtlich beobachtet hätte. Sie werden denken«, setzte John liebenswürdig lächelnd – er konnte nie lange ungehalten sein – hinzu, »daß ich Ihnen damit nichts besonders Angenehmes sage und daß Ihnen an mir gewiß auch so mancherlei mißfällt. Aber ich kann Ihnen darauf nur erwidern, daß das Thema nicht von mir ausging, denn ich würde es um keinen Preis zur Sprache gebracht haben.«

»Ich weiß, daß ich selbst Anlaß dazu gegeben habe«, erwiderte Martin, »und bin weit entfernt, darüber irgendwie gekränkt zu sein. Im Gegenteil erfüllen mich die Freundschaft, die Sie für Tom empfinden, und die vielen Beweise, die Sie ihm davon gegeben haben, mit der größten Hochachtung. Warum sollte ich auch versuchen, Ihnen zu verhehlen« – dennoch errötete er dabei – »daß ich damals Tom weder verstand noch daß mir daran gelegen war, ihn näher kennenzulernen, als wir beisammen waren. Jetzt aber tut mir dies alles aufrichtig leid.«

Diese Antwort war so schlicht, so bescheiden und männlich, daß ihm John sofort die Hand entgegenstreckte. Und damit wich auch augenblicklich jeder Zwang zwischen den beiden jungen Leuten.

»Aber jetzt muß ich Sie vor allem bitten«, ging John auf ein anderes Thema über, »es mir nicht übelzunehmen, wenn ich Ihre Geduld auf längere Zeit in Anspruch nehme. Es handelt sich nämlich um etwas außerordentlich Wichtiges.«

Nach dieser Einleitung erzählte er Martin ausführlich alle Einzelheiten von der Krankheit und der langsamen Rekonvaleszenz des Patienten im »Ochsen« und knüpfte daran den Bericht, den ihm Tom seinerzeit über den Vorfall auf dem Kai erstattet hatte. Martin war nicht wenig verblüfft, als John schloß, denn die beiden Geschichten schienen in gar keinem Zusammenhang miteinander zu stehen und ließen ihn vollständig im unklaren.

»Und jetzt bitte ich Sie, mich einen Augenblick zu entschuldigen«, sagte John und stand auf. »Ich werde Sie sogleich ersuchen, mit mir in das anstoßende Zimmer zu kommen.«

Erstaunt blieb Martin allein, bis gleich darauf John wiederkam. Dann traten sie mitsammen in das anstoßende Zimmer, wo Martin den Fremden erblickte, von dem Westlock vorhin gesprochen.

Es war ein junger Mann mit tiefliegenden Augen und schwarzen Haaren, blaß und abgezehrt, wie es schien infolge einer soeben erst überstandenen schweren Krankheit. Als Martin eintrat, stand er auf, nahm aber auf Johns Aufforderung wieder Platz. Er hatte die Augen schüchtern niedergeschlagen und erhob sie nur ein einziges Mal, halb demütig, halb flehend, zu den beiden, senkte sie dann wieder und blieb stumm sitzen.

»Lewsome ist der Name diese Herrn«; stellte ihn John Westlock Martin vor, »er ist derselbe, der, wie ich Ihnen schon sagte, in dem Wirtshaus Zum Ochsen krank wurde und so außerordentlich viel durchgemacht hat. Es war eine schwere Leidenszeit für ihn, aber Sie sehen, daß es ihm jetzt bereits wieder gut geht.«

Der Fremde rührte sich nicht, und da John Westlock eine Pause machte, stotterte Martin in seiner Verlegenheit:

»Freut mich sehr, zu hören.«

»Den kurzen Bericht, den ich Sie bitte, aus dem Munde dieses Herrn selbst anzuhören, Mr. Chuzzlewit«, fuhr John fort, »hat mir Mr. Lewsome selbst gestern zum erstenmal erstattet und heute früh aufs genaueste und ohne die geringste Abweichung wiederholt. Ich habe Ihnen vorhin bereits gesagt, daß er mir, ehe er das Wirtshaus verließ, mitteilte, er habe mir ein Geheimnis zu enthüllen, das ihn schwer bedrücke. Zwischen Gesundheit und abermaligen Krankheitsrückfällen schwebend und teils von dem Wunsch beseelt, sein Gewissen von der ihn drückenden Last zu erleichtern, halb aus Furcht, sich durch die Entdeckung desselben in allerlei Unannehmlichkeiten zu verstricken, hat er bis gestern gezögert, sich mir anzuvertrauen. Ich habe ihn niemals gedrängt, da ich nicht die geringste Ahnung von der Wichtigkeit seines Geheimnisses hatte und mich im übrigen auch nicht berechtigt glaubte, ihn ernstlicher um Erfüllung seines Versprechens anzugehen. Erst vor einigen Tagen, als er mir in einem Brief mitteilte, was ihn bedrücke, beziehe sich auf eine Person namens Jonas Chuzzlewit, kam ich auf den Gedanken, die Sache könne vielleicht einiges Licht auf das kleine Geheimnis werfen, auf das Tom immer wieder und wieder zurückkommt. So bestand ich daher auf der Enthüllung und hörte, was Sie selbst jetzt aus seinem Munde vernehmen werden. Ich muß zu Mr. Lewsomes Lobe sagen, daß er auf dem Krankenlager das Geheimnis niedergeschrieben, versiegelt und mit meiner Adresse versehen hat, wenn er sich auch lange Zeit nicht entschließen konnte, es mir zu übergeben. Er trägt, glaube ich, noch jetzt den Brief auf der Brust.«

Der Fremde griff hastig in die Brusttasche, um zu zeigen, daß es wahr sei.

»Vielleicht wird es gut sein, wenn wir den Brief jetzt in Verwahrung nehmen«, sagte John. »Aber dazu haben wir schließlich noch immer Zeit.« Dabei winkte er heimlich Martin, um ihn auf das aufmerksam zu machen, was der Fremde erzählen werde. Nach einer kurzen Pause begann Mr. Lewsome mit leiser, schwacher und hohler Stimme.

»In welcher Weise war Mr. Anthony Chuzzlewit, der kürzlich – gestorben ist, mit Ihnen verwandt?«

»Mit mir verwandt?« wiederholte Martin. »Er war der Bruder meines Großvaters.«

»Ich fürchte, er ist keines natürlichen Todes gestorben, sondern ermordet worden«, sagte Mr. Lewsome stockend.

»Gott im Himmel«, rief Martin, »von wem?«

Mr. Lewsome blickte hastig auf, schlug die Augen wieder nieder und sagte:

»Ich fürchte, durch mich.«

»Durch Sie?« rief Martin.

»Nicht vielleicht direkt durch mich, aber ich fürchte, ich bin vielleicht mit schuld daran.«

»Um Gottes willen, sprechen Sie sich doch genauer aus», rief Martin. »Bitte, sagen Sie uns die volle Wahrheit.«

»Ich fürchte, dies ist die Wahrheit.«

Martin war im Begriff, abermals eine hastige Frage zu stellen, aber John Westlock flüsterte ihm zu, er möge den jungen Mann die Geschichte in seiner eigenen Weise ruhig vortragen lassen.

»Ich habe als Lazarettgehilfe praktiziert und stand in den letzten paar Jahren bei einem Chirurgen in der City in Diensten«, begann Mr. Lewsome; »und dabei wurde ich mit Mr. Jonas Chuzzlewit bekannt, der der Hauptschuldige in dieser Sache ist.«

»Wissen Sie, was Sie damit sagen?!« rief Martin streng und ernst. »Wissen Sie, daß Jonas der Sohn des alten Mannes ist, von dem Sie sprachen?«

»Ich weiß es«, antwortete Lewsome.

Dann schwieg er einige Minuten und fuhr wieder in seiner Erzählung fort:

»Natürlich weiß ich es. Oft genug habe ich gehört, wie er wünschte, sein alter Vater möge endlich sterben. Er pflegte sich in diesem Sinne oft an einem Ort zu äußern, wo wir zu dritt oder viert jeden Abend zusammenkamen. Sie können sich wohl denken, daß es keine besonders sympathische Gesellschaft war, wenn Sie erfahren, daß er das Haupt davon bildete. Ach, wäre ich doch lieber gestorben, ehe ich ihn zu Gesicht bekam.«

Lewsome hielt wieder inne und fuhr dann aufs neue fort:

»Wir kamen dort zusammen, um zu trinken oder zu spielen – nicht hoch, aber immerhin um Summen, die für unsere Verhältnisse zu hoch waren. Gewöhnlich gewann er, und jedesmal lieh er den Verlierenden Geld gegen hohe Zinsen und bekam uns auf diese Weise schließlich alle in die Gewalt, trotzdem wir ihn im stillen haßten. Um ihn günstig für uns zu stimmen, machten wir mit, wenn er seine rohen Witze über seinen Vater riß, und pflegten sogar Toaste darauf auszubringen, der Alte möge rasch in die Grube fahren und Jonas seine Erbschaft antreten.«

Wieder eine Pause. »Eines Abends war Mr. Jonas in besonders übler Laune. Der alte Mann, sagte er, habe ihn den ganzen Tag über gequält. Er und ich waren allein, und da erzählte er mir in seiner Wut und seinem Ärger, Mr. Anthony Chuzzlewit, sein Vater, sei so kindisch, schwachsinnig oder blödsinnig, daß er nicht nur seinen Nebenmenschen, sondern auch sich selbst eine Last sei, und es wäre eine wahre Wohltat für ihn, wenn man ihn aus der Welt schaffte. Er beteuerte mit einem Schwur, er habe schon oft daran gedacht, ihm etwas in seinen Hustensaft zu mischen und ihm auf diese Weise zu einem leichten Tod zu verhelfen. Menschen, die von tollen Hunden gebissen werden, sagte er, brächte man doch zuweilen um die Ecke; warum solle man das nicht auch bei alten Leuten tun, bei denen es mit dem Sterben nicht so recht vorangehen wolle. Jonas sah mir bei diesen Worten voll ins Gesicht, und ich erwiderte seinen Blick. Aber weiter kamen wir an diesem Abend nicht.«

Lewsome machte abermals eine Pause und schwieg so lange, daß John Westlock ihn auffordern mußte, fortzufahren. Martin hatte kein Auge von seinem Gesicht verwandt und war so entsetzt, daß er seinerseits kein Wort hervorbringen konnte.

»Ungefähr eine Woche darauf – die Sache ging mir inzwischen nicht aus dem Kopf –, so lange kann es ungefähr gewesen sein – da kam er zum zweitenmal darauf zu sprechen. Wir waren wiederum allein, da wir etwas früher gekommen waren als die andern. Es bestand keine Verabredung zwischen uns, aber ich glaube doch, daß ich absichtlich etwas früher kam, um ihn zu treffen. Daß er deshalb früher kam, das weiß ich bestimmt. Also er war der erste am Platz und las gerade in einer Zeitung, als ich eintrat. Ohne aufzublicken und ohne sich im Lesen zu unterbrechen, nickte er mir zu. Ich setzte mich ihm gerade gegenüber. Ganz unvermittelt sagte er mir dann, ich müßte ihm zweierlei Mittel verschaffen: eines, das unmittelbar und sofort wirke und von dem man nur eine Kleinigkeit benötige, und eines, das langsamer wirke und nicht leicht Verdacht erwecke; davon brauche er mehr. Dabei las er immer in der Zeitung fort, wie es schien. Er sagte ›Mittel‹, ein anderes Wort gebrauchte er nicht, ich auch nicht.«

»Das stimmt ganz mit dem überein, was ich bereits früher gehört habe«, erklärte John Westlock.

»Ich fragte ihn, wozu er die Mittel brauche. Er meinte, zu nichts Bösem; um Katzen zu vergiften usw. Im übrigen könne mir das ja gleichgültig sein. Da ich ja sowieso in eine Kolonie zu gehen gedächte – ich hatte wohl eine derartige Anstellung erhalten, verlor sie aber wieder, wie Mr. Westlock weiß, infolge meiner Krankheit, und mit ihr auch meine einzige Hoffnung auf die Zukunft –, ginge mich die Sache um so weniger an. Er könne die Mittel übrigens ohne meine Beihilfe auf hunderterlei andere Art erhalten, wenn auch nicht ganz so leicht wie von mir – vielleicht werde er sie überhaupt nicht brauchen, und es falle ihm auch vorderhand nicht im entferntesten ein, sie zu benützen. Aber dennoch würde er sie gerne besitzen. Und während er dies sprach, las er ununterbrochen in der Zeitung. Wir unterhandelten dann wegen des Preises; er wollte mir eine kleine Schuld nachlassen – ich war nämlich völlig in seinen Händen – und mir außerdem fünf Pfund geben – dann unterbrachen wir das Thema, da andere Leute hereinkamen, aber am nächsten Abend unter ähnlichen Umständen händigte ich ihm die Mittel aus, nachdem er mir zuvor ausdrücklich versichert hatte, ich sei ein Narr, wenn ich glaubte, er werde sie jemals zu etwas Bösem benützen. Ich nahm das Geld und bin seitdem nicht wieder mit ihm zusammengetroffen. Ich weiß nun aber, daß der alte Mann gleich nachher starb, und zwar in einer Weise, die ganz gut die Folge dieser Gifte hätte sein können, und seit jener Zeit fühle ich mich als den elendsten aller Menschen. Nichts«, setzte Mr. Lewsome hinzu und verkrampfte die Hände, »nichts kann die Trostlosigkeit meines Innern schildern. Die Gewissensbisse sind wahrhaftig verdient, aber sie zu schildern bin ich nicht imstande.«

Damit senkte er den Kopf und schwieg. Abgezehrt und elend, wie er war, hätte ihm wohl niemand in diesem Zustand Vorwürfe zu machen gewagt.

»Ich kann es in der Nähe dieses Menschen nicht mehr länger aushalten«, sagte Martin halblaut und wendete sich ab.

»Er wird hier bleiben«, flüsterte John. »Kommen Sie.«

Leise drehte er den Schlüssel in dem Türschloß um, als sie fortgingen, und führte Martin in das Zimmer nebenan, in dem sie bereits vorhin gewesen.

Martin war so erstaunt, erschüttert und verwirrt über das Gehörte, daß er einige Zeit brauchte, ehe er sich fassen oder den Zusammenhang der einzelnen Punkte vollständig begreifen konnte. Als er endlich die ganze Geschichte klar überschaute, erklärte ihm John Westlock, wie wahrscheinlich es sei, daß das Verbrechen noch andern Leuten bekannt sei, die es zu ihrem eigenen Nutzen mißbrauchten und jenen Zwang auf Jonas ausübten, von dem der Vorfall mit Tom Pinch der beste Beweis sei. Das war so einleuchtend, daß sie es beide sofort einsahen, aber trotzdem gab es ihnen keinen Anhaltspunkt, was sie weiter zu tun hätten. Die Personen, die diese Macht offenbar besaßen und ausübten, waren ihnen unbekannt. Der einzige, von dem sie es wußten, war Toms Hauswirt. Aber selbst wenn es gelingen sollte, diesen Menschen stellig zu machen, was nach Toms Aussage nicht sehr leicht schien, so hatten sie doch kein Recht, irgendwelche Fragen an ihn zu richten. Aber auch angenommen, daß sie ihn fragten und er ihnen Rede stünde, so brauchte er doch nur mit Bezug auf das Abenteuer auf dem Quai zu sagen, er sei von da und dort geschickt worden, Jonas wegen eines dringenden Geschäftes zurückzurufen, und damit würde die Sache ein Ende gehabt haben. Überdies war es sehr schwierig und sehr verantwortlich, Schritte in dieser Sache zu tun. Lewsomes Geschichte konnte falsch sein, denn vielleicht war er nicht nur krank, sondern litt sogar an Geisteszerrüttung; und selbst wenn sie richtig war, so erbrachte das immer noch nicht den Beweis, daß der alte Chuzzlewit wirklich ermordet worden sein mußte. Pecksniff war bekanntlich zugegen gewesen, als der Alte starb (wie sich Tom sofort erinnerte, als er nachmittags zurückkam und sich ihren Beratungen anschloß), und überhaupt schien der Todesfall und alles, was damit zusammenhing, nichts besonders Auffallendes gehabt zu haben. Von Rechts wegen war nur Martins Großvater derjenige, der hinsichtlich des einzuschlagenden Verfahrens vor allem seine Meinung abzugeben hatte, aber es war offenbar unmöglich, sich mit ihm zu verständigen – sagte und dachte er doch nur, was Mr. Pecksniff ihm vorsprach und vordachte. Und wie Mr. Pecksniff sich über seinen eigenen Schwiegersohn äußern würde, ließ sich leicht vorhersehen.

Ganz abgesehen von allen diesen Rücksichten, konnte Martin außerdem den Gedanken nicht ertragen, es möchte vielleicht den Anschein haben, als nehme er die Gelegenheit wahr, durch eine so unnatürliche Anklage gegen einen Verwandten sich neuerdings um die Gunst seines Großvaters zu bewerben. Wenigstens mußte in diesem Licht sein Handeln erscheinen, wenn er abermals in Mr. Pecksniffs Hause vor dem alten Herrn erschien, um ihm das, was er erfahren, mitzuteilen; – immerhin mußte er damit rechnen, daß Mr. Pecksniff nicht einen Augenblick zögern werde, sein Benehmen von diesem Gesichtspunkte aus zu deuten. Andererseits wiederum konnte die Mitwisserschaft um das Geheimnis, ohne daß weitere Maßregeln zur nähern Erforschung der Angelegenheit eingeleitet wurden, als Mitschuld angesehen werden. Mit einem Wort, es schien kein Ausweg aus diesem Labyrinthe zu führen. Mr. Tapley wurde zwar gleichfalls ins Vertrauen gezogen, und die ausschweifende Phantasie dieses Gentlemans gab die allerkühnsten Mittel an – Entwürfe, die er auf eigene Verantwortung sofort zu vollziehen sich bereit erklärte –, aber dennoch wurde durch seinen Eifer und seine Dienstbeflissenheit die Angelegenheit – keineswegs klarer.

Wie die Dinge standen, erhielt Toms Erzählung über das seltsame Benehmen des geistesschwachen Buchhalters an jenem Abend, wo er und seine Schwester dort gemeinsam Tee getrunken hatten, ein sehr bedenkliches Aussehen und führte zur allgemeinen Überzeugung, daß man einen wichtigen Schritt zur Erforschung der Wahrheit täte, wenn man den Greis in ein Verhör nehmen könnte. Nachdem sie sich daher vorher versichert hatten, daß Lewsome und Mr. Chuffey nie miteinander zu tun gehabt, faßten sie einstimmig den Beschluß, an den alten Buchhalter heranzutreten.

Aber so leicht war es nicht, sich Chuffey zu nähern, ohne ihn oder Jonas stutzig zu machen oder zu beunruhigen, und da sie sich nicht recht klar darüber werden konnten, wie das alles am besten ins Werk zu setzen sei, wollte die Sache nicht recht in Schwung kommen.

Vor allem hieß es die Frage erörtern, wer von der Umgebung des alten Buchhalters noch den meisten Einfluß auf ihn habe, und Tom erklärte, daß dies augenscheinlich bei seiner jungen Herrin der Fall zu sein scheine. Aber selbstverständlich schreckten sowohl er wie alle übrigen vor dem Gedanken zurück, Gratia mit in das Komplott zu verwickeln und sie zu dem Werkzeug zu machen, das um Jonas‘ Hals den Strick zuziehen sollte. – War denn also niemand sonst da?

»Allerdings; – Mrs. Gamp«, sagte Tom, »die Krankenwärterin, besitzt großen Einfluß auf den alten Mann und hat ihn eine Zeitlang beaufsichtigt.«

Die Anregung fand sofort Anklang. Hier zeigte sich ein neuer Weg zum Ziel, den man bisher übersehen hatte. John Westlock kannte Mrs. Gamp. Er hatte ihr seinerzeit Beschäftigung gegeben und wußte, wo sie wohnte – denn die treffliche Frau hatte nicht verabsäumt, als sie sich das letztemal bei ihm empfahl, ihm ein ganzes Paket ihrer Geschäftskarten zum Verteilen zurückzulassen. Es wurde demnach beschlossen, vorsichtig, aber unverzüglich Mrs. Gamp einzufädeln und sorgfältig zu sondieren, wieviel diese verschwiegene Dame von Mr. Chuffey wußte und ob sie Mittel und Wege finden zu können glaube, sie alle oder wenigstens einen von ihnen in Verbindung mit dem alten Mann zu setzen.

Martin und John Westlock nahmen sich vor, noch am selben Abend ans Werk zu gehen, indem sie zuvörderst einmal Mrs. Gamp in ihrer Wohnung aufsuchten, um zu sehen, ob sie sie dort treffen könnten, und Tom eilte nach Hause, um keine Gelegenheit zu verlieren, sich eine Unterredung mit Mr. Nadgett zu verschaffen, falls dieser in seiner Wohnung auftauchen sollte. Mr. Tapley blieb auf seinen eigenen Wunsch in Furnivals Inn, um Lewsome nicht aus den Augen zu verlieren, obgleich das eigentlich überflüssig war, denn der junge Mann dachte an nichts weniger als an Flucht.

Ehe sie sich jedoch auf ihre verschiedenen Posten begaben, mußte ihnen Lewsome im Beisein der ganzen Gesellschaft die von ihm zu Papier gebrachte Erklärung laut vorlesen und erklären, daß er das Geständnis freiwillig angesichts des Todes und aus innerer Seelenpein niedergeschrieben habe. Hierauf unterzeichneten sie es sämtlich, und es wurde an einem sichern Ort eingeschlossen.

Auf Johns Rat schrieb Martin sodann einen Brief an den Vorstand der berühmten Elementarschule, in dem er ganz unverfroren den Entwurf des Bauplanes für sich in Anspruch nahm und Pecksniff unverhohlen des Diebstahls geistigen Eigentums zieh. Auch für diese Angelegenheit interessierte sich John Westlock sehr lebhaft und bemerkte mit seiner gewohnten Unehrerbietigkeit, Mr. Pecksniff habe sein Leben lang Glück genug gehabt mit seinen Gaunereien und es müsse ein Mordsspaß sein, ihn wenigstens in diesem Punkte einmal zu entlarven. Kurz, es war ein Tag voller Rührigkeit.

Martin hatte noch kein Logis gefunden, entschuldigte sich daher, als ihn John Westlock zum Dinner einlud, und machte sich sofort auf die Suche. Nach großer Mühe gelang es ihm endlich, für sich und Mark zwei Dachstübchen in der Nähe des Strandes nicht weit vom Tempel Bar zu mieten. Ihr Gepäck, das sie auf dem Postbureau gelassen, schaffte er selbst nach dem neuen Heim, und zwar mit einer Freude, wie er sie in seiner frühern Selbstsucht nie hatte empfinden können. Er jubelte innerlich, wieviel Mühe er dadurch Mark erspare und wie sehr sich dieser beim Nachhausekommen darüber freuen werde. Dann ging er im »Tempel« auf und ab und verzehrte sein frugales Mahl, bestehend aus einigen Wurstschnitten.

49. Kapitel


49. Kapitel

Mrs. Harris sät Zwietracht zwischen ein paar Freundinnen

Mrs. Gamps Zimmer in Kingsgate Street, High Holborn, trug, um bildlich zu sprechen, sein Galakleid, denn es war sauber gescheuert und für den Empfang eines Besuches hergerichtet. Der erwartete Gast war Betsey Prig – Mrs. Prig von St. Barthlmä, wie man dort kurz das St.-Bartholomäus-Spital des Schwesterordens nannte, dessen vornehmste Zierde Mrs. Betsey Prig war.

Mrs. Gamps Wohnung war nicht sehr geräumig, aber für ein zufriedenes Herz ist auch der schlechteste Winkel ein Palast, und die Beletage bei Mr. Sweedlepipe erschien Mrs. Gamps Einbildungskraft wie eine stattliche Halle. Wenn auch nüchterne Verstandesmenschen diese Ansicht nicht geteilt hätten, so konnte man besagtem Vorderzimmer doch nachrühmen, daß es immerhin so viel Komfort bot, wie man von einem Zimmer solchen Umfanges erwarten konnte. Wenn man die Bettstelle nur immer im Auge behielt, war man im allgemeinen vor jedem Unfall sicher. Das war das große Geheimnis. Wenn man das Bett nicht aus dem Auge verlor, konnte man sich sogar bücken, um ungefährdet unter dem kleinen Tisch etwas zu Boden Gefallenes aufzuheben und sich durch die kleine Mühe, dabei einfach in den Kamin hineinzufallen, sogar unter Umständen billigen Einlaß in das Bartholomäusspital verschaffen. Dem Laien wurde es im allgemeinen nicht schwer, das Bett stets im Auge zu behalten, denn es war außerordentlich groß. Es war kein Klappbett, aber auch kein französisches Bett und ebensowenig eine vierpfostige Bettstatt, sondern eher so etwas wie ein Zelt, und der bauchige Strohsack hing gewöhnlich so tief herab, daß Mrs. Gamps Koffer darunter keinen Platz finden konnte, sondern zur Hälfte hervorstand – ein Umstand, der die Schienbeine eines Laien immerhin zu gefährden imstande war.

Überdies war das Gestell, das als Stütze des Betthimmels und der Vorhänge gedient hätte, wenn welche dagewesen wären, mit verschiedenen aus Holz gedrechselten Äpfeln verziert, die beim leisesten – oder vielleicht bei gar keinem – Anstoß herunterzupurzeln pflegten, um den friedlichen Besucher mit unaussprechlichem Schrecken zu erfüllen.

Das Bett selbst war mit einer scheckigen Decke aus grauer Vorzeit geschmückt, und am obern Ende, zunächst der Türe, hing eine schmale Gardine von blau und weiß gestreifter Leinwand, damit die Zephire, die von der Kingsgate Street her wehten, Mrs. Gamps Haupt nicht so rauh berühren konnten. Einige verschossene Röcke und andere Garderobeartikel baumelten an dem Bettpfosten herunter und hatten infolge langen Gebrauchs derart die Figur ihrer Trägerin angenommen, daß ein ahnungsloser Besucher, wenn er um die Zeit der Dämmerung in das Zimmer getreten wäre, wie versteinert hätte stehenbleiben müssen im Glauben, Mrs. Gamp habe sich erhängt. Ein Gentleman, der gewöhnlich sehr eilig zu kommen pflegte, hatte einst die Bemerkung gemacht, sie sähen wie Schutzengel aus – diese kernlosen Hüllen, die Mrs. Gamp in ihrem Schlafe bewachten. Diese Äußerung habe er sich übrigens nur bei seinem ersten Besuche erlaubt, sagte Mrs. Gamp, und sie niemals später wiederholt, trotzdem er sie häufig besuchen käme.

Die Stühle bei Mrs. Gamp waren außerordentlich groß und mit sehr breiten Lehnen versehn, dafür waren ihrer aber auch nur zwei; alle beide Veteranen aus altem Mahagoniholz und besonders wertvoll dadurch, daß ihre Sitze, ursprünglich mit Roßhaar unterpolstert, im Laufe der Zeit so schlüpfrig geworden waren, daß sie förmlich opalisierten und jedem Fremden, der unvorsichtigerweise darauf Platz nahm, zu einer kleinen Rutschpartie verhalfen. Was Mrs. Gamp an Stühlen zu wenig hatte, das besaß sie dafür an Hutschachteln zu viel. Diese waren sämtlich der Aufnahme verschiedener wertvoller Gegenstände geweiht, obwohl sie durchaus nicht so gut schlossen, wie die wackere Frau sich einzubilden schien, denn, wenn auch jede von ihnen einen Deckel besaß, so hatte doch keine einzige einen Boden, so daß sie wie Lichtauslöscher über den darunter zusammengeknüllten Sachen hockten. Die Aufsatzkommode, ursprünglich dazu bestimmt, auf einem andern größern Kasten zu ruhen, hatte jetzt dadurch, daß sie allein stand, ein koboldartiges, zwerghaftes Aussehen, besaß aber in puncto Sicherheit unendliche Vorzüge vor den Hutschachteln, denn da sämtliche Griffe an den Schubladen längst abgerissen waren, konnte man zu ihrem Inhalte nur unter den größten Schwierigkeiten, wenn überhaupt, gelangen. Jedesmal mußte das ganze Möbel entweder schief nach vorwärts geneigt werden, bis alle Schubladen von selbst herausfielen, oder man mußte sie einzeln mit Messern aufstechen wie die Austern.

Ihren Hausrat pflegte Mrs. Gamp in einem kleinen Wandschrank neben dem Kamin aufzubewahren. Zuunterst lagen natürlich die Kohlen, und je höher es hinaufging, desto wertvoller wurden die verstauten Schätze, bis sie schließlich auf dem obersten Brett mit den Spirituosen endeten, die aus Rücksicht auf das Zartgefühl in einem Teetopf aufbewahrt wurden. Über dem Kaminsims hing ein kleiner Kalender, der hie und da Anmerkungen von Mrs. Gamps höchsteigener Hand aufwies: zum Beispiel einen roten Strich bei dem Datum, an dem diese oder jene Dame voraussichtlich niederkommen mußte. Außerdem hingen noch drei Porträts herum – das eine koloriert, Mrs. Gamp selbst als jugendliche Frau darstellend, ein bronziertes, eine Dame im Federhut und Ballanzug, angeblich Mrs. Harris, und eine Silhouette, die den gottseligen Mr. Gamp bedeuten sollte – letztere in Lebensgröße, um durch drastischen Hinweis auf das Holzbein die Ähnlichkeit hervorzuheben.

Ein Blasebalg, ein Paar Überschuhe, eine Röstgabel, ein Kessel, eine Breipfanne, ein Löffel zum Medizineinnehmen oder vielmehr -eingeben für widerspenstige Kranke und endlich Mrs. Gamps berühmter Regenschirm, der mit besonderer Ostentation aufgestellt war, vollendeten die Dekoration des Kamines und der daran anstoßenden Ecke. Zu allen diesen Kostbarkeiten erhob jetzt Mrs. Gamp freudestrahlend ihr Auge, nachdem sie den Teetisch zugerichtet und alle Vorbereitungen zum Empfang Mrs. Betsey Prigs getroffen hatte. Den Glanzpunkt des Mahles sollte offenbar ein breit hingestelltes Stück eines zwei Pfund schweren, scharf eingesalzenen Newcastler Lachses bilden.

»Ja, jetzt, wo bleiben denn Sie so lang, liebe Betsey?« fragte Mrs. Gamp, ihre abwesende Freundin im Geiste anredend. »Dös fehlet mir grad noch, daß i warten müßt. I mag hingehn wo i will, immer sag i: o mei, i bin bald zfrieden gestellt, i brauch nur wenig, aber dös muß jetzt wieder vom Besten sein und auf die Minutn und auf ’n Glocknschlag kommen, sonst san mir gschiedne Leut.«

Allerdings waren die Zurüstungen vom Allerfeinsten. Sie umfaßten einen guten, neugebackenen Laib Brot, einen Teller mit frischer Butter, eine Schale mit feinem weißen Zucker und ähnliches. Selbst der Schnupftabak war von so hervorragender Qualität, daß Mrs. Gamp, als ihr Auge darauf fiel, sofort eine Prise nahm.

»Aha, es läutt schon«, sagte sie, eilte an die Treppe und schaute hinunter. »Ah, der liebe – na Servus, jetzt glaub i gar, der blöde Rasierer hat mi derbleckt.«

»Ja, ich bin’s«, rief Mr. Sweedlepipe mit schwacher Stimme hinauf, »ich bin’s. Ich bin gekommen.«

»Na ja, dös sieht mer«, brummte Mrs. Gamp ungeduldig und wälzte sich die Treppe hinab. »Was gibt’s denn schon wieder? Brennt leicht der Fluß und kocht sich die eigenen Fisch? Ja was hat denn jetzt der Mann? Der schaut ja so weiß aus wie die Wand.«

Das waren ihre ersten Worte, als sie unten angelangt war und ihren Hauswirt in seinem Rasierstuhl blaß und trostlos dasitzen sah.

»Sie erinnern sich«, stöhnte Mr. Sweedlepipe, »Sie wissen doch noch, der Junge –«

»Doch nicht der junge Wilkins?!« rief Mrs. Gamp. »Wenn jetzt dös dem jungen Wilkins sei Frau is –«

»Es ist niemandes Frau«, schluchzte der kleine Barbier, »Bailey ist’s, der junge Bailey.«

»Sie wollen doch net sagn, daß der was angestellt hat?« fragte Mrs. Gamp ärgerlich. »Dummes Zeug! I bitt Ihna, was soll denn der gmacht haben?«

»Er hat gar nichts getan«, jammerte der arme Poll ganz verzweifelt. »Warum lassen Sie mich denn nicht zu Worte kommen? Er wird sein Lebtag nichts mehr tun. Es ist um ihn geschehen. Er ist tot! – Als ich den jungen Menschen zum erstenmal sah«, fuhr Poll zerknirscht fort, »habe ich ihn mit einem Rotkehlchen angeschmiert; ich hab ihm vier Dreier abgenommen, und das war mindestens die Hälfte zu teuer. Und jetzt ist er tot. Und wenn man alle Dampfmaschinen und elektrischen Flüssigkeiten der Welt zusammen hier in den Laden brächte und sie gleichzeitig losließe, so könnte das alles doch nicht mehr gutmachen, daß ich ihn um einen Penny übers Ohr gehauen habe.«

Und Mr. Sweedlepipe wandte sich ab und wischte sich mit dem Rasierhandtuch die Augen trocken.

»Und so ein netter Junge ist er gewesen« schluchzte er weiter, »ein überraschend gescheiter junger Mensch. Wie hat der reden können, und was hat er alles gewußt! Hier in diesem Stuhl hab ich ihn rasieren müssen, bloß des Spaßes halber – na ja, Ernst konnte es ja doch nicht sein –, und wenn ich denke, daß er’s nicht erlebt hat, wirklich einmal rasiert zu werden! Lieber hätten mir alle Vögel krepieren sollen, einer nach dem andern«, jammerte der kleine Barbier, und sein Blick wanderte von einem Käfig zum andern, »lieber hätten alle krepieren sollen, ehe ich das hören mußte.«

»Ja, wo habn S‘ denn dös schon wieder erfahren?« fragte Mr. Gamp neugierig. »Wer hat Ihnen denn dös alles erzählt?«

»Ich bin in die City gegangen«, erklärte der kleine Raseur, »um auf der Börse einen Herrn zu treffen, der ein großer Jäger ist und einige flügellahme Tauben haben wollte, um sich an ihnen zu üben. Und wie ich mit dem Geschäfte fertig war, ging ich in ein Wirtshaus, um einen Schluck Bier zu mir zu nehmen, und da sprachen alle Leute davon. Sogar in den Zeitungen steht es schon.«

»Hat Sie aber die Gschicht mitgnommen, Mr. Sweedlepipe«, sagte Mrs. Gamp und schüttelte den Kopf. »Ich glaub, a halbes Dutzend frische, junge, lebendige Blutegel auf Ihren Kopf wäre das Beste, was Sie machen könnten. Also, von was haben denn die Leut gredt, und was steht in den Zeitungen?«

»Die ganze Geschichte«, rief der Barbier. »Was sollte denn sonst drin stehen. Er und sein Herr sind in den Graben geworfen worden, und dann hat man ihn sterbend nach Salisbury gebracht. Nicht ein Wort hat er mehr gesprochen. Nicht ein einziges Wort. Aber das ist noch nicht das Schlimmste von der ganzen Geschichte. Sein Herr ist auch nicht zu finden, und der andere Direktor von dem Bureau in der City – er heißt David Crimple – ist mit dem ganzen Geld durchgebrannt, überall sind Steckbriefe angeschlagen, die dem, der ihn erwischt, eine große Belohnung zusichern. Mr. Montague, der Herr von dem armen jungen Bailey – ach, was war das für ein fescher Bursche – wird ebenfalls steckbrieflich gesucht. Einige sagen, er habe sich gedrückt, um sich im Ausland seinem Freund wieder anzuschließen, aber andere meinen, er sei noch in England, und überall sucht man nach ihm. Das ganze Geschäft war ein aufgelegter Schwindel, heißt es. Aber was ist ein Lebensversicherungsgeschäft gegen ein wirkliches Leben wie das des jungen Bailey!«

»Ach was«, brummte Mrs. Gamp, »wenn einer in dem irdischen Jammertal geboren is, so muß er sich nach der Decken strecken. Ja und spricht man denn gar nichts von Mr. Chuzzlewit?«

»Nein. Wenigstens nichts Bemerkenswertes. Er gehörte nicht mit zur Gesellschaft, wenn man auch sagt, er habe vorgehabt, beizutreten. Einige glauben, er sei der Betrogene, wieder andere meinen, er habe mit ihnen unter einer Decke gesteckt. Aber wie dem auch sein mag, jedenfalls kann man ihm nichts beweisen. Heute morgen hat er sich aus freien Stücken zum Bürgermeister begeben und zu ein paar andern großen Stadtperücken und hat sich beklagt, man habe ihn übers Ohr gehauen; und zwar hauptsächlich die beiden Lumpen, die jetzt flüchtig geworden sind. Mr. Montague hieße gar nicht Montague, sondern weiß der Kuckuck wie. Und wie der leibhaftige Tod soll Mr. Jonas Chuzzlewit ausgesehen haben aus Entsetzen über seine großen Verluste. Aber, Gott verzeih mir die Sünd«, rief Poll und kam wieder auf den Gegenstand seines eigenen Kummers zurück, »was geht das mich an, wie er ausgesehen hat, meinswegen hätt er fünfzigmal draufgehen können, und es wär kein solches Unglück gewesen wie das, was jetzt den armen jungen Bailey betroffen hat.«

In diesem Augenblick ertönte die kleine Glocke, und die Baßstimme Mrs. Prigs mischte sich in das Gespräch.

»Aha, Sie redn a scho von der Gschicht«, bemerkte sie. »Na hoffentlich seids jetzt fertig damit. Mich interessiert alles dös gar net.«

»Na, aber liebe Betsey«, rief Mrs. Gamp, »wie spät Sie heut wieder kommen!«

Die würdige Dame erwiderte etwas spitzig, wenn die verrückten Leute immer gerade stürben, wenn man’s am wenigsten erwarte, so sei das nicht ihre Schuld. Es sei ärgerlich genug, wenn man sich zu einer Teegesellschaft verspäte, und man brauche nicht noch extra darauf aufmerksam gemacht zu werden.

Mrs. Gamp schloß aus dieser Erwiderung auf Mrs. Prigs Gemütszustand und führte sie sogleich hinauf, um sie durch den Anblick des marinierten Lachses zu besänftigen.

Offenbar hatte Mrs. Betsey Prig Lachs erwartet, denn nachdem sie sich an der Tafel umgesehen, waren ihre ersten Worte:

»Hab mir’s doch glei denkt, daß kane Gurken dabei sin.«

Mrs. Gamp verfärbte sich und ließ sich fassungslos auf den Bettrand nieder.

»Meiner Seel, Betsey, da haben S‘ jetzt wieder amal die Wahrheit gsprochen. Ganz und gar hab i sie vergessen.«

Mrs. Prig sah ihre Freundin fest an, versenkte ihre Hand in die Tasche und zog mit sauertöpfisch triumphierender Miene einen Gegenstand hervor, der entweder der älteste Lattich der Erde oder die jüngste Kohlstaude der Saison war – jedenfalls aber ein Grünzeug, und zwar von so gigantischer Größe, daß Mrs. Prig die Zweige wie Regenschirmspangen zusammendrücken mußte, ehe sie es aus der Tasche brachte. Dann zog sie noch eine Handvoll Senf und Kresse, ein Büschel Löwenzahnsalat, drei Bündel Radieschen und einige Zwiebeln, die jede einzeln etwas größer waren als eine Durchschnittsmohrrübe, und einen Kopf Sellerie hervor. Alles das war wenige Minuten vorher auf dem Markt öffentlich für zwei Pence feilgeboten und von Mrs. Prig unter der Bedingung käuflich erworben worden, daß die Hökerin alles in ihrer Tasche unterzubringen vermöge. Zum großen Staunen sämtlicher Droschenkutscher in High Holborn hatte denn auch die Gemüsehändlerin ihre Aufgabe glücklich gelöst. Mrs. Prig legte so wenig Gewicht auf alle diese unschätzbaren Dinge, daß sie nicht einmal lächelte, sondern die Tasche wieder in ihre frühere Lage brachte und ihrer Freundin empfahl, die Naturprodukte zerschnitten in möglichst viel Essig zu tauchen, damit man sie sogleich genießen könne.

»Aber lassn S‘ kan Schnupftabak net falln«, warnte sie. »In Hafer, Grütze, Gerstenschleim, Bouillon und so weiter macht’s ja weiter nix. Es is zwar a guats Reizmittel für die Patienten, aber i selber mag’s net.«

»Aber Betsey«, rief Mrs. Gamp, »wie können S‘ jetzt nur a so daher redn?«

»Na, tun sich leicht Ihnere Patienten net ’s Hirn ausn Kopf nießen von Ihneran Schnupftabak?« fragte Mrs. Prig.

»Na ja, und – und was wär da weiter dabei?« fragte Mrs. Gamp.

»Nix is weiter dabei«, sagte Mrs. Prig, »aber leugnen sollen S‘ net, Sarah.«

»Wer tut denn was leugnen, Betsey«, fragte Mrs. Gamp vorwurfsvoll.

Mrs. Prig schwieg.

»Wer leugnet was, Betsey?« fragte Mrs. Gamp abermals und bediente sich dann, um ihren Worten einen tieferen und feierlicheren Nachdruck zu geben, der Sprache der feinen Kreise: »Betsey, wer stellt es denn in Abrede?«

Es fehlte nur noch sehr wenig, und es wäre zu einer ernsthaften Differenz zwischen den beiden Damen gekommen, aber da Mrs. Prigs Sehnsucht nach den Speisen größer war als ihre Lust zu widersprechen, so antwortete sie des lieben Friedens wegen: »Niemand nicht, wann Sie’s net tun, Sarah«, und setzte sich zum Tee nieder; denn zum Zank war schließlich immer noch Zeit, um aber beim Lachs nicht zu kurz zu kommen, war es höchste Zeit.

Die Toilette der vortrefflichen Dame war außerordentlich einfach. Sie brauchte bloß Hut und Schal auf das Bett zu werfen, sich rechts und links einmal in die Haare zu fahren, als wolle sie ein paar Glockenstränge ziehen, und damit war sie fertig. Der Tee stand bereit, Mrs. Gamp brauchte zum Salatbereiten auch nicht allzu lange, und so konnten sich denn beide Damen sehr bald an ihrem Mahle erquicken.

Ihre Gemütsstimmung besserte sich infolge der Tafelfreuden in kurzer Zeit. Als sie mit dem Essen fertig waren und Mrs. Gamp den Tisch abgeräumt hatte und den Teetopf sowie ein paar Weingläser vom obersten Gesims bereits auf der Tafel standen, waren sie bereits ein Herz und eine Seele.

»Betsey«, begann Mrs. Gamp, schenkte sich ein und reichte ihrer Freundin den Teetopf hinüber, »auf Ihnere Gsundheit! Auf die Gsundheit meiner lieben Kollegin Betsey.«

»Was i nur, indem i den Namen in ›Sarah Gamp‹ umänder, mit Liebe und Zärtlichkeit erwider«, sagte Mrs. Prig.

Und von diesem Augenblicke an begannen sich allmählich Symptome inneren Feuers an den Nasen der beiden Damen und vielleicht auch, trotzdem der äußere Schein dagegen sprach, in ihren Herzen zu entwickeln.

»Alsdann, Sarah«, fing Mrs. Prig nach einer Weile an, »um aufs Geschäft zu kommen: um was für a Gschäft handelt sich’s denn, zu dem Sie mich brauchten?«

Da Mrs. Gamps Mienen Lust verrieten, der Frage auszuweichen, setzte Mrs. Betsey spöttisch hinzu:

»Vielleicht um die Mrs. Harris?«

»Na, liabe Betsey, ’s is net die Harris«, antwortete Mrs. Gamp.

»Dös is gscheit«, versetzte Mrs. Prig mit einem kurzen Lachen; »dös is gscheit, daß ’s wenigstens net die is.«

»Warum soll denn jetzt dös gscheit sein, Betsey?« fuhr Mrs. Gamp erregt auf. »Sie kennen sie ja gar net. Warum sagen S‘ nacher, daß dös gscheit is? Habn S‘ leicht etwas gegen der Harris ihren Charakter? I kann Ihna nur sagn, da dran is nix auszusetzen. S‘ is a liabe Frau«, setzte Mrs. Gamp kopfschüttelnd und mit Tränen in den Augen hinzu. »I kenn sie schon seit ihrem ersten Mal, wo ihr Mann, der Harris, der schrecklich ängstlich is, sich die Ohren zughalten hat und den Kopf in den leeren Kübel gesteckt hat und net hat rauswollen, bis man ihm des kleine Kind zeigt hat, und nacher hat er glei Krämpf kriegt, und der Doktor hat ihn beim Kragen nehman müssen und mit ‚m Buckel auf die Stoan legn, damit er wieder zu sich kemmt. Aber später, liabe Betsey, hat er das gfühlvolle Gschöpf mit die rauhen Worte verwundet: des neunte Kind und a schon des achte wär am gscheitesten wegblieben, und dös hat er rausbracht, grad während ihm die kleine Unschuld ins Gsicht glächelt hat. Schlag auf Schlag is ’s gangen, kann i Ihna sagn. Und nöt die geringsten unangenehmen Umständ sin dabei gwesen, kann i Ihna sagn. Und um so weniger kann i mir jetzt denken, warum Sie sagen: ›Dös is gscheit.‹ Die Harris wird niemals nicht nach Ihna schicken, da können S‘ Ihna drauf verlassen. ›Wann i’s amol nötig hab‹, das werden ihre Worte immer sein, ›schickt’s nur zerscht nach der Sarah.‹«

Mrs. Prig tat sehr gewandt, als sei sie die Beute jener gewissen Geistesabwesenheit, die aus übermäßiger Aufmerksamkeit entspringt, bediente sich aber rastlos des Teetopfes, ohne sich, wie es schien, dessen bewußt zu sein. Mrs. Gamp ließ sich jedoch nicht so leicht hinters Licht führen und schloß deshalb ihre Rede lang vor der Zeit.

»Na, also gut, wann sie’s net is«, sagte Mrs. Prig kühl, »wer is ’s denn nacher?«

»Sie haben gwiß«, erwiderte Mrs. Gamp mit einem vielsagenden Blick auf den Teetopf, »Sie haben gwiß von einer Person ghört, bei der i damals Wärterin war. Wissen S‘, drüben im ›Ochsen‹. Grad zu der Zeit, wor wir mitsamm beim Chuzzlewit abgwechselt haben.«

»Aha, der alte Schnupfy«, bemerkte Mrs. Prig.

Mrs. Gamp warf ihrer Kollegin einen flammenden Blick zu, denn sie erblickte in dieser Namensverdrehung von seiten der Prig einen boshaften Hieb auf ihre eigene Gewohnheit, zu schnupfen – eine Anzüglichkeit, die heute bereits zum zweitenmal peinlich auf sie wirkte. Dies wurde ihr noch klarer, als sie höflich, aber mit Festigkeit ihrer Kollegin durch ein klares Vorbuchstabieren des Wortes »Chuffey« ihren Irrtum klarmachte, denn diese nahm die Korrektur mit einem diabolischen Lächeln auf.

Mrs. Prigs Haupttugend bestand nun darin, daß sie ihre herben Charaktereigenschaften nicht lediglich an ihren Patienten erschöpfte, sondern auch einen großen Teil davon für ihre Freunde reservierte. Der stark marinierte Lachs und der scharf angemachte Salat mochten infolge der ihnen innewohnenden Essigsäure vielleicht diesen Fehler Mrs. Prigs für den Augenblick noch mehr in den Vordergrund gedrängt haben, und dieselbe Wirkung hatte wahrscheinlich auch der »Teetopf«, denn, wie schon die Freundinnen der trefflichen Dame des öftern die Bemerkung gemacht hatten, widersprach sie niemals lieber, als wenn sie sich innerlich durch Stimulantien angeregt fühlte – jedenfalls nahm ihr Gesicht jetzt einen höhnischen, geradezu herausfordernden Ausdruck an, und mit verschränkten Armen, und ein Auge geschlossen, setzte sie sich in fast kriegerischer Haltung zurecht.

Mrs. Gamp entging dies keineswegs, und für um so nötiger hielt sie es daher, ihre Kollegin in ihre Schranken zurückzuweisen und an ihre gesellschaftliche Stellung wie auch an ihre Verpflichtungen als geladener Gast zu erinnern. Sie nahm daher eine wenn möglich noch bedeutsamere Gönnermiene an und spann ihre Antwort noch ausführlicher aus, als sie es sonst getan hätte. »Mr. Chuffey«, erklärte sie, »ist ziemlich schwach im Kopf. Aber Sie müssen mich schon entschuldigen, wenn i sag, daß er vielleicht net gar so schwachsinnig is, wie die Leut glauben. I weiß, was i weiß, und was Sie net wissen, Betsey, das wissen Sie eben nicht, Betsey. So, fragen S‘ mich jetzt net weiter. Also, die Freunde von Mr. Chuffey haben mir den Vorschlag gmacht, i sollet mich seiner annehmen, und haben zu mir gsagt: ›Also, was is, Gamp, wollen Sie’s übernehmen oder net?‹ Jemand anders haben s‘ g’sagt, is ausgschlossen, aber Ihna können mir ihn schon anvertrauen, Sarah, denn Sie sin echt wie Gold. ›Also wollen Sie ihn übernehmen – natürlich ganz unter Ihre eigenen Bedingungen ganz allein, bei Tag und bei Nacht.‹ – Na, hab i gsagt, dös is ausgschlossen; schlagen S‘ Ihna dös aus ’n Kopf. Es gibt nur ein Gschöpf in der Welt, hab i gsagt, das i unter solchene Bedingungen übernehmen möcht, und dös Wesen heißt Harris. Aber, hab i gsagt, i bin mit einer Freundin bekannt, die Betsey Prig heißt, und die kann i Ihna rekommandieren, damit sie mit mir zsamm des Gschäft macht. Die Betsey, hab i gsagt, is, wann sie unter meiner Leitung steht, a ganz zuverlässige Person. Und i bin a ganz überzeugt, sie wird sich von mir was sagen lassen.«

Abermals stellte sich Mrs. Prig, ohne aber dabei ihre herausfordernde Miene zu ändern, als versinke sie in Geistesabwesenheit, und streckte ihre Hand begierig nach dem »Teetopf« aus. Das war mehr, als Mrs. Gamp ertragen konnte. Sie fiel ihr daher in den Arm und sagte tief gekränkt:

»Na, na, Betsey, wann Sie trinken wolln, trinken S‘ ehrlich. I derf net zu kurz kommen.«

Mrs. Prig warf sich in ihren Armstuhl zurück, schloß, ärgerlich, ihren Plan so unvermuteterweise vereitelt zu sehen, ihr eines Auge noch krampfhafter, verschränkte die Arme noch entschlossener und wiegte ihr Haupt langsam hin und her, dabei ihre Freundin mit verächtlichem Lächeln musternd.

Mrs. Gamp nahm ihre Rede wieder auf.

»Die Harris –«

»Bitt Sie, lassen S‘ mich scho aus mit der Harris«, rief Mrs. Betsey Prig gereizt.

Mrs. Gamp blickte erstaunt, ungläubig und unwillig auf, aber Mrs. Prig schloß ihr Auge womöglich noch fester, verschränkte die Arme noch krampfhafter und sprach die denkwürdigen Worte:

»Die Harris existiert überhaupt gar net. Mir reden S‘ so was net ein!«

Nachdem diese inhaltsschweren Worte dem Gehege ihrer Zähne entflohen waren, beugte sie sich vor und schnappte mit den Fingern einmal, zweimal, dreimal, und jedesmal näher an Mrs. Gamps Gesicht. Dann stand sie auf und nahm ihren Hut, als fühle sie tief innerlich, welch unüberbrückbar tiefe Kluft sich nunmehr zwischen ihnen gebildet habe.

Der geführte Schlag war so heftig und kam so plötzlich, daß Mrs. Gamp förmlich versteinert sitzen blieb, fassungslos in die leere Luft stierte und mit offenem Munde nach Luft schnappte, bis Mrs. Betsey Prig ihren Hut aufgesetzt und ihren Schal umgeworfen, das heißt sich ihn um den Hals gewickelt hatte. Dann erhob sie sich jedoch, physisch und moralisch, um loszubrechen.

»Was ham Sie da gesagt?!« schrillte sie, »Sie boshafte Kreatur, Sie! Hab i leicht die Harris fünfadreißg Jahr kennt, um mir auf d‘ letzt noch sagen zu lassen, es gebet gar keine solche Person nicht? Hab i ihr leicht net in alle Kindsnöten beistehen müssen, damits jetzt zu an solchen End kommt, während doch ihr eigenes Porträt die ganze Zeit über Ihna hängt als a lebendiger Gegenbeweis für dös dumme Zeug, was Sie daherreden? Aber meinswegen können S‘ ja glauben, was S‘ mögen. Die Harris möcht sich niemals nicht so weit erniedrigen, Ihna a nur mit an Aug anzuschaugn. Und wie oft hat s‘ net zu mir gesagt, wenn i Ihnern Namen gnennt hab, was i leider viel zu oft tan hab: Was, Sarah Gamp, hat s‘ gsagt, bis zu dera Person würdigen Sie Ihna herab? – So, und jetzt schaugn S‘, daß naus kommen!«

»No ja, i geh ja scho«, brummte Mrs. Prig, machte aber gerade im Gegenteil halt.

»Des möcht i Ihna a graten habn«, keuchte Mrs. Gamp.

»Mir scheint, Sie wissen net, mit wem Sie sprechen!« rief Mrs. Prig.

»Mit der Betsey, mit wem denn sonst?« knurrte Mrs. Gamp und musterte ihre Kollegin verächtlich von Kopf bis zu Fuß. »Schaugn S‘ daß weiter kommen, sag i!«

»Und Sie unterstengan sich, mi a no zu proteschüren!« rief Mrs. Prig und musterte ihrerseits Mrs. Gamp von Kopf bis zu Füßen. »Sie, wer san denn Sie eigentlich? – Dös’s a Unverschämtheit«, fügte sie mit einem raschen Übergang vom Hohn zur Wildheit hinzu. »Was denken denn Sie eigentlich?«

»Marsch!« schrie Mrs. Gamp, »gengan S‘ mir aus die Augen, daß i mi not für Ihna schäm.«

»Da schämen S‘ lieber Ihna selber«, sagte Mrs. Prig. »Gö mit Ihnern tepperten Schnupfy!«

»Wahrscheinlich möcht er ganz teppert werden, wann er mit Ihna was zschaffn hätt«, revanchierte sich Mrs. Gamp.

»Aha, dazu hat ma mi leicht habn wollen!« rief Mrs. Prig triumphierend, »da haben S‘ Ihna aber gschnitten, bei so was rühr i net die Hand. Sie werdn scho so ohne mi fertig wern. Na, mit dem will i nix zschaffen habn.«

»Oder umgekehrt!« brummte Mrs. Gamp, »aber jetzt schaugn S‘, daß S‘ naus kemman.«

Ihr so sehnlich ausgedrückter Wunsch, Zeuge von Mrs. Prigs Entfernung aus dem Zimmer zu sein, ging nicht in der Art in Erfüllung, wie sie es sich gewünscht hatte, denn die vortreffliche Dame stieß, blind, wie sie vor Wut war, in ihrer Hast gegen die Bettstelle an, und drei oder vier der ornamentalen hölzernen Äpfel rollten herab und trafen Mrs. Gamps Scheitel so empfindlich, daß Mrs. Prig bereits längst fort war, ehe sich Sarah von den Folgen dieser hölzernen Traufe erholt hatte.

Nur eine Freude blieb Mrs. Gamp, nämlich, daß sie Betseys Baßstimme draußen hörte, wie sie sich laut über die erlittene Beleidigung beklagte und ihren Entschluß kundtat, nichts mit Mr. Chuffey zu tun haben zu wollen – und zwar nicht nur unten im Hause, sondern sogar noch vor der Türe auf der Straße.

An der Stelle, wo noch vor einigen Minuten Mrs. Prig gestanden, erkannte Mrs. Gamp jetzt langsam und dämmerhaft Mr. Sweedlepipe und zwei Herren.

»Gott im Himmel!« rief der kleine Barbier, »was ist denn da vorgegangen? Was ihr beiden Frauenzimmer da wieder für einen Radau gemacht habt! Die beiden Herren haben fast die ganze Zeit über draußen auf der Treppe gestanden und wollten sich bemerkbar machen, aber ihr konntet sie natürlich nicht hören, wie ihr einander so in die Haare fuhrt! Der kleine Blutfink im Laden drunten ist bei dem Lärm so erschrocken, daß er vielleicht den Tod davon haben kann. In seinem Schrecken hat er sich dermaßen angestrengt, daß er sich mehr Wasser mit seinem Mechanismus im Vogelbauer herausgepumpt hat, als er in zwölf Monaten austrinken kann! Er muß wahrscheinlich geglaubt haben, das Haus brennt.«

Mrs. Gamp war mittlerweile in ihren Lehnstuhl gesunken und entledigte sich mit überströmenden, zum Himmel gerichteten Augen und gefalteten Händen folgender Lamentation:

»Ach, Mr. Sweedlepipe und Sie, Mr. Westlock, wenn mich meine Augen nicht trügen – und noch ein Herr, wo ich nicht zu kennen das Vergnügen hab – wirklich, was i heut abend wieder mit der Betsey Prig ausgstanden hab, dös kann sich kein Mensch nicht vorstellen. Glei am Anfang, wie s‘ reinkommen is zu mir, hab i mir denkt: jessas, riecht die aber nach Schnaps! Aber i hab gmeint, mich täuschen meine Sinne, weil i selbst niemals nicht Branntwein zu riechen bekomm (in Wirklichkeit war Mrs. Gamp selbst bereits ziemlich benebelt und der ›Teetopf‹ war fast bis auf die Neige geleert), übrigens, wann sie bloß betrunken gwesen wär, hätt i mir noch net soviel draus gmacht aus ihre Schimpfereien, aber wenn eins über die Harris schimpft, so vertrag i dös net. – Na«, setzte sie mit einem Wutausbruch hinzu – »na, i net.«

Der kleine Barbier kratzte sich am Kopf, zog die Augenbrauen in die Höhe, warf einen Blick auf den »Teetopf« und war sichtlich bestrebt, sich aus dem Zimmer zu drücken. John Westlock jedoch holte sich kaltblütig einen Stuhl und ließ sich neben Mrs. Gamp nieder, während Martin zu Füßen des Bettes Platz nahm und sehr gespannt schien.

»Ich kann mir ganz gut denken, daß Sie sich über unser Erscheinen hier wundern«, begann John, »aber ich werde Ihnen sofort näheres Diesbezügliches mitteilen, sobald Sie sich ein wenig gefaßt haben. Auf einige Minuten mehr oder weniger kommt es nicht an. – Wie befinden Sie sich jetzt – besser?«

Mrs. Gamp vergoß nur noch mehr Tränen, schüttelte das Haupt und stöhnte gramerfüllt den Namen »Harris«.

»Wollen Sie nicht ein wenig« – John war in Verlegenheit, wie er es nennen sollte – »– –«

»Tee!« ergänzte Martin.

»Es is kein Tee nicht«, schluckte Mrs. Gamp.

»Also offenbar eine Arznei – eine Herzstärkung«, versetzte John. »Nehmen Sie doch ein wenig!«

Mrs. Gamp ließ sich zu einem Glase voll überreden.

»Aber unter der Bedingung«, fügte sie leidenschaftlich hinzu, »daß die Betsey keine Stunde Arbeit mehr von Ihnen bekommt.«

»O gewiß nicht!« versprach John. »Ich möchte ganz energisch dagegen protestieren, daß sie Krankenwärterin bei mir wäre.«

»Schon der Gedanke«, rief Mrs. Gamp, »daß sie mir jemals hat helfen müssen, Ihren Freund zu pflegen, und daß nur wenig gfehlt hätt, und sie hätt alles ghört – hm.«

John warf Martin einen Blick zu.

»Ja ja«, warf er hin, »das wäre beinahe geschehen, Mrs. Gamp.«

»Jawohl, bälder, als ma denkt hätt«, sagte Mrs. Gamp. »Zum Glück war i damals in der Nacht bei ihm, und am Tag hat er nöt phantasiert. Wenn i mir denk, was sie alles gsagt und getan haben würde, wenn sie gwußt hätt, was i weiß – dös perpfide Frauenzimmer, und von der – Himmel Herrgott Sakrament«, rief Mrs. Gamp und trampelte in der Erinnerung an Mrs. Prig mit den Füßen auf den Boden, »von der hab i mir über die Harris Niederträchtigkeiten anhörn müssen.«

»Machen Sie sich nichts daraus«, tröstete sie John, »es genügt doch, daß Sie wissen, daß es nicht wahr ist.«

»Ja, da habn Sie recht«, rief Mrs. Gamp, »aber nicht mehr über die Schwelln darf mir des Mistviech – diese kriecherische Schlange!«

»Wo Sie doch immer so gut gegen sie gewesen sind!« schürte John.

»Dös is doch eben die Gemeinheit«, schrie Mrs. Gamp. »Dös is ja grad, was mir so zu Herzen geht, Mr. Westlock«, und mechanisch hielt sie ihr Glas hin, das Martin sofort anfüllte.

»Sehen Sie, und nicht nur zu Mr. Lewsome haben Sie sie mitgenommen«, sagte John, »sondern auch zu Mr. Chuffey.«

»Einmal und nie mehr wieder«, rief Mrs. Gamp, »wir sin gschiedne Leut!«

»Ganz recht, ganz recht«, sagte John, »ich an Ihrer Stelle würde auch nicht anders handeln.«

»I weiß überhaupt gar net, wie i dazu kommen bin«, versicherte Mrs. Gamp mit jener Feierlichkeit, die Betrunkenen manchmal eigen ist, »jetzt wo sie keine Larven net mehr vorm Gsicht hat, weiß i gar net, wie i je dazu kommen bin. Segn S‘, unsereins muß verschwiegen sein, dös is das erste, damit man sich allerseits das Vertrauen verdient, das einem gschenkt wird. I möcht gern wissen, wer sich der Betsey Prig anvertrauen wird, wenn mer erfährt, was sie hier in dem Sessel da über die Harris gsagt hat.«

»Sehr richtig«, entgegnete John, »vollkommen richtig, aber Sie werden schon beizeiten noch eine andre Assistentin finden, Mrs. Gamp.«

Teils aus Entrüstung, teils infolge der Wirkung des »Tees« verlor Mrs. Gamp nachgerade die Fähigkeit, zu verstehen, was man zu ihr gesagt hatte. Sie blickte John mit Tränen in den Augen an und murmelte immer wieder den wohlbekannten Namen vor sich hin, dem Mrs. Prig solche Schmach angetan. Sie schien ihn für einen Talisman gegen alle irdischen Leiden zu halten, aber einem Laien mußte es scheinen, sie deliriere.

»Ich hoffe«, wiederholte John, »daß Sie noch beizeiten eine andre Assistentin finden werden.«

»Die Zeit – is – leider – kurz«, gluckste Mrs. Gamp und schlug die schwimmenden Augen zur Decke auf, dabei Mr. Westlock mit mütterlicher Zärtlichkeit am Handgelenk ergreifend, »für morgen abend schon hat mich Mr. Chuzzlewit auf neun oder zehn Uhr bestellt.«

»Auf neun oder zehn Uhr«, wiederholte John und warf Martin einen bedeutsamen Blick zu, »und dann wird Mr. Chuffey wohl in sichern Gewahrsam gebracht, nicht wahr?«

»Ja, dös braucht’s dringend«, antwortete Mrs. Gamp mit geheimnisvoller Miene, »auch noch andre Leut als wie ich dürfen froh sein, wann s‘ nix mit der Betsey Prig zu schaffen ham. I hab dös Weibsbild früher zu wenig gekannt; die hätt den Mund net halten können.«

»Den Mund nicht halten können, meinen Sie?« sagte John.

»Na und ob«, brummte Mrs. Gamp, »no Servus.«

Die tiefe Ironie, die sie in diese Antwort legte, bekräftigte sie noch durch ein heftiges Kopfnicken und ein höhnisches Herabziehen der Mundwinkel. Dann entschlummerte sie für ein paar Sekunden, fuhr aber wieder empor und rief mit außerordentlicher Höflichkeit:

»Aber i halt die Herrn auf, und die Zeit is kostbar.«

Offenbar schien sie zu glauben, man habe sie aufgefordert, sogleich irgendwohin zu kommen, und zu dieser Wahnvorstellung gesellte sich noch eine instinktive Erkenntnis, nicht mehr von den Angelegenheiten sprechen zu dürfen, über die sie sich unvorsichtigerweise soeben geäußert. Sie erhob sich daher, stellte die »Teekanne« wieder auf ihren Platz, schloß das Wandschränkchen mit großer Feierlichkeit ab und fing an, sich anzukleiden, als gedenke sie zu einem Patienten zu gehen.

Ihre Vorbereitungen waren bald getroffen, denn sie bestanden aus nicht viel mehr als aus dem Ausstaffieren ihrer Persönlichkeit mit dem schnupftabakfarbigen Hute, dem dito Schal, ihrem unentbehrlichen Regenschirm und einem Paar Überschuhe. Nachdem sie sich mit diesen Ausrüstungen versehen, kehrte sie zu ihrem Stuhl zurück, nahm Platz und erklärte, sie sei bereit.

»’s is wahrhaftig a Glück, wann mer weiß, daß mer dem armen Gschöpf a Wohltat erweisen kann«, bemerkte sie, plötzlich wieder ganz berufsmäßige Wärterin, »net alle sin des imstande. Zum Beispiel, das Mistviech, die Betsey, geht schauderhaft mit die Leut um.«

Vor lauter Mitleid mit Betseys Patienten schloß sie ergriffen die Augen und tat sie nicht wieder auf, bis ihr plötzlich ein Überschuh vom Fuß fiel. Wie der sagenhafte Schlummer des Mönches Bacon wurde ihr Schlaf ebenfalls von Zeit zu Zeit unterbrochen, denn zuerst fiel ihr der andre Überschuh und dann auch der Regenschirm zu Boden. Erst als sie diese beiden Hemmnisse los war, störte nichts mehr ihre Ruhe. Die beiden jungen Männer sahen einander an, und Martin, der seine Lachlust kaum mehr zurückdrängen konnte, flüsterte John Westlock ins Ohr: »Was fangen wir also jetzt an?«

»Wir bleiben hier«, lautete die Antwort.

»Hm – – ja, die Harris«, murmelte Mrs. Gamp aus dem Schlafe.

»Verlassen Sie sich darauf«, flüsterte John mit einem vorsichtigen Blick auf die Schlummernde, »verlassen Sie sich darauf, es gelingt uns, den alten Buchhalter auszuhorchen. Jedenfalls wissen wir jetzt genug, um die Person hier für unsere Zwecke benutzen zu können. – Dank sei diesem Streite, der das alte Sprichwort bestätigt, daß, wenn sich die Diebe zanken, die ehrlichen Leute wieder zu ihrem Geld kommen. Jonas Chuzzlewit mag sich in acht nehmen. Lassen wir sie schlafen, solang sie will, wir werden unser Ziel schon beizeiten erreichen.«

5. Kapitel


5. Kapitel

Enthält einen ausführlichen Bericht über die Einführung des neuen Zöglings in den Schoß der Familie Pecksniff

Der beste der Architekten und Landbeschauer besaß ein Pferd, an dem die bereits erwähnten Feinde eine seltsame Ähnlichkeit mit seinem Gebieter entdecken wollten – nicht gerade in Anbetracht der äußeren Gestalt, denn es war ein klapperdürres, verhungertes Pferd, das weit schmaler im Futter stand als Mr. Pecksniff, sondern hinsichtlich seines moralischen Charakters, der – sagten sie – sehr viel versprach, aber nichts hielt. Es tat nämlich immer, als ob es trabe, kam aber nie recht vorwärts. Selbst beim langsamsten Reiseschritt pflegte es seine Beine so hoch zu heben und eine so gewaltige Rührigkeit zu entfalten, daß man hätte glauben müssen, es lege mindestens vierzehn Meilen in der Stunde zurück. Dabei war es stets so vollkommen selbstzufrieden mit seiner Geschwindigkeit und ließ sich, wenn es Gelegenheit hatte, sich mit den schnellsten Trabern zu messen, so wenig aus der Fassung bringen, daß man der Täuschung nur um so schwerer widerstehen konnte. Es war eine Art Tier, das die Brust jedes Laien mit dem lebhaftesten Gefühl der Hoffnung erfüllte, aber alle die, die es näher kannten, geradezu in Verzweiflung brachte. In welcher Hinsicht diese Charakterzüge mit denen seines Gebieters verglichen werden konnten, vermögen nur die Lästerer dieses trefflichen Mannes anzugeben. Doch bleibt es eine traurige Wahrheit und ein beklagenswerter Beleg für die Lieblosigkeit der Welt, daß diese Vergleiche tatsächlich angestellt wurden.

Auf dieses Pferd und das dazugehörige überdachte Fuhrwerk – es war eigentlich mehr ein Gig mit einer sonderbaren Geschwulst als etwas anderes – konzentrierten sich an einem schönen Morgen Mr. Pinchs Gedanken und Wünsche. Sollte er doch mit dieser stattlichen Equipage allein nach Salisbury fahren, um dort den neuen Zögling zu treffen und ihn im Triumphzuge nach Hause zu bringen.

Welch bessere Zeit könnte es wohl für Fahren, Reiten, Gehen und alle möglichen Bewegungen in freier Luft geben als einen frischen frostigen Morgen, wo die Hoffnung freudig mit dem raschen Blut durch die Adern pulsiert und den Körper von Kopf bis zu Fuß durchprickelt! Solch frohen Anfang nahm ein nervenstählender Frühwintertag, ein Tag, der die erschlaffende Sommerszeit und den Frühling beschämt, der oft nur halb so kalt ist. Die Glöckchen der Schafe klangen so klar durch die belebende Luft, als fühlten sie ihren Einfluß wie beseelte Wesen; die Bäume schüttelten statt Blättern funkelnden Reif hernieder wie Diamantenstaub. Von den Schornsteinen stieg der Rauch hoch, hoch in die Luft, als sei die jauchzende Erde aus ihrer Leblosigkeit erwacht und wolle sich nicht länger mehr durch schwere Dünste erdrücken lassen. Die Eiskruste auf dem sonst plätschernden Bach war so durchsichtig und dünn, daß es aussah, als hätte das Wasser freiwillig haltgemacht, um sich des lieblichen Morgens zu freuen. Und damit die Sonne nicht zu früh diesen Zauber breche, schwebte zwischen ihr und der Erde ein Nebel hin und her, ähnlich dem, der in Sommernächten auf den Mond lauert.

Tom Pinch fuhr weiter – nicht schnell zwar, aber doch mit dem Gefühle rascher Fahrt; und alles, was ihm begegnete, trug dazu bei, ihn in seinem Glücksgefühl zu bestärken. Als er zum Beispiel des Schlagbaums ansichtig wurde, bemerkte er, wie die Frau des Mauteinnehmers, die gerade mit einem Frachtwagen unterhandelte, wie toll in das kleine Häuschen zurückeilte, bloß um ihrem Manne zu melden, »daß Mr. Pinch käme«. Und dann, als er sich der Zollschranke näherte, eilten die Kinder des Wächters heraus und schrien zu seinem Entzücken in winzigem Chor: »Mr. Pinch! Mr. Pinch!« Der Mauteinnehmer, sonst ein recht widerhaariger Patron, mit dem die Leute nicht gerne verkehrten, kam sogar in höchsteigener Person heraus, um den Schlagbaumzoll in Empfang zu nehmen und ihm einen rauhen »guten Morgen« zu wünschen. Von alledem und einem Blick auf das Familienfrühstück auf einem kleinen runden Tische vor dem Feuer schmeckte Tom Pinch seine Brotrinde, die er mitgenommen, so würzig, als wäre sie frisch von einem Laib wirklichen Feenbrotes abgeschnitten.

Und das war noch lange nicht alles. Nicht bloß verheiratete Leute und Kinder boten Tom Pinch, wenn er vorüberfuhr, ein freundliches Willkommen. Nein, nein, funkelnde Augen und schneeige Hälse kamen an so manches Mansardenfenster geeilt, als er vorbeirasselte, und die Mädchen gaben seine Grüße zurück – nicht kärglich, sondern siebenfältig, wohlgemessen. Und so vergnügt waren alle! Und einige der Gottlosesten warfen Tom sogar Kußhändchen zu, wenn er zurückblickte. Denn wer genierte sich vor dem armen Tom Pinch!? Er war doch so harmlos.

Und dann wurde der Morgen so schön, und alles lachte so lustig und hellauf, daß die Sonne zu sagen schien: »Ich kann’s nicht länger aushalten, ich muß ein bißchen herunterschauen.« – Der Nebel, viel zu zart und scheu für so lustige Gesellschaft, floh erschrocken vor ihr dahin, und wie er entschwebte, tauchten Hügel, Täler und ferne Auen voll friedlicher Lämmer und lärmender Krähen auf, so glänzend wie ein funkelnagelneues Bild. Und in der Freude über diesen Anblick blieb auch der Bach nicht länger stehen, sondern eilte lebendig weiter, um die Kunde der drei Meilen weiter unten liegenden Mühle zu bringen.

Mr. Pinch holperte vergnüglich weiter, voll froher Gedanken und heiterer Eindrücke, als er plötzlich bei einer Biegung einen Wanderer, der mit lauter, aber nicht unmusikalischer Stimme vor sich hin sang, mitten auf der Straße fürbaß schreiten sah. Es war ein junger Mensch von fünf- oder sechsundzwanzig Jahren, der sich so frei und flott bewegte, daß die langen Enden seines losen roten Halstuchs ebenso oft nach hinten wie nach vorn flatterten. Den großen Strauß von roten Winterbeeren, die er im Knopfloch seines Samtrockes stecken hatte, konnte man so deutlich von hinten unterscheiden, als ob der Fremde den Rock verkehrt angehabt hätte.

Der junge Mann sang so laut und mit so viel Nachdruck, daß er das Rasseln der Räder nicht eher vernahm, als bis das Fuhrwerk dicht hinter ihm war. Dann erst drehte er sich um, zeigte Tom ein fröhliches Gesicht und ein Paar lachende blaue Augen und machte halt.

»Sieh da, Mark!« rief Tom Pinch und zügelte seinen Gaul. »Wer hätte das gedacht, daß wir hier zusammentreffen! Nun, das nenne ich mir eine Überraschung!«

Mark griff an seinen Hut und sagte, während ein Schatten über sein eben noch so lebhaftes Gesicht flog, er wolle nach Salisbury.

»Und wie Sie sich herausgeputzt haben!« lobte Mr. Pinch und betrachtete den jungen Mann mit großem Wohlgefallen. »Wirklich, ich hätte mir nicht vorgestellt, daß Sie ein so fescher Bursche sind, Mark!«

»Danke schönstens, Mr. Pinch; macht sich, macht sich. Meine Schuld ist’s nicht, müssen Sie wissen. Und mit dem Herausgeputztsein, sehen Sie, da hat’s so einen Haken.« Und dabei machte der junge Mann ein recht melancholisches Gesicht.

»Wieso einen Haken?« fragte Mr. Pinch.

»Je nun, es kann eben jeder leicht heiter und guter Dinge sein, wenn er gut gekleidet ist. Man braucht das niemandem besonders hoch anzurechnen. Ja, wenn ich recht zerlumpt und doch dabei lustig wäre, so würde ich anfangen zu glauben, daß ich mir etwas darauf zugute tun dürfte, Mr. Pinch.«

»Sie haben also nur gesungen, sozusagen, trotz der guten Kleidung; was, Mark?« fragte Mr. Pinch.

»Sie sprechen doch immer wie ein Buch, Sir«, entgegnete Mark mit breitem Grinsen. »Meiner Seel.«

»Nun«, meinte Pinch, »Sie sind wirklich der sonderbarste junge Mensch, Mark, den ich je in meinem Leben kennengelernt habe. Sie sind mir zwar immer so vorgekommen, aber jetzt wird mir’s zur völligen Gewißheit. Ich will übrigens gleichfalls nach Salisbury. Kommen Sie, steigen Sie auf! Es wird mich freuen, wenn Sie mir ein bißchen Gesellschaft leisten.«

Der junge Mann nahm das Anerbieten mit Dank an, stieg auf, setzte sich aber bloß mit halbem Leibe und nur auf den Rand des Sitzes, um dadurch auszudrücken, daß er Mr. Pinchs liebenswürdige Aufforderung zu würdigen wisse.

»Als ich Sie vorhin gar so herausgeputzt sah«, begann Mr. Pinch wieder, »glaubte ich wahrhaftig, Sie gingen auf Freiersfüßen, Mark.«

»Nun, Sir, ich habe auch schon an dergleichen gedacht«, gab Mark zu. »Das wäre schon eher eine Kunst, wenn man mit einem recht zanksüchtigen Weibe zu Haus noch vergnügt sein könnte, namentlich wenn die Kinder die Masern oder etwas dergleichen haben. Aber ich fürchte mich fast, es zu versuchen. Ich bin mir noch nicht recht klar diesbezüglich.« »Sie sind wohl nicht besonders verliebter Natur?« fragte Pinch.

»Nicht besonders, Sir, glaube ich.«

»Bei Ihren Ansichten, Mark, müßten Sie aber gerade eine heiraten, die Sie nicht liebten und die recht häßlich wäre.«

»Allerdings, Sir; aber das hieße doch vielleicht einen Grundsatz ein wenig gar zu weit treiben. – Glauben Sie nicht?«

»Möglich«, meinte Pinch, und dann lachten beide herzlich.

»Meiner Seel, Sir«, sagte Mark, »ich glaube, Sie kennen mich noch nicht annähernd. Ich denke nicht, daß es je einen Menschen gegeben hat, der sich unter Verhältnissen, die andre Leute elend machen können, so tapfer gehalten hätte, wie ich es imstande wäre. Wenn ich nur Aussicht hätte, je in eine solche Lage zu geraten! Meiner Ansicht nach wird niemand auch nur halbwegs erfahren, was in mir steckt, wenn nicht etwas ganz Unerwartetes passiert. Aber dazu winkt mir keine Chance. – Ich habe übrigens dem »Drachen« den Rücken gekehrt auf Nimmerwiedersehen, Sir.«

»Dem »Drachen« den Rücken gekehrt?« rief Mr. Pinch, höchst erstaunt. »Aber Mark, das benimmt mir ja förmlich den Atem!«

»Jawohl, Sir«, bestätigte Mark und schaute gedankenschwer ins Weite. »Warum sollte ich im »Drachen« bleiben? Für mich ist das nicht der richtige Platz. Als ich London verließ – ich bin ein gebürtiger Kenter – und den Dienst annahm, war ich der festen Meinung, es wäre so ein recht abgelegener und einsamer Winkel von Alt-England und man brauchte eine rechte Kunst, unter solchen Umständen vergnügt zu sein. Aber, du mein Himmel, im »Drachen« gibt’s keine Langeweile! Kegel und Cricketspiel, lustige Lieder und jeden Winterabend Gesellschaft um den Kamin herum. – Im »Drachen« ist jeder fidel. Das ist wirklich nicht schwer.«

»Aber wenn es wahr ist, was die Leute sagen, Mark und ich muß es wohl glauben, da ich es aus eigner Erfahrung bestätigen kann«, meinte Mr. Pinch, »so sind hauptsächlich Sie der Urheber aller dieser Lustigkeit!«

»Vielleicht ist es wirklich so, Sir«, antwortete Mark, »aber das ist noch immer kein Trost für mich.« »Gut!« sagte Mr. Pinch und dämpfte seine ohnehin schon leise Stimme noch mehr. »Es geht mir nicht recht ein, was Sie da sagen. – Aber was soll aus Mrs. Lupin werden, Mark?«

Mark blickte noch starrer vor sich hin und antwortete, er glaube nicht, daß sie sich viel daraus mache. Es gäbe genug flotte junge Burschen, die froh wären, im »Drachen« zu dienen. Er kenne selbst ein ganzes Dutzend.

»Wohl möglich«, gab Mr. Pinch zu, »aber ich bin durchaus nicht überzeugt, ob auch Mrs. Lupin an ihnen eine Freude haben wird. Ich habe immer geglaubt, Mrs. Lupin und Sie würden noch ein Paar werden; und soviel ich weiß, war jedermann dieser Ansicht.«

»Ich habe nie auch nur ein Wort mit ihr gesprochen«, entgegnete Mark ein wenig verwirrt, »das wie Courschneiderei ausgesehen hätte und auch sie nicht mit mir; ich weiß auch gar nicht, wie ich so etwas hätte anbringen sollen und was sie mir darauf gesagt hätte. Es würde mir übrigens auch keinesfalls gepaßt haben, Sir.«

»Wie? Sie würden nicht gern Drachenwirt werden, Mark?« rief Mr. Pinch.

»Nein, Sir, gewiß nicht. Das wäre für einen Menschen meinesgleichen ein direkter Ruin. Ich sollte hergehen und mir es fürs ganze Leben bequem machen?! Da erführe ja niemand, was in mir steckt. Was wäre es für den Drachenwirt für eine Kunst, vergnügt zu sein? Er müßte doch, selbst wenn er gar nicht wollte!«

»Weiß Mrs. Lupin, daß Sie für immer scheiden wollen?« fragte Mr. Pinch.

»Ich hab ihr’s noch nicht mitgeteilt, Sir, aber ich muß wohl bald. Heute morgen will ich mich dort« – Mark deutete auf die Stadt – »nach etwas Neuem und Passendem umsehen.«

»Und welcher Art soll die Stelle sein?«

»Ich dachte mir«, versetzte Mark, »irgendeine, die mit Totengräberei zu tun hat.«

»Um Gottes willen, Mark!« rief Mr. Pinch.

»Hm, es ist ein recht dumpfiger, wurmiger Beruf, Sir«, meinte Mark und schüttelte argumentierend den Kopf, »immerhin wäre es ein gewisses Verdienst, dabei vergnügt zu sein – wenn es die Totengräber nicht sowieso schon sind, was allerdings die Sache ändern würde. Wissen Sie vielleicht etwas Näheres darüber, Sir?«

»Nein, wahrhaftig ganz und gar nichts«, antwortete Mr. Pinch. »Der Gedanke ist mir überhaupt noch gar nicht in den Kopf gekommen.«

»Nun, im Fall es nicht nach Wunsch ausfallen sollte«, sagte Mark gedankenvoll, »gibt es ja schließlich, wie Sie wissen, noch andere Berufe. Das Leichenbestattergeschäft zum Beispiel ist düster genug. Da wäre noch Ehre einzulegen. Eine Gehilfenstelle bei einem Pfandleiher in einer armen Gegend wäre vielleicht auch nicht schlecht. Ein Gefangenenwärter sieht gleichfalls manches Elend, und als Bedienter bei einem Doktor wäre man mitten drin im Morden. Ein Gerichtsdiener ist auch kein schlechter Posten. Oder ein Steuereintreiber. Kurz, es gibt gewiß eine Menge von Beschäftigungen, wo ich die beste Gelegenheit hätte, meine gute Laune zu üben.«

Mr. Pinch war über diese seltsamen Ansichten so verblüfft, daß er gar nicht wußte, was sagen, und ließ nur hin und wieder ein paar Worte über irgendein gleichgültiges Thema fallen und warf forschende Seitenblicke auf das rotbackige Gesicht seines wunderlichen Freundes, bis sie an eine Wegkreuzung vor der Vorstadt kamen, wo Mark auszusteigen wünschte.

»Aber Gott bewahre, Mark«, rief Pinch, der erst jetzt bemerkte, daß sein Gefährte, wie mitten im Sommer, nichts als seinen Rock über dem bloßen Hemde trug, »warum tragen Sie denn keine Weste?«

»Wozu sollte sie denn gut sein, Sir?«

»Wozu gut? Je nun, um die Brust warm zu halten.«

»Ach, lieber Himmel, Sir!« rief Mark. »Sie kennen mich, scheint’s, sehr wenig. Meine Brust braucht keine Wärme. Und selbst wenn – was könnte die Folge sein, daß ich keine Weste trage? Eine Lungenentzündung vielleicht? Nun, es wäre wenigstens Ehre dabei einzulegen, wenn man trotz einer Lungenentzündung guter Laune ist.«

Da Mr. Pinch weiter keine Antwort darauf gab, sondern bloß sehr tief Atem holte, die Augen weit aufriß und gewaltig mit dem Kopf nickte, so bedankte sich Mark bei ihm für die Fahrt und sprang leichtfüßig vom Wagen, ohne daß Pinch anzuhalten brauchte. Dann eilte er mit seinem roten Halstuch und dem offnen Rock einen Seitenpfad hinunter und wandte sich noch von Zeit zu Zeit um, um Mr. Pinch gutmütig und sorglos zuzunicken.

Mr. Pinch hatte die kuriose Ansicht, Salisbury müsse eine ganz verzweifelt lockere und zügellose Stadt sein. Nachdem er daher sein Pferd eingestellt und dem Stallknecht zu verstehen gegeben hatte, er werde in ein paar Stunden wieder zurückkommen, um nachzusehen, ob auch der Gaul seinen Hafer bekommen habe, streifte er mit der dunkeln und nicht unangenehmen Vorstellung, daß überall Geheimnisse und Teufeleien aller Art gärten, in den Straßen umher. Für einen Mann von seiner ruhigen Lebensweise wurde diese kleine Selbsttäuschung noch durch den Umstand unterstützt, daß gerade Markttag war und der Platz mit seinen Nebenstraßen von Karren, Pferden, Eseln, Körben, Wagen, Gemüsehaufen, Fleischbänken, Kaldaunen- und Geflügelständen und allen nur erdenklichen Höcklerwarenbuden nur so wimmelte. Junge und alte Pächter und Landwirte in Zwilchkitteln, braunen und grauen Überröcken, mit rotwollnen Halstüchern, Ledergamaschen, wunderlich geformten Hüten, Hetzpeitschen und derben Knütteln standen in Gruppen umher oder schwatzten laut auf den Türstufen der Wirtshäuser miteinander. Andere tauschten ungeheure Summen in schmierigen Banknoten aus und hantierten dabei mit so furchtbar großen Brieftaschen, daß sie förmlich rot und blau wurden, bis sie sie glücklich aus den Taschen herausgezerrt hatten, und fast Krämpfe bekamen, ehe es ihnen gelang, sie wieder zu verstauen. Auch Pächtersfrauen in Biberhüten und roten Mänteln waren zugegen und ritten auf zottigen, von allen irdischen Leidenschaften geläuterten Pferden, die gehorsam überall hintrabten, ohne zu fragen, warum und wozu, und wahrscheinlich auf Wunsch ihrer Gebieterinnen sogar in Porzellanläden, umringt von zerbrechlichem Geschirr, stockstill gestanden hätten, ohne einen Huf zu rühren. Und dann die riesige Menge von Hunden, die sich lebhaft für die Marktpreise und die Geschäfte ihrer Herren zu interessieren schienen, und überhaupt das ganze geräuschvolle Treiben von Menschen und Tieren!

Entzückt betrachtete Mr. Pinch alle die herrlichen zum Verkauf ausgestellten Dinge, und besonders die Messerschmiedbuden fesselten seinen Blick. Er erstand sogar ein Taschenmesser mit sieben Klingen. Nur schnitt leider keine einzige, wie er zu spät bemerkte. Nachdem er sich alles und jedes auf dem Marktplatz genau betrachtet und zugesehen hatte, wie sich die Pächter zum Mittagessen begaben, ging auch er zurück in sein Wirtshaus, um nach seinem Pferde zu sehen, das, wie er zu seiner Freude bemerkte, nach Herzenslust fraß. Eine Weile starrte er noch das Bankgebäude an und zerbrach sich den Kopf, wo wohl die unterirdischen Gänge liegen möchten, in denen das viele Geld aufbewahrt würde, und dann machte er sich wieder auf, um die Stadt zu durchwandern und sich am Anblicke der Schaufenster zu laben.

Vor allem fesselten ihn hier die Läden der Juweliere, in denen alle Schätze der Erde ausgestellt waren. Darunter silberne Uhren von solchem Umfang, daß ihre Größe allein schon einen tadellosen Gang verbürgte.

Aber was waren sogar Gold und Silber, Pretiosen und Uhrwerke gegen die Buchläden, aus denen der liebliche Duft frisch aus der Presse gekommenen Papiers wehte und in ihm sofort Erinnerungen weckte an die neue Schulgrammatik, die vor langer Zeit sein Eigentum geworden und auf deren Vorsatzblatt er mit zierlicher, fehlerfreier Schrift geschrieben hatte: Master Pinch, Grovehouse Akademy. Und dann der Geruch nach Ledereinbänden und die Reihen und Reihen von Büchern – welches Glück, sie lesen zu dürfen! Im Schaufenster lagen die funkelnagelneusten Werke aus London mit weitaufgeschlagenen Titelblättern und bisweilen sogar der ersten Seite des ersten Kapitels, um schlau damit das Publikum zu verlocken, sie zu lesen und dann, außer sich vor Neugierde, wie es weitergehe, in den Laden zu stürzen und das Buch zu kaufen! Die hübschen Titelkupfer und Vignetten, die wie die Wegweiser vor großen Städten Wunder auf Wunder verhießen! Werke mit gravitätischen Porträts und altehrwürdigen Namen, deren Inhalt ihm gar wohl bekannt war und um die er alle Minen der Erde gegeben haben würde, wenn er sie auf dem schmalen Bücherbrette neben seinem Bette in Pecksniffs Haus hätte aufstellen können. Es war zum Herzzerbrechen!

Dann kam wieder ein Buchladen, nicht ganz so schlimm wie der erste, aber doch immer noch verführerisch genug. Kinderbücher lagen da im Fenster. Da prangte in seiner ganzen Anziehungskraft und Größe, mit Hund und Beil, Ziegenfellmütze und Vogelflinte, der arme Robinson Crusoe und sah ruhig auf Philipp Quarl und die ganze Schar seiner Nachahmer rings umher herab und rief Mr. Pinch zum Zeugen an, daß er allein von all den Geschichtshelden hier dem Gestade der Jugenderinnerung einen unauslöschlichen Fußstapfen aufgedrückt habe, von dem der Tritt ganzer Generationen auch nicht das kleinste Sandkörnchen zu verrücken imstande sei. Da lagen auch die morgenländischen Märchen von fliegenden Kisten und Zauberlehrlingen, die Jahre und Jahre in Höhlen über magischen Büchern gesessen – die Geschichte von dem Kaufmann Abdullah mit dem schrecklichen kleinen alten Weib, das immer aus dem Koffer in seiner Schlafkammer sprang; dann der mächtige Talisman – die prächtige ›Tausend und eine Nacht‹ – mit Cassim Baba, der gevierteilt und blutig in der Räuberhöhle hing. Und so wirksam rieben alle diese Zauber an der Wunderlampe seiner Phantasie, daß, als er sein Gesicht wieder der geräuschvollen Straße zuwandte, eine geschäftige Schar von Bildern und Erscheinungen vor ihm auftauchte und er mit neuem Entzücken die glücklichen Tage seiner Kindheit, bevor er zu Pecksniffs gekommen, wieder durchlebte.

Weniger interessierten ihn jetzt die Apothekerläden mit den großen glühenden Flaschen und den kleineren Glanzrepositorien in deren Stöpseln, ihrem liebenswürdigen Gemisch von Arznei und Parfüm und ihren Eibischzeltchen und Lakritzen. Am wenigsten achtete er auf die Modegeschäfte, in denen die gewissen neuesten Londoner Westen prunkten, die immer einen so bezaubernden Eindruck machen und dann zu Hause ganz anders aussehen. Doch blieb er aufmerksam stehen, um vor dem Schauspielhaus den Theaterzettel zu lesen, und betrachtete mit ehrfurchtsvollem Schauer den Eingang, aus dem gleich darauf ein bleicher Gentleman mit langem schwarzem Haar heraustrat und einen Jungen beauftragte, in seine Wohnung zu laufen und ihm sein Schwert zu holen. Wie angewurzelt blieb Mr. Pinch stehen, als er das hörte, und wäre vielleicht bis in die Nacht hinein so stehen geblieben, hätte ihn nicht das Abendläuten der Münsterglocke veranlaßt, sich loszureißen.

Nun war der Gehilfe des Organisten glücklicherweise sein Freund und, wie er, ein sehr sanfter und ruhiger Mensch, der gleichfalls schon in der Schule ein etwas altmodisch gesetzter Knabe gewesen, obgleich ihn die wilden Kameraden deshalb nicht weniger gern gehabt hatten. Da es das Glück wollte – Tom sagte immer, er habe ungemein viel Glück –, daß genannter Gehilfe gerade an diesem Nachmittag ausschließlich den Dienst versehen mußte, so half ihm Tom die Bälge treten, und schließlich nach Beendigung des Gottesdienstes spielte er selbst. Es wurde bereits dunkel, und das gelbe Licht, das durch die alten Fenster im Chor hereinströmte, mischte sich mit einem trüben Rot. Als die gewaltigen Töne durch die Kirche brausten, war es Tom, als weckten sie ein Echo in all den alten Grüften und auch in der geheimnisvollen Tiefe seines eigenen Herzens. Hehre Gedanken und reiche Hoffnung wachten in seiner Seele auf, während die Klänge so dahinströmten, und darunter – wenn auch ernster und feierlicher – die Erinnerungen an die Bilder des heutigen Tages bis zu deren unbedeutendsten Anklängen aus den Tagen der Kindheit. Das Gefühl, das die Orgeltöne in ihm weckten, schien sein ganzes Leben zu umfassen, und je mehr die ihn umgebende Wirklichkeit von Stein, Holz und farbigem Glas in der Dunkelheit verschwand, um so heller traten diese Visionen hervor. Er würde bald den neuen Zögling und den seiner harrenden Mr. Pecksniff ganz vergessen und seinem übervollen Herzen bis um Mitternacht Luft gemacht haben, hätte nicht ein sehr irdischer alter Küster darauf bestanden, die Kirche unverzüglich zu schließen. Er nahm daher unter vielen Dankesbezeugungen Abschied von seinem Freund, tastete sich, so gut es ging, zur Pforte und eilte durch die jetzt im Laternenschein funkelnden Gassen zu seinem Abendessen. Da die Pächter sich inzwischen sämtlich bereits heimbegeben hatten, so war die sandbestreute Gaststube des Wirtshauses, wo Tom Pinch sein Pferd eingestellt hatte, leer. Er rückte einen kleinen Tisch vor den Kamin und machte sich sehr vergnügt über ein gutgebratenes Beefsteak mit dampfend heißen Kartoffeln her. Vor ihm stand auch ein Krug vortrefflichen Wiltshire-Bieres, und alles dies wirkte so herzerhebend auf ihn, daß er von Zeit zu Zeit Messer und Gabel niederlegen und sich vergnügt die Hände reiben mußte. Als der Käse mit Sellerie kam, zog Mr. Pinch ein Buch aus der Tasche und spielte nur mehr mit dem Essen, indem er abwechselnd einen Bissen nahm oder einen Schluck Bier trank, ein bißchen las und dann wohl auch ganz innehielt, um nachzudenken, zu welchem Schlag von jungen Leuten der neue Zögling wohl gehören möge. Er wollte sich eben wieder aufs neue in sein Buch vertiefen, als die Türe aufging und ein Gast eintrat und dabei so viel kalte Luft mit hereinbrachte, daß einen Augenblick fast das Feuer ausgehen zu wollen schien.

»Sehr frostig heute abend, Sir«, bemerkte der neue Ankömmling mit einer höflichen Verbeugung, als Mr. Pinch seinen kleinen Tisch ein wenig wegrückte, um ihm Platz zu machen. »Bitte, inkommodieren Sie sich meinetwegen nicht.«

Trotzdem er dies in sehr höflichem Tone sagte, zog er doch einen großen, ledergepolsterten Sessel bis mitten vor den Kamin, setzte sich gerade vor das Feuer und stemmte seine Beine gegen den Sims.

»Meine Füße sind ganz erstarrt. Ah! Es ist wahrhaftig bitter kalt draußen.«

»Sie sind wohl lange unterwegs gewesen?« fragte Mr. Pinch.

»Den ganzen Tag. Und dazu noch auf dem Außensitz der Postkutsche.«

Da nimmt’s mich nicht wunder, daß er soviel Kälte hereingebracht hat, dachte Mr. Pinch. Armer Kerl! Er muß gut durchfroren sein.

Der Fremde versank jetzt gleichfalls in tiefes Nachsinnen und blieb wohl fünf bis zehn Minuten stumm vor dem Feuer sitzen. Endlich stand er auf und legte sein Halstuch und seinen Oberrock, der im Gegensatze zu dem Mr. Pinchs sehr warm und dick war, ab, blieb aber immer noch so wortkarg wie zuvor. Dann setzte er sich wieder wie vorher an seinen alten Platz, lehnte sich im Sessel zurück und fing an, an seinen Nägeln zu beißen. Er war jung, ungefähr einundzwanzig, und sehr hübsch, und in seinen scharfen dunkeln Augen und seinem Gesicht lag etwas Entschiedenes, das Tom als großen Gegensatz zu seinem eigenen Wesen fühlte und das ihn sehr schüchtern machte.

Im Zimmer hing eine Wanduhr, nach der der Fremde wiederholt hinblickte. Auch Tom tat desgleichen, teils unwillkürlich dem Beispiel seines schweigsamen Gefährten folgend, teils, weil sich der neue Zögling um halb sieben einfinden sollte und der Zeiger bereits sechs Uhr zurückgelegt hatte. Sooft Tom nach der Uhr sah und dabei dem Blick des Fremden begegnete, wurde er so verlegen, als wäre er bei etwas Unrechtem ertappt worden, so daß der junge Mann schließlich lächelnd fragte:

»Es scheint, daß wir beide auf etwas warten? Ich meinerseits bin von einem Herrn hierher bestellt.«

»Ich gleichfalls.«

»Um halb sieben.«

»Um halb sieben«, sagte Tom fast gleichzeitig. – Der junge Mann sah erstaunt auf.

»Der Herr, den ich erwarte«, bemerkte Tom schüchtern, »sollte um diese Zeit nach einer Person namens Pinch fragen.«

»Du lieber Himmel!« rief der Fremde aufspringend. »Und ich habe Sie die ganze Zeit über vom Feuer verdrängt! Ich hatte keine Ahnung, daß Sie Mr. Pinch sein könnten. Ich bin der Mr. Martin, der Sie hier treffen soll. Bitte, entschuldigen Sie vielmals. Wie geht es Ihnen? Bitte, rücken Sie doch näher ans Feuer!«

»Danke bestens«, entgegnete Tom, »danke bestens. Mir ist nicht so kalt wie Ihnen. Und dann haben wir noch eine lange Fahrt vor uns. Nun, wenn Sie durchaus wollen. – Danke! Ich – ich bin recht erfreut«, fügte er in seiner schüchtern offenherzigen Weise hinzu, »ich bin wirklich sehr erfreut, in Ihnen Mr. Martin zu sehen. Noch kaum vor einer Minute wünschte ich mir, er möge Ihnen gleichen.«

»Nun, das freut mich«, erwiderte Martin und schüttelte Mr. Pinch abermals die Hand, »ich versichre Ihnen, auch ich dachte, es könne sich gar nicht glücklicher treffen, als daß Sie Mr. Pinch wären.«

»Wahrhaftig?« rief Tom hoch erfreut. »Ist das Ihr Ernst?«

»Auf Ehre, mein voller Ernst!« erwiderte der junge Mann. »Ich weiß, Sie und ich werden vortrefflich miteinander auskommen, und das beruhigt mich nicht wenig, denn, offen gestanden, ich gehöre nicht zu den Leuten, die sich mit jedermann vertragen können, und ich hatte schon die größten Bedenken deswegen. Aber jetzt ist ja alles gut. Würden Sie wohl so freundlich sein und einmal klingeln?«

Mr. Pinch sprang auf und willfahrte mit großer Bereitwilligkeit – der Glockenzug hing gerade über Mr. Martins Kopf – der ausgesprochenen Bitte und horchte mit lächelnder Miene auf das, was sein Freund weiter zu sagen habe.

»Wenn Sie gern Punsch trinken, so erlauben Sie mir, daß ich zwei Gläser kommen lasse, so heiß wie möglich, damit wir unsre Freundschaft in gehöriger Weise einweihen können. Und, um nur die Wahrheit zu sagen, ich habe mich schon lange nicht so nach einem fröhlichen, heißen Trunk gesehnt. Nur wollte ich nicht Gefahr laufen, von Ihnen für einen Trinker gehalten zu werden, ehe ich wußte, was für ein Mensch Sie sind. Sie wissen, der erste Eindruck prägt sich oft tief ein.«

Mr. Pinch fand das sehr richtig, und der Punsch wurde bestellt. Nachdem beide von dem dampfenden Gemische getrunken hatten, wurden sie bald sehr vertraut.

»Wissen Sie, ich bin so eine Art Verwandter von Pecksniffs«, sagte der junge Mann.

»Wirklich?«

»Ja. Mein Großvater ist ein Vetter von ihm. Ich bin demnach irgendwie verwandt mit ihm. In welchem Grad, können Sie vielleicht besser herausrechnen. Ich war’s bisher noch nicht imstande.«

»Martin ist also Ihr Taufname?« fragte Mr. Pinch gedankenvoll. »Oh!«

»Allerdings. Ich wollte, es wäre mein Familienname. Jedenfalls wäre er hübscher, kürzer und bequemer zu unterschreiben als Chuzzlewit.« »Du mein Himmel!« rief Mr. Pinch und fuhr unwillkürlich zusammen.

»Sie wundern sich doch nicht, daß ich zwei Namen habe?« lachte Martin und setzte sein Glas an die Lippen. »Die meisten Leute haben zwei.«

»O nein«, sagte Mr. Pinch, »durchaus nicht. O mein Gott, nein! Warum sollte ich auch!«

In Wirklichkeit erinnerte er sich, daß ihm Mr. Pecksniff ausdrücklich geboten hatte, nichts von dem alten Herrn gleichen Namens, der im »Drachen« gewohnt hatte, zu erwähnen, da er selbst mit dem neuen Zögling darüber reden wolle. Um daher seine Verwirrung besser zu verbergen, führte auch er sein Glas zum Munde. Ein paar Sekunden sahen sich die beiden durch ihre Punschgläser an und setzten sie dann leer nieder.

»Ich habe bereits vor zehn Minuten im Stall den Auftrag gegeben, man möge das Fuhrwerk parat halten«, begann Mr. Pinch nach einer Pause und sah wieder auf die Uhr. »Wollen wir aufbrechen?«

»Ganz nach Belieben.«

»Kutschieren Sie gern?« fragte Mr. Pinch, und sein Gesicht strahlte vor Vergnügen, seinem neuen Freund eine Freude zu machen. »Wenn Sie wünschen, trete ich Ihnen die Zügel ab.«

»Das kommt ganz auf das Pferd an«, meinte Martin lachend. »Ist’s ein schlechter Gaul, so halte ich mir lieber die Hände in meinen Überrocktaschen warm.«

Er schien das für einen brillanten Witz zu halten, wenigstens nach seinem lauten Lachen zu schließen, in das Mr. Pinch selbstverständlich herzlich mit einstimmte. Dann wurde gezahlt, und die beiden jungen Leute hüllten sich, so gut es eben jedem je nach seinem Mantel möglich war, warm ein und begaben sich miteinander nach der Haustüre, vor der bereits Mr. Pecksniffs Equipage wartete.

»Ich mag nicht kutschieren – ich danke Ihnen, Mr. Pinch«, sagte Martin und stieg ein. »Übrigens, ich habe da noch einen Koffer. Läßt er sich allenfalls unterbringen?«

»O gewiß«, entgegnete Tom. »Nur irgendwo hinein damit, Dick!« Der Koffer war gerade nicht so klein, daß man ihn hätte in den ersten besten Winkel schieben können, aber Dick, der Stallknecht, fand schließlich doch einen Platz für ihn, und Mr. Chuzzlewit half dabei. Das Gepäck nahm nun fast den ganzen Platz Mr. Pinchs ein, und Mr. Chuzzlewit sagte, er fürchte, es werde seinen Freund sehr genieren, aber Mr. Pinch versicherte, das sei durchaus nicht der Fall, trotzdem er in Wirklichkeit so unbequem sitzen mußte, daß er kaum mehr als seine Knie sehen konnte.

Kein Wind, sagt man, kann so schlimm sein, daß er einem nicht wenigstens etwas Gutes zubliese, und dieses Sprichwort bewahrheitete sich auch in diesem Fall, denn die Kälte wehte von Mr. Pinchs Seite her, so daß Mr. Martin durch ihn und überdies noch von dem Koffer gedeckt, warm wie in einer Stube saß, was ein großer Trost für beide Teile war.

Silbern lag die bereifte Landschaft im Mondlicht da. Anfangs stimmte die tiefe feierliche Stille der Nacht die beiden zum Schweigen, aber bald taten der genossene Punsch und die gesunde frische Luft ihre Wirkung, und sie plauderten ohne Unterlaß. Als sie die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten und haltmachten, um das Pferd tränken zu lassen, bestellte Martin, der sehr freigebig mit seinem Gelde umging, ein weiteres Glas Punsch, das sie gemeinschaftlich austranken, was sie keineswegs schweigsamer machte. In der Hauptsache drehte sich ihre Unterhaltung natürlich um Mr. Pecksniff und seine Familie, von denen Tom Pinch mit Tränen in den Augen ein Bild entwarf, das jeden auch nur halbwegs gefühlvollen Menschen rein zur Anbetung zwingen mußte. Mr. Pecksniff konnte so etwas natürlich nicht im mindesten voraussehen oder auch nur entfernt ahnen, sonst würde er schon um seiner Bescheidenheit willen niemals Tom Pinch ausgeschickt haben, um den neuen Schüler abzuholen.

So fuhren sie weiter, »immer weiter und weiter« – wie es in den Ritterromanen heißt –, bis endlich die Lichter des Dorfes vor ihnen auftauchten, hinter denen der Kirchturm einen langen Schatten wie den Zeiger auf der Uhr des Lebens auf das Gras des Friedhofes warf.

»Eine hübsche Kirche!« sagte Martin, während sein Begleiter den langsamen Schritt seines Pferdes noch langsamer werden ließ, je näher sie dem Dorfe kamen. »Nicht wahr!?« rief Tom mit großem Stolz. »Es ist auch die lieblichste kleine Orgel darin, die Sie gehört haben. Ich spiele sie Sonntag.«

»Wirklich?« versetzte Martin. »Man sollte glauben, daß sich das kaum lohnt. Was bekommen Sie denn dafür?«

»Nichts.«

»Nun, da muß ich gestehen«, meinte Martin, »daß Sie wirklich ein recht seltsamer Kauz sind!«

– Beide schwiegen eine Weile. –

»Wenn ich sage ›nichts‹«, fing Mr. Pinch heiter wieder an, »so drücke ich mich eigentlich falsch aus, denn ich finde sehr viel Vergnügen daran und verbringe damit so manche glückliche Stunde. Auch führte es kürzlich zu einem sehr angenehmen Erlebnis. – – – Aber ich kann mir denken, daß Sie das wohl nicht weiter interessieren wird.«

»O doch, doch! Was war es denn?«

»Es gab mir Gelegenheit«, sagte Tom in leiser Stimme, »eines der lieblichsten und schönsten Gesichter zu sehen; so schön, daß Sie es sich gar nicht vorstellen können.«

»Wer weiß, ob ich mir nicht ein ebenso schönes vergegenwärtigen kann«, fiel Martin gedankenvoll ein.

»Sie kam«, fuhr Tom fort und legte die Hand auf den Arm seines neuen Freundes, »eines Morgens früh, als es kaum hell war, und wie ich über die Schulter blickte, stand sie gerade im Portal. Es überlief mich ganz kalt dabei. Ich dachte fast, es sei ein Geist. Ich faßte mich aber sofort und brauchte daher – glücklicherweise – nicht in meinem Spiele aufzuhören.«

»Warum glücklicherweise?«

»Warum? Weil sie stehen blieb und lauschte. Ich hatte meine Brille auf und sah sie durch den Schlitz in dem Vorhang so deutlich, wie ich Sie jetzt sehe. Wie schön sie war! – – Nach einer Weile entfernte sie sich leise, und ich fuhr fort zu spielen, bis sie außer Hörweite war.«

»Warum das?«

»Begreifen Sie denn nicht?« antwortete Tom. »Damit sie im Glauben, ich hätte sie nicht gesehen, ein andermal wiederkäme.«

»Und tat sie das?« »Allerdings. – Schon am andern Morgen; und auch abends; aber stets nur, wenn sonst niemand in der Kirche war und sie allein sein konnte. Ich stand von da an immer noch früher auf und blieb länger sitzen, damit sie, wenn sie käme, die Kirchtüre offen finde und die Orgel bereits spielen hören könne. So ging es einige Tage, und stets blieb sie eine Zeitlang, um zuzuhören. Aber jetzt ist sie fort, und von allen unwahrscheinlichen Dingen in dieser Welt ist es vielleicht das Allerunwahrscheinlichste, daß ich je ihr Antlitz wiedersehen werde.«

»Und Sie wissen nichts weiter von ihr?«

»Nein.«

»Und sind ihr nicht nachgegangen, als sie die Kirche verließ?«

»Warum hätte ich sie dadurch in Verlegenheit setzen sollen?!« sagte Tom Pinch schlicht. »Ich konnte doch nicht annehmen, daß ihr meine Gesellschaft auch passe! Sie kam, um die Orgel zu hören, nicht um mich zu sehen. Hätte ich sie da von dem Orte verscheuchen sollen, den sie so liebgewonnen zu haben schien? Nein, Gott segne sie!« rief er. »Wenn ich ihr jeden Tag nur eine frohe Minute verschaffen könnte, so wollte ich gerne Jahre und Jahre die Orgel spielen, bis ich ein alter Mann bin. Ich wäre zufrieden, wenn sie bei der Musik zuweilen auch nur ein klein wenig an einen armen Kerl wie mich dächte. Ja, für königlich würde ich mich belohnt halten, wenn sie mich nur ein einziges Mal in Gedanken mit dem Orgelspiel, das ihr so teuer ist, in Verbindung brächte!«

Der neue Schüler war augenscheinlich sehr verwundert über Mr. Pinchs Einfalt und hätte es ihm wahrscheinlich auch gesagt und ihm manchen guten Rat gegeben, wenn sie nicht in diesem Augenblick an Mr. Pecksniffs Haustüre angekommen wären. Der vordern diesmal, denn es war eine festliche Gelegenheit! Nachdem Tom dem Knecht das Pferd übergeben und Mr. Chuzzlewit beschworen hatte, keiner Seele auch nur eine Silbe von dem, was er ihm soeben in der Überfülle seines Herzens anvertraut, zu verraten, führte er Martin ins Haus, um ihn unverzüglich vorzustellen.

Mr. Pecksniff hatte sie augenscheinlich nicht so früh erwartet, denn er saß unter lauter aufgeschlagenen Büchern und durchblätterte mit einem Bleistift im Munde und einem Zirkel in der Hand Band um Band. Auch Miss Charitas war mitten in der Arbeit überrascht worden, denn sie hatte einen gewaltigen Weidenkorb vor sich und beschäftigte sich damit, überflüssigerweise Nachtmützen – für die Armen zu verfertigen. Ebenso unverhofft schien die plötzliche Ankunft Miss Gratia zu kommen, die auf ihrem Schemel saß und – ach, wie entzückend! – einer großen Puppe, die sie für ein Nachbarkind kleidete, ein Unterröckchen nähte. Und, was sie noch verlegener machte: die Puppe war eine Puppe in Lebensgröße, und das Puppenhäubchen hatte sie auf ihren eigenen schönen Locken befestigt – damit es nicht verlorengehe oder sich jemand darauf setze. Kurz, es würde schwer, wo nicht unmöglich sein, sich auch nur annähernd eine Vorstellung von der Verwirrung und Überraschung zu machen, in der die Pecksniffs sich befanden.

»Welche Überraschung!« rief Mr. Pecksniff, blickte auf und gab seiner gedankenvollen Miene allmählich den Ausdruck freudigen Wiedererkennens. »Schon hier!? Martin, mein lieber Junge, ich bin ganz entzückt, Sie in meinem Hause willkommen zu heißen!«

Mit dieser freundlichen Begrüßung zog Mr. Pecksniff den jungen Mann in seine Arme und klopfte ihm dabei stumm und liebevoll auf den Rücken, um damit auszudrücken, seine Gefühle seien viel zu überwältigend, als daß er sie in Worten kundgeben könnte.

»Und hier«, sagte er, seine Rührung niederkämpfend, »hier sind meine Töchter, Martin – meine zwei einzigen Kinder, die Sie wohl – oh, dieser traurige Familienzwist! – seit Ihrer Kindheit nicht mehr gesehen haben. Wenn Sie sie damals überhaupt kannten. Aber, meine Lieben, warum errötet ihr? Wohl, weil ihr bei eurer alltäglichen Beschäftigung ertappt worden seid? Wir wollten Sie eigentlich in unserm kleinen Staatszimmer empfangen, Martin«, schloß er lächelnd, »aber es ist traulicher so. – Nicht?«

O gesegneter Stern der Unschuld, wo du auch sein magst, wie mußtest du erglänzen in deiner ätherischen Heimat, als die beiden Misses Pecksniff errötend ihre Lilienhände Martin hinstreckten! Wie mußtest du funkeln vor Freude, als sich Gratia des Häubchens in ihrem Haar erinnerte, ihr schönes Antlitz mit den Händen bedeckte und das Köpfchen abwandte, während die sanfte Schwester ihr die Haube abnahm und sie in mildem, schwesterlichem Tadel damit auf den drallen Nacken schlug.

»Und wie«, fragte Mr. Pecksniff, wandte sich nach wohlgefälliger Betrachtung dieser entzückenden kleinen Zwischenszene um und faßte Mr. Pinch jovial am Arm, »wie sind Sie mit unserm Freunde hier zufrieden, Martin?«

»Oh, außerordentlich, Sir. Ich versichere Ihnen, wir vertragen uns großartig.«

»Stets der alte Tom Pinch«, säuselte Mr. Pecksniff mit wehmütiger Zärtlichkeit. »Ach, ist es mir doch wie gestern, daß Thomas noch ein Knabe war, frisch von der Schule weg. Und doch sind, glaube ich, Jahre hingeschwunden, seit Tom Pinch bei mir eintrat.«

Mr. Pinch konnte vor Rührung nicht sprechen, drückte seinem Meister nur bewegt die Hand und stammelte ein paar Worte des Dankes.

»Und Thomas Pinch und ich«, fuhr Mr. Pecksniff mit tieferer Stimme fort, »gedenken noch weiter beieinander auszuharren in Treue und Freundschaft! Und wenn einer von uns in einer jener lärmvollen Kreuz- und Quergassen des Lebens überfahren werden sollte, so wird der andere ihn nach dem Spital begleiten in Hoffnung und an seinem Bette sitzen in Liebe.«

»Schon gut, schon gut!« tröstete er den tief ergriffenen Mr. Pinch und schüttelte ihn väterlich am Arm. »Nichts mehr davon! – – Martin, mein lieber Freund, damit Sie sich gleich heimisch fühlen in diesen Mauern, will ich Ihnen zeigen, wie wir wohnen und leben. Kommen Sie!«

Dabei ergriff er eine brennende Kerze und schickte sich an, in Begleitung seines jungen Gastes das Zimmer zu verlassen. An der Türe machte er halt.

»Sie werden uns doch Gesellschaft leisten, Tom Pinch?«

– Ach, und wie gern! Und wenn es in den Tod gegangen wäre, hätte Tom ihn begleitet und mit Freuden sein Leben für ihn hingegeben. –

»Dies«, erklärte Mr. Pecksniff und öffnete eine Stubentüre, »ist das kleine Staatszimmer, das ich bereits vorhin erwähnte. Der Stolz meiner Mädchen, Martin. – Und dies«, er öffnete eine andere Türe, »ist das kleine Gemach, in dem ich meine Werke – im besten Falle unbedeutende Dinge – geschaffen habe. Hier mein Porträt von Spiller. Die Büste hier ist von Spoker. Man sagt, sie sei sehr ähnlich. Ich glaube selbst um den linken Mundwinkel herum eine gewisse Ähnlichkeit herauszufinden.«

Martin murmelte, sie sei sprechend ähnlich, nur nicht durchgeistigt genug, und Mr. Pecksniff bemerkte, denselben Fehler hätten auch Kenner daran bemängelt. Es sei merkwürdig, daß es auch seinem jungen Verwandten sogleich aufgefallen sei, und er freue sich zu sehen, daß Martin soviel Verständnis für Kunst besitze.

»Sie sehen hier allerhand Bücher«, erklärte er mit einer Handbewegung gegen die Wand, »die in unser Fach einschlagen. Ich habe mich selbst ein wenig in der Schriftstellerei versucht, aber noch nichts herausgegeben. – Achtung, hier ist eine Stufe! – – Und das«, er öffnete wieder eine Türe, »ist mein Schlafgemach. Hier lese ich noch, wenn meine Kinder glauben, ich sei bereits zu Bett gegangen. Es ist wohl meiner Gesundheit nicht sehr zuträglich, aber kurz ist das Leben, ewig ist die Kunst. – – – Sie sehen, ein Griff, und ich kann sofort eine Idee, die mir durch den Kopf schießt, zu Papier bringen.«

Zur näheren Erklärung deutete Mr. Pecksniff auf einen kleinen runden Tisch, auf dem eine Lampe, mehrere Bogen Papier, ein Radiergummi und ein Reißzeug bereit lagen.

Dann öffnete er abermals eine Türe in demselben Stockwerk, schloß sie aber hastig wieder wie eine Blaubartkammer. Ehe er sie jedoch ganz zugemacht hatte, blickte er sich lächelnd um und sagte:

»Warum nicht?«

Martin konnte diese Frage mit dem besten Willen nicht beantworten, da er sich durchaus nicht denken konnte, was sein Lehrer meine. Mr. Pecksniff beantwortete sie daher selbst, indem er die Türe wieder öffnete und sprach:

»Das Zimmer meiner Töchter. Für uns ist es ein einfaches Stübchen, aber für sie ein kleines süßes Nestchen. Reinlich, nett und luftig. Blumen, wie Sie bemerken. Hyazinthen. Und Bücher. Und Vögel.« – Die »Voliere« bestand jedoch nur aus einem einzigen alten Spatzen ohne Schwanz, der eigens zur heutigen Parade aus der Küche ausgeborgt worden war. »Kleinigkeiten – Spielereien –, wie es eben Mädchen lieben. Nichts weiter. Wer Freude an kalter Pracht hat, sucht hier vergebens.«

Sodann führte Mr. Pecksniff seinen Gast in den ersten Stock hinauf.

»Dies hier«, sagte er und schloß das Vorderzimmer auf, »ist der Raum, in dem sich, kann ich sagen, schon so manches Talent entwickelt hat. Hier war es, wo mir die Idee zu einem Kirchturm kam, den ich vielleicht eines Tages der Welt noch geben werde. Hier arbeiten wir, mein lieber Martin. Mancher Baumeister ist hier schon herangebildet worden: – was meinen Sie, Mr. Pinch?«

Tom pflichtete vollkommen bei; ja noch mehr, er glaubte es sogar.

»Sehen Sie hier« – Mr. Pecksniff leuchtete mit der Kerze hastig von einer Papierrolle zur andern – »einige Spuren unserer Tätigkeit. Die Kathedrale von Salisbury von Norden. Von Süden. Von Osten. Von Westen. Von Südosten. Von Nordwesten. – Eine Brücke. – Ein Armenhaus. – Ein Gefängnis. – Eine Kirche. – Ein Pulvermagazin. – Ein Weinkeller. – Ein Portikus. – Ein Sommerhaus. – Ein Eiskeller. – Grundrisse, Aufrisse, Durchschnitte aller Art. Und dies«, fügte er hinzu, als sie schließlich in eine Art Saal mit vier kleinen Betten darin gelangten, »dies ist Ihr Schlafzimmer, in dem Sie an Mr. Pinch einen ruhigen Mitbewohner haben. Mittagslage. Eine herrliche Aussicht. Hier Mr. Pinchs kleine Bibliothek, wie Sie sehen. Alles angenehm und zweckmäßig. Wenn Sie, wann immer, noch irgendwelchen weiteren Komfort wünschen, so bitte ich, es mich wissen zu lassen. Sogar Fremde brauchen in dieser Hinsicht bei uns sich nicht zu genieren, geschweige denn Sie, mein lieber Martin.«

Das war die pure Wahrheit, zu Mr. Pecksniffs Ehre sei es gesagt. Bis jetzt hatte jeder Zögling die unumschränkteste Freiheit genossen, was ihm in dieser Beziehung einfallen mochte, den Hausherrn »wissen zu lassen«. Einige hatten davon sogar fünf Jahre lang Tag für Tag Gebrauch gemacht, ohne daß es irgendwelche Folgen gehabt hätte. »Die Dienerschaft«, erklärte Mr. Pecksniff, »schläft oben. – So. Damit wären wir fertig.«

Wohlgefällig nahm er die Lobsprüche entgegen, die ihm sein junger Freund hinsichtlich der trefflichen Einrichtungen rückhaltslos spendete, und dann begaben sie sich wieder in das Wohnzimmer hinunter.

Hier hatte inzwischen eine große Veränderung stattgefunden, denn die festlichen Vorbereitungen waren in ziemlich ausgedehntem Maßstab beendet, und die beiden Misses Pecksniff harrten mit gastfreundlichen Mienen. Zwei Flaschen Johannisbeerwein – eine weiß und eine rot – standen auf dem Tisch, dann eine Platte mit Sandwiches – alle sehr lang und dünn geschnitten –, eine weitere mit Äpfeln, eine dritte mit Kapitänszwieback – bekanntlich eine gaumenanfeuchtende und liebliche Speise –, ein Teller mit klein und grieselig geschnittenen Orangen, tüchtig mit Zucker gepudert, und ein hausbackener Kuchen, der wie eine geologische Hautreliefkarte aussah. Mit einem Wort, die Opulenz dieser Vorbereitungen benahm Tom Pinch fast den Atem.

Leutselig wie immer ersuchte Pecksniff die Gesellschaft, diesen kulinarischen Genüssen, die, abgesehen von ihrer Reichlichkeit, noch die liebenswürdige Zugabe hatten, im schönsten Einklang mit der Nacht draußen zu stehen – denn auch sie waren kalt –, nach Herzenslust zuzusprechen.

»Martin«, sagte er, »wird sich zwischen euch beide setzen, meine Kinder, während Mr. Pinch an meiner Seite Platz nimmt. Und jetzt wollen wir auf das Wohl unseres neuen Hausgenossen trinken. Mögen wir stets unter- und miteinander zufrieden sein! – Also, Martin, mein lieber Freund, Ihre Gesundheit! Mr. Pinch, wenn Sie die Flasche schonen, bekommen Sie’s mit mir zu tun.«

Mr. Pecksniff trank und machte – aus Achtung für die Gefühle der Anwesenden – ein Gesicht, als ob der Wein durchaus nicht sauer wäre und ihm die Tränen in die Augen triebe. –

»Dies«, fuhr er – in bezug auf die Gesellschaft und nicht auf den Wein – fort, »ist etwas, was einen für so manchen Verdruß und so manche herbe Enttäuschung entschädigen kann. – Laßt uns guter Dinge sein.« – Hier nahm er ein Stück von dem Kapitänszwieback. »Ein armselig Herz, das niemals Freude empfindet! Und unsre Herzen sind wahrhaftig nicht armselig! Nein!«

Mit solchen Aufforderungen zur Heiterkeit würzte er die Unterhaltung, während Mr. Pinch, vielleicht um sich zu überzeugen, daß alles, was er sah und hörte, greifbare Wirklichkeit und kein Traumgebilde sei, von allem aß und namentlich den dünnen Sandwiches in überraschender Weise zusprach. Auch handhabte er emsig sein Glas und machte, eingedenk der liebenswürdigen Aufforderung Mr. Pecksniffs, so nachdrückliche Angriffe auf die Flasche, daß, sooft er sich von neuem einschenkte, Miss Charitas einen starren, gläsernen Blick, wie wenn sie ein Gespenst sähe, nicht unterdrücken konnte. Auch Mr. Pecksniff wurde in solchen Momenten nachdenklich, um nicht zu sagen niedergeschlagen; aber da er das Gewächs kannte, machte ihn wahrscheinlich der Gedanke an den morgigen voraussichtlichen Zustand Mr. Pinchs besorgt.

Martin und die jungen Damen waren bald die besten Freunde geworden und tauschten zur gegenseitigen Erheiterung Erinnerungen aus ihren Kinderjahren aus. Miss Gratia lachte unbändig über alles, was gesprochen wurde, und gar, wenn sie Mr. Pinchs glückstrahlendes Gesicht ansah, kamen solche Anfälle von Lustigkeit über sie, daß sie fast hysterische Krämpfe bekam. Ihre verständigere Schwester verwies ihr das jedesmal und flüsterte ihr ärgerlich zu, die Sache sei durchaus nicht zum Lachen und sie könne den Kerl nicht ausstehen. Schließlich brach aber auch sie in ein Lächeln aus – freilich mit mehr Mäßigung und mit dem Bedeuten, das ginge wirklich schon über den Spaß.

Endlich wurde es hohe Zeit, an jene Vorschrift des alten Philosophen zu denken, die man beobachten muß, um sich Gesundheit, Reichtum und Weisheit zu erhalten, und deren Untrüglichkeit seit Menschenaltern durch die ungeheuren Schätze an Gold bewahrheitet wird, die ohne Unterlaß Kaminkehrer und andere Leute, die um die frühe Morgenstunde auf sind und beizeiten zu Bett gehen, aufhäufen. Die jungen Damen erhoben sich, nahmen von Mr. Chuzzlewit mit großer Süßigkeit, von ihrem Vater mit kindlicher Hochachtung und von Mr. Pinch mit gebührender Herablassung Abschied und verfügten sich in ihr »Nestchen«. Mr. Pecksniff bestand darauf, seinen jungen Freund die Treppe hinauf zu begleiten, um sich persönlich zu überzeugen, daß es ihm an keiner Bequemlichkeit fehle, nahm ihn beim Arm und führte ihn noch einmal in das Schlafgemach mit den vier Betten, während Mr. Pinch mit dem Licht in der Hand folgte.

»Mr. Pinch«, sagte Pecksniff und setzte sich mit verschränkten Armen auf eines der Gastbetten, »ich vermisse die Lichtputzschere dort auf jenem Leuchter. Wollen Sie die Güte haben, hinunterzugehen und eine heraufholen?«

Mr. Pinch, überglücklich, sich nützlich machen zu können, eilte unverzüglich in die Küche.

»Sie müssen entschuldigen, Martin, Tom Pinch hat keine Lebensart«, sagte Mr. Pecksniff mit gönnerhaftem Lächeln, als Tom draußen war. »Aber er meint’s gut.«

»Er ist ein sehr guter Mensch, Sir.«

»O ja«, gab Mr. Pecksniff zu. »Ja, Thomas Pinch meint’s gut. Er ist dankbar. Ich habe noch nie bereut, zu Thomas Pinch freundlich gewesen zu sein.«

»Ich denke, Sie werden es auch künftighin nie zu bereuen haben, Sir.«

»Nein«, entgegnete Pecksniff. »Nein. Hoffentlich nicht. Armer Bursche! Er bemüht sich nach Kräften –, aber er hat kein Talent. Sie sollten ihn sich nützlich zu machen suchen, Martin. Wenn Thomas einen Fehler hat, so ist es der, daß er bisweilen seine Stellung ein bißchen vergißt. Doch da ist ja leicht wieder ein Zügel angelegt. Eine gute Seele. Sie werden sehen, er ist leicht lenkbar. Gute Nacht!«

»Gute Nacht, Sir.«

– Inzwischen war Mr. Pinch mit der Lichtschere wieder zurückgekehrt. –

»Und auch Ihnen gute Nacht, Pinch«, sagte Pecksniff. »Schlafen Sie wohl, alle beide. – Und Gott behüte euch!«

Diesen Segenswunsch mit großer Inbrunst auf die Häupter seiner jungen Freunde herabrufend, begab sich Mr. Pecksniff in sein eigenes Schlafgemach, während diese, müde von der langen Reise, bald fest einschliefen.

Wenn Martin überhaupt träumte, so werden wir den Schlüssel zum Inhalt seiner Visionen in den folgenden Kapiteln dieser Geschichte finden. Thomas Pinch träumte jedenfalls von lauter Festen, von Kirchenmusik und seraphischen Pecksniffs.

Es dauerte hingegen eine ziemliche Weile, ehe Mr. Pecksniff sein Lager aufsuchte. Volle zwei Stunden blieb er noch vor dem Kamin seines Schlafzimmers sitzen und starrte, tief in Gedanken versunken, in die Kohlen. Aber endlich schlief auch er ein, um zu träumen. So schließt in den ruhigen Stunden der Nacht ein Haus nicht weniger unzusammenhängende und wirre Ideen ein als das Gehirn eines Wahnsinnigen.

50. Kapitel


50. Kapitel

Es begibt sich etwas, das Tom Pinch außerordentlich überrascht und dazu führt, daß zwischen ihm und seiner Schwester gewisse Dinge zur Sprache kommen

Am nächsten Abend saßen Tom und seine Schwester gemütlich beisammen beim Tee und plauderten über allerlei Dinge, jedoch ohne daß das Gespräch auf Lewsome oder irgend etwas, was ihn anging, kam, denn John Westlock – trotz seiner Jugend einer der besonnensten Menschen von der Welt – hatte es Tom ausdrücklich eingeschärft, seiner Schwester diesbezüglich nicht das Geringste mitzuteilen, um sie nicht zu beunruhigen. »Wirklich, Tom«, hatte er wörtlich gesagt, nachdem er eine Weile lang verlegen herumgedruckst, »nicht um alle Schätze und Ehren der Welt möchte ich, daß auch nur ein Schatten eines traurigen Gedankens auf ihr glückliches Gesichtchen oder in ihr zartes Herz fiele.«

Wirklich, John ist außerordentlich gütig, und ihr leiblicher Vater hätte nicht mehr Anteil an ihr nehmen können als er, sagte sich Tom.

Aber obgleich er und seine Schwester außerordentlich gesprächig waren, so schienen sie dennoch nicht so fröhlich und heiter zu sein wie sonst. Es fiel Tom nicht im entferntesten ein, daß Ruth daran schuld sein könne, im Gegenteil hielt er es für ausgemacht, daß die Langweile von ihm ausgehe. Und das hatte in gewisser Beziehung auch seine Richtigkeit, denn das leichteste Wölkchen an dem Himmel ihres sonst so ruhigen Gemütes warf auf ihn stets einen Schatten.

Und heute abend lag wirklich eine Wolke auf der Stirn der kleinen Ruth. Sooft Tom zufällig wegblickte, stahlen sich ihre hellen Augen nach seinem Gesichte, leuchteten dann noch glänzender auf und trübten sich gleich darauf. Wenn Tom schwieg und hinausschickte in das Sommerwetter, machte sie bisweilen eine hastige Bewegung, als treibe es sie, sich ihm um den Hals zu werfen, doch jedesmal bezwang sie sich wieder, und wenn er sich umsah, zeigte sie ihm ein lachendes Gesicht wie sonst und plauderte fröhlich mit ihm. Hatte sie ihm etwas zu reichen oder irgendeinen Vorwand, in seine Nähe zu kommen, so hüpfte sie um ihn herum und legte wie zögernd ihr Händchen auf seine Schulter und wollte gar nicht wieder weggehen – kurz, sie verriet auf jede mögliche Art, daß ihr etwas auf dem Herzen liege, was sie ihm gern gesagt hätte, was sie aber auszusprechen nicht den Mut besaß.

So saßen sie, sie mit ihrer Handarbeit vor sich, aber ohne zu arbeiten, und Tom mit einem Buche neben sich, ohne zu lesen, als Martin an die Haustüre klopfte. Tom, der sofort erriet, wer es sein könne, stand auf, um zu öffnen, und kam dann in Gesellschaft seines Gastes wieder ins Zimmer zurück. Er machte dabei ein ziemlich verdutztes Gesicht, denn Martin hatte auf seinen herzlichen Gruß kaum ein Wort erwidert.

Auch Ruth bemerkte das sonderbare Benehmen ihres Besuches und blickte fragend zu Tom auf, als erwarte sie von ihm eine Erklärung, aber er schüttelte nur den Kopf und blickte fragend Martin stumm an.

Martin setzte sich nicht wie sonst, sondern trat ans Fenster, blieb davor stehen und blickte hinaus. Dann drehte er sich plötzlich um, als wollte er etwas sagen, wandte aber wieder den Kopf ab und schwieg.

»Was ist denn vorgefallen, Martin?« fragte Tom ängstlich, »bringen Sie schlimme Nachrichten, lieber Freund?«

»Ach, Tom«, versetzte Martin mit vorwurfsvollem Tone, »daß Sie sich so stellen können, als interessierten Sie sich für etwas, das mich betrifft, verletzt mich fast noch mehr als Ihr unschönes Vorgehen selbst.«

»Mein unschönes Vorgehen, Martin, mein –« Tom blieben die Worte in der Kehle stecken.

»Wie konnten Sie nur, Tom – wie konnten Sie nur sich von mir so heiß und innig danken lassen für Ihre Freundschaft, ohne mir wie ein Mann gerade heraus zu sagen, daß Sie mich im Stiche gelassen hatten?! War das offen gehandelt, Tom, war das ehrlich gehandelt? War es Ihres früheren Charakters würdig – oder besser gesagt, des Charakters, den ich Ihnen beimaß –, mich zu veranlassen, Ihnen mein Herz auszuschütten, nachdem Sie schon mein Gegner geworden waren? Ach, Tom, Tom!«

Es lag etwas unbedingt Verletzendes und dabei doch tief Bekümmertes in seiner Rede. Was er sagte, bekundete ebensosehr seine frühere Anhänglichkeit an Tom wie tiefes Leid über die Entdeckung seines vermeintlichen Unterdes. Tom schlug einen Augenblick die Hände vors Gesicht und brachte kein Wort hervor, um sich zu rechtfertigen, wie wenn er in Wirklichkeit ein Ungeheuer an Falschheit gewesen wäre.

»Ich versichere Ihnen, so wahr ich lebe«, rief Martin, »daß es mich tief schmerzt, in Ihnen nicht mehr den Menschen sehen zu können, für den ich Sie gehalten habe, und zwar in einem Maße, daß ich ganz und gar mein eigenes erlittenes Unrecht darüber vergessen könnte. Erst in Augenblicken nach einer solchen Entdeckung fühlen wir, wie sehr wir den verlorenen Freund früher geliebt haben, und ich schwöre Ihnen – wenn ich es auch niemals sehr merken ließ –, daß ich Sie wie einen Bruder geliebt habe, Tom.«

Mr. Pinch hatte sich inzwischen gefaßt und antwortete treuherzig:

»Martin, ich weiß nicht, was Sie auf dem Herzen haben und was Ihnen zugestoßen ist und Sie so umgewandelt haben mag, jedenfalls aber hat man Sie hintergangen, und es ist kein Jota Wahrheit in dem, was Sie so beunruhigt. Sie sind von A bis Z in einem Irrtum befangen, und ich kann Ihnen beruhigt voraussagen, daß Sie das Unrecht, das Sie mir jetzt antun, noch tief bereuen werden. Ehrlich und offen sage ich Ihnen, daß ich sowohl Ihnen wie mir treu geblieben bin. Ihr Benehmen wird Ihnen noch einmal sehr leid tun, das kann ich Ihnen mit Bestimmtheit voraussagen, Martin.«

»Leid empfinde ich jetzt schon, wenn auch in anderm Sinne«, antwortete Martin und schüttelte traurig den Kopf, »bis zu diesem Augenblick habe ich nicht gewußt, was es heißt, Herzeleid wegen einer großen Enttäuschung zu empfinden.«

»Gut«, sagte Tom, »aber wenn es auch stets so gewesen wäre, wie Sie jetzt von mir annehmen, und ich niemals Ihre Achtung besessen und stets Ihre Geringschätzung verdient hätte, so müßten Sie mir dennoch offen heraussagen, inwiefern Sie mich für treulos halten und woraus Sie das schließen. Ich bitte nicht um diese Erklärung, Martin, sondern ich habe ein Recht darauf, sie zu verlangen.«

»Soll ich vielleicht meinen eignen Augen nicht trauen?« fuhr Martin auf.

»Nein, wenn sie mich anklagen, nicht.«

»Und Ihre eignen Worte – Ihr eigenes Vorgehen, soll ich denen vielleicht auch nicht glauben?«

»Nein«, sagte Tom ruhig, »Sie dürfen dem Schein nicht glauben, wenn er gegen mich spricht. Aber sie haben auch nie etwas gegen mich bewiesen; wer sie in solcher Absicht auch verdreht haben mag, der tut mir beinahe so schweres Unrecht« – es schien einen Augenblick, als wolle er ganz und gar außer Fassung geraten – »wie Sie.«

»Ich bin hierher gekommen«, sagte Martin, »und wende mich jetzt an Ihr liebenswürdiges Fräulein Schwester. Sie soll mich anhören –«

»An sie dürfen Sie nicht appellieren«, unterbrach ihn Tom, »denn sie wird Ihnen niemals Glauben schenken« – dabei zog er Ruths Arm zärtlich durch den seinigen.

»Ich es glauben, Tom!« rief Ruth entsetzt.

»Nein, nein!« besänftigte sie Tom, »freilich nicht. Sei doch ruhig, närrisches Mädchen!«

»Ich hatte niemals im Sinn«, fiel Martin hastig ein, »Sie gegen Ihren Bruder anzurufen; so unmännlich und lieblos bin ich nicht. Ich wünschte bloß, daß Sie mit anhören, was ich hier zu erklären habe, nämlich, daß ich nicht gekommen bin, um Vorwürfe zu erheben – nein, ich mache niemandem einen Vorwurf –, aber bekümmert bin ich bis ins tiefste Innere. Sie können sich vorstellen, wie bitter es mir sein muß, wenn ich Ihnen sage, daß ich oft und oft an Ihren Bruder gedacht habe und mich im Zustande fast hoffnungsloser Krankheit stets nach der Gelegenheit sehnte, ihm zu beweisen, wie hoch ich seine Freundschaft anschlug und wie fest ich auf ihn baute und an ihn glaubte.«

»Still, still«, sagte Tom und legte seiner Schwester zärtlich die Hand auf den Mund, als er sah, daß sie sprechen wollte. »Es ist ein Mißverständnis; man hat ihn hintergangen; laß es gut sein; schließlich wird doch die Wahrheit an den Tag kommen.«

»Gesegnet sei die Stunde, die mich eines andern belehren wird«, rief Martin, »wenn sie je kommen sollte.«

»Amen!« sagte Tom, »sie wird kommen.«

Martin schwieg eine Weile und fuhr dann traurig fort: »Sie haben Ihre Wahl getroffen, Tom, und wenn wir uns jetzt für immer trennen, wird dies eine Erleichterung für Sie sein. Wir scheiden nicht in Groll – wenigstens von meiner Seite nicht.«

»Von meiner gewiß auch nicht«, sagte Tom.

»Sie haben es so gewollt, und es ist so gekommen. Wie gesagt, Sie haben Ihre Wahl getroffen, so wie es sich von den meisten Menschen in Ihrer Lage erwarten ließ, wenn auch nicht von Ihnen. Vielleicht sollte ich eher meiner Unbesonnenheit als Ihnen die Schuld beimessen. Auf der einen Seite winkte Ihnen Reichtum und Gunst, und auf der andern lag die an und für sich wertlose Freundschaft eines verlassenen, hilflosen Menschen. Die Wahl stand Ihnen frei, und Sie haben gewählt. Es ist eben gekommen, wie es vorauszusehen war. Allerdings sollte auch jemand, der den Mut nicht besitzt, solchen Versuchungen zu widerstehen, immerhin die Kraft haben, zuzugeben, daß er unterlegen ist. Und nur daraus mache ich Ihnen einen Vorwurf. Sie haben mich anscheinend herzlich empfangen, mich zu freier, offener Rede ermutigt und mich verlockt, Ihnen zu vertrauen, während Sie sich bereits an andre verkauft hatten. – Ich habe nicht geglaubt«, fuhr Martin erregt fort – »und ich sage es auch jetzt nochmals aus tiefstem Herzen heraus; ich kann es nicht glauben, Tom, wenn ich Ihnen in die Augen sehe, daß Sie aus eigenem Antrieb planten, mir Schaden zuzufügen, selbst wenn ich nicht durch Zufall entdeckt hätte, in wessen Diensten Sie stehen. Aber freilich, ich wäre Ihnen zur Last gefallen; ich hätte Sie in ein noch schieferes Licht gebracht und Sie würden sich die Gunst verscherzt haben, für die Sie einen so hohen Preis bezahlt haben, indem Sie auf Ihren früheren Charakter verzichteten. Aber dennoch ist es das beste für uns beide, daß ich endlich entdeckt habe, was Sie sich geheimzuhalten so sehr bemühten.«

»Seien Sie gerecht«, sagte Tom, der Martin während dessen ganzer Rede ununterbrochen mild ins Auge geblickt hatte, »seien Sie gerecht auch in Ihrer Ungerechtigkeit, Martin. Sie vergessen, daß Sie mir noch immer nicht gesagt haben, wessen Sie mich bezichtigen.«

»Wozu auch«, wehrte Martin ab und schritt zur Türe, »mehr Erkenntnis könnte Ihnen daraus nicht erwachsen. Nein, Tom, was vorbei ist, soll vorbei sein. – Ich kann in diesem Augenblick von Ihnen Abschied nehmen – hier, wo Sie mich einst so freundlich und gütig aufgenommen haben – und tue es so herzlich wie jemals früher, als wir uns kennenlernten. Möge es Ihnen auch weiterhin wohl ergehen, Tom, ich –«

»Und mit diesen Worten wollen Sie mich verlassen? So können Sie mich verlassen? Wirklich?« unterbrach ihn Tom.

»Ich – Sie – Sie haben selbst gewählt, Tom! – Ich – war – hem – wohl etwas unüberlegt –« stotterte Martin, »ja gewiß, unüberlegt – – leben Sie wohl.«

Und er ging.

Tom führte Ruth stumm nach ihrem Stuhl und setzte sich auf seinen Platz. Dann nahm er sein Buch wieder vor und las oder schien vielmehr zu lesen. Als er das erste Blatt umwandte, sagte er laut vor sich hin:

»Es wird die Stunde kommen, wo es ihm sehr, sehr leid tun wird.« Dabei stahl sich eine Träne über seine Wangen und fiel auf das Blatt.

Ruth sprang auf, kniete neben ihm nieder und schlang ihre Arme um seinen Hals.

»Nein, Tom, nicht so! Bitte, bitte, lieber Tom, sei nicht so trostlos!«

»Ich bin – ganz und gar nicht trostlos«, sagte Tom leise, »es wird sich ja alles noch aufklären.«

»Und das ist der Dank!« rief Ruth.

»Nein, nein«, wehrte ihr Tom, »er glaubt es wirklich. Ich kann mir nicht vorstellen, warum, aber er glaubt es. Es wird und muß sich ja alles aufklären.«

Ruth schmiegte sich noch dichter an ihn und schluchzte, schluchzte, als ob ihr das Herz brechen wollte.

»Still, still, beruhige dich, liebes Kind«, tröstete sie Tom. »Warum verbirgst du dein Gesicht, mein Kind?«

Ruth ließ jetzt unverhohlen ihren Tränen freien Lauf.

»Ach, Tom, mein geliebter Tom, ich weiß doch, was dir so sehr das Herz bedrückt! Ich habe es entdeckt – du konntest die Wahrheit vor mir nicht verbergen. – Ach, warum hast du mir nicht alles gesagt? Ich hätte dir doch Trost zusprechen können! – Ich weiß, du liebst sie, Tom – liebst sie innig.«

Tom machte eine abwehrende, heftige Bewegung mit der Hand, aber sie fiel kraftlos nieder und umschloß die ihrige – eine ganze kurze Leidensgeschichte lag in dieser Gebärde – eine ergreifende Beredsamkeit in dem stummen Druck.

»Und trotzdem«, schluchzte Ruth, »bist du so treu und gut gewesen, lieber Tom! Trotzdem hast du den schwersten Kampf, den es für ein menschliches Herz gibt, gekämpft! – Du bist so edel, so hochherzig und voller Selbstverleugnung gewesen, daß ich nie einen zornigen Blick von dir gesehen habe oder ein gereiztes Wort aus deinem Munde hörte. Und dennoch diese grausame Verrenkung! Ach, Tom, geliebter Tom – wie kann das alles je wieder gut werden! Glaubst du, Tom, daß es möglich ist? Wirst du ewig diesen Kummer im Herzen tragen, der du so glücklich zu sein verdienst; oder hast du noch Hoffnung?«

Und noch immer verbarg sie ihr Gesicht vor ihrem Bruder, hielt seinen Hals umschlungen, weinte um ihn und ließ ihr ganzes weibliches Herz ausströmen mit ihren Tränen.

Und dann setzten sie sich Seite an Seite. Ruth blickte ernst und gefaßt in sein Gesicht, und er sprach zu ihr, ruhig, gelassen und heiter, wenn auch im tiefsten Ernst:

»Es freut mich, liebe Schwester, daß alles jetzt zwischen uns zur Sprache gekommen ist; nicht, weil es mir deine Liebe und Zärtlichkeit beweist – daran konnte ich doch niemals zweifeln –, sondern weil mir damit eine schwere Last vom Herzen genommen ist.«

Sein Auge leuchtete, als er von ihrer Liebe sprach, und er küßte sie auf die Wange.

»Meine liebe, liebe Schwester, mit welchen Gefühlen ich auch an sie denken mag –«, sie schienen beide den Namen sorgsam zu vermeiden – »so habe ich doch längst – ja, ich kann wohl sagen, von Anfang an – das Ganze kaum für mehr als für einen schönen Traum gehalten – für etwas, das sich nie verwirklichen läßt. Aber jetzt sage mir, was meintest du damit, als du fragtest, ob ich glaubte, daß alles noch gut werde?«

Ruth warf ihm einen so beredten Blick zu, daß er erriet, was sie meinte.

»Liebste Ruth, sie ist aus freier Wahl mit Martin verlobt, und zwar längst, ehe eines von beiden von meiner Existenz auch nur wußte. Hast du an die Möglichkeit gedacht, daß sie sich je mit mir verlobe?«

»Ja«, sagte Ruth hastig.

»Dadurch würde die Sache nicht gut, sondern nur schlecht werden«, antwortete Tom und fügte mit wehmütigem Lächeln hinzu: »Glaubst du denn, daß sie mich überhaupt hätte lieben können, selbst wenn sie ihn niemals vorher gesehen hätte?«

»Warum nicht, lieber Bruder?«

Tom schüttelte nur den Kopf und lächelte stumm.

»Du hältst mich, Ruth – und es ist ganz natürlich, daß du es tust – wahrscheinlich für einen Helden, wie sie in Romanen vorkommen. Du glaubst, die poetische Gerechtigkeit erfordere, daß ich schließlich durch irgendein seltsames Wunder mit der verbunden werde, die ich liebe, aber es gibt noch eine viel höhere Gerechtigkeit als die poetische, mein Kind, und die bestimmt die Ereignisse nach andern Grundsätzen. Die Menschen, die immer nur an ihre Bücherhelden denken und aus sich selbst Bücherhelden machen möchten, halten es für so schön, unzufrieden, verdüstert und menschenfeindlich, vielleicht auch ein wenig gotteslästerlich zu sein, bloß weil ihnen nicht zufällt, was sie gerne hätten; möchtest du, daß ich auch so ein Mensch würde?«

»Nein, Tom. – – Aber dennoch weiß ich«, fügte Ruth schüchtern hinzu, »daß es dir Kummer bereitet, wenn auch nicht den Kummer unbefriedigter Selbstsucht.«

Tom wollte ihre Annahme widerlegen, sah aber ein, daß es vergeblich gewesen wäre, und unterließ es daher.

»Liebste«, sagte er, »ich will dir deine Zärtlichkeit dadurch vergelten, daß ich dir jetzt offen die Wahrheit – die ganze Wahrheit mitteile. Gewiß nagt ein Kummer in meinem Innern, und ich habe es oft gefühlt, trotzdem ich mich stets dagegen wehrte. Denke dir, es stürbe dir ein teueres Wesen, und dann träumtest du, daß du mit dem Dahingeschiedenen im Himmel vereint seist – und es wird dir dann schmerzlich sein, wieder zum Erdenleben zu erwachen, obgleich es nicht schwerer zu ertragen ist als zur Zeit deines Einschlafen. Der Gedanke an den Traum wird dich mit Wehmut erfüllen, aber du wußtest gleich anfangs, daß es ein Traum war, und haderst deshalb nicht mit der Wirklichkeit, die dich umgibt. Sie ist stets dieselbe wie zuvor. Liebe Schwester, meine liebe, liebe Gefährtin, die mir dieses Haus so lieb und wert macht, sage, liebt sie mich darum weniger, als sie getan hätte, wenn mich jener schöne Traum niemals umgaukelt hätte, und mein alter Freund John, der doch ebensogut kalt und gleichgültig gegen mich sein könnte, ist er darum weniger herzlich gegen mich? Und ist in der Welt rings um mich her weniger Gutes deshalb? Sollen meine Worte deswegen härter, meine Blicke verbittert und mein Herz kalt werden, weil mir ein gutes und schönes Wesen begegnet ist? Nein, liebe Schwester, nein«, wiederholte er mit Festigkeit, »wenn ich all der Wege gedenke, die mir zu meinem Glücke offenstehen, so wage ich es kaum, dies nagende Etwas einen Kummer zu nennen. Welchen Namen es auch immer tragen mag, ich danke Gott, daß es mich für Liebe und Anhänglichkeit empfänglicher und nicht weniger glücklich macht. Nein, nicht weniger glücklich, Ruth!«

Es war ihr unmöglich, ein Wort zu erwidern, aber sie liebte Tom von ganzem Herzen, so wie er es verdiente.

»Sie wird Martin die Augen öffnen«, fuhr Tom froh und stolz fort, »und dann wird es ihm von Herzen leid tun. Ich weiß, daß sie nun und nimmer glauben wird, daß ich ihn jemals verraten haben könnte. Unser Geheimnis, Ruth, bleibt unter uns – soll mit uns leben und sterben. – Ich glaube nicht, daß ich dir jemals etwas davon gesagt haben würde«, setzte er lächelnd hinzu, »aber es freut mich, daß du selbst darauf gekommen bist.«

Dann beschlossen sie einen Spaziergang zu machen, und er gab ihnen soviel Frieden, wie sie sich nur wünschen konnten. Tom erzählte Ruth alles so offenherzig, einfach und dabei so bemüht, ihre Zärtlichkeit dadurch zu erwidern, daß er ihr sein Herz ganz ausschüttete, daß sie weit über die gewohnte Stunde aufblieben und erst spät zu Bett gingen. Als sie sich endlich gute Nacht sagten, lag ein so schöner ruhiger Ausdruck in Toms Gesicht, daß Ruth ihm auf den Zehen nachschlich bis an seine Kammertür und stehen blieb, bis er sie bemerkte, und dann umarmten sie sich und gingen schlafen. Und in ihrem Nachtgebet war sein Name ihr erster und letzter Gedanke.

Als Tom allein war, dachte er viel und lange darüber nach, wieso es wohl gekommen sei, daß Ruth sein Geheimnis durchschaut habe. »Vielleicht, weil ich gar zu vorsichtig war«, dachte er. »Freilich sehe ich es klar ein, daß es töricht und unnötig war, zu schweigen; aber mir ist jetzt doch so wohl ums Herz, daß sie darum weiß. Wozu hatte ich auch nötig, es so sorgsam vor ihr geheimzuhalten? Ich wußte von jeher, daß sie eine rasche Auffassungsgabe hat, aber soviel Scharfsinn hätte ich ihr doch nicht zugetraut. Und wie plötzlich sie überdies diese Entdeckung gemacht hat! Wirklich merkwürdig«, brummte er.

Der Gedanke verfolgte ihn noch bis in den Schlaf.

»Und wie sie zitterte, als sie allmählich damit herausrückte, sie wisse davon«, dachte er und rief sich alle die kleinen Ereignisse und Umstände des Abends wieder ins Gedächtnis zurück. »Und wie ihre Wangen glühten! Aber das war ganz natürlich. Ja ja, ganz natürlich. – Es ist weiter nichts zu erklären daran.«

Aber wie natürlich es war und wie wenig es einer weiteren Erklärung bedurfte, daß erst in neuester Zeit sich in Ruths eigenem Herzen etwas festgesetzt hatte, das ihr sein Geheimnis lesen half, daran dachte er wenig – er verstand das Geflüster der Tempelfontäne nicht, trotzdem er täglich dort vorüberging.

Wie fröhlich und lebhaft am nächsten Morgen die kleine Ruth war! Ihr Klopfen früh an seiner Tür und ihr leiser, flüchtiger Schritt draußen würden schon Musik für ihn gewesen sein, auch wenn sie ihm nicht gesagt hätte, es sei der schönste Morgen draußen, den man je gesehen. Und wenn es auch nicht der Fall gewesen wäre, sie würde ihn durch ihre bloße Anwesenheit für Tom dazu gemacht haben.

Sie war mit seinem Frühstück bereits fertig, als er hinunterkam, hatte ihren Hut zum Morgenspaziergang bereit gelegt und wußte so viele Neuigkeiten, daß sich Tom halb tot wunderte. Schien es ihm doch, als wäre sie die ganze Nacht aufgewesen und hätte sie gesammelt, nur um ihn in der Frühe damit unterhalten zu können. – Mr. Nadgett sei immer noch nicht nach Hause gekommen, erzählte sie, und dann sei unten ein Laib Brot für einen Penny zu haben, der Tee sei zweimal so stark wie sonst, der Mann der Milchfrau sei glücklich kuriert aus dem Spital heimgekommen und das krausköpfige Kind gegenüber habe sich verirrt und wäre gestern den ganzen Tag nicht zu finden gewesen. Dann wieder plauderte sie davon, sie wolle alle möglichen Kompotte einkochen und sei so glücklich, daß sie zufällig gerade die richtige Pfanne dafür im Hause habe – und was in Toms letztem Buche stand, das sie nach Hause gebracht, wußte sie ebenfalls, trotzdem es, wie sie sagte, eine Qual wäre, es zu lesen –, kurz, sie habe ihm so viel zu berichten, daß sie deshalb ihr Frühstück schon vorher eingenommen habe. Dann setzte sie ihren Hut auf, Tee und Zucker wurden eingeschlossen, die Schlüssel kamen in den Strickbeutel, wie gewöhnlich mußte eine Blume Toms Knopfloch zieren, kurz, sie waren früher fertig, als Tom nur irgend erwarten konnte.

Er wurde förmlich geschwätzig durch sie – es war unmöglich, ihr zu widerstehen, so viele Fragen stellte sie über Bücher, über Kirchen und Orgeln, über den Tempel und alles mögliche: mit einem Wort, sie erhellte den ganzen Weg und auch sein Herz mit so viel Glück, daß der Tempel ihm ganz öde und leer vorkam, als er sich am Tore von ihr trennte.

»Vermutlich kommt Mr. Fips‘ Freund auch heute wieder einmal nicht«, sagte er sich, als er die Treppe emporklomm.

Jedenfalls war er noch nicht dagewesen, denn die Türe war wie gewöhnlich verschlossen, und er mußte sie mit seinem Schlüssel öffnen. Er hatte jetzt die Bücher vollständig in Ordnung gebracht, die eingerissenen Blätter geklebt, wo es nötig war, neue Rücken aufgepappt und die vermischten Titel durch neue selbstgeschriebene ersetzt. Es sah jetzt alles so reinlich und ordentlich aus, daß man den Ort gar nicht mehr wiedererkannte. Tom war beinahe stolz, wenn er die Wirkung seines Fleißes betrachtete, ob auch niemand da war, der seine Arbeit gelobt oder getadelt hätte.

Er war eben damit beschäftigt, sein Katalog-Konzept ins reine zu schreiben, und verwendete darauf, da die Sache keine Eile hatte, dieselbe Sorgfalt, die er auch früher schon in Mr. Pecksniffs Atelier auf Pläne und Risse zu verwenden gewohnt war. Es wurde ein wahres Wunder von einem Kataloge, denn Tom fürchtete bisweilen, er verdiene sein Geld viel zu leicht, und hatte sich daher vorgenommen, sein Allerbestes an dieses Dokument zu wenden.

So arbeitete er mit Lineal und Feder, mit Zirkel und Radiergummi und Bleistift, mit roter und schwarzer Tinte den ganzen Morgen drauflos. Er mußte dabei sehr viel an Martin und seine gestrige Zusammenkunft mit ihm denken und kam zur Ansicht, daß es ihm leichter ums Herz werden würde, wenn er sich entschließen könnte, seinem Freunde John die ganze Sache anzuvertrauen. Aber dabei drängte sich ihm der Gedanke auf, John werde in seiner Gutherzigkeit sofort aufbrausen und Martin vielleicht aus Zorn seinem Schutz entziehen. Und wenn das geschah, mußte Martin ein ernstlicher Nachteil daraus erwachsen.

»Da will ich’s doch lieber für mich behalten«, sagte sich Tom und seufzte.

Und wieder fing er an, mit Lineal und Feder, mit Radiergummi und Bleistift, mit roter und schwarzer Tinte darauflos zu arbeiten, um seinen Kummer zu vergessen.

Er hatte ungefähr zwei Stunden geschrieben, als er unten im Torweg einen Schritt hörte. »Ach«, sagte er mit einem Blick auf die Türe, »es ist noch nicht lange her, wo mich ein solcher Ton mit größter Neugierde und Erwartung erfüllt haben würde, aber jetzt hab ich’s nachgerade schon aufgegeben.«

Doch die Fußtritte kamen immer näher – die Treppe herauf.

»Sechsunddreißig, siebenunddreißig, achtunddreißig!« zählte Mr. Pinch. »Jetzt wird er stehenbleiben. Über die achtunddreißigste Stufe ist noch niemand heraufgekommen.«

Allerdings blieb der Mann, oder wer es sonst war, stehen, aber offenbar, nur um Atem zu schöpfen, denn dann kam der Schritt wieder höher herauf: vierzig, einundvierzig, zweiundvierzig – –

Die Türe stand offen. Wie die Schritte näher kamen, blickte Tom gespannt und mit klopfendem Herzen hin. Eine Gestalt kam auf den Treppenabsatz herauf, trat über die Schwelle, blieb stehen und blickte ihn an. Tom erhob sich langsam von seinem Stuhl und glaubte beinahe, einen Geist vor sich zu sehen.

Der alte Martin Chuzzlewit stand da, derselbe alte Herr, den er schwach und gebrechlich bei Pecksniff verlassen hatte.

Derselbe? Nein, nicht derselbe. Dieser alte Mann hier war alt, aber kräftig, lehnte sich rüstig auf seinen Stock und gab mit der andern Hand Tom ein Zeichen, keinen Lärm zu machen. Ein Blick auf das entschlossene Gesicht, das scharfe Auge, die starke Hand auf der Stockkrücke, die ganze fast triumphierende Haltung des Mannes – und plötzlich ging Tom ein Licht auf, das ihn fast blendete.

»Sie haben mich wohl schon lange erwartet?« begann der alte Herr.

»Man hat mir gesagt, mein Prinzipal würde bald kommen« stotterte Tom, »aber –«

»Ist mir bekannt. Sie wußten aber nicht, wer Ihr Chef ist. Ich wollte es ausdrücklich so haben und freue mich, daß meinen Wünschen entsprochen wurde. Ich hoffte schon früher mit Ihnen zusammenzutreffen und glaubte, die Stunde habe schon geschlagen. Ich dachte nicht mehr und nichts Schlimmeres von – ihm – zu hören zu bekommen als damals, wo er Sie in meiner Gegenwart entließ, doch ich hatte mich geirrt.«

Mr. Chuzzlewit war indessen zu Tom herangetreten und faßte jetzt seine Hand.

»Ich habe in seinem Hause gelebt, Pinch, und habe ihn tage-, wochen- und monatelang vor mir kriechen sehen. Sie wissen das. Ich habe mich von ihm, ohne mir etwas anmerken zu lassen, wie ein Werkzeug gebrauchen lassen. – Sie haben es gesehen. Ich habe zehntausendmal mehr gelitten und durchgemacht, als ich ausgehalten haben würde, wenn ich wirklich der elende schwache Greis gewesen wäre, für den er mich hielt. Sie wissen es. Ich habe gesehen, wie er Mary seine Liebe aufdrängen wollte. Sie wissen es, und wer könnte es besser wissen als Sie treuer braver Mensch!? Tag für Tag hatte ich die ganze Niedertracht seiner Denkungsart klar vor Augen, ohne daß ich mich nur ein einziges Mal verraten hätte. Niemals hätte ich diese Pein aushalten können, wäre es mir nicht um die Zukunft – um den jetzigen Augenblick zu tun gewesen.« Er hielt inne, trotz der Leidenschaftlichkeit seiner Sprache – wenn so etwas Festes und Entschiedenes überhaupt Leidenschaft genannt werden kann –, um Tom abermals die Hand zu drücken. Dann fuhr er in großer Erregung fort:

»Schließen Sie die Türe! Schließen Sie die Türe! Geschwind! Er ist hinter mir her und könnte zu früh kommen. Die Zeit rückt jetzt heran«, fügte er hastig hinzu. Seine Augen und sein ganzes Gesicht leuchteten dabei – »die Stunde, die alles wiedergutmachen wird. Aber ich möchte nicht um Millionen, daß ihn der Schlag träfe oder er sich erhängte. Schließen Sie die Türe!«

Tom gehorchte, wußte aber kaum, ob er schlafe oder wache.