Kapitel 3

Der Polizist machte ein würdevolles Gesicht und nahm das Zeichen seines Amtes, den Knüppel, aus der Kaminecke, wo er unbeachtet gelegen hatte, in die Hand.

„Die Frage behandelt die Identität der Person, das haben Sie wohl schon gemerkt?“ sagte der Doktor.

„Allerdings, darüber war ich mir klar“, erwiderte der Polizist mit heftigem Husten, denn er hatte sein Bier so hastig ausgetrunken, daß ihm davon etwas in die Luftröhre gekommen war.

„Es wird in ein Haus eingebrochen“, sprach der Doktor, „und ein paar Menschen sehen für einen Augenblick, mitten im Pulverdampf und im Dunkel der Nacht, die Gestalt eines Knaben. Am nächsten Morgen kommt ein Junge in dasselbe Haus, und weil er zufällig den Arm verbunden hat, legen diese Menschen gewaltsam Hand an ihn. Sie bringen sein Leben durch ihr rohes Zugreifen in Gefahr – und schwören darauf, daß er der Dieb sei. Nun fragt es sich, ob diese Menschen ihr Verhalten rechtfertigen können und, wenn dies nicht der Fall ist, in welche Lage sie sich gebracht haben.“

Der Polizist nickte tiefsinnig mit dem Kopf und meinte, wenn der Herr Doktor sich nicht auf das Recht verstehe, so möchte er wissen, wer es sonst täte.

„Ich frage euch also noch einmal“, brüllte der Doktor, „wollt ihr mit einem feierlichen Eide beschwören, daß dieser Junge mit dem Diebe identisch ist?“

Brittles sah verlegen Herrn Giles an, und dieser blickte zweifelnd auf Brittles. Der Polizist legte die Hand ans Ohr, damit ihm kein Wort der Erwiderung entgehe. Der Doktor sah sich stolz im Kreise um, als man einen Wagen vorfahren und gleich darauf die Haustürklingel ertönen hörte.

„Das sind die Kriminalbeamten“, rief Brittles, anscheinend mächtig erleichtert.

„Wer?“ fragte der Doktor, an den jetzt die Reihe des Erschreckens kam.

„Die Beamten aus Scotland-Yard“, erwiderte Brittles, eine Kerze anzündend, „ich und Herr Giles haben heute früh nach ihnen geschickt.“

„Was?“ brüllte der Doktor.

„Ja“, antwortete Brittles, „ich habe durch den Postkutscher Botschaft gesandt und wundere mich nur, daß sie nicht schon früher gekommen sind.“

„Das tatest du? Dann hole der Teufel – die Dummköpfe in diesem Haus. Das wollte ich nur sagen“, schimpfte der Doktor und stiefelte hinaus.

172

Behandelt einen kritischen Fall

„Wer da?“ fragte Brittles und öffnete die Tür ein wenig, ohne jedoch die Sicherheitskette abzumachen. Die Kerze verdeckte er mit seiner Hand.

„Aufgemacht!“ tönte es von draußen. „Es ist die Kriminalpolizei von Scotland-Yard, nach der heute geschickt wurde.“

Durch diese Antwort beruhigt, öffnete Brittles die Tür weit und sah sich einem stattlichen Manne im Mantel gegenüber, der sofort nähertrat und seine Stiefel ruhig an der Matte reinigte, als ob er hier zuhause sei.

„Schicken Sie doch jemand hinaus, junger Mann, der meinem Kollegen hilft, Pferd und Wagen unterzustellen. Sie haben doch eine Remise hier?“

Brittles bejahte und zeigte nach dem Gebäude, worauf der Beamte selbst zu seinem Kollegen ging, um ihm behilflich zu sein, wobei Brittles ihm achtungsvoll mit der Kerze leuchtete. Nachdem dies erledigt war, führte man die beiden Kriminalpolizisten in ein Zimmer, wo sie die Mäntel ablegten. Der Mann, der an die Tür geklopft hatte, war von Mittelgröße und kräftig gebaut. Er konnte wohl fünfzig Jahre alt sein, trug einen Backenbart und hatte scharfe, durchdringende Augen. Der andere war ein rotköpfiger, hagerer Mann in Stulpenstiefeln mit einem häßlichen Gesicht, in dem eine aufgestülpte Nase saß.

„Sagen Sie Ihrer Herrschaft, daß Blathers und Duff gekommen wären“, begann der ältere, indem er sich ins Haar faßte und dann ein paar Handschellen auf den Tisch legte. „Ah! guten Abend, mein Herr, kann ich einige Worte mit Ihnen allein sprechen?“

Diese Anrede galt Herrn Losberne, der gerade mit den beiden Damen ins Zimmer trat. Dieser winkte Brittles, sich zu entfernen und schloß dann die Tür.

„Dies ist die Dame des Hauses sagte der Doktor mit einer Handbewegung gegen Frau Maylie.

Herr Blathers verbeugte sich, stellte, als man ihn zum Platznehmen aufforderte, seinen Hut auf den Fußboden, nahm einen Stuhl und winkte Duff, das gleiche zu tun. Dieser, anscheinend nicht gewöhnt, sich in guter Gesellschaft zu bewegen, ließ sich erst nach ziemlich vielen Kratzfüßen nieder und steckte dann den Knopf seines Stockes aus Verlegenheit in den Mund.

„Um gleich auf den Einbruchsversuch zu kommen, wie war der Hergang?“ fragte Blathers.

Herr Losberne wollte Zeit gewinnen und erzählte weitschweifig und umständlich die Geschichte. Die Detektive machten dazu pfiffige Gesichter und nickten sich von Zeit zu Zeit zu.

„Ich kann natürlich nichts Bestimmtes sagen, bevor ich den Tatort in Augenschein genommen habe“, sagte Blathers, „meiner unmaßgeblichen Meinung nach, scheint der Versuch nicht von einem Kaffer gemacht worden zu sein. Was hältst du von der Sache, Duff?“

„Ich bin ganz deiner Ansicht“, versetzte dieser.

„Um den Damen die Bedeutung des Wortes Kaffer klar zu machen, darf ich wohl annehmen, daß dieser Einbruchsversuch von keinem, der nicht zur Londoner Einbrecherzunft gehört, gemacht wurde?“ versetzte der Doktor lächelnd.

„Ganz recht, mein Herr“, sagte Blathers. „Ist dies alles, was Sie über den Vorfall zu berichten haben?“

„Ja, alles.“

„Was hat das nun für eine Bewandtnis mit dem Jungen, von dem die Dienerschaft spricht?“

„Gar keine“, entgegnete Herr Losborne. „Einer der bestürzten Diener hat es sich in den Kopf gesetzt, der Junge sei an dem Einbruch beteiligt gewesen. Das ist natürlich Unsinn, eine alberne Einbildung des Dieners.“

„Hm, so leicht darf man die Sache aber doch nicht nehmen“, bemerkte Duff.

„Sehr richtig“, meinte Blathers und nickte zustimmend mit dem Kopf. Er spielte mit den Handschellen, als wenn es ein paar Kastagnetten wären. „Wer ist der Junge? Was erzählt er von sich? Woher kommt er? Er ist doch nicht vom Himmel gefallen, nicht wahr?“

„Natürlich nicht“, versetzte der Doktor, den Damen einen unruhigen Blick zuwerfend. „Ich kenne seine ganze Geschichte – wir können ja nachher davon sprechen. Ich dachte, Sie wollten erst den Tatort besichtigen?“

„Allerdings“, erwiderte Blathers. „Das machen wir zuerst, und dann vernehmen wir die Dienstboten. So ist der gewöhnliche Geschäftsgang.“

Man brachte nun Lichter herbei, und die Herren Blathers und Duff, begleitet von dem Ortspolizisten, Giles, Brittles – kurz allen Anwesenden – begaben sich zu dem kleinen Fenster und sahen hinaus; dann ging man über den Rasenplatz und guckte durch das Fenster hinein. Darauf wurde der Fensterladen besichtigt und der Erdboden auf Fußspuren untersucht. Mit einer Heugabel stach man in die Büsche. Die Zuschauer folgten diesem Verfahren mit gespanntem Interesse; dann ging man wieder ins Haus, wo Herr Giles und Brittles ihre Aussagen machten. Nach Beendigung dieses Verhörs verließen Blathers und Duff das Zimmer und hielten eine lange Beratung ab, gegen die eine Besprechung großer Ärzte über einen schwierigen Krankheitsfall – was das Feierliche und Geheimnisvolle anbelangt – ein reines Kinderspiel war.

Unterdessen ging Losberne im anstoßenden Zimmer auf und ab, und Frau Maylie und Rosa zeigten auch ängstliche Mienen.

„Auf mein Wort“, sprach er nach einer Weile plötzlich stehenbleibend, „ich weiß wirklich nicht, was hier zu tun ist.“

„Gewiß wird eine wahrheitsgetreue Erzählung der Geschichte des armen Jungen genügen, um ihn bei den Kriminalbeamten zu entlasten“, meinte Rosa.

„Das bezweifle ich“, entgegnete der Doktor mit dem Kopfe schüttelnd. „Ich glaube nicht, daß ihm das, weder bei den Detektiven noch bei den höheren Polizeibeamten, zum Vorteil gereichen würde. Sie würden sagen, in jedem Fall ist er ein aus der Lehre entlaufener Bursche. Und außerdem ist seine Geschichte, vom Wahrscheinlichkeitsstandpunkt betrachtet, eine höchst zweifelhafte.“

„Sie schenken ihr doch aber Glauben?“ fiel Rosa hastig ein.

„Ja, das tue ich, so seltsam sie auch ist, vielleicht bin ich aber deshalb auch ein alter Esel“, erwiderte der Doktor. „Nichtsdestoweniger halte ich sie nicht für eine Geschichte, die einen erfahrenen Polizeibeamten zufriedenstellen kann.“

„Warum denn nicht?“ fragte Rosa.

„Aus dem einfachen Grunde, mein liebes Fräulein Rosa, weil für die Auffassung dieser Herren soviel böse Punkte darin vorkommen. Der Junge kann nur das, was gegen ihn, aber nicht das, was für ihn spricht, beweisen. Der Teufel hole die Gesellen, aber sie wollen stets das ‚Weshalb‘ und ‚Warum‘ wissen und glauben Sachen nicht, die nicht bewiesen sind. Er gesteht selbst, daß er einige Zeit mit Dieben zusammen gehaust hat, und daß er wegen Taschendiebstahls angeklagt vor dem Polizeirichter gestanden hat. Dann ist er gewaltsam aus dem Hause des Herrn, der ihn aufnahm, nach einem Ort entführt worden, den er nicht beschreiben kann, ja, von dessen Lage er nicht die geringste Ahnung hat. Er wird von Menschen, die ganz gewaltig auf ihn versessen zu sein scheinen, zwangsweise nach Chertsey gebracht und zum Zwecke der Plünderung eines Hauses durch ein Fenster gesteckt. Als er Lärm machen und etwas tun will, das seine Absichten in ein günstiges Licht stellen könnte, verrennt ihm ein verwünschter Hausmeister den Weg und schießt auf ihn. Grade als wäre alles darauf abgesehen, das zu verhindern, was ihm nützen könnte. Sehen Sie das nicht ein?“

„Doch“, sagte Rosa und mußte über des Doktors Aufregung lächeln. „Aber das beweist doch nicht, daß der Junge ein Verbrecher ist!“

„Natürlich nicht!“ erwiderte Herr Losberne etwas ironisch. „Der Herr segne den Scharfblick des weiblichen Geschlechts. Die Frauen sehen im Guten wie im Bösen immer nur die eine Seite einer Sache, und zwar immer die, welche sich ihnen zuerst gezeigt hat.“

Nachdem der gute Doktor diesen Erfahrungssatz von sich gegeben hatte, steckte er die Hände in die Taschen und nahm sein Hin- und Herlaufen im beschleunigten Zeitmaß wieder auf.

„Je mehr ich darüber nachdenke“, fuhr er nach einer Weile fort, „desto zahlreichere und größere Schwierigkeiten und Scherereien sehe ich voraus, wenn wir diesen Leuten die wahre Geschichte des Jungen erzählen. Ich bin überzeugt, daß sie sie nicht glauben werden; und selbst wenn man ihm am Ende nichts anhaben kann, so muß doch das ganze Untersuchungsverfahren mit dem damit verbundenen Schmutzaufrühren Ihren wohlwollenden Plan, den Jungen seiner elenden Lage zu entreißen, stark beeinträchtigen.“

„Ach, was ist da zu tun?“ rief Rosa. „Warum hat man nur nach der Kriminalpolizei geschickt?“

„Ich gäbe wer weiß was darum, wenn man das ungeschehen machen könnte“, sagte Frau Maylie.

„Das einzige, was wir tun können“, meinte der Doktor und setzte sich ergeben auf einen Stuhl, „ist, daß wir die Kerle durch Unverschämtheit zu verblüffen suchen. Da der Zweck ein guter ist, sind die Mittel geheiligt. Der Junge hat Fieber und ist nicht vernehmungsfähig; das ist ein Trost. Wir müssen diesen Umstand ausnutzen, hoffentlich gelingt’s – Herein!“

„Nun, mein Herr“, sagte Blathers, der jetzt mit seinem Kollegen ins Zimmer trat, aber bevor er zu sprechen begann, die Tür sorgfältig schloß, „das ist kein geschobenes Ding.“

„Zum Teufel, was meinen Sie mit geschobenem Ding?“ fragte der Doktor ungeduldig.

„Wir nennen das ein geschobenes Ding“, sagte der Polizist zu den Damen gewandt, als ob er sie um ihre Unwissenheit bemitleide, den Doktor aber aus demselben Grunde verachte, „wenn die Dienerschaft bei dem Einbruch beteiligt ist.“

„Wir hatten sie auch nicht in Verdacht“, sagte Frau Maylie.

„Schon möglich, gnädige Frau“, erwiderte Blathers, „das Personal hätte aber trotzdem die Hand mit im Spiel haben können. Es ist übrigens meisterhafte Arbeit, hier war sicher einer von der Londoner Einbrecherzunft am Werk!“

„Wirklich, prächtige Arbeit“, fügte Duff leise hinzu.

„Es waren zwei Einbrecher, die einen Jungen bei sich hatten, der durch das kleine Fenster mußte. Mehr läßt sich für den Augenblick nicht sagen. Wir möchten uns den Jungen oben doch einmal ansehen!“

„Darf ich den Herren zuerst etwas zu trinken anbieten?“ sagte der Doktor, und sein Gesicht glänzte vor Freude über seinen Einfall.

„Gewiß“, rief Rosa eifrig, „sie sollen im Augenblick bedient werden.“

„Wir nehmen dankend an, gnädiges Fräulein“, sagte Blathers und fuhr sich mit dem Rockärmel über den Mund. „Solche Verhöre machen die Kehle trocken. Bitte, keine Umstände unsertwegen, was gerade zur Hand ist.“

„Was wäre Ihnen am liebsten?“ fragte der Doktor, der jungen Dame zum Büfett folgend.

„Einen Tropfen Brandy, Herr, wenn es Ihnen gleich ist. Es war kalt auf dem Wege von London hierher, und ich finde immer, ein Gläschen Brandy wärmt das Herz so angenehm!“

Diese interessante Feststellung war an Frau Maylie gerichtet, die sie sehr freundlich aufnahm. Der Doktor schlüpfte inzwischen aus dem Zimmer.

„Ja, meine Damen“, sagte Blathers und hob das Glas hoch, „ich habe während meiner Dienstzeit eine ganze Anzahl solcher Fälle bearbeitet.“

„Zum Beispiel den Einbruch in Edmonton“, sagte Duff, dem Gedächtnisse seines Kollegen nachhelfend.

„Ja, das war ein ganz ähnlicher Fall, nicht wahr?“ meinte Herr Blathers. „Conkey Chickweed war der Täter!“

„Das hast du immer gesagt“, erwiderte Duff, „aber ich behaupte, es war die Familie Pet, und Conkey hatte daran keinen größeren Anteil als ich selber.“

„Ach geh“, entgegnete Blathers, „ich weiß das besser. Erinnerst du dich, daß damals auch Conkey sein Geld gestohlen wurde? Was das für ein Aufsehen machte! Mehr als der neuste Sensationsroman!“

„Wie war das?“ fragte Rosa, ängstlich besorgt, die unwillkommenen Gäste bei guter Laune zu erhalten.

„Das war ein Spitzbubenstreich, gnädiges Fräulein, auf den kaum irgendein anderer verfallen wäre“, antwortete Blathers. „Der Conkey Chickweed also hatte ein Wirtshaus, der Battlebrücke gegenüber, und einen Keller, wo viele junge Lords hinkamen, um den Hahnenkämpfen, Dachshetzen und dergleichen zuzuschauen. Er gehörte damals noch nicht zur Diebeszunft; da wurden ihm einmal mitten in der Nacht dreihundertsiebenundzwanzig Guineen, in einem Sacke befindlich, von einem großen Mann mit einem schwarzen Pflaster über dem Auge aus seiner Schlafstube gestohlen. Der Dieb, der sich unter dem Bette versteckt hatte, sprang nach der Tat aus dem Fenster. Aber Conkey war nicht weniger flink, durch das Geräusch geweckt, fuhr er schnell aus seinem Bett heraus, und schoß eine Kugel auf den Flüchtling ab; er brachte durch den Knall die ganze Nachbarschaft auf die Beine. Bei näherer Untersuchung ergab sich, daß Conkey den Dieb getroffen hatte, denn man konnte auf einer ziemlichen Strecke Blutspuren verfolgen, die sich schließlich verloren. Das Geld aber war weg, und Herr Chickweed machte Bankerott. Man eröffnete Subskriptionen für den armen Mann und ließ Sammellisten und, weiß der Henker, was noch alles für ihn herumgehen. Dieser lief mit gerauftem Haar wie ein Verrückter durch die Straßen, und man befürchtete, er würde sich ein Leid antun. Eines Tages kam er in fliegender Eile auf die Polizei und hatte eine geheime Unterredung mit dem Polizeirichter, der am Schluß derselben nach Jem Spyers klingelte und diesen, einen unserer tüchtigsten Detektive, beauftragte, Herrn Chickweed bei der Ergreifung des Diebes zu helfen. ‚Ich sah ihn gestern morgen an meinem Hause vorbeigehen‘, sagte Chickweed. ‚Warum haben Sie ihn nicht gleich am Kragen gepackt?‘ fragte Spyers. – ‚Ich war so bestürzt, daß man mir den Schädel mit einem Zahnstocher hätte einschlagen können. Wir werden ihn aber bestimmt erwischen, denn zwischen zehn und elf Uhr abends kam er wieder vorbei.‘ Spyers hatte dies kaum gehört, als er seine Reisetasche packte und mit Conkey fortging. Er setzte sich in Conkeys Wirtshaus hinter einen Fenstervorhang, den Hut auf dem Kopf, um jederzeit zur Verfolgung bereit zu sein. Plötzlich, in später Nacht, fing Chickweed zu schreien an: ‚Da ist er! Haltet den Dieb!‘ Jem Spyers stürzt hinaus und sieht Chickweed, in einem fort rufend, durch die Straßen rennen. Von allen Seiten eilen Leute herbei, und überall schallt der Ruf ‚Diebe!‘, wobei Chickweed am lautesten schreit. Spyers verliert ihn an einer Ecke eine Minute aus dem Gesicht – schießt herum – sieht eine kleine Gruppe – dringt hinein. ‚Welches ist der Dieb?‘ – ‚Verflucht‘, sagt Chickweed, ‚ich hab‘ ihn wieder verloren!'“

„Das war merkwürdig, aber da man keinen Dieb fand, so gingen sie wieder ins Wirtshaus zurück. Am nächsten Morgen saß Spyers wieder auf seinem Posten hinter dem Fenstervorhang und guckte sich nach einem großen Mann mit einem schwarzen Pflaster schier die Augen aus. Endlich konnte er sich nicht enthalten, sie für eine Minute zu schließen, und im Augenblick hörte er Chickweed brüllen: ‚Da ist er!‘ Er rannte abermals hinaus, Chickweed die halbe Straßenlänge voraus, und nach einem zweimal so langen Rennen als gestern hatte man den Dieb wieder aus dem Gesicht verloren. Dies wiederholte sich noch verschiedene Male, bis die eine Hälfte der Nachbarn meinte, Herr Chickweed sei vom Teufel bestohlen worden, der ihn außerdem noch nachträglich foppe, während die andere Hälfte sagte, der arme Herr Chickweed sei vor Kummer närrisch geworden.“

„Und was sagte Jem Spyers?“ fxagte der Doktor, der kurz nach Geschichtsanfang wieder ins Zimmer getreten war.

„Der sagte zuerst gar nichts“ fuhr Blathers fort, „horchte aber auf alles, ohne daß man es merkte. Ein deutlicher Beweis, daß er sein Geschäft verstand. Eines Morgens aber trat er an den Schenktisch, zog seine Schnupftabaksdose heraus und sagte: ‚Chickweed, ich hab’s heraus, wer diesen Diebstahl begangen hat.‘ – ‚Wirklich?‘ versetzte Chickweed, ‚ach, lieber Spyers, ich will zufrieden sterben, wenn ich an diesem Spitzbuben gerächt bin! Wo ist er?‘ – ‚Ach‘, sagte Spyers und bot ihm eine Prise an, ‚lassen Sie doch diese faulen Witze – Sie haben es selbst getan.‘ – Und so war’s auch, und er hatte ein schönes Stück Geld damit gemacht. Wäre er nicht so ängstlich bemüht gewesen, allen bösen Schein zu vermeiden, so wäre die Geschichte nie ans Licht gekommen!“ schloß Herr Blathers. Er setzte sein Glas auf den Tisch und spielte wieder mit den Handschellen.

„In der Tat, ein merkwürdiger Fall“, meinte der Doktor. „Wenn es Ihnen recht ist, können wir jetzt zu dem Jungen hinaufgehen.“

Herr Giles leuchtete den beiden Beamten und Herrn Losberne nach Olivers Zimmer.

Dieser hatte geschlafen, aber er sah kränker und fiebriger aus als vorher. Er richtete sich mit des Doktors Hilfe im Bette auf, blickte verständnislos auf die Fremden und schien keine Ahnung davon zu haben, wo er sich befand.

„Das“, sagte Herr Losberne lebhaft, aber mit leiser Stimme, „ist der Junge, der auf eines Nachbarn Grundstück durch Selbstschuß verwundet wurde und heute morgen hier um Hilfe anklopfte. Er wurde dann sogleich von diesem schlauen Herrn da, der die Kerze in der Hand hat, ergriffen und in einer Weise mißhandelt, die lebensgefährlich genannt zu werden verdient. Ich sage das als Sachverständiger.“

Herr Giles blickte verdutzt auf die Polizeibeamten und den Doktor.

„Ich nehme an, Sie wollen das nicht ableugnen“, sagte der Doktor und legte Oliver wieder in die Kissen zurück.

„Es geschah alles in der besten Absicht“, antwortete Giles. Gewiß – ich dachte, es wäre der Junge, sonst hätte ich mich nicht in der Weise an ihm vergriffen. Icb bin doch kein brutaler Kerl, Herr Doktor.“

„Sie dachten, es wäre wessen Junge?“ fragte Blathers.

„Des Einbrechers Junge“, antwortete Giles. „Sie hatten einen Jungen bei sich.“

„Glauben Sie das noch?“

„Was, glauben?“ fragte Giles mit leerem Blick.

„Daß es derselbe Junge ist, den die Einbrecher bei sich hatten, Idiot!“ sagte Blathers ungeduldig.

„Ich weiß nicht, weiß es wirklich nicht“, sprach Giles mit Jammermiene. „Drauf schwören, daß er es ist, kann ich nicht.“

„Nun, wofür halten Sie ihn denn?“

„Ich weiß nicht, wofür ich ihn halten soll. Ich glaube nicht, daß es der Junge ist, ich möchte sagen, ich weiß es fast gewiß, daß er es nicht sein kann. Sie wissen, es ist nicht möglich.“

„Hat der Mann getrunken?“ fragte Blathers den Doktor.

„Sie sind wirklich ein richtiger Konfusionsrat“, sagte Duff zu Giles mit verächtlicher Miene.

Der Doktor hatte währenddessen Olivers Puls gefühlt, er bemerkte nun, daß, wenn die Herren noch Zweifel hätten, so möchten sie so gut sein und in das anstoßende Zimmer gehen und dort Brittles verhören.

Die beiden Beamten begaben sich nun in das nächste Gemach und vernahmen Brittles. Dieser verwickelte sich in so viele Widersprüche, daß daraus nur seine eigene Unklatheit deutlich wurde. Er erklärte, daß er den Jungen des Einbrechers, wenn man ihm denselben vorführen würde, nicht wiedererkennen würde. Er habe Oliver nur für diesen Jungen gehalten, weil Herr Giles sagte, er wäre es. In der Küche habe eben Herr Giles aber gesagt, er fürchtete, in der Sache ein wenig voreilig gewesen zu sein.

Es wurde nun die Frage aufgeworfen, ob Herr Giles überhaupt jemand getroffen habe. Als man die zweite Pistole untersuchte, stellte sich heraus, daß sie nur mit Pulver geladen war. Diese Entdeckung machte auf alle einen tiefen Eindruck – nur auf den Doktor nicht, der einige Minuten vorher die Kugel herausgezogen hatte. Nun überließen die Kriminalbeamten, ohne sich weiter um Oliver zu kümmern, das Haus der Obhut des Ortspolizisten und nahmen ihr Nachtlager in der Stadt. Am nächsten Morgen wollten sie wiederkommen.

Des anderen Tages verbreitete sich das Gerücht, daß sich im Gefängnis von Kingston zwei Männer und ein Junge befänden, die in der Nacht unter verdächtigen Umständen aufgegriffen worden seien. Blathers und Duff begaben sich sofort dorthin. Eine genaue Untersuchung stellte fest, daß die Männer schlafend in einer Scheune gefunden waren. Obgleich dies nun ein „großes“ Verbrechen war, konnte es doch nur mit Gefängnis bestraft werden. In Ermangelung aller weiteren Zeugnisse vermochte man es aber nicht als einen genügenden Beweis zu betrachten, daß die Schläfer einen mit Gewalttat verbundenen Einbruch begangen hätten und damit der Todesstrafe verfallen wären. Die beiden Detektive kehrten also ebenso klug zurück, wie sie hingegangen waren.

Um uns kurz zu fassen – nach einigem Hin und Her ließ sich der benachbarte Friedensrichter leicht bewegen, Frau Maylies und Herrn Losbernes Bürgschaft dafür anzunehmen, daß Oliver, falls verlangt, vor Gericht erscheine. Blathers und Duff, mit einigen Guineen von Frau Maylie belohnt, kehrten mit grundverschiedenen Ansichten von der Sache nach London zurück. Der letztere neigte nach reiflicher Erwägung aller Umstände zu dem Glauben, daß der Einbruch von der Familie Pet verübt sei, während ersterer zu dem Schlusse kam, daß einzig und allein der große Herr Conkey Chickweed die Tat ausgeführt haben könnte.

Inzwischen erholte sich Oliver allmählich unter Frau Maylies, Rosas und des guten Doktors Pflege.

Von dem glücklichen Leben, das Oliver bei seinen gütigen Beschützerinnen zu führen anfing

Oliver hatte viel Schmerzen auszustehen. Die Wunde tat arg weh, und dazu gesellte sich noch ein heftiges Fieber, das viele Wochen anhielt und ihn sehr herunterbrachte. Endlich fing es an mit ihm besser zu werden, und er konnte unter Tränen seinen Dank abstatten und sagen, wie tief er die Güte der Damen empfinde. Er wünschte und hoffte, ihnen nach seiner Genesung Beweise seiner Dankbarkeit geben zu können. Er sehne sich danach, ihnen irgendwie dienen zu können, damit sie sähen, daß sie ihre Güte nicht an einen Unwürdigen verschwendet hätten.

„Liebes Kind“, sagte Rosa, „du wirst manche Gelegenheit dazu haben. Wir gehen aufs Land, und meine Tante will dich mitnehmen. Die ländliche Ruhe und die reine Luft werden dich in kurzer Zeit wieder ganz gesund machen, dann wollen wir dich auf hunderterlei Art beschäftigen, sobald du der Mühe gewachsen bist.“

„Mühe?“ rief Oliver. „Ach, liebes Fräulein, wenn ich nur für Sie arbeiten oder Ihnen eine Freude machen könnte, indem ich Ihre Blumen begösse, Ihre Vögel pflegte oder Gänge für Sie machte. Ich würde wer weiß was darum geben!“

„Gar nichts sollst du darum geben“, versetzte Rosa lächelnd, „denn wie ich schon vorhin sagte, wirst du dich auf vielerlei Art nützlich machen können. Wenn du nur die Hälfte davon hältst, was du jetzt versprichst, so wirst du mich sehr glücklich machen.“

„Glücklich?“ rief Oliver aus. „Wie lieb sind Sie!“

„Du wirst mich glücklicher machen, als ich dir sagen kann“, entgegnete die junge Dame. „Schon der Gedanke, daß meine liebe Tante das Werkzeug Gottes gewesen ist, jemand aus einer so unglücklichen Lage, wie du sie beschrieben hast, zu erretten, gewährt mir eine unaussprechliche Freude. Aber die Überzeugung, daß ihr Schützling in aufrichtigem Danke ihr zugetan ist, macht mich überglücklich. Verstehst du mich?“ fragte sie, Olivers nachdenkliches Gesicht betrachtend.

„O ja, Fräulein“, antwortete Oliver hastig. „Aber es fiel mir eben ein, daß ich jetzt schon undankbar bin.“

„Gegen wen?“ fragte Rosa.

„Gegen den gütigen Herrn und die liebe alte Dame, die sich meiner so herzlich angenommen haben. Ich weiß bestimmt, sie würden sich freuen, wenn sie erführen, daß ich hier so glücklich bin.“

„Das glaube ich auch, und Herr Losberne hat sich bereits vorgenommen, mit dir dort einen Besuch zu machen, sobald es dein Zustand erlaubt.“

„Wirklich, Fräulein?“ rief Oliver, und sein Gesicht strahlte. „Ach, ich wüßte mich vor Freude nicht zu lassen, wenn ich die lieben Menschen wiedersehen würde.“

Nach ziemlich kurzer Zeit war Oliver so weit wiederhergestellt“ daß er die kleine Reise zu Herrn Brownlow wagen durfte. In einem kleinen Wagen der Frau Maylie fuhr er zusammen mit Herrn Losberne nach Pentonville. Als sie an die Chertseybrücke kamen, erblaßte Oliver und stieß einen lauten Schrei aus.

„Was ist los?“ fragte der Doktor mit seiner gewöhnlichen Lebhaftigkeit. „Siehst du etwas? Hörst du etwas? Fühlst du etwas – wie?“

„Dort, Herr Doktor, jenes Haus!“

„Ja – was ist damit? Halt, Kutscher! – Was ist mit dem Hause, Junge, he?“

„Die Diebe – in jenes Haus haben sie mich mitgenommen“, flüsterte Oliver.

„Donnerwetter! Halt, Kutscher, ich will aussteigen!“

Aber ehe noch der Kutscher halten konnte, war der Doktor schon aus dem Wagen gesprungen. Er lief auf das Haus zu und begann wie toll an die Tür zu klopfen.

„Hallo, was soll der Lärm?“ schrie ein kleiner, buckliger Mann und öffnete die Tür so plötzlich, daß Losberne beinahe ins Haus gefallen wäre.

„Was das soll?“ brüllte er und packte das Männchen am Kragen. „Gar viel. Es ist von Raub und Einbruch die Rede.“

„Und auch bald von Mord“, versetzte der Bucklige kaltblütig, „wenn Sie mich nicht sofort loslassen, verstanden?“

„Ich verstehe sehr gut“, entgegnete der Doktor und schüttelte ihn kräftig. „Wo ist – Donnerwetter, wie heißt doch gleich der verdammte Spitzbube – Sikes – richtig. – Wo ist Sikes, Halunke?“

Der Bucklige starrte ihn entrüstet und wütend an, entwand sich dann durch eine geschickte Bewegung den Händen des Doktors und zog sich in das Haus zurück, schreckliche Flüche ausstoßend. Ehe er jedoch die Tür zumachen konnte, war Herr Losberne, ohne ein Wort zu sprechen, ins Zimmer eingedrungen. Er sah sich schnell um, aber nichts entsprach Olivers Beschreibung vom Hause.

„Nun“, sagte das Männchen, „was soll das bedeuten, daß Sie so gewaltsam in mein Haus eindringen? Wollen Sie mich berauben – oder ermorden?“

„Hast du jemals gehört, daß man in dieser Absicht im Wagen vorgefahren kommt und sich Zeugen mitbringt, du alter Idiot?“ brüllte der nervöse Doktor.

„Zum Teufel, was wollen Sie denn sonst?“ fragte der Bucklige heftig. „Wenn Sie sich nicht augenblicklich ‚rausscheren, gibt’s ein Unglück.“

„Ich werde gehen, wenn es mir paßt“, sagte Losberne und guckte in ein anderes Zimmer. Es hatte aber auch keine Ähnlichkeit mit dem von Oliver beschriebenen. „Ich werde schon einmal dahinterkommen, Freundchen!“

„So – wirklich?“ höhnte der bucklige Krüppel. „Ich bin immer hier zu finden, wenn Sie mich suchen. Ich habe in diesem Hause fünfundzwanzig Jahre lang, und von den Leuten als Verrückter gemieden, gelebt. Ich laß mich von Ihnen nicht schikanieren. Dafür sollen Sie mir büßen.“ Er schrie und brüllte in höchster Wut wie ein Wahnsinniger.

„Dumme Sache“, murmelte der Doktor, „der Junge muß sich getäuscht haben. – Hier – steckt das ein und haltet’s Maul.“ Er warf dem Buckligen ein Geldstück zu und ging zum Wagen zurück.

Das kleine Männchen folgte ihm unter gräßlichen Flüchen und Verwünschungen an den Wagenschlag und warf auf Oliver voller Haß und Wut einen Blick, der den armen Jungen im Wachen und Träumen noch monatelang verfolgte. Das Herumtoben hörte gar nicht auf, und noch aus der Entfernung konnte man das kleine Scheusal schreien hören und sich die Haare raufen sehen.

„Ich bin ein Esel“, sagte der Doktor nach einer langen Pause. „Wußtest du das schon vorher, Oliver“

„Nein, Herr Doktor!“

„Dann merke es dir für ein andermal.“

„Ein Esel!“ wiederholte Herr Losberne nach einer weiteren Pause. „Selbst wenn es das richtige Haus war und die Verbrecher drin, was hätte ich als einzelner machen können? Und hätte ich auch ausreichenden Beistand gehabt, hätte es mir doch nichts genützt. Im Gegenteil, die ganze Geschichte, welche ich vertuschen wollte, wäre ans Tageslicht gekommen. Wäre mir aber ganz recht geschehen, ich bringe mich immer von einer Patsche in die andere durch mein unbeherrschtes Wesen. So hätte es nur als Warnung dienen können.“

Der treffliche Doktor hatte sein ganzes Leben lang nie anders als nach den Eingebungen des Augenblicks gehandelt. Es gereichte aber seinem Herzen, aus dem sie kamen, nicht zur Unehre, daß er sich dadurch die Liebe und Achtung aller derjenigen erwarb, die ihn kannten. Um die Wahrheit zu gestehen, er war darüber ärgerlich, daß es ihm bei dieser Gelegenheit nicht gelungen war, einen überzeugenden Beweis für die Richtigkeit von Olivers Erzählungen zu erhalten. Doch die Verstimmung währte nicht lange, und da Olivers Antworten auf seine Fragen klar und bestimmt gegeben wurden und den früheren auch nicht widersprachen, so nahm er sich vor, ihnen in Zukunft vollen Glauben zu schenken.

Da Oliver den Namen der Straße kannte, in der Herr Brownlow wohnte, so bedurfte es keiner weiteren Nachfrage. Als die Kutsche um die Ecke bog, und Oliver das Haus sah, schlug sein Herz zum Zerspringen.

„Nun, wo ist’s?“ fragte Herr Losberne.

„Dort, das weiße Gebäude“, erwiderte der Junge, hastig aus dem Fenster zeigend. „Ach, lassen Sie schnell fahren, es ist mir, als müßte ich vergehen. Ich zittere am ganzen Leibe.“

„Beruhige dich, Junge“, sagte der Doktor und klopfte Oliver beschwichtigend auf die Schultern. „Gleich bist du da, und sie werden mächtig erfreut sein, dich gesund und munter wiederzusehen.“

„Ach, das hoffe ich auch. Sie waren so gut, so furchtbar gut zu mir.“

Die Kutsche rollte weiter. Sie hielt nun. – Nein, das war nicht das rechte Haus – das nächste. Man fuhr weiter und machte abermals halt. Oliver sah aus dem Fenster, und Tränen der Freude rollten ihm über die Backen.

Aber ach, das Haus war leer. Am Fenster klebte ein Zettel mit der Aufschrift. Zu vermieten!

„Wir wollen im nächsten Haus fragen“, rief der Doktor, Oliver am Arm nehmend. – „Können Sie uns nicht sagen, was aus Herrn Brownlow geworden ist, der nebenan gewohnt hat?“

Das Dienstmädchen wußte es nicht, wollte aber fragen gehen. Sie kam schnell wieder zurück und sagte, Herr Brownlow hätte alle seine Besitzungen verkauft und wäre vor sechs Wochen nach Westindien gegangen. Oliver rang die Hände und taumelte zurück.

„Hat er seine Hausdame auch mitgenommen?“ fragte Herr Losberne nach kurzer Pause.

„Ja“, antwortete das Mädchen. „Der alte Herr, die Hausdame und ein Freund von Herrn Brownlow – alle reisten miteinander.“

„Also wieder nach Hause“, rief der Doktor dem Kutscher zu. „Die Pferde können Sie füttern, wenn wir dieses verfluchte London erst mal im Rücken haben!“

„Wollen wir nicht zu dem Buchhändler, ich kenne den Weg. Besuchen Sie ihn doch“, bat Oliver.

„Lieber Junge, wir haben heute genug Enttäuschungen erlebt“, sagte der Doktor. „Für uns beide gerade hinreichend. Wenn wir zu dem Buchhändler führen, würden wir sicher hören, er sei tot oder weggelaufen oder hätte sein Haus angezündet. Nein, nein wir fahren nach Hause.“

Dieses Mißgeschick verursachte Oliver inmitten seines Glückes vielen Kummer. Hatte es ihm doch während seiner Krankheit manche frohe Stunde bereitet, wenn er sich ausmalte, wie sich Herr Brownlow und Frau Bedwin freuen würden, ihn wiederzusehen. Auch hatte die Hoffnung, sich ihnen gegenüber rechtfertigen zu können, ihn in seinen neuen ihm auferlegten Prüfungen aufrecht erhalten. Er erlag fast dem Gedanken, daß sie so weit fortgezogen seien mit dem Glauben, er wäre ein Betrüger und Dieb – einem Glauben, den ihnen zu nehmen, er vielleicht bis zu seinem Tode nicht imstande war.

Das Benehmen seiner Wohltäter gegen ihn blieb unverändert freundlich. Als nach vierzehn Tagen schönes, warmes Wetter einzutreten begann, und Sträucher und Bäume sich in frisches Grün kleideten, traf man Anstalten, die Villa in Chertsey auf einige Monate zu verlassen. Das Silberzeug, welches die Habgier des Juden so erregt hatte, wurde der Bank in Verwahrung gegeben, und die Bewachung des Hauses Giles und einem anderen Diener anvertraut. Dann reisten die Damen aufs Land und nahmen Oliver mit.

Der neue Aufenthalt unserer Familie war ein ungemein liebliches Fleckchen Erde, und für Oliver, der bisher seine Tage fast immer in dumpfigen Räumen zugebracht hatte, schien ein neues Leben zu erblühen. Rosen und Geißblatt umrankten die Wände des Häuschens. Efeu kroch um die Stämme der Bäume, und die Blumen des Gartens erfüllten die Luft mit ihrem Duft. In der Nähe befand sich ein kleiner Gottesacker, unter dessen niedrigen Rasenhügeln die alten Leute des Dorfes ihren letzten Schlaf schliefen. Oliver machte hierher oft seinen Spaziergang, setzte sich manchmal, wenn er des ärmlichen Grabes seiner Mutter gedachte, an einem der Hügel nieder und schaffte seinem Herzen durch Tränen Erleichterung.

Es war eine glückliche Zeit. Froh und heiter entschwanden ihm die Tage, und die Nächte brachten ihm nur freundliche Träume. Alle Morgen besuchte er einen in der Nähe der kleinen Kirche wohnenden alten Herrn im Silberhaar, der ihn besser lesen und schreiben lehrte und sich so große Mühe mit ihm gab, daß Oliver alles aufbot, um ihm recht viel Freude zu machen. Dann ging er mit Frau Maylie oder Rosa spazieren, oder saß neben ihnen im Garten und hörte aufmerksam zu, wenn die junge Dame vorlas. Nachher hatte er für den nächsten Tag seine Aufgaben zu lernen, mit denen er in einem kleinen Gartenzimmer eifrig beschäftigt war, bis der Abend herankam, und die Damen ihn abermals auf ihre Spaziergänge mitnahmen. Wenn es ganz dunkel geworden war, und sie nach Hause zurückkehrten, setzte sich Rosa gewöhnlich ans Klavier und spielte irgendeine sanfte Weise oder sang mit lieblicher Stimme ein altes Lied, das die Tante zu hören wünschte.

Wenn dann erst der Sonntag kam – wie ganz anders wurde der zugebracht, als er ihn bisher zu verleben gewohnt war. Morgens war er in der Kirche, wo die grünen Blätter um die Fenster rankten. Dann kamen wieder Spaziergänge, und abends las Oliver einige Kapitel aus der Bibel.

Morgens ganz früh war Oliver auf den Beinen, streifte durch die Wiesen und Felder und brachte mächtige Sträuße wildwachsender Blumen nach Hause. Er schmückte damit den Frühstückstisch.

So entschwanden drei Monate, die für Oliver wahre Tage der Seligkeit waren.

In dem das Glück Olivers und seiner Freunde plötzlich einen argen Stoß erleidet

Der Frühling ging schnell dahin, und der Sommer kam. Das ruhige Leben in dem kleinen Häuschen ging unverändert fort, und Frohsinn und Heiterkeit herrschten dort. Oliver war schon lange gesund und kräftig geworden, aber er blieb stets der sanfte, stille, liebevolle Junge, der er in den Tagen war, als er noch der Pflege und Wartung bedurfte.

An einem schönen Sommerabend hatten die Damen einen ungewöhnlich langen Spaziergang gemacht, denn der Tag war sehr heiß gewesen, und der Abendwind hatte etwas Kühlung gebracht. Da man im heiteren Gespräch den Ausflug länger als sonst ausgedehnt hatte, fühlte sich Frau Maylie ziemlich ermüdet, und man kehrte nun langsam nach Hause zurück. Rosa nahm ihren Strohhut ab, setzte sich wie gewöhnlich ans Klavier, und nach einem langen Vorspiel ging sie in eine gehaltene, feierliche Melodie über, während deren man sie auf einmal laut schluchzen hörte.

„Was ist dir, liebes Kind?“ fragte Frau Maylie.

Rosa erwiderte nichts, sondern spielte etwas schneller, als ob die Frage sie aus einem schmerzlichen Gedankengang geweckt hätte.

„Rosa, Liebling!“ rief die alte Dame und eilte zu dem jungen Mädchen, sie umarmend, „was ist mit dir? In Tränen gebadet? Was drückt dich?“

„Nichts, Tante, nichts“, versetzte Rosa. „Ich weiß nicht, was es ist, kann es nicht beschreiben, aber –“

„Du bist doch nicht krank, Liebling?“ unterbrach sie Frau Maylie.

„Ach nein, ich glaube nicht“, erwiderte das junge Mädchen, zusammenschauernd, als wenn ein Fieber sie schüttelte. „Wenigstens wird mir bald wieder besser sein. Bitte schließe das Fenster.“

Oliver beeilte sich, ihrem Wunsche nachzukommen. Das junge Mädchen suchte nun ihre Heiterkeit wiederzugewinnen und fing an, eine lustige Weise zu spielen. Die Finger versagten ihr aber bald den Dienst und fielen kraftlos auf die Tasten. Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, sank aufs Sofa und ließ ihren jetzt hervorquellenden Tränen freien Lauf.

„Mein Kind“, sagte Frau Maylie und schloß sie in die Arme, „so habe ich dich noch nie gesehen!“

„Ich wollte Sie nicht gern in Unruhe versetzen“, sagte Rosa, „aber ich konnte die Tränen nicht aufhalten, soviel Mühe ich mir auch gab. Ich glaube jetzt selbst, Tante, ich bin krank.“

Sie war es auch tatsächlich, denn als Licht hereingebracht wurde, bemerkte man, daß sich ihre gesunde Gesichtsfarbe in der kurzen Zeit seit ihrer Heimkehr in Marmorblässe verwandelt hatte.

Oliver blickte die alte Dame ängstlich an, und sein Herz war beklommen. Als er aber sah, daß die Tante ihre Besorgnis zu verbergen suchte, so bemühte er sich, ein gleiches zu tun. Rosa erklärte nun zu Bett gehen zu wollen und entfernte sich mit der Versicherung, daß sie sich schon besser fühle und hoffe, morgen wieder ganz gesund zu erwachen.

„Fräulein Rosa wird doch nicht ernstlich krank sein, gnädige Frau“, sagte Oliver, als Frau Maylie, die Rosa beigleitet hatte, wieder ins Zimmer trat.

Die alte Dame winkte ihm zu schweigen, setzte sich in eine dunkle Ecke des Raumes und blieb selbst eine Weile stumm. Endlich begann sie mit bebender Stimme:

„Ich hoffe nicht, Oliver. Ich bin mit ihr verschiedene Jahre sehr glücklich gewesen – zu glücklich vielleicht, und es könnte Zeit sein, daß mich wieder ein Unglück trifft. Lieber Gott, bloß das nicht.“

„Was für ein Unglück, gnädige Frau?“

„Das Unglück, das liebe Mädchen zu verlieren“, erwiderte die Dame mit tonloser Stimme. „Sie war so lange mein Trost und mein Glück.“

„Das wolle Gott verhüten!“ rief Oliver hastig.

„Ich sage dazu Amen“, sprach darauf die alte Dame und faltete fromm die Hände.

„Ach, ich glaube, wir haben so etwas Schreckliches nicht zu befürchten, vor zwei Stunden war sie ja noch ganz munter.“

„Aber jetzt ist sie sehr krank, und ich habe Angst, daß es noch schlimmer werden wird. Meine liebe, liebe Rosa, was soll ich anfangen ohne dich!“

Die alte Dame erlag fast ihren trostlosen Vorstellungen und gab sich so sehr ihrem Kummer hin, daß Oliver, seine eigene Herzensangst unterdrückend, sie bat, um des lieben Fräuleins willen gefaßter zu sein.

„Bedenken Sie doch, gnädige Frau“, sagte Oliver und suchte vergebens seine Tränen zurückzudrängen, „wie jung und gut sie ist. Ich bin überzeugt, daß sie um Ihretwillen, die Sie selbst so gut sind, und um unser allerl willen, die sie so glücklich macht, nicht sterben wird. Unmöglich kann Gott sie jetzt schon hinübergehen lassen, so grausam ist er nicht!“

„Still, du denkst und sprichst wie ein Kind“, sagte Frau Maylie und streichelte Oliver das Gesicht. „Aber du hast mir eben eine Lehre gegeben, denn ich hatte meine Pflicht vergessen. Ich hoffe jedoch Vergebung zu finden, denn ich bin alt und habe genug Krankheiten und Tod gesehen, um den Schmerz zu kennen, die sie den Angehörigen zufügen, denen sie das Liebste rauben!“

Es folgte eine bange Nacht, und als der Morgen graute, zeigte es sich nur zu sehr, wie recht Frau Maylie mit ihrer Voraussagung hatte. Rosa lag im ersten Stadium eines heftigen und gefährlichen Fiebers.

„Wir müssen uns tummeln, Oliver, und uns keinem nutzlosen Kummer hingeben“, sagte Frau Maylie, dem Jungen mit tapferer Miene ins Gesicht guckend. „Dieser Brief muß so schnell wie möglich an Herrn Losberne befördert werden. Am besten durch reitenden Boten. Du sorgst dafür, daß es geschieht. Und dann ist hier noch ein anderes Schreiben“, fuhr Frau Maylie nach kurzem Besinnen fort, „ich weiß aber nicht, ob ich es jetzt schon absenden soll. Ich möchte es nur abgehen lassen, wenn das Schlimmste zu befürchten wäre.“

„Soll es auch nach Chertsey, gnädige Frau?“ fragte Oliver und streckte die Hand danach aus.

„Nein“, erwiderte die Dame, indem sie ihn mechanisch hinreichte.

Oliver las die Adresse: Herrn Harry Maylie, in dem Hause eines Lords auf dem Lande, dessen Namen ihm fremd war.

„Soll er abgehen, gnädige Frau?“ fragte Oliver.

„Nein, ich will bis morgen warten.“ Mit diesen Worten gab Frau Maylie Oliver ihre Börse und dieser eilte fort, um den Brief an Herrn Losberne auf die Post zu bringen. Er jagte über die Felder und erreichte bald den Marktplatz des kleinen Fleckens. Vor dem Gasthof mit Namen „Der Georg“ redete Oliver einen Postillion an, der auf einer Bank dahindöste. Er wies ihn an den Wirt, der an einem Brunnen beim Stall lehnte und einen fleißigen Gebrauch von einem silbernen Zahnstocher machte. Dieser Herr schritt bedächtig nach seinem Kontor, um die Posttaxe auszurechnen, was ziemlich lange dauerte. Als dies geschehen und die Bezahlung geleistet war, mußte der Reitknecht sich anziehen und das Pferd satteln. Dadurch vergingen wieder zehn Minuten. Oliver wurde ungeduldig, er wäre am liebsten aufs Pferd gesprungen und selbst mit dem Briefe weggeritten. Endlich war alles bereit, und der Bote gab dem Gaul die Sporen und jagte davon.

Es ist schon etwas, zu wissen, daß keine Zeit verloren gegangen ist, wenn man nach Hilfe geschickt hat. Oliver eilte daher mit erleichtertem Herzen über den Hof und wollte gerade durch den Torweg gehen, als er gegen einen großen Mann rannte, der in einen Mantel gehüllt aus dem Gasthaus trat.

„Donnerwetter, was ist das?“ schrie dieser und prallte zurück.

„Verzeihung, ich wollte schnell nach Hause und habe Sie nicht kommen sehen.“

„Tjod und Teufel!“ brummte der Mann vor sich hin und stierte Oliver mit seinen großen schwarzen Augen an. „Wer hätte das gedacht! Selbst, wenn man ihn zu Staub mahlen würde, stünde er aus seinem Felsengrabe wieder auf und käme mir in die Quere.“

„Es tut mir leid“, stammelte Oliver, betroffen von dem wilden Blick des Mannes. „Es ist Ihnen doch nichts passiert?“

„Krepiere!“ zischte der Fremde wütend durch die zusammengebissenen Zähne. „Hätte ich nur den Mut gehabt, das einzige Wort auszusprechen, so wäre ich ihn in einer Nacht losgeworden. Fluch auf dein Haupt und die Pest in deinen Leib, du Teufelsbraten. Was hast du hier zu schaffen?“

Der Unbekannte drohte mit der Faust, als er diese unzusammenhängenden Worte sprach. Wie er sich jedoch auf Oliver stürzen wollte, um ihn zu schlagen, fiel er plötzlich mit Krämpfen auf die Erde, und dicker Schaum trat ihm auf die Lippen.

Oliver eilte ins Haus, um Hilfe für den Wahnsinnigen herbeizuholen, denn dafür hielt er ihn. Als er ihn in guter Obhut wußte, verlor er keine Zeit und begann mit großer Hast nach Hause zu rennen, dabei nicht ohne Bangigkeit an das merkwürdige Benehmen des Fremden zurückdenkend.

Mit Rosa Maylie war es schlimmer geworden, das Fieber hatte einen hohen Grad erreicht, und sie phantasierte. Ein im Dorfe wohnender Mediziner, der nicht von ihrem Bette wich, hatte Frau Maylie beiseite genommen und ihr erklärt, daß es ein schwerer Fall wäre. Ein Wunder würde es sein, wenn sie wieder aufkäme.

Wie oft sprang in der Nacht Oliver aus dem Bette, um ängstlich und besorgt an der Zimmertür der Kranken zu horchen. Wie heiß und innig betete er für das Leben und die Gesundheit des edlen Midchens.

Der Morgen kam, und das kleine Landhaus war still und öde. Man sprach nur im Flüsterton. Losterne langte erst spät in der Nacht an.

„Es ist furchtbar traurig“, sagte der Doktor, indem er sein Gesicht abwandte, „so jung – von allen geliebt – und so wenig Hoffnung.“

Am nächsten Morgen strahlte die Sonne so herrlich, als ob sie keinen Schmerz zu bescheinen hätte. Oliver schlich nach dem Gottesacker, setzte sich auf einen Grabhügel und weinte bittere Tränen um Rosa. Seine traurigen Gedanken unterbrach das Läuten der Kirchenglocke. Sie rief zu einem Leichenbegängnis. Eine Gruppe Leidtragender trat durch das Friedhofstor – mit weißen Bändern geschmückt, denn es sollte ein Jüngling begraben werden. Sie standen mit entblößten Häuptern um das Grab und weinten. Aber die Sonne schien heiter vom Himmel, und die Vögel sangen lustig in den Zweigen.

Oliver kehrte heim, und als er zu Hause anlangte, saß Frau Maylie in dem kleinen Wohnzimmer. Sein Mut sank, als er sie sah, denn sie hatte das Krankenlager ihrer Nichte nie verlassen. Er erfuhr, daß Rosa in einen tiefen Schlaf verfallen sei, aus dem sie entweder zum Leben oder zum letzten Abschied erwachen würde.

Sie saßen stundenlang, ohne zu sprechen, in Erwartung beieinander und rührten keine Speisen an. Schließlich erfaßten ihre lauschenden Ohren das Geräusch näher kommender Tritte und sie eilten beide zugleich an die Tür, als Herr Losberne eintrat.

„Wie geht es Rosa?“ fragte Frau Maylie. „Schnell, sagen Sie es mir! Ich kann alles, nur nicht diese peinvolle Ungewißheit vertragen! Sprechen Sie, reden Sie, um Himmels willen!“

„Fassen Sie sich“, sagte der Doktor, sie stützend. „Ich bitte, bleiben Sie ruhig, liebe, gnädige Frau!“

„um Gottes Willen, lassen Sie mich! Mein armes Kind! Sie ist tot! Sie liegt im Sterben!“

„Nein!“ sagte der Doktor bewegt. „Da ER gütig und barmherzig ist, wird sie leben, um uns noch viele Jahre zu beglücken.“

Die alte Dame fiel auf die Knie und versuchte, ihre Hände zu falten. Die Willenskraft aber, die sie so lange aufrecht erhalten hatte, versagte mit dem ersten Dankgebet, das sie zum Himmel sandte, und sie sank ohnmächtig in die Arme des herbeieilenden Doktors.

Enthält einige einleitende Bemerkungen über einen jungen Herrn, der jetzt auf der Bildfläche erscheint, und ein neues Abenteuer, das Oliver erlebt

Es war fast des Glückes zuviel, um ertragen werden zu können. Oliver war durch diese unerwartete Nachricht ganz betäubt. Er vermochte weder zu weinen, noch zu sprechen. Ein langer Spaziergang in der weichen Abendluft, auf dem er reichlich Tränen vergoß, brachte ihm Erleichtemng. Jetzt erst schien er auf einmal zum vollen Bewußtsein der glücklichen Wendung gekommen zu sein, und seine Brust fühlte sich von einem Alp befreit.

Die Nacht war bereits hereingebrochen, als er nach Hause ging, beladen mit Blumen, die er mit besonderer Sorgfalt für die Kranke gepflückt hatte. Plötzlich hörte er hinter sich eine Postkutsche in rasender Fahrt herankommen. Als der Wagen an ihm vorbeijagte, konnte Oliver im Innern einen Mann mit weißer Nachtmütze erkennen, dessen Gesicht ihm bekannt vorkam. Im nächsten Augenblick fuhr die Nachtmütze durch das Fenster heraus und befahl dem Postillon mit mächtiger Stimme haltzumachen. Als die Pferde standen, kam der Kopf mit der Nachtmütze wieder zum Vorschein, und eine bekannte Stimme rief Oliver an.

„Hallo, wie steht’s? Was macht Fräulein Rosa?“

„Ach, Sie sind es, Giles!“ schrie Oliver und eilte an den Wagenschlag.

Giles wollte gerade etwas erwidern, als er durch einen jungen Mann beiseitegedrängt wurde, der in einer Ecke des Wagens saß. Hastig fragte er Oliver nach dem Stand der Dinge zu Hause.

„Mit einem Wort“, rief der junge Herr „geht es besser oder schlechter?“

„Besser – viel besser“, sagte Oliver schnell.

„Gott sei Dank!“ rief der Herr. „Weißt du es auch ganz gewiß?“

„Ganz gewiß“, entgegnete Oliver. „Die Wendung zum Besseren trat erst vor ein paar Stunden ein, und Herr Losberne meint, alle Gefahr wäre nun vorüber.“

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, sprang der junge Herr aus dem Wagen und zog Oliver zur Seite.

„Du bist ganz sicher, mein Junge, ein Irrtum deinerseits ist ausgeschlossen?“ fragte der Herr mit bebender Stimme. „Erwecke nicht unnötigerweise Hoffnungen in mir, die vielleicht nie in Erfüllung gehen.“

„Um keinen Preis würde ich das tun. Sie dürfen mir schon glauben. Es sind des Doktors eigene Worte, daß sie leben werde, um uns alle noch viele Jahre zu beglücken. Ich selbst hab‘ es so von ihm gehört.“

Die Tränen standen Oliver in den Augen, und der junge Herr wandte sein Gesicht ab, ohne etwas zu erwidern. Der Junge glaubte ihn ein paar Mal schluchzen zu hören. Endlich sagte der Herr zu Giles:

„Es ist wohl besser, Sie fahren mit der Kutsche vorab, während ich zu Fuß nachkomme. Ich muß mich erst sammeln, bevor ich sie sehe. Sie können meiner Mutter schon immer bestellen, daß ich bald da sein werde.“

„Verzeihung, Herr Harry, ich würde Ihnen aber sehr zu Danke verpflichtet sein, wenn Sie sich durch den Postillion anmelden ließen. Ich kann mich so nicht zeigen, ich würde bei der Dienerschaft allen Respekt verlieren!“

„Nun“, entgegnete Harry Maylie lächelnd, „handeln Sie nach Gutdünken. Soll also der Postillion vorfahren und uns anmelden, und Sie gehen mit uns. Aber vertauschen Sie die Nachtmütze mit einer anderen Kopfbedeckung, damit man uns nicht für Verrückte hält.“

Herr Giles riß die Nachtmütze vom Kopfe, steckte sie in die Tasche und setzte sich einen Hut auf, den er seinem Gepäck entnahm. Der Postillion fuhr nun weiter, und die drei folgten gemächlich nach.

Als sie so dahinschritten, blickte Oliver von Zeit zu Zeit den neuen Ankömmling verstohlen an. Er war ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt und von mittlerer Größe; er hatte ein hübsches, offenes Gesicht und gewinnende Manieren. Trotz dem großen Altersunterschied war die Ähnlichkeit mit Frau Maylie so auffallend, daß Oliver mühelos die Verwandtschaft herausgefunden haben würde, hätte der junge Herr auch nicht von ihr als von seiner Mutter gesprochen.

Diese erwartete ihn bereits mit großer Sehnsucht, und als er endlich anlangte, war sie ganz gerührt und zerfloß in Tränen.

„Ach, Mutter“, sagte der junge Mann, „warum hast du mir nicht früher geschrieben?“

„Ich hatte geschrieben, aber nach reiflicher Überlegung entschloß ich mich, den Brief zurückzuhalten, bis ich Herrn Losbernes Meinung gehört hätte!“

„Aber warum? Warum ließest du es darauf ankommen, was beinahe eingetreten wäre? Wenn Rosa – wenn diese Krankheit eine andere Wendung genommen hätte, hättest du dir das je verzeihen können? Niemals im Leben wäre ich wieder froh geworden.“

„Wenn es so gekommen wäre, wäre dein Glück für immer vernichtet worden und es von keiner Bedeutung gewesen, ob du einen Tag früher oder später gekommen wärst.“

„Und wer kann sich darüber wundern, wenn es so wäre, Mutter? Aber was rede ich von wenn. Es ist so, du weißt es, Mutter – du mußt es wissen!“

„Ich weiß, daß sie die innigste und reinste Liebe verdient, die ein Mann ihr bieten kann, und ich weiß auch, daß ihre zärtliche Hingebung eine nicht gewöhnliche, sondern eine tiefe und dauernde Gegenliebe fordert. Wüßte ich nicht, daß ein verändertes Benehmen desjenigen, den sie liebt, ihr Herz brechen müßte, so würde mir meine Aufgabe nicht so schwierig vorkommen.“

„Mutter, hältst du mich denn noch immer für einen Knaben, der sich selbst nicht kennt?“

„Ich glaube, lieber Harry, daß die Jugend viele edle Gefühle hegt, die aber häufig nicht von Dauer sind und ganz schwinden, wenn sie befriedigt sind. Und dann glaube ich, daß ein feuriger, ehrgeiziger, junger Mann, wenn er im Besitze eines Weibes ist, auf deren Namen – wenn auch ohne ihre Schuld – ein Makel haftet, eines Tages die eingegangene Verbindung bereuen dürfte, besonders wenn er eine glänzende Laufbahn erfolgreich eingeschlagen hat, und die Welt seiner Frau und ihm den Makel zum Vorwurf und Gegenstand ihres Spottes macht.“

„Mutter, nur ein erbärmlicher Egoist könnte so handeln!“

„So denkst du jetzt, Harry!“

„Und werde immer so denken. Die Herzensnot, welche ich während der beiden letzten Tage erlitten habe, ringt mir das Geständnis einer Liebe ab, die, wie du wohl weißt, nicht von gestern stammt und nicht leichtfertig und vorübergehend ist. An Rosa, dem süßen, holden Mädchen hängt mein Herz so innig, wie nur je das Herz eines Mannes an dem eines Weibes. Ich habe keine Gedanken, keine Zukunft, keine Lebenshoffnung außer ihr; und wenn du mir zu diesem heißersehnten Ziele in den Weg trittst, so zerstörst du mein Glück für immer. Mutter, denke besser von mir und überlege noch einmal, verkenne die heiße Liebe nicht, die du so gering anzuschlagen scheinst!“

„Harry, weil ich so hoch von edlen und gefühlvollen Herzen denke, möchte ich ihnen Enttäuschungen und Wunden ersparen. Doch wir haben jetzt genug und übergenug von der Sache gesprochen.“

„So laß Rosa entscheiden. Du wirst mir doch mit deinen überstrengen Ansichten nicht Hindernisse in den Weg legen?“

„Gewiß nicht, aber ich möchte, daß du gut überlegst.“

„Ich habe überlegt – jahrelang – seit ich überhaupt zu denken und überlegen fähig war. Meine Gefühle sind unverändert geblieben und werden es auch bleiben. Und warum soll ich die Qual des Aufschiebens erdulden, ohne daß es einen vernünftigen Sinn hat. Nein, Rosa muß mich anhören, ehe ich wieder abreise.“

„Sie soll es!“

„Du sprichst in einer Weise, Mutter, als ob du andeuten wolltest, daß sie mich kalt anhören wird.“

„Gewiß nicht kalt, weit entfernt davon.“

„Sie liebt doch keinen anderen?“

„Nein, ich müßte mich sehr täuschen, wenn du nicht bereits einen tiefen Eindruck auf sie gemacht hast. – Ich wollte dir aber noch das eine sagen, ehe du dein Schicksal herausforderst, das dich auf den Gipfel des Glückes tragen soll – denke, lieber Harry, einige Augenblicke über Rosas Lebensgeschichte nach und erwäge reiflich, welchen Eindruck das Bewußtsein ihrer zweifelhaften Herkunft auf ihre Entscheidung üben muß. Ziehe dabei ihr edles, aufopferndes Herz in Betracht, wie sie es bei allen Gelegenheiten gezeigt hat.“

„Was willst du damit sagen?“

„Das mußt du selbst herausfinden. – Doch ich muß jetzt zu Rosa zurück!“

„Ich sehe dich doch heute abend noch?“

„Wenn ich von Rosa abkommen kann!“

„Wirst du ihr sagen, daß ich hier bin?“

»Natürlich!“

„Und ihr sagen, welche Angst ich um sie ausgestanden hätte, und wie ich mich sehne, sie zu sehen? Das kannst du mir nicht abschlagen, Mutter?“

„Nein, ich will’s ihr sagen.“

Die alte Dame drückte ihrem Sohne zärtlich die Hand und eilte aus dem Zimmer.

Während dieses flüchtigen Gespräches standen Herr Losberne und Oliver an der anderen Seite des Gemachs.

Der Doktor begrüßte jetzt Harry durch Handschlag und erstattete ihm einen ausführlichen Bericht über die Krankheit und das Befinden der Patientin. Herr Giles, der sich an dem Gepäck zu schaffen machte, hörte gespannt zu.

„Haben Sie in der letzten Zeit nichts Besonderes geschossen, Giles?“ fragte der Doktor, nachdem er Harry alles erzählt hatte.

„Nein, Herr Doktor, nichts Besonderes“, erwiderte Giles und wurde bis über die Ohren rot.

„Auch keine Einbrecher gefangen oder Diebe erwischt?“ fuhr Herr Losberne boshaft fort.

„Keins von beiden“, versetzte Giles mit vieler Würde.

„Nun, das tut mir leid; in derartigen Dingen besitzen Sie doch eine große Geschicklichkeit. Was macht denn Brittles?“

„Dem Jungen geht’s gut und läßt sich Ihnen gehorsamst empfehlen, Herr Doktor.“

„Danke. übrigens, da fällt mir ein, daß ich Ihnen noch etwas von Ihrer Herrschaft zu bestellen habe, was ich am Tage, als ich so schnell fort mußte, nicht mehr ausführen konnte. Kommen Sie mal bitte mit mir in jene Ecke!“

Herr Giles begab sich mit dem Doktor dahin und nach einem kurzen Geflüster ging er unter vielen Verbeugungen aus dem Zimmer. Der Gegenstand des Gespräches wurde im Zimmer weiter nicht erörtert, aber ohne Verzug in der Küche ausposaunt. Denn Herr Giles begab sich sofort dahin, ließ sich ein Glas Bier geben und verkündete mit großer Feierlichkeit, die ihren Eindruck nicht verfehlte, daß es der gnädigen Frau gefallen habe, die Summe von fünfundzwanzig Pfund für ihn bei der städtischem Sparkasse einzuzahlen. Als Anerkennung für sein mutiges Benehmen bei dem Einbruch. Auf diese Mitteilung erhoben die Köchin und das Dienstmädchen Augen und Hände und meinten, Herr Giles werde wohl nun anfangen, mächtig stolz zu werden, worauf dieser, an seiner Halsschleife zupfend, erwiderte, das sei ausgeschlossen. Er würde ihnen danken, wenn sie ihn dann darauf aufmerksam machten, falls er sich einmal hochmütig gegen Untergebene gäbe.

Oben verging der Abend in heiterster Stimmung, denn Herr Losberne war äußerst gut gelaunt; und wie ermüdet und nachdenklich Harry Maylie auch anfangs sein mochte, so konnte er doch dem Humor des Doktors nicht widerstehen. Dieser gab eine Anzahl von lustigen Erlebnissen aus seiner Praxis zum besten, und Oliver glaubte, nie etwas Drolligeres gehört zu haben. So mußte er zur großen Freude des Doktors fortwährend lachen, und dieser lachte mit. Da Lachen ansteckend wirkt, so stimmte schließlich auch Harry in das allgemeine Gelächter ein. Kurz, die Gesellschaft war so vergnügt, als sie den Umständen nach sein konnte. Es war bereits spät, als man sich trennte und zur Ruhe ging, deren sie alle nach den Aufregungen der letzten Tage so sehr bedurften.

Oliver stand am anderen Morgen viel fröhlicher auf und ging mit größerer Lust an seine gewöhnliche Beschäftigung als sonst. Er pflückte die schönsten Blumen des Feldes, um Rosa eine Freude zu bereiten. Die Melancholie, die von ihm Besitz genommen hatte, war wie durch Zauberei verschwunden. Der Tau schien ihm blendender im Grase zu funkeln und der Himmel im herrlicheren Blau zu leuchten. Solchen Einfluß übt unsere Stimmung auf Außendinge. Die Menschen, die in der Natur und an ihren Nächsten alles trübe und düster sehen, haben recht; aber diese dunklen Farben sind nur der Widerschein ihrer kranken Seele.

Oliver brauchte seine Morgenspaziergänge nicht mehr allein zu machen. Nachdem Harry Maylie ihn am ersten Tage mit seiner Ladung hatte heimkehren sehen, faßte der junge Mann eine solche Leidenschaft für Blumen und entwickelte einen so feinen Geschmack in der Anordnung derselben, daß er seinen jungen Freund weit hinter sich ließ. Mochte aber Oliver in dieser Hinsicht im Nachteil sein, so wußte er dafür die Stellen, wo die schönsten zu finden waren. Alle Morgen durchstreiften sie miteinander die Umgegend und brachten stets das Schönste, was auf den Feldern und Wiesen stand, nach Hause.

Die Fenster in Rosas Zimmer wurden jetzt weit geöffnet, denn die duftige Sonnenluft tat der Patientin wohl. In einem Fenster stand jeden Morgen ein frischer Blumenstrauß, und es entging Oliver nicht, daß die welken Blumen nie weggeworfen wurden. Er bemerkte auch, daß der Doktor, wenn er in den Garten kam, stets nach dem Fenster guckte und bedeutsam mit dem Kopfe nickte. So verflossen die Tage schnell, und Rosa erholte sich wieder vollständig.

Auch auf Oliver lastete die Zeit nicht schwer, obgleich die junge Dame noch immer das Zimmer nicht verlassen durfte und von Abendspaziergängen keine Rede war, ausgenommen dann und wann ganz kurze mit Frau Maylie. Er verdoppelte seinen Fleiß in den Unterrichtsstunden des silberlockigen alten Herrn und war über seine schnellen Fortschritte selbst erstaunt. Da wurde er eines Tages durch einen unerwarteten Vorfall aufs äußerste erschreckt.

Das kleine Zimmer, in dem er bei seinen Schularbeiten saß, war im Erdgeschoß, nach hinten hinaus. Man hatte von ihm die Aussicht auf den Garten, aus dem ein Pförtchen nach einem eingezäunten Rasenplatz führte. Jenseits war alles Wiesenland und Buschwerk und so hatte man eine ziemliche weite Rundsicht.

An einem schönen Abend, in der Dämmerung, saß Oliver am Fenster, noch eifrig in einem Buche lesend. Da der Tag ziemlich schwül war, überfiel ihn plötzlich eine Müdigkeit, und er schlief über dem Buch ein.

Zuweilen beschleicht uns eine Art Schlummer, die zwar den Leib gefangen hält, aber der Seele die Empfindung für die Außenwelt nicht nimmt. Oliver wußte daher recht gut, daß er in seinem eigenen kleinen Zimmer war – und doch schlief er. Plötzlich trat eine Umwandlung seiner Umgebung ein, die Luft wurde schwül, und er glaubte mit Angst und Schrecken, wieder im Hause des Juden zu sein. Dort saß der abscheuliche Alte in seiner gewohnten Ecke, zeigte auf ihn und flüsterte leise mit einem anderen Mann, der mit abgewandtem Gesicht neben ihm auf einem Stuhle Platz genommen hatte.

„Pst, Freundchen“, glaubte er den alten Juden sagen zu hören, „er ist es, gewiß und wahrhaftig. Komm weg!“

„Glaubt Ihr, ich erkannte ihn nicht?“ schien der andere zu antworten. „Wenn eine Legion von Teufeln seine Gestalt annähme, und er stände mitten unter ihnen, ich würde ihn herausfinden. Verscharrt ihn fünfzig Fuß tief und führt mich über sein Grab, ich würde es wissen, daß er drunten läge, wenn auch kein Merkmal oder sonst ein Zeichen es andeutete!“

Der Mann schien diese Worte in einem so fürchterlichen Tone des Hasses zu sagen, daß Oliver entsetzt auffuhr und erwachte.

Guter Gott! was trieb ihm da auf einmal das Blut so stürmisch zum Herzen und raubte ihm Sprache und Bewegungsfreiheit? Dort – dort – am Fenster – dicht vor ihm, so dicht, daß er ihn fast hätte berühren können, ehe er zurückprallte – mit durchdringenden Blicken ins Zimmer sehend und den seinigen begegnend – dort stand der Jude. Und neben ihm, blaß vor Furcht oder Wut, oder vielleicht beidem, der Mann mit wild verzerrtem Gesicht, mit dem er im Gasthaus des Posthalters zusammengestoßen war.

Doch nur einen Augenblick – dann waren sie verschwunden. Aber er hatte sie und sie ihn erkannt. Er stand eine Sekunde wie vom Blitz getroffen da. Dann sprang er aus dem Fenster in den Garten und rief laut um Hilfe.

Enthält das unbefriedigende Ergebnis von Olivers Abenteuern und ein ziemlich wichtiges Gespräch zwischen Harry Maylie und Rosa

Als man auf Olivers Rufen herbeieilte, fand man ihn blaß und zitternd dastehen. Er zeigte nach der Wiese hinter dem Garten und konnte nur mühsam die Worte hervorbringen: „Der Jude – der Jude!“

Herr Giles konnte aus diesem Ausruf nicht klug werden. Aber Harry Maylie, dessen Auffassungsgabe schneller war und der obendrein Olivers Geschichte von seiner Mutter gehört hatte, begriff sofort.

„Welche Richtung hat er eingeschlagen?“ fragte er und nahm einen Knüppel auf, der zufällig da herumlag.

„Dorthin“, erwiderte Oliver, den Weg andeutend, den die Männer genommen hatten. „Ich habe sie eben erst aus den Augen verloren.“

„Dann sind sie im Graben“, sagte Harry. „Folgt und haltet euch dicht an mir!“

Mit diesen Worten sprang er über die Hecke und schoß wie ein Pfeil dahin, so daß die anderen Mühe hatten nachzukommen.

Giles und Oliver rannten ihm nach, so schnell sie konnten, und einige Minuten später setzte Herr Losberne, der gerade von einem Spaziergange heimkehrte – allerdings etwas ungeschickt – ebenfalls über die Hecke und strauchelte. Er raffte sich aber schneller, als man von ihm erwartet hätte, wieder auf und stürmte den übrigen mit langen Schritten nach. Dabei brüllte er mit mächtiger Stimme, fragend, was denn los sei. So ging’s immer weiter, und keiner hielt inne, um neuen Atem zu schöpfen, bis der Anführer an den Graben gelangte und diesen sorgfältig zu untersuchen begann. Dadurch gewannen die übrigen Zeit heranzukommen, und Oliver konnte dem Dokter die Veranlassung zu dieser wilden Jagd mitteilen.

Aber alles Suchen war vergeblich. Nicht einmal frische Fußspuren ließen sich entdecken.

„Du mußt geträumt haben, Oliver“, sagte Harry, ihn beiseitenehmend.

„Nein, nein, gewiß nicht. Ich habe ihn ganz deutlich gesehen. Sie standen so bestimmt vor mir wie Sie jetzt.“

„Wer war der andere?“ fragten Harry und der Doktor zu gleicher Zeit.

„Derselbe Mensch, der mich, wie ich Ihnen erzählte, im Gasthaus des Posthalters so ausschimpfte. Er sah mir gerade in die Augen, und ich könnte darauf schwören, daß er es wäre.“

„Und weißt du auch ganz gewiß, daß sie diesen Weg einschlugen?“

„So gewiß, wie ich weiß, daß sie vor dem Fenster standen.“

Die beiden Herren sahen Olivers ernstes Gesicht und guckten dann einander an, sie schienen sich durch seine bestimmten Antworten überzeugen zu lassen. Aber nirgends ließen sich Spuren finden. Das Gras war lang und nur da niedergetreten, wo sie selbst gelaufen waren.

„Das ist merkwürdig“, meinte Harry.

„Sehr merkwürdig!“ bestätigte Herr Losberne. „Selbst Blathers und Duff vermöchten nicht klug daraus zu werden.“

Trotz der anscheinenden Erfolglosigkeit ihres Suchens, setzten sie es bis zum Einbruch der Nacht fort, erst dann ließen sie, wenn auch ungern, davon ab.

Am nächsten Morgen wurden die Nachsuchungen wieder aufgenommen, aber mit keinem günstigeren Erfolge. Tags darauf gingen Harry und Oliver nach dem Marktflecken in der Hoffnung, vielleicht dort etwas über die Männer zu erfahren, aber vergebens; und nach einigen Tagen fing man an, die Geschichte zu vergessen, nachdem der Reiz des Seltsamen aus Mangel an neuer Nahrung erstorben war.

Inzwischen ging es mit Rosas Genesung schnell vorwärts. Sie durfte das Zimmer verlassen, konnte ausgehen und brachte, als sie dem Familienkreise wieder zurückgegeben war, Sonne und neues Leben in aller Herzen.

Aber obgleich sich in den Räumen des kleinen Landhauses wieder heiteres Geplauder und frohes Lachen vernehmen ließ, entging es Oliver nicht, daß sich manchmal eine ungewohnte Zurückhaltung bei den beiden jungen Leuten geltend machte. Frau Maylie und ihr Sohn waren oft lange Zeit miteinander eingeschlossen, und mehr als einmal zeigten sich Tränenspuren auf Rosas Gesicht. Als der Doktor den Tag seiner Abreise nach Chertsey festgesetzt hatte, trat es klar zutage, daß etwas vorging, was den Seelenfrieden der jungen Dame und noch eines anderen Menschen beeinträchtigte.

Als endlich Rosa eines Morgens im Wohnzimmer allein war, trat Harry ein und bat mit stockender Stimme um die Erlaubnis, sie einige Augenblicke ungestört sprechen zu dürfen.

“ Wenige – sehr wenige – werden genügen, Rosa. Was ich dir zu sagen habe, weißt du bereits. Die größten Hoffnungen meines Lebens sind dir nicht unbekannt, obgleich sie noch nie über meine Lippen gekommen sind.“

Rosa war bei seinem Eintreten blaß geworden, was vielleicht noch eine Nachwirkung der Krankheit war. Sie nickte zustimmend, beugte sich über einige Blumen, die in ihrer Nähe standen, und wartete schweigend darauf, daß er anfangen würde.

„Ich – ich hätte schon früher abreisen sollen.“

„Gewiß, Harry. Verzeihe, daß ich so rede, aber ich wünschte, du hättest es getan.“

„Die Angst, das einzige Wesen zu verlieren, das mein ein und mein alles ist, hat mich hierhergetrieben. Du warst dem Tode nahe – schwanktest auf der Scheidelinie zwischen Himmel und Erde.“

Bei diesen Worten perlten Tränen in den Augen des holden Mädchens.

„Ein Engel“, fuhr Harry leidenschaftlich fort, „ein Wesen so schön und unschuldig, wie einer von Gottes Engeln, schwebte zwischen Tod und Leben. Rosa! Rosa! zu wissen, daß du entschwändest, keine Hoffnung zu haben, daß du den hienieden Weilenden erhalten bliebest – das waren Gedanken, fast zu schwer, um ertragen werden zu können. Aber sie lasteten Tag und Nacht auf meiner Seele, und denken zu müssen, du könntest dahinscheiden, ohne zu erfahren, wie innig ich dich liebe, das brachte mich dem Wahnsinn nahe. Du genasest wieder, und ich habe dich vom Tode zum Leben zurückkehren sehen, Dank gegen Gott im Herzen.“

„Ach, wärest du doch abgereist, um dich deinen edlen Bestrebungen, die deiner so würdig sind, wieder ganz zu widmen“, erwiderte Rosa unter Tränen.

„Es gibt kein Streben, das meiner würdiger wäre als das Ringen um ein Herz wie das deinige.“ Er ergriff ihre Hand und fuhr leidenschaftlich fort: „Rosa, liebe Rosa, ich habe dich seit Jahren geliebt. Ich hoffte mir Ruhm zu gewinnen, um dann stolz heimzukehren und dir zu sagen, daß ich ihm nur nachjagte, um ihn mit dir zu teilen. Die Blütenträume meiner Liebe gaukelten mir diesen glücklichen Augenblick vor. Ich erinnere dich an die stummen Andeutungen, in denen dir schon der Knabe sein Herz geoffenbart hat, und an das Erröten, mit dem du sie aufnahmst. Ich dachte dann auf deine Hand Anspruch zu machen und damit einen längst zwischen uns schweigend geschlossenen Vertrag zu besiegeln. Die Zeit ist noch nicht gekommen, kein Ruhm geerntet, keiner meiner Jugendträume hat sich verwirklicht. Trotzdem biete ich dir mein Herz an – so lange schon das deine – und setze mein alles auf die Antwort, die meinem Antrag von dir zuteil wird!“

„Dein Handeln war immer gut und edel“, sagte Rosa, den Sturm ihrer Gefühle niederkämpfend, „damit du aber nicht glaubst, ich sei undankbar und gefühllos, so höre meine Antwort.“

„Wird sie mich auffordern, daß ich mich bemühen soll, dich zu verdienen, teuerste Rosa?“

„Nein, sie will dich bloß bitten, mich zu vergessen, das heißt nur als Gegenstand deiner Liebe, nicht aber als deine alte, dir herzlich zugetane Gespielin, denn das würde mich sehr kränken. Schau hinaus in die Welt, wieviele Herzen gibt es zu gewinnen, auf die du ebenso stolz sein kannst. Mache mich bei einer anderen Liebe zu deiner Vertrauten, und ich will dir die aufrichtigste und zuverlässigste Freundin sein.“

Eine Pause folgte, während der Rosa ihr Gesicht mit der einen Hand bedeckte und ihren Tränen freien Lauf ließ. Die andere Hand hielt Harry immer noch fest.

„Und deine Gründe, Rosa –“ fragte er endlich leise. „Deine Gründe für diese Entscheidung, darf ich sie wissen?“

„Du hast ein Recht darauf, sie zu erfahren“, erwiderte Rosa, „kannst ihnen aber nichts entgegenhalten, was meinen Entschluß zu ändern vermöchte. Es ist eine Pflicht, die ich erfüllen muß. Ich schulde es anderen und mir.“

„Dir?“

„Ja, Harry, ich bin es mir selbst schuldig. Ein Mädchen ohne Eltern und Vermögen, mit einem Flecken auf seinem Namen, darf der Welt keinen Anlaß zu der Annahme geben, sie hätte aus niedrigen Beweggründen deiner ersten Leidenschaft nachgegeben und dadurch wie ein Bleigewicht deinen Aufstieg gehemmt. Ich habe gegen dich und die Deinen die Verpflichtung, es zu verhindern, daß du, durch dein edles Herz getrieben, deiner Laufbahn eine solche Belastung aussetzt.“

„Wenn deine Neigungen mit diesem Pflichtgefühle im Einklang stehen –-“ sagte Harry.

„Das ist nicht der Fall“, versetzte Rosa, tief errötend.

„So erwiderst du also meine Liebe?“ rief Harry, „sage nur das, Rosa, sage nur das, und lindere meinen Schmerz und meine Enttäuschung!“

„Wenn ich es hätte tun können, ohne gegen ihn, den ich liebe, ein großes Unrecht zu begehen“, antwortete Rosa, „so würde ich –“

„Die Erklärung meiner Liebe ganz anders aufgenommen haben?“ fiel Harry ein. „Verhehle mir wenigstens das nicht, Rosa!“

„Ja“, bestätigte sie, „doch“, fuhr sie fort und zog ihre Hand aus der seinigen, „warum wollen wir dieses peinliche Gespräch fortsetzen? Peinlich, und mich doch so beseligend. Ja, zu wissen, daß ich von dir geliebt wurde, wird mir stets eine Quelle hohen Glückes sein. Lebe wohl, Harry, denn so wie wir uns heute gegenüberstanden, wird es nie mehr der Fall sein; und so möge dich mein Segen begleiten.“

„Noch ein Wort, Rosa! Deine Gründe – ich möchte sie aus deinem eigenen Munde hören.“

„Die schönsten Aussichten stehen dir offen, alle Ehren sind dir erreichbar, die durch Talent und einflußreiche Verbindungen errungen werden können. Aber deine Verwandten und Gönner sind stolz, und ich will mich nicht in ihre Kreise drängen, zumal sie meine Mutter verachten, die mir das Leben gab. Ich will auch nicht Unehre über den Sohn derjenigen bringen, die an mir Mutterstelle vertreten hat. Mit einem Worte“, – und dabei wandte sie sich ab, um ihre Rührung zu verbergen – „es haftet ein Makel auf meinem Namen, und der soll nicht auf einen anderen übergehen. Der Fluch soll mich allein treffen.“

„Ach, nur noch ein – nur noch ein einziges Wort, teuerste Rosa!“ rief Harry und warf sich ihr zu Füßen. „Wäre ich – im Sinne der Welt – weniger vom Glück begünstigt – wäre kein glänzendes, sondern ein unbeachtetes Leben mein Los – wäre ich arm, krank, hilflos – würdest du mich auch dann abweisen, oder kommen dir die Bedenken nur wegen meiner vermuteten Aussicht auf eine ehrenreiche Laufbahn?“

„Dränge mich nicht zu einer Antwort. Von einer solchen Frage ist – und wird nie die Rede sein. Es ist nicht hübsch von dir, mir solche Gewissensfragen zu stellen!“

„Wenn deine Antwort lautete, wie ich fast zu hoffen wage, so wird sie einen beglückenden Hoffnungsstrahl auf meinen einsamen Weg werfen und die düstere Bahn vor mir erhellen. Hältst du es denn nicht der Mühe für wert, durch das Aussprechen einiger weniger Worte soviel für einen zu tun, der dich über alles liebt? Ach, Rosa, ich beschwöre dich bei meiner heißen, unvergänglichen Liebe, bei allem, was ich für dich gelitten habe, und was ich um deiner Entscheidung willen noch leiden soll – beantworte mir nur diese einzige Frage!“

„Nun denn, wenn dir ein anderes Los beschieden gewesen wäre – wenn du nur ein wenig und nicht gar so hoch über mir ständest, wenn ich dir in einer bescheidenen, zufriedenen und unabhängigen Stellung eine Kameradin sein könnte und nicht befürchten müßte, stets als ein Hindernis für dein Streben angesehen zu werden, so wäre uns wohl diese harte Prüfung erspart geblieben. Ich habe jetzt alle Ursache glücklich, ja, sehr glücklich zu sein; aber dann, Harry – ich gestehe es – dann hätte mein Glück keine Grenzen gekannt.“

Mächtige Erinnerungsbilder tauchten vor Rosa auf, während sie dies Eingeständnis machte, aber sie brachten auch Tränen mit sich, in denen sie jedoch Erleichterung fand.

„Ich kann meiner Schwäche nicht wehren, aber sie wird mich in meinem Entschluß nicht wankend machen“, sagte Rosa und reichte ihm ihre Hand hin. „Doch jetzt muß ich dich verlassen.“

„Versprich mir eines“, erwiderte Harry, „gestatte mir noch ein einziges Mal – in einem Jahre oder lieber noch früher – ein letztes Mal über diese Sache mit dir zu sprechen!“

„Willst du mich etwa dann drängen, meinen unabänderlichen Entschluß umzustoßen?“ sagte sie mit wehmütigem Lächeln. „Es würde nutzlos sein.“

„Nein, um dich ihn wiederholen zu hören, falls es dir beliebt. Ich will dir meine Stellung und alles, was ich dann habe, zu Füßen legen, und wenn du bei deiner heutigen Abweisung beharrst, so will ich mich fügen.“

„Gut, es sei so. Es ist nur ein Schmerz mehr, und ich bin vielleicht dann imstande, ihn leichter zu tragen!“

Sie reichte ihm noch einmal die Hand. Harry aber schloß das Mädchen in seine Arme und drückte einen Kuß auf ihre reine Stirn, dann eilte er hinaus.

Ist zwar sehr kurz und erscheint hier vielleicht als nicht besonders wichtig, sollte aber doch gelesen werden, weil es eine Ergänzung des vorhergehenden ist und ein Schlüssel zu einem späteren

„Sie sind also entschlossen, heute mein Reisegefährte zu sein, wie?“ fragte der Doktor, als er mit Harry und Oliver beim Frühstück saß. Es scheint, ihre Entschlüsse wechseln mit jeder halben Stunde!“

„Sie werden bald anders von mir denken“, entgegnete Harry, ohne erkennbaren Grund rot werdend.

„Das würde mir lieb sein“, sagte Herr Losberne, „obgleich ich gestehen muß, daß ich es bezweifle. Gestern morgen setzten Sie sich in den Kopf, hierzubleiben und als gehorsamer Sohn Ihre Mutter an die See zu begleiten. Es war noch nicht Mittag, als Sie mir mitteilten, Sie wollten mir die Ehre Ihrer Gesellschaft bis London schenken. Abends dringen Sie ganz geheimnisvoll in mich, ich solle abreisen, ehe die Damen aufständen. Die Folge davon ist, daß der kleine Oliver am Frühstückstisch sitzen muß, anstatt botanisieren gehen zu können. Das ist doch arg – nicht wahr, Oliver?“

„Es hätte mir sehr leid getan, Herr Doktor, wenn Ich bei Ihrer und Herrn Maylies Abreise nicht zugegen gewesen wäre“, erwiderte Oliver.

„Du bist ein guter Junge. Mußt mich auch mal besuchen, wenn ihr wieder zurück seid. Aber Spaß beiseite, hat irgendeine Mitteilung der Bonzen in der Regierung Sie zu dieser schleunigen Abreise veranlaßt?“

„Die Bonzen, zu denen Sie wohl auch meinen Onkel zählen, haben mir nichts sagen lassen, solange ich hier bin. Es ist auch nicht wahrscheinlich, daß sich in dieser Jahreszeit etwas ereignet, was meine dortige Anwesenheit erforderlich macht!“

„Sie sind ein schnurriger Kerl“, meinte Herr Losberne. „Man wird Sie aber wahrscheinlich bei der Weihnachtswahl ins Parlament bringen wollen, und dieses plötzliche Ändern der Entschlüsse ist keine schlechte Vorbereitung für das politische Leben.“

Harry machte Miene, ihm eine schlagfertige Antwort zu geben, er begnügte sich jedoch mit der Bemerkung: „Wir werden sehen!“ und ließ den Gegenstand fallen. Die Postkutsche fuhr kurz darauf vor, und als Giles kam, um das Gepäck zu holen, eilte der Doktor hinaus, um die Unterbringung desselben zu überwachen.

„Oliver“, sagte Harry leise, „ich muß noch ein paar Worte mit dir reden.“

Der Junge trat zu ihm ans Fenster, verwundert über Harrys Traurigkeit und Unruhe.

„Du kannst jetzt gut schreiben“, sagte Harry und legte die Hand auf Olivers Arm.

„Ich denke doch.“

„Ich komme vielleicht auf einige Zeit nicht wieder nach Hause und wünsche, daß du mir schreibst – so alle vierzehn Tage. Willst du das?“ fragte Herr Maylie.

„Gern, ich bin stolz darauf, daß ich es tun darf“, sagte der Junge, ganz erfreut über diesen Auftrag.

„Es wäre mir lieb, zu erfahren, wie – wie es meiner Mutter und Fräulein Rosa geht. Du kannst daher einen ganzen Bogen voll schreiben und mir erzählen, was ihr für Spaziergänge macht, wovon ihr sprecht, und ob sie – ja, ich meine sie beide –, ob sie heiter und zufrieden sind. Verstehst du?“

„Vollkommen“, antwortete Oliver.

„Du brauchst ihnen übrigens nichts davon zu sagen“, fügte Harry schnell, wie beiläufig, hinzu. „Es könnte meine Mutter beunruhigen, und sie würde mir dann häufiger schreiben, was ihr in ihren Jahren ein wenig schwer fällt. Es soll daher ein Geheimnis zwischen uns beiden bleiben, aber vergiß ja nicht, mir alles mitzuteilen. Ich verlasse mich auf dich!“

Oliver fühlte sich mächtig geehrt und wichtig und versprach, seine Berichte auf das ausführlichste abzufassen. Herr Maylie sagte ihm nun unter der Versicherung seines Wohlwollens Lebewohl.

Der Doktor saß bereits im Wagen, Giles hielt den geöffneten Kutschenschlag, und Harry sprang in den Wagen, nachdem er noch zuvor einen Blick nach Rosas Fenster geworfen hatte.

„Los!“ rief er dem Postillion zu, fahre so schnell du kannst, heute muß es wie im Fluge gehen!“

„Hallo!“ brüllte der Doktor durchs Vorderfenster zum Kutscher, „ich will nichts vom Fliegen wissen, verstanden?“

Rasselnd rollte der Wagen davon, und lange noch schauten die Augen einer jungen Dame ihm nach. Rosa stand nämlich hinter den weißen Vorhängen ihres Fensters verborgen und hatte von dort aus Harrys letzten Blick aufgefangen.

„Er scheint ganz heiter und glücklich zu sein“, murmelte sie. „Ich hatte schon Angst, daß es anders sein könnte, aber ich habe mich getäuscht und bin froh darüber!“

Tränen sind ebensogut Zeichen der Freude wie des Schmerzes, aber die, welche über Rosas Wangen perlten, als sie in Gedanken verloren am Fenster saß und immer noch in dieselbe Richtung schaute, schienen mehr aus Herzeleid als aus Freude vergossen zu sein.

In welchem der Leser einen im ehelichen Leben nicht selten sich zeigenden Gegensatz beobachten kann

Herr Bumble saß in seinem Wohnzimmer im Armenhause und blickte mit schwermütigen Augen in den Kamin, von dem aber kein heller Glanz ausging, da es Sommer war und kein Feuer brannte. Ein Streifen Leimpapier hing als Fliegenfänger von der Decke hinunter, um den die Fliegen lustig herumgaukelten, ahnten sie doch nicht, daß er ihnen Verderben brachte. Schwere Seufzer entrangen sich Herrn Bumbles Brust, wenn er seine Augen zur Decke hob, riefen ihm doch die dort sorglos spielenden Fliegen ein schmerzliches Ereignis seines vergangenen Lebens ins Gedächtnis. Es war jedoch nicht allein Herrn Bumbles melancholische Stimmung, die des Lesers Mitleid erregen mußte, es fehlte auch nicht an anderen Anzeichen, die bekundeten, daß eine große Veränderung in der Lage der Dinge stattgefunden haben müsse. Die schöne Uniform des Gemeindedieners mit dem dazugehörigen Dreispitz – wo waren sie hingekommen? Der Rock, den er jetzt trug, war von dem Uniformrock ach, so sehr verschieden, und der pompöse Dreispitz hatte einem bescheidenen runden Hute Platz machen müssen. Herr Bumble war nicht mehr Gemeindediener.

Es gibt Beförderungen im Leben, die, abgesehen von den damit verbundenen geldlichen Vorteilen, noch eine besondere Bedeutung und Würde durch die dazugehörige Tracht erhalten. Ein Feldmarschall hat seine Uniform, ein Bischof seinen Ornat, ein Ratsherr seinen Talar und ein Amts- und Gemeindediener seinen dreieckigen Hut. Nimm dem Bischof seinen Ornat oder dem Amtsdiener seinen Hut und Rock – was bleibt? Menschen – bloße Menschen. Würde, und bisweilen sogar Heiligkeit, hängen weit mehr von Uniform und Ornat ab, als viele Leute ahnen.

Herr Bumble hatte Frau Corney geheiratet und war Armenhausvater geworden. Ein anderer Gemeindediener war zur Macht gelangt, und der Dreispitz, die Uniform und der Stock waren auf ihn übergegangen.

„Morgen werden’s zwei Monate!“ seufzte Herr Bumble. Es scheint ein Menschenalter zu sein.“

Er wollte vielleicht damit sagen, daß das Glück eines ganzen Lebens sich in den kurzen Zeitraum von acht Wochen zusammengedrängt hätte – aber die Seufzer! Es lag so viel darin.

„Ich verkaufte mich“, fuhr er, seine Gedanken weiterd spinnend, fort, „für sechs Teelöffel, eine Zuckerzange, einen Milchtopf, etliche alte Möbel und zwanzig Pfund in bar. Ach, ich habe mich viel zu billig fortgegeben“

„Billig?“ kreischte eine grelle Stimme in Herrn Bumbles Ohr. „Du bist noch umsonst zu teuer, und Gott im Himmel weiß, daß ich dich teuer genug bezahlt habe.“

Herr Bumble drehte sich um und sah seine Ehehälfte streng an. Diese hatte seine Seufzer nur unvollständig verstanden und ihre Bemerkungen auf gut Glück hingeworfen.

„Frau Bumble!“ sagte der Ehegemahl vorwurfsvoll.

„Nun?“ schrie die Dame.

„Bitte, sieh mich an!“ („Wenn sie einen solchen Blick aushalten kann, so ist sie zu allem fähig. Er hat meines Wissens bei den Armen nie seine Wirkung verfehlt, und sollte er hier versagen, so ist’s mit meiner Macht aus.“)

Ob nun ein strenger Blick hinreichend ist, Armenhäusler, die freilich der spärlichen Nahrung wegen keine besonders kräftigen Nerven haben, in Schrecken zu versetzen, oder ob die vormalige Frau Corney sogar gegen Adlerblicke gefeit war – wir wissen es nicht. Tatsache aber war, daß die Dame sich keineswegs durch Herrn Bumbles finsteren Blick und Stirnrunzeln einschüchtern ließ. Sie nahm ihn mit Verachtung auf und lachte nur geringschätzig.

Als Herrn Bumble diese unerwarteten Lachtöne ans Ohr schlugen, machte er zuerst ein ungläubiges, dann aber ein bestürztes Gesicht. Er versank darauf wieder in sein trostloses Brüten, aus dem er aber bald durch die Stimme seiner holden Gattin geweckt wurde.

„Willst du den ganzen Tag dasitzen und schnarchen?“ fragte Frau Bumble.

„Solange, wie es mir beliebt“, entgegnete Herr Bumble, „und obgleich ich nicht schnarchte, werde ich es aber doch tun, auch gähnen, niesen, lachen oder weinen, gerade, wie es mir paßt. Denn ich habe das Recht dazu.“

„Das Recht?“ höhnte sie mit unaussprechlicher Verachtung.

„Jawohl Frau Bumble. Der Mann hat die Kommandogewalt.“

„Und was wäre denn, beim Himmel, das Recht der Frau?“ schrie die Hinterbliebene des seligen Herrn Corney.

„Sie muß gehorchen“, donnerte Herr Bumble. „Das hätte dich dein unglückseliger seliger Mann schon lehren sollen, dann wäre er vielleicht noch am Leben. Ach, wie sehr wünschte ich, daß er es wäre.“

Frau Bumble sah jetzt, daß der entscheidende Augenblick gekommen war. Es galt jetzt die Herrschaft an sich zu reißen oder endgültig darauf zu verzichten. Bei der Anspielung auf ihren ersten Gatten sank sie auf einen Stuhl und erklärte Herrn Bumble für ein hartherziges Scheusal, dabei brach sie in einen Strom von Tränen aus.

Doch Tränen waren nicht der Weg, auf dem Herrn Bumble beizukommen war. Sein Herz war wasserdicht. Wie die waschbaren Filzhüte, die durch Regen immer besser werden, wurden seine Nerven durch Tränen kräftiger. Diese schienen ihm ein Zeugnis der Schwäche zu sein und somit eine Unterwerfung unter seine Oberherrlichkeit. Er blickte daher mit großer Zufriedenheit auf sein holdes Ehegespons und ermunterte sie, aus Leibeskräften zu weinen, da es nach Ansicht der Ärzte eine ganz gesunde und körperlich wohltätige Übung sei.

„Es lüftet die Lungen, wäscht das Gesicht rein, stärkt die Augen und beruhigt das Gemüt, also weine nur“, sagte Herr Bumble trocken.

Nachdem Herr Bumble diesen Witz angebracht hatte, nahm er seinen Hut und setzte ihn verwegen aufs Ohr, wie ein Mann, der die Überzeugung hat, seine Herrschaft auf geeignete Weise behauptet zu haben. Die Hände in den Taschen ging er triumphierend auf die Tür zu.

Aber dieses Experiment auf nassem Wege hatte Frau Bumble nur angestellt, weil sie es weniger anstrengend hielt als einen Boxkampf. Sie war aber auch bereit, diesen zu wagen, was Herr Bumble bald spüren sollte.

Die erste Probe davon bestand in einem hohlen Tone, dessen unmittelbare Folge war, daß sein Hut nach der entgegengesetzten Ecke des Zimmers flog. Dieses einleitende Verfahren gab sein Haupt jedem Angriff preis, und während die erfahrene Dame die Kehle ihres teuren Ehegatten umkrallte, ließ sie einen Hagel kräftiger Faustschläge auf seinen Kopf niederhageln. Dann brachte sie ein wenig Abwechslung in die Sache und zerkratzte Herrn Bumble erst mal tüchtig das Gesicht, und dann riß sie ihm ordentliche Büschel Haare aus. Nachdem sie sein Vergehen nun genügend gestraft zu haben glaubte, warf sie ihn über einen Stuhl, der nicht bequemer dafür hätte stehen können und forderte ihn höhnisch auf, noch einmal von seinem Recht zu sprechen, wenn er den Mut dazu hätte.

„Jetzt steh auf“, sagte Frau Bumble im Befehlstone, „und mach, daß du mir aus den Augen kommst, wenn du nicht willst, daß ich etwas ganz Desperates tue!“

Herr Bumble erhob sich mit kläglicher Miene und überlegte, was dieses Desperate wohl sein möge. Dann hob er seinen Hut auf und sah nach der Tür.

„Willst du gehen?“ fragte Frau Bumble drohend.

„Gewiß, mein Schatz, ich gehe schon“, erwiderte er, seine Schritte beschleunigend. „Es war nicht meine Absicht, dich – ich gehe schon, meine Liebe – du bist aber auch gar zu heftig, daß ich wirklich –“

In diesem Augenblick trat Frau Bumble eilig vor, um den Teppich wieder zurechtzurücken, der sich während der letzten Viertelstunde etwas verschoben hatte. Herr Bumble benutzte das, um hastig aus dem Zimmer zu stürzen, ohne daran zu denken, seinen Satz zu vollenden, und ließ die frühere Frau Corney im unbestrittenen Besitz des Schlachtfeldes.

Herr Bumble war überrumpelt worden und hatte eine entscheidende Niederlage erlitten. Aber das Maß seiner Erniedrigung war noch nicht voll. Nachdem er einen Gang durch das ganze Haus gemacht und zum erstenmal darüber nachgedacht hatte, daß die Armengesetze doch wirklich zu hart wären, und daß Männer, die ihren Frauen fortliefen und die Erhaltung derselben der Gemeinde überließen, von Rechts wegen nicht bestraft, sondern vielmehr als verdienstvolle Märtyrer belohnt werden sollten – kam er in eine Waschküche, wo die weiblichen Armen beschäftigt zu werden pflegten, das Leinenzeug der Anstalt zu reinigen, und aus dem ihm lautes Geplauder entgegenschallte.

„Hm“, sagte Bumble, seine ganze Würde zusammennehmend, „zum wenigsten sollen diese Weiber auch künftig mich anerkennen. – Hallo, zum Donnerwetter! Was soll dieser Radau, verwünschte Hexen?“

Mit diesen Worten öffnete Herr Bumble die Tür und trat mit hochfahrender, finsterer Miene ein; sie verwandelte sich aber sehr bald in eine demütige, als seine Augen seine bessere Ehehälfte entdeckten.

„Schatz“, sagte Herr Bumble, „ich wußte nicht, daß du hier wärest.“

„Wußtest nicht, daß ich hier wäre?“ äffte ihm sein Weib nach. „Was hast du hier zu suchen?“

„Es kam mir vor, man schwatzte zu viel, als daß die Arbeit gehörig getan werden könnte, Schatz“, erwiderte er, zerstreut nach ein paar alten Weibern am Waschfaß blickend, die sich nicht wenig über das demütigende Benehmen des Armenhausvaters wunderten.

„Du glaubst, man schwatze zu viel?“ fragte Frau Bumble. „Was geht denn dich das an?“

„Ja, lieber Schatz –“ stotterte er demutsvoll.

„Ich will wissen, was es dich angeht!“

„Es ist allerdings richtig, daß du hier zu befehlen hast, liebe Frau, aber ich glaubte, du seiest gerade nicht anwesend!“

„Ich will dir mal was sagen, Bumble, wir brauchen deine Aufsicht nicht. Du steckst deine Nase immer in Dinge, die dich nichts angehen und machst dich lächerlich. Scher dich ‚raus!“

Bumble gewahrte mit Wut im Herzen, wie die beiden alten Weiber am Waschfaß einander zukicherten und zögerte einen Augenblick. Aber Frau Bumble, deren Geduld schon erschöpft war, nahm einen Topf mit Seifenwasser und drohte den Inhalt über ihn auszuschütten, wenn er sich nicht augenblicklich entferne.

Was konnte er anders tun? Er blickte niedergeschlagen um sich und schlich von dannen. Als er die Tür erreicht hatte, verwandelte sich das Kichern der Weiber in ein schrilles Gelächter. Das war zu viel. Er war in ihren Augen herabgewürdigt, er hatte Ansehen und Achtung sogar bei den Armenhäuslern verloren. Von der Höhe eines Gemeindedieners war er zur tiefsten Tiefe eines Pantoffelhelden herabgestürzt.

„Und das alles in zwei Monaten“, klagte Bumble sich selber. „Vor nicht mehr als zwei Monaten war ich nicht nur mein eigener Herr, sondern auch Herr über das ganze Armenhaus, – und nun?“

Es war zuviel. Er gab dem Jungen eine Ohrfeige, der ihm die Tür öffnete und trat zerstreut auf die Straße. Er ging zuerst planlos straßauf, straßab, bis sich sein erster Kummer gelegt hatte, dadurch war er aber durstig geworden. Er kam an einer Anzahl von Wirtshäusern vorbei und blieb endlich bei einer Kneipe stehen, deren Gastzimmer mit Ausnahme eines Gastes leer war, wie er sich vorher durch einen Blick durchs Fenster überzeugt hatte. Es fing gerade tüchtig zu regnen an, und dies bestimmte ihn, hier einzukehren. Er forderte ein Glas Branntwein.

Der einzige Gast außer ihm war groß, von dunkler Gesichtsfarbe, und hatte einen langen Mantel umgehängt. Er schien fremd zu sein, und den bestaubten Kleidern nach zu schließen, von weit herzukommen. Er sah den eintretenden Bumble von der Seite an, erwiderte jedoch dessen Begrüßung nur mit einem Kopfnicken. Bumble besaß Würde genug für zwei, und so trank er seinen Schnaps schweigend. Dabei las er mit wichtiger Miene die Zeitung.

Wie es aber oft zu geschehen pflegt, wenn Menschen unter ähnlichen Umständen zusammentreffen, so kam es, daß Bumble sich gewaltig versucht fühlte, mal einen verstohlenen Blick auf den Fremden zu werfen. Er mußte aber seine Augen verlegen abwenden, als er seinem Gelüste nachgab, denn er bemerkte, daß der Fremde im selben Augenblicke nach ihm hinsah. Bumbles Verlegenheit wurde durch den höchst merkwürdigen Ausdruck im Auge des Fremden noch gesteigert. Denn der stechende Blick des fremden Mannes schweifte argwöhnisch und mißtrauisch umher und gaben seinen Mienen etwas Abstoßendes.

Als sie sich in dieser Weise mehrere Male angesehen hatten, brach schließlich der Fremde das Schweigen.

„Haben Sie nach mir gesehen, als Sie durch das Fenster guckten?“

„Nicht, daß ich wüßte, wenn Sie nicht der Herr –“

Hier hielt Bumble inne, denn er war neugierig, den Namen des Fremden zu erfahren und hoffte, dieser würde seine Redelücke ausfüllen.

„Ach, ich merke schon“, sagte der Fremde spöttisch, „Sie haben nicht nach mir gesehen, sonst würden Sie meinen Namen wissen. Ich möchte Ihnen auch nicht raten, danach zu fragen.“

„Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten“, bemerkte Bumble würdevoll.

„Und haben es auch nicht getan“, entgegnete der Fremde.

Es folgte nun wieder ein Schweigen, das der Fremde nach einer Weile abermals unterbrach.

„Ich habe Sie früher schon mal gesehen, glaube ich“, fing er an. „Sie waren damals jedoch anders gekleidet. Ich begegnete Ihnen zwar nur auf der Straße, aber ich meine doch, Sie wiederzuerkennen. Sie waren früher hier der Gemeindediener, nicht wahr?“

„Stimmt“, erwiderte Bumble etwas überrascht.

„Was sind Sie jetzt?“

„Armenhausvater“, antwortete Herr Bumble langsam und mit Betonung, er wollte eine plumpe Vertraulichkeit des Fremden von vornherein zurückweisen. „Verwalter des Armenhauses, junger Mann.“

„Sie sind zweifellos noch ebenso auf Ihren Vorteil bedacht wie sonst?“ fuhr der Fremde fort, indem er Herrn Bumble scharf anblickte, der bei dieser Frage verwundert die Augen erhoben hatte. „Sie brauchen sich nicht zu schämen, mir offen zu antworten, denn Sie sehen, ich kenne Sie genau!‘

„Ich bin der Ansicht, daß ein verheirateter Mann ebenso dazu berechtigt ist, wenn ihm die Gelegenheit geboten wird, ein Stück Geld zu verdienen, wie ein lediger. Gemeindebeamten sind nicht so glänzend bezahlt, daß sie einen kleinen Nebenverdienst ausschlagen sollten, wenn er sich ihnen in einer schicklichen Weise bietet.“

Der Fremde nickte lächelnd mit dem Kopfe, als wenn er sagen wollte, daß er sich in seinem Manne nicht getäuscht hätte. Dann zog er die Klingel.

„Füllen Sie das Glas noch einmal“, befahl er dem Wirte und händigte ihm Herrn Bumbles leeres Glas ein. „Machen Sie es aber stark und recht heiß. So lieben Sie es doch?“

„Nicht zu stark“, versetzte Herr Bumble und hüstelte verlegen.

„Sie wissen, was das sagen soll, Herr Wirt“, sagte der Fremde trocken.

Der Wirt lächelte und verschwand. Nach einer kleinen Weile kam er mit einem dampfenden Glas wieder, von dem der erste Schluck Herrn Bumble das Wasser in die Augen trieb.

„Hören Sie mich mal aufmerksam an“, sagte der fremde Mann, nachdem er vorher die Tür und Fenster geschlossen hatte. „Ich kam heute mit der Absicht hierher, Sie zu treffen. Durch einen der Zufälle, die der Teufel manchmal herbeiführt, mußten Sie in dieses Zimmer treten, gerade als ich mich in Gedanken mit Ihnen beschäftigte. Ich möchte eine Auskunft von Ihnen haben und verlange sie, so unbedeutend sie ist, nicht umsonst. Nehmen Sie das als Anzahlung.“

Mit diesen Worten schob er behutsam Herrn Bumble ein paar Goldstücke über den Tisch hin, als wünsche er nicht, daß man draußen das Geld klimpern höre. Herr Bumble prüfte die Münzen auf ihre Echtheit und steckte sie vergnügt in seine Tasche, als er sich davon die nötige Überzeugung verschafft hatte.

„Denken Sie mal zurück – warten Sie – an den Winter vor zwölf Jahren!“

„Das ist lange her“, meinte Herr Bumble. „Aber schön, ich hab’s getan.“

„Der Schauplatz – das Armenhaus.“

„Gut.“

„Zeit – die Nacht“

„Ja.“

„Und der Ort – das elende Loch, wo liederliche Frauenzimmer piepsende Kinder in die Welt setzen, die der Gemeinde zur Last fallen, während sie ihre Schande im Grabe verbergen.“

„Das wird, denke ich, das Wöchnerinnenzimmer sein“, sagte Herr Bumble, der des Fremden aufgeregter Schilderung nicht ganz zu folgen imstande war.

„Ja, dort wurde ein Knabe geboren.“

„Sehr viele“, bemerkte Herr Bumble.

„Hol der Teufel die Höllenbrut“, schrie der Fremde. „Ich spreche von einem – einem schmächtig aussehenden, blaßgesichtigen Bengel, der zu einem Leichenbestatter in die Lehre gegeben wurde (ich wünschte, er hätte da seinen eigenen Sarg gemacht und sein Körper faulte darin) und nachher nach London entlief.“

„Ach, Sie meinen Oliver – den Oliver Twist, an den kann ich mich natürlich noch ganz gut erinnern“, versetzte Herr Bumble. „Das war ein eigensinniger Racker –-„

„Ich brauche nichts von ihm zu hören, hab‘ schon genug von ihm vernommen“, fiel ihm der Fremde ins Wort. Es handelt sich um die alte Hexe, die seiner Mutter bei der Entbindung beistand. Wo ist sie?“

„Wo sie ist?“ sagte Herr Bumble, den der starke Grog witzig zu machen schien. „Das ist schwer zu sagen. jedenfalls Hebammen werden da nicht gebraucht, und so wird sie wohl außer Dienst sein!“

„Wie muß ich das verstehen?“

„Daß sie den letzten Winter starb!“

Der Unbekannte sah ihn bei dieser Mitteilung scharf an. Eine Weile schien es zweifelhaft, ob ihm die Nachricht erfreulich oder unerfreulich sei. Schließlich stand er auf und schickte sich zum Gehen an; er bemerkte dabei, es käme wenig darauf an.

Bumble war schlau genug, um eine Gelegenheit zu wittern, aus dem Geheimnisse seiner besseren Hälfte Geld zu machen. Er erinnerte sich noch genau der Nacht, in der die alte Sally starb. Der Tag war ihm durch seinen Heiratsantrag, den er Frau Corney damals machte, unvergeßlich geworden. Und obgleich ihm seine Frau niemals anvertraute, was sie damals erfahren hatte, so hatte er doch genug gehört, um zu wissen, daß die Beichte der Sterbenden sich auf etwas bezog, das mit Oliver Twists Mutter im Zusammenhang stand. Er eröffnete daher dem Fremden mit geheimnisvoller Miene, die Hebamme hätte sich kurz vor ihrem Tode eine andere Frau rufen lassen, die wahrscheinlich Licht in die Sache bringen könnte.

„Wo kann ich die Frau treffen?“ fragte der Fremde mit unvorsichtiger Hast. Er zeigte, daß ihn die Mitteilungen stark erregten.

„Nur durch mich“, versetzte Herr Bumble.

„Wann?“

„Morgen!“

„Abends neun Uhr“, sagte der Fremde und schrieb auf ein Stück Papier mit zitternder Hand eine Adresse, die Herrn Bumble in ein abgelegenes Haus am Flusse hinbeschied. „Bringen Sie sie um neun Uhr zu mir. Ich brauche Ihnen wohl nicht erst zu sagen, daß es im Geheimen geschehen muß. Es ist Ihr Vorteil.“

Mit diesen Worten ging er zur Tür und bezahlte die Zeche. Von Bumble verabschiedete er sich ohne weitere Förmlichkeit mit dem Bemerken, daß sich jetzt ihre Wege trennten, und er ihn morgen pünktlich erwarte.

Bumble sah, daß die Adresse keinen Namen enthielt, und so folgte er dem Unbekannten, um ihn danach zu fragen.

„Was ist los“, rief der Mann und drehte sich rasch um, als der Armenhausvater seinen Arm berührte.“Warum schleichen Sie mir nach?“

„Ich wollte nur wissen, nach wem ich zu fragen habe; wollen Sie mir nicht Ihren Namen sagen?“

„Monks!“ versetzte der Mann und eilte hastig weiter.

Berichtet, was sich zwischen dem Ehepaar Bumble und Monks bei ihrer nächtlichen Zusammenkunft zutrug

Es war ein schwüler, dumpfer Sommerabend. Die dunklen Wolken, welche den ganzen Tag über mit Regen gedroht hatten, ließen einige Tropfen fallen und schienen ein schweres Gewitter zu verkünden. Herr und Frau Bumble kamen die Hauptstraße hinunter und bogen in eine Seitengasse, die auf einige halbverfallene Häuser am Flußufer führte. Beide waren in schäbige Mäntel gehüllt, die nicht nur den Zweck hatten, sie gegen den Regen zu schützen, sondern auch um sie unkenntlich zu machen. Herr Bumble trug eine Laterne, deren Licht aber noch nicht brannte, und ging voraus. Er bahnte dadurch mit seinen breiten Schuhen seiner Frau in dem Schmutz einen Weg.

Schweigend zogen sie dahin; hin und wieder hielt er an, als wolle er sich überzeugen, ob seine Ehehälfte auch folge. Wenn er feststellte, daß sie ihm dicht auf den Fersen war, beschleunigte er seine Schritte wieder.

Die Gegend war dafür bekannt, daß dort hauptsächlich Leute wohnten, die unter dem Deckmantel eines ehrlichen Gewerbes in Wirklichkeit von Raub und Diebstahl lebten. Hart am Flusse stand ein großes Gebäude, das früher eine Fabrik gewesen zu sein schien, aber jetzt nur eine Ruine war. Vor diesem Hause machte das würdige Paar halt, als das Rollen eines fernen Donners zum erstenmal die Luft erschütterte, und der Regen in Strömen herunterzukommen anfing.

„Hier herum muß es sein“, sagte Herr Bumble, auf das Papier mit der Adresse blickend.

„Hallo“, rief eine Stimme von oben.

Bumble guckte hinauf und gewahrte einen Mann, der aus einem Fenster des zweiten Stockes hinaussah.

„Einen Augenblick, ich komme sofort hinunter“, rief die Stimme.

„Ist das der Mann?“ fragte Frau Bumble.

Ihr Gatte nickte bejahend.

„Nun, so vergiß nicht, was ich dir gesagt habe“, fuhr die würdige Dame fort, „und sprich so wenig wie möglich, sonst verrätst du uns gleich.“

Monks hatte inzwischen die Tür geöffnet und rief mit ungeduldiger Gebärde:

„Kommt schnell herein, haltet mich hier nicht unnötig auf.“

Frau Bumble, die zuerst gezögert hatte, trat jetzt mutig ins Haus, und Herr Bumble, der sich schämte oder fürchtete zurückzubleiben, folgte ihr auf dem Fuße. Man konnte ihm jedoch anmerken, daß ihm nicht besonders wohl zumute war, und daß ihn die ihm eigene Würde fast ganz verlassen hatte.

„Zum Donnerwetter, warum blieben Sie draußen im Regen stehen?“ sagte Monks, als er die Tür verschloß.

„Wir – wir wollten uns nur ein bißchen abkühlen“, stammelte Bumble und sah sich furchtsam um.

„Abkühlen?“ meinte Monks. „Aller Regen, der je fiel oder noch fallen wird, vermag nicht das Höllenfeuer zu löschen, das der Mensch in seinem Innern mit sich herumtragen kann. Denken Sie nur nicht, sich so leicht abzukühlen.“

Mit diesen liebenswürdigen Worten und einem finsteren Blick wandte sich Monks zu Frau Bumble, die sonst nicht schüchtern, doch vor den wilden Augen des Mannes die ihrigen zu Boden schlug.

„Das ist die Frau, nicht wahr?“ fing Monks an.

„Ja“, sagte Bumble kurz, eingedenk der Warnung seiner Frau.

„Sie denken wohl, Frauen können keine Geheimnisse für sich behalten?“ nahm Frau Bumble das Wort und begegnete fest den beobachtenden Blicken Monks‘.

„Jedenfalls verschweigen sie immer eins so lange, bis es ans Licht kommt“, entgegnete dieser.

„Und was wäre das?“ fragte die Dame.

„Den Verlust ihres guten Namens. Ebensowenig fürchte ich, daß ein Weib ein Geheimnis ausplaudert, dessen Ausschwatzen ihr den Strick oder das Zuchthaus eintragen kann. Verstehen Sie?“

„Nein“, erwiderte Frau Bumble, sich verfärbend.

„Begreiflich, wie sollten Sie auch?“ sagte Monks ironisch.

Nachdem er dem würdigen Paar einen höhnischen Blick zugeworfen hatte, winkte er ihnen, ihm zu folgen. Als sie gerade eine steile Treppe hinaufstiegen, fuhr ein Blitzstrahl vom Himmel, dem ein so mächtiger Donnerschlag folgte, daß das ganze Gebäude bebte.

„Hört!“ rief er zurückschreckend. „Hört, als ob die Hölle losgelassen ist, ich hasse den Lärm.“

Er schwieg einige Augenblicke und hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Als er sie entfernte, schaute Herr Bumble in ein wachsbleiches, verzerrtes Gesicht.

„Ich bin manchmal solchen Anfällen unterworfen“, sagte Monks, die Bestürzung Bumbles bemerkend, „besonders bei Gewittern. Beachten Sie das nicht, es ist schon vorüber!“

Mit diesen Worten führte er sie nun eine Leiter hinauf, und oben angekommen, schloß er gleich die Fensterläden des Zimmers, in dem sie Platz genommen hatten. Er ließ eine Laterne, die an der Decke an einem Strick hing, herunter und begann:

„Je schneller wir zu Sache kommen, desto besser ist’s für uns alle. Die Frau weiß, um was es sich handelt, nicht wahr?“

Die Frage war an Herrn Bumble gerichtet, aber seine Frau kam ihm mit der Antwort zuvor und erklärte, daß sie vollkommen im Bilde wäre.

„Ist es so, wie er sagt, daß die alte Hexe Ihnen auf ihrem Totenbette etwas anvertraute –“

„In betreff der Mutter des von Ihnen benannten Knabens?“ unterbrach ihn Frau Bumbie. „Ja!“

„Es fragt sich also zunächst, worin ihre Mitteilung bestand“, sagte Monks.

„Nein, das kommt erst später“, bemerkte Frau Bumble trocken. „Zuerst handelt es sich darum, was ist die Mitteilung wert.“

„Wer, Teufel nochmal, kann das sagen, ohne zu wissen, was zur Sprache kam?“

„Ich glaube, niemand besser als Sie“, antwortete Frau Bumble, der es, wie ihr Mann aus Erfahrung bestätigen konnte, nicht an Mut gebrach.

„Hm“, meinte Monks. „Man kann wohl Geld damit herausschlagen, wie?“

„Vielleicht!“

„Man hat ihr wohl etwas fortgenommen – etwas was sie trug – etwas –“

„Nun bieten Sie schon! Ich habe bereits genug gehört und bin der Überzeugung, daß für Sie das Geheimnis von großem Wert ist.“

Herr Bumble, den seine bessere Hälfte nicht weiter in das Geheimnis eingeweiht hatte, hörte dem Gespräch mit aufgerissenen Augen zu. Er guckte mal Monks, mal seine Frau an. Groß war sein Erstaunen, als er die Summe hörte, die diese für ihre Mitteilung von Monks verlangte.

„Was ist Ihnen also die Geschichte wert?“ fragte Frau Bumble ruhig.

„Vielleicht nichts, vielleicht zwanzig Pfund“, sagte Herr Monks. „Lassen Sie hören.“

„Legen Sie noch fünf Pfund zu, geben Sie mir fünfundzwanzig Goldstücke und Sie sollen alles erfahren, was ich weiß. Eher nicht!“

„Fünfundzwanzig Pfund?“ rief Monks zurückprallend aus.

„Ich habe so offen und deutlich wie nur möglich gesprochen. Es ist nicht einmal viel“

„Nicht viel für ein lumpiges Geheimnis, das vielleicht keinen Pfennig wert und schon zwölf Jahre alt ist!“

„Solche Dinge halten sich und steigen wie gute Weine mit der Zeit oft um das Doppelte ihres Wertes“, sagte Frau Bumble mit gutgespieltem Gleichmut.

„Wie aber, wenn ich das Geld für nichts ausgebe“, sagte Monks bedenklich.

„Sie können es mir leicht wieder abnehmen“, entgegnete Frau Bumble. „Ich bin nur ein Weib, allein und ohne Schutz hier.“

„Weder allein, Schatz, noch unbeschützt“, sagte nun Herr Bumble, dabei zitterte seine Stimme vor Furcht. „Ich bin auch noch hier, Liebling. Aber“, fuhr er zähneklappernd fort, „außerdem ist Herr Monks zu sehr Ehrenmann, als,daß er eine Gewalttat gegen Gemeindebeamte begehen würde! Herr Monks weiß zwar, daß ich kein junger Mann bin und nicht mehr in der Vollkraft der Jahre stehe, aber er hat sicher auch gehört, daß ich ein energischer Beamter bin mit ungeheurer Stärke, sobald es notwendig ist. Man braucht mir nur einen Anlaß zum Einschreiten zu geben.“

„Du bist ein Idiot und tätest besser, deinen Mund zu halten“, war Frau Bumbles Antwort.

„Da haben Sie recht, wenn er nicht leiser reden kann“, sagte Monks wütend. „Das ist also Ihr Mann?“

„Er, mein Mann?!“ kicherte Frau Bumble ausweichend.

„Ich dachte es mir gleich, als Sie beide hereinkamen“, meinte Monks, als er den zornigen Blick gewahrte, den die Dame ihrem Ehegemahl zuwarf. „Desto besser; es macht mir gar nichts aus, mit zwei Menschen zu verhandeln, wenn ich nur sehe, daß sie gleichen guten Willens sind. Es ist mir ernst – sehen Sie her.“

Er holte einen Geldbeutel aus der Tasche und entnahm ihm fünfundzwanzig Goldstücke, die er Frau Bumble hinreichte.

„Nehmen Sie das Geld, und wenn das verdammte Gewitter vorüber ist, das jetzt gerade über dem Hause losbricht, erzählen Sie die Geschichte.“

Sobald das Unwetter sich gelegt hatte, hob Monks seinen Kopf von dem Tische auf und hörte aufmerksam Frau Bumble zu. Die Köpfe der drei Personen berührten sich beinahe, da die beiden Männer in ihrer Neugierde sich über den kleinen Tisch beugten, und die Frau, um ihr Flüstern vernehmlich zu machen, das gleiche tat.

„Als dieses Weib, die man die alte Sally nannte, starb“, erzählte Frau Bumble, „war ich mit ihr allein.“

„Also sonst war niemand dabei?“ fragte Monks im Flüsterton. „Keine Kranke oder Verrückte in einem anderen Bette. Niemand, der etwas hören oder verstehen konnte?“

„Keine Menschenseele! Wir waren ganz allein. Niemand außer mir war bei ihr, als der Tod über sie kam.“

„Gut, weiter.“

„Sie sprach von einem jungen Weibe“, fuhr Frau Bumble fort, „die vor einer Reihe von Jahren ein Kind zur Welt brachte – nicht nur im selben Zimmer, sondern sogar im gleichen Bette, auf dem die Alte jetzt mit dem Tode rang.“

„Wirklich?“ sagte Monks, an den Lippen nagend. „Donnerwetter! Wie doch die Dinge zuletzt kommen können.“

„Das Kind war dasselbe, das Sie ihm gestern abend nannten“, erzählte die Matrone weiter und machte eine nachlässige Kopfbewegung zu ihrem Manne hin. „Und die alte Sally bestahl das junge Weib.“

„Als sie noch lebte?“ fragte Monks.

„Nein, als sie gestorben war“, antwortete Frau Bumble, und ein Schauder überflog sie. „Sie stahl der Toten (sie war noch nicht kalt) das, was diese mit ihren letzten Atemzügen gebeten hatte, für das Kind in Verwahrung nehmen zu wollen.“

„Sie verkaufte es?“ rief Monks gespannt. „Nicht wahr, sie verkaufte es. – Wo? – wann? – an wen? – wie lange ist es schon her?“

„Als sie mir dies mit letzter Kraftanstrengung gebeichtet hatte, fiel sie zurück und starb.“

„Weiter hat sie nichts gesagt?“ rief Monks mit einer Stimme, die sich um so wütender anhörte, je mehr er sie zu dämpfen versuchte. „Das ist eine Lüge. Ich lasse mir nichts weißmachen. Sie sagte mehr. Ich erwürge euch beide, wenn ich nicht herauskriege, was es war.“

„Sie sagte weiter kein Wort“, fuhr die Matrone ruhig fort, „aber sie faßte krampfhaft mit der einen Hand mein Kleid, und als ich nach ihrem Hinscheiden die Hand losmachen wollte, fand ich darin ein Stückchen schmutzigen Papiers.“

„Was enthielt es?“ fragte Monks schnell, sich wieder vorbeugend.

„Nichts, es war ein Pfandschein.“

„Über was?“

„Darauf werde ich noch zu sprechen kommen. Ich vermute, sie hat den Schmuck eine Zeitlang aufgehoben in der Hoffnung, ihn einst besser verwerten zu können, ihn aber dann doch verpfändet. Sie hat dem Pfandleiher jedes Jahr die Zinsen bezahlt, um es sofort wieder einlösen zu können, wenn es ihr notwendig erschien. Sie starb mit dem Pfandschein in der Hand, wie ich bereits erzählte. Das Pfand wäre nach einigen Tagen verfallen, und ich löste es ein, da ich glaubte, dereinst nochmal daraus Nutzen ziehen zu können.“

„Wo ist es jetzt?“ fragte Monks rasch.

„Hier“, rief Frau Bumble und warf hastig ein kleines, ledernes Beutelchen auf den Tisch, als ob sie froh sei, es loszuwerden. Monks griff mit zitternden Händen danach und öffnete es. Es enthielt einen einfachen goldenen Trauring und ein Medaillon, in dem sich zwei Haarlocken befanden.

„Innen ist der Name Agnes eingegraben“, ergänzte Frau Bumble ihre Erzählung. „Für den Zunamen hat man Raum gelassen, und dann folgt ein Datum, welches in das Jahr vor der Geburt des Kindes fällt. Das habe ich herausgefunden!“

„Und das ist alles?“ fragte Monks, nachdem er den Inhalt des Beutelchens festgestellt hatte.

„Ja, alles“, antwortete die Matrone.

Herr Bumble holte tief Atem, als freue er sich, daß die Geschichte zu Ende sei, ohne daß von einer Zurückgabe der fünfundzwanzig Pfund gesprochen wurde.

„Ich weiß von der Sache nichts weiter, als was ich mutmaßen kann“, sagte Frau Bumble nach kurzem Schweigen zu Monks. „Und will auch nicht mehr davon wissen, das ist sicherer. – Aber darf ich zwei Fragen an Sie richten?“

„Das können Sie“, versetzte Monks, überrascht. „Ob ich sie aber beantworten werde, ist eine andere Frage.“

„Macht zusammen drei Fragen“, meinte Bumble und wollte damit einen Witz machen.

„War es das, was Sie von mir zu hören erwarteten?“ fragte Frau Bumble.

„Ja“, antwortete Monks. „Und die andere Frage?“

„Was gedenken Sie zu tun? Kann es gegen mich gebraucht werden, kann ich Schaden dadurch haben?“

„Nie, weder gegen Sie noch gegen mich“, sagte Monks. „Schaut her, aber tut keinen Schritt vorwärts, sonst ist euer Leben keinen Pfifferling wert!“

Mit diesen Worten schob er plötzlich den Tisch beiseite und öffnete vor Herrn Bumbles Füßen eine Falltür, so daß dieser eiligst ein paar Schritte zurücktrat.

„Gucken Sie da hinunter“, sagte Monks und ließ die Laterne hinab. „Sie brauchen keine Angst zu haben. Wenn ich die Absicht gehabt hätte, Sie verschwinden zu lassen, so hätte ich es vorhin gekonnt, als Sie über der Falle saßen.“

So ermutigt, näherte sich Frau Bumble dem Rande, und sogar ihr Gatte wagte es, von Neugierde getrieben, dasselbe zu tun. Das trübe, vom Regen angeschwollene Wasser rauschte unten so ungestüm, daß alle anderen Laute sich in dem Geräusch der brausenden gegen die grünen Pfeiler anschlagenden Wogen verloren.

„Wo würde wohl morgen früh der Leichnam des Menschen sein, den man jetzt hier hinunterwürfe“, fragte Monks und ließ die Laterne in dem dunklen Schlunde hin und her schwingen.

„Zwölf Meilen weiter unten im Flusse und obendrein in Stücke zerrissen“, meinte Bumble, bei dem bloßen Gedanken schon zitternd.

Monks holte nun das Beutelchen mit dem Medaillon und Trauring aus seiner Tasche und befestigte ein Bleistück von einem alten Flaschenzug daran, der zerbrochen in einer Ecke lag. Dann ließ er es hinunterfallen, und man hörte ein schwaches Plätschern, als es ins Wasser glitt.

Alle drei blickten einander an und schienen freier zu atmen.

„So!“ sagte Monks, indem er die Falltür wieder schloß. „Wenn die See auch wieder ihre Toten herausgibt, wie in den Büchern steht, Gold und Silber – und daher auch diesen Plunder wird sie wohl für sich behalten. – Wir haben uns nichts mehr zu sagen und können die Sitzung aufheben. Aber daß Sie mir reinen Mund halten“, fuhr er mit drohender Gebärde gegen Bumble fort. „Wegen Ihres Weibes bin ich unbesorgt.“

„Sie können sich auf mich verlassen, junger Mann“, entgegnete Herr Bumble, der sich allmählich unter vielen höflichen Verbeugungen der Leiter näherte. „Um unser aller willen. Sie wissen ja, es könnte mir ebenso nachteilig werden wie den anderen.“

„Das ist mir für Sie lieb zu hören. Nun zünden Sie Ihre Laterne an und machen Sie, daß Sie so schnell als möglich von hier fortkommen.“

Es war ein Glück, daß die Unterhaltung hier endete, sonst wäre Herr Bumble, der sich bereits bis auf die Ent,fernung von sechs Zoll nach der Leiter hinkomplimentiert hatte, kopfüber in den unteren Raum hinabgestürzt. Er zündete eine Laterne an und stieg stillschweigend hinunter, während Frau Bumble nachfolgte. Monks kam hinterdrein, nachdem er noch einige Augenblicke gehorcht hatte. Sie gingen langsam und vorsichtig über den Hausflur, und Monks entriegelte und öffnete leise die Tür. Mit einem einfachen Kopfnicken verabschiedete sich das wackere Ehepaar von ihrem geheimnisvollen Bekannten und trat in die Nacht und den Regen hinaus.

Sie hatten sich kaum entfernt, als Monks einen Jungen rief, der irgendwo versteckt gewesen sein mußte, ihn mit dem Licht vorangehen hieß und nach dem Gemach zurückkehrte, das er eben verlassen hatte.

In dem wieder alte Bekannte erscheinen, und das zeigt, wie Monks und der Jude ihre würdigen Köpfe zusammenstecken

Am Abend des folgenden Tages erwachte Herr William Sikes aus seinem Schlummer und fragte noch schlaftrunken, wieviel Uhr es sei.

Die Stube, in der er lag, war keine von denen, die er vor dem Einbruch bewohnt hatte, aber sie befand sich in demselben Stadtviertel und war nicht weit von seiner früheren Wohnung. Es war ein kümmerliches, kleines Gemach, das nur durch ein einziges kleines Dachfenster Licht erhielt. Auch fehlte es nicht an anderen Zeichen, daß der Ehrenmann in letzter Zeit ziemlich heruntergekommen war. Das wenige Hausgerät, der Mangel aller Bequemlichkeit und sein abgemagertes Aussehen bestätigten es.

Der Räuber lag in einen weißen Mantel gehüllt auf dem Bette und zeigte ein Gesicht, dessen krankhafte Blässe durch den eine Woche alten, schwarzen Stoppelbart nicht verschönert wurde. Der Hund lag neben dem Bette, bald aufmerksam seinen Herrn anblickend, bald die Ohren spitzend und knurrend, wenn irgendein Geräusch seine Aufmerksamkeit erregte. Am Fenster saß mit der Ausbesserung einer dem Einbrecher gehörigen Weste beschäftigt, eine blasse, durch Entbehrungen und Nachtwachen so heruntergekommene Frauensperson, daß man in ihr nicht leicht die frühere Nancy wiedererkannt haben würde, wenn nicht ihre Stimme gewesen wäre, die den alten Klang hatte.

„Es hat vor kurzem sieben geschlagen“, sagte das Mädchen. „Wie geht es dir heute abend, Bill?“

„So schwach wie Wasser“ erwiderte er mit einem kräftigen Fluch. „Reich mir mal die Hand, damit ich aus diesem verwünschten Bette komme.“

Die Krankheit hatte Sikes nicht milder gestimmt, denn als ihm das Mädchen aufhalf und ihn nach einem Stuhl geleitete, fluchte er über ihre Ungeschicklichkeit und prügelte sie.

„Heulst du schon wieder!“ fuhr Sikes sie an. „Laß bloß das Geplärre bleiben. Schere dich zum Teufel, wenn du nichts Besseres tun kannst. Verstanden?“

Jawohl“, sagte das Mädchen, das Gesicht zur Seite wendend, und zwang sich zu einem Lächeln. „Was hast du nur wieder?“

„Hast dich eines Besseren besonnen“, brummte Sikes, als er noch eine in ihrem Auge hängende Träne gewahrte.

„Um so besser für dich.“

„Ach, du kannst heute abend nicht schlecht zu mir sein“, sagte sie und legte ihre Hand auf seine Schulter.

„Warum nicht?“ brüllte er.

„So viele Nächte“, sagte das Mädchen mit einem Anflug von weiblicher Zärtlichkeit, die ihrer Stimme eine gewisse Weichheit verlieh, „so viele Nächte habe ich dich wie ein Kind geduldig gewartet und gepflegt und sehe dich heute zum ersten Male wieder bei Besinnung. Du würdest mich nicht so behandelt haben wie eben, wenn du daran gedacht hättest, nicht wahr? Bitte sage, du hättest es nicht getan!“

„Nun ja, ich hätte es wahrscheinlich nicht getan, aber, zum Donnerwetter, da fängt sie schon wieder zu heulen an.“

„Es ist nichts“, sagte Nancy und warf sich in einen Stuhl. „Laß mir einen Augenblick Ruhe, und es ist gleich vorüber.“

„Was wird vorüber sein?“ fragte Sikes wütend. „Was ist das wieder für ein Blödsinn. Steh auf und tue etwas, aber bleib mir mit deinem Weiberquatsch vom Leibe!“

Zu jeder anderen Zeit würde diese Aufforderung und der Ton, in dem sie gesprochen wurde, die gewünschte Wirkung gehabt haben. Aber das Mädchen war in der Tat abgespannt und ganz erschöpft, ließ den Kopf auf die Stuhllehne fallen und wurde ohnmächtig, ehe noch Herr Sikes einige passende Flüche ausstoßen konnte, mit denen er bei ähnlichen Gelegenheiten seine Drohungen auszuschmücken pflegte. Da er nicht wußte, was in diesem Falle zu tun sei, denn Nancys hysterische Anfälle waren meistens von jener heftigen Art, die der Kranke gewöhnlich ohne sonderlichen Beistand selbst durchkämpft – so versuchte er es zuerst mit ein bißchen Gotteslästerung, und als sich diese Behandlungsweise als ganz unwirksam erwies, rief er nach Hilfe.

„Was ist los, Freundchen?“ fragte der Jude, in die Stube tretend.

„Da, hilf dem Mädchen gefälligst“, schrie Sikes ungeduldig. „Steh nicht da, um zu quatschen und mich anzugrinsen!“

Mit einem Ausruf der Überraschung beeilte sich Fagin, dem Mädchen Beistand zu leisten, während Herr Jack Dawkins (sonst auch der Gannef genannt), welcher nach seinem würdigen Freunde ins Zimmer getreten war, schnell ein Bündel, das er in der Hand trug, auf die Erde warf und Herrn Karl Bates, der ihm auf dem Fuße folgte, eine Flasche aus der Hand riß. In einem Augenblick entkorkte er sie mit den Zähnen und goß der Kranken einen Teil ihres Inhalts in den Mund, nachdem er denselben vorher selbst gekostet hatte, um eine etwaige Verwechslung zu verhüten.

„Bring ihr mit dem Blasebalg etwas frische Luft unter die Nase“, sagte der Gannef zu Karl Bates. „Und Sie, Fagin, reiben ihr die Handflächen, während Bill ihr das Mieder aufmacht!“

Diese vereint angewandten Belebungsmittel übten bald die gewünschte Wirkung aus. Das Mädchen kam allmählich wieder zu sich, wankte nach einem Stuhl am Bett, verbarg ihr Gesicht in den Kissen und überließ es Herrn Sikes, die Neuankömmlinge gebührend zu empfangen.

„Donnerwetter, welch böser Wind hat dich hierher verschlagen?“ fragte er Fagin.

„Kein böser Wind, mein Lieber“, antwortete der Jude, „denn schlimme Winde blasen niemand etwas Gutes zu. Ich habe Euch aber etwas Gutes mitgebracht, das Euer Herz erfreuen wird. Gannef, mach doch mal das Bündel auf und gib Bill die Kleinigkeiten, wofür wir heute morgen unser ganzes Geld ausgegeben haben.“

Der Gannef öffnete nun das ziemlich große Bündel, das aus einem zusammengeschlagenen alten Tischtuch bestand, und händigte den Inhalt desselben, Stück für Stück, Karl Bates aus. Dieser legte die Gegenstände unter Lobsprüchen über ihre Vortrefflichkeit auf den Tisch.

„Seht, die Kaninchenpastete, Bill. Köstliche, zarte Tierchen, daß einem sogar ihre Knochen auf der Zunge zergehen, und man sie nicht erst abzunagen braucht; – und hier den Tee, so stark, daß er beinahe den Deckel der Teekanne in die Luft wirft; – und den Zucker – den herrlichen Chesterkäse – und dann, was sagt Ihr nun?“

Hier brachte Herr Bates aus einer seiner umfangreichen Taschen eine ziemlich große, sorgfältig verkorkte Weinflasche zum Vorschein.

„Ja!“ sagte Fagin, mit zufriedenem Lächeln sich die Hände reibend. „Das wird Euch schmecken, das wird Euch bekommen, Bill.“

„Bekommen?“ schrie Sikes. „Ich hätte zehnmal umkommen können, ohne daß du für mich auch nur einen Finger krümmtest. Was soll das heißen, daß du mich über drei Wochen in dieser Patsche sitzen ließest, du falscher Hund, du!“

„Nun hört bloß mal an, Jungens“, sagte der Jude achselzuckend; „und wir kommen her, um ihm alle diese wundervollen Sachen zu bringen.“

„Die Sachen sind ja schön und gut“, meinte Sikes etwas besänftigt, als er den Tisch überblickte, „aber was hast du zu deiner Entschuldigung anzuführen, daß du mich hier krank und ohne alle Mittel liegen ließest, als wäre ich ein Hund wie dieser da. Still, Köter!“ brüllte er seinen Hund an, als dieser knurrte. „Also womit kannst du dich ausreden, du altes Gerippe?“

„Ich war über eine Woche von London weg, lieber Freund – in Geschäften.“

„Und die anderen vierzehn Tage? Warum hast du dich da nicht um mich gekümmert, ich hätte krepieren können wie eine kranke Ratte in ihrem Loche!“

„Ich konnt’s nicht anders, Bill. Vor so vielen Zuhörern kann ich mich jedoch nicht auf eine lange Erörterung einlassen. Es war mir aber unmöglich. Auf Ehre!“

„Auf – was?“ fragte Sikes mit dem Ausdruck höchster Verachtung im Gesicht. „Jungens, schneidet einer mir mal ein Stück von der Pastete ab, damit ich den üblen Geschmack von seiner Ehre aus dem Munde kriege, oder ich ersticke dran!“

„Nicht so hitzig, lieber Freund“, sprach der Jude unterwürfig. „Ich habe Euch nicht vergessen, – niemals, Bill.“

„Nein, ich will meinen Kopf verwetten, daß du es nicht tatest“, meinte Sikes höhnisch. „Die ganze Zeit über, als ich hier im Fieber lag, hast du Pläne ausgeheckt. Bill sollte dies und Bill sollte das tun. Und alles sollte Bill spottbillig machen, sobald er wieder gesund und arm genug wäre, um von dir ausgenutzt werden zu können. Hätte ich das Mädchen nicht gehabt, so wäre ich wahrscheinlich verreckt!“

„Das ist’s ja gerade, Bill“, sagte der Jude, der begierig den letzten Satz auffaßte. „Wenn Ihr das Mädchen nicht gehabt hättet! Aber war es nicht der arme alte Fagin, der Euch das Mädchen zuführte, und hättet Ihr sie gehabt ohne mich?“

„Weiß Gott, da hat er recht“, meinte Nancy, hastig hervortretend. „Laß ihn, Bill, laß ihn.“

Nancys Einmischung gab dem Gespräch eine andere Wendung, denn die Jungen begannen auf einen Wink des schlauen alten Juden, sie mit Schnaps zu traktieren, von dem sie jedoch nur sparsam genoß. Fagin, der eine große Lustigkeit zur Schau trug, brachte allmählich Herrn Sikes in eine bessere Laune. Er tat so, als betrachte er dessen Drohungen nur als Scherz und belachte den einen oder den anderen derben Witz des Einbrechers recht geräuschvoll. Herr Sikes, der der Schnapsflasche wiederholt in reichlichem Maße zugesprochen hatte, sagte:

„Das ist alles ganz schön und gut, aber ich muß heute noch Draht von dir haben.“

„Ich habe nicht einen Pfennig bei mir“, sagte Fagin.

„Aber haufenweise zu Hause“, entgegnete Sikes.jedenfalls mußt du Draht heranschaffen.“

„Haufenweise?“ rief der Jude in komischem Entsetzen. „Ich habe nicht so viel, wie – -„

„Ich weiß nicht, wieviel Zaster du hast, und ich wette, es ist dir selbst nicht einmal bekannt, da eine ziemliche Zeit dazu gehören würde, alle die Goldfüchse zu zählen. Aber ich muß noch heute abend Geld haben – und damit basta!“

„Schon gut“, sagte der Jude mit einem Seufzer, „ich werde den Gannef schicken.“

„Das laß man, der würde vielleicht das Wiederkommen vergessen oder den Weg verlieren oder die Greifer würden ihn fassen, so daß er nicht. hätte kommen können – um Ausreden ist der ja nicht verlegen. Nancy soll in deine Lasterhöhle mitgehen und den Draht holen. Das ist sicherer; inzwischen werde ich noch ein bißchen pennen!“

Nach vielem Feilschen handelte Fagin die geforderte Summe von fünf Pfund auf drei Pfund vier Schilling und sechs Pence herunter, wobei er wiederholt feierlich beteuerte, daß ihm nur noch achtzehn Pence zum Leben übrigblieben. Herr Sikes meinte mürrisch, das wäre auch genug, worauf Nancy sich zum Fortgehen fertig machte. Fagin nahm nun Abschied von seinem ehrenwerten Freunde und trat, von Nancy und den beiden Jungen begleitet, den Rückweg an, während sich Sikes aufs Bett warf.

Als sie in der Wohnung des Juden ankamen, fanden sie dort Toby Crackit und Herrn Chitling eifrig beim fünfzehnten Spiel Cribbage, das der letztere natürlich mit seinem fünfzehnten und letzten Sixpencestück verlor – zur großen Erheiterung seiner jungen Freunde. Herr Crackit schien sich etwas zu schämen, in einer derartigen Unterhaltung mit einem Menschen betroffen worden zu sein, der hinsichtlich seiner Stellung und Geistesgaben so weit unter ihm den Rang einnahm. Er gähnte und fragte so beiläufig nach Sikes, dann nahm er seinen Hut, um zu gehen.

„Ist niemand hier gewesen, Toby?“ fragte der Jude.

„Kein Bein. Es war hier so langweilig wie in der Kirche. Ihr müßt eigentlich mit einer Belohnung herausrücken, daß ich Euch das Haus solange gehütet habe. Weiß der Teufel, mir ist im Kopf so dumm wie einem Geschwornen. Ich wäre glatt eingeschlafen, wenn mich meine Gutmütigkeit nicht bewogen hätte, diesen jungen Menschen da zu unterhalten. Es war furchtbar stumpfsinnig, hol mich der Teufel, wenn’s nicht wahr ist.“

Er steckte mit hochmütiger Miene seinen Gewinn in die Westentasche, als wären solche kleinen Silberstücke der Beachtung eines Mannes von seiner Bedeutung gar nicht wert, und verließ das Zimmer in seiner gewohnten vornehmen Haltung. Herr Chitling schickte ihm bewundernde Blicke nach und versicherte, daß er die Bekanntschaft dieses Herrn für fünfzehn Sixpences nicht zu teuer erkauft zu haben glaube.

„Du bist ein schnurriger Kerl, Tom“, sagte Herr Bates, den diese Erklärung höchlich ergötzte.

„Nicht im mindesten“, versetzte Herr Chitling. „Nicht wahr, Fagin?“

„Du bist ein ganz gescheiter Bursche“, sagte der Jude, ihm auf die Schulter klopfend, während er den beiden anderen Jungen einen bezeichnenden Blick zuwarf.

„Und Herr Crackit ist ein großer Stutzer, nicht wahr, Fagin?“ fragte Tom.

„Ohne Zweifel, mein Lieber“, erwiderte der Jude.

„Und es gereicht einem zur Ehre, sich seiner Bekanntschaft erfreuen zu dürfen, nicht wahr, Fagin?“ fuhr Tom fort.

„Allerdings, sehr. Sie sind nur eifersüchtig, weil er sich mit ihnen nicht abgeben mag.“

„Also da liegt der Hase im Pfeffer“, rief Tom triumphierend. Er hat mich zwar kahl ausgeplündert, aber ich kann ja hingehen und mir wieder neues Geld verschaffen, sobald ich Lust habe – stimmt’s, Fagin?“

„Sicher kannst du’s“, versetzte der Jude, „und je eher du es tust, desto besser ist’s. Sieh zu, daß du deinen Verlust schnell wieder gutmachst, und vertrödle keine Zeit. Gannef, Karl, für euch ist es auch Zeit, an die Arbeit zu gehen, es ist schon zehn Uhr und noch nichts getan.“

Die beiden Jungen nahmen ihre Hüte, nickten Nancy zu und verließen das Zimmer. Sie machten sich unterwegs über Herrn Chitling lustig, obgleich dessen Benehmen, wenn man gerecht sein will, gar nicht so besonders auffallend oder ungewöhnlich gewesen war. Gibt es doch überall viele vortreffliche junge Herren, die weit höhere Summen aufwenden als Herr Chitling, um in guter Gesellschaft gesehen zu werden.

„Nun will ich Ihnen das Geld holen, Nancy. Dieser Schlüssel gehört zu einem kleinen Schrank, wo ich die Sachen aufbewahre, die die Jungen bringen. Ich schließe mein Geld nämlich nie ein, weil ich keins einzuschließen habe, meine Liebe. Ha! ha! ha! Es ist ein kümmerliches Geschäft, Nancy, und man hat keinen Dank davon. Aber ich habe die jungen Leute gern um mich, und so hält man eben aus. – Pst!“ unterbrach er sich und verbarg hastig den Schlüssel in seiner Brusttasche. „Wer mag das sein? Horch!“

Nancy saß mit gekreuzten Armen am Tisch und schien sich für den Besuch nicht sonderlich zu interessieren, als das Geflüster einer Männerstimme an ihr Ohr schlug. Sofort riß sie ihren Hut und Schal ab und warf beides unter den Tisch. Wie sich der Jude umwandte, klagte sie mit matter Stimme über Hitze.

„Ach“, murmelte der Jude, „es ist der Mann, den ich vorhin erwartete. Er kommt die Treppe herab. Sprechen Sie, wenn er da ist, nicht von dem Gelde, Nancy. Er wird nicht lange bleiben – keine zehn Minuten!“

Den Zeigefinger an die Lippen legend, ging der Jude mit der Kerze an die Tür und erreichte sie gleichzeitig mit dem Besucher, der rasch ins Zimmer trat und dicht vor dem Mädchen stand, ehe er es bemerkte.

Es war Monks.

„Eine von meinen Schülerinnen“, erklärte Fagin, als er sah, daß Monks beim Anblick des fremden Gesichts zurückfuhr. „Bleiben Sie ruhig sitzen, Nancy.“

Diese rückte näher an den Tisch und blickte mit gleiche gültiger Miene nach Monks hin, dann wandte sie die Augen ab. Als sich Monks aber zu dem Juden umdrehte, schielte sie beobachtend zu ihm hin, daß ein dritter kaum geglaubt hätte, daß diese beiden Blicke von derselben Person wären.

„Neuigkeiten?“ fragte der Jude.

„Große.“

„Und – und – gute?“ fragte Fagin mit langsamer Stimme, als fürchtete er, den anderen durch große zur Schau getragene Zuversicht zu reizen.

„Jedenfalls keine schlechten“, versetzte Monks lächelnd. „Diesmal war ich fix genug. Doch ich möchte mit Euch allein sprechen.“

Das Mädchen rückte noch näher an den Tisch heran und tat so, als ob sie den Wink nicht verstand. Fagin, der wohl fürchtete, sie möge von dem Geld sprechen, wenn er sie hinausgehen ließ, zeigte nach oben und ging mit Monks aus dem Zimmer.

„Nur nicht wieder in das verfluchte Loch, wo wir neulich waren“, hörte Nancy noch den Mann sagen, als beide die Treppe hinaufstiegen. Fagin lachte und gab eine Antwort, die sie nicht mehr vernehmen konnte. Aus dem Knarren der Dielen schloß sie, daß er seinen würdigen Freund nach dem zweiten Stocke hinaufgeführt hatte.

Kaum waren die Fußtritte der beiden verhallt, als das Mädchen seine Schuhe auszog, aus dem Zimmer eilte und mit unglaublicher Geschwindigkeit geräuschlos die Treppe hinaufflog. Oben verlor sie sich im Dunkel.

Das Zimmer blieb über eine Viertelstunde leer. Dann kam Nancy mit gespensterhaften Schritten wieder zurück, und gleich darauf hörte man auch die beiden Männer herunterkommen. Monks verließ sogleich das Haus, und der Jude holte das Geld. Als er zurückkam, rückte sich das Mädchen gerade ihren Hut zurecht, als ob sie sich zum Gehen vorbereite.

„Donnerwetter, Nancy“, rief Fagin erschrocken, als er das Licht auf den Tisch setzte, „wie blaß Sie aussehen!“

„Blaß?“ sagte das Mädchen, ihn fest ansehend.

„Ganz furchtbar. Was ist denn los?“

„Nichts. Aber die dumpfe Luft hier im Zimmer ist angreifend. – Gebt schon das Geld, damit ich fort kann.“

Fagin zählte ihr, mit einem Seufzer bei jedem Stück, das Geld in die Hand, worauf sie sich mit einem einfachen „Gute Nacht!“ trennten.

Als sie auf der Straße war, setzte sie sich auf eine Türschwelle nieder und schien ganz erschöpft zu sein, als ob sie unfähig wäre, ihren Weg fortzusetzen. Plötzlich erhob sie sich aber und lief in entgegengesetzter Richtung von Sikes‘ Wohnung davon. Endlich hielt sie atemlos inne, um neu Luft zu schöpfen. Mit einemmal schien ihr die Besinnung zu kommen, daß sie unfähig war, das, was sie vorhatte, auszuführen. Sie brach in Tränen aus und rang die Hände.

Möglich, daß die Tränen ihr Erleichterung verschafften, oder daß sie die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage erkannte – genug, sie kehrte wieder um und eilte, um die verlorene Zeit wieder einzubringen, mit großer Hast nach Sikes‘ Wohnung.

Herr Sikes bemerkte ihre Aufregung nicht und fragte bloß, ob sie das Geld hätte. Auf ihre bejahende Antwort setzte er den unterbrochenen Schlaf fort.

Es war ein Glück für Nancy, daß das Geld Herrn Sikes in den Stand setzte, sich am andern Tage ganz mit Essen und Trinken zu beschäftigen. Das hatte eine so wohltätige Wirkung auf seine Stimmung, daß er weder Lust noch Neigung spürte, sich um ihr Benehmen zu bekümmern. Sein luchsäugiger Freund Fagin würde aber wahrscheinlich ihre Unrast auf den ersten Blick entdeckt haben und auf die Vermutung gekommen sein, daß ihr Aufgeregtsein auf irgendeinen gefährlichen Schritt hindeutete, zu dessen Ausführung sie sich erst nach einem inneren harten Kampf entschließen konnte. Freilich – Herr Sikes hatte nicht diesen scharfen Blick, wie denn auch einem so rauhen Burschen zartere Gefühlsäußerungen nicht leicht auffallen konnten.

Je näher der Abend heranrückte, desto mehr wuchs die Unruhe des Mädchens. Als sie am Bette des Einbrechers saß und wartete, daß er sich in den Schlaf trinken möge, lag eine so ungewöhnliche Blässe auf ihren Wangen, und in ihren Augen blitzte ein solches Feuer, daß es selbst Sikes auffallen mußte.

Dieser, durch das Fieber geschwächt, trank den Schnaps mit heißem Wasser vermischt, damit er weniger aufregend wirke. Er hatte Nancy gerade sein Glas gereicht, damit sie es zum dritten oder vierten Male wieder fülle, als er des Mädchens Blässe gewahrte.

„Zum Henker!“ schrie er und richtete sich im Bette auf, „du siehst ja wie eine wandelnde Leiche aus. Was ist dir?“

„Was mir ist?“ sagte das Mädchen. „Nichts! Warum starrst du mich so an?“

„Was ist das wieder für ein Blödsinn?“ tobte Sikes, dabei faßte er sie am Arm und schüttelte sie derb. „Was ist los? Was bedeutet das? Wo sind deine Gedanken?“

„Bei gar manchem, Bill“, versetzte sie schaudernd und preßte die Hände an die Augen. „Aber, lieber Gott, wäs ist da komisch dran?“

Der Ton erzwungener Heiterkeit, in dem sie die letzten Worte sprach, schien auf den Einbrecher einen tieferen Eindruck zu machen als ihr starrer Blick vorher.

„Ich will dir mal sagen, was es ist“, sagte Sikes.

„Falls du nicht vom Fieber angesteckt bist und es jetzt selbst kriegst, so führst du etwas Schlimmes im Schilde. Du wirst doch nicht hingehen – nein, Gott verdamm mich, so etwas kannst du nicht tun!“

„Was tun?“ fragte das Mädchen.

„Es gibt“, murmelte Sikes vor sich hin und richtete seinen Blick fest auf sie, „es gibt auf der ganzen Welt kein treueres und zuverlässigeres Mädel, sonst hätte ich ihr schon vor drei Monaten den Hals abgeschnitten. Sie hat das Fieber – das ist alles.“

Nachdem er sich so selbst beruhigt hatte, leerte Sikes das Glas und verlangte unter dem üblichen Gefluche seine Arznei. Das Mädchen sprang schnell auf und goß, ihm den Rücken zukehrend, die Medizin in eine Tasse, die er sogleich austrank.

„Nun“, sagte der Räuber, „komm, setze dich zu mir, zeige mir aber dein gewöhnliches Gesicht, wenn du nicht willst, daß ich es dir in einer Weise verändere, die dir das Wiedererkennen schwer macht.“

Nancy gehorchte, und Sikes, der ihre Hand fest umklammerte, legte sich auf die Kissen zurück und heftete den Blick auf sie. Nachdem er sich einigemal unruhig hin und her gewälzt hatte, fielen ihm schließlich die Augen zu, und seine Hand öffnete sich; der Arm fiel schlaff an seiner Seite nieder, und der Einbrecher lag wie in tiefer Betäubung da.

„Der Schlaftrunk hat endlich gewirkt“, murmelte sie, „doch vielleicht ist es jetzt schon zu spät.“

Sie nahm rasch ihren Hut und Schal, sah sich aber alle Augenblicke ängstlich um, als ob sie trotz des Schlaftrunks jede Sekunde den Druck von Sikes‘ schwerer Hand zu fühlen fürchte. Dann beugte sie sich langsam über den Schläfer und küßte seine Lippen, worauf sie schnell das Zimmer verließ und aus dem Hause schlüpfte.

Ein Nachtwächter rief halb zehn, und sie fragte, ob es schon lange nach dieser Zeit wäre.

„In einer Viertelstunde wird es voll schlagen“, erwiderte der Mann, ihr mit der Laterne ins Gesicht leuchtend.

„Vor einer Stunde kann ich nicht dort sein“, flüsterte Nancy und rannte eilig die Straße hinunter. Sie jagte auf dem schmalen Pflaster nur so dahin, stieß rücksichtslos die Vorübergehenden in ihrem tollen Lauf an und drängte sich mit Gewalt durch Haufen von Menschen, die ihr im Wege waren.

Es war elf Uhr abends, als sie sich dem Orte ihrer Bestimmung näherte. Dieser war ein Haus in einer ruhigen, aber schönen Straße unweit des Hydeparks. Mit einem raschen Entschlusse trat sie in den Hausflur. Die Pförtnerstube war leer. Sie blickte unsicher umher und ging auf die Treppe zu.

„Nun, junge Frau“, rief ein adrett gekleidetes Dienstmädchen aus einer Tür ihr zu, „zu wem wollen Sie denn?“

„Zu einer Dame, die in diesem Hause wohnt“, antwortete Nancy.

„Zu einer Dame?“ fragte das Mädchen und musterte Nancy unverschämt von oben bis unten. „Bitte, zu welcher Dame?“

„Zu Fräulein Maylie!“

Das Dienstmädchen forderte nun einen Diener auf, Nancy die nötige Auskunft zu geben, worauf sich dieser das Gesuch vortragen ließ.

„Wen soll ich melden?“ fragte er.

„Der Name tut nichts zur Sache!“

„Und was ist Ihr Anliegen?“ fuhr der Bediente fort.

„Das kommt auch nicht in Betracht. Ich muß die Dame selbst sprechen!“

„Da wird nichts draus“, damit schob er sie zur Haustür. „Scheren Sie sich weg!“

„Man kann mich nur mit Gewalt hinausbringen, und dazu dürften wohl zwei wie Sie nötig sein“, schrie Nancy laut. „Ist denn keiner hier“, sagte sie, sich umblickend, „der für ein armes Mädchen eine einfache Botschaft ausrichten will?“

Das machte auf einen gutmütigen Koch, der mit der anderen Dienerschaft dem Auftritte zusah, Eindruck, und er legte sich ins Mittel.

„Weißt du, Joe, tue ihr doch den Gefallen.“

„Hat doch keinen Zweck!“ versetzte der Bediente. „Die junge Dame wird doch solche Person nicht annehmen. Das glaubst du wohl selbst nicht!“

Diese Anspielung auf Nancys zweideutiges Aussehen weckte ein gewaltiges Maß tugendhafter Entrüstung in den Herzen der vier Dienstmädchen. Sie erklärten mit großer Geschwätzigkeit, dieses Geschöpf sei eine Schande ihres Geschlechts, und man könne nichts Besseres tun, als sie ohne Gnade auf die Straße zu setzen.

„Fangt mit mir an, was ihr wollt“, sagte Nancy zu den Männern, „aber tut zuerst, um was ich euch bat. Um Gottes willen, richtet meine Botschaft an die junge Dame aus.“

Der gutmütige Koch unterstützte ihre Bitte und erreichte damit, daß der zuerst erschienene Diener die Meldung übernahm.

„Also was soll ich der Herrschaft sagen?“ fragte er, mit einem Fuß auf der Treppe.

„Daß ein junges Mädchen dringend um eine Unterredung mit Fräulein Maylie unter vier Augen bittet. Die Dame wird nach meinen ersten Worten schon urteilen können, ob sie mich weiter anhören will oder mich hinauswerfen lassen muß.“

„Ich meine, das ist ein starkes Stück“, sagte einer der Diener.

„Richten Sie das aus“, versetzte Nancy bestimmt, „und lassen Sie mich die Antwort wissen.“

Der Diener eilte die Treppe hinauf. Nancy stand bleich und mit zuckenden Lippen da, als dauernd abfällige Bemerkungen über sie, in denen die züchtigen Dienstmädchen sich gar nicht genugtun konnten, an ihr Ohr drangen. Ihre Beklommenheit nahm noch zu, als der Diener zurückkam und ihr sagte, sie möge hinaufgehen.

„Was hat man eigentlich in der Welt davon, wenn man anständig bleibt?“ meinte das eine Dienstmädchen.

„Messing gilt mehr als das im Feuer erprobte Gold“, sagte das zweite.

Das dritte begnügte sich mit der Frage, aus welchem besseren Stoffe wohl Damen sein mögen.

Und das vierte übernahm den Sopran in dem harmonischen Quartett: „Es ist ’ne Sünd‘ und Schande“, womit die vier keuschen Dianen schlossen.

Ohne auf diese Redensarten zu achten – denn sie hatte wichtigere Dinge auf dem Herzen –, folgte Nancy mit zitternden Knien dem Diener in ein kleines, durch eine Hängelampe erleuchtetes Zimmer. Hier verschwand er, und sie blieb allein.

Eine denkwürdige Zusammenkunft, die gewissermaßen die Fortsetzung des vorigen Kapitels ist

Nancy hatte ihr Leben lang auf den Straßen der Hauptstadt und in den scheußlichsten Lasterhöhlen zugebracht, aber trotzdem hatte sie sich einen Rest von der Natur des Weibes bewahrt. Als sie hinter der Tür leichte sich nähernde Schritte vernahm und des großen Gegensatzes gedachte, den das kleine Gemach im nächsten Augenblick umschließen sollte, da fühlte sie sich von dem Gewicht ihrer eigenen tiefen Erniedrigung fast zu Boden gedrückt. Sie schrak zusammen, als könne sie die Gegenwart der Dame, die sie so dringend zu sprechen verlangt hatte, kaum ertragen.

Doch gegen diese besseren Gefühle kämpft der Stolz – eine Eigenschaft, die die niedrigsten und verworfensten Geschöpfe mit den Höchststehenden und sich ihres Wertes Bewußten gemein haben. Die elende Genossin von Dieben und Halunken aller Art, die tiefgesunkene Bewohnerin der gemeinsten Schlupfwinkel, die Verbündete des Auswurfs der Zuchthäuser und Galeeren, die bildlich gesprochen mit dem Strick des Henkers um den Hals lebte – selbst dieses so tief herabgewürdigte Geschöpf fühlte sich zu stolz, um auch nur die geringste Regung des weiblichen Gefühls zu verraten. Es kam ihr wie eine Schwäche vor, obgleich sie doch nur durch dieses einzige Band mit der edleren Menschheit verknüpft war, deren äußere Spuren ein wüstes Leben schon in den Tagen ihrer Kindheit verwischt hatte.

Nancy erhob die Augen so weit, um gewahren zu können, daß die Gestalt, die jetzt ins Zimmer trat, die eines zarten und schönen Mädchens war. Dann schlug sie die Augen wieder nieder und sprach mit angenommener Gleichmütigkeit:

„Es hält schwer, Sie zu Gesicht zu bekommen, Fräulein! Wäre ich empfindlich gewesen und wieder fortgegangen, wie es wohl die meisten getan hätten, so würden Sie wohl eines Tages Grund gehabt haben, es zu bereuen.“

„Es tut mir leid, wenn man Sie unhöflich behandelt hat“, sagte Rosa. „Doch denken Sie nicht mehr daran, und sagen Sie mir, warum Sie mich zu sprechen wünschen. Ich bin Fräulein Maylie.“

Der freundliche Ton dieser Antwort, die liebliche Stimme und das sanfte Benehmen, in dem keine Spur von Hochmut oder Verachtung war, überraschten Nancy derart, daß sie in Tränen ausbrach.

„Ach, Fräulein – Fräulein“, sagte Nancy, indem sie die Hände leidenschaftlich rang, „gäbe es mehr Ihresgleichen, so würden weniger sein wie ich – o gewiß.“

„Setzen Sie sich“, sprach Rosa, „Sie bringen mich in Verlegenheit. Sind Sie arm oder unglücklich, so will ich Ihnen gern helfen, soweit es in meiner Macht steht. Glauben Sie mir. – Bitte, setzen Sie sich!“

„Lassen Sie mich nur stehen, Fräulein“, sagte Nancy, immer noch Tränen vergießend, „und sprechen Sie nicht in solchem gütigen Ton zu mir, bis Sie mich besser kennen. Doch es ist spät. Ist – die – Tür verschlossen?“

„Ja“, erwiderte Rosa, einige Schritte zurücktretend, „warum ?“

„Weil ich im Begriff bin“, antwortete Nancy, „mein Leben und das Leben anderer in Ihre Hände zu legen. Ich bin das Mädchen, das den kleinen Oliver an jenem Abend, als er das Haus in Pentonville verfieß, zu Fagin, dem alten Juden, zurückschleppte.“

„Sie?“ rief Rosa erstaunt.

„Ja, ich, mein Fräulein“, sagte Nancy. „Ich bin die schlechte Person, von der Sie gehört haben, die unter Dieben lebt, und, soweit ihre Erinnerung reicht, keine bessere Heimat gekannt hat als die Straßen von London, und die keine freundlicheren Worte hörte, als wie sie der Auswurf der Menschheit von sich geben kann. Gott ist mein Zeuge, so ist’s! Ja, schrecken Sie nur vor mir zurück, Fräulein. Ich bin zwar jünger, als Sie nach meinem Außern wohl glauben mögen, allein ich bin daran gewöhnt. Die ärmsten Weiber wenden sich ab, wenn ich ihnen auf der Straße begegne.“

„Das ist ja schrecklich!“ rief Rosa, unwillkürlich einen weiteren Schritt zurückweichend.

„Danken Sie Gott auf den Knien, Fräulein“, fuhr Nancy fort, „daß Sie Freunde hatten, die über Ihre schutzlose Kindheit wachten. Daß Sie niemals Kälte und Hunger, Völlerei und Trunkenheit – und noch Schlimmeres gekannt haben, wie es bei mir von Anfang an der Fall war. Ich darf von diesen Dingen reden, da ich ein Gassenmädel bin, und die Gosse wird wohl auch dereinst mein Sterbebett sein.“

„Gott, wie ich Sie beklage“, sagte Rosa mit zitternder Stimme. „Ihre Worte schneiden mir ins Herz.“

„Gott lohne Ihnen Ihre Güte! Ach, wie würden Sie mich erst bedauern, wenn Sie wüßten, was ich manchmal bin! Aber ich habe mich von denen fortgestohlen, die mich ohne Erbarmen mordeten, wenn sie erführen, daß ich hier gewesen bin, um Ihnen mitzuteilen, was ich gehört habe. – Kennen Sie einen Mann namens Monks?“

Rosa verneinte.

„Aber er kennt Sie und weiß, daß Sie hier sind. Ich hörte ihn nämlich den Ort nennen, wo Sie wohnen, und daher gelang es mir, zu Ihnen vorzudringen.“

„Der Name ist mir vollkommen fremd.“

„Dann ist er angenommen, wie ich früher schon vermutete. Vor einiger Zeit, kurz nachdem Oliver in der Nacht des Einbruchs in Ihr Haus geschickt wurde, belauschte ich eine Unterredung, die dieser Mensch im Finstern mit dem alten Juden Fagin hatte. Ich erfuhr, daß Monks – der Mann, nach dem ich Sie vorhin fragte –“

„Ja, ich verstehe.“

„daß Monks Oliver zufällig an dem Tage, als wir ihn verloren, mit zweien von unsern Jungens gesehen hatte. Er erkannte ihn augenblicklich als das Kind, auf das er es abgesehen hatte, weshalb, konnte ich nicht herauskriegen. Es wurde eine Vereinbarung getroffen, daß Fagin eine gewisse Summe kriegen sollte, wenn Oliver wieder zurückgebracht würde. Wenn es dem Juden gelingen sollte, Oliver zum Diebe abzurichten, was Monks zu irgendeinem Zwecke wünschte, sollte er noch mehr erhalten.“

„Zu welchem Zwecke wohl?“

„In der Hoffnung, das zu erfahren, trat ich etwas näher, und da gewahrte Monks meinen Schatten an der Wand. Nur wenige außer mir wären damals wohl imstande gewesen, einer Entdeckung zu entgehen. Mir gelang es jedoch, und ich sah bis gestern abend nichts mehr von ihm.“

„Und was geschah?“

„Ich will es Ihnen sagen, Fräulein. Gestern abend kam er also wieder. Sie gingen wieder die Treppe hinauf, und ich horchte wieder an der Tür, aber so, daß mich mein Schatten nicht verraten konnte. Die ersten Worte, die ich Monks sagen hörte: waren: ‚So liegen denn die einzigen Beweise, durch die sich Oliver hätte legitimieren können, auf dem Boden des Flusses, und die alte Hexe, die sie von der Mutter erhielt, modert in ihrem Sarge.‘ Sie lachten und freuten sich, daß der Streich so gut gelungen war. Monks, der immer aufgeregter wurde, sprach noch weiter über Oliver und sagte, obwohl ihm das Geld des Jungen Teufels jetzt sicher sei, hätte er doch lieber den anderen Weg eingeschlagen. Ein Hauptspaß wäre es gewesen, das prahlerische Testament des Vaters dadurch Lügen zu strafen, daß man den Jungen durch alle Gefängnisse der Stadt hetzte und ihn dann wegen irgendeines Kapitalverbrechens aufknüpfte. Das zu bewerkstelligen, hätte Fagin ein leichtes sein müssen, und er hätte ihn zuvor noch ordentlich ausnutzen können.“

„Was bedeutet das alles?“

„Es ist die reine Wahrheit, obgleich sie von meinen Lippen kommt. Dann sagte Monks unter Verwünschungen, an die meine Ohren gewöhnt, die aber den Ihrigen fremd sind, er würde seinen Haß durch Ermordung Ofivers befriedigen, wenn er es tun könnte, ohne seinen Hals zu gefährden. Er würde aber dem Jungen sein ganzes Leben über auflauern und versuchen, ihm durch Enthüllung seiner Herkunft und durch das Erzählen seiner Geschichte auf jede Weise zu schaden. ‚Kurz und gut, Fagin‘, sagte er, ’so sehr du auch Jude bist, du hast noch nie solche Fallstricke gelegt, wie ich sie jetzt meinem Bruder Oliver legen werde.'“

„Sein Bruder?!“ rief Rosa, die Hände zusammenschlagend.

„Dies waren seine Worte“, erwiderte Nancy und sah sich wieder unruhig um. Sie hatte es die ganze Zeit über getan, denn der Gedanke an Sikes regte sie etwas auf. „Und noch mehr. Als er von Ihnen und der anderen Dame sprach, sagte er, Gott und der Teufel scheine gegen ihn im Bunde zu sein, daß Oliver gerade in Ihre Hände kommen mußte. Aber es läge auch einiger Trost darin, fuhr er höhnisch lächelnd fort, daß Sie nicht wüßten, wer Ihr zweibeiniger Schoßhund sei. Denn Sie würden tausende und hunderttausende Pfund geben, falls Sie sie hätten, wenn Sie es erführen.“

„Sie wollen mich doch nicht glauben machen“, sagte Rosa erblassend, „daß er das im Ernst sagte.“

„Wenn je ein Mensch im Ernst gesprochen hat, so tat er es. Er pflegt nicht zu scherzen, wenn der Haß in ihm wach wird. Ich kenne viele, die noch schlimmere Dinge tun, aber ich wollte sie alle lieber ein dutzendmal davon sprechen hören als diesen Monks nur ein einziges Mal. – Doch es ist schon spät, und zu Hause darf man nicht ahnen, daß ich hier gewesen bin. Ich muß eilen, um wieder heimzukommen.“

„Aber was kann ich tun?“ fragte Rosa. „Was kann ich mit Ihren Mitteilungen ohne Sie anfangen? Sie wollen wieder zurück? Warum wollen Sie wieder zu Leuten, die sie in so schrecklichen Farben gezeichnet haben? Wenn Sie Ihre Aussage in Gegenwart eines Herrn wiederholen wollen, den ich sofort aus dem nächsten Zimmer rufen kann, so können wir Sie, ehe eine halbe Stunde um ist, an einem sicheren Orte unterbringen.“

„Ich wünsche zurückzukehren“, entgegnete Nancy. „Ja, ich muß zurückkehren, weil – doch wie kann ich über solche Dinge mit einer so unschuldigen Dame wie Sie sprechen – weil unter den Menschen, von denen ich Ihnen erzählte, einer ist – und zwar einer der fürchterlichsten – den ich nicht verlassen kann. Nicht einmal, wenn ich von meinem gegenwärtigen Leben erlöst würde.“

„Sie haben sich schon früher Olivers angenommen, Sie sind unter großer Gefahr hierhergekommen, um mir mitzuteilen, was Sie gehört haben, Ihr ganzes Benehmen ist mir Bürge für die Wahrheit Ihrer Worte; und dann Ihre augenscheinliche Zerknirschung – alles das gibt mir die Überzeugung, daß Sie noch gerettet werden können. Ach“, fuhr Rosa tiefernst fort und faltete die Hände, während ihr die Tränen über die Backen liefen, „verschließen Sie Ihr Ohr nicht den Bitten einer Angehörigen Ihres eigenen Geschlechts – der ersten vielleicht, die jemals mitleidend und mitfühlend zu Ihnen gesprochen hat. Hören Sie auf mich und lassen Sie sich durch mich zu einem besseren Leben rettcnl“

„Fräulein!“ rief Nancy und sank auf die Knie, „teures, süßes, engelisches Fräulein! Sie sind die erste, die mich mit solchen Worten beglückt. Würde ich sie vor Jahren vernommen haben, so hätten sie mich wohl einem Leben voll Sünde entreißen können. jetzt ist es zu spät!“

„Reue und Buße kommen nie zu spät.“

„Doch, es ist zu spät“, schrie Nancy im höchsten Seelen-, schmerz, „ich kann von ihm jetzt nicht fort, unmöglich kann ich ihn dem Tode verfallen lassen.“

„Wieso sollte das sein?“

„Nichts könnte ihn retten; wenn ich anderen erzählte, was ich Ihnen beichtete, und dadurch die Verhaftung der in der Sache Verwickelten herbeiführte, so wäre sein Tod gewiß. Er ist der Verwegenste von allen gewesen und hat schreckliche Dinge begangen!“

„lst’s möglich, daß Sie eines solchen Menschen wegen auf jede Hoffnung für die Zukunft und die Gewißheit einer sofortigen Rettung verzichten? Das ist doch Wahno sinn!“

„Ich weiß nicht, was es ist, ich weiß nur, daß es so ist, und nicht nur bei mir allein, sondern auch bei hundert anderen, die eben so schlecht und verkommen sind wie ich. Ich muß zurück! Vielleicht ist es die Strafe Gottes für das viele Böse, was ich getan habe. Es zieht mich zu ihm hin, trotz aller Leiden und Mißhandlungen, die ich zu erdulden habe, und ich kann nicht von ihm lassen, selbst wern ich wüßte, daß ich mal durch seine Hand sterben soll!“

„Was ist da nur zu tun? Ich sollte Sie so nicht fortlassen.“

„Sie müssen es, Fräulein, und ich weiß, Sie werden es. Sie werden mich nicht zurückhalten, weil ich Ihrer Güte vertraute und Ihnen, wie ich eigentlich hätte tun sollen, kein Versprechen abverlangte.“

„Was kann mir dann aber Ihre Erzählung nutzen? Man muß doch diesem Geheimnis auf den Grund gehen. Wie können wir denn sonst Oliver helfen, dem zu nützen Ihnen doch so viel am Herzen liegt?“

„Sie kennen vielleicht irgendeinen Ihnen wohlwollenden Herrn, dem Sie das Geheimnis anvertrauen können und der Ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehen will“, sagte Nancy.

„Aber wo kann ich Sie wiedersehen, wenn es nötig sein sollte. Ich will nicht wissen, wo diese schrecklichen Menschen hausen, aber wo wird man Sie zu einer bestimmten Zeit wieder treffen können, etwa auf einem Spaziergange?“

„Wollen Sie mir versprechen, daß mein Geheimnis bei Ihnen aufs strengste bewahrt wird, und daß Sie allein oder nur mit dem Herrn, dem Sie Ihr Vertrauen geschenkt haben, kommen wollen, und daß ich in keiner Weise beobachtet oder verfolgt werde?“ fragte Nancy.

„Ich verspreche es Ihnen feierlichst“ , antwortete Rosa.

‚“So will ich, wenn ich am Leben bleibe, jeden Sonntag zwischen elf und zwölf Uhr nachts auf der Londoner Brücke auf und ab gehen!“

„Bleiben Sie noch einen Augenblick“, bat Rosa, als Nancy rasch zur Tür ging. „Denken Sie noch einmal über Ihre Lage nach und erwägen Sie, welche günstige Gelegenheit Ihnen geboten wird, sie hoffnungsvoll zu ändern. Sie haben einen Anspruch auf meinen Dank nicht nur als Überbringerin so wichtiger Nachrichten, sondern auch als eine Unglückliche, die sich selbst verloren hat. Sie wollen zu diesem Diebesgesindel und diesem Verbrecher zurückgehen, trotzdem ein einziges Wort Sie retten kann? Ach, ist denn in Ihrem Herzen keine Saite, die ich zum Klingen bringen kann? Gibt es gar nichts, was gegen diese Verblendung mir zur Hilfe kommen kann?“

„Wenn junge Damen, so schön und gut und liebenswürdig wie Sie, ihr Herz verschenken“, versetzte Nancy mit fester Stimme, „so macht die Liebe sie zu Opfern fähig – selbst wenn sie eine Heimat, Freunde, Anbeter haben – kurz alles, was sie sich nur wünschen können. Wenn aber solche wie ich, die kein sichereres Dach als den Deckel ihres Sarges und in der Stunde der Krankheit und des Todes keinen anderen Freund haben als die Krankenhauswärterin, ihr liebebedürftiges Herz an einen Mann hängen und ihm darin die Stelle der Eltern, der Heimat und der Freunde einräumen – wer kann da hoffen, solche Geschöpfe zu heilen? Bemitleiden Sie uns, daß uns nur dieses einzige weibliche Gefühl geblieben ist und daß es, statt unser Stolz und Trost zu sein, durch Gottes schwere Richterhand eine Quelle neuer Leiden und neuen Fluches geworden ist.“

„Sie werden aber doch etwas Geld von mir annehmen“, sagte Rosa nach einer Pause, „daß Sie bis zu der Zeit wenigstens, wo wir uns wiedersehen, ohne Schande leben können.“

„Keinen Pfennig!“ erwiderte Nancy und hob die Hand abwehrend.

„Verschließen Sie Ihr Herz doch nicht gegen alle meine Bemühungen, Ihnen zu helfen“, sagte Rosa näher tretend. „Ich möchte Ihnen gern dienlich sein.“

„Sie könnten mir den größten Dienst erweisen, Fräulein“, versetzte Nancy und rang die Hände, „wenn Sie mir mit einemmal das Leben nehmen würden, denn der Gedanke an das, was ich bin, ist mir heute nacht mehr und schmerzlicher zum Bewußtsein gekommen als je. Auch wäre es ein Trost, nicht in derselben Hölle zu sterben, in der ich gelebt habe. Gott segne Sie, mein liebes Fräulein, und er möge Ihnen so viel Glück spenden, als ich Schande auf mein Haupt geladen habe!“

Mit diesen Worten und laut schluchzend verließ die Unglückliche das Zimmer. Aufs höchste ergriffen sank Rosa Maylie auf einen Stuhl und versuchte ihre wirren Gedanken zu sammeln. Die Unterredung erschien ihr mehr ein flüchtiger Traum zu sein als Wirklichkeit.

Enthält neue Entdeckungen und zeigt, daß Überraschungen gleich Unglücksfällen selten allein kommen

Rosas Lage war in der Tat eine ungemein schwierige, denn während sie glühend wünschte, das Geheimnis zu lüften, das Olivers Geschichte umgab, durfte sie das Vertrauen nicht mißbrauchen, welches ihr das unglückliche Geschöpf geschenkt hatte. Nancys Benehmen und ihre Worte hatten Rosas Herz gerührt und zu der Liebe für ihren jungen Schützling gesellte sich der kaum weniger heiße Wunsch, die Verlorene einem besseren Leben wieder zu gewinnen.

Die Damen hatten die Absicht, nur drei Tage in London zu bleiben und dann auf einige Wochen nach einem Seebad abzureisen. Heute war der erste Tag um. Was konnte man in den nächsten achtundvierzig Stunden erreichen? Und wie konnte sie einen Aufschub der Reise erlangen, ohne Verdacht zu erregen?

Herr Losberne war bei ihnen auf Besuch und wollte auch noch die beiden nächsten Tage bleiben. Aber Rosa kannte die Heftigkeit dieses Ehrenmannes zu gut und sah seinen Zorn deutlich voraus, den er über die Person ergießen würde, die das Werkzeug zu Olivers Entführung war. Sie konnte ihm deshalb ihr Geheimnis nicht anvertrauen, wenigstens nicht so lange, bis ihre Fürsprache zugunsten Nancys von einer anderen Seite unterstützt würde.

Aus denselben Gründen beobachtete sie auch gegen Frau Maylie die größte Vorsicht, da deren erster Schritt sicher eine Besprechung der Angelegenheit mit dem würdigen Doktor gewesen wäre. Ebenso war auch nicht daran zu denken, einen Rechtsanwalt zu Rate zu ziehen, selbst wenn sie gewußt hätte, wie man das anzustellen hat. Einmal kam ihr der Gedanke, Harry um Beistand zu ersuchen, aber in der Erinnerung an den letzten Abschied schien es ihr unwürdig, ihn herzubitten, da er es vielleicht über sich gewonnen hatte, sie zu vergessen und sich in der Ferne glücklich fühlte. Die Tränen schossen ihr in die Augen, als sie daran dachte.

Rosa brachte eine schlaflose Nacht zu, da sie nicht wußte, wie sie handeln sollte und zu keinem Entschluß kommen konnte. Als sie am anderen Morgen aufs neue mit sich zu Rate gegangen war, beschloß sie in ihrer Verzweiflung, doch Harry Maylie in ihr Geheimnis einzuweihen.

„Es ist ihm vielleicht schmerzlich, wieder zurückzukommen“, dachte sie, „aber wie schmerzlich wird es erst für mich sein! Vielleicht kommt er aber gar nicht und macht die Sache schriftlich ab. Oder er kommt und meidet mich ängstlich, wie er es tat, als er abreiste. Ich hatte es damals nicht erwartet, aber es war für uns beide besser.“

Rosa ließ die Feder fallen und wandte sich ab, als sollte selbst das Papier, dem sie ihre Botschaft anzuvertrauen gedachte, nicht Zeuge ihrer Tränen sein.

Sie hatte die Feder wohl fünfzigmal ergriffen und ebensooft wieder weggelegt, und ohne eine Zeile zu schreiben, hin und her überlegt, wie sie ihren Brief anfangen sollte, als Oliver, der, mit Herrn Giles als Leibwächter, in der Stadt spazieren gegangen war, in großer Aufregung ins Zimmer stürzte.

„Warum siehst du so verstört aus?“ fragte Rosa, ihm entgegengehend.

„Ich weiß nicht warum, mir ist die Kehle wie zugeschnürt“, antwortete der Junge. „Lieber Gott, denken zu dürfen, daß ich ihn doch noch sehen soll und Ihnen nun beweisen kann, wie ich in allem die Wahrheit gesprochen habe!“

„Ich zweifelte nie, daß du uns etwas anderes als die Wahrheit sagtest, liebes Kind. Aber was ist? Von wem sprichst du?“

„Ich habe den Herrn wiedergesehen“, antwortete Oliver ganz aufgeregt, so daß er kaum die Worte herausbringen konnte, Den Herrn, der so gut zu mir war. Herrn Brownlow, von dem wir so oft gesprochen haben.“

„Wo?“

„Er stieg aus einer Kutsche und ging in ein Haus“, erwiderte Oliver, und Tränen der Freude rannen ihm über die Backen. „Ich habe nicht mit ihm gesprochen – ich konnte nicht mit ihm reden, denn er sah mich nicht. Ich zitterte so, daß ich nicht imstande war, auf ihn zuzueilen. Aber Giles hatte sich erkundigt, ob er dort wohne, und man bejahte es. Sehen Sie hier –“, damit holte er ein Stück Papier aus der Tasche – „hier wohnt er, ich will sogleich hingehen. Ach, wie werde ich mich freuen, wenn ich ihn wiedersehe und seine Stimme höre.“

Rosa nahm das Papier und las Cravenstraße, Strand. Sie entschloß sich sofort, diese Entdeckung auszunutzen.

„Schnell“, sagte sie, „laß eine Droschke kommen und mache dich fertig, um mich zu begleiten. Ich will sofort mit dir Herrn Brownlow besuchen und nur noch vorher der Tante sagen, daß wir auf eine Stunde ausgehen wollen. Ich werde ebenso rasch angezogen sein wie du.“

Oliver ließ sich das nicht zweimal sagen, und ehe fünf Minuten um waren, befanden sie sich auf dem Wege nach der Cravenstraße. Als sie dort angekommen waren, ließ Rosa Oliver im Wagen unter dem Vorwande, daß sie den alten Herrn erst auf seinen Besuch vorbereiten wolle.

Sie schickte durch den Diener Herrn Brownlow ihre Karte mit der Bitte, ihn in einer wichtigen Angelegenheit sprechen zu dürfen. Der Bediente kehrte bald mit der Nachricht zurück, daß sie erwartet würde und führte Fräulein Maylie in ein Zimmer des Oberstocks, wo ihr ein ältlicher Herr mit gutmütigen Gesichtszügen im grünen Anzug zuerst ins Auge fiel. Neben ihm saß ein anderer alter Herr in Nankingbeinkleidern, der nicht besonders freundlich aussah und die Hände über dem Knauf eines dicken Stockes verschlungen hielt, worauf er sein Kinn gelegt hatte.

„Ach“, sagte der Herr im grünen Anzug und sprang schnell auf, „ich bitte um Verzeihung, gnädiges Fräulein, – ich glaubte, es wäre irgendeine zudringliche Person, die – bitte entschuldigen Sie mich. Aber nehmen Sie doch Platz!“

„Sie sind Herr Brownlow, nicht wahr?“ fragte Rosa und wandte ihren Blick von dem anderen Herrn ab und dem Sprecher zu.

„Der bin ich“, antwortete der Herr. „Und hier mein Freund, Herr Grimwig. – Grimwig, wollen Sie uns auf ein paar Minuten allein lassen?“

„Ich glaube nicht“, fiel Rosa ein, „daß es nötig ist, den Herrn zu bemühen. Wenn ich recht berichtet bin, so ist ihm die Angelegenheit nicht unbekannt, die mich zu Ihnen führt.“

Herr Brownlow stimmte durch ein Kopfnicken zu, und Herr Grimwig, der eine sehr steife Verneigung gemacht und sich erhoben hatte, machte eine zweite ebenso steife Verbeugung und nahm wieder Platz.

„Ich glaube, daß ich Sie mit meinen Mitteilungen sehr überraschen werde“, sagte Rosa in einiger Verlegenheit. „Sie haben einmal einem mir sehr teuern, jungen Freunde viel Güte und Wohlwollen erwiesen, und ich bin deshalb davon überzeugt, daß Sie es freuen wird, wieder von ihm zu hören.“

„So?“ sagte Herr Brownlow.

„Sie kennen ihn als Oliver Twist“, versetzte Rosa.

Diese Worte waren kaum ihrem Munde entflohen, als Grimwig, der so getan hatte, als lese er in einem auf dem Tische liegenden großen Buch, dasselbe mit großem Geräusch zuschlug, sich im Stuhl zurücklehnte und Rosa ganz erstaunt und mit großen, starren Augen ansah. Dann schnellte er sich mit einer krampfhaften Anstrengung in seine vorherige Stellung wieder zurück, als ob er sich schäme, soviel Überraschung gezeigt zu haben.

Er guckte gerade vor sich hin und ließ ein langes und tiefes Pfeifen vernehmen, das jedoch nicht in der Luft, sondern in den innersten Winkeln seines Magens zu ersterben schien.

Herr Brownlow war nicht weniger erstaunt, doch gab sich seine Überraschung nicht in der gleichen seltsamen Art kund. Er rückte mit seinem Stuhle Fräulein Maylie näher und sprach:

„Tun Sie mir den Gefallen, gnädiges Fräulein, die Güte und das Wohlwollen, von denen Sie sprachen und von denen außer Ihnen niemand etwas weiß, mal ganz aus dem Spiele zu lassen. Wenn es Ihnen aber möglich ist, etwas anzuführen, das geeignet ist, die ungünstige Meinung, die ich über den Jungen mir bilden mußte, zu ändern, so bitte ich Sie inständig darum.“

„Ein schlechter Junge – ich will meinen Kopf aufessen, wenn er nicht ein schlechter Junge ist“, brummte Herr Grimwig wie ein Bauchredner, denn er verzog dabei keine Muskel seines Gesichts.

„Der Knabe besitzt ein edles und warmes Herz“, sagte Rosa errötend, „und Gott, dem es gefallen hat, ihm Prüfungen, die über seine Jahre hinausgingen, aufzuerlegen, hat in seine Brust Gefühle gepflanzt, die vielen Ehre machen würden, die sechs mal so alt sind als er.“

„Ich bin erst einundsechzig“, meinte Herr Grimwig mit demselben unbeweglichen Gesicht, „und da es mit dem Teufel zugehen müßte, wenn dieser Oliver nicht mindestens zwölf Jahre alt ist, so finde ich nichts Zutreffendes in dieser Bemerkung.“

„Hören Sie nicht darauf, was mein Freund sagt, Fräulein Maylie, er meint es nicht so schlimm, wie es sich anhört“, sprach Herr Brownlow.

„Doch meint er es so“, brummte Herr Grimwig.

„Nein, er meint es nicht so“, entgegnete Herr Brownlow, ärgerlich werdend.

„Er will seinen Kopf aufessen, wenn er es nicht so meint“, versicherte Herr Grimwig.

„Er verdiente, daß man ihm denselben abschlüge, wenn er es täte“, sagte Herr Brownlow.

„Und er möchte den Mann sehen, der es versuchen wollte“, versetzte Herr Grimwig und stieß seinen Stock heftig auf den Boden.

Nachdem es soweit gekommen war, nahm jeder von den beiden alten Herren eine Prise, worauf sie sich, wie gewöhnlich, zum Zeichen der Versöhnung die Hände schüttelten.

„Nun, gnädiges Fräulein“, sagte Herr Brownlow, „kehren wir wieder zu der Angelegenheit zurück, an der Ihre Menschenfreundlichkeit so regen Anteil nimmt. Darf ich fragen, welche Nachrichten Sie von dem armen Kinde haben? Erlauben Sie mir vorauszuschicken, daß ich alle mir zu Gebote stehenden Mittel erschöpfte, ihn ausfindig zu machen. Auch meine erste Ansicht, von Oliver betrogen und auf Anraten seiner früheren Diebesgenossen bestohlen worden zu sein, hat seit meiner Auslandreise einen beträchtlichen Stoß erlitten!“

Rosa, die inzwischen Zeit gehabt hatte, ihre Gedanken zu sammeln, berichtete nun in kurzen Worten, was sich mit Oliver zugetragen hatte, seit er Herrn Brownlows Haus verließ. Nur für die Mitteilungen Nancys behielt sie sich eine Unterredung unter vier Augen vor. Sie schloß mit der Versicherung, sein einziger Kummer seit mehreren Monaten sei nur immer gewesen, daß er seinen ehemaligen Freund und Wohltäter nirgends habe finden können.

„Gottlob!“ rief der alte Herr. „Diese Nachricht macht mich über die Maßen glücklich. Sie haben mir aber noch nicht gesagt, wo er sich gegenwärtig befindet. Verzeihen Sie, wenn ich es Ihnen zum Vorwurf mache, ihn nicht gleich mitgebracht zu haben.“

„Er wartet im Wagen vor der Haustür“, sagte Rosa.

„Vor meiner Haustür?“ rief der alte Herr und rannte aus dem Zimmer, die Treppe hinunter und an den Wagen.

Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, hob Herr Grimwig seinen Kopf hoch und ließ mit Hilfe seines Stockes und des Tisches seinen Stuhl auf einem Hinterbein drei Kreise beschreiben, ohne dabei seinen Sitz zu verlassen. Nachdem er das Kunststück ohne Unfall fertiggebracht hatte, stand er auf und hinkte wohl ein dutzendmal, so schnell er konnte, im Zimmer auf und ab, machte dann plötzlich vor Rosa halt und gab ihr ohne weitere Umstände einen Kuß.

„Pst!“ flüsterte er, als die junge Dame ob dieses uns gewöhnlichen Beginnens bestürzt aufstand. „Haben Sie keine Angst! Ich bin alt genug, um Ihr Großvater sein zu können. Sie sind ein prächtiges Mädel – Sie gefallen mir. – Doch da kommen sie schon!“

Durch eine geschickte Wendung brachte er sich wieder in seine frühere Stellung auf dem Stuhle, und gleich darauf trat Herr Brownlow mit Oliver ins Zimmer, der von Herrn Grimwig sehr gnädig empfangen wurde. Wäre die Freude, die Rosa in diesem Augenblick empfand, die einzige Entschädigung für alle Ängste und Sorgen gewesen, die sie Olivers wegen schon gehabt hatte, sie würde sich reich belohnt gefühlt haben.

„Es ist noch jemand da, den wir nicht vergessen dürfen“, sprach Herr Brownlow, den Klingelzug ergreifend. „Ich lasse Frau Bedwin bitten“, rief er dem eintretenden Diener zu.

Die betagte Hausdame kam sogleich und, einen Knicks machend, harrte sie der Befehle.

„Mein Gott, Sie werden alle Tage blinder“, sagte Herr Brownlow ärgerlich.

„Das stimmt“, erwiderte die gute Alte. „Ich habe aber nie gehört, daß die Augen mit dem Alter besser werden.“

„Das hätte ich Ihnen auch sagen können“, entgegnete Herr Brownlow, „aber setzen Sie Ihre Brille auf und sehen Sie zu, ob Sie nicht selbst herauskriegen, weshalb ich Sie rufen ließ!“

Kapitel 4

Die alte Frau fing an, in ihrer Tasche nach der Brille zu suchen, aber Oliver vermochte diese neue Geduldsprobe nicht zu bestehen, sondern eilte, dem Drange seines Herzens folgend, in ihre Arme.

„Gott sei mir gnädig“, rief die alte Frau, ihn zärtlich umarmend, „es ist mein lieber, guter Junge!“

„Meine liebe alte Pflegemutter!“ rief Oliver.

„Ich sagte ja immer, daß er wiederkommen würde, und wie gut er aussieht und so fein angezogen. Wo bist du denn diese ganze lange Zeit gewesen? Ach, es ist noch dasselbe sanfte Gesicht, nur nicht so bleich – dasselbe sanfte Auge, nur nicht so traurig. Oh, ich weiß alles noch ganz genau.“

So redete sie endlos weiter und lachte und weinte zu gleicher Zeit, indem sie Oliver mal in Armlänge von sich hielt, um zu sehen, wie groß er geworden sei, dann ihn wieder an sich zog und ihm zärtlich die Haare streichelte. Herr Brownlow überließ die beiden ihren Gefühlen und führte Rosa in ein anderes Zimmer, woselbst ihm diese zu seiner größten Überraschung ihre Unterredung mit Nancy erzählte. Rosa setzte ihm auch ihre Gründe auseinander, warum sie sich nicht gleich Herrn Losberne, ihrem Freunde, anvertraut hätte, was der alte Herr billigte. Er erklärte sich bereit, mit dem würdigen Doktor die Sache angelegentlich zu besprechen. Um dies bald ausführen zu können, wurde abgemacht, Herr Brownlow solle abends acht Uhr bei ihnen vorsprechen, damit man Frau Maylie inzwischen mit allen Vorgängen bekannt machen könne. Nachdem man diese Verabredungen getroffen hatte, kehrten Rosa und Oliver nach Hause zurück.

Rosa hatte das Maß von des guten Doktors Zorn keineswegs überschätzt, denn kaum waren ihm Nancys Mitteilungen erzählt worden, als er sich in eine Flut von Drohungen und Verwünschungen erging. Er beteuerte, er wolle die Dirne zum Opfer des vereinten Scharfsinns der Herren Blathers und Duff machen, und setzte sich auch wirklich den Hut auf, um sich ungesäumt des Beistandes dieser Ehrenmänner zu versichern. Er würde auch höchstwahrscheinlich, ohne die Folgen zu bedenken, im ersten Eifer seinen Entschluß ausgeführt haben, wäre er nicht zurückgehalten worden durch eine entsprechende Heftigkeit des Herrn Brownlow, der selbst ziemlich temperamentvoll war, aber auch durch Gründe und Gegenvorstellungen, denen sich Losberne nicht verschließen konnte.

„Ja, zum Donnerwetter, was sollen wir denn tun?“ tobte der hitzige Doktor, als sie wieder zu den beiden Damen zurückgekehrt waren. „Wir sollen wohl diesem Spitzbubengesindel, Männern sowohl als Weibern, eine Dankadresse überreichen und sie bitten, hundert Pfund oder mehr anzunehmen als ein bescheidenes Zeichen unserer Achtung und unserer Erkenntlichkeit für die Güte und Liebe, die sie Oliver erwiesen haben?“

„Das gerade nicht“, sagte Herr Brownlow lachend. „Aber wir müssen sachte und mit großer Behutsamkeit vorgehen!“

„Sachte und behutsam“, schrie der Doktor. „Ich möchte sie alle samt und sonders zum – -„

„Es ist gleichgültig, wohin Sie sie schicken möchten“, fiel Herr Brownlow ein. „Ich bitte Sie nur, dabei zu bedenken, ob wir dadurch auch zum Ziel kommen!“

„Zu welchem Ziel?“ fragte der Doktor.

„Einfach zu dem, herauszukriegen, wer Olivers Eltern gewesen sind, und ihm zu seinem Erbe zu verhelfen, das ihm so schändlich geraubt wurde.“

„Ach“, sagte Herr Losberne, sich mit dem Taschentuche Kühlung fächelnd, Aas hatte ich ganz vergessen!“

„Angenommen“, fuhr Herr Brownlow fort, „von dem Mädchen kann ja ohnehin keine Rede sein, angenommen, es wäre möglich, alle andern Halunken dem Gerichte zu überliefern, was könnte wohl Gutes dabei herauskommen?“

„Daß aller Wahrscheinlichkeit einige davon gehenkt und die übrigen ins Zuchthaus kommen würden“, erwiderte der Doktor.

„Schön“, sagte Herr Brovrnlow lächelnd. „Dahin wird es mit ihnen sowieso kommen, wenn ihre Zeit abgelaufen ist. Greifen wir ihnen vor, so begehen wir meines Erachtens einen Don-Quichotte-Streich, der in geradem Widerspruch zu unserm oder doch Olivers Interesse steht, was so ziemlich ein und dasselbe ist.“

„Wieso?“ fragte der Doktor.

„Es ist doch klar, daß es schwierig genug sein wird, diesem Geheimnis auf den Grund zu kommen, wenn wir diesen Monks nicht zu einem Geständnis bringen können. Das ist nur durch eine Kriegslist möglich, indem wir ihn abfangen, wenn er nicht von seinen Kumpanen umgeben ist. Denn, lassen wir ihn auch festnehmen, was haben wir für Beweise gegen ihn? Soviel wir wissen oder aus den Tatsachen schließen können, ist er nicht einmal bei den Diebereien der Bande beteiligt. Wenn er auch nicht glatt freigesprochen werden würde, so könnte man ihn höchstens nur als Landstreicher für kurze Zeit einsperren, und nachher wäre aus ihm ebensowenig herauszubringen, als wenn er taubstumm oder blödsinnig wäre!“

„Ich muß nochmals die Frage stellen“, fiel der Doktor heftig ein, „Ob Sie es wohl für vernünftig halten, daß man sich durch das dieser Dirne gegebene Versprechen binden läßt? Es ist allerdings ein Versprechen, in der besten und wohlwollendsten Absicht gegeben, aber in Wirklicho keit –“

„Ich bitte, lassen Sie sich auf keine Erörterung dieses Punktes ein“, sagte Herr Brownlow zu Rosa, die eben reden wollte. „Ihr Versprechen soll gehalten werden. Ich glaube, daß wir dadurch keinen Nachteil haben. Aber bevor wir uns zu einem wirksamen Schritt entschließen können, ist es nötig, daß wir mit dem Mädchen Rücksprache nehmen und es fragen, ob es uns den Monks zeigen will, wenn wir ihm versichern, daß er nur mit uns und nicht mit dem Gericht zu tun haben soll. Will oder kann es das nicht, so müssen wir von ihm eine Beschreibung seiner Person und seines Aufenthaltsortes herauszubekommen versuchen, damit wir den Burschen fassen können. Man kann es erst Sonntag wieder sprechen, und heute ist Dienstag. Ich rate daher, vorderhand uns ganz ruhig zu verhalten und auch Oliver von der Angelegenheit nichts wissen zu lassen.“

Obgleich Herr Losberne zu dem Vorschlag, fünf volle Tage zu warten, ein scheeles Gesicht machte, so mußte er doch zugeben, augenblicklich keinen besseren Rat zu wissen. Rosa und Frau Maylie waren ganz auf seiten des Herrn Brownlow, und so fand dessen Vorschlag einstimmige Billigung.

„Es wäre mir lieb“, sagte letzterer, „meinen Freund Grimwig ins Vertrauen zu ziehen. Er ist zwar ein schnurriger Kauz, besitzt aber einen scharfen Verstand und könnte uns von erheblichem Nutzen sein. Er war Rechtsanwalt und gab seine Laufbahn aus Unmut darüber auf, daß ihm in zwanzig Jahren nur zwei Klagesachen übertragen worden waren. Sie mögen aber selbst urteilen, ob dies eine Empfehlung ist oder nicht.“

„Ich habe nichts dagegen, wenn Sie Ihren Freund zuziehen wollen, vorausgesetzt, daß ich mich auch mit dem meinigen beraten darf“, versetzte der Doktor.

„Darüber muß abgestimmt werden“, entgegnete Herr Brownlow. „Wer ist es?“

„Der Sohn dieser Dame und Fräulein Rosas – langjähriger Freund“, antwortete der Doktor mit einer Kopfwendung zu den beiden Damen.

Rosa wurde feuerrot im Gesicht, aber sie machte keine Einwendungen (weil sie wohl erkannte, sie würde in einer hoffnungslosen Minderheit bleiben), und so wurden Harry Maylie und Herr Grimwig in den Ausschuß aufgenommen.

„Wir bleiben natürlich so lange in der Stadt“, sagte Frau Maylie, „als noch die geringste Aussicht vorhanden ist, die Nachforschungen mit Erfolg weiter zu betreiben. Ich werde bei einer Sache, die uns alle so nahegeht, weder Mühe noch Kosten sparen und gern hierbleiben, selbst, wenn es ein Jahr dauern sollte, um sie zu einem guten Ende zu bringen.“

„Gut“, Versetzte Herr Brownlow, „und da ich in Ihren Gesichtern lese, daß Sie gern wissen möchten, wie es kam, damals nicht dagewesen zu sein, um Olivers Angaben zu bestätigen, so bitte ich Sie, mir deshalb keine Fragen vorzulegen. Zur gegebenen Zeit werde ich durch Erzählung meiner eigenen Geschichte alle heute unausgesprochenen Fragen beantworten. Sie dürfen überzeugt sein, daß ich für meine Forderung Gründe habe. Ich will nämlich keine Hoffnungen erwecken, die vielleicht nie in Erfüllung gehen und nur die zahlreichen Schwierigkeiten vermehren würden. – Doch man hat zum Abendessen gerufen, und der arme Oliver, welcher ganz allein im nächsten Zimmer sitzt, denkt vielleicht, wir sind seiner überdrüssig geworden und hätten uns hier verschworen, ihn wieder in die Welt hinauszustoßen.

Mit diesen Worten bot der alte Herr Frau Maylie den Arm und führte sie in das Speisezimmer, während Herr Losberne Rosa geleitete. Die Beratung hatte damit ein Ende.

Ein alter Bekannter Olivers, der entschiedene Spuren von Genie blicken läßt, wird eine öffentliche Persönlichkeit in der Hauptstadt

In derselben Nacht, in der Nancy ihre Botschaft bei Fräulein Rosa Maylie ausgerichtet hatte, wanderten auf der großen, nach dem Norden führenden Straße zwei Personen nach London, denen unsere Erzählung einige Aufmerksamkeit schenken muß.

Die eine davon gehörte dem männlichen Geschlechte an und war eine jener knöchernen Gestalten mit langen Gliedern und schlotternden Knien, deren Alter sich nur schwer erraten läßt. Die andere – ein Frauenzimmer – war jung, aber von starkem und kräftigem Bau, was ihr allerdings auch zustatten kam, da sie die Last eines mächtigen Bündels auf dem Rücken zu schleppen hatte. Ihr Begleiter war nicht sonderlich mit Gepäck beschwert, denn er trug weiter nichts als ein zusammengeknotetes Taschentuch, mit ein paar kümmerlichen Habseligkeiten drin, an einem Stock über den Schultern.

So zogen sie den staubigen Weg dahin, bis sie an das Tor von Highgate kamen. Hier blieb der schnellere Wanderer stehen und rief seiner Gefährtin ungeduldig zu:

„So komm doch! Du bist so langsam, Charlotte, kaum zum Aushalten.“

„Du hast gut reden, trag nur mal solche schwere Last“, sagte das Frauenzimmer atemlos.

„Schwer? Ach, rede doch nicht – wozu habe ich dich denn?“ entgegnete er und warf sein kleines Bündel auf die andere Schulter. „Nun willst du schon wieder ausruhen. Wenn man bei dir nicht die Geduld verliert, dann weiß ich nicht, wo man sie verlieren sollte.“

„Ist es noch weit?“ fragte sie und setzte sich auf eine Bank, ganz in Schweiß gebadet.

„Noch weit? Wir sind so gut wie da!“ sagte der langbeinige Bursche und zeigte mit der Hand geradeaus. „Siehst du jene Lichter? Das ist London.“

„Die sind wenigstens noch zwei gute Meilen entfernt“, sagte das Weib verzweiflungsvoll.

„Was macht es, ob es zwei oder zwanzig sind“, erwiderte Noah Claypole (denn dieser war es). „Steh jetzt auf und komm, oder ich will dir Beine machen! Paß auf, dann geht’s schneller!“

Auf diese Drohung hin erhob sich Charlotte ohne weitere Bemerkung und ging an seiner Seite weiter.

„Wo gedenkst du zu übernachten, Noah?“ fragte sie, nachdem sie wohl eine halbe Meile gegangen waren.

„Was weiß ich!“ sagte dieser mürrisch.

„Hoffentlich in der Nähe?“

„Nein, nicht in der Nähe. Da ist gar nicht dran zu denken.“

„Warum nicht?“

„Wenn ich einmal sage, ich will das nicht tun, so muß dir das genügen, und du hast nicht nach den Gründen zu fragen“, entgegnete Herr Claypole würdevoll.

„Brauchst nicht gleich so böse zu sein“, sagte Charlotte.

„So wäre es richtig, irn ersten besten Gasthaus vor der Stadt einzukehren, damit Sowerberry, falls er uns nachsetzt, uns sofort findet und mit Handschellen an den Armen gleich wieder mit nach Hause nimmt“, meinte Noah ironisch. „Nein, ich werde im entlegensten Gasthaus der entlegensten Gasse Rast machen. Du kannst deinem Herrgott danken, daß du mich zum Führer hast, denn wenn wir anfangs nicht absichtlich einen falschen Weg gegangen wären, so säßest du schon seit acht Tagen hinter Schloß und Riegel. Und es wäre dir deiner Dummheit wegen nur recht geschehen!“

„Ich weiß, daß ich nicht so pfiffig bin wie du, aber wälze nur nicht alle Schuld auf mich. Denn du würdest ebensogut eingesperrt werden, wenn man mich festsetzte.“

„Wer hat das Geld aus der Schublade genommen, du oder ich?“ fragte Herr Claypole.

„Ich nahm es für dich, lieber Noah“, erwiderte sie.

„Habe ich es etwa behalten?“

„Nein, du vertrautest es mir an und ließest es mich tragen, Liebling“, damit klopfte sie ihm unter das Kinn und legte ihren Arm in den seinigen.

Es verhielt sich wirklich so. Er hatte ihr das Geld aber nur gelassen, damit es bei ihr gefunden würde, falls man sie verfolgte. Er konnte dann seine völlige Unschuld an dem Diebstahl beteuern und der Verhaftung entgehen. Natürlich ließ er sich bei dem jetzigen Anlaß in keine Erörterung seiner Beweggründe ein, und so wanderten sie in schönstem Einvernehmen weiter.

Durch allerhand schmutzige Straßen schleppte der Jüngling nun Charlotte und blieb endlich vor dem elendesten Gasthaus stehen, das ihm bis jetzt zu Gesicht gekommen war. Hier beschloß er zu übernachten.

„Gib mir jetzt das Bündel“, sagte Noah, „und rede nur, wenn du gefragt wirst. Wie heißt das Wirtshaus? D-r-e-i, drei was?“

„Krüppel“, las Charlotte.

„Drei Krüppel“, wiederholte Noah. „Kein übler Name! – Bleib immer dicht bei mir, und nun los!“ Nach diesen Worten stieß er die knarrende Tür auf, und sie traten ein.

.In der Gaststube war nur ein Judenjüngling, der mit beiden Ellbogen sich auf den Schanktisch stützte und in einer schmutzigen Zeitung las. Er starrte Noah an und dieser ihn.

„Sind dies die ‚Drei Krüppel‘?“ fragte Noah.

„Das ist der Name des Hauses“, erwiderte der Jude, er sprach etwas durch die Nase.

„Ein Herr, den wir draußen trafen, hat uns hierher empfohlen. Wir möchten hier übernachten.“

„Ich weiß nicht, ob es gehen wird, aber ich will fragen“, sagte Barney, denn dieser war der dienstbare Geist.

„Geben Sie uns inzwischen etwas kaltes Fleisch und ’nen Schluck Bier.“

Barney führte sie in ein kleines Hinterzimmer und brachte das Verlangte. Nach ein paar Minuten kam er mit der Nachricht zurück, daß sie über Nacht bleiben könnten. Dann ließ er das Pärchen allein. – Das Zimmer konnte von der Gaststube aus durch ein kleines Fenster, das sich unter der Stubendecke befand, beobachtet werden, auch konnte man gut hören, was in ihm gesprochen wurde. Als Barney wieder an den Schanktisch zurückkehrte, trat Fagin ein, um nach einem seiner jungen Freunde zu fragen.

„Pst!“ machte Barney, „es sind Fremde im kleinem Zimmer.“

„Fremde?“ wiederholte der Alte leise.

„Ja, komisches Volk“, meinte Barney. „Sie kommen aus der Provinz, und ich müßte mich sehr täuschen, wenn sie nicht etwas für Euch wären.“

Fagin hörte diese Mitteilung mit großem Interesse und stieg sofort auf einen Stuhl, um das Paar durchs Fenster zu beobachten. Er sah, wie Herr Claypole dem Fleisch und Bier tüchtig zusprach und an Charlotte nur homöopathische Gaben verteilte.

„Aha!“ flüsterte Fagin, sich zu Bamey wendend. „Die Miene des Jünglings gefällt mir. Den können wir gebrauchen, er versteht es, mit dem Mädel richtig umzugehen. Sei jetzt mal mäuschenstille, Freundchen, damit ich hören kann, was sie sprechen.“ Er lauschte und hörte Noah sagen:

„Ich denke von jetzt ab den Herrn zu spielen und will nichts mehr von alten Särgen wissen. Und du, Charlotte, kannst eine Dame werden, wenn du Lust hast.“

„Ich möchte wohl, mein Lieber“, antwortete das Mädchen, „aber es gibt nicht alle Tage Schubladen zu leeren.“

„Hol der Teufel die Schubladen!“ entgegnete Herr Claypole. „Es gibt noch andere Dinge, die geleert werden können.“

„Und das wäre?“

„Taschen, Häuser, Postwagen, Banken“, meinte Noah, den das Bier mutig machte.

„Aber das kannst du doch nicht alles allein machen, Liebling“, sagte Charlotte.

„Ich werde mich nach Kameraden umsehen, die es können. Man wird uns auch brauchen können. Du selbst bist fünfzig Weiber wert, denn ich habe nie ein gerisseneres, spitzbübischeres Geschöpf gesehen als dich, sobald ich dich nur gewähren ließ.“

„Mein Gott, wie du schmeicheln kannst“, rief das Mädchen und drückte einen Kuß auf seine Lippen.

„Na, ’s ist schon gut! Sei nicht zu zärtlich, wenn ich Grund habe, mit dir böse zu sein“, sagte Noah, sehr würdig. „Ich möchte der Hauptmann einer Bande sein, ich würde gern die Zwanzigpfundnote, die du hast, darum geben – besonders, da wir doch nicht recht wissen, wie wir sie loswerden sollen.“

Nachdem Herr Claypole seinen Gedanken in dieser Weise Form gegeben hatte, öffnete sich plötzlich die Tür, und Herr Fagin trat ins Zimmer. Er hatte seine freundlichste Miene aufgesteckt, näherte sich mit einer tiefen Verbeugung und setzte sich an einen Tisch ihrer unmittelbaren Nachbarschaft nieder. Den grinsenden Barney beauftragte er, ihm etwas zu trinken zu bringen.

„Ein herrlicher Abend, aber etwas zu kalt für diese Jahreszeit“, sagte Fagin, sich die Hände reibend. „Vom Lande, wie ich sehe?“

„Woran sehen Sie das?“ fragte Noah.

„Wir haben in London nicht so viel Staub wie Sie mitschleppen“, erwiderte der Jude und zeigte auf ihre Schuhe.

„Sie sind ein schlauer Kerl“, sagte Noah. „Ha! ha! hör nur, was er sagt, Charlotte.“

„Ja, Freundchen, hier in London muß man gerissen sein“, meinte der Jude; er sagte das in einem vertraulichen Flüstertone und schlug mit seinem rechten Zeigefinger an die Nase. Noah versuchte die Bewegung nachzuahmen, es gelang ihm nur unvollständig, da sein Gesichtserker dazu nicht groß genug war. Fagin schien diesen Versuch als eine Zustimmung seiner Ansicht zu deuten und bot ihm in der liebenswürdigsten Weise sein Glas mit Schnaps an, das Barney gerade brachte.

„Das ist ein guter Stoff“, bemerkte Herr Claypole und schnalzte wohlbehaglich mit den Lippen.

„Aber teuer“, sagte Fagin, „wer ihn immer trinken will – muß immer etwas leeren. Eine Schublade, eine Tasche, ein Haus, eine Postkutsche oder eine Bank.“

Herr Claypole hatte kaum die Wiederholung seiner eigenen Worte gehört, als er auf seinen Stuhl zurücksank und mit aschfahlem Gesicht von dem Juden zu Charlotte hin blickte.

„Sie brauchen keine Angst zu haben, mein Lieber. Ha! ha! ha! Glücklicherweise habe ich es nur gehört. Das war wirklich ein Glück!“

„Ich hab’s nicht genommen“, stotterte Noah. „Sie hat’s ganz allein getan und hat das Geld auch noch. Du weißt das, Charlotte.“

„Es ist ganz gleich, wer es hat oder tat, Freundchen“, versetzte Fagin, der aber trotzdem einen lauernden Blick auf das Mädchen warf. „Ich bin in derselben Branche, und Sie gefallen mir deshalb.“

„In welcher Branche?“ fragte Noah aufatmend.

„Nun, derartige Geschäftchen zu machen wie Sie. Alle hier im Hause treiben dasselbe Gewerbe. Sie sind hier in die richtige Schmiede gekommen und so sicher, wie man es nur sein kann, das heißt, wenn ich will. Aber ich habe Sie und das junge Mädchen da in mein Herz geschlossen, und Sie können nun ganz ruhig sein.“

Trotz dieser Worte guckte ihn Noah immer noch ein wenig argwöhnisch an, so daß der Jude sich veranlaßt fühlte, in seiner Rede fortzufahren:

„Ich habe einen Freund, der Ihren Lieblingswunsch befriedigen kann und Ihnen gern den richtigen Weg zeigen wird zu dem Geschäftszweig, der Ihnen am meisten zusagt, wie er Ihnen auch in allen anderen Branchen Unterricht zu erteilen vermag!“

„Sie sprechen, als ob es Ihr Ernst wäre!“

„Was hätte ich davon, wenn ich hier scherzen wollte“, sagte der Jude achselzuckend. – „Doch ich möchte gern einige Worte mit Ihnen allein draußen sprechen.“

„Das ist nicht nötig, die Mühe können wir uns sparen. Sie kann das Gepäck hinauftragen. Charlotte, bring die Bündel hinauf!“

Diesen, mit viel Majestät gegebenen Befehl Noahs führte das Mädchen eilfertig aus, und befriedigt fragte er Fagin im Tone eines Tierbändigers:

„Halte ich sie nicht ordentlich in Zucht?“

„Großartig“, antwortete dieser und klopfte ihm auf die Schulter. „Sie sind ein Genie, mein Bester.“

„Wäre auch sonst nicht hier in London“, versetzte der Jüngling geschmeichelt. „Doch verlieren wir keine Zeit, sie wird bald wieder hier sein.“

„Nun, wie denken Sie darüber?“ fragte der Jude. „Wenn Ihnen mein Freund gefällt, gibt es dann etwas Besseres, als sich ihm anzuschließen?“

„Es kommt darauf an, ob sein Geschäft gut geht“, erwiderte Noah und zwinkerte mit einem Auge.

„Großartig geht’s, und er beschäftigt eine Masse Leute“, sprach der Jude. „Sie finden dort die beste Gesellschaft der Branche.“

„Alle aus der Stadt?“ fragte Herr Claypole.

„Kein Provinzler darunter, und er würde Sie selbst auf meine Empfehlung hin nicht annehmen, wenn es ihm nicht augenblicklich an Gehilfen fehlte.“

„Muß ich dann wohl mit diesem da ‚rausrücken?“ fragte Noah, auf seine Hosentasche klopfend.

„Läßt sich unmöglich anders machen“, sagte Fagin bestimmt.

„Aber zwanzig Pfund sind eine Masse Geld!“

„Nicht, wenn es eine Banknote ist, die Sie nicht los werden können. Man wird sich wohl Nummer und Datum gemerkt und sie bei der Bank gesperrt haben. Sie hat keinen großen Wert für ihn, denn er wird sie auswärts anbringen müssen und sicher viel daran verlieren.“

„Wann kann ich Ihren Freund sehen?“

„Morgen früh.“

„Wo?“

„Hier!“

„Hm! – Und der Lohn?“

„Ein Herrenleben – Kost, Wohnung, Tabak und Schnaps frei – und die Hälfte von allem, was Sie und die junge Frau erobern.“

Es ist zweifelhaft, ob Herr Noah Claypole, trotz seiner Habsucht, dieses lockende Angebot angenommen hätte, wenn er völlig frei hätte handeln können. Da er aber befürchtete, in der Gewalt Fagins zu sein, der ihn hätte den Gerichten übergeben können, so sagte er schließlich, daß ihm der Vorschlag annehmbar schiene.

„Aber sehen Sie“, bemerkte Noah, „daß mir recht Leichtes übertragen wird, denn Charlotte kann dafür desto mehr arbeiten!“

„Wie wäre es mit Ausbaldowern? Mein Freund braucht jemand, der dazu Talent hat.“

„Würde ich ganz gerne tun, es fällt aber bei dem Geschäft nicht viel für einen ab“, meinte Noah.

„Das ist wahr, viel zu verdienen ist dabei nicht.“

„Fällt Ihnen sonst nichts ein, eine ungefährliche Sache?“

„Was halten Sie von alten Damen? Wenn man ihnen die Handtaschen und Pakete aus der Hand reißt und um die nächste Ecke verschwindet – damit läßt sich ein schönes Stück Geld machen.“

„Schreien und kratzen die nicht zuweilen mächtig?“ fragte Noah, den Kopf schüttelnd. „Das sagt mir nicht besonders zu. Ist nichts Besseres für mich da?“

„Halt!“ rief der Jude, die Hand auf Noahs, Knie legend. „Ich hab’s, das Görenlausen!“

„Was ist das?“

„Die Gören“, sagte der Jude, „sind die kleinen Kinder, die von ihren Müttern mit Geld ausgeschickt werden, um allerhand einzuholen. Man laust sie, das heißt, nimmt ihnen das Geld weg und stößt sie in den Rinnstein. Wenn sie weinen, geht man langsam davon und tut, als ob weiter nichts passiert sei; die Leute denken, nur ein Kind sei hingefallen und habe sich wehgetan. Ha! ha! ha!“

„Ha! ha!“ brüllte Herr Claypole vor Lachen und trampelte mit den Füßen. „Das ist das Richtige für mich.“

„Glaub’s auch“, meinte Fagin. „Sie können ein paar feine Bezirke kriegen – zum Beispiel Camden Town und Battle Bridge, wo immer Kinder mit derartigen Aufträgen umherlaufen, und man zu jeder Tagesstunde Gören lausen kann. Ha! Ha!“

Mit diesen Worten stieß er ihm kitzelnd seinen Zeigefinger in die Seite, worauf beide abermals in ein langes Gelächter ausbrachen.

„Nun gut“, sagte Noah, als er sich von seinem Lachkrampf etwas erholt hatte und Charlotte wieder zurückgekehrt war. „Also um welche Zeit morgen?“

„Ist Ihnen zehn Uhr recht?“ fragte der Jude, und als Herr Claypole bejahte, fuhr er fort, „welchen Namen soll ich meinem Freunde nennen?“

„Bolter“, antwortete Noah, der sich auf eine solche Frage vorbereitet hatte. „Herr Morris Bolter und Frau Bolter.“

„Frau Bolter, ich empfehle mich Ihnen ergebenst“, sagte Fagin und verbeugte sich mit grotesker Höflichkeit. „Ich hoffe, Sie bald noch näher kennenzulernen.“

„Hörst du, was der Herr sagt, Charlotte?“ brüllte sie Herr Claypole an.

„Ja, lieber Noah“, erwiderte Frau Bolter, ihre Hand Fagin hinreichend.

„Noah ist ein Schmeichelname“, erklärte Herr Morris Bolter alias Claypole dem Juden. „Sie verstehen mich?“

„Vollkommen!“ antwortete Herr Fagin, der damit diesmal die Wahrheit sprach. „Gute Nacht. Gute Nacht.“

In dem gezeigt wird, wie der Gannef in die Patsche kommt

„So sind Sie also selbst der gute Freund gewesen?“ fragte Herr Claypole, sonst Bolter, als er am nächsten Vormittag das Haus des Juden betrat, wohin er bestellt worden war. „Ich Schafskopf hätte es mir gestern schon denken können.“

„Jedermann ist sein eigener Freund, mein Lieber“, versetzte Fagin mit bezeichnendem Grinsen, „er kann keinen besseren finden.“

„Mit Ausnahmen“, erwiderte Morris Bolter im Tone eines welterfahrenen Mannes. „Manche Menschen sind ihre eigenen größten Feinde, wissen Sie!“

„Glauben Sie das ja nicht“, sagte Fagin. „Ist ein Mensch sein eigener Feind, so nur deshalb, weil er zu sehr sein eigener Freund ist, und nicht, weil er andere mehr in sein Herz geschlossen hat. Das wäre gegen die Menschennatur.“

„Und käme es vor, so wäre es nicht in der Ordnung“, meinte Herr Bolter.

„Das liegt klar auf der Hand“, sprach Fagin. „Von den Magiern halten einige die 3 und andere die 7 für die Zauberzahl. Aber das stimmt nicht. Nummer eins ist’s!“

„Ha! ha!“ lachte Herr Bolter. „Hoch die Nummer eins.“

„In einer so kleinen Vereinigung wie die unsrige, mein Lieber“, sagte der Jude, „haben wir eine allgemeine Nummer eins. Das heißt, Sie können sich nicht selber als Nummer eins betrachten, ohne mich und all die anderen mit einzuschließen.“

„Teufel auch!“ rief Herr Bolter.

„Sie sehen“, fuhr Fagin fort und tat so, als ob er die Unterbrechung nicht gehört hätte, „unsere Interessen sind so miteinander verwachsen, daß es gar nicht anders sein kann. Zum Beispiel, Sie sorgen für Nummer eins – das heißt für sich selbst.“

„Ganz recht, gewiß!“

„Schön, Sie können aber nicht für sich als Nummer eins sorgen, ohne auch für mich zu sorgen, der ich gleiche falls Nummer eins bin.“

„Nummer zwei wollten Sie sagen“, meinte Herr Bolter.

„Nein, nicht doch“, erwiderte Fagin. „Ich bin für Sie ebenso wichtig, wie Sie es sich selbst sind.“

„Wissen Sie“, sagte Herr Bolter, „Sie sind ja ein netter Kerl, und ich habe Sie auch ganz gern, aber so dicke Freunde sind wir denn doch nicht.“

„Aber überlegt mal“, sagte der Jude, heftig gestikulierend, „bedenkt, Sie haben da einen Streich vollführt, der mir sehr gefällt. jedoch könnte er Ihnen leicht zu einer Krawatte verhelfen, die sich leichter knüpfen als aufmachen läßt – nämlich zum Strick.“

Herr Bolter fühlte sich an den Hals, als ob ihm der Kragen zu eng wäre, und murmelte etwas, das wie Zustimmung klang.

„Der Galgen“, fuhr Fagin fort, „ist ein häßlicher Wegweiser, der auf eine gefährliche Ecke zeigt, die der Laufbahn manches verwegenen Burschen ein plötzliches Ziel gesetzt hat. Sich von ihm fern zu halten, ist für Sie Nummer eins.“

„Selbstverständlich, doch warum reden Sie von solchen Dingen.“

„Nur, um Ihnen offen meine Meinung zu sagen“, entgegnete der Jude, die Augenbrauen hochziehend. „Sie hängen von mir ab, und ich hänge von Ihnen ab, wenn mein Geschäft gehen soll. Das erstere ist Ihre Nummer eins, das letztere die meinige. Je mehr Sie für Ihre Nummer eins sorgen, desto besorgter müssen Sie auf die meinige sein. So kommen wir zuletzt wieder auf das, was ich von Anfang an gesagt habe, daß nämlich die Rücksicht auf Nummer eins uns alle zusammenhält und zusammenhalten muß, wenn unsere Gemeinschaft nicht in die Brüche gehen soll!“

„Das ist richtig, ich merke schon, Sie sind ein schlauer alter Fuchs!“

„Ja, nur wenn wir fest zusammenstehen, kommt man über schwere Verluste weg“, sagte Fagin. „Gestern morgen habe ich meinen besten Mitarbeiter verloren.“

„Durch den Tod?“

„Nein, nein, so schlimm ist’s nicht!“

„Er ist wohl –“

„Abhanden gekommen“, ergänzte der Jude, „ja, ab, handen gekommen ist er!“

„Wie das?“ fragte Herr Bolter.

„Er wurde wegen versuchten Taschendiebstahls verhaftet, und man fand eine silberne Tabaksdose bei ihm – seine eigene, mein Lieber, denn er schnupft selbst gern. Ach, er war fünfzig silberne Dosen wert, und ich ließe mich’s gern das Geld dafür kosten, wenn ich ihn wieder hätte. Sie sollten den Gannef gekannt haben!“

„Nun, ich hoffe ihn wohl noch kennenzulernen, meinen Sie nicht auch?“

„Schwerlich“, sagte der Jude seufzend. „Man wird ihn wohl auf Lebenszeit in die Strafkolonie schicken.“

Das Gespräch wurde hier durch Herrn Karl Bates unterbrochen, der mit betrübtem Gesicht eintrat.

„Es ist mit ihm aus, Fagin“, sagte Karl, nachdem er und sein neuer Gefährte sich vorgestellt hatten.

„Was soll das heißen?“

„Man hat den Besitzer der Dose gefunden und auch noch einige andere Zeugen aufgetrieben. Der Gannef erhält freie Ausreise“, berichtete Karl Bates.

„Wir müssen herauskriegen, was er macht. Laß mich mal nachdenken“, sagte Fagin.

„Soll ich’mal gehen?“ fragte Karl.

„Bist du verrückt? Es ist vorläufig genug, einen verloren zu haben“, versetzte der Jude.

„Sie denken doch nicht etwa selbst hinzugehen?“

„Das wäre untunlich“, meinte Fagin kopfschüttelnd.

„Warum schicken Sie nicht das Grünhorn?“ fragte Herr Bates und legte seine Hand auf Noahs Arm. „Kein Mensch kennt ihn!“

„Wenn er nichts dagegen hat –“, meinte Fagin zögernd.

„Was soll er dagegen haben?“ fiel Karl ein.

„Es ist wirklich nichts zu befürchten“, sagte der Jude, sich an Noah wendend.

„Sie haben gut reden“, versetzte dieser. „Nein, ausgeschlossen, es schlägt nicht in mein Fach!“

„Was hat er denn für ein Fach gekriegt, Fagin?“ fragte Herr Bates mit einem verächtlichen Blick auf Noahs schlottrige Gestalt. „Vielleicht das Ausreißen, wenn’s nicht ganz geheuer ist, und das Fressen und Saufen, wenn alles geklappt hat. – Gehört das zu seinem Fach?“

„Geht dich gar nichts an!“ schnaubte Herr Bolter. „Nimm dir keine Frechheiten heraus gegen Leute, die mehr als du sind, Knirps. Bei mir kommst du an den Unrechten!“

Herr Bates lachte unbändig über die prahlerische Drohung, und es dauerte einige Zeit, ehe sich Fagin ins Mittel legen und Herrn Bolter klarmachen konnte, daß bei einem Gange nach der Polizei von einer Gefahr für ihn keine Rede sein konnte. Besonders, wenn er verkleidet sei. Herr Bolter ließ sich durch diese Ausführungen, mehr aber noch durch seine Furcht vor dem Juden bewegen, den Auftrag auszuführen. Er vertauschte auf Fagins Geheiß seinen eigenen Anzug mit einem Fuhrmannskittel, Manchesterhosen und Gamaschen, die der Jude gerade zur Hand hatte, und bekam eine Kärrnerpeitsche in die Hand.

Er stellte einen Bauernjungen mit großem Geschick dar (da er von Natur ein unbeholfener Bursche war), der aus Neugierde eine Verhandlung vor dem Polizeirichter mitanhören wollte. Nachdem ihm der Gannef genau beschrieben worden war, führte ihn Herr Bates in die Nähe des Polizeigebäudes und hieß ihn eilen. Er versprach, ihn an dem Orte, wo sie sich trennten, wieder zu erwarten.

Noah befolgte gewissenhaft die erhaltenen Anweisungen und gelangte auch richtig in den Gerichtssaal. Er kam hier in ein großes Gedränge von Menschen, zumeist Frauen, die Kopf an Kopf den muffigen Saal füllten. Auf der Anklagebank saßen ein paar Weiber, die ihren sie bewundernden Bekannten zunickten, während der Gerichtsschreiber einigen Polizisten und einem bürgerlich gekleideten Manne, der sich über den Tisch beugte, die Zeugenaussagen vorlas.

Noah sah sich neugierig nach dem Gannef um, konnte ihn aber nicht entdecken. Er erwartete daher ungeduldig das Urteil, welches über die Weiber gefällt wurde, die darauf mit stolzer Miene abgingen. Der Gefangene, der jetzt vorgeführt wurde, mußte nach der Beschreibung der Gannef sein. Und es war tatsächlich Jack Dawkins. Er setzte sich auf die Anklagebank mit der lauten Frage, warum man ihn hierherbringe.

„Willst du wohl den Mund halten“, sagte der Gerichtsdiener.

„Bin ich nicht ein Engländer?“ versetzte der Gannef. „wo sind meine Rechte?“

„Wirst sie bald genug bekommen und gepfeffert noch dazu“, erwiderte der Gerichtsdiener.

„Wollen mal sehen, was der Justizminister den Kadis sagen wird, wenn man meine Rechte nicht achtet“, brüllte der Gannef. „Aber nun man los. Ich bitte die Herren Richter, mich nicht mit ihrem Zeitungslesen aufzuhalten, sondern meine kleine Sache gleich zu erledigen. Ich habe mich nämlich mit einem Herrn in der City verabredet, und da ich ein Mann von Wort bin und in Geschäftssachen äußerst pünktlich, so könnte es leicht eine Schadenersatzklage gegen die geben, welche mich hier aufgehalten haben. Und das werden die Herren Richter nicht wollen.“

Da diese die Redensarten des Gannefs überhörten, so fragte der freche Junge den Gerichtsdiener „nach den Namen der beiden Hampelmänner auf der Richterbank“. Durch diese Frage fühlten sich die Zuhörer so gekitzelt, daß sie fast ebenso herzlich lachten, als es sicher Herr Karl Bates getan hätte, wenn er dagewesen wäre.

„Ruhe!“ brüllte der Gerichtsdiener.

„Was liegt vor?“ fragte einer der Polizeirichter.

„Ein Taschendiebstahl, Euer Gnaden.“

„Ist der Junge schon mal hier gewesen?“

„Hätte er schon oft sein sollen, aber solche Burschen trifft man eher woanders. Ich kenne ihn aber, Euer Gnaden“, sagte der Gerichtsdiener.

„So, Sie kennen mich, wirklich?“ rief der Gannef und tat so, als ob er sich eine Notiz machte. „Gut, das gibt eine Klage wegen Ehrabschneidung.“

Es entstand abermals ein großes Gelächter. Nachdem wieder Ruhe geboten war, fragte der Gerichtsschreiber:

„Nun, wo sind die Zeugen?“

„Richtig, wo sind sie, möchte sie auch gern sehen“, meinte der Gannef.

Seinem Wunsche wurde sofort willfahrt, denn ein Polizist trat vor und sagte aus, der Angeklagte hätte im Gedränge einem unbekannten Herrn das Schnupftuch aus derTasche gezogen, da es aber sehr alt gewesen, wieder in die Tasche zurückgesteckt, nachdem der Dieb es vorher an seiner eigenen Nase probiert. Er wäre deshalb zur Verhaftung geschritten und hätte bei der Durchsuchung des Festgenommenen eine silberne Schnupftabaksdose gefunden, auf deren Deckel der Name des Eigentümers eingegraben war. Die Wohnung desselben hätte man im Adreßbuch gefunden, und der Herr wäre als Zeuge anwesend. Dieser beschwor, daß die Dose sein Eigentum sei, und sie, als er aus dem Gedränge heraus war, sofort vermißte. Er fügte noch hinzu, daß im Gewühl sich ein junger Mensch auffallend viel um ihn zu schaffen gemacht habe, und daß dieser kein anderer als der vor ihm stehende Angeklagte sei.

„Hast du den Zeugen etwas zu fragen, Junge?“ sagte der Richter.

„Ich mag mich nicht so weit erniedrigen, eine Unterhaltung mit ihm anzuknüpfen“, war die Antwort.

„Hast du überhaupt noch etwas vorzubringen?“

„Hörst du nicht, Seine richterliche Gnaden fragen, ob du noch etwas zu sagen hättest“, wiederholte der Gerichtsdiener und stieß den stummen Gannef mit dem Ellenbogen an.

„Verzeihung, haben Sie mit mir gesprochen?“ fragte der Junge zerstreut.

„Ich habe nie einen durchtriebeneren Spitzbuben gesehen, Euer Gnaden“, sagte der Gerichtsdiener grinsend.

„Beabsichtigst du noch etwas zu bemerken, Halunke?“

„Nein“, entgegnete der Gannef, „hier nicht, denn das ist wirklich nicht der richtige Laden für Gerechtigkeit. Außerdem frühstückt mein Rechtsanwalt heute vormittag mit dem Vizepräsidenten des Parlaments. Aber anderswo werde ich reden, ebenso mein Anwalt und eine Masse anderer Bekannten, und zwar so, daß die Kadis wünschen werden, nie geboren zu sein. Daß es ihnen lieber gewesen wäre, wenn sie sich von ihren Bedienten an ihren eigenen Kleiderständern hätten aufhängen lassen, als daß sie heute mir ein Urteil gesprochen hätten. Ich – -„

„Er ist vollständig überführt!“ unterbrach der Gerichtsschreiber die Rede. „Führen Sie ihn ab.“

„Komm, Junge“, sagte der Gerichtsdiener.

„Ja, ich komme schon“, sagte der Gannef, seinen Hut mit der Hand glattstreichend. „Und mit Ihnen“, zur Richterbank gewandt, „werde ich kein Erbarmen haben, wenn Sie auch noch so ängstliche Mienen zeigen. Ihr Kerle sollt mir dafür büßen! Ich möchte nicht in eurer Haut stecken. Ich würde jetzt meine Freilassung nicht annehmen, und wenn Ihr mich auf den Knien darum bätet. Führt mich ab!“

Der Gerichtsdiener packte ihn am Kragen und der Gannef drohte noch, die Sache vors Parlament zu bringen. Dann grinste er dem Gerichtsdiener mit großer Frechheit ins Gesicht.

Herr Bolter eilte nun, so schnell er konnte, zu der Stelle, wo er Karl Bates verlassen hatte. Dieser zeigte sich erst, nachdem er sich vergewissert hatte, daß keine naseweise Person Noah folge, und die Luft rein sei.

Beide begaben sich nun schleunigst nach Hause, um Herrn Fagin die erfreuliche Kunde zu bringen, daß der Gannef seiner Erziehung alle Ehre und sich selbst einen glänzenden Namen gemacht habe.

Die Zeit kommt, da Nancy ihr Rosa gegebenes Versprechen halten soll. Sie wird verhindert

So schlau und erfahren auch Nancy in allen Verstellungskünsten war, so konnte sie doch die Zerrissenheit ihrer Seele nicht ganz verbergen, die ihr gewagter Schritt erzeugt hatte. Sie dachte daran, daß beide, sowohl der verschmitzte Jude als auch der rohe Sikes, sie ohne Argwohn in Pläne eingeweiht hatten, die allen anderen Diebesgenossen unbekannt waren. Aber trotz der Schändlichkeit dieser Pläne, der Verworfenheit ihrer Urheber und ihrer Erbitterung gegen den Juden, der sie immer tiefer in Verderben und Elend geführt hatte, fühlte sie doch manchmal sogar für ihn eine weiche Regung. Sie hätte ihn nur ungern den unerbittlichen Händen überantwortet, denen er so lange entgangen war und doch am Ende anheimfallen mußte – so sehr er auch ein solches Schicksal verdient haben mochte.

Es war Sonntagabend, die Uhr der nächsten Kirche verkündete die Stunde. Sikes und der Jude unterbrachen ihre Unterhaltung, um die Schläge zu zählen. Nancy horchte gleichfalls gespannt – Elf!

„Eine Stunde vor Mitternacht“, sagte Sikes, indem er das Fenster öffnete und hinaussah. Als er wieder zu seinem Stuhl ging, meinte er: „Eine herrliche Nacht fürs Geschäft – es ist rabenschwarz draußen.“

„Schade, Bill, daß wir sie nicht ausnutzen können“, versetzte der Jude.

„Daran dachte ich auch gerade“, entgegnete Sikes mürrisch. „Es ist jammerschade, ich wäre heute gerade in Stimmung.“

Der Jude seufzte und schüttelte betrübt den Kopf.

„Wir müssen die verlorene Zeit wieder einbringen, wenn wir etwas Gutes ausbaldowert haben“, sagte Sikes.

„So ist’s recht, das ist ein Wort, lieber Freund“, rief der Jude und wagte es, dem Einbrecher auf die Schulter zu klopfen. „Es freut mich wirklich, Euch so sprechen zu hören.“

„So – freut’s dich? Meinetwegen.“

„Ha! ha! ha!“ lachte der Jude, als ob ihm sogar dieses geringe Zugeständnis Freude machte. „Ihr seid heute abend wieder ganz der Alte, Bill!“

„Mir ist’s aber nicht so, solange deine dreckige alte Pfote auf meiner Schulter liegt – weg damit!“ schrie Sikes und stieß die Hand des Juden fort.

„Macht sie Euch nervös, Bill – erinnert sie Euch ans Gefaßtwerden“, fragte der Jude, der sich vorgenommen hatte, keine Empfindlichkeit zu zeigen.

„Sie erinnert mich an die Klaue des Teufels, nicht an die eines Häschers“, erwiderte Sikes. „Es hat nie einen Menschen gegeben mit einem Gesicht wie deines, höchstens deinen Vater. Ich glaube aber, dem wird jetzt sein ergrauter roter Bart in der Hölle gesengt, wenn nicht etwa Beelzebub selbst dein Vater ist. Wundern würde mich das weiter nicht.“

Fagin schwieg zu dieser Schmeichelei, zupfte aber Sikes am Ärmel und zeigte auf Nancy, die sich während der Unterhaltung der beiden Ehrenmänner den Hut aufgesetzt hatte und im Begriff war, das Zimmer zu verlassen.

„Hallo, Nancy!“ rief Sikes. „Donnerwetter, wohin willst du zu so später Stunde.“

„Nicht weit.“

„Was ist das für eine Antwort! Wohin gehst du?“

„Ich sage, nicht weit.“

„Und ich sage, wohin?“ schrie Sikes barsch. „Hörst du?“

„Ich weiß selbst nicht, wohin.“

„Dann weiß ich es“, sagte Sikes, mehr aus Widerspruchsgeist, als weil er etwas gegen Nancys Ausgang einzuwenden hatte. „Du gehst nirgends hin. Setz dich!“

„Ich fühle mich nicht wohl. Ich muß an die frische Luft, habe es dir vorhin schon gesagt.“

„Stecke den Kopf zum Fenster hinaus, das ist ebenso gut“, schrie Sikes.

„Das genügt mir nicht, ich muß mir Bewegung machen.“

„Daraus wird nichts“, brummte Sikes, der bei diesen Worten aufstand, die Tür abschloß, den Schlüssel herauszog und dem Mädchen den Hut vom Kopf riß, den er auf einen alten Schrank warf. „So“, sagte der Einbrecher, „willst du jetzt hierbleiben oder nicht?“

„Ich gehe auch ohne Hut“, sagte Nancy blaß werdend „Was soll das heißen, Bill? Du weißt wohl nicht, was du tust?“

„Ob ich es weiß, zum Donnerwetter“, schrie Sikes und drehte sich nach Fagin um. „Sie ist verrückt geworden, sonst würde sie sich nicht trauen, so mit mir zu reden.“

„Du wirst mich noch zur Verzweiflung bringen“, murmelte Nancy dumpf, mit Gewalt ihre Wut unterdrückend. „Laß mich sofort gehen – sofort!“

„Nein“, brüllte Sikes.

„Sagt Ihr es ihm, daß er mich gehen läßt, Fagin. Es ist besser für ihn. Hört Ihr?“ schrie das Mädchen und stampfte mit dem Fuß auf.

„Ich höre dich ganz gut“, sagte Sikes, seinen Stuhl umdrehend, um Nancy scharf ansehen zu können. „Wenn ich dich noch eine halbe Sekunde länger höre, so wird dir der Hund deine kreischende Stimme aus dem Halse reißen, verlaß dich darauf. Was fällt dir ein, dummes Frauenzimmer?“

„Laß mich gehen“, sagte Nancy bittend und setzte sich auf den Fußboden dicht bei der Tür. „Bitte laß mich gehen. Du weißt nicht, was du tust. Nur eine einzige Stunde – bitte, laß mich.“

„Ich laß mich hängen“, schrie der Einbrecher, sie rauh am Arm packend, „wenn das Mädchen nicht toll geworden ist! Steh auf!“

„Nicht eher, als bis du mich gehen läßt – nicht eher!“ kreischte Nancy.

Sikes faßte sie bei den Händen und schleppte die sich heftig Sträubende in ein anstoßendes, kleines Gemach. Er drückte sie auf einen Stuhl nieder und hielt sie fest. Die Uhr schlug zwölf, und müde und erschöpft ließ Nancy vom Kampfe ab.

„Donnerwetter“, sagte der Verbrecher, als er wieder zu Fagin zurückgekehrt war, sich den Schweiß von der Stirn wischend: „Ein ganz verrücktes Mädel!“

„In der Tat, Bill“, erwiderte der Jude nachdenklich.

„Was mag ihr wohl in die Krone gestiegen sein, daß sie durchaus heute nacht ausgehen wollte?“ fragte Sikes. „Du mußt sie besser kennen als ich, was meinst du wohl?“

„Weibereigensinn und Halsstarrigkeit, glaube ich“, sagte Fagin und zuckte mit den Achseln.

„Hm! ’s kommt mir auch so vor“, brummte der Räuber. „Ich glaubte schon, ich hätte sie klein gekriegt, aber sie ist so schlimm wie je.“

„Schlimmer, Bill“, sagte Fagin. „Ich habe sie nie so gesehen und noch dazu wegen eines so unbedeutenden Grundes.“

„Ich auch nicht. Ich glaube, es steckt ihr noch etwas Fieber im Blut, und es will nicht heraus. Was meinst du?“

„Schon möglich.“

„Ich will ihr ein bißchen zur Ader lassen, ohne den Doktor darum zu bemühen, wenn Sie mir wieder so kommt!“

Fagin nickte zustimmend.

„Sie war Tag und Nacht um mich, als ich krank daniederlag, während du falscher Hund dich nicht sehen ließest. Wir waren die ganze Zeit über im mächtigen Dalles, und das hat sie so mitgenommen. Und dann das Immer-im-Hause-bleiben-müssen – wie?“

„Das wird’s sein, mein Lieber. – Pst!“

Nancy trat jetzt ins Zimmer und nahm ihren alten Platz wieder ein. Ihre Augen waren vom Weinen ganz rot und geschwollen. Nach einer Weile brach sie in ein lautes Lachen aus.

„Nanu, jetzt kommt’s ja ganz anders“, schrie Sikes und sah Fagin verwundert an.

Der Jude bedeutete ihm, sie nicht weiter zu beachten, und nach einigen Minuten war sie wieder ganz die alte. Fagin nahm nun seinen Hut und bat, es möchte ihm jemand die Treppe hinunterleuchten. „Gute Nacht, Bill.“

„Tu das, Nancy“, sagte Sikes, der sich gerade eine Pfeife stopfte. „Es wäre schade, wenn er sich hier den Hals bräche und die schaulustige Menge um das Schauspiel seines Gehängtwerdens betröge. Da, nimm die Funzel!“

Nancy folgte dem Alten mit der Kerze die Treppe hinunter. Als sie unten im Hausflur waren, legte er den Finger an die Lippen und flüsterte Nancy zu:

„Was war los, liebes Kind?“

„Was meint Ihr“ flüsterte sie zurück.

„Was war der Grund, auszugehen?“ entgegnete der Jude. „Wenn er –“ er zeigte nach oben, „wenn er so gemein zu Ihnen ist – solch ein Vieh! Ein richtiges wildes Tier! Warum wollen Sie nicht –?“

„Nun?“ fragte Nancy, als er innehielt.

„Lassen wir’s für heute! Reden wir ein andermal darüber. Sie haben einen Freund an mir, Nancy, einen treuen, zuverlässigen Freund. Seien Sie nicht ängstlich, ich habe ihn in der Hand. Wenn Sie sich an ihm rächen wollen, der Sie wie einen Hund behandelt – ja, noch schlechter, denn seinen Hund streichelt er doch manchmal –, so kommen Sie zu mir. Ihn kennen Sie erst seit kurzer Zeit – mich aber von alters her, Nancy.“

„Euch kenne ich allerdings“, sagte sie, ohne die geringste Bewegung zu zeigen. „Gute Nacht!“

Sie fuhr zurück, als Fagin ihr die Hand bot, sagte aber nochmals mit ruhiger Stimme gute Nacht und schloß die Tür.

Der Jude ging sinnend heim. Er war nicht gerade durch den letzten Vorfall auf den Gedanken gekommen, daß Nancy, der Roheit des Verbrechers müde, eine Neigung zu einem neuen Freunde gefaßt hätte – er schien aber seine Ansicht zu bestätigen. Ihr verändertes Wesen, der Umstand, daß sie oft allein das Haus verließ, ihre Gleichgültigkeit gegen die Interessen der Bande und ihr heftiges Verlangen, gerade zu einer bestimmten Stunde heute ausgehen zu wollen – alles trug dazu bei, ihn in seiner Meinung zu bestärken. Der Gegenstand ihrer neuen Herzensfreundschaft war keiner von seinem Anhang. Er mußte mit einer Gehilfin wie Nancy eine wertvolle Erwerbung sein, die man sich ohne Verzug sichern müßte.

Auch war damit noch etwas anderes zu erreichen. Sikes wußte zuviel, und seine höhnischen Redensarten hatten den Juden tief verletzt, obgleich er sich nichts merken ließ. Nancy mußte sich klar sein, daß, wenn sie sich von Sikes trennte, sie nie vor seiner Wut sicher sein konnte, auch daß ihr neuer Liebhaber gefährdet war. „Mit ein bißchen Überredungskunst“, dachte Fagin, „läßt sie sich vielleicht bewegen, ihn zu vergiften. Weiber haben solche Sachen und noch schlimmere schon oft getan, um sich ihre Liebhaber zu sichern. Dadurch würde der Halunke, den ich hasse, beseitigt, und ein anderer träte an seine Stelle als guter Ersatz. Mein Mitwissen um dieses Verbrechen aber verschafft mir einen unbegrenzten Einfluß auf das Mädchen.“

Aber vielleicht bebte sie doch vor dem Vorschlag zurück, Sikes um die Ecke zu bringen, und das war doch das Hauptziel, nach dem er trachtete. „Wie kann ich wohl meinen Einfluß auf sie vergrößern und neue Macht über sie gewinnen?“ grübelte der Jude, als er nach Hause schlich.

Ein Gehirn wie das seinige ist fruchtbar in Plänen. Wenn er sie mit Spionen umstellte und auf diesem Wege den Gegenstand ihrer neuen Leidenschaft entdeckte und dann drohte, Sikes alles zu verraten – konnte er nicht da ihrer Willfährigkeit gewiß sein?

„So mache ich’s“, sagte Fagin fast laut. „Sie darf mir dann nichts abschlagen, wenn ihr das Leben lieb ist. Die Mittel zum Zweck stehen mir zur Verfügung. Ich kriege sie alle beide, Nancy sowohl als Sikes.“

Er sah sich mit einem finsteren Blick um und ballte die Faust nach der Richtung, wo Sikes‘ Wohnung lag.

Noah Claypole wird von Fagin in geheimer Mission verwandt

Der alte Jude stand am nächsten Tage zeitig auf und erwartete ungeduldig das neue Mitglied seiner Bande. Endlich kam es und fiel sofort gierig über das Frühstück her.

„Bolter!“ sagte Fagin, sich ihm gegenübersetzend.

„Ja? Was soll’s?“ antwortete Noah. „Verlangen Sie nur nichts von mir, ehe ich gegessen habe. Das ist ein großer Fehler hier, es wird einem nie ordentlich Zeit zum Essen gelassen.“

„Na, beim Essen kann man doch auch sprechen, nicht wahr?“ meinte Fagin, die Gefräßigkeit seines jungen Freundes aus dem Grund seines Herzens verwünschend.

„Ja, das ist richtig. Das Essen rutscht sogar besser, wenn man dabei plaudert“, erwiderte Noah und säbelte sich ein mächtiges Stück Brot ab. „Wo ist übrigens Charlotte?«‘

„Ausgegangen“, sagte der Jude. „Ich habe sie mit dem andern Mädel fortgeschickt, weil ich mit dir allein sein wollte.“

„So!“ versetzte Noah. „Hättet Ihr ihr nur aufgetragen, vorher noch die Brotschnitte zu rösten. Doch nun schießt los, ich werde mich nicht stören lassen!“

„Du hast gestern deine Sache gut gemacht, mein Freund, ganz großartig. Sechs Schillinge und zehn Pence am allerersten Tage! Du wirst durch das Görenlausen zum reichen Manne werden!“

„Sie müssen die drei Bierkannen und den Milchtopf nicht vergessen“, sagte Herr Bolter.

„Nein, nein, mein Lieber. Die Bierkannen waren Geniestreiche, doch der Milchtopf, das war ein Meisterstück.“

„Wohl für ’nen Anfänger nicht übel?“ bemerkte Herr Bolter selbstgefällig. „Die Bierkannen nahm ich von einem Kellerhals herunter, und der Milchtopf stand vor einem Gasthofe. Ich dachte, er möchte im Regen rostig werden oder sich erkälten, wißt Ihr? Ha! ha! ha!“

Der Jude stimmte in das Gelächter ein und sagte dann:

„Du mußt für mich eine Sache ausführen, bei der große Vorsicht nötig ist.“

„Nur nichts, wobei Gefahr ist“, meinte Bolter, „Oder mich wieder zum Polizeigericht schicken. So was behagt mir nicht und ich will davon nichts mehr wissen.“

„’s ist gar keine Gefahr damit verbunden, nicht die geringste. Es handelt sich nur darum, ein Frauenzimmer zu beobachten!‘

„Ist’s ein altes?“

„Nein, ein junges.“

„Nun, das verstehe ich ziemlich gut“, meinte Bolter. „Das war schon immer meine Lieblingsbeschäftigung, als ich noch zur Schule ging. Was soll ich bei dem Frauenzimmer ausbaldowern, doch nicht –?“

„Du sollst herauskriegen, wohin sie geht, mit wem sie verkehrt und womöglich, was sie spricht.“

„Was verdiene ich dabei?“ fragte Noah neugierig.

„Wenn du es gut machst, ein Pfund. Ein Pfund! Ich habe noch nie so viel für eine Arbeit gegeben, die mir eigentlich nichts einbringt!“

„Wer ist sie?“

„Eine der Unsrigen!“

„Soso“, sagte Noah, die Nase rümpfend. „Ihr mißtraut ihr?“

„Sie hat einige neue Bekanntschaften angeknüpft, und ich muß wissen, was das für Menschen sind.“

„Ich verstehe, bloß um das Vergnügen zu haben, sie kennenzulernen, wenn es respektable Leute sind, nicht wahr? Ha! ha! ha! Werde es schon machen.“

„Ich wußte das vorher!“ rief Fagin, vergnügt über die Bereitwilligkeit des anderen.

„Natürlich, natürlich. Wo ist sie? Wo muß ich ihr auflauern? Wann soll ich gehen?“

„Das wirst du von mir noch zur Zeit erfahren. Bei Gelegenheit zeige ich sie dir. Du hast weiter nichts zu tun, als dich bereitzuhalten, alles andere überlasse mir!“

Sechs Nächte gingen um, in denen Herr Bolter vergeblich in seinem Fuhrmannsanzug sich bereit hielt. In der siebenten Nacht kehrte Fagin früher nach Hause zurück, freudestrahlend. Es war Sonntag.

„Heute abend geht sie aus“, sagte der Jude. „Komm mit – rasch!“

Noah sprang, ohne ein Wort zu sagen, auf. Sie schlichen aus dem Hause, eilten durch ein Labyrinth von Straßen und langten endlich bei einem Wirtshause an, das Noah als die „Drei Krüppel“ wiedererkannte.

Es war elf Uhr und die Tür geschlossen. Auf ein leises Pfeifen Fagins öffnete sie sich langsam. Sie traten geräuschlos ein, und die Tür tat sich wieder hinter ihnen zu.

Fagin und der Judenjüngling, der sie eingelassen hatte, wagten kaum zu flüstern, sondern gaben Noah nur durch Zeichen zu verstehen, daß er durch das bekannte kleine Fenster die Person im anstoßenden Zimmer sich ansehen solle.

„Ist das das Frauenzimmer?“ fragte er ganz leise.

Der Jude nickte bejahend.

„Ich kann das Gesicht nicht gut sehen. Das Mädchen sieht zu Boden, und das Licht steht hinter ihr.“

„Einen Augenblick!“ flüsterte Fagin und machte Barney ein Zeichen, worauf sich dieser entfernte. Eine Minute später trat er in das benachbarte Gemach, brachte den Leuchter unter dem Vorwand, das Licht zu putzen, in die richtige Stellung und sprach Nancy an. Dadurch war sie gezwungen, den Kopf hochzuheben.

„Jetzt kann ich sie sehen“, sagte Bolter.

„Deutlich?“ fragte Fagin.

„So, daß ich sie unter Tausenden herauskennen würde.“

Nancy ging jetzt fort, und Barney hielt hinter ihr die Haustür offen. „Nun los!“

Noah wechselte mit Fagin einen Blick und huschte durch die offene Tür hinaus.

„Links!“ flüsterte Barney, „- halten Sie sich links auf der anderen Straßenseite!“

Noah sah das Mädchen schon in einiger Entfernung. Er eilte ihr nach. Sie blickte sich zwei- oder dreimal ängstlich um und blieb auch einmal stehen, um zwei Männer vorbeizulassen, die hinter ihr herkamen. Je weiter sie ging, desto mutiger schien sie zu werden; denn ihr Schritt klang immer fester. Noah hielt sich in angemessener Entfernung, aber ließ sie nicht aus den Augen.

Nancy hält ihr Versprechen

Die Turmuhren schlugen dreiviertel zwölf, als an der Londoner Brücke zwei Gestalten auftauchten. Die eine davon, ein rasch vorwärtseilendes Mädchen, sah sich wiederholt aufmerksam um, als suche sie jemand. Die andere Gestalt, ein Mann, der im dunkelsten Schatten, den er finden konnte, dem Mädchen nachschlich und sofort stilistand, wenn sie haltmachte, und heimlich wieder folgte, wenn sie weiterging. Mitten auf der Brücke blieb sie längere Zeit stehen. Es war eine dunkle Nacht, und nur wenige Menschen ließen sich um diese Zeit auf der Brücke sehen. Und diese wenigen liefen schnell vorüber, ohne sich um das Mädchen und dessen Beobachter zu kümmern. Über der Themse hing ein dichter Nebel. Doch waren die Türme der alten Erlöserkirche und der St. Magnuskirche durch die Dunkelheit sichtbar. Dagegen blieb der Mastenwald der Schiffe den Augen verhüllt.

Mitternacht war inzwischen herangekommen, als eine junge Dame, von einem grauhaarigen Herrn begleitet, in der Uferstraße aus einer Droschke stieg, den Kutscher entlohnte und auf die Brücke zuging.

Sobald die beiden dort angelangt waren, eilte ihnen das Mädchen rasch entgegen. Als sie sich trafen, kam an ihnen ein Mann in Fuhrmannstracht so dicht vorbei, daß er Nancys Kleider streifte.

„Nicht hier“, sagte diese zu der jungen Dame hastig. „Ich fürchte mich, hier mit Ihnen zu sprechen. Wir wollen dort die Treppe hinuntergehen.“

Diese Treppe bildet einen Teil der Brücke und besteht aus drei Absätzen. Am Ende des zweiten geht die Steinwand in einen verzierten Pfeiler über, der dem Flusse zugekehrt ist. Von diesem Punkte aus werden die unteren Stufen breiter, so daß eine Person, wenn sie um die Ecke der Mauer geht, notwendig denen verborgen sein muß, die sich weiter oben auf der Treppe befinden. Hier versteckte sich der Fuhrmann. Die Zeit entschwand an dieser einsamen Stelle ungemein langsam, so daß er schon im Begriff war, sein Versteck zu verlassen, als er Schritte und den Ton von Stimmen vernahm. Er drückte sich dicht an die Mauer und horchte mit verhaltenem Atem.

„Das ist weit genug“, sagte der Herr, „ich gebe nicht zu, daß die Dame weitergeht. Viele würden sich nicht darauf eingelassen haben. Sie sehen, daß wir uns nach Ihnen gerichtet haben.“

„Nach mir gerichtet?“ rief Nancy. „Wirklich?! – Aber das hat nichts zu sagen. Sie sind sehr vorsichtig.“

„Warum führen Sie uns aber auch an solchen Ort“, sagte der Herr in einem etwas freundlicheren Ton. „Warum wollten Sie mich nicht lieber da oben sprechen lassen, wo es doch hell ist und Menschen in der Nähe. Nun bringen Sie uns nach diesem finsteren Loche.“

„Ich sagte Ihnen schon vorhin“, versetzte Nancy, „daß ich mich fürchtete, dort mit Ihnen zu reden. Ich weiß nicht, wie es kommt, aber es ist mir so bange, und ich zittere derart, daß ich nicht auf den Füßen stehen kann.“

„Vor was sind Sie denn bange?“ fragte der Herr im Tone des Mitleids.

„Ich weiß es selbst nicht; den ganzen Tag haben mich furchtbare Gedanken von Tod und Hölle gequält!“

„Einbildungen“, sagte der Herr tröstend.

„Reden Sie freundlich mit ihr“, sagte die junge Dame zu ihrem Begleiter, „Die Arme scheint es zu bedürfen.“

Man ließ Nancy sich etwas beruhigen, dann fragte sie der Herr:

„Sie waren vorigen Sonntag nicht hier?“

„Ich konnte nicht kommen, ich wurde mit Gewalt zurückgehalten.“

„Von wem?“

„Von Bill – von dem ich Fräulein Maylie schon neulich erzählte.“

„Man wird doch keinen Verdacht gegen Sie hegen, daß Sie mit uns verkehren?“

„Nein“, erwiderte Nancy, den Kopf schüttelnd. „Es ist aber für mich nicht leicht, von ihm wegzukommen, ohne daß er weiß, wohin ich gehe. Ich hätte auch das erstemal die Dame nicht besuchen können, wenn ich ihm nicht einen Schlaftrunk beigebracht hätte!“

„Erwachte er, ehe Sie zurückkehrten?“

„Nein, auch hat weder er, noch jemand anders auf mich irgendeinen Verdacht.“

„Gut!“ sagte der Herr, „nun hören Sie mich mal an!“

„Ich bin ganz Ohr“, erwiderte Nancy.

„Diese junge Dame hat mir und einigen Freunden, denen man vollkommen vertrauen kann, alles, was Sie ihr vor vierzehn Tagen erzählten, mitgeteilt. Ich gestehe, anfangs Zweifel gehabt zu haben, ob man sich unbedingt auf Sie verlassen könne. jetzt glaube ich, daß man’s kann!“

„Sie dürfen es“, versetzte Nancy ernst.

„Ich wiederhole, daß ich Ihnen vollkommen traue. Zum Beweise dafür verrate ich Ihnen unsern Plan, nämlich, daß wir entschlossen sind, dem Manne, den Sie Monks nennen, durch Einschüchterung das Geheimnis zu entreißen. Wenn – wenn uns das nicht gelingen sollte, so müssen Sie uns den Juden in die Hände spielen.“

„Fagin?“ rief das Mädchen aus und prallte unwillkürlich zurück.

„Ja, dieser Mensch muß uns ausgeliefert werden.“

„Das tue ich nicht und werde ich nie tun. Solch ein Teufel er auch ist, und trotzdem er noch schlimmer als ein Teufel zu mir war, aber das mache ich nicht.“

„Sie wollen nicht?“ fragte der Herr, der das erwartet hatte.

„Niemals!“

„Und warum nicht?“

„Aus dem Grunde, den das Fräulein kennt. Mag er immerhin ein schlechtes Leben geführt haben – das meinige ist auch kein gutes gewesen. Ich will keine verraten, die mich auch hätten verraten können.“

„Dann –“ sagte der Herr lebhaft, anscheinend mit dem Erreichten zufrieden, „dann liefern Sie uns diesen Monks in die Hände!“

„Wenn er aber die anderen verrät?“

„Ich verspreche Ihnen für den Fall, daß er uns reinen Wein einschenkt, daß wir die Sache auf sich beruhen lassen wollen. In Olivers kleiner Geschichte gibt es vielleicht Punkte, die man nicht gern in die Öffentlichkeit bringt. Haben wir nur erst die Wahrheit herausgebracht, so liegt uns an der Bestrafung der Schuldigen nichts.“

„Wenn Sie aber nichts aus Monks herausbringen können?“ fragte Nancy.

„Dann soll ohne Ihre Einwilligung der Jude nicht dem Gerichte überliefert werden. Ich hoffe jedoch, diese von Ihnen zu bekommen, da ich Ihnen Gründe angeben kann, die Sie überzeugen werden.“

„Habe ich dafür das Wort der Dame?“

„Ja“, sagte Rosa, „ich verspreche es Ihnen feierlich!“

„Monks wird also nie erfahren, woher Sie Kunde kriegten?“ fragte Nancy nach kurzer Pause.

„Nie!“ antwortete der Herr. „Wir gehen dann in einer Weise vor, daß er es nicht einmal vermuten kann!“

„Ich bin eine Lügnerin gewesen und habe von Kindheit an unter Lügnern gelebt“, entgegnete das Mädchen nach abermaligem kurzen Schweigen. „Aber ich will Ihren Worten glauben!“

Beide versicherten ihr, daß sie das getrost könne, worauf Nancy mit so leiser Stimme, daß es dem Horcher oft schwer wurde, ihre Worte zu verstehen, die Lage des Wirtshauses zu den drei Krüppeln zu beschreiben begann. Der Herr schien sich einiges von ihren Mitteilungen aufzuschreiben. Als sie noch gesagt hatte, zu welchen Stunden Monks gewöhnlich dort einzukehren pflegte, hielt sie inne, um sich das Gesicht und das sonstige Äußere des Mannes genau ins Gedächtnis zurückzurufen. Sie begann:

„Er ist groß und kräftig gebaut, aber nicht dick und hat einen schlürfenden Gang, bei dem er beständig bald über die eine und dann über die andere Achsel schielt. Vergessen Sie das nicht, denn seine Augen liegen so viel tiefer als bei anderen Leuten, daß Sie ihn schon daran erkennen können. Er hat ein dunkles Gesicht und schwarze Augen und Haare. Und obgleich er erst sieben, oder achtundzwanzig Jahre alt ist, sieht er abgelebt und ältlich aus. Seine Lippen sind oft blaß und durch Bisse entstellt, denn er leidet an Krampfanfällen, wobei er sich häufig schrecklich in die Hände beißt – warum stutzen Sie?“ unterbrach sich Nancy, plötzlich innehaltend.

Der Herr erwiderte hastig, daß er sich dessen nicht bewußt sei, und bat sie fortzufahren.

„Einen Teil dieser Angaben habe ich aus den Gästen des genannten Wirtshauses herausgelockt, denn ich selbst sah ihn nur zweimal, und dann war er stets in einen großen Mantel gehüllt. Das ist wohl alles, was ich Ihnen von Monks sagen kann, doch halt – an seinem Halse, so hoch, daß man noch etwas davon über seinem Kragen sehen kann, wenn er den Kopf etwas dreht, ist –“

„Ein breites, rotes Brandmal?“ rief der Herr.

„Wie – Sie kennen ihn?“

Rosa entfuhr ein Ausruf höchsten Erstaunens, und alle drei schwiegen plötzlich. Der Lauscher konnte sie ganz deutlich atmen hören.

„Ich glaube es“, unterbrach der Herr das Schweigen, „wenigstens Ihrer Beschreibung nach. Wir werden ja sehen. Es gibt Leute, die sich auffallend ähneln. Vielleicht ist es doch nicht der nämliche.“

Der Horcher hörte ihn aber flüstern: „Er muß es sein“, laut fuhr er wieder fort:

„Sie haben uns einen großen Dienst geleistet, Fräulein, und wir möchten uns gern erkenntlich zeigen. Was kann ich für Sie tun?“

„Nichts“, erwiderte Nancy.

„Bitte, reden Sie nicht so“, sagte der Herr in so gütigem Tone, daß davon das härteste Herz hätte gerührt werden müssen. „überlegen Sie erst mal, und sprechen Sie dann.“

„Sie können mir nicht helfen“, entgegnete Nancy und fing zu weinen an. Für mich gibt’s keine Rettung mehr!“

„Sie dürfen die Hoffnung nicht aufgeben“, sagte der Herr, „setzen Sie sie auf die Zukunft! Ich sage nicht, daß es in unserer Macht steht, Ihnen den Frieden der Seele wiederzugeben, da Sie ihn nur finden können, wenn Sie ihn suchen. Es übersteigt aber nicht unser Vermögen und ist auch unser sehnlichster Wunsch, Sie in Sicherheit zu bringen und Ihnen eine ruhige Freistätte entweder hier in England oder, wenn Sie sich zu bleiben scheuen, im Auslande zu verschaffen. Noch ehe der Morgen graut, sollen Sie sich außer dem Bereich Ihrer Genossen befinden und so wenige Spuren hinterlassen, als wenn Sie plötzlich von der Erde verschwunden wären. Verlassen Sie diese Elenden, solange Sie noch können!“

„Ich kann nicht“, versetzte Nancy nach einem kurzen Kampfe mit sich. „Ich bin mit ehernen Banden an mein früheres Leben gekettet, das mir jetzt verhaßt ist. Ich bin zu weit gegangen, um umkehren zu können. Wenn Sie vor einiger Zeit so zu mir gesprochen hätten, wäre ich wahrscheinlich mit Freuden darauf eingegangen. Doch – mich packt wieder die Angst“, sagte sie, sich scheu umsehend, „ich muß nach Hause.“

„Nach Hause?“ wiederholte Rosa, großen Nachdruck auf die Worte legend.

„Nach Hause“, entgegnete Nancy, „nach einem solchen Heim, wie ich es mir durch die Arbeit eines ganzen schlechten Lebens geschaffen habe. Lassen Sie uns scheiden. Man könnte mich sehen oder beobachten. Gehen Sie! Gehen Sie! Wenn ich Ihnen einen Dienst geleistet habe, so wünsche ich dafür nur, daß Sie mich jetzt allein meines Weges ziehen lassen.“

„Es ist alles vergeblich“, seufzte der Herr. „Wir gefährden sie vielleicht, wenn wir noch bleiben, und haben sie wohl schon länger aufgehalten, als sie erwartet hatte.“

„Ja, so ist’s“, sagte Nancy.

„Was kann wohl das Ende dieser Armen sein?“ rief Rosa aus.

„Das Ende?“ wiederholte das Mädchen. Blicken Sie hinunter in das dunkle Wasser, Fräulein. Wie oft liest man von meinesgleichen, die sich in die Flut hinunterstürzen und kein lebendes Wesen zurücklassen, das sich um sie bangt oder beweint. Es können Jahre darüber hingehen oder auch nur Monate – aber schließlich wird das mein Ende sein.“

„Um Gotteswillen, reden Sie nicht so“, schluchzte Rosa.

Der Herr wandte sich ab.

„Nehmen Sie – um meinetwillen“, rief Rosa der sich entfernenwollenden Nancy zu. „Nehmen Sie diese Börse! Sie kann Ihnen in der Stunde der Not von Vorteil sein.“

„Nein, nein“, antwortete Nancy. „Was ich tat, habe ich nicht für Geld getan. Lassen Sie mir wenigstens diesen Trost. Doch – geben Sie mir ein Andenken, etwas, was Sie getragen haben. Nein – keinen Ring! Ihre Handschuhe oder Ihr Taschentuch. So! Gott segne Sie! Gute Nacht!“

Man vernahm sich entfernende Schritte, und die Stimmen schwiegen. Die Gestalten der jungen Dame und ihres Begleiters Herrn Brownlow erschienen bald nachher auf der Brücke.

Der Horcher blieb noch einige Minuten regungslos auf seinem Posten und kroch dann aus seinem Versteck hervor, nachdem er sich vorher überzeugt hatte, daß er wieder allein sei. Auf dem oberen Treppenabsatz schaute sich Noah Claypole noch einmal vorsichtig um und rannte dann, so schnell wie seine Beine konnten, dem Hause des Juden zu.

Unglückliche Folgen

Es war ungefähr zwei Stunden vor Tagesanbruch, als der Jude wachend in seiner Höhle mit bleichem Gesicht und blutrot unterlaufenen Augen dasaß, daß er nicht einem Menschen, sondern eher einem aus dem Grabe gestiegenen Gespenste glich.

Er kauerte, in eine alte zerrissene Bettdecke gehüllt, an einem kalten Herd und richtete seinen Blick auf ein dem Erlöschen nahes Licht, das neben ihm auf dem Tische stand.

Auf einer Matratze am Boden lag ausgestreckt Noah Claypole in tiefem Schlafe. Der alte Mann ließ zerstreut seinen Blick zwischen ihm und der Kerze schweifen, deren überhängender Docht den heißen Talg auf das Tischtuch träufeln ließ. Die Gedanken des Juden waren mit anderen Dingen beschäftigt. Der Verdruß über die Vereitlung seines Plans, der Haß gegen das Mädchen, das gewagt hatte, ihn an Fremde zu verraten, das Mißtrauen gegen die Aufrichtigkeit ihrer Weigerung, ihn auszuliefern, die Wut, sich an Sikes nicht rächen zu können, die Furcht vor der Entdeckung und dem Galgen – alles dies ging ihm durch den Kopf und brütete in seinem Hirn neue Pläne schwärzester Bosheit aus.

Er saß regungslos da und kümmerte sich nicht im geringsten um das Entschwinden der Zeit. „Endlich“, murmelte er, als er Schritte auf der Straße hörte. „Endlich!“

Die Klingel ertönte leise. Er schlich zur Haustür und kehrte bald mit einem vermummten Manne zurück, der einen Packen unter dem Arme trug. Es war Sikes.

„Da!“ sagte er, das Bündel auf den Tisch werfend. „Verwerte es, so gut du kannst. Es hat mir Mühe genug gemacht, es zu kriegen. Ich wollte schon vor drei Stunden hier sein.“

Fagin nahm den Packen und schloß ihn in den Schrank. Ohne ein Wort zu sagen, setzte er sich wieder, starrte aber den Verbrecher unverwandt mit zitternden Lippen an.

„Was ist los?“ schrie Sikes. „Warum siehst du mich so an? Sprich!“

Der Jude hob seine rechte Hand hoch und bewegte den Zeigefinger hin und her. Er versuchte zu sprechen, konnte aber nicht.

„Zum Teufel!“ schrie Sikes und faßte in seine Brusttasche. „Er ist wahnsinnig geworden – ich muß mich vorsehen.“

„Nein –. nein!“ sagte Fagin, der endlich seine Sprache wiederfand. „Es ist nicht – Ihr seid es nicht, Bill. Ich habe nichts gegen Euch, gar nichts.“

„Hast nichts gegen mich, wirklich?“ entgegnete Sikes und warf ihm einen wilden Blick zu. Er holte seine Pistole aus der Brusttasche. „Das ist ein Glück – für einen von uns. Für welchen, ist gleichgültig.“

„Ich habe Euch etwas zu sagen, Bill“, versetzte Fagin, seinen Stuhl näher rückend, „was Euch stark aufregen wird.“

„So?“ sagte der Verbrecher mit ungläubiger Miene.

„Rede, aber mach schnell, sonst denkt Nancy, mir ist ein Unglück zugestoßen.“

„Ein Unglück zugestoßen?“ rief Fagin. „Sie hat Euch selber eins zugedacht.“

Sikes blickte dem Juden betroffen ins Gesicht, und da er darin nichts lesen konnte, faßte er den Juden am Rockkragen und schüttelte ihn tüchtig mit derber Faust.

„Heraus mit der Sprache oder ich drück‘ dir die Kehle zu. Mach das Maul auf und rede, du alter Schurke, du!“

„Denkt Euch, der Junge, der hier liegt –“ begann Fagin.

Sikes drehte sich nach dem schlafenden Noah um, ließ den Juden los und sagte: „Weiter!“

„Nehmt mal an, fuhr Fagin fort, „dieser Bursche plauderte aus, verpfiff uns alle – suchte zu diesem Zweck zuerst die rechten Leute und träfe mit ihnen dann auf der Straße zusammen, um ihnen Beschreibungen von uns und unsern Schlupfwinkeln zu geben.“ Die Augen des Juden blitzten vor Wut. „Wenn er dies täte, was dann?“

„Was dann?“ sagte Sikes mit einem schrecklichen Fluche. „Den Schädel würde ich ihm in so viele Stücke zertreten, als er Haare auf dem Kopfe hat.“

„Aber wie, wenn ich es täte?“ rief der Jude mit kreischender Stimme. „Ich, der ich so viel weiß und so viele an den Galgen bringen könnte!“

„Ich weiß nicht“, entgegnete Sikes zähneknirschend und bei dem bloßen Gedanken schon erblassend. „Aber ich täte im Gefängnis etwas, daß man mich in Ketten legen müßte. Und stünde ich mit dir vor Gericht, würde ich vor den Richtern und allen Menschen dir im Gerichtssaal den Kopf einschlagen. Dein Schädel würde aussehen, als ob ein beladener Wagen darübergegangen wäre.“

„Das würdet Ihr tun?“

„Ob ich’s tun würde. Stelle mich mal auf die Probe!“

„Wenn’s aber Karl Bates oder der Gannef oder Betsy oder –“

„Mir gleichgültig“, sagte der Einbrecher ungeduldig. „Wer es auch sein mag, ich würde ihm in dieser Weise dienen.“

Fagin sah den Räuber fest an und bückte sich dann über den Jüngling, um ihn aus dem Schlafe zu rütteln. Sikes sah neugierig zu.

„Bolter! Bolter! – Der arme Junge!“ meinte Fagin, indem er im Vorgefühl einer höllischen Schadenfreude aufblickte und mit starker Betonung fortfuhr: „Er ist müde, weil er ihretwegen so lange wachen mußte – ihretwegen, Bill!“

„Was soll das heißen?“ fragte Sikes, sich im Stuhl aufrichtend.

Der Jude gab keine Antwort, sondern brachte den schlaftrunkenen Noah in eine sitzende Stellung. Dieser gähnte, rieb sich die Augen und guckte sich verwirrt um.

„Erzähle es noch einmal, daß der es auch hört“, sprach Fagin, auf Sikes deutend.

„Was soll ich erzählen?“ fragte Noah, sich rekelnd.

„Die Geschichte von – Nancy!“ erwiderte der Jude, Sikes‘ Handgelenk fest umklammernd, als wollte er verhindern, daß er das Haus verließe, ehe er genug gehört hätte. „Du folgtest ihr?“

„Ja.“

„Nach der Londoner Brücke?“

„Ja.“

„Wo sie mit zwei Personen zusammentraf?“

„Ja.“

„Einem Herrn und einer Dame, zu der sie früher schon aus freien Stücken gegangen war. Der Herr forderte sie auf, alle ihre Genossen anzugeben, besonders aber Monks, was sie tat – und ihn zu beschreiben, was sie tat – und zu verraten, in welchem Gasthause wir verkehrten, was sie tat – und zu welcher Zeit man unsere Leute dort treffen könne, was sie tat. Sie beichtete alles, ohne durch eine Drohung dazu gezwungen zu sein. Nicht wahr, das tat sie – das tat sie?“ rief der Jude halb verrückt vor Wut.

„Stimmt, genau so verhält sich die Sache“, sagte Noah, sich den Kopf kratzend.

„Und was sprach man vom letzten Sonntag?“ fragte der Jude.

„Vom letzten Sonntag?“ fragte Noah, sich besinnend. „Na, das habe ich Ihnen doch schon vorhin erzählt.“

„Erzähle es noch einmal, schnell“, schrie Fagin mit wutschäumenden Lippen.

„Man fragte sie“, sagte Noah, dem es jetzt zu dämmern schien, wer Sikes sein möchte, „warum sie letzten Sonntag nicht wie verabredet gekommen sei. Sie erwiderte darauf, sie hätte nicht können.“

„Sag ihm, warum sie nicht hätte können!“

„Weil sie mit Gewalt zurückgehalten worden sei – von Bill, dem Manne, von dem sie der jungen Dame schon früher erzählt hätte!“

„Was sagte sie weiter von ihm?“ schrie Fagin.

„Nun, sie sagte, es sei schwer, von ihm fortzukommen, ohne daß er wisse, wohin sie gehe. Sie hätte ihm daher das erstemal, als sie die Dame besuchte, einen Schlaftrunk gegeben. Ha! ha! ha! Ich mußte lachen, als ich sie so reden hörte.“

„Tod und Teufel!“ brüllte Sikes, den Juden zurückstoßend. „Laß mich los.“ Er schleuderte den Alten von sich und rannte aus dem Zimmer.

„Bill! Bill!“ rief der Jude ihm nacheilend. „Auf ein Wort, nur ein Wort!“

Es wäre zu diesem Worte nicht gekommen, wenn der Verbrecher imstande gewesen wäre, die Haustür zu öffnen, an der er vergebens unter mächtigem Fluchen seine Wut ausließ, als Fagin keuchend anlangte.

„Laß mich hinaus!“ tobte Sikes. „Laß mich hinaus, sag‘ ich dir. Will nichts mehr hören!“

„Nur ein Wort“, sagte der Jude und legte die Hand aufs Türschloß. „Ihr werdet doch nicht –“

„Was?“

„Ihr werdet doch – keine Gewalttat begehen, Bill?“

Der Tag brach an, und es war hell genug, daß die Männer ihre Gesichter erkennen konnten. Sie wechselten einen einzigen Blick; in beider Augen glühte ein Feuer, das sich nicht mißdeuten ließ.

„Ich meine“, fuhr der Jude fort, der erkannte, daß Verstellung nutzlos sei, „ich meine, der eigenen Sicherheit wegen, kein Blutvergießen. Seid schlau, Bill, und nicht zu gewalttätig.“

Sikes gab keine Antwort, sondern stürzte sofort aus dem Hause, sobald Fagin geöffnet hatte.

Ohne anzuhalten, mit zusammengebissenen Zähnen stürmte der Räuber nach seiner Wohnung. Er öffnete sie sachte mit dem Schlüssel und ging in sein Zimmer hinauf, dessen Tür er hinter sich zweimal abschloß. Nun schob er die Vorhänge des Bettes zurück.

Auf demselben lag halb angekleidet Nancy. Er rüttelte sie aus dem Schlafe, und sie fuhr mit erschrockenem Gesicht auf.

„Erheb dich!“ sagte Sikes.

„Ach, du bist’s, Bill?“ sprach das Mädchen, erfreut über sein Kommen.

„Ja“, war die Erwiderung. „Steh auf!“

Es brannte ein Licht, aber der Räuber riß es aus dem Leuchter und warf es in den Kamin. Nancy erhob sich und gewahrte, daß der Morgen graute. Sie wollte zum Fenster, um die Vorhänge zurückzuziehen.

„Laß das“, fuhr Sikes sie an und hielt sie mit der Hand zurück. „Für das, was ich vorhabe, ist’s hell genug.“

„Bill!“ sagte das Mädchen ängstlich, „was guckst du mich so an?“

Er sah sie eine Weile mit weit aufgerissenen Augen und keuchender Brust an. Dann packte er sie an die Kehle, schleppte sie in die Mitte des Zimmers und mit einem Blick nach der Tür legte er seine schwere Hand auf ihren Mund.

„Bill! Bill!“ keuchte das Mädchen in Todesangst, „ich will nicht schreien oder weinen – nicht ein einziges Mal – höre mich an – sprich mit mir – sage mir, was ich getan habe!“

„Du weißt’s selbst am besten, du weiblicher Satan, man hat dich heute nacht belauscht und jedes deiner Worte gehört!“

„Dann, um Himmelswillen, schone mein Leben, wie ich deines schonte“, rief Nancy, sich fest an ihn klammernd. „Bill, lieber Bill, du kannst mich doch nicht töten wollen. Bedenkt, was ich heute nacht alles deinetwegen aufgegeben habe. Komm wieder zu Sinnen und erspare dir dies Verbrechen. Ich laß dich nicht los, und du kannst mich nicht abschütteln. Bill, Bill, um Gotteswillen, komm zu dir, ehe du mein Blut vergießt! Ich bin dir treu gewesen, bei meiner sündigen Seele, ich war dir treu!“

Der Einbrecher kämpfte vergebens, um seine Arme freizukriegen, die Nancy mit der Kraft der Verzweiflung fest umklammert hielt.

„Bill!“ rief das Mädchen, indem sie sich bemühte, ihren Kopf an seine Brust zu legen. „Der alte Herr und die liebe Dame sprachen von einem fernen Lande, wo ich meine Tage in Frieden beschließen könnte. Laß mich noch einmal zu ihnen gehen und sie bitten, dir dieselbe Wohltat zu erweisen. Dann wollen wir beide diesen schrecklichen Ort verlassen und weit von hier ein neues Leben beginnen und uns niemals wiedersehen. Sie sagten mir, Reue komme nie zu spät – ich fühle es jetzt – aber wir müssen Zeit haben – nur ein wenig Zeit.“

Sikes hatte einen Arm freigekriegt und ergriff seine Pistole. Doch mitten in seiner Wut kam ihm der Gedanke, daß der Mord sogleich entdeckt werden würde, wenn er Feuer gäbe; so schlug er Nancy aus Leibeskräften mit dem Kolben zweimal auf das zu ihm emporgehobene, das seine fast berührende Gesicht.

Sie wankte und fiel, fast blind von dem Blut, das aus einer tiefen Stirnwunde ihr Gesicht überströmte. Mit aller Gewalt erhob sie sich mühsam auf die Knie und zog aus ihrem Busen ein weißes Taschentuch – es war Rosas -hielt es mit gefalteten Händen so hoch gen Himmel, als es ihre entschwindenden Kräfte erlaubten und stammelte ein Gebet um Gnade und Erbarmen zu ihrem Schöpfer.

Es war ein gräßlicher Anblick. Der Mörder wankte zurück bis zur Wand und ergriff einen schweren Knüttel. Er bedeckte mit einer Hand sein Gesicht und schlug die Kniende nieder.

Sikes‘ Flucht

Von allen Verbrechen, die in jener Nacht in dem großen London begangen wurden, war dieses das größte. Die Sonne ging über die menschenreiche Stadt in voller Pracht auf und schien auch in das Zimmer, wo das ermordete Mädchen lag. Sikes versuchte das Eindringen des Lichtes zu verhindern, aber vergebens. Der Mörder rührte sich nicht – Furcht hatte alle seine Glieder gelähmt. Noch ein Stöhnen war ihrem Munde entwichen und ihre Hand hatte noch einmal gezuckt, aber immer wieder und wieder hatte er auf sie eingeschlagen. Schließlich warf er eine zerrissene Decke über sie, aber es war ihm so, als ob sie die Augen auf ihn richtete, deshalb nahm er die Decke wieder fort. Und da lag die Leiche – weiter nichts als Blut und zerfetztes Fleisch.

Er machte Licht, zündete im Kamin ein Feuer an und verbrannte den Knüttel. Dann wusch er sich und reinigte seine Kleider, aber es waren Flecke da, die nicht weggehen wollten. Er schnitt sie deshalb heraus und verbrannte sie. Wie war das Zimmer mit Blut bespritzt! Sogar die Füße des Hundes waren blutig. – Nachdem er mit allem fertig war, ging er, den Hund mit sich fortziehend, aus dem Zimmer und verschloß die Tür. Eine Minute später hatte er das Haus verlassen. Er ging auf die andere Straßenseite und guckte nach dem Fenster hinauf, um sich zu überzeugen, daß von außen nichts zu sehen wäre. Der Vorhang, den Nancy wegziehen wollte, um das Licht einzulassen, das sie nie wieder sehen sollte, war noch vorgezogen. Er wußte, daß die Leiche ganz in der Nähe lag. Gott! wie strahlend die Sonne darauf schien.

Er wandte den Kopf rasch ab und fühlte sich erleichtert, das Zimmer verlassen zu haben. Er pfiff dem Hunde und eilte fort. Er kam durch Islington nach der Hampsteader Heide und wanderte kreuz und quer ohne Plan darin herum. Er war hungrig und durstig geworden und wollte in Hendon eine Erfrischung einnehmen. Als er dort anlangte, schienen ihn alle Leute, selbst die Kinder auf den Straßen, mit Argwohn zu betrachten. Er kehrte daher wieder um, ohne den Mut zu haben, einen Trunk Wasser oder einen Bissen Brot zu fordern, obgleich er seit Stunden nichts über die Lippen gebracht hatte.

So lief er stundenlang durch die Heide und kam doch immer wieder auf denselben Fleck zurück. Endlich ging er auf Hatfield zu, es war inzwischen wieder Abend geworden. Um neun Uhr erreichte er das kleine Gasthaus des Dorfes. Es brannte Feuer im Kamin der Gaststube, um den einige Bauern mit ihren Bier- und Schnapsgläsern saßen. Sie machten für den Fremden Platz, aber er ließ sich in der äußersten Ecke nieder und aß allein, oder vielmehr mit seinem Hund, dem er hin und wieder einen Bissen zuwarf.

Nachdem der Mörder seine Zeche bezahlt hatte, saß er stumm da und war fast eingeschlafen, als ihn der lärmende Eintritt eines neuen Gastes weckte.

Dieser war ein alter Bursche, halb Hausierer, halb Quacksalber, der im Lande umherzog, um Wetzsteine, Streichriemen, Rasiermesser, Seifen, Putzpulver, Arzneien für Hunde und Pferde, billige Parfüms, Schönheitsmittel und ähnliche Waren zu verkaufen, die er in einem Kasten auf dem Rücken trug. Sein Kommen war für die Bauern das Zeichen für allerhand derbe Witze.

„Was ist denn das für ein Ding da? Ist’s gut zum Essen, Heinrich?“ fragte ein grinsender Bauer, indem er auf eine in Tafeln geschnittene Masse deutete.

„Das –“ sagte der Händler, die Ware zeigend, „ist ein untrügliches und unbezahlbares Mittel, um alle Arten von Flecke, Rost-, Schmutz-, Öl-, Fett- und andere Flecke aus Seide, Atlas, Leinwand, Battist, Tuch, Flor, Teppiche, Musselin oder sonstigen Wollstoffen herauszumachen. Hat ein Mädchen seine Ehre befleckt, so braucht es nur ein Täfelchen zu verschlucken und ist dann ein für allemal kuriert – denn es ist Gift. Will ein Herr seine Ehre beweisen, so braucht er ebenfalls nur solch Täfelchen zu kaufen, denn es ist jedenfalls so gut wie eine Pistolenkugel, und um vieles ekliger im Geschmack. – Ein Penny das Täfelchen! Trotz dieser vielen Vorzüge, nur ein Penny das Täfelchen!“

Es meldeten sich sofort ein paar Käufer, doch eine ganze Masse war noch unschlüssig. Der Verkäufer steigerte deshalb seine Beredsamkeit:

„Sie gehen reißend ab, so daß man nicht genug machen kann. Vierzehn Wasserwerke, sechs Dampfmaschinen und eine galvanische Batterie sind Tag und Nacht in Tätigkeit und doch kann man nicht genug fertigstellen. Also ein Penny für das Täfelchen – zwei Halbpennys tun’s übrigens auch, und vier Viertelpennys werden gleichfalls mit Vergnügen angenommen. Wein-, Obst-, Bier-, Schmutz-, Teer-, Blutflecke! Hier ist ein Fleck am Hute eines Herrn, den ich heraushabe, ehe er mir ein Glas Bier bestellen kann!“

„Donnerwetter“, brüllte Sikes, „laßt meinen Hut liegen!“

„Ich will ihn rein haben“, versetzte der Hausierer, den übrigen zunickend, „ehe Sie durch das Zimmer kommen können, um ihn zu holen. Meine Herren, bemerken Sie den dunklen Fleck auf dem Hut? Nicht größer als ein Schilling, aber dicker als eine halbe Krone. Mag es nun ein Obstfleck, Bierfleck, Teerfleck oder ein Blutfleck –“

Der Mann kam nicht weiter, denn Sikes warf mit einem gräßlichen Fluche den Tisch um, riß ihm den Hut aus der Hand und stürzte aus dem Hause. Vor dem kleinen Postgebäude stand die Londoner Postkutsche, und Sikes ging über die Straße, um auf die Gespräche der Leute zu horchen.

„Nichts Neues aus der Stadt, Ben?“ fragte der Wildhüter den Postbegleiter.

„Das Korn ist ein wenig gestiegen“, sagte dieser und zog sich seine Handschuhe an. „Auch hörte ich von einem Morde in Spitalfields sprechen, aber wer weiß, ob das stimmt.“

„Doch, es hat seine Richtigkeit“, sagte ein Herr, aus dem Fenster der Postkutsche blickend. „Eine gräßliche Tat!“

„So? Ein Mann oder eine Frau“, fragte der Postbegleiter, seine Hand an den Hut legend.

„Ein Weib“, sagte der Herr. „Man glaubt –“

Die Kutsche zog an, und der Begleiter schwang sich drauf. Das Posthorn tönte in lustiger Weise.

Sikes blieb in der Straße stehen, scheinbar unbewegt von dem, was er gehört hatte. Er wußte nicht, wohin er gehen sollte. Endlich schlug er den Weg nach St. Albans ein. Als er den Ort hinter sich hatte, bemächtigte sich seiner in der Dunkelheit eine Angst, die ihm das Innerste erbeben machte. Wenn der Wind durch die Blätter der Bäume fuhr, glaubte er das Stöhnen der Sterbenden zu hören. Er vermeinte, die Ermordete folge ihm auf Schritt und Tritt. Man rede ja nicht, daß Mörder ihrem Strafgericht entgehen, und die Vorsehung zu schlafen scheine. In einer einzigen Minute der Verbrecherangst liegt oft die hundertfache Pein und Not des gewaltsamen Todes.

Er kam zu einer leeren Hütte auf freiem Felde, die ihm Obdach für die Nacht bot. Er streckte sich dicht an der Wand nieder, konnte aber nicht schlafen, denn ein schreckliches Gesicht trat vor seine Seele. Zwei starre, weit aufgerissene Augen, glanzlos und gläsern, erschienen ihm mitten in der Dunkelheit und leuchteten, gaben aber kein Licht von sich. Es waren nur zwei, aber sie waren überall. Wenn er seine Augen mit der Hand bedeckte, so sah er sein Zimmer im Geiste vor sich. Auch die Leiche lag noch auf derselben Stelle – es waren dieselben Augen, die ihn zu verfolgen schienen, als er aus dem Mordzimmer schlich. – Er sprang auf und eilte wieder ins Freie. Die Gestalt war gespenstisch hinter ihm. Er ging wieder in die Hütte und versuchte zu schlafen, aber die Augen waren da, noch ehe er sich hingestreckt hatte. An allen Gliedern zitternd lag er da, während ihm ein kalter Schweiß aus allen Poren drang. Da trug ihm plötzlich der Nachtwind den Lärm entfernter Stimmen zu. Er eilte ins Freie und rannte querfeldein.

Der ganze Himmel schien in Flammen zu stehen. Das Geschrei wurde lauter, da stets neue Stimmen den Lärm vergrößerten. Die Sturmglocke heulte, und er konnte ganz deutlich den Ruf „Feuer“ verstehen. Es waren Leute da, – Männer und Frauen – Licht und Tätigkeit. Neues Leben kam über ihn. Er sprang über Hecken und Zäune, der Hund laut bellend immer mit.

Er war endlich zur Stelle. Halbangekleidete Menschen rannten jammernd hin und her. Einige bemühten sich, die scheugewordenen Pferde aus den Ställen herauszujagen, während andere das Rindvieh in Sicherheit zu bringen suchten. Andere kamen mit Habseligkeiten beladen aus den brennenden Häusern. Frauen und Kinder weinten, während die Männer sich durch Zurufe gegenseitig Mut zu machen suchten. Sikes schrie gleichfalls, bis er heiser wurde und stürzte sich in das dichteste Gedränge, um der Erinnerung zu entfliehen. Er arbeitete an den Spritzen, stieg Leitern auf, Leitern ab, auf die Dächer der Häuser – er war allerorten. Allein er schien ein gefeites Leben zu haben, denn bei Tagesgrauen, als nur noch geschwärzte Trümmer übriggeblieben waren, hatte er auch nicht eine Beule oder Schramme erhalten; er fühlte sich nicht einmal müde.

Als jedoch die wahnsinnige Aufregung vorüber war, kehrte ihm mit zehnfacher Gewalt das schreckliche Bewußtsein seiner verbrecherischen Tat zurück. Er sah sich mißtrauisch um, denn die Leute standen in Gruppen beieinander, und er fürchtete, der Gegenstand ihrer Unterhaltung zu sein. Er wollte mit seinem Hunde wegschleichen, als ihm einige Spritzenmänner zuriefen, an ihrem Frühstück teilzunehmen. Er nahm etwas Fleisch und Brot an, und als er einen Schluck Bier trank, hörte er die Leute von dem Morde sprechen.

„Man sagt, der Mörder sei nach Birmingham geflüchtet, aber man wird ihn schon kriegen. Die Kriminalpolizei ist bereits hinter ihm her, und morgen ist sein Steckbrief im ganzen Lande bekannt!“

Sikes sprang auf und rannte fort. Er wanderte, in steter Furcht vor einer zweiten schlaflosen Nacht, planlos weiter.

Plötzlich faßte er den verzweifelten Entschluß, wieder nach London zurückzukehren.

„Jedenfalls kann ich doch dort mit jemand reden“, dachte er, „und finde ein gutes Versteck. Da vermutet mich die Polizei am wenigsten. Ich verhalte mich acht Tage ganz still, und Fagin muß Geld ausspucken, damit flüchte ich nach Frankreich. Teufel auch, ich wag’s.“

Er machte sich auch gleich auf den Weg. Aber der Hund! Wenn ein Steckbrief hinter ihn erlassen war, hatte man sicher auch den Hund nicht vergessen. Dieser konnte ihn auf seinem Wege durch die Straßen verraten. Er entschloß sich daher, ihn zu ersäufen und sah sich nach einem Gewässer um. Im Gehen nahm er einen schweren Stein auf und band ihn in sein Taschentuch.

Der Hund sah diese Vorbereitungen und blieb aus Instinkt etwas weiter zurück. Als der Mörder am Rande eines Weihers haltmachte und sich umsah, um ihn zu rufen, legte sich der Hund auf den Bauch und rührte sich nicht von der Stelle.

„Hörst du nicht? Komm her!“ schrie Sikes und pfiff.

Langsam kam der Hund endlich näher. Als aber sein Herr sich bückte, um das Schnupftuch an seinem Halse zu befestigen, knurrte er und rannte zurück.

„Wirst du herkommen!“ schrie der Mörder wütend.

Doch der Hund wedelte nur mit dem Schwanze, aber rührte sich nicht. Plötzlich wandte er sich um und jagte davon. Der Verbrecher pfiff zu wiederholten Malen, aber kein Hund kam. So mußte er allein weiterwandern.

Monks und Herr Brownlow treffen endlich zusammen. Ihre Unterhaltung und die Nachricht, die sie unterbricht

Es war bereits dunkel, als Herr Brownlow vor seinem Hause aus einer Droschke kletterte und leise an die Tür klopfte. Sobald die Haustür geöffnet war, entstiegen dem Wagen zwei Männer mit einem dritten in ihrer Mitte und gingen schleunigst in das Haus. Dieser dritte war Monks.

Ohne ein Wort zu sprechen, klommen sie, Herr Brownlow an der Spitze, die Treppe hinauf nach einem kleinen Hinterzimmer. Vor dessen Tür machte Monks, der nur widerstrebend mitgegangen war, halt. Die beiden stämmigen Männer blickten den alten Herrn fragend an.

„Wenn er irgendwelche Schwierigkeiten macht, so schleppen Sie ihn auf die Straße, rufen nach der Polizei und beschuldigen ihn in meinem Namen eines schweren Verbrechens.“

„Wie können Sie sich erkühnen, so etwas von mir zu sagen?“ fragte Monks.

„Wie können Sie es wagen, mich dazu zu drängen, junger Mann?“ erwiderte Herr Brownlow und sah ihn streng an. „Wären Sie töricht genug, dieses Haus zu verlassen? Lassen Sie ihn los! So, mein Herr. Sie können ungehindert fortgehen, aber niemand kann uns auch hindern, Ihnen zu folgen. Doch ich warne Sie! Ich schwöre Ihnen bei allem, was mir heilig ist, daß ich Sie wegen Raubes und Betruges verhaften lasse, sobald Sie den Fuß auf die Straße setzen. Ich bin dazu fest entschlossen. Sind Sie es auch, so kommt Ihr Blut auf Ihr eigenes Haupt.“

„Auf wessen Veranlassung bin ich von diesen Halunken aufgegriffen und hierher geschleppt worden?“ fragte Monks, die Männer dabei verächtlich ansehend.

„Auf meine Verantwortung hin. Wenn Sie sich wegen Freiheitsberaubung hätten beklagen wollen, unterwegs hatten Sie genügend Gelegenheit dazu. Sie hielten es aber für richtiger ruhig zu sein. Ich wiederhole, Sie können den Schutz des Gesetzes anrufen, aber ich werde dann gleich, falls die Gerichte in Anspruch nehmen. Ist die Sache aber erst vor den Richter gekommen, so haben Sie von mir keine Nachsicht mehr zu erwarten und dürfen dann nicht sagen, ich hätte Sie ins Verderben gestürzt.“

Monks zögerte, er wußte nicht, was tun.

„Sie müssen sich schnell entschließen“, fuhr Herr BrownIow mit Festigkeit fort. „Wollen Sie, daß ich Sie bei der Staatsanwaltschaft anzeige und Sie einer Strafe zuführe, deren Schwere ich wohl ahnen, aber nicht verhindern kann, so wissen Sie, was Sie zu tun haben. Wünschen Sie aber Nachsicht und die Vergebung derjenigen, die Sie so schwer geschädigt haben, so setzen Sie sich ohne Widerrede auf diesen Stuhl – er wartet auf Sie schon zwei Tage!“

„Gibt es –“ fragte Monks stotternd, „gibt es – keinen Mittelweg?“

„Nein, keinen!“

Monks setzte sich.

„Schließen Sie von außen die Tür“, sprach Herr Brownlow zu den beiden Männern, „und wenn ich klingele, kommen Sie herein!“

„Das ist eine nette Behandlung von dem ältesten Freunde meines Vaters.“

„Gerade weil ich Ihres Vaters ältester Freund war, junger Mann. Weil die Hoffnungen einer glücklichen Jugendzeit sich an ihn und das holde Wesen von seinem Blute knüpften, das zu früh zu Gott zurückkehrte und mich einsam und verlassen hier zurückließ. Weil er, noch ein Knabe, mit mir an dem Sterbebette seiner einzigen Schwester kniete und zwar an dem Tage, der sie zu meiner Frau gemacht hätte, wenn es der Wille Gottes gewesen wäre. Weil von jener Zeit an mein wundes Herz bis zu seinem Ende an ihm hing. Weil schöne Rückerinnerungen noch immer in meinem Herzen leben, und selbst Ihr Anblick mir ihn wieder ins Gedächtnis zurückruft. Das sind die Gründe, die mich veranlassen, Sie mit Nachsicht und Milde zu behandeln, obgleich Sie erröten müssen, Eduard Leeford, wie unwürdig Sie des Namens sind, den Sie tragen!“

„Was hat der Name mit dieser Sache zu tun?“ fragte Monks verstockt. „Was kümmert mich der Name?“

„Ihnen ist er nichts. Er war aber der Name des von mir geliebten Wesens und mir teuer. Ich bin froh, daß Sie einen anderen angenommen haben. Wirklich sehr froh.“

„Das ist alles recht schön“, sagte Monks trotzig nach einer ziemlich langen Pause, „aber was wollen Sie eigentlich von mir?“

„Sie haben einen Bruder, dessen leise ausgesprochener Name fast allein schon ausreichte, um Sie zu veranlassen, mich hierher zu begleiten.“

„Ich habe keinen Bruder. Sie wissen, daß ich der einzige Sohn meines Vaters bin.“

„Hören Sie, was ich weiß und Sie vielleicht nicht wissen. Es wird Sie interessieren. Es ist mir bekannt, daß Sie der einzige und unnatürliche Sprößling des unseligen Ehebundes sind, zu dem Familienstolz und schmutzigster Ehrgeiz seiner Verwandten Ihren Vater gezwungen haben, als er fast noch ein Knabe war!“

„Es ist mir gleichgültig, wie starke Ausdrücke Sie gebrauchen“, unterbrach ihn Monks mit höhnischem Lachen. „Sie kennen die Tatsache, und das genügt.“

„Aber ich kenne auch das Elend und die Qual dieser unpassenden Verbindung. Ich weiß, wie schwer die Unglücklichen die Kette trugen und sie durch die Welt schleppten. Ich weiß, wie der Gleichgültigkeit Abneigung, der Abneigung Haß und dem Hasse Abscheu folgte, bis sie zuletzt das Band zerrissen. Ihrer Mutter gelang es, die Vergangenheit bald zu vergessen, aber an Ihres Vaters Herzen fraß sie noch jahrelang.“

„Nun, sie haben sich getrennt“, versetzte Monks, „doch was hat das auf sich?“

„Zur Zeit ihrer Trennung hatte Ihre Mutter, während des lustigen Lebens auf dem Festland, ihren um zehn Jahre jüngeren Gatten ganz vergessen, der mit zerstörten Hoffnungen in der Heimat blieb und neue Freunde fand. Diesen Umstand wenigstens kennen Sie?“

„Nein“, antwortete Monks, die Augen abwendend und mit dem Fuß auf die Erde stampfend, wie ein Mann, der entschlossen ist, alles abzuleugnen.

„Ihr Benehmen wie Ihre Handlungen beweisen mir, daß Sie es nie vergessen und nie aufgehört haben, mit Bitterkeit daran zu denken. Ich spreche von der Zeit vor fünfzehn Jahren, wo Sie erst elf Jahre und Ihr Vater einunddreißig Jahre alt war; ich muß wiederholen, daß er beinahe noch ein Knabe war, als sein Vater ihm befahl, sich zu verheiraten. Muß ich auf Dinge zurückkommen, die einen Schatten auf das Andenken Ihres Erzeugers werfen, oder wollen Sie es mir ersparen und die Wahrheit enthüllen?“

„Ich habe nichts zu enthüllen“, versetzte Monks verwirrt. „Reden Sie nur ruhig weiter.“

„Nun denn“, fuhr Herr Brownlow fort, „zu Ihres Vaters neuen Freunden gehörte ein im Ruhestand lebender Seeoffizier, dessen Frau ein halbes Jahr zuvor gestorben war. Von seinen vielen Kindern waren ihm nur zwei Töchter geblieben, die eine ein schönes Mädchen von neunzehn, die andere noch ein Kind von drei Jahren.“

„Was geht mich das an?“ fragte Monks.

„Sie wohnten“, sprach Herr Brownlow weiter, ohne auf die Unterbrechung zu achten, „in einem Landesteil, den Ihr Vater auf seinen Reisen häufiger besucht und wo er auch später dauernden Aufenthalt genommen hatte. Die Bekanntschaft ging schnell in Vertraulichkeit und Freundschaft über. Ihr Vater war begabt wie wenige Männer – er hatte seiner Schwester Herz und Äußeres. Je mehr der alte Offizier ihn kennenlernte, desto inniger liebte er ihn. Ich wünschte, es hätte dabei sein Bewenden gehabt, aber seine Tochter tat dasselbe.“

Der alte Herr hielt inne. Monks biß sich in die Lippen und schlug die Augen nieder. Herr Brownlow bemerkte das und fuhr weiter fort:

„Am Ende des ersten Jahres war er verlobt, feierlich verlobt mit jener Tochter. Ihr Vater der Gegenstand der ersten, wahren, glühenden und einzigen Liebe eines arglosen, unerfahrenen Mädchens.“

„Ihre Erzählung wird lang“, bemerkte Monks, unruhig auf seinem Stuhl hin- und herrückend.

„Es ist eine wahrheitsgetreue Erzählung von Kummer, Prüfungen und Leiden, junger Mann“, versetzte der alte Herr, „und derartige Geschichten sind gewöhnlich lang, während die von ungetrübtem Glück gar kurz zu sein pflegen. Endlich starb einer der reichsten Verwandten und hinterließ ihm sein großes Vermögen. Ihr Vater mußte schleunigst nach Rom reisen, wo jener Verwandte gestorben war, ohne vorher seine eigenen Angelegenheiten ordnen zu können. Als er dort ankam, wurde er von einer tödlichen Krankheit befallen, worauf Ihre Mutter, als sie in Paris davon Kenntnis erhielt, zusammen mit Ihnen Ihrem Vater nachreiste. Er starb den Tag nach ihrer Ankunft in Rom – ohne Testament, so daß sein ganzes Vermögen Ihnen und ihr zufiel.“

Monks hörte bei diesem Teil der Geschichte atemlos zu.

„Ehe er abreiste“, sagte Herr Brownlow langsam, „kam er zu mir, da er auf seinem Wege nach Rom London berühren mußte.“

„Hiervon habe ich nie gehört!“ unterbrach ihn Monks, anscheinend unangenehm überrascht.

„Er kam zu mir und übergab mir unter anderm ein von ihm selbst gemaltes Bildnis jenes armen Mädchens, das er zwar ungern zurückließ, aber auf seiner eiligen Reise nicht mitnehmen konnte. Er war durch Kummer und Gewissensbisse zu einem Schatten abgezehrt und sprach in unzusammenhängender Weise von Schande und Verderben, die sein Werk wären. Er vertraute mir seine Absicht an, sein ganzes Vermögen zu barem Gelde zu machen, auch wenn es mit Verlust geschähe. Er gedachte, Ihre Mutter und Sie durch einen Teil des ihm durch die Erbschaft zugefallenen Vermögens abzufinden und wollte dann für immer England verlassen. Ich erriet nur zu gut, daß er nicht allein gehen würde. Selbst gegen mich, seinen alten Jugendfreund, war er mit weiteren Bekenntnissen zurückhaltend. Er versprach mir alles brieflich mitzuteilen und mich dann noch einmal zu besuchen. Ach, es war damals schon sein letzter Besuch! Ich erhielt keinen Brief und sah ihn nie wieder!“

„Ich ging“, fuhr Herr Brownlow nach einer kurzen Pause fort, „ich ging, als alles vorüber war, nach dem Schauplatz seiner sündigen Liebe, wie die Welt es nennen würde, fest entschlossen, wenn sich meine Befürchtungen bewahrheiten sollten, dem verirrten Mädchen Schutz und eine Heimat anzubieten. Die Familie hatte jedoch die Gegend eine Woche vorher, nach Regelung ihrer Angelegenheiten, bei Nacht und Nebel verlassen. Warum und wohin konnte mir niemand sagen.“

Monks atmete sichtlich auf und konnte ein triumphierendes Lächeln nicht unterdrücken.

„Als Ihr Bruder –“ sagte der alte Herr und rückte seinen Stuhl näher an Monks heran, „als Ihr Bruder, ein elendes, vernachlässigtes, in Lumpen gehülltes Kind, mir durch eine mächtigere Hand, als es der Zufall ist, in den Weg geführt wurde und durch mich einem Leben der Schande und des Lasters entrissen werden sollte –“

„Was?“ schrie Monks auf.

„Durch mich“, wiederholte Herr Brownlow. „Ich sagte ja, die Sache würde Sie interessieren. Ich sage: durch mich – denn ich sehe, daß Ihr schlauer Kumpan Ihnen meinen Namen verschwiegen hat, obgleich er sich nicht denken konnte, daß er Ihnen bekannt wäre. Als Ihr Bruder bei mir Zuflucht fand und krank in meinem Hause lag, setzte mich seine Ähnlichkeit mit dem erwähnten Gemälde in Erstaunen. Ich brauche Ihnen nicht zu erzählen, daß er mir wieder weggefangen wurde, ehe ich seine Geschichte erfuhr –“

„Warum nicht?“ fragte Monks hastig.

„Weil Sie es selbst sehr gut wissen!“

„Ich?“

„Das Leugnen nützt Ihnen nichts, ich werde Ihnen beweisen, daß ich noch mehr weiß.“

„Sie – Sie können mir nichts beweisen“, stotterte Monks. „Ich fordere Sie auf, es zu tun.“

„Wir werden sehen“, sagte der alte Herr mit einem prüfenden Blick. „Ich verlor den Knaben und vermochte ihn trotz aller Anstrengungen nicht wiederzufinden. Da Ihre Mutter tot ist, so konnten Sie nur das Geheimnis aufklären. Als ich das letztemal von Ihnen hörte, hieß es, Sie wären auf Ihrer Besitzung in Westindien. Dorthin hatten Sie sich zurückgezogen. um den Folgen Ihres verbrecherischen Lebens in London zu entgehen. Ich reiste Ihnen nach, aber Sie hatten Ihren Zufluchtsort schon vor Monaten verlassen. Man glaubte, Sie wären in London, aber niemand konnte mir etwas Näheres mitteilen. Ich kehrte zurück. Ihre Geschäftsfreunde wußten auch Ihre Adresse nicht, sie sagten, Sie kämen ebenso unregelmäßig wie früher, manchmal alle Tage, dann wieder monatelang nicht. Man glaubte, daß Sie wieder in den zweideutigen Kreisen verkehrten, wo Sie sich schon als nicht zu bändigender Knabe Ihre Freunde suchten. Ich durchs wanderte die Straßen bei Tag und bei Nacht, doch waren meine Mühen bis vor zwei Stunden vergeblich.“

„Und nun, da Sie mich gefunden haben, was weiter?“ fragte Monks dreist und stand auf. „Betrug und Raub sind starke Worte – und gerechtfertigt, wie Sie glauben, durch die eingebildete Ähnlichkeit eines jungen Landstreichers mit der elenden Kleckserei eines längst Verstorbenen. Sie wissen nicht einmal, ob der Umgang dieses Pärchens ein Kind zur Folge hatte. Selbst das wissen Sie nicht!“

„Ich wußte es nicht“, sagte Herr Brownlow, gleichfalls aufstehend, „aber ich habe in den letzten vierzehn Tagen alles erfahren. Sie haben einen Bruder – Sie wissen es und kennen ihn. Es war ein Testament vorhanden, Ihre Mutter vernichtete es und hinterließ Ihnen nach ihrem Tode das Geheimnis nebst dem dadurch erzielten Gewinn. Es enthielt einen Hinweis auf ein Kind – der wahrscheinlichen Folge dieser traurigen Verbindung. – Das Kind wurde geboren und kam Ihnen zufällig in die Quere, wobei seine Ähnlichkeit mit Ihrem Vater zuerst Ihren Verdacht erregte. Sie begaben sich nach seinem Geburtsorte. Dort befanden sich Beweise – lang unterdrückte Beweise seiner Geburt und Herkunft. Sie vernichteten sie und erzählten es Ihrem Mitschuldigen, dem Juden, mit den Worten: ‚Der einzige Beweis, der den Jungen legitimieren könnte, liegt auf dem Grunde des Flusses, und die alte Hexe, die ihn von der Mutter empfing, modert in ihrem Sarge!‘ Unwürdiger Sohn, Feigling, Lügner, du Genosse von Dieben und Mördern, Eduard Leeford, du willst mir noch Trotz bieten?“

„Nein, nein, nein!“ schrie der Feigling, überwältigt von der wuchtigen Anklage.

„Jedes Wort, das zwischen dir und diesem nichtswürdigen Schurken gewechselt wurde, ist mir bekannt. Schatten an der Wand haben dein Geflüster aufgefangen und es mir hinterbracht. Der Anblick des verfolgten Kindes hat selbst auf das Laster Eindruck gemacht und ihm Mut und die Eigenschaften der Tugend verliehen. Ein Mord ist begangen, für den du moralisch mit verantwortlich bist.“

„Nein – nein!“ fiel Monks ein. „Ich wußte nichts davon. Ich war im Begriff, Erkundigungen über die Mordtat einzuziehen, als Sie mich wegführten. Den Anlaß zur Tat kannte ich nicht und glaubte, sie sei die Folge eines gewöhnlichen Streites gewesen!“

„Sie war die Folge einer teilweisen Enthüllung Ihrer Geheimnisse. Wollen Sie diese nun ganz offenbaren?“

„Ja, ich will’s.“

„Und Ihre Angaben mit Ihrer Unterschrift beglaubigen und sie vor Zeugen wiederholen?“

„Auch das verspreche ich.“

„Und ruhig hierbleiben, bis ein solches Dokument aufgesetzt ist, und mit mir sich an den Ort begeben, wo es rechtsgültig gemacht wird?“

„Wenn Sie darauf bestehen, will ich auch das tun , antwortete Monks.

„Sie müssen noch mehr tun“, fuhr Herr Brownlow fort, „Sie müssen dem unschuldigen Kinde Schadenersatz leisten. Wenn er auch die Frucht einer sündigen Liebe ist, so bleibt er doch Ihr Bruder. Sie haben die hierauf bezüglichen Paragraphen des Testaments nicht vergessen. Bringen Sie dieselben, soweit sie Ihren Bruder betreffen, zur Ausführung und gehen Sie dann, wohin es Ihnen beliebt. Sie dürfen ihm in dieser Welt nicht wieder begegnen!“

Während Monks mit finsterem Blick im Zimmer auf und ab ging und über diesen Vorschlag und die Möglichkeit, ihm auszuweichen, nachsann, wurde die Tür hastig aufgeschlossen, und Herr Losberne trat aufgeregt ins Zimmer.

„Der Mann wird bald ergriffen werden. Man wird ihn heute nacht noch verhaften“, rief er.

„Den Mörder?“ fragte der alte Herr.

„Ja, ja!“ antwortete der Doktor. „Man hat seinen Hund um einen seiner Schlupfwinkel herumschleichen sehen, und man nimmt an, daß der Verbrecher diesen unter dem Schutz der Nacht aufsuchen wird. Allenthalben sind Detektive aufgestellt. Eine Belohnung von hundert Pfund ist vom Staatsanwalt für seine Festnahme ausgesetzt!“

„Ich lege noch fünfzig Pfund zu und will es selbst an Ort und Stelle verkünden“, rief Herr Brownlow. „Wo ist Herr Maylie?“

„Harry? – Als er Sie mit Ihrem Freund hier wohlbehalten in der Droschke sah, schwang er sich aufs Pferd und schloß sich den Verfolgern des Mörders an.“

„Und was ist mit dem Juden?“ fragte Brownlow weiter.

„Als ich das letztemal von ihm hörte, war er noch nicht festgenommen, doch ist man seiner sicher!“

„Haben Sie Ihren Entschluß gefaßt?“ fragte Herr Brownlow Monks leise.

„Ja“, antwortete dieser, „aber – Sie – werden mich doch nicht bloßstellen?“

„Nein. Bleiben Sie jetzt hier, bis ich wieder zurückkomme. Das ist Ihre einzige Rettung!“

Die beiden alten Herren verließen das Zimmer, dessen Tür wieder von außen verschlossen wurde.

„Was haben Sie erreicht?“ fragte der Doktor flüsternd.

„Alles, was ich erhoffen konnte, und mehr. Schreiben Sie unsern Freunden, daß die Zusammenkunft übermorgen abend um sieben Uhr stattfinden soll. Wir werden aber ein paar Stunden früher da sein. – Doch mir kocht das Blut in den Adern, das arme ermordete Mädchen zu rächen. Wohin muß ich gehen?“

„Wenn Sie sofort auf das Polizeiamt gehen, werden Sie noch zeitig genug kommen“, entgegnete Losberne.

Die beiden Herren verabschiedeten sich nun hastig und in ziemlicher Aufregung.

Verfolgung und Flucht

Einer der schmutzigsten Winkel Londons ist Southwark, an der Themse gelegen, mit der Jakobsinsel, die von einem acht Fuß tiefen und zwanzig Fuß breiten, sumpfigen Graben umgeben ist, der jetzt unter dem Namen Folly Ditch bekannt ist. Er ist eine Einbuchtung des Flusses und kann durch Öffnen von Schleusen ganz mit Wasser gefüllt werden. Dann kann man von einer der hölzernen Brücken aus, die bei der Mühlengasse über den Graben geschlagen sind, sehen, wie die Bewohner der Häuser aus ihren Fenstern und Türen Eimer und Geschirr aller Art herunterlassen, um Wasser zu schöpfen. Die Häuser stehen hier auf versinkenden Fundamenten, und ihre Wände sind mit Kot beschmiert. Die Fenster zerbrochen, die Stuben eng und schmutzig, überall Dreck, Unflat und abstoßende Armut. Auf der Jakobsinsel Warenhäuser, die leerstehen und kein Dach mehr haben. Die Wände dem Einstürzen nahe, die Fenster ausgebrochen, und die Türen auf der Straße umherliegend. Die Häuser sind ohne Eigentümer und werden nur von denen bewohnt, die gewichtige Gründe haben, sich zu verbergen, oder ganz verarmt sind.

In einem oberen Gemache eines dieser Häuser, das mit der Rückwand gegen den Folly Ditch stand, saßen drei Männer in düsterm Schweigen. Der eine davon war Toby Crackit, der andere Herr Chitling und der dritte ein Kerl von etwa fünfzig Jahren, dessen Gesicht eine furchtbare Narbe aufwies, wohl die Folge einer Schlägerei. Er war ein entlaufener Sträfling namens Kags.

„Ich wollte“, sagte Toby zu Herrn Chitling, „du hättest eine andere Bleibe ausgesucht, als die zwei andern zu warm wurden, und wärst nicht hierhergekommen.“

„Ja, du Dussel, warum tatest du es nicht?“ fragte Kags.

„Ich glaubte, ihr würdet erfreuter sein, mich zu sehen“, versetzte Herr Chitling mit melancholischer Miene.

„Sieh bloß mal an!“ sagte Toby ironisch. Nach einer kleinen Pause fragte er Chitling, wann man Fagin festgenommen hätte.

„Gerade zur Essenszeit – nachmittags zwei Uhr. Karl Bates und ich entwischten durch den Waschhausschornstein, aber Bolter, der sich im leeren Wasserfaß mit dem Kopf nach unten versteckt hatte, wurde bei seinen langen Hammelbeinen gefaßt und mitgenommen!“

„Und Betsy?“

„Die arme Bet!“ sagte Chitling mit trübseligem Gesicht. „Sie ging, um sich die Leiche anzusehen, fing bei ihrem Anblick zu toben an und wollte mit dem Kopf gegen die Wand. Man mußte sie in eine Zwangsjacke stecken und nach dem Krankenhaus bringen. Da ist sie noch.“

„Was ist denn aus dem jungen Bates geworden?“ fragte Kags.

„Er stromert bis zum Dunkelwerden umher, wird also bald hier sein. Die Leute in den ‚Drei Krüppeln‘ sind auch alle verhaftet, ich sah, als ich dort vorbeiging, eine Menge Kriminalpolizisten im Gastzimmer.“

„Das ist schlimm. Wird wohl noch mancher dran, glauben müssen“, bemerkte Toby, sich auf die Lippen beißend.

„Es ist gerade Schwurgerichtsperiode“, sagte Kags, „und wenn Bolter als Kronzeuge gegen Fagin auftritt, was er aller Wahrscheinlichkeit nach tun wird, so kann man dem Juden am Freitag sein Urteil sprechen. Drei Tage darauf baumelt er! Hol mich der Teufel, wenn’s nicht stimmt!“

„Ihr hättet nur sehen sollen, wie das Volk tobte“, fuhr Chitling fort. „Die Polizisten kämpften wie die Teufel, sonst hätte die Menge den Juden in Stücke zerrissen. Sie hatte ihn schon mal in den Händen, aber die Polizei befreite ihn rasch wieder. Er war ganz mit Blut und Dreck bedeckt und hängte sich an die Kriminalbeamten, als wenn sie seine besten Freunde wären. Die Leute hatten ihn mit den Füßen getreten, und die Weiber drohten ihm, das Herz aus dem Leibe zu reißen. Ich kann die Greifer noch sehen, wie sie in dem Gedränge der Menge kaum aufrecht zu stehen vermochten und ihn so zwischen sich hinschleppten!“

Entsetzt saßen die Männer eine Weile schweigend da. Da hörten sie plötzlich auf der Treppe ein Trappeln, und gleich darauf sprang Sikes‘ Hund ins Zimmer. Von seinem Herrn war jedoch nichts zu sehen.

„Was bedeutet das?“ sagte Toby. „Er wird doch nicht hierherkommen wollen? Ich – ich hoffe nicht!“

„Wenn das seine Absicht wäre, so würde er mit dem Hunde gekommen sein“, meinte Kags und gab dem Hunde Wasser.

„Er“ – keiner nannte den Mörder bei seinem Namen – „er wird sich doch nichts angetan haben? Was meint ihr?“ fragte Chitling.

Toby schüttelte den Kopf.

„Wenn das wäre“, sprach Kags, „so würde uns der Hund an die Stelle führen wollen, wo er liegt. Nein, ich denke mir, er ist ins Ausland geflüchtet und hat den Hund zurückgelassen, sonst wäre das Tier nicht so ruhig.“

Der Hund kroch unter einen Stuhl, kauerte sich zusammen und begann zu schlafen.

Da es dunkel geworden war, so wurde der Fensterladen geschlossen und eine Kerze angezündet. Die schrecklichen Ereignisse der zwei letzten Tage hatten auf sie einen mächtigen Eindruck gemacht, und die Unsicherheit ihrer eigenen Lage machte sie ängstlich. Bei jedem Laut fuhren sie auf und sprachen nur im Flüstertone. Sie hatten schon eine Weile ganz stumm dagesessen, als sich plötzlich ein lautes Klopfen an der Haustür vernehmen ließ.

„Der junge Bates“, meinte Kags.

Das Klopfen wiederholte sich. Bates war es nicht, der hatte nie so gepocht. Crackit ging aus Fenster und steckte zitternd den Kopf hinaus. Er brauchte den andern nicht zu sagen, wer unten sei. Sein blaßgewordenes Gesicht sprach deutlich genug. Der Hund war im Augenblick wach und lief winselnd an die Tür.

„Wir müssen ihn hereinlassen“, sagte Crackit, nach dem Kerzenleuchter greifend.

„Läßt sich’s nicht anders machen?“ fragte Kags mit heiserer Stimme.

„Nein, wir müssen ihm öffnen.“

Crackit ging hinunter und kam mit einem vermummten Mann zurück. Es war Sikes. Er hatte tiefliegende Augen im erdfahlen Gesicht, eingefallene Backen und atmete kurz und schwer. Er griff nach einem Stuhl und setzte sich dicht an die Wand, so dicht, als es gehen wollte.

Alle schwiegen, endlich fragte Sikes mit hohler Stimme:

„Wie kam der Hund hierher?“

„Allein. Vor drei Stunden.“

„Die Abendzeitungen schreiben, Fagin sei verhaftet. Ist es wahr oder gelogen?“

„Wahr.“

Es folgte abermals eine Pause.

„Geht zum Teufel alle miteinander!“ schrie Sikes und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. „Habt ihr mir nichts zu sagen?“

Sie wurden unruhig, aber keiner sprach.

„Du, der du hier den Hausherrn spielst“, sagte Sikes zu Crackit, „hast du die Absicht, dir die Belohnung zu verdienen, oder darf ich mich hier verstecken, bis die Verfolgung vorüber ist?“

„Du kannst hierbleiben, wenn du es für richtig hältst“, antwortete der Angeredete nach einigem Zögern.

„Ist sie – sie – ist die Leiche – schon begraben?“ fragte Sikes mit stockender Stimme.

Sie schüttelten die Köpfe.

„Warum nicht? Warum behält man so etwas Häßliches über der Erde? – Wer klopft da?“

Crackit meinte, es wäre nichts zu befürchten. Er ging, um zu öffnen, und kam bald mit Karl Bates wieder. Sikes saß gerade der Tür gegenüber, so daß er dem eintretenden Jungen sofort ins Auge fallen mußte.

„Toby“, sagte Karl zurückprallend, als Sikes ihn anguckte, „warum habt Ihr mir das nicht vorher gesagt?“

Der Mörder wollte den Jungen für sich günstig stimmen und streckte ihm die Hand entgegen.

„Laßt mich in eine andere Stube gehen“, sagte Bates zurückweichend.

„Warum, Karl?“ fragte Sikes, auf ihn zugehend. „Kennst du – kennst du mich denn nicht?“

„Komm mir nicht zu nahe!“ schrie der Junge und wich wieder einige Schritte zurück. „Scheusal! Ungeheuer!“

Der Mörder blieb stehen, und sie sahen sich gegenseitig an, doch Sikes konnte den Blick nicht aushalten und schlug zuletzt die Augen nieder.

„Ich nehme euch drei zu Zeugen“, schrie der Junge, die geballte Faust schüttelnd, in mächtiger Aufregung, „ich nehme euch drei zu Zeugen – ich habe keine Angst vor ihm – ich verrate ihn, wenn man ihn hier sucht. Das tue ich! Ich sage es frei heraus und mag er mich kalt machen, falls er den Mut dazu hat, wenn ich hier bin, verrate ich den Unmenschen. Ich würde ihn auch angeben, wenn er lebendig verbrannt werden sollte. Hilfe! Mörder! Wenn ihr noch richtige Kerle wäret und keine feigen Memmen, so würdet ihr mir jetzt helfen. Hilfe! Mörder! Schlagt ihn nieder!“

Mit diesen Worten stürzte sich der Junge allein auf den großen, kräftigen Mann und brachte ihn durch die überraschende Schnelle und Heftigkeit des Angriffs zu Fall. Die drei Zuschauer waren wie vom Donner gerührt machten aber keine Miene einzugreifen. Der Junge wälzte sich mit dem Mörder auf dem Boden herum und schrie laut um Hilfe, doch war der Kampf zu ungleich, um lange zu währen. Sikes hatte Bates unter sich gebracht und setzte ihm das Knie auf die Kehle, als Crackit ihn zurückriß und bestürzt nach dem Fenster zeigte. Man sah unten auf der Straße Lichter schimmern und hörte laute Stimmen. Von der nächsten Brücke erscholl der Klang zahlloser Fußtritte. Unter der Menge, die über die Brücke quoll, schien sich auch ein Reiter zu befinden, denn der Schall von Huftritten ertönte auf dem holprigen Pflaster. Der Tumult wurde immer größer, schließlich wurde an die Haustür geklopft.

„Hilfe!“ schrie Karl Bates mit gellender Stimme. „Der Mörder ist hier! Schlagt die Tür ein!“

„Im Namen des Königs!“ wurde von draußen gerufen und gleich darauf erhob sich neuer Lärm.

„Schlagt die Tür ein!“ brüllte der Junge. „Man macht euch doch nicht auf. Kommt herauf ins Zimmer, wo Licht ist. Brecht die Tür auf!“

Wuchtige Schläge donnerten gegen die Tür und die Fensterläden des Erdgeschosses, und ein lautes Hurra gab den Halunken im Hause zum erstenmal einen richtigen Begriff von der Anzahl der Verfolger.

„Wo kann ich den schreienden Teufelsbraten einsperren?“ schrie Sikes wütend und warf den zappelnden Jungen in eine kleine Kammer, die Toby aufgeschlossen hatte. Er schob den Riegel vor und fragte:

„Ist die Haustür gut fest?“

„Doppelt verschlossen und dreifach verriegelt“, sagte Crackit, der wie betäubt dastand.

„Und die Fensterläden?“

„Gut gesichert.“

„Der Teufel soll euch holen!“, brüllte der Verbrecher aus dem Fenster zur Menge hinab. „Strengt euch an, so viel ihr wollt, ich pfeife darauf, ihr kriegt mich doch nicht!“

Ein Wutgeschrei der Volksmasse war die Antwort. Einige riefen, man solle Feuer an das Haus legen, andere schrien den Polizisten zu, den Mörder doch totzuschießen. Der Reiter schwang sich aus dem Sattel und rief mit Stentorstimme: „Zwanzig Guineen demjenigen, der mir eine Leiter bringt.“

Hunderte riefen nunmehr nach Leitern, und die Aufregung der immer größer werdenden Volksmasse wuchs zusehends. Einige der Kühnsten versuchten an der Wasserrinne und der zerbröckelten Wand hinaufzuklimmen.

„Ich kam an, als es Flutzeit war“, sagte der Mörder, nachdem er das Fenster wieder geschlossen hatte. „Gebt mir ein Seil – ein langes Seil. Ich werde mich hinten in den Graben hinunterlassen und entwischen. Sie sind ja alle vorn. Schnell ein Seil, oder ich begehe noch drei Morde und hänge mich dann auf!“

Toby wies nach einer Ecke, wo Stricke lagen, und Sikes suchte sich hastig den längsten und stärksten heraus. Er ging damit nach dem Dach.

Alle Fenster an der Hinterseite des Hauses waren zugemauert, mit Ausnahme eines Loches in der Kammer, wo Karl Bates eingesperrt war. Es war aber zu klein, als daß er hätte durchkriechen können. Durch diese Öffnung rief jedoch der Junge unaufhörlich den Außenstehenden zu, auch die Rückseite des Gebäudes zu bewachen. Als der Mörder aus dem Dachfenster stieg, wurde es sogleich bemerkt. Er kroch über die Ziegel und beugte sich über den Dachrand. Das Wasser war infolge der Ebbe abgelaufen und der Graben ein Schlammbett.

Die Menge sah lautlos und gespannt zu, was der Mörder nun wohl beginnen würde. Als sie gewahrte, daß er sich in der Flucht verrechnet hatte, erhob sie ein mächtiges Triumphgeschrei, gegen das alle früheren nur ein Flüstern waren.

„Jetzt hat man ihn!“ rief ein Mann auf der nächsten Brücke. „Hurra!“

Ein tausendfaches Echo folgte.

„Ich verspreche fünfzig Pfund demjenigen, der den Mörder lebend ergreift!“ rief ein alter Herr auf der Brücke. „Ich bleibe hier stehen, um die Summe sofort auszuzahlen.“

Neues Gebrüll. In diesem Augenblick verbreitete sich das Gerücht, daß die Haustür aufgebrochen und der Mann, der zuerst nach der Leiter gerufen, in das Zimmer eingedrungen sei. jeder wollte nun sehen, wie der Mörder von den Polizisten abgeführt würde. Es entstand ein furchtbares Gedränge, und die Aufmerksamkeit wurde von dem Dache abgelenkt.

Sikes beschloß jetzt, den letzten Rettungsversuch zu wagen und sich in den Graben hinunterzulassen, selbst auf die Gefahr hin, im Schlamme zu ersticken. Er schlang das eine Ende des Seiles fest um den Schornstein und machte an dem anderen Ende unter Zuhilfenahme der Zähne im Nu eine starke Laufschlinge. Er konnte sich mit dem Strick fast bis auf Manneslänge vom Boden hinunterlassen und hielt sein Messer bereit, um ihn rechtzeitig durchzuschneiden und sich fallen zu lassen.

Er hatte sich eben die Schlinge über den Kopf geworfen und war im Begriff mit den Armen gleichfalls durchzuschlüpfen, als der alte Herr die Leute darauf aufmerksam machte, daß der Verbrecher sich vom Dache hinunterlassen wolle. Im selben Augenblick sah sich Sikes um, stieß einen Schrei des Entsetzens aus und schlug die Hände über dem Kopfe zusammen.

„Da sind die Augen wieder!“ rief er mit Grabesstimme und taumelte wie vom Blitz getroffen. Er verlor das Gleichgewicht und fiel über den Rand des Daches. Die Schlinge am Halse, sauste er fünfunddreißig Fuß hinab. Ein plötzlicher Ruck, ein krampfartiges Zucken der Glieder – und da hing er, entseelt, das Messer in der erstarrten Hand!

Der alte Schornstein hatte der Erschütterung standgehalten. Sikes‘ Hund lief heulend auf dem Dache hin und her und nahm endlich einen Ansatz, um auf die Schultern des toten Mannes zu springen. Er verfehlte jedoch sein Ziel, fiel in den Graben, in dem er sich überkugelte. Mit dem Kopf auf einen Stein schlagend, verspritzte er sein Gehirn.

Enthüllt verschiedene Geheimnisse und enthält einen Heiratsantrag ohne ein Wort von Ausstattung und Nadelgeld

Zwei Tage nach den im letzten Kapitel erzählten Ereignissen befand sich Oliver nachmittags um drei Uhr In einem Reisewagen, der rasch dem Geburtsorte des Knaben zurollte. Frau Maylie, Rosa, Frau Bedwin und der gute Doktor waren bei ihm. Herr Brownlow folgte in einer Postkutsche, noch von jemand begleitet, dessen Name nicht erwähnt wurde.

Sie sprachen unterwegs wenig. Herr BrownIow hatte den beiden Damen und Oliver die Geständnisse, die er Monks abgerungen hatte, vorsichtig mitgeteilt. Jeder hing nun seinen Gedanken nach.

Als sie sich der Stadt näherten und endlich durch ihre engen Straßen fuhren, war der Junge ganz außer sich. Da stand Sowerberrys Haus gerade noch so wie früher. Er gewahrte Gamfields Karren vor einem Wirtshause. Das Armenhaus, das traurige Gefängnis seiner Kinderjahre, mit den düsteren Fenstern nach der Straße hinaus und demselben dürren Pförtner am Eingang. Es war ihm, als wenn er die Stadt erst gestern verlassen hätte, und sein neues Leben nur ein glücklicher Traum gewesen wäre.

Sie fuhren am ersten Gasthof vor, den Oliver nur mit Ehrfurcht anzusehen und für einen ganz gewaltigen Palast zu halten pflegte. Hier wurden sie von Herrn Grimwig empfangen, der eitel Freude und Sonnenschein war. Er küßte Rosa und auch die alte Dame, wie sie aus dem Wagen stiegen, als wäre er der Großvater der ganzen Gesellschaft. Er erbot sich nicht einmal, seinen Kopf aufzuessen – nicht einmal, als er einem sehr alten Postillion wegen des nächsten Weges nach London widersprach und es besser zu wissen behauptete, obgleich er ihn nur ein einziges Mal, und zwar im festen Schlaf gemacht hatte. Das Mittagessen und die Zimmer standen bereit alles war aufs beste angeordnet.

Herr Brownlow erschien nicht beim Essen, sondern blieb auf seinem Zimmer. Die beiden anderen Herren gingen mit wichtigen Mienen ein und aus und flüsterten geheimnisvoll, wenn sie im Zimmer waren. Einmal wurde Frau Maylie abgerufen und kam erst nach einer Stunde mit rotgeweinten Augen wieder zurück. Alles dies versetzte Rosa und Oliver in große Unruhe. Sie saßen stumm da und flüsterten nur, wenn sie sprachen, als fürchteten sie sich vor dem Ton ihrer eigenen Stimme.

Endlich, als die Uhr neun schlug, traten die Herren Losberne und Grimwig ins Zimmer, denen Herr Brownlow und ein Mann folgte, bei dessen Anblick Oliver laut aufschrie. Es war derselbe Mann, den er damals im Hofe des Gasthauses getroffen und dann an Fagins Seite vor dem Fenster seines kleinen Studierzimmers hatte stehen sehen. Monks warf einen haßerfüllten Blick auf den Jungen und setzte sich unweit der Tür. Herr Brownlow hatte einige Papiere in der Hand und trat an den Tisch, an dem Rosa und Oliver waren.

„Es ist zwar eine peinliche Sache begann er, „aber diese Erklärungen, die ich in London vor Zeugen niederschreiben und beglaubigen ließ, müssen der Hauptsache nach hier von Ihnen noch einmal persönlich abgegeben werden. Ich hätte Ihnen diese Demütigung gern erspart, aber Sie kennen die Gründe, warum wir sie aus Ihrem eigenen Munde abermals hören müssen, ehe wir uns trennen.“

„Los!“ sagte der Angeredete mit abgewandtem Gesicht, „machen Sie schnell. Ich habe genug getan. Halten Sie mich hier nicht unnötig auf.“

„Dieses Kind“, fuhr Herr Brownlow fort und zog Oliver an sich, „ist Ihr Halbbruder, der illegitime Sohn Ihres Vaters, meines teuren Freundes Edwin Leeford, und der unglücklichen Agnes Flemming, der die Geburt des Knaben das Leben kostete.“

„Ja“, sagte Monks, Oliver zornig anblickend, dessen Herz hörbar klopfte, „es ist ihr Bastard!“

„Der Ausdruck, dessen Sie sich bedienen“, sagte Herr BrownIow ernst, „enthält einen beleidigenden Vorwurf gegen Verstorbene, die dem Urteil dieser Welt längst entrückt sind, und beschimpft keine Lebenden außer dem, der ihn gebrauchte. Doch lassen wir das. Er wurde in dieser Stadt geboren?“

„In dem Armenhause dieser Stadt“, war die mürrische Antwort. „Sie haben die Geschichte doch in den Papieren dort aufgeschrieben.“

„Sie muß auch hier zur Sprache kommen.“

„Also hören Sie“, begann Monks. „Als sein Vater in Rom erkrankte, begab sich seine Frau, meine Mutter, von der er lange getrennt gelebt hatte, von Paris aus mit meiner Wenigkeit zu ihm – soviel ich weiß, um sich sein Vermögen zu sichern, denn sie hegte keine besondere Liebe für ihn, wie auch er nicht für sie. Er wußte nichts von unserer Anwesenheit, denn er war bereits besinnungslos und starb am folgenden Tag. Unter den Papieren, die sich in seinem Pulte vorfanden, waren zwei mit dem Datum des Tages, an dem er erkrankte. Sie waren nebst einigen kurzen Zeilen an Sie, Herr Brownlow, adressiert und trugen auf dem Umschlag die Weisung, daß sie erst nach seinem Tode abgeschickt werden sollten. Das eine dieser Papiere war ein Brief an jenes Mädchen Agnes und das andere ein Testament.“

„Und der Brief?“ fragte Herr Brownlow.

„Der Brief? Ein ganzer Bogen voll reuiger Selbstanklagen und Bitten, daß Gott ihr helfen möge. Er sagte darin dem Mädchen, daß ein Geheimnis, das sich eines Tages aufklären werde, ihn verhindert hätte, sich mit ihr zu vermählen. Sie hätte ihm hingebend vertraut, bis sie das verloren, was er ihr nicht mehr zurückgeben könnte. Sie hatte damals nur noch einige Monate bis zu ihrer Entbindung, und so teilte er ihr mit, was er zu tun beabsichtigte, um ihre Schande zu verdecken, wenn er am Leben bliebe. Er bat sie, wenn er sterben müßte, weder seinem Andenken zu fluchen, noch zu glauben, daß seine Sünde, an ihr oder seinem Kinde heimgesucht werden würde, da die ganze Schuld seine wäre. Er erinnerte sie an den Tag, an dem er ihr das Medaillon und den Ring schenkte, in dem ihr Taufname mit einer Lücke eingegraben war, die er eines Tages mit seinem Familiennamen auszufüllen gehofft hätte. Er flehte sie an, seine kleinen Geschenke an ihrem Herzen zu tragen, und kam dann immer wieder auf dieselben Worte zurück, als ob er schon nicht mehr klaren Geistes gewesen, was, wie ich vermute, auch der Fall war.“

„Das Testament“, sagte Herr Brownlow, während Oliver still vor sich hin weinte, „war in demselben Geiste abgefaßt wie der Brief. Ei sprach von dem Elend, das sein Weib über ihn gebracht hatte, und von dem störrischen Charakter, der Bosheit und den frühzeitigen lasterhaften Neigungen seines einzigen Sohnes, dem gelehrt worden war, den Vater zu hassen. Er vermachte Ihrer Mutter und Ihnen Jahresrenten von je achthundert Pfund. Sein Gesamtvermögen teilte er in zwei gleiche Teile und bestimmte den einen für Agnes Flemming und den andern für sein und ihr Kind, wenn es lebend zur Welt kommen und heranwachsen sollte. Für den Fall, daß es ein Mädchen wäre, sollte ihm die Erbschaft ohne weiteres zufallen. Wäre es jedoch ein Junge, so hafte die Bedingung daran, daß er während seiner Minderjährigkeit seinen Namen durch keine entehrende oder schlechte Tat befleckt habe, die das Einschreiten des Gerichts zur Folge gehabt hätte. Wie er ausführte, machte er diese Klausel, um dadurch sein Vertrauen zu der Mutter zu bekunden, daß das Kind der Erbe ihres schönen Herzens und ihres edlen Charakters werden würde. Sollte diese Erwartung trügen, so waren Sie zum Erben bestimmt; denn nur, wenn beide Kinder einander gleich wären – aber auch nur dann –, wollte er Ihren früheren Anspruch auf sein Vermögen anerkennen, obgleich Sie keinen auf sein Herz zu machen und ihn von früher Jugend an durch Kälte und Abneigung zurückgestoßen hätten.“

„Meine Mutter“, nahm nun Monks wieder das Wort, „tat, was jede Mutter getan hätte – sie verbrannte das Testament. Der Brief gelangte nie an seine Adresse. Aber sie bewahrte ihn und noch andere Schriftstücke für den Fall auf, daß man versuchen würde, den Fehltritt abzuleugnen. Sie berichtete dem Vater des Mädchens die Wahrheit mit Übertreibungen, die ihr der Haß eingab -ich liebe sie jetzt darum. Diese Nachricht bewog den alten Flemming, sich mit seinen Kindern in einen Winkel von Wales zurückzuziehen, wobei er zugleich seinen Namen änderte, damit seine Freunde ihn nicht entdeckten. Er wurde einige Zeit darauf tot in seinem Bette gefunden. Die Tochter hatte einige Wochen zuvor heimlich sein Haus verlassen. Er suchte sie in jedem Dorf und jeder Stadt der Umgegend. In der Nacht, als er mit der Überzeugung nach Hause kam, sie hätte sich das Leben genommen, um ihre Schande nicht zu überleben, brach das Herz des alten Mannes.“

Nach einem kurzen Schweigen fuhr Herr Brownlow in der Erzählung fort:

„Nach Jahren kam die Mutter dieses Menschen – dieses Eduard Leeford – zu mir. Er hatte sie verlassen, als er achtzehn Jahr alt war, und ihr Geld und Juwelen gestohlen. Das Gestohlene verspielt, Fälschungen begangen und war dann nach London geflüchtet, wo er in Verbrecherkreisen verkehrte. Sie siechte an einer unheilbaren Krankheit dahin und wünschte ihn vor ihrem Tode noch einmal zu sehen. Man forschte lange vergeblich nach ihm, endlich aber fand man ihn. Sie fuhren dann beide nach Frankreich zurück.“

„Nach einem langen Krankenlager“, erzählte Monks weiter, „starb sie dort. Auf ihrem Totenbette vermachte sie mir mit diesen Geheimnissen ihren tödlichen Haß gegen alle, die in die Angelegenheit verwickelt waren. Sie wollte nicht glauben, daß das Mädchen sich selbst und dem Kinde ein Leid angetan hätte, sie war vielmehr der festen Überzeugung, daß ein Knabe geboren und am Leben wäre. Ich schwur ihr, wenn der Junge je meinen Weg kreuzen würde, ihn mit unversöhnlicher Feindschaft zu verfolgen und ihn, den prahlerischen Redensarten des beleidigenden Testaments zum Trotz, an den Galgen zu bringen. Sie hatte recht. Er kam mir endlich in den Weg. Der Anfang ließ sich gut an, und wenn dieses verdammte Frauenzimmer nicht geschwatzt hätte, wäre dem guten Anfang auch ein dementsprechender Schluß gefolgt.“

Der Halunke verwünschte laut sich selbst, daß sein bösartiger Plan mißlungen war. Inzwischen erzählte Herr Brownlow den entsetzten Zuhörern, daß der Jude, Monks‘ Helfershelfer, eine große Belohnung für Olivers Verführung zum Schlechten erhalten hätte. Als der Junge entwich, sollte ein Teil der Summe wieder zurückerstattet werden, und der daraus entstandene Streit sei die Veranlassung gewesen, daß beide jenen Besuch in dem Landhause machten, der Olivers Identität feststellen sollte und diesen so erschreckte.

„Und was wurde aus dem Medaillon und dem Ringe?“ fragte Herr BrownIow Monks.

„Ich kaufte sie dem Manne und der Frau ab, die sie der Wärterin gestohlen hatten. Sie wissen, was daraus wurde“, sagte Monks, ohne die Augen zu erheben.

Herr Brownlow gab Grimwig einen Wink, der darauf plötzlich verschwand, aber bald wieder zurückkehrte, Frau Bumble ins Zimmer schob und deren widerstrebenden Eheherrn nach sich zerrte.

„Trügen mich meine Augen?“ rief Herr Bumble mit schlechtgespielter Freude, „oder ist dies wirklich der kleine Oliver? Ach, O-Ii-ver, wenn Sie wüßten, wie ich mich um Sie gegrämt habe!“

„Halt’s Maul, Dummkopf!“ murmelte Frau Bumble.

„Frau, ist’s nicht natürlich, ganz natürlich“, entgegnete Bumble, „muß mir nicht das Herz aufgehen, mir, der ich ihn als Gemeindekind erzogen habe – wenn ich ihn hier sitzen sehe zwischen so feinen Damen und Herren? Ich habe den Knaben immer geliebt wie meinen – meinen – meinen eigenen Großvater“, sagte endlich Herr Bumble, nachdem er einen passenderen Vergleich nicht gleich gefunden hatte,

„Ach bitte“, fiel Herr Grimwig ein, „unterdrücken Sie Ihre Gefühle!“

„Ich will mir Mühe geben“, sagte Herr Bumble. „Wie geht es Ihnen, mein Herr? Ich hoffe gut.“

Diese Begrüßung war an Herrn Brownlow gerichtet, der sich dem würdigen Ehepaar genähert hatte und nun, auf Monks zeigend, fragte:

„Kennen Sie diesen Mann?“

„Nein!“ antwortete Frau Bumble ohne Zögern.

„Aber Sie vielleicht, Herr Bumble?“

„Hab‘ ihn nie in meinem Leben gesehen!“

„Auch nichts verkauft?“

„Nein!“ entgegnete Frau Bumble.

„Sie haben auch nie ein gewisses goldenes Medaillon und einen Ring gehabt?“

„Allerdings nicht. Hat man uns bloß deshalb hierhergeholt, um uns derartig törichte Fragen beantworten zu lassen?“

Herr Brownlow winkte Herrn Grimwig abermals zu, und dieser verschwand wieder, um gleich darauf mit zwei gichtbrüchigen alten Weibern zurückzukehren.

„Sie haben zwar in der Nacht, als die alte Sally starb, die Tür verschlossen“, sagte die eine und hob ihre vertrocknete Hand hoch, „aber Sie konnten weder unsere Ohren noch die Ritzen in der Wand verstopfen.“

„Nein, nein, nein“, fügte die andere kopfwackelnd hinzu.

„Wir hörten, wie die Sterbende versuchte, Ihnen zu sagen, was sie getan, und sahen auch, wie Sie ein Papier aus ihrer Hand nahmen und am andern Tage ins Leihhaus gingen.“

„Haben Sie vielleicht Lust, den Pfandleiher selbst zu sehen?“ fragte Herr Grimwig und ging zur Tür.

„Nein“, sagte Frau Bumble, „weil er“, sie deutete auf Monks, „augenscheinlich Memme genug gewesen ist zu beichten, und da Sie unter allen diesen alten Hexen gerade die richtigen herausgefunden haben, so bleibt mir nicht mehr viel zu sagen. Ja, ich verkaufte ihm das Medaillon und den Ring, und der ganze Plunder liegt an einem Orte, wo Sie ihn nie wieder finden können. Und was weiter?“

„Nichts weiter“, antwortete Herr Brownlow, „als daß wir dafür sorgen werden, daß man euch aus euren Beamtenstellungen als unzuverlässig entfernt. Ihr könnt gehen.“

„Ich hoffe“, meinte Herr Bumble bestürzt, als Herr Grimwig mit den beiden alten Weibern wieder verschwunden war, „ich hoffe, daß dieser kleine Zwischenfall mir nicht mein Amt kosten wird.“

„Das wird er allerdings, darauf dürfen Sie sich gefaßt machen und noch froh sein, daß Sie so davonkommen.“

„Es war ausschließlich das Werk meiner Frau, sie wollte es so“, wandte Herr Bumble ein, nachdem er sich vorher mit einem schnellen Blick überzeugt hatte, daß seine Gattin nicht mehr im Zimmer war.

„Das ist keine Entschuldigung. Im Gegenteil, Sie sind für das Gesetz der schuldigere Teil, da in solchen Fällen angenommen wird, Ihr Weib hätte nach Ihrer Anweisung gehandelt.“

„Wenn das Gesetz so etwas annimmt“, erwiderte Herr Bumble und zerknüllte seinen Hut mit den Händen, „so ist das Gesetz ein Esel – ein Dummkopf. Wenn das Gesetz mit solchen Augen sieht, so ist es ein Junggeselle, und ich wünsche ihm das Ärgste, nämlich daß ihm die Augen durch Erfahrung aufgehen mögen – ja, durch Erfahrung.“

Nach diesen mit großem Nachdruck gesprochenen Worten stülpte Herr Bumble seinen Hut auf den Kopf, steckte die Hände in die Taschen und folgte seinem trauten Weib.

„Mein liebes Fräulein“, sagte Herr Brownlow, sich zu Rosa wendend, „geben Sie mir mal Ihre Hand. Zittern Sie nicht! Sie brauchen sich vor den paar Worten nicht zu fürchten, die noch zu sagen bleiben.“

„Wenn sie – ich weiß zwar nicht, wie das möglich wäre – doch wenn sie irgendwie mich betreffen, so lassen Sie sie mich ein andermal hören. Ich habe jetzt weder die Kraft noch den Mut dazu.“

„Ach“, sagte der alte Herr, ihren Arm durch seinen ziehend, „Sie sind mutiger, als Sie denken. – Kennen Sie diese junge Dame?“

„Ja,“ erwiderte Monks.

„Ich habe Sie nie gesehen“, sagte Rosa leise.

„Aber ich Sie oft“, versetzte Monks.

„Der Vater der unglücklichen Agnes hatte zwei Töchter. Was war das Schicksal der zweiten – des Kindes?“ fragte Herr Brownlow.

„Das Mädchen wurde, als der Vater an einem fremden Ort unter einem angenommenen Namen starb, von armen Leuten als eigenes Kind aufgezogen. Der Haß findet jedoch oft den Weg, wo die Liebe fehlgeht, denn meine Mutter entdeckte es nach Jahresfrist. Die Leute waren sehr arm und fingen an, wenigstens der Mann, ihrer Menschenfreundlichkeit müde zu werden. Sie ließ es deshalb da und machte ihnen ein kleines Geldgeschenk, womit sie jedoch keine großen Sprünge machen konnten. Meine Mutter versprach auch weitere Unterstützung, die zu schicken sie jedoch nicht im Sinne hatte. Sie hielt jedoch die Armut der Leute nicht für ausreichend, um das Kind recht unglücklich zu machen. Deshalb erzählte sie den Pflegeeltern noch die Geschichte von der ehrvergessenen Schwester und bat sie, auf das Kind recht acht zu haben. Es wäre doch ein uneheliches aus schlechter Familie, an dem man sicher wenig Gutes erleben würde. Die Umstände schienen dem recht zu geben, und die Leute glaubten alles. Das Mädchen wurde daher übel genug behandelt, so daß selbst wir damit zufrieden sein konnten. Da wollte es der Zufall, daß eine verwitwete Dame aus Chester das Kind sah und es aus Mitleid zu sich nahm. Der Teufel war gegen uns im Bunde, denn trotz aller unserer Bemühungen blieb es bei der Dame und war glücklich.“ Ich verlor es vor drei Jahren aus den Augen und sah es erst vor einigen Monaten wieder.“

„Sehen Sie es jetzt?“

„Ja – an Ihrem Arm.“

„Aber trotzdem meine Nichte –“ rief Frau Maylie, das beinahe ohnmächtig werdende Mädchen mit den Armen auffangend. „Du bleibst mein liebes Kind. Nicht für alle Schätze der Welt würde ich dich hergeben.“

„Sie sind die einzige Freundin, die ich hatte“, schluchzte Rosa an ihrem Busen, „die gütigste, die beste aller Freundinnen. Ich kann soviel auf einmal nicht ertragen, das Herz will mir brechen.“

„Du hast mehr getragen und bist trotzdem immer das gute, edle Mädchen geblieben, das Glück und Sonnenschein überall verbreitete. Komm zu dir, Liebling, sieh, wer es ist, der in deine Arme fliegen will, das arme Kind.“

„Ach, ich werde sie nie Tante nennen“, rief Oliver, seinen Arm um ihren Nacken schlingend, „Schwester, meine liebe Schwester. Meine Herzensrosa!“

Mögen die Tränen, die jetzt flossen, und die abgebrochenen Worte, die in den Umarmungen der beiden Waisen gewechselt wurden, geheiligt sein! – Sie blieben lange – lange allein. Ein leises Pochen an die Tür kündigte endlich an, daß jemand draußen sei. Oliver öffnete und ließ Harry Maylie ein, während er selbst hinausschlüpfte.

„Ich weiß alles“, sagte Harry, sich an der Seite des holden Mädchens niederlassend, „ich weiß alles, teuerste Rosa! Ich bin nicht aus Zufall hier, ich habe alles gestern schon gewußt. Errätst du wohl, daß ich komme, um dich an dein Versprechen zu erinnern?“

„Halt!“ sagte Rosa. „Du weißt wirklich alles?“

„Alles! Du gabst mir die Erlaubnis, innerhalb eines Jahres auf den Gegenstand unseres letzten Gesprächs wieder zurückzukommen.“

„Nicht um dich zu drängen, deinen Entschluß zu ändern, sondern nur, dich ihn wiederholen zu hören, wenn du noch derselben Ansicht wärest.“

„Dieselben Beweggründe, die mich damals bestimmten, werden mich auch jetzt leiten.“

„Die Aufklärungen heute abend –“ begann Harry.

„Diese Aufklärungen“, fiel ihm Rosa sanft ins Wort, „lassen mich dir gegenüber in derselben Lage, in der ich mich vorher befand.“

„Du verhärtest dein Herz gegen mich, Rosa!“

„Ach, Harry! Harry!“ sagte Rosa, in Tränen ausbrechend, „ich wollte, ich könnte es! Wieviele Schmerzen würde es mir ersparen!“

„Aber warum willst du dir selbst Schmerzen bereiten“, sagte Harry, ihre Hand ergreifend. „Denk doch an das, was du heute abend gehört hast, liebe Rosa!“

„Und was habe ich vernommen?“ schluchzte Rosa. „Daß das Gefühl, entehrt zu sein, so stark auf meinem Vater lastete, daß er sich von der Welt scheu zurückzog – wir haben genug über die Angelegenheit gesprochen, Harry, mehr als genug.“

„Noch nicht, noch nicht!“ entgegnete der junge Mann, das Mädchen, das aufstehen wollte, zurückhaltend. „Meine Hoffnungen, Wünsche, Aussichten – jeder Gedanke meines Lebens ist anders geworden, nur nicht meine Liebe zu dir. Ich biete dir jetzt keine hohe Stellung in der lärmenden Welt, sondern nur einen stillen Herd, ein Herz und einen Herd, ja, teuerste Rosa, nur diese beiden sind es, die ich dir anzubieten habe.“

„Was willst du damit sagen?“ stammelte das Mädchen.

„Nur, daß ich dich nach unserm letzten Abschied mit dem festen Entschluß verließ, alle eingebildeten Schranken zwischen mir und dir niederzureißen. Da meine Welt nicht die deinige sein konnte, so wollte ich deine zu der meinigen machen. Der Geburtsdünkel sollte nicht über dich die Nase rümpfen, deshalb habe ich ihm für immer Lebewohl gesagt. Die Gönner und die hochgestellten Verwandten blicken mich jetzt kaum an. Aber es gibt lächelnde Auen und rauschende Bäume in Englands schönster Provinz, und bei einer Dorfkirche – der meinigen, Rosa, der meinigen – steht ein kleines Landhaus, auf das du mich stolzer machen kannst, als mich alle Aussichten auf eine glänzende Laufbahn gemacht hätten. Das ist jetzt mein Rang und meine Stellung in der Welt – und ich lege sie dir hier zu Füßen.“

„Es ist eine harte Geduldsprobe, wenn man mit dem Essen auf ein Liebespaar warten soll“, meinte Herr Grimwig im Lehnstuhl aus einem kleinen Schlaf aufwachend. „Ich hatte ernstlich im Sinne“, sagte er zu den eintretenden Damen und Harry, „heute abend meinen Kopf aufzuessen, denn es kam mir nachgerade so vor, als sollte ich nichts anderes bekommen. übrigens nehme ich mir, mit Ihrer Erlaubnis die Freiheit, die Braut mit einem Kusse zu begrüßen.“

Herr Grimwig verlor keine Zeit, der erbetenen Freiheit die Tat folgen zu lassen, und da Beispiele ansteckend wirken, so taten es ihm der Doktor und Herr BrownIow nach. Gewisse Leute behaupten zwar, daß der Anfang in einem anstoßenden Zimmer von Harry Maylie gemacht wurde, aber die besten Autoritäten erklären das für eine Verleumdung, da an derartiges bei einem jungen Manne, der ein Geistlicher wäre, nicht zu denken sei.

Fagins letzte Stunden

Der Schwurgerichtssaal war brechend voll, aller Augen waren auf den Juden gerichtet. Dieser stand mit der Hand am Ohre, den Kopf vorgestreckt, in der Anklagebank, um kein Wort des Staatsanwalts zu verlieren, als dieser die Anklage dem Gerichtshof vortrug. Bisweilen sah Fagin scharf zu den Geschworenen hinüber, um den Eindruck auch nur des geringsten zu seinen Gunsten sprechenden Wortes zu erspähen, dann blickte er mit stummer Bitte auf seinen Verteidiger, doch etwas für ihn vorzubringen, wenn der Ankläger streng mit ihm ins Gericht ging. Seit dem Beginn der Verhandlung hatte er weder Hand noch Fuß bewegt, und als der Staatsanwalt jetzt zu sprechen auf, hörte, blieb er noch in derselben Stellung des angstvoll Horchenden, als höre er ihn immer noch reden.

Ein kleines Geräusch im Gerichtssaal brachte ihn wieder zu sich, und als er sich umsah, sah er die Geschworenen zu einer Beratung zusammentreten. Ein Blick in den Zuhörerraum zeigte ihm, daß sich die Leute auf die Zehenspitzen stellten, um sein Gesicht zu sehen. Aber auch nicht in einem Antlitz, nicht einmal unter den Weibern, konnte er die leiseste Spur von Mitleid oder von einem anderen Gefühl lesen als den Wunsch, ihn verurteilt zu sehen.

Wieder trat Totenstille ein – die Geschworenen hatten sich an den Richter gewandt. Horch! Sie baten um die Erlaubnis, sich ins Beratungszimmer zurückziehen zu dürfen.

Er sah ihnen forschend ins Gesicht, als sie abtraten. Wohin wohl die Stimmung der Mehrheit neige, aber er konnte nichts feststellen. Der Gerichtsdiener berührte ihn an der Schulter. Er folgte ihm mechanisch in den Hintergrund der Anklagebank und setzte sich auf einen Stuhl nieder.

Er blickte wieder in den Zuhörerraum. Einige der Leute aßen, während andere sich mit den Taschentüchern Kühlung zufächelten, denn es war im Saal drückend heiß. Da war ein junger Mann, der sein Gesicht auf einen Block zeichnete, er hätte wissen mögen, ob er ähnlich würde. Dann begann sich sein Geist mit dem Anzuge des Richters zu beschäftigen, was er wohl gekostet haben möchte. Auf der Richterbank hatte auch ein dicker alter Herr gesessen, der vor einer halben Stunde hinausgegangen und nun wieder zurückgekommen war. Fagin überlegte, ob dieser Mann wohl in der Zwischenzeit zu Mittag gespeist, und was er wohl gegessen hätte.

Er war allerdings die ganze Zeit über keinen Augenblick von dem drückenden Gefühle frei, daß das Grab zu seinen Füßen gähnte. Er fing nun an, die Stäbe des Gitters zu zählen, das die Anklagebank umgab. Er überlegte, wie es wohl zugegangen sein möchte, daß die Spitze des einen abgebrochen war, und ob man sie wohl wieder ersetzen würde. Dann dachte er an alle Schrecken des Galgens und Schafotts, bis ein Mann, der den Boden des Saales mit Wasser besprengte, ihn wieder von diesem Gedanken ablenkte.

Endlich wurde Schweigen geboten und alles blickte erwartungsvoll nach der Tür. Die Geschworenen kehrten zurück und kamen dicht an dem Angeklagten vorbei. Er konnte in ihren Gesichtern nichts lesen, sie waren wie von Stein. Es trat Totenstille ein – keine Bewegung – Stocken des Atems. – Schuldig!

Das Gebäude erbebte von Beifallsrufen, die sich verschiedenemal wiederholten. Dann hallte ein dumpfes, schweres, stets zunehmendes Getöse, einem zürnenden Donner gleich, von außen nach. Es war das Freudengeschrei des Volkes draußen, womit es die Nachricht begrüßte, daß der Jude am Montag sterben werde.

Nachdem sich der Lärm gelegt hatte, wurde Fagin gefragt, ob er etwas vorzubringen hätte, was der Vollstreckung des Todesurteils Einhalt gebieten könne. Er hatte seine horchende Stellung wieder eingenommen und sah den Richter gespannt an. Dieser mußte die Frage wiederholen, ehe sie der Jude zu verstehen schien. Fagin murmelte bloß, er wäre ein alter Mann – ein alter Mann, wobei sich seine Stimme in ein leises Flüstern verlor, bis sie schließlich ganz erstarb.

Der Richter setzte die schwarze Mütze auf, während der Gefangene noch immer in der gleichen Haltung dastand. Der Urteilsspruch war schauerlich anzuhören, aber der Verurteilte stand wie eine Bildsäule da, ohne daß ein Muskel in seinem Gesicht zuckte. Als ihn der Gerichtsdiener beim Arm nahm und ihm winkte, sah er ihn zuerst stumpfsinnig an, gehorchte aber dann.

Man führte ihn durch einen gepflasterten Gang in das Innere des Gefängnisgebäudes. Hier wurde er untersucht, ob er nicht vielleicht Mittel bei sich träge, dem Gesetze vorzugreifen. Dann brachte man ihn in eine der für die zum Tode Verurteilten bestimmten Zellen und ließ ihn

allein.

Er setzte sich der Tür gegenüber auf eine steinerne Bank, die als Stuhl und Bett dienen mußte, heftete seine blutunterlaufenen Augen auf den Boden und wollte seine Gedanken sammeln. Nach einer Weile begann er sich einiger zusammenhängender Bruchstücke von dem, was der Richter gesprochen, zu entsinnen. Er brachte sie in die richtige Ordnung und suchte das Fehlende zu ergänzen; in kurzer Zeit stand das Ganze fast so, wie er es angehört hatte, vor ihm. Aufgehängt zu werden am Halse, bis er tot wäre – lautete der Schluß. Aufgehängt zu werden am Halse, bis er tot wäre.

Als es immer dunkler und dunkler wurde, begann er sich aller seiner Bekannten, die am Galgen geendet -einige sogar durch seine Schuld –, zu entsinnen. Er hatte manche von ihnen sterben sehen und ihrer gespottet, weil sie mit Gebeten auf den Lippen hinübergingen. Wie plötzlich waren sie aus gesunden, kräftigen Männern in baumelnde, bekleidete Fleischklumpen verwandelt worden!

Einige von ihnen hatten vielleicht dieselbe Zelle bewohnt – hatten auf derselben Stelle gesessen. Es war sehr dunkel – warum brachte man kein Licht? Die Zelle war vor vielen Jahren erbaut – Dutzende von Verbrechern mußten hier ihre letzten Stunden zugebracht haben! Es war ihm, als sitze er in einem mit Leichen angefüllten Gewölbe – der Strick – die gefesselten Arme – die Armesünderkappe – die Gesichter, die er selbst unter diesem gräßlichen Schleier erkannte – Licht! Licht!

Endlich erschienen zwei Männer, von denen der eine ein Licht brachte, das er in einen eisernen, in der Mauer befindlichen Leuchter steckte, während der andere eine Matratze hereinschleppte, um die Nacht darauf zu schlafen; denn der Gefangene sollte fortan nicht mehr allein gelassen werden.

Die Nacht kam, die finstere, schauerliche, schweigende Nacht. Andere Wachende freuen sich, wenn sie die Uhren von den Kirchtürmen schlagen hören, verkünden sie doch den kommenden Tag und neues Leben. Dem Juden brachten sie Verzweiflung. jeder Glockenschlag rief ihm im hohlen Tone zu – Tod!

Der Tag entschwand – Tag? Es war kein Tag! Er war so schnell dahin, als er gekommen war. Und abermals brach die Nacht herein – eine Nacht, so lang und doch so kurz. Lang in ihrem schrecklichen Schweigen, und kurz in ihren flüchtigen Stunden. Das eine Mal raste er und lästerte Gott – dann heulte er wieder und raufte sich die Haare. Rabbiner waren gekommen, um mit ihm zu beten, er hatte sie jedoch mit Flüchen fortgejagt. Sie erneuerten ihre gutgemeinten Versuche, aber er schlug nach ihnen.

Sonnabend nacht – er hatte nur noch eine Nacht zu leben. Unter solchen Gedanken graute der Morgen

Sonntag!

Erst am Abend dieses letzten schrecklichen Tages bemächtigte sich seiner ein zu Boden drückendes Gefühl seiner hoffnungslosen Lage. Er sprang alle Augenblicke auf und raste mit keuchendem Atem auf und nieder. Dann kauerte er sich ermüdet auf sein Steinlager nieder und gedachte der Vergangenheit. Er war am Tage seiner Verhaftung durch die Steinwürfe des Volkes verwundet worden und hatte daher den Kopf mit einem Tuche verbunden. Sein rotes Haar hing über ein blutleeres Gesicht, in seinen Augen brannte ein schreckliches Feuer. Acht -neun – zehn. Wenn es nicht Absicht war, ihn so zu schrecken, wenn die Stunden wirklich so eilten, wo mußte er sein, wenn sie abermals schlugen? Elf! Um acht Uhr sollte er der einzige Leidtragende bei seinem eigenen Leichenbegängnis sein. Wenn es aber wieder elf Uhr schlug – –

Vom frühen Abend bis um Mitternacht erschienen unaufhörlich Leute am Gefängnistor und fragten mit besorgtem Gesicht, ob ein Aufschub der Hinrichtung verfügt sei. Auf die verneinende Antwort des Pförtners teilten sie die willkommene Botschaft den auf der Straße Wartenden mit. Diese zeigten einander die Tür, aus der der Verurteilte kommen mußte, und die Stelle, wo der Galgen errichtet werden würde. Nach und nach verliefen sich die Massen und um Mitternacht lag der Platz im Dunkeln.

Um diese Zeit erschien Herr Brownlow mit Oliver am Gefängnistor und wies eine vom Sheriff ausgestellte Erlaubniskarte vor, den Gefangenen besuchen zu dürfen. Sie wurden unverzüglich eingelassen.

„Will der junge Herr da auch mit?“ fragte der Schließer. „Es ist kein Anblick für Kinder.“

„Allerdings nicht, lieber Freund, aber was ich mit dein Verbrecher abzumachen habe, hat Bezug auf den Knaben. Er hat ihn als erfolgreichen Spitzbuben gekannt, und ich halte es für ganz gut, wenn er ihn auch jetzt sieht, mag es ihm immerhin peinlich sein.“

Diese Worte wurden so leise gesprochen, daß sie Oliver nicht hören konnte. Der Schließer berührte seinen Hut und blickte neugierig nach dem jungen hin, dann öffnete er eine Tür und führte sie durch dunkle Gänge nach der Armensünderzelle.

Der Jude saß auf seiner Steinbank und wiegte sich mit einem Gesicht, das mehr dem eines eingesperrten Tieres als dem eines Menschen ähnlich sah, hin und her. Sein Geist beschäftigte sich augenscheinlich mit seinem früheren Leben, denn er murmelte, ohne sich durch den Eintritt der beiden stören zu lassen, unaufhörlich vor sich hin.

„Guter Junge, Karl – brav gemacht! Oliver auch, ha! ha! ha! Oliver auch – ganz Herr jetzt – bringt ihn zu Bett! Ins Bett mit ihm! – Hört denn keiner von euch? – Er – er – ist gewissermaßen an allem schuld. Um des Geldes willen lohnt es sich, ihn dazu aufzuziehen – Bolters Hals, Bill. – Laßt doch das Mädchen laufen Schneid in Bolters Hals, so tief du kannst. Hau ihm den Kopf ab!“

„Fagin!“ sagte der Schließer.

„Hier!“ rief der Jude, plötzlich in die horchende Stellung verfallend, die er vor Gericht eingenommen hatte. „Ein alter Mann, Euer Gnaden. Ein sehr alter Mann.“

„Hier ist jemand“, sagte der Schließer, „der Euch etwas fragen will. Fagin, Fagin, seid Ihr ein Mann?“

„Werd’s nicht mehr lange sein!“ schrie der Jude mit schreckenerregender Stimme. „Schlagt alle tot. Was haben sie für ein Recht, mich abzumurksen?“

Jetzt erst bemerkte er Oliver und Herrn Brownlow und fragte, nach dem hintersten Winkel seiner Bank zurückweichend, was sie hier wollten.

„Ihr seid im Besitz einiger Papiere“, sagte Herr Brownlow nähertretend, „die Euch ein gewisser Monks zur Aufbewahrung übergeben hat.“

„Alles gelogen“, schrie Fagin. „Ich habe keine – keine.“

„Um Gotteswillen, sprecht nicht so am Rande des Grabes, sondern sagt, wo sie sind! Ihr wißt Sikes ist tot, und Monks hat gestanden. Es ist für Euch keine Hoffnung mehr vorhanden, daraus einen Gewinn zu erzielen. Also, wo sind die Papiere?“

„Oliver“, rief der Jude, ihm winkend. „Komm her, ich will es dir sagen.“

Ohne Furcht ging der Junge zu ihm und Fagin flüsterte ihm, ihn an sich ziehend, ins Ohr:

„Sie sind in einem Leinenbeutel in einem Loch des Schornsteins, oben in der Vorderstube. Ich möchte gern mit dir noch sprechen, Liebling.“

„Ja, ja“, entgegnete Oliver. „Lassen Sie mich beten und beten Sie mit mir. Und wenn es nur ein Gebet ist. Ich bleibe dann bei Ihnen bis zum Morgen.“

„Draußen, draußen“, sagte Fagin und drängte den Jungen vor sich her nach der Tür. „sage, ich schlafe, dir wird man glauben. Du kannst mich retten. Los! Jetzt!“

„Lieber Gott, vergib diesem Unglücklichen“, schrie Oliver, in Tränen ausbrechend.

„So ist’s recht“, sagte der Jude. „Das wird uns helfen! Diese Tür zuerst. Nur schnell! Komm!“

„Haben Sie ihn noch etwas zu fragen?“ erkundigte sich der Schließer bei Herrn Brownlow. Dieser verneinte. Man öffnete die Zellentür, und die Gefangenenwächter befreiten Oliver aus Fagins Griff. Er kämpfte mit einer Kraft, die ihm die Verzweiflung verlieh und stieß dabei schreckliche Jammertöne aus.

Oliver wurde bei diesem schrecklichen Auftritt fast ohnmächtig und es dauerte eine Stunde, ehe er sich so weit erholt hatte, daß sie den Heimweg antreten konnten. Der Tag brach an, und es wimmelte auf dem Platz bereits von Menschen. Die Fenster waren von Leuten besetzt, die sich mit Rauchen und Kartenspielen die Zeit vertrieben. Die Menge auf der Straße drängte sich, scherzte und lachte. Alles atmete Heiterkeit und Leben, mit Ausnahme eines schwarzen Gerüstes in der Mitte des Platzes. Der Querbalken und der Strick waren grauenvolle Wahrzeichen des Todes in häßlichster Gestalt.

Es waren noch keine drei Monate ins Land gegangen, als Rosa Flemmings und Harry Maylies Ehebund in der Dorfkirche geschlossen wurde, die fortan der Schauplatz der Tätigkeit des jungen Geistlichen sein sollte. An demselben Tage zogen sie in ihr neues Heim. Frau Maylie die sich für den Rest ihrer Tage an dem Glücke ihrer Kinder erfreuen wollte, schlug ihren Wohnsitz bei dem jungen Paare auf.

Monks und seine Mutter hatten den größten Teil des Leefordschen Vermögens verwirtschaftet. Es blieben noch für ihn und Oliver je dreitausend Pfund übrig. Dem letzten Willen des Vaters zufolge hätte Oliver Anspruch auf das Ganze gehabt. Herr Brownlow aber hatte diese Teilung vorgeschlagen, um den älteren Sohn in den Stand zu setzen, ein neues Leben zu beginnen. Und Oliver hatte gern zugestimmt. Monks behielt seinen angenommenen Namen bei und wanderte nach Amerika aus. Hier brachte er in kurzer Zeit sein Geld durch und beging verschiedene Betrügereien, die ihn ins Gefängnis führten, in dem er auch bald starb. Ebenso fern von der Heimat starben die noch übriggebliebenen Mitglieder der Bande seines gehenkten Freundes Fagin.

Herr BrownIow nahm Oliver an Kindesstatt an und bezog mit ihm und Frau Bedwin eine Wohnung, die nur zehn Minuten vom Maylieschen Pfarrhaus entfernt lag. Er erfüllte damit einen Herzenswunsch des Jungen.

Bald nach der Vermählung des jungen Paares kehrte der würdige Doktor nach Chertsey zurück. Er fühlte sich aber dort nicht mehr glücklich, da seine alten Freunde doch alle fortgezogen waren. Er übertrug daher seine Praxis seinem Assistenten und kaufte sich ganz in der Nähe des Dorfes, wo Harry Maylie Pfarrer war, ebenfalls ein kleines Häuschen. Er legte sich nun auf Ackerbau und Viehzucht und wurde bald von den Nachbarn als Autorität darin anerkannt. Mit Grimwig hatte er eine herzliche Freundschaft geschlossen. Dieser besuchte daher den Doktor häufig. An Sonntagen verfehlte Herr Grimwig nie, dem jungen Geistlichen seine Predigt ins Gesicht zu kritisieren, versicherte jedoch Herrn Losberne nachher im strengsten Vertrauen, daß sie ausgezeichnet gewesen sei; er halte es jedoch für richtig, es nicht zu sagen. Es machte ihm auch immer Vergnügen, Herrn Brownlow mit seiner alten Prophezeiung über Oliver zu necken und ihn an den Abend zu erinnern, an dem sie, die Uhr mitten zwischen sich, seine Rückkehr erwarteten. Herr Grimwig meinte dann, daß er in der Hauptsache doch recht hatte, denn Oliver sei eben nicht zurückgekommen. Dann lacht er vergnügt und ist in bester Stimmung.

Herr Noah Claypole wurde begnadigt, da er gegen den Juden als Kronzeuge aufgetreten war. Das Diebesgewerbe hielt er nach seinen Erfahrungen nicht für ganz sicher und wandte sich daher einem anderen Berufe zu, nämlich dem eines Denunzianten. Er geht alle Sonntage während der Kirchzeit mit Charlotte, fein angezogen, spazieren. Vor der Tür eines Wirtshauses fällt die Dame in Ohnmacht; um sie wieder zu sich zu bringen, kauft der Herr für einige Pence Kognak. Am anderen Tage erstattet er Anzeige gegen den menschenfreundlichen Gastwirt wegen Sabbatschändung und streicht die halbe Strafe ein. Manchmal wird auch Herr Claypole ohnmächtig, aber das Resultat ist dasselbe.

Herr und Frau Bumble verloren ihre Stellen, versanken allmählich in das größte Elend und kamen zuletzt als Arme in dieselbe Anstalt, in der sie einst geherrscht hatten.

Was Herrn Giles und Brittles anbelangt, so versehen sie noch immer ihre alten Posten, nur ist ersterer kahl und der junge Brittles grau geworden.

Herr Karl Bates war durch das Entsetzen, das ihm Sikes Verbrechen eingeflößt hatte, auf den Gedanken gekommen, daß ein anständiges Leben am Ende doch das beste wäre. Er wandte deshalb dem Schauplatz seiner Vergangenheit den Rücken und nahm sich vor, einen ehrlichen Beruf zu ergreifen. Es kam ihm zwar anfangs hart an, aber nachdem er bei einem Bauern und einem Fuhrmann seine Lehrjahre bestanden, hat er sich auf den Viehhandel gelegt und ist einer der gewandtesten und lustigsten jungen Viehhändler von ganz Northamptonshire geworden.

An dem Altar der alten Dorfkirche befindet sich eine weiße Marmortafel, auf der nur das einzige Wort – Agnes – eingegraben ist. Sie bezeichnet keinen Sarg, der darunter liegt. Doch wenn die Geister der Toten auf die Erde zurückkehren, um Stellen zu besuchen, die durch die Liebe geheiligt sind – die über das Grab hinaus, reichende Liebe derjenigen, die sie im Leben kannten – so glaube ich, daß der Geist der armen Dulderin oft diese feierliche Stätte umschwebt, trotzdem die Stätte in einer Kirche ist und sie selbst schwach war und sündig.

53. Kapitel


53. Kapitel

Was John Westlock zu Tom Pinchs Schwester sagte; was Tom Pinchs Schwester zu John Westlock sagte; was Tom Pinch zu ihnen beiden sagte, und wie sie zusammen den Rest des Tages verlebten

Herrlich funkelte die Tempelfontäne im Sonnenschein, und lachend spielte ihre flüssige Musik, und lustig tanzten die Wassertropfen und guckten neckisch unter den Bäumen hervor und duckten sich augenblicklich wieder, um sich zu verbergen, als die kleine Ruth und ihr Begleiter vorbeikamen.

Warum das Pärchen sich der Fontäne näherte, ist ein Geheimnis; zu schaffen hatten sie dort nichts. Der Ort lag gar nicht auf ihrem Wege; im Gegenteil. Sie hatten mit der Fontäne ebensowenig zu tun wie mit der Liebe oder irgend etwas derart. Wenn Tom Pinch und seine Schwester sich an der Fontäne ein Rendezvous gaben, so war das etwas ganz anderes; wenn Ruth ein bißchen warten mußte, so wäre es sehr ärgerlich gewesen, dies an einem andern als einem hübschen ruhigen Orte zu tun; und in Anbetracht aller Umstände war dies hier ein so ruhiger Ort, wie sich nur einer finden ließ. Aber wenn Mr. Westlock sie nach Hause führen sollte und Arm in Arm mit ihr eine andere Richtung einschlug, so war doch der Umstand, daß sie zu derselben Fontäne gelangten, ganz außerordentlich.

Wie dem übrigens auch sein mag, sie waren da – und wie sonderbar, sie schienen wie in stummem Einverständnis hierher gewandert zu sein, und das Wunderbarste dabei war, daß sie nicht wenig staunten, sich plötzlich dort zu sehen, denn an und für sich liegt doch im Anblick einer Fontäne nichts so Verwirrendes.

»Was für ein hübsches Plätzchen das ist!« rief John; er sagte es voller Ernst und von tiefer Liebe zu dem Ort durchdrungen.

»Ja, ein reizendes Plätzchen«, bekräftigte die kleine Ruth; »so schattig!«

Sie blieben eine Weile stehn; der Tag war wunderschön, und da sie nun einmal stehenblieben, so war es ganz natürlich, daß sie auch einen Blick nach Garden Court hinunterwarfen, denn Garden Court führt in den Garten, der Garten an den Strom, und die Aussicht dahin ist so schön und schimmert wie Silber an einem Sommertag. Warum guckte also die kleine Ruth nicht mit hin? Warum bemühte sie sich so, ihren allerliebsten, winzigen, schmalen, kleinen Fuß mit aller Gewalt in den zersprungenen Winkel eines fühllosen alten Quadersteins im Pflaster zu pressen und der Lücke so genau anzupassen? Wenn die Matrone mit dem feuerroten Gesicht, die John den Haushalt führte, sie hätte sehen können, als sie zusammen weitergingen, hätte sie für ihre Stellung in Mr. Westlocks Haus in Furnivals Inn wohl nicht mehr viel gegeben.

Das Pärchen ging weiter. Aber nicht durch die Straßen von London, nein, durch eine verzauberte Stadt, wo das Straßenpflaster aus Luft gewebt war, sich das Toben und Lärmen der Geschäftigkeit zu sanfter Musik milderte, wo alles glücklich dahinlebte und Raum und Zeit verschwunden waren. Zwei gutmütige, stämmige Bierkutscher ließen gerade ein paar große Fässer in einen Keller hinunter, und als John Ruth über den Strick hinüberhalf oder sie vielmehr hinüberhob, meinten sie, er müsse ihnen außerordentlich dankbar sein für die prachtvolle Gelegenheit, die sie ihm boten; himmlische Bierkutscher!

Grüne, schöne Weide in der Sommerzeit, tiefes, weiches Stroh im Winter und ewigen Überfluß an Hafer und Klee wünschte John dem edlen Roß, das da vor dem Gig auf dem Pflaster tanzte und Ruth so erschreckte, daß sie seinen Arm mit beiden Händen umfaßte und ihn anflehte, zum Pastetenbäcker hineinzuflüchten, von wo sie dann erschrocken zur Türe hinausguckte und ihn mit ihren lieben Augen fragend ansah, ob er glaube, daß sie jetzt ungefährdet weitergehn könnten. Wäre doch ein ganzes Gespann mit Rossen, ein Löwe, ein Bär, ein toller Stier oder etwas derart gekommen, um sie abermals zu veranlassen, mit ihren Händchen seinen Arm zu umschlingen.

Sie plauderten – und unterhielten sich von Tom, von den Begebnissen des Tages, von der Zuneigung, die Mr. Chuzzlewit zu Tom gefaßt, von den glänzenden Aussichten, die diesem dadurch erwüchsen, und was dergleichen mehr war. Je angelegentlicher sie übrigens plauderten, desto ängstlicher vermied die kleine Ruth jede Pause, denn lieber wollte sie alles Gesprochene noch einmal sagen als schweigen. Und wenn sie doch die Geistesgegenwart verließ, was häufig genug stattfand, so sah sie noch zehntausendmal bezaubernder und unwiderstehlicher aus als zuvor.

»Martin wird vermutlich bald heiraten«, sagte John.

Ruth glaubte es gleichfalls, aber niemals hat wohl ein berückendes, kleines Frauenzimmerchen etwas mit so schwacher Stimme gelispelt wie Ruth.

Schon wieder voller Furcht, daß eine jener beunruhigenden Pausen im Anzüge sei, bemerkte sie rasch, Martin bekomme eine schöne Frau, und ob Mr. Westlock das nicht auch glaube.

»Ja«, sagte John, »– o – ja.«

Sie fürchtete, er sei schwer zu befriedigen, da er das so zögernd sage.

»Sagen Sie lieber, ich sei schon befriedigt«, versetzte John. »Ich habe sie kaum gesehen – kümmerte mich auch gar nicht um sie – ich hatte diesen Morgen keine Augen für sie.«

»O Gott!«

Es war gut, daß sie ihren Bestimmungsort erreicht hatten, denn Ruth wäre nicht imstande gewesen, weiterzugehen. Wie wäre es auch möglich gewesen bei solchem Zittern. – Tom war noch nicht nach Hause gekommen. Sie traten also in das dreieckige Wohnstübchen und waren allein. Matrone mit dem feuerroten Gesicht und dem zerknitterten Hut, wie wird es dir wohl jetzt ergehen!

Ruth setzte sich auf das kleine Sofa und knüpfte ihr Hutband los. John nahm neben ihr Platz – sehr, sehr, sehr nahe. – Wie wild ihr das Herzchen schlug!

»Liebste, angebetete Ruth, wenn ich Sie weniger liebte, hätte ich Ihnen längst sagen können, daß ich Sie anbete. Gleich von Anfang an war ich in Sie verliebt, und noch nie ist ein Wesen auf Erden wahrhaftiger geliebt worden als Sie, liebe Ruth, von mir.«

Sie verbarg das Gesicht in ihren Händen. Sie sagte nichts, aber ihre Tränen – Tränen der Freude, des Stolzes, der Hoffnung und der zitternden Liebe – aus ihrem übervollen jungen Herzen heraus waren Antwort genug.

»Angebetetste, wenn dieses Geständnis – und ich wage es fast zu hoffen – nicht schmerzlich oder betrübend für Sie ist, so machen Sie mich glücklicher, als ich auszusprechen vermag oder Sie sich denken können. Angebetete Ruth, meine gute, sanfte, bezaubernde Ruth, ich hoffe, daß ich den Wert Ihres Herzens und den Wert Ihrer engelreinen Seele zu schätzen weiß. Lassen Sie mich Ihnen beweisen, daß ich ihn kenne, und Sie werden mich glücklicher machen, Ruth –«

»Nein, nicht glücklicher«, schluchzte sie, »als Sie mich bereits machen. Niemand kann glücklicher sein, John, als ich es durch Ihre Liebe schon bin.«

Matrone mit dem feuerroten Gesicht und dem zerknitterten Hut, sehen Sie sich nach einer andern Stelle um. Mit Ihrem Regiment ist es jetzt vorüber – bemühen Sie sich nicht weiter.

Kein scheuendes Pferd, keine Löwen, keine Bären oder tollen Stiere waren mehr nötig: Ruths kleine Händchen falteten sich jetzt um Johns Arm auch ohne sie, und es war alles viel besser und hübscher so. Keine Bierkutscher, keine großen Fässer waren mehr nötig als Gelegenheitsmacher. Die weiche, kleine Hand legt sich scheu und ganz natürlich auf die Schulter des Geliebten, und wenn sämtliche Pferde Arabiens mit einem Male scheu geworden wären, so hätte es nicht besser ausfallen können.

Dann fing das Pärchen wieder an, von Tom zu sprechen.

»Ich hoffe, er wird sich freuen, wenn er’s hört«, sagte John mit leuchtenden Augen.

Ruth schloß ihre kleinen Händchen noch etwas fester zusammen bei diesen Worten und blickte liebevoll zu ihm empor.

»Ich muß ihn doch nie verlassen, nicht wahr, Geliebter? Ich glaube, ich könnte Tom nie verlassen.«

»Glaubst du denn, ich würde das von dir verlangen?« rief John und küßte sie auf die Lippen.

»Ich wußte es, daß du es nie verlangen würdest«, antwortete sie, und die hellen Tränen standen ihr in den Augen.

»Und ich will es dir schwören, Ruth, wenn du es willst. Tom verlassen! Das würde ein merkwürdiger Anfang sein. Tom verlassen, Geliebte! Wenn Tom und wir nicht unzertrennlich sind und er nicht alle Liebe in unserm Heim finden sollte, dann möge dieses Heim lieber nie existieren. Und das ist ein schwerer Eid, Ruth!«

»Tom wird so glücklich, so stolz und froh sein«, jubelte Ruth, zitternd vor Glück. »Aber wie er staunen wird! Ich weiß, er denkt nicht im entferntesten an eine solche Möglichkeit.«

Allmählich rückte sie dann mit dem heraus, was sie von Toms Geheimnis wußte, und wie sie es entdeckt hatte, und John war voll Leid und Teilnahme darüber. Aber sie wollten, sagte er, deswegen nur um so mehr versuchen, ihn glücklich zu machen und ihm seine Herzenswünsche an den Augen abzulesen. Und dann schilderte er ihr mit dem ganzen Eifer und der Innigkeit junger Liebe, wie er jetzt vortreffliche Gelegenheit habe, sich auf dem Lande als Baumeister niederzulassen. Wie er schon daran gedacht habe, er könne auf diesem Wege Tom eine Beschäftigung verschaffen und es einleiten, daß sie behaglich miteinander leben könnten, ohne daß Tom sich abhängig fühlen müßte. Und sie waren so glücklich, wie der Tag lang war. Freude im Herzen und in den Mienen, hörte Ruth dies alles mit an, und sie bauten sich Luftschlösser und kauften Tom im Geiste eine auserlesene Bibliothek und ließen eine Orgel für ihn bauen, auf der er dann nach Herzenslust spielen könne. Da mit einem Male hörten sie ihn an die Türe klopfen.

Wie sehr sich auch die kleine Ruth danach sehnte, ihrem Bruder alles Vorgefallene mitzuteilen, war sie doch bei seiner Ankunft sehr aufgeregt – um so mehr, als sie wußte, daß Mr. Chuzzlewit ihn begleitete. Sie fragte daher mit Zittern:

»Was soll ich nur tun, lieber John? Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß er es von jemand anderem als von mir hört, und doch bin ich nicht imstande, ihm alles mitzuteilen, wenn wir nicht allein sind.«

»Handle ganz, Geliebte, nach deinem natürlichen Instinkt, und wie es der Augenblick dir eingibt«, riet John. »Ich bin überzeugt, dann wird es am besten sein.«

Er hatte kaum ausgesprochen und Ruth kaum Zeit gehabt, auf dem Sofa ein bißchen weiter von ihm wegzurücken, als Tom und Mr. Chuzzlewit hereinkamen. Der alte Herr trat zuerst über die Schwelle, und Tom folgte ihm gleich darauf.

In der Geschwindigkeit hatte sich Ruth entschlossen, Tom für eine kleine Weile in das obere Stübchen hinauf zu winken und ihm dort alles zu gestehen. Als sie jedoch sein liebes, altes Gesicht in der Türe erscheinen sah, war sie so ergriffen, daß sie sich ihm in die Arme warf, ihr Köpfchen an seine Brust legte und schluchzend rief:

»Wünsche mir Glück, Tom! Mein lieber, lieber Bruder!«

Tom blickte sie überrascht an und sah dicht neben sich John Westlock stehen, der ihm die Hand entgegenstreckte.

»John!« rief Tom, »John!«

»Lieber Tom«, sagte Mr. Westlock bewegt, »gib mir die Hand; wir sind Schwäger, Tom.«

Tom faßte seine Hand mit beiden Händen, drückte sie mit aller Macht, umarmte dann seine Schwester mit Innigkeit und legte sie John Westlock an die Brust.

»Sage mir nichts weiter John! Das Geschick ist so gütig gegen uns – ich –«; er fand keine Worte mehr, sondern verließ das Zimmer, und Ruth folgte ihm.

Und als sie endlich wieder zurückkamen, sah Ruth noch schöner und Tom womöglich noch treuer und gütiger aus als je. Und wenn er auch, überwältigt von Freude, noch nicht imstande war, über die Sache zu sprechen, so legte er doch seine Hände mit einem Nachdruck in die seines Freundes, der mehr bekundete als die vollendetste Rede.

»Es freut mich, daß Sie den heutigen Tag dazu gewählt haben«, sagte Mr. Chuzzlewit zu Mr. Westlock mit demselben pfiffigen Lächeln wie damals, als sie sich getrennt hatten – »wenn ich mir’s auch gleich gedacht habe. Ich hoffe, Tom und ich sind doch entsprechend lang ausgeblieben? Es ist so lange her, seit ich selbst solche Dinge praktisch erlebte, daß ich schon ganz unsicher wurde.«

»Sie scheinen aber immer noch ziemlich genaue Kenntnisse davon zu besitzen, Sir«, erwiderte John lachend, »wenn Sie vorauszusehen imstande waren, was sich heute begeben würde.«

»Nun, ich wüßte eben nicht, Mr. Westlock«, sagte der alte Herr, »daß dazu besonders viel prophetische Gabe gehörte, nachdem ich Sie und Ruth zusammen gesehen habe. Aber kommen Sie jetzt zu mir, mein hübsches Kind, und sehen Sie mal, was ich und Tom diesen Morgen mitsammen gekauft haben, während Sie mit diesem jungen Handelsmann hier Ihre Geschäfte abmachten.«

Die Art, wie sich der alte Herr an ihre Seite setzte und sie fast wie ein Kind behandelte, war eigentlich recht komisch, aber doch so voller Innigkeit, daß einem das Herz dabei aufgehen mußte. Und wie vortrefflich die hübsche kleine Ruth zu dem hübschen Bild paßte.

»Also, sehen Sie mal her«, sagte er und nahm ein Etui aus der Tasche. »Was für ein hübsches Halsband, nicht wahr? Wie das blitzt! Und dazu ein Paar Ohrringe, Armbänder und ein Gürtel. Das gehört Ihnen. Für Mary habe ich denselben Schmuck gekauft. Tom konnte absolut nicht begreifen, wozu ich zwei brauchte. Kurzsichtig ist er, das muß man ihm lassen. Ohrringe, Armbänder und ein Gürtel, schön, nicht wahr? Lassen Sie jetzt mal sehen, wie es Ihnen steht! Mr. Westlock soll Ihnen selbst den Schmuck anlegen.«

Es war ein reizendes Bild, wie Ruth ihren runden, weißen Arm hinhielt und John tat, als wäre das Bracelett unendlich schwer zu befestigen, wie sie dann den schönen kleinen Gürtel anzog und dazu ebenfalls Johns Hilfe brauchte, weil ihre Finger so gar nicht gehorchen wollten. Und wie verwirrt und verschämt sie aussah, während die Glut ihre Wangen färbte und ihr Antlitz strahlte wie die funkelnden Juwelen. Es war das lieblichste Bild, das man unter den gewöhnlichen Erlebnissen eines ganzen Jahres nur sehen konnte.

»Der Schmuck und die Trägerin passen so vortrefflich zusammen«, sagte der alte Herr, »daß ich wahrhaftig nicht weiß, welches von den beiden eigentlich die Zierde ist. Mr. Westlock könnte mir darüber zwar ohne Zweifel Auskunft geben, aber ich will ihn nicht fragen, da er wohl nicht unparteiisch ist. Also, tragen Sie den Schmuck in Gesundheit und Glück, meine Liebe, und möge er Ihnen eine Erinnerung an einen Freund sein, der Sie liebt.«

Er klopfte sie auf die Wange und wendete sich zu Tom:

»Auch hier muß ich die Rolle des Vaters übernehmen, Tom. Es gibt nicht viele Väter, die zwei solche Töchter an demselben Tage verheiraten. Aber wir wollen die Unwahrscheinlichkeit den Grillen eines alten Mannes zuliebe übersehn; soviel Nachsicht müssen Sie mir schon schenken«, setzte er hinzu, »denn der Himmel weiß, ich habe in meinem ganzen Leben leider nur zu wenig Grillen befriedigt, die das Glück andrer im Auge hatten.«

Über diesen Gesprächen verging die Zeit so rasch, daß, ehe sie sich’s versahen, nurmehr eine Viertelstunde zur Mittagszeit fehlte. Aber ein Fiaker brachte sie bald nach dem Tempel, wo sie bereits alles für ihren Empfang vorbereitet fanden. Mr. Tapley war hinsichtlich Anordnung des Dinners mit unbeschränkter Vollmacht versehen worden und hatte sich seiner Aufgabe so ehrenvoll entledigt, daß unter seiner und seiner zukünftigen Gattin vereinter Leitung ein prachtvolles Bankett vorbereitet war. Mr. Chuzzlewit bestand darauf, daß auch sie bei Tische Platz nähmen, und der junge Martin unterstützte eifrig den Wunsch seines Großvaters, aber Mark ließ sich durch nichts dazu bewegen und bemerkte, die Ehre, solchen Gästen aufzuwarten, sei so überwältigend für ihn, daß er sich schon jetzt als Wirt im Gasthaus zum »Fidelen Tapley« fühle und sich nicht in dem Wahne stören lassen wolle, das Fest finde bereits unter dem Dache dieses trefflichen Hotels statt.

Und um sich in dieser Vorstellung noch mehr zu bestärken, gab Mr. Tapley allerhand Anweisungen über die Aufstellung der Gerichte usw. usw. an die im Geiste anwesenden Gasthauskellner, und da seine Befehle gewöhnlich den vorhergehenden zuwiderliefen und stets in der launigsten Weise ausgedrückt wurden, so veranlaßte das stets eine große Heiterkeit, in die Mr. Tapley jedesmal aufs herzlichste mit einstimmte. Der junge Martin saß oben an, Mr. Pinch unten an der Tafel, und wenn es ein Gesicht gab, das an Heiterkeit und Fröhlichkeit alle andern noch weit schlug, so war es das Toms.

Er war überhaupt für alle tonangebend. Jedermann trank ihm zu, jedermann blickte nach ihm hin, jedermann dachte an ihn, und jedermann liebte ihn. Er brauchte nur einen Augenblick Gabel und Messer aus der Hand zu legen, und schon stand jemand da, um ihm die freigewordene Rechte zu drücken. Vor dem Dinner hatten Martin und Mary an seiner Seite Platz genommen und so herzlich und innig von ihrem künftigen Glück mit ihm gesprochen, und sie betonten so nachdrücklich, daß es durch seine Gesellschaft und Liebe erst vollständig werde, daß er bis zu Tränen gerührt wurde. Es war einfach zu viel für ihn. Sein Herz zersprang fast vor Glück, wie er sagte, und das war beinahe die Wahrheit; so groß auch sein Herz war, so quoll es doch über an diesem Tage vor lauter Glück und Seligkeit.

Auch Mr. Fips, der alte Fips von Austin Friars, war beim Dinner zugegen und benahm sich wie die fidelste alte Haut, die nur jemals ihrem geselligen Temperament dadurch Zwang angetan, daß sie sich in ein dunkles Bureau eingeschlossen. »Wo ist er?« waren Mr. Fips‘ erste Worte, als er über die Schwelle trat. Und dann stürzte er auf Tom zu und beteuerte ihm, er wolle sich für seinen ganzen früheren Zwang jetzt schadlos halten. Zuerst drückte er ihm die eine Hand, dann die andre, dann faßte er ihn an der Weste, und dann fragte er ihn ununterbrochen: »Wie geht es Ihnen?« Und dann sang er Couplets und hielt Reden, und dem Weine setzte er so tüchtig zu wie nur einer.

Und das Glück, abends nach Hause zu gehen und in Erinnerungen an die schöne Nacht von Furnivals Inn zu schwelgen! Die Freude des jungen Paares, alle seine kleinen Pläne Tom mitzuteilen und mit anzusehn, wie sein Gesicht immer mehr und mehr strahlte.

Als sie zu Hause anlangten, ließ Tom seinen Freund und Ruth im Wohnzimmer und ging unter dem Vorwande, sich ein Buch zu suchen, in sein eignes Zimmer hinauf. Dabei dachte er wunder was er Schlaues ausgeführt habe.

»Selbstverständlich wollen sie allein sein«, sagte er sich, »und ich habe das jetzt so natürlich arrangiert, daß ich nicht zweifle, sie erwarten mich jeden Augenblick zurück. Es ist ein famoser Spaß.«

Er hatte aber noch nicht lange dagesessen und gelesen, als es an seine Türe klopfte.

»Darf ich hereinkommen?« fragte John.

»Freilich, freilich.«

»Geh, komm zu uns, Tom! Du darfst hier nicht so alleine sitzen; wir wollen dich fröhlich sehen und nicht melancholisch.«

»Mein lieber Freund« – begann Tom mit strahlendem Lächeln.

»Oho, Schwager! Tom, Schwager!«

»Also lieber Schwager«, fuhr Tom fort, »du brauchst keine Angst zu haben, daß ich traurig bin. Wie könnte ich es auch sein, wo ich weiß, daß du und Ruth beide so glücklich miteinander seid. – – Es kommt mir vor, ich bin heute ein großer Redner, John«, setzte er nach einer kleinen Pause hinzu; »aber trotzdem finde ich nicht die Worte, dir zu sagen, welch unaussprechliche Wonne mir an diesem Tag zuteil geworden ist. Es würde unpassend von mir sein und nicht angebracht, wenn ich darüber mit dir reden wollte, daß du ein mitgiftloses Mädchen heiraten willst, wo ich weiß, daß du ihren Wert erkennst – ja, ich bin fest überzeugt davon, und das ist mehr wert als alles Geld.«

»Da hast du recht, Tom!« entgegnete John. »Wer könnte sie sehen und nicht lieben! Wer sie kennt, Tom, der muß sie hochhalten. Wer müßte nicht im Besitz eines solchen Herzens gleichgültig gegen alle Schätze der Welt werden! Wer könnte das Glück und das Entzücken meiner Liebe fühlen, Tom, ohne nicht auch ihren Wert zu würdigen! Du sagtest, deine Freude sei unaussprechlich – nein, nein, Tom – die meinige ist es.«

»Nein, nein, John«, widersprach Tom – »die meinige, die meinige!«

Ihr freundschaftlicher Zwist wurde durch Ruth selbst geschlichtet, die jetzt zur Türe hereinguckte mit einem Blick, der deutlich verriet, wie sehr und von Herzen sie John liebte.

Was Tom betrifft, so war er im siebenten Himmel. Wie sie so an seiner Seite saßen, stundenlang hätte er da sitzen und sie ansehen können.

War es wohl töricht von ihm, sich zu freuen, daß sie in einer solchen Zeit an ihn gedacht hatten und wollten, er möge immer bei ihnen bleiben? Waren ihre Liebkosungen töricht? War es töricht von ihnen, daß sie erst so spät sich trennten? War es Torheit, daß John von der Straße aus noch lange zu Ruths Fenster emporblickte und den matten Schimmer von Licht dahinter höher als alle Diamanten der Erde schätzte? War es töricht, daß Ruth seinen Namen auf den Lippen trug und niederkniete und ihr reines Herz vor jenem ausschüttete, von dem solche Liebe herab auf Erden strahlt?

Wenn das lauter Torheiten sind, dann freue dich, Matrone mit dem feuerroten Gesicht und dem zerknitterten Hut! Wenn aber nicht – dann ist’s wohl aus mit deinen Diensten bei John Westlock. Dann setze deinen zerknüllten Hut für einen andern Junggesellen auf, denn mit dem Dienst ist es für immer vorbei.

54. Kapitel


54. Kapitel

Macht dem Autor große Sorge, da es das letzte in diesem Buche ist

Bei Todgers‘ herrschte große Aufregung, denn es galt, gewaltige Vorbereitungen für ein opulentes Frühstück zu treffen. Der segensreiche Tag war gekommen, an dem Miss Pecksniff mit Mr. Augustus Moddle durch das Band des heiligen Ehestandes für immer vereinigt werden sollte. Miss Pecksniff befand sich in einem Gemütszustand, der nicht nur der großen Veranlassung, sondern auch ihrer selbst vollständig würdig war. Sie troff förmlich vor Sanftmut und Versöhnlichkeit und hatte mehrere Kübel voll glühender Kohlen bereit, um sie auf die Häupter ihrer Feinde zu »sammeln«. Auch nicht die Spur von Groll oder Bosheit wohnte in ihrem Herzen.

Streitigkeiten in der Familie, betonte sie immer wieder, seien etwas Schreckliches, und wenn sie auch ihrem teuern Papa niemals verzeihen könne, so wolle sie doch ihre übrigen Verwandten empfangen. Sie sei viel zu lange getrennt gewesen, bemerkte sie, viel zu lange, als daß nicht der Himmel die schwersten Strafen über die Familie habe verhängen müssen. Daß Jonas‘ Tod eine Strafe Gottes für alle diese Zwistigkeiten war, davon war sie fest überzeugt, und in diesem Glauben wurde sie noch durch die Leichtigkeit bestärkt, mit der sie diese Heimsuchung zu ertragen wußte.

Um jetzt ein Opfer zu bringen – nicht etwa aus Triumph, sondern aus reiner Demut heraus –, schrieb sie daher an ihre starkgeistige Verwandte und teilte ihr mit, wann die Trauung stattfinden werde. Ihr und ihrer Töchter hochfahrendes Betragen sei zwar sehr verletzend gewesen, aber sie hoffe, daß sie von Gewissensbissen verschont geblieben wären. Sie wünsche nunmehr ihrerseits ihren Feinden zu vergeben und Frieden mit der ganzen Welt zu schließen, ehe sie zu der feierlichen Zeremonie schreite und den Lebensbund eingehe mit dem edelsten der Männer, und biete ihnen jetzt in Freundschaft die Hand. Wenn besagte starkgeistige Dame darauf eingehe, so lade sie (Miss Pecksniff) ihre sämtlichen Verwandten ein, der Trauung beizuwohnen, und bitte zugleich ihre drei rotnasigen Töchter (die Anspielung auf die Nasen ließ Miss Pecksniff natürlich weg), als Brautjungfern zu fungieren.

Die starkgeistige Dame antwortete darauf, daß sie und ihre Töchter, was das Gewissen anbeträfe, sich einer robusten Gesundheit erfreuten, was, wie sie überzeugt sei, Miss Pecksniff gewiß mit Freuden hören werde. Sie habe Miss Pecksniffs Schreiben mit größter Freude empfangen, um so mehr, als sie die armseligen Eifersüchteleien, mit denen sie und die ihrigen seinerzeit angegriffen worden wären, niemals ernst genommen, sondern stets als eine harmlose Quelle unschuldiger Erheiterung angesehen habe. Sie werde mit Freuden Miss Pecksniffs Trauung beiwohnen, und auch ihre lieben drei Töchter schätzten sich glücklich an einer so spannenden – und so überraschend kommenden – diese Worte hatte die starkgeistige Dame unterstrichen – Gelegenheit teilzunehmen.

Nach Erhalt dieser hoheitsvollen Zusage dehnte Miss Pecksniff ihre Amnestie und Einladung auch auf Mr. und Mrs. Spottletoe, auf Mr. George Chuzzlewit, den ledigen Vetter, auf das unverheiratete alte Fräulein, das stets Zahnweh hatte, auf den behaarten jungen Gentleman mit der unterexponierten Visage – kurz, auf sämtliche noch am Leben befindlichen Überbleibsel jener Gesellschaft, die sich dereinst in ihres Vaters Wohnstube versammelt hatte, aus. – In der Erfüllung der Pflichten läge eine Süßigkeit, bemerkte sie, als sie sämtliche Briefe zugeklebt und in den Postkasten geworfen hatte, die die Bitternisse des menschlichen Lebens mehr als ausglichen.

Die Hochzeitsgäste hatten sich noch nicht versammelt, und es war noch so früh am Morgen, daß Miss Pecksniff sich mit aller Muße ankleiden konnte, als in der Nähe des Monumentes ein Wagen vorfuhr und Mark, vom Bock springend, Mr. Chuzzlewit beim Aussteigen half. Der Wagen hielt und wartete. Ebenso Mr. Tapley. Mr. Chuzzlewit begab sich zu Todgers‘!

Die entartete Nachfolgerin Mr. Baileys geleitete ihn zum Speisesaal, wo gleich darauf – man hatte seinen Besuch erwartet – Mrs. Todgers erschien.

»Sie sind, wie ich sehe, zur Hochzeit angekleidet«, sagte Mr. Chuzzlewit.

Mrs. Todgers bejahte. Vor lauter Vorbereitungen war sie so wirr im Kopf, daß sie kaum wußte, was man sie gefragt hatte.

»Es stimmt durchaus nicht mit meinen Wünschen überein, daß sie gerade jetzt stattfinden soll, das kann ich Ihnen versichern, Sir«, sagte sie. »Aber Miss Pecksniff hat sich’s nun mal in den Kopf gesetzt, und Zeit ist es schließlich auch, daß sie sich verheiratet. Das ist nun mal nicht zu leugnen, Sir.«

»Nein«, gab Mr. Chuzzlewit zur Antwort. »Allerdings nicht. – Und ihre Schwester ist nicht mit dabei?«

»Ach Gott, nein. Das arme Ding!« seufzte Mrs. Todgers und schüttelte wehmütig den Kopf. »Seit sie das Entsetzliche erfahren hat, ist sie nicht aus meinem Zimmer gekommen – dem Zimmer nebenan, Sir.«

»Glauben Sie, daß sie gefaßt genug ist, mich zu sehen?« fragte Mr. Chuzzlewit.

»O sicherlich, Sir.«

»So will ich keine Zeit verlieren.«

Mrs. Todgers führte Mr. Chuzzlewit in die kleine Hinterstube mit der Aussicht auf die Zisterne, und da saß die arme Gratia in Trauerkleidern – ach, wie so ganz anders, als damals, als sie das erstemal hier gewohnt hatte. Das Zimmer sah so düster und kummervoll aus wie sie selbst, aber sie hatte wenigstens einen treuen Freund an ihrer Seite – den alten Chuffey.

Als Mr. Chuzzlewit neben ihr Platz nahm, ergriff sie seine Hand und drückte sie an die Lippen. Die Tränen standen ihr in den Augen. Seit ihrem Abschied auf dem Kirchhof hatte sie ihn nicht wiedergesehen.

»Ich habe vorschnell über Sie geurteilt«, begann Mr. Chuzzlewit nach einer Weile mit leiser Stimme. »Es war grausam von mir. – Sagen Sie mir, daß Sie mir verzeihen.«

Sie küßte ihm abermals die Hand und behielt sie in der ihrigen, dabei dankte sie ihm schluchzend für alle die Güte, die er ihr erwiesen.

»Tom Pinch«, fuhr Mr. Chuzzlewit fort, »hat mir getreulich alles berichtet, was Sie ihm für mich auftrugen, obschon er es damals für sehr unwahrscheinlich hielt, je Gelegenheit zu haben, Ihrem Wunsche entsprechen zu können. Glauben Sie mir, wenn ich je wieder mit einem übelberatenen und unentschlossenen Wesen zu tun haben sollte, das seine Stärke als vermeintliche Schwäche verbirgt, so will ich lange und barmherzig Nachsicht haben.«

»Ach, die hatten Sie mit mir«, antwortete Gratia, »bitte, reden Sie nicht so. Ich sagte mir Ihre Worte immer wieder vor, als mein Unglück kaum mehr erträglich war, und will sie jetzt für andere gebrauchen als Rat, wenn man dessen bedarf. Sie haben zu mir gesprochen, nachdem Sie mich Tag für Tag gesehen und lange beobachtet haben. Sie haben es wirklich gut mit mir gemeint. Sie hätten vielleicht freundlicher zu mir sprechen können und mein Vertrauen durch größere Milde zu gewinnen suchen sollen; aber der Ausgang wäre immer derselbe geblieben.«

Mr. Chuzzlewit schüttelte schmerzlich das Haupt und, wie es schien, nicht ohne Selbstvorwürfe.

»Wie kann ich annehmen«, fuhr Gratia fort, »daß Ihre Dazwischenkunft etwas genützt hätte, wo ich doch weiß, wie halsstarrig ich war! Damals dachte ich nicht an die Zukunft, mein lieber, guter Mr. Chuzzlewit – ich dachte überhaupt nicht – Überlegung war mir fremd, Herz hatte ich auch nicht, und ob er mich liebte, war mir ebenfalls gleichgültig. Erst die Not hat mich zur Besinnung gebracht, und ich würde meine Leiden nicht ungeschehen machen, selbst wenn ich könnte. Weiß ich doch, daß sie immer noch leicht sind, verglichen mit den Qualen, die hundert bessere Menschen als ich jeden Tag durchzumachen haben. Das Unglück ist mir wie ein Freund gewesen, ohne den ich immer dieselbe geblieben wäre, und nichts sonst hätte mich wohl so umzuwandeln vermocht. Mißtrauen Sie mir nicht, weil ich weine, aber ich kann meine Tränen nicht zurückhalten. Ja, ich bin dem Himmel dankbar für mein Unglück.

»Das ist sie, weiß Gott!« bekräftigte Mrs. Todgers. »Sie können es ihr glauben, Sir.«

»Ich glaube es auch«, sagte Mr. Chuzzlewit. »Aber jetzt hören Sie mich an, mein Kind. Das Vermögen Ihres verstorbenen Gatten wird vom Gericht mit Beschlag belegt werden, wenn es nicht schon aufgezehrt ist durch die große Schuldverschreibung an die bankerotte Versicherungsanstalt, die die Spitzbuben, da sie ihnen auf dem Kontinent drüben nichts nützte, hergeschickt haben – weniger um der Gläubiger willen, die sie geschädigt, als um ihren Haß gegen Jonas zu befriedigen; sie glauben, er sei noch am Leben. Das Vermögen Ihres Mannes ist daher wohl bis auf den letzten Penny verloren. Der Besitz Ihres Vaters ist in ähnlicher Weise herangezogen, und was vielleicht noch übrig bleibt, wird bestimmt auf dem Prozeßweg durch die Advokatenkosten drauf gehen. Von dieser Seite aus könnten Sie also auf keine Aufnahme rechnen.«

»Ich könnte es auch nicht über mich bringen, zu meinem Vater zurückzukehren«, rief Gratia, denn unwillkürlich drängte sich ihr der Gedanke auf, daß er mit schuld daran war, daß sie Jonas geheiratet hatte. »Ich könnte es nicht über mich bringen.«

»Ich weiß das«, sagte Mr. Chuzzlewit, »und eben weil ich es weiß, bin ich zu Ihnen gekommen. Kommen Sie mit mir. Ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß alle, die um mich sind, Sie herzlich willkommen heißen werden. Wenn Ihre Gesundheit wiederhergestellt sein wird und Sie sich erholt haben werden, um mit Ruhe diesen Empfang zu ertragen, so können Sie sich in der Nähe von London nach Belieben einen ruhigen Aufenthalt wählen – nicht gar zu weit entfernt, damit diese gute Frau, sooft es ihr gefällt, Sie besuchen kann. Sie haben viel gelitten, aber Sie sind noch jung, und eine bessere Zukunft erwartet Sie. Kommen Sie mit mir. Sagen Sie zu, denn ich weiß, daß Ihre Schwester Ihnen nicht helfen wird. Sie betreibt diese Heirat mit einer Hast und einer Ostentation, die, gelinde gesagt, kaum anständig ist und überdies unschwesterlich und schlecht. Verlassen Sie das Haus, bevor die Gäste ankommen, denn man hat vor, Ihnen wehe zu tun. Ersparen Sie Ihrer Schwester die Sünde und kommen Sie mit mir.«

Mrs. Todgers redete Gratia ebenfalls zu, obschon sie sich nur sehr ungern von ihr trennte. Sogar der alte Chuffey, der natürlich in den Plan mit eingeschlossen war, redete Mr. Chuzzlewits Vorschlag das Wort. Hastig kleidete sich Gratia an und war eben im Begriff, zu gehen, als ihre Schwester in das Zimmer stürzte.

Sie hatte nur Gratia zu finden gehofft und war daher in nicht geringer Verlegenheit, als sie auch Mr. Chuzzlewit erblickte. Ihre Frisur war zwar bereits herrlich aufgebaut, und sie hatte einen Hut mit Orangenblüten auf, um durch dessen Anblick ihre Schwester zu verletzen, aber sonst war sie noch im Unterrock.

»Sie wollen also heute Hochzeit machen, Miss?« fragte der alte Herr und musterte sie mit einem nicht sehr freundlichen Blick.

»Allerdings, Sir«, versetzte Charitas bescheiden. »Aber – o Gott der Aufzug – nein wirklich, Mrs. Todgers –«

»Ich sehe«, schnitt ihr Mr. Chuzzlewit das Wort ab, »Ihr Zartgefühl ist verletzt. Das überrascht mich nicht. Sie haben die Zeit zu Ihrer Vermählung eben ein wenig unglücklich gewählt.«

»Ich muß um Entschuldigung bitten, Mr. Chuzzlewit«, fuhr Charitas schnippisch auf, »aber wenn Sie diesbezüglich etwas einzuwenden haben, so muß ich Sie schon ersuchen, sich mit Augustus verständigen zu wollen. Es kommt mir nicht sehr gentlemanlike vor, daß Sie mir Vorstellungen machen, wo Augustus jederzeit besser mit Ihnen verhandeln könnte. Ich stehe den Betrügereien fern, die man an meinem Vater verübt hat, und da ich ausdrücklich wünsche, bei dem jetzigen feierlichen Anlaß mit jedermann aufs beste auszukommen, so hätte es mich gefreut, wenn Sie uns mit Ihrer Anwesenheit beim Frühstück beehrt hätten. Aber so, wie die Sachen stehen, will ich Sie natürlich nicht weiter belästigen. Ich sehe, daß Sie bereits von gewisser andrer Seite gegen mich eingenommen worden sind. Ich empfinde nun zwar eine natürliche Zuneigung zu dieser gewissen andern Seite und ein wohlangebrachtes Mitleid für ebendieselbe Seite, aber von Aufopferung meinerseits kann nicht mehr länger die Rede sein, Mr. Chuzzlewit. Das hieße zu große Anforderungen an mich stellen. Da habe ich denn doch zu viel Selbstachtung vor mir – schon als Braut des Mannes, der mich zum Altar führt.«

»Ihre Schwester hat sich durchaus nicht über Sie beklagt«, sagte Mr. Chuzzlewit; »übrigens steht sie jetzt im Begriff, mit mir zu gehen.«

»Es soll mich nur freuen, wenn es ihr endlich einmal nach Wunsch geht«; rief Miss Pecksniff und warf den Kopf zurück, »da kann man ihr ja von Herzen gratulieren. Ich wundere mich schließlich auch nicht, daß der heutige Tag ein schmerzliches Ereignis für sie bedeutet, aber meine Schuld ist es nicht, Mr. Chuzzlewit.«

»Miss Pecksniff«, sagte der alte Mann ruhig, »ich hätte es lieber gesehen, wenn Sie Ihrer Schwester ein herzlicheres Lebewohl gesagt hätten. Es hätte mich vielleicht mit Ihnen versöhnt. Früher oder später werden Sie gewiß einen Freund brauchen können.«

»Ich bitte um Verzeihung, Mr. Chuzzlewit«, unterbrach ihn Miss Pecksniff mit Würde, »aber alle meine Freundschaftsgefühle im Leben sind jetzt auf Augustus konzentriert. Solange Augustus mir gehört, brauche ich keinen Freund. Wenn Sie von Freundschaft sprechen, Sir, so muß ich Sie ein für allemal bitten, sich darüber mit Augustus zu verständigen. Das ist mein Begriff von der religiösen Feier, der ich in kurzer Frist mit Augustus am Altar beiwohnen werde. Ich trage zu keiner Zeit irgend jemandem Groll nach, und am allerwenigsten gebe ich solchen Gedanken in diesem Augenblick des Triumphs meiner Schwester gegenüber Raum. Ich wünsche ihr im Gegenteil alles Glück. Übrigens, da ich Augustus schuldig bin, bei einem Anlasse pünktlich zu sein, bei dem sich von ihm eine begreifliche Ungeduld voraussetzen läßt – ja wahrhaftig, Mrs. Todgers –, so muß ich jetzt um die Erlaubnis bitten, Sir, mich entfernen zu dürfen.«

Mit diesen Worten verschwand der Brauthut mit so viel Glanz und Würde, als es angesichts des Piqueunterrockes noch möglich war.

Mr. Chuzzlewit reichte Gratia seinen Arm, ohne ein Wort zu sagen, und führte sie hinaus. Mrs. Todgers mit im Winde rauschendem Sonntagsstaat begleitete sie an den Wagen, fiel Gratia beim Abschied um den Hals und lief dann schluchzend in ihr schmutziges Heim zurück. Äußerlich war die Brave mager und unscheinbar, aber ihr Herz war treu wie Gold. Vielleicht war der Samariter auch mager und unscheinbar – vielleicht fiel es auch ihm schwer, sich seinen Unterhalt zu erwerben.

Mr. Chuzzlewit folgte ihr mit den Blicken, bis sie die Haustüre hinter sich zugemacht hatte. Dann erst bemerkte er Mr. Tapley.

»Oh, Mark«, rief er, »ich habe Sie ja gar nicht gesehen. Nun, was gibt’s?«

»Das Allerwunderbarste, das man sich nur denken kann, Sir«, rief Mark ganz außer Atem, »ein Zusammentreffen ohnegleichen. Ich will hellblau anlaufen, wenn das da drüben nicht unsre beiden alten Nachbarn sind.«

»Was für Nachbarn?« rief der alte Herr und spähte zum Wagenfenster hinaus. »Wo denn?«

»Ich ging gerade auf und ab, und keine zehn Schritte von hier«, berichtete Mr. Tapley, »da kamen sie auf mich zu wie ihre eigenen Gespenster – für die ich sie übrigens auch hielt. Es ist das wundervollste Ereignis, das sich jemals zugetragen hat. Da hol mich doch gleich dieser und jener –«

»Von was reden Sie denn?« rief Mr. Chuzzlewit, von Marks Aufregung angesteckt. »Wo sind denn die Nachbarn?«

»Dort, Sir«, rief Mr. Tapley, »hier mitten in der City von London. Dort auf dem Stein. Dort sind sie, Sir. Ich werde sie doch kennen. Gott segne ihre braven Gesichter.«

Dabei deutete Mr. Tapley auf einen Mann und eine Frau in dem Monumenthof, eilte auf sie zu und umarmte sie abwechselnd wohl hundertmal.

»Nachbarn in Amerika, Nachbarn in Eden«, rief er dabei. »Nachbarn im Sumpf, Nachbarn im Busch, Nachbarn im Fieber. Wir beiden wären ohne sie gestorben.«

Mr. Chuzzlewit hatte kaum erfahren, wer die Leute waren, als er den Kutschenschlag weiß Gott wie aufsprengte, fast herausfiel und unter sie humpelte, als ob er, wie Mr. Tapley wahnsinnig geworden sei. Dann schüttelte er ihnen gleichfalls die Hände und legte auf jede nur mögliche Weise seine lebhafteste Freude an den Tag.

»Steigen Sie hinten auf!« rief er. »Steigen Sie auf, fahren Sie mit mir! Und Sie müssen sich auf den Bock setzen, Mark! Nach Hause, nach Hause!«

»Nach Hause, nach Hause!« jubelte Mr. Tapley und ergriff in einem Anfall von Begeisterung die Hand des alten Mannes. »Ganz meine Ansicht, Sir. Die Heimat soll leben. – Entschuldigen Sie, daß ich mir solche Freiheiten herausnehme, Sir, aber ich kann mir nicht helfen. Es blühe und gedeihe der ›Fidele Tapley‹! Alles sollen Sie bekommen, was im Hause zu kriegen ist, nur keine Rechnung nicht. – Also, nach Hause, nach Hause! Hurra!«

Und vorwärts ging’s, als der alte Herr wieder eingestiegen war. Und Marks Begeisterung verflog durchaus nicht auf dem Wege, sondern machte sich so zügellos und rücksichtslos Luft, als wären sie mitten in den Wiesen von Salisbury.

Die Hochzeitsgäste bei Todgers‘ begannen sich zu versammeln.

Mr. Jinkins, der einzige von den Kostgängern, der eingeladen war, fand sich zuerst an Ort und Stelle ein. Er trug einen funkelnagelneuen Anzug mit allerlei gewundenen Verzierungen um die Taschen herum, die der Kleiderkünstler extra zu Ehren des Tages erfunden hatte. Der unglückliche Augustus war selbst in bezug auf Mr. Jinkins nachsichtig geworden. Er hatte nicht genug Willenskraft mehr gehabt, sich seiner Einladung, die Miss Pecksniff so dringend befürwortet, zu widersetzen. »Meinetwegen soll er also kommen«, hatte er Miss Pecksniff gesagt. »Er war von jeher meine Todesklippe; soll er nur kommen. Haha! Jinkins soll nur kommen.«

Und Mr. Jinkins hatte sich mit tausend Freuden eingestellt; er war jetzt, wie gesagt, der erste am Platze. Einige Minuten lang hatte er keine andere Gesellschaft als das Frühstück, das im Empfangszimmer ungemein geschmackvoll aufgebaut war. Bald fand sich jedoch auch Mrs. Todgers ein, und dann folgten rasch aufeinander der ledige Vetter, der stark behaarte junge Gentleman und schließlich auch Mr. Spottletoe samt Gemahlin.

Mr. Spottletoe beehrte Mr. Jinkins mit großer Herablassung und Leutseligkeit. »Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte er, »und viel Glück und Segen.« Er war nämlich der Meinung, Mr. Jinkins sei der Glückliche.

Mr. Jinkins klärte sofort das Mißverständnis auf und verständigte die Herrschaften, daß er lediglich die Honneurs für seinen Freund Moddle mache, der nicht mehr im Hause wohne und noch nicht zugegen sei.

»Noch nicht da?« rief Mr. Spottletoe sehr erregt.

»Nein, noch nicht.«

»No Servus«, rief Mr. Spottletoe, »der fängt ja gut an. Scheint ein recht netter junger Mann zu sein! Möchte nur gerne wissen, wie’s kommt, daß jeder, der mit dieser Familie in Berührung kommt, sich eine grobe Ungebührlichkeit zuschulden kommen läßt. Tod und Teufel! Noch nicht da! Noch nicht da, um uns zu empfangen!«

Der Neffe mit der unterexponierten Visage meinte, der Herr warte vielleicht auf ein Paar neue Stiefel.

»Reden Sie nicht von Stiefeln, Sir!« verwies Mr. Spottletoe mit nicht zu hemmender Entrüstung. »Und wenn er in Pantoffeln oder barfuß kommen müßte, so gehörte es sich, daß er käme. Bringen Sie keine so dummen Entschuldigungen für Ihren Freund vor, Sir!«

»Er ist doch gar nicht mein Freund!« entschuldigte sich der Neffe. »Hab ihn doch gar nie gesehen.«

»Also, dann reden Sie nicht!« rief Mr. Spottletoe.

In diesem Augenblick ging die Türe auf, und Miss Pecksniff wankte, von ihren drei Brautjungfern gestützt, herein. Die starkgeistige Dame bildete die Nachhut. Sie hatte bisher draußen gewartet, um im richtigen Moment den Effekt zu verderben.

»Wie befinden Sie sich, Madame?« wendete sich Mr. Spottletoe im Tone feindseliger Herausforderung zu ihr. »Ich glaube, die Anwesenheit meiner Gattin dürfte Ihnen doch nicht entgangen sein? Oder?«

Die starkgeistige Dame bedauerte mit der Miene des größten Interesses Mrs. Spottletoes Gesundheitszustand, da die liebe Frau so schmal geworden sei, daß man sie de facto übersehen müsse.

»Na, sie ist wenigstens eher zu sehen als der Bräutigam, Madame«, entgegnete Mr. Spottletoe gereizt. »Das heißt, wenn er nicht gerade seine Aufmerksamkeit einem besonderen Zweige dieser Familie widmet, was übrigens ganz im Einklang mit seinem gewöhnlichen Benehmen stehen würde.«

»Wenn Sie mich meinen, Sir«, fing die Dame mit dem männlichen Geiste an –

»Bitte, bitte«, fiel ihr Miss Pecksniff ins Wort, »lassen Sie Augustus in diesem feierlichen Moment meines und seines Lebens nicht zum Anlaß der Störung jener Harmonie werden, die er und ich stets aufrechtzuerhalten wünschen. Augustus ist bisher noch keinem von meinen Verwandten vorgestellt worden. Er wünschte es nicht.«

»Nun, dann erlauben Sie mir die Bemerkung«, rief Mr. Spottletoe wütend, »daß der Mann, der nach der Ehre trachtet, sich dieser Familie anzuschließen, und nicht ›haben will‹, daß er ihren Mitgliedern vorgestellt werde – ein unverschämter Laffe ist. Das ist meine Ansicht von ihm.«

Die starkgeistige Dame gab mit größter Sanftmut zu, sie sei beinahe derselben Meinung, und ihre drei Töchter erklärten laut, es sei »eine Schändlichkeit«.

»Sie kennen Augustus nicht!« rief Miss Pecksniff unter Tränen. »Nein, wirklich, Sie kennen ihn nicht. Er ist die Demut und Milde selbst. Warten Sie nur, bis Sie ihn sehen, und ich bin überzeugt, er wird sich sofort Ihrer aller Herzen gewinnen.«

»Es handelt sich hier nur um die Frage«, rief Mr. Spottletoe dazwischen und verschränkte die Arme, »wie lange wir hier noch warten sollen! Ich bin an so etwas nicht gewöhnt! Ich verlange allen Ernstes zu wissen, wie lange man uns noch zumutet, hier zu warten.«

»Mrs. Todgers! Mr. Jinkins!« rief Charitas. »Ich fürchte, es liegt hier ein Mißverständnis vor. Wahrscheinlich ist Augustus direkt in die Kirche gegangen.«

Das war allerdings möglich, und da die Kirche sich in der Nähe befand, eilte Mr. Jinkins fort, um Mr. Moddle zu suchen. Mr. George Chuzzlewit, der ledige Vetter, begleitete ihn, da ihm alles lieber war, als in der Nähe eines Frühstücks zu sitzen, ohne zugreifen zu dürfen. Aber sie kamen beide zurück und brachten keine andere Nachricht mit, als daß der Küster sagen lasse, wenn sie diesen Morgen noch getraut werden wollten, würden sie gut tun, sich zu beeilen, da der Pfarrer durchaus keine Lust habe, den ganzen Tag zu vertrödeln. Die Braut wurde jetzt sehr unruhig – allen Ernstes unruhig. »Gott im Himmel, was konnte vorgefallen sein. Augustus! Geliebter Augustus!«

Mr. Jinkins machte sich erbötig, eine Droschke zu nehmen und in der neu möblierten Wohnung nachzusehn. Auch die starkgeistige Dame sprang Miss Pecksniff mit Trost bei. Es sei das ein kleines Pröbchen von dem, was ihrer in der Ehe harre, sagte sie. Das sei ganz gut und treibe ihr die Rosinen aus dem Kopf. Auch die rotnasigen drei Töchter sparten nicht mit Trostesworten. Vielleicht komme er schließlich doch noch, sagten sie, und der Neffe mit dem unterexponierten Gesicht warf etwas hin, was so klang wie: Augustus sei schon »vorzeitig ins Wasser gesprungen«. Mr. Spottletoes Wut trotzte allen Bitten und Vorstellungen seiner Gattin. Alle sprachen zugleich, und überall suchte sich Miss Pecksniff mit gerungenen Händen Trost, ohne welchen zu finden, als endlich Mr. Jinkins, der unter der Türe dem Postboten begegnet war, mit einem Brief zurückkehrte und ihn ihr aushändigte.

Miss Pecksniff riß das Kuvert auf, warf einen Blick auf das Schreiben, stieß einen durchdringenden Schrei aus, warf es auf den Boden und fiel in Ohnmacht.

Man hob den Brief auf. Die Anwesenden drängten sich wie eine Herde Schafe zusammen, sahen einander über die Achsel und lasen, wie folgt:

Gravesend, Schoner »Cupido«. Mittwoch abend.

Ewig gekränkte Miss Pecksniff!

Ehe diese Zeilen Sie erreichen, ist der Unterzeichnete, wenn nicht tot – so doch direkt auf dem Wege nach Van Diemens Land.

Es hat keinen Zweck, mich zu verfolgen. Lebendig wird man mich nicht bekommen.

Die Last – dreihundert Registertonnen, verzeihen Sie, daß ich in meiner Betäubung von dem Schiff spreche –, die auf meinem Herzen gelegen hat, war fürchterlich. Oft, wenn Sie meine Stirne mit Küssen bedeckten, um mich zu beschwichtigen, haben Selbstmordgedanken mein Gehirn durchzuckt, und ebensooft – so unglaublich es auch scheinen mag – habe ich die Idee wieder verworfen.

Ich liebe eine andre. Aber die gehört jetzt einem andern. Alles, was ich liebe, scheint überhaupt einem andern zu gehören. Nichts in der Welt habe ich mehr, nicht einmal meine Stelle, die ich mir verscherzte – indem ich übereilterweise so auf und davon gelaufen bin.

Wenn Sie mich je geliebt haben, so hören Sie jetzt meine letzte Bitte – die letzte Bitte eines elenden, vernichteten Flüchtlings: Schicken Sie beiliegenden Schlüssel – es ist der Schlüssel zu meinem Pult – aufs Kontor, und zwar expreß. Adresse: Bobb & Cholberry – pardon, ich wollte schreiben: Chobb & Bolberry – aber mein Geist ist bereits vollkommen umnachtet. Ich habe ein Federmesser – mit einem Hirschhornheft in Ihrem Nähetui gelassen, bezahlen Sie damit den Boten. Möge es ihn glücklicher machen, als ich gewesen bin.

Ach, Miss Pecksniff, warum haben Sie mich nicht in Ruhe gelassen! War es nicht grausam – grausam von Ihnen? O mein Gott, waren Sie denn nicht Zeuge meiner Empfindungen – haben Sie denn nicht die Tränen in meinen Augen gesehen – haben Sie mir nicht selbst vorgeworfen, daß ich an jenem schrecklichen Abend, als wir uns zum letzten Male sahen, mehr als gewöhnlich geweint hätte? Es war in demselben Hause wo ich einst friedlich wohnte – in Mrs. Todgers‘ Gesellschaft.

Aber es war bestimmt – im Talmud steht’s geschrieben –, daß Sie sich selbst in das unerforschliche und düstre Schicksal verstricken sollten, das zu erfüllen meine Sendung ist, und das sich sogar jetzt um meine Schläfen windet. Ich will Ihnen keine Vorwürfe machen, denn ich habe Ihnen viel Leid zugefügt. Möge das angeschaffte Mobiliar Ihnen als Schadenersatz dienen.

Leben Sie wohl! Werden Sie die stolze Braut eines Herzogs und vergessen Sie mich! Möge es lange dauern, bis Sie das Leid und den Schmerz kennenlernen, mit dem ich mich unterschreibe – mitten unter dem rohen Geheul – der Matrosen – als Ihr unveränderlicher, jedoch niemals der Ihrige gewesene

Augustus.

Die Herrschaften lasen so gierig den Brief und dachten so wenig an Miss Pecksniff, als ob sie die allerletzte auf Erden sei, die sein Inhalt etwas angehe. Aber Miss Pecksniff war allen Ernstes ohnmächtig geworden.

Die bittere Kränkung, das entsetzliche Gefühl, Zeugen – und noch obendrein solche Zeugen – selbst dazu eingeladen zu haben, der Gedanke, daß die starkgeistige Dame und die rotnasigen Töchter gerade in der Stunde, in der sie sie hatte demütigen wollen, triumphieren sollten! nein, das war unerträglich. Miss Pecksniff war allen Ernstes in Ohnmacht gefallen.

Was dröhnen da für erhabene Töne durch die Luft? Was ist das für eine dämmrige Stube?

Und wer ist die freundliche Gestalt, die dort vor der Orgel sitzt? Tom ist’s, der gute alte Freund! Sein Haar ist frühzeitig grau geworden, trotzdem er seine Tage sorglos und friedvoll inmitten seiner alten Freunde verbracht hat. Aus den Tönen, mit denen er das Zwielicht zu begrüßen pflegt, spricht die Musik seines Herzens und erzählt sich die Geschichte seines Lebens von selbst.

Dein Leben verläuft still, ruhig und glücklich, Tom. In deinen sanften Melodien mag so etwas durchklingen wie das Gedenken an deine alte Liebe, aber es ist eine angenehme, milde, süßflüsternde Erinnerung, ähnlich der, mit der wir hin und wieder der Toten gedenken. Sie quält und schmerzt dich nicht.

Rühre die Tasten leise, Tom, so leise, wie du willst, und doch wird deine Hand nicht halb so leicht auf das Instrument niederfallen, wie sie gegen deinen alten Tyrannen ist, der jetzt so tief, tief gesunken ist. Und nie wird das Instrument deinem Anschlage mit so hohlem heiserm Tone antworten, wie er es immer zu tun pflegt.

Ein betrunkener, bettelhafter Winkelschreiber namens Pecksniff mit seiner zänkischen, altjüngferlichen Tochter verfolgt dich und lauert auf dich, Tom, bettelt dich an und erinnert dich, daß er dein Glück besser begründet habe als sein eigenes. Dann versäuft er das Geld und erzählt den Zechkumpanen von seiner früheren Freigebigkeit gegen dich und deiner jetzigen Undankbarkeit. Und dann zeigt er auf die abgeschabten Ellbogen in seinen Ärmeln, legt seine sohlenlosen Schuhe auf die Bank und bittet seine Zuhörer, sich selbst zu überzeugen, wie es ihm ergehe, während du dahinlebest in Saus und Braus. Alles das weißt du, Tom. Und doch hast du Nachsicht mit ihm.

Mit lächelnder Miene gehst du jetzt allmählich in eine andere Tonart über, zu einem raschern, fröhlichen Takt, und kleine Füßchen fliegen bei dieser Musik, dich zu umtanzen, und leuchtende junge Augen blicken in dein Antlitz, und von allen am meisten liebst du ein kleines Geschöpfchen, Tom – ihr Kind, nicht Ruths –, du blickst ihm nach, wie es dich umtanzt und umhüpft; und wer ist bisweilen verwundert, dich so gedankenschwer zu sehen, und klettert auf dein Knie, um seine kleine Wange an die deine zu legen? – Wer liebt dich, Tom, mehr als alle übrigen, wenn das möglich ist? Wer wollte einmal in kranken Tagen von niemandem als von dir gepflegt sein und war sofort still und nicht mehr ungeduldig, Tom, als du neben seinem Bettchen saßest?

Und jetzt gehst du zu einer feierlichen Melodie über – zu einer Melodie, die alten Freunden und verklungenen Zeiten gewidmet ist. Und während deine Hand zögernd die Tasten berührt und die weichen Harmonien anschwellen, steigen Gesichte von Freunden und alten Zeiten vor dir auf. Der Geist jenes toten alten Mannes, der dir deine Wünsche von den Augen ablas, und dich nie hochzuhalten aufgehört hat, ist darunter. Und mit ruhigem Antlitz wiederholt er die Worte, die er auf seinem Totenbett zu dir sprach, und segnet dich.

Und aus dem Garten, Tom, den Kinderhände mit Blumen bestreut haben, kommt deine Schwester, die kleine Ruth, so leichtfüßig und leichtherzig wie in alten Tagen, um an deiner Seite Platz zu nehmen. Von der Gegenwart und der Vergangenheit, mit der sie in allen deinen Gedanken so zärtlich verbunden ist, schwingen sich deine Melodien zur Zukunft auf. Und wie es in und außer dir widerhallt, so blickt dein leuchtendes Gesicht auf sie mit einer Liebe und einem Vertrauen nieder, die über das Grab hinausgehen. Die erhabene Musik umgibt sie mit einer Wolke von Melodien, hilft jeden Gedanken an irdische Trennung tilgen und hebt euch beide, Tom, zum Himmel empor.

6. Kapitel


6. Kapitel

Enthält nebst wichtigen Pecksniffschen und architektonischen Dingen einen ausführlichen Bericht über die Fortschritte, die Mr. Pinch in dem Vertrauen und der Freundschaft des neuen Zöglings machte

Es war Morgen, und die schöne Aurora, von der schon so viel geschrieben, gesagt und gesungen worden, zupfte mit ihren Rosenfingern Miss Pecksniff an der Nase. Die rosenfarbene Göttin hatte nun einmal schon die Gewohnheit, die schöne Cherry jeden Morgen so zu begrüßen, oder, prosaischer ausgedrückt, die Nasenspitze des süßen Mädchens war jedesmal um die Frühstücksstunde lebhaft gerötet, sozusagen: frostig; während sich ein ähnliches Phänomen in der Laune der jungen Dame zeigte, die dann etwas scharfer und sauertöpfischer Qualität war und etwas Essigartiges hatte.

Diese überschüssige Säure führte gewöhnlich zu allerhand kleinen Folgen, als da waren: bedeutende Verwässerung von Mr. Pinchs Tee, ungewöhnliche Verkürzung seiner Person hinsichtlich der Butter und dergleichen. Am Morgen nach dem Empfangsbankett jedoch ließ sie ihn so frei und ungehindert mit Speise und Trank schalten und walten, daß er förmlich in Verwirrung geriet und sich wie ein unglücklicher Gefangener vorkam, der erst im hohen Alter seine Freiheit wiedererlangt und von ihr keinen rechten Gebrauch mehr zu machen weiß. Es fehlte ihm die gütige Hand, die ihm sonst immer sein Scheibchen Brot abschnitt, ihn hinsichtlich des Zuckers mit einem Stückchen abspeiste oder ihm die übrigen so liebgewordenen kleinen Aufmerksamkeiten erwies. Auch lag etwas fast Schauerliches in der Ungeniertheit des neuen Zöglings, der mit der größten Kaltblütigkeit Mr. Pecksniff um das Brot »bemühte« und sich sogar zu einer Schnitte von dem ausschließlich dem Herrn vom Hause reservierten Privatschinken verhalf. Und dabei schien er überdies zu glauben, das alles sei ganz in der Ordnung und sein Kollege werde seinem Beispiele folgen. Wenigstens ging das deutlich aus seiner Bemerkung hervor, »warum er denn nicht esse?« – Ein Wort, so inhaltsschwer und fürchterlich, daß Tom unwillkürlich die Augen niederschlug und sich wie ein Frevler an Mr. Pecksniffs Güte vorkam. Wirklich, das Entsetzen, eine so rücksichtslose Bemerkung vor der versammelten Familie an sich gerichtet zu wissen, mußte an sich schon wie ein Frühstück wirken. Der Bissen quoll ihm im Munde, obgleich er vielleicht noch nie so hungrig gewesen war wie gerade heute.

Die jungen Damen jedoch und auch Mr. Pecksniff blieben trotz dieser schweren Prüfung unverändert guter Laune, und es schien eine Art geheimen Einverständnisses unter ihnen zu herrschen. Als das Frühstück beinahe vorüber war, erklärte Mr. Pecksniff lächelnd die Ursache dieser allgemeinen Fröhlichkeit.

»Es geschieht nicht oft, Martin«, sagte er, »daß wir – meine Töchter und ich – unser ruhiges Haus verlassen, um uns in den Wirbel von Lustbarkeiten, die es draußen in der Welt gibt, zu stürzen. Aber heute gedenken wir es dennoch zu tun.«

»Wirklich, Sir?« rief der neue Schüler.

»Ja«, versetzte Mr. Pecksniff und klopfte auf einen Brief, den er seiner Brusttasche entnommen hatte. »Ich bin nach London bestellt. – In Berufsangelegenheiten, mein lieber Martin; – in Berufsangelegenheiten. Ich habe nun meinen Mädchen schon lange versprochen, sie mitzunehmen, wenn wieder einmal ein solcher Auftrag an mich erginge. Wir fliegen heute abend mit der Landkutsche aus – wie weiland Noahs Taube, mein lieber Martin –, und es wird wohl eine Woche vergehen, ehe wir unsre Ölzweige wieder in der Flur abladen. Wenn ich sage: ›Ölzweige‹«, erklärte Mr. Pecksniff, »so verstehe ich darunter unser bescheidenes Reisegepäck.«

»Ich hoffe, die jungen Damen werden viel Vergnügen auf ihrem Ausfluge haben«, sagte Martin.

»Oh, das können Sie sich denken!« rief Gratia und klatschte in die Hände. »Denk nur, Cherry, Herzensschwester: London! – Schon der Gedanke!«

»Feuriges Kind!« säuselte Mr. Pecksniff träumerisch. »Und doch liegt eine wehmütige Süßigkeit in diesen jugendlichen Hoffnungen! Es liegt etwas Angenehmes darin, zu wissen, daß sie nie in Erfüllung gehen können. Ich erinnere mich noch wie heute, daß ich in den Tagen meiner Kindheit wähnte, die Mixed Pickles wüchsen auf den Bäumen und jeder Elefant würde mit einer unbezwingbaren Burg auf dem Rücken geboren. Dann fand ich, daß sich die Sache anders verhielt; – und doch waren mir diese Phantasiegebilde ein Trost und eine Stärkung in den Stunden der Anfechtung. Selbst als ich die schmerzliche Entdeckung machen mußte, ich habe eine Viper am Busen genährt und nicht einen menschlichen Zögling, selbst in diesen schmerzvollen Stunden haben sie mich aufrechterhalten.«

Bei dieser schrecklichen Anspielung auf John Westlock quoll Mr. Pinch abermals der Bissen im Munde, denn er hatte erst heute morgen einen Brief von ihm erhalten, was Mr. Pecksniff natürlich recht gut wußte.

»Sie werden achtzugeben haben, mein lieber Martin«, sagte Mr. Pecksniff, seinen frühern heitern Ton wieder aufnehmend, »daß das Haus in unsrer Abwesenheit nicht davonläuft. Wir übergeben alles Ihrer Obhut. Wir haben kein Geheimnis vor Ihnen. Alles liegt frei und offen da. Nicht wie bei dem jungen Mann im morgenländischen Märchen. Nicht wie diesem, mein lieber Martin, ist es Ihnen verboten, gewisse Winkel dieses Hauses zu betreten. Sie werden im Gegenteile ersucht, sich’s überall so bequem zu machen, wie Sie nur wollen. Seien Sie fröhlich und lassen Sie sich’s gutgehen, lieber Martin, und schlachten Sie meinetwegen auch das Mastkalb!«

Ohne Zweifel hatte also der Treffliche durchaus nichts dagegen, wenn der junge Mann was immer für ein Kalb im Hause, fett oder mager, schlachtete und briet; da indes zufälligerweise kein solches Tier auf Mr. Pecksniffs Weideland graste, so mußte man diese Erlaubnis offenbar eher für eine höfliche Phrase als für eine buchstäblich zu nehmende Einladung halten. Sie bildete das Schlußornament der Unterhaltung, denn kaum hatte sie Mr. Pecksniff von sich gegeben, stand er auf und ging nach dem Treibhause architektonischen Genies, nämlich nach dem Vorderstübchen im zweiten Stock, voran.

»Lassen Sie mal sehen«, begann er und stöberte unter den Plänen herum, »wie Sie sich während meiner Abwesenheit am besten beschäftigen können. Gesetzt, Sie arbeiteten eine Idee zu einem Monument für den Lord-Mayor von London aus, oder einen Grabstein für einen Sheriff, allenfalls auch einen Kuhstall für den Meierhof eines Landedelmannes. – – Nun, wissen Sie was«, fügte er hinzu, faltete die Hände und sah seinen jungen Vetter mit nachdenklichem Interesse an, »ich möchte mich gern überzeugen, wie Sie sich einen Kuhstall denken.«

Martin schien diese Aufgabe keineswegs zu behagen.

»Oder einen Brunnen«, fuhr Mr. Pecksniff fort, »es ist eine nette, sozusagen keusche Arbeit. Auch habe ich gefunden, daß ein Laternenpfahl sehr geeignet ist, den Geist zu veredeln und ihm eine klassische Richtung zu geben. Ein ornamentaler Schlagbaum zum Beispiel übt einen merkwürdigen Einfluß auf die Einbildungskraft aus. – Was meinen Sie dazu, wenn Sie mit einem Schlagbaume anfingen?«

»Ganz, wie es Ihnen beliebt«, brummte Martin unschlüssig.

»Halt«, rief Mr. Pecksniff. »Ich hab’s. Da Sie ehrgeizig und ein geschickter Zeichner sind, so sollen Sie sich – ha, ha! – so sollen Sie sich an diesen Entwürfen zu einem Elementarschulgebäude versuchen, wobei Sie natürlich Ihren Plan den gedruckten Bedingungen anzupassen hätten. Auf mein Wort«, rief er aufgeräumt, »ich bin sehr neugierig, was Sie aus der Elementarschule machen werden. Wer weiß, ein junger Mann von Ihrem Geschmack verfällt vielleicht auf etwas zwar an und für sich Unausführbares und Unmögliches, das sich aber schließlich doch in eine Form bringen läßt. Allerdings, mein lieber Martin, in den letzten vervollkommnenden Strichen allein gibt sich lange Erfahrung und vieljähriges Studium zu erkennen. – – – Ha, ha, ha! Es wird mir wahrhaftig«, fuhr Mr. Pecksniff fort und klopfte seinem Freund launig auf den Rücken, »es wird mir wahrhaftig einen Riesenspaß machen, zu sehen, wie Sie mit der Elementarschule zurechtkommen.«

Martin übernahm bereitwillig die Arbeit, und Mr. Pecksniff ging sofort daran, ihm die zur Ausführung nötigen Materialien anzuvertrauen; dabei erging er sich immerwährend im Ausmalen des magischen Effektes, den oft ein paar Endstriche von der Hand eines Meisters hervorbrächten. Dieser Effekt war in der Tat – wie gewisse Leute, nämlich die alten Feinde des trefflichen Mannes, behaupteten – manchmal fast wunderbar gewesen. Oft hatte Mr. Pecksniff lediglich durch geniales Hinzufügen eines zweiten Hinterfensters, einer Küchentüre, eines halben Dutzends Treppen oder sogar nur einer Dachrinne den Entwurf eines Zöglings zu seiner eignen Arbeit gemacht und namhafte Beträge dafür eingesteckt. Doch das ist eben die Zauberkraft des Genies, daß alles, was seine Hand berührt, sich in Gold verwandelt!

»Und wenn Sie Ihren Geist durch eine Abwechslung erquicken wollen«, schloß Mr. Pecksniff, »so wird Sie Thomas Pinch in der Kunst unterweisen, den Garten zu vermessen, das Niveau des Weges zwischen dem Hause und dem Wegweiser auszurechnen oder eine andre praktische und angenehme Aufgabe zu lösen. Im Hinterhof befindet sich ein Karren voll Ziegelsteinen und etlichen Dutzenden alter Blumentöpfe. Wenn Sie, mein lieber Martin, sie in einer Weise aufschichten würden, die mich bei meiner Rückkehr etwa an die St.-Peters-Kirche in Rom oder an die Sophienmoschee in Konstantinopel erinnert, so wäre dies nicht nur sehr lehrreich für Sie, sondern auch eine hübsche Überraschung für mich. – – Und nun ganz vorderhand von Berufssachen. Es wird mir ein Vergnügen sein, während ich meinen Mantelsack packe, unten in meinem Zimmer ein paar Privatangelegenheiten mit Ihnen zu besprechen.« Martin begleitete ihn, und sie blieben wohl eine Stunde oder so in geheimer Konferenz beisammen, während Tom oben wartete. Als der junge Mann zurückkehrte, war er sehr schweigsam und finster und blieb auch den ganzen Tag über so, so daß Tom, nachdem er ein paarmal versucht hatte, eine gleichgültige Unterhaltung anzuknüpfen, nicht so unzart sein wollte, sich ihm weiter aufzudrängen, und daher lieber schwieg.

Übrigens würde Tom, selbst wenn sein neuer Freund noch so redselig gewesen wäre, nicht Muße gehabt haben, viel Worte zu machen, denn erst rief ihn Mr. Pecksniff hinunter und trug ihm auf, sich auf den Koffer zu stellen und antike Statuen zu mimen, damit der Deckel zuginge, und dann befahl ihm Miss Charitas, ihren Reisekorb mit Stricken zuzubinden. Dann wieder ließ sich Miss Gratia von ihm eine Hutschachtel ausbessern; dann galt es ein möglichst ausführliches Verzeichnis des ganzen Gepäcks zu schreiben, dann alles die Treppe hinuntertragen zu helfen, die Transportschubkarren bis zu dem alten Wegweiser am Ende der Gasse zu beaufsichtigen, und schließlich mußte er auf die Ankunft der Kutsche warten. Kurz, sein Tagewerk würde selbst einem Lastträger von Beruf hübsch sauer geworden sein, doch bei seinem guten Willen empfand er es nicht so, und während er auf dem Gepäck saß und wartete, bis endlich die Pecksniffs, von dem neuen Schüler begleitet, die Gasse herunterkommen würden, hüpfte ihm das Herz vor Freude und Hoffnung, sein Wohltäter werde mit ihm zufrieden sein.

»Ich fürchtete schon«, sagte er, zog einen Brief aus der Tasche und wischte sich mit seinem Sacktuch die Stirne ab – denn trotz des kalten Tages war es ihm doch bei der Arbeit recht heiß geworden –, »ich würde keine Zeit finden, die paar Zeilen zu schreiben. Und das wäre jammerschade gewesen. Wenn man nicht reich ist, kommt das Postporto ernstlich in Betracht. Das arme Mädchen wird sich freuen, von mir zu hören, daß Pecksniff immer noch so gütig zu mir ist. Ich hätte wohl John Westlock bitten können, sie aufzusuchen und ihr alles Schöne von mir auszurichten, aber ich fürchtete, er könne Pecksniff bei ihr schlechtmachen, und das hätte sie beunruhigt. Und dann sind ihre Leute so eigen, und ein Besuch eines jungen Mannes wie John würde vielleicht ein schiefes Licht auf sie geworfen haben. – – Arme Ruth!«

Tom Pinch schien ein wenig geneigt, sich für eine kleine Weile in melancholischen Gedanken zu ergehen, aber bald tröstete er sich und gab sich wieder seinen Selbstbetrachtungen hin:

»Ich bin wirklich ein sauberer Patron, wie John immer sagte – ein lieber Kerl! Nur schade, daß er Pecksniff nicht mehr schätzte. – Statt das Getrenntsein von ihr so schmerzlich zu empfinden, sollte ich für das außerordentliche Glück dankbar sein, das mich hierhergeführt hat. Meiner Treu, ich muß wirklich mit einem silbernen Löffel im Mund auf die Welt gekommen sein, daß ich Pecksniff in den Weg lief. Und jetzt wieder das Glück, das ich bei dem neuen Schüler habe! Noch nie ist mir ein so freundlicher, nobler und freimütiger Mensch vorgekommen. Im Handumdrehen waren wir die besten Kameraden. Und außerdem ist er ein Verwandter von Pecksniff und ein gescheiter, prächtiger junger Mensch, der sich so leicht seinen Weg durch die Welt bahnen wird wie ein Wurm den seinen durch ein Stück Käse. – – Doch da kommt er ja und schreitet die Gasse herunter, als wäre die Erde schon sein eigen.«

Wirklich kam auch Martin gerade des Weges, und zwar anscheinend nicht im mindesten außer sich, weder durch die Ehre, Miss Gratia Pecksniff am Arme führen zu dürfen, noch durch den zärtlichen Abschied, den die junge Dame von ihm nahm. Miss Charitas und Mr. Pecksniff gingen hinterdrein. Da in diesem Augenblick auch die Postkutsche ankam, verlor Tom keine Zeit und ersuchte seinen Lehrer eiligst um gütige Besorgung seines Briefes.

»Oh!« sagte Mr. Pecksniff und warf einen Blick auf die Adresse. »An Ihre Schwester, Thomas? Ja, gewiß. Soll geschehen, Mr. Pinch. Seien Sie unbesorgt. Sie soll ihn zuverlässig erhalten, Mr. Pinch.«

Er gab dieses Versprechen mit so herablassender Gönnermiene, daß Tom tief fühlte – es war ihm dies vorher gar nicht in den Sinn gekommen –, er habe um etwas außerordentlich Großes gebeten, weshalb er sich überschwenglich bedankte. Die beiden Misses Pecksniff waren natürlich bei der bloßen Erwähnung von Mr. Pinchs Schwester höchlichst ergötzt. Unglaublich! Schon der Gedanke, es könne auch eine Miss Pinch geben! Ha ha.

Tom freute sich herzlich über ihre Heiterkeit. War es doch wiederum ein Beweis ihres Wohlwollens und ihrer Teilnahme für ihn. Er lachte daher ebenfalls, rieb sich die Hände, wünschte ihnen eine angenehme Reise und glückliche Heimkehr; mit einem Wort, er war die Fröhlichkeit selbst. – Als die Kutsche dahinrollte, die »Ölzweige« auf dem Bock und die Taubenfamilie im Innern, blieb er noch winkend und sich verbeugend stehen – über das ungewöhnlich liebenswürdige Benehmen der jungen Damen so erfreut, daß er für den Moment gar nicht auf Martin Chuzzlewit achtete, der gedankenvoll am Wegweiser lehnte und, seit er seiner schönen Last losgeworden, kaum vom Boden aufgeblickt hatte.

Die tiefe Stille, die auf die geräuschvolle Abfahrt der Kutsche folgte, sowie die belebende scharfe Luft des Winternachmittags weckten beide fast zu gleicher Zeit aus ihrem Grübeln. Wie verabredet kehrten sie um und gingen Arm in Arm zum Hause zurück.

»Wie verstimmt Sie sind!« sagte Tom. »Was fehlt Ihnen denn?«

»Nichts, was der Rede wert wäre. Sehr wenig mehr als gestern, und doch hoffentlich viel mehr, als es morgen der Fall sein wird. Ich bin mißgelaunt, Pinch.«

»Oh«, rief Tom, »schade. Und ich bin gerade heute so vortrefflich aufgelegt. Ich hätte vielleicht einen bessern Gesellschafter abgeben können als sonst. – Es war doch sehr hübsch von Ihrem Vorgänger John, daß er an mich geschrieben hat – meinen Sie nicht?«

»Nun ja«, brummte Martin gleichgültig. »Ich hätte geglaubt, jetzt, wo er mitten im Vergnügen steckt, würde er gar keine Zeit übrig haben, an Sie zu denken, Pinch.«

»Genau dasselbe habe ich auch geglaubt«, rief Tom. »Aber nein, er hält Wort und schreibt: ›Mein lieber Pinch, ich denke oft an dich‹ und was dergleichen freundliche Worte mehr sind.«

»Er muß ein verteufelt gutmütiger Kerl sein«, sagte Martin etwas verdrießlich; »er kann das doch nicht wirklich im Ernst meinen.« »Wie? Sie glauben – –?« fragte Tom und sah seinem Kollegen forschend ins Gesicht. »Sie meinen, er schreibt das – – bloß so?«

»Nun, ist es denn wahrscheinlich«, versetzte Martin ernst, »daß ein junger Mann, der kaum diesem Zwinger entwischt und jetzt in London frei und Herr seiner Zeit und Vergnügungen ist, Muße oder Lust haben kann, gern an jemanden oder etwas zurückzudenken, das er hier zurückgelassen hat? Fragen Sie sich selbst, Pinch, ob das besonders wahrscheinlich ist.«

Nach kurzem Besinnen gab Mr. Pinch in betrübtem Tone zu, daß so etwas anzunehmen allerdings unvernünftig sei. Übrigens müsse das Martin ohne Zweifel besser wissen.

»Natürlich weiß ich’s besser«, bemerkte Martin.

»Ja, ich fühle das«, gestand Mr. Pinch sanft. »Ich fühle das.«

Dann verfielen beide wieder in tiefes Schweigen, bis sie zu Hause anlangten. Es war inzwischen dunkel geworden.

Nun hatte Miss Charitas in Erkenntnis der Unmöglichkeit, die Überreste des gestrigen Abendschmauses in der Kutsche mitzunehmen oder sie auf künstlichem Wege bis zur Rückkehr der Familie genießbar zu erhalten, alles auf ein paar Tellern offen stehen lassen. So winkte denn den beiden jungen Leuten das hohe Glück, sich im Wohnzimmer über zwei chaotische Haufen von Speiseüberbleibseln, bestehend aus ausgetrockneten Orangenschnittchen, einigen vertrockneten Sandwiches, unterschiedlichen zerbröckelten Trümmern des genealogischen Kuchens und mehreren ganzen Kapitänszwiebacken, hermachen zu dürfen. Und damit es zur Würze dieser Leckereien nicht an einem auserlesenen Labetrunke fehle, waren die Neigen der zwei Flaschen Johannisbeerwein zusammengegossen und mit einem Papierstöpsel zugepfropft worden, so daß zu einem lukullischen Mahle nichts fehlte.

Martin Chuzzlewit betrachtete diese prunkhaften Vorbereitungen mit tiefster Verachtung, schürte (zum größten Schaden für Mr. Pecksniffs Kohlenvorrat) das Feuer zu einer hellen Flamme an und setzte sich verdrießlich in den bequemsten Sessel, den er finden konnte, davor. Um sich besser in die kleine Kaminecke, die ihm frei blieb, drücken zu können, ließ sich Mr. Pinch auf Miss Gratias Schemel nieder, setzte sein Glas auf den Ofenteppich, nahm seinen Teller aufs Knie und fing an, sich gütlich zu tun.

Hätte Diogenes wieder aufleben, sich samt seinem Faß in Mr. Pecksniffs Wohnstube rollen und Tom Pinch sehen können, wie er, Teller und Glas vor sich, auf Gratias Schemel kauerte, so wäre es ihm auch in der sauertöpfischsten Stimmung unmöglich gewesen, ein gutmütiges Lächeln zu unterdrücken. Toms tiefe Zufriedenheit, der Hochgenuß, mit dem er sich über die dürren Sandwiches hermachte, die ihm wie Sägemehl im Munde zerbröckelten, das unaussprechliche Behagen, mit dem er den scharfen Wein tropfenweis schlürfte und dann mit den Lippen schmatzte, als wäre es eine Sünde, auch nur ein Atom seines köstlichen Wohlgeschmackes zu verlieren, der Blick, womit er hin und wieder, das Glas in der Hand, innehielt, im Stillen Toaste ausbringend, und dann der ängstliche Schatten, der sein zufriedenes Gesicht überflog, wenn seine Blicke auf ihrer entzückten Wanderung durch das trauliche Gemach plötzlich der finsteren Miene seines Gefährten begegneten – kein Zyniker der Welt, und hätte er den Menschenhaß eines Greifen in der Brust getragen, wäre imstande gewesen zu widerstehen.

So mancher würde vielleicht Tom auf den Rücken geklopft, ihm mit einem Glas des Johannisbeerweines, obgleich er saurer war als der schärfste Weinessig, Bescheid getan – ja, ihn sogar wohlschmeckend gefunden haben. Andere hätten vielleicht seine ehrliche Hand ergriffen und ihm für die Lehre gedankt, die er ihnen mit seinem einfachen Wesen gegeben. Einige würden mit ihm, andere über ihn gelacht haben – und zur letzteren Klasse gehörte auch Martin Chuzzlewit, der, unfähig, sich länger zurückzuhalten, in ein langes und lautes Gelächter ausbrach.

»Recht so«, sagte Tom und nickte beifällig. »Kopf hoch! Das ist das Richtige!«

Über diese Aufmunterung mußte der junge Martin abermals lachen.

»Ich habe wahrhaftig noch nie einen so närrischen Kauz wie Sie gesehen, Pinch!« rief er, als er wieder zu Atem gekommen war.

»Wirklich nicht? Nun, ich glaub’s Ihnen gern, daß Sie mich etwas sonderbar finden. Ich habe eben noch fast gar nichts von der Welt gesehen und Sie wahrscheinlich schon sehr viel?« »Ziemlich viel für mein Alter«, gestand Martin, rückte seinen Stuhl noch näher an das Feuer und stemmte seine Füße an das Kamingitter. »Aber zum Kuckuck, ich muß jemanden haben, dem ich mein Herz ausschütte. Seien Sie es diesmal, Pinch.«

»Aber mit Freuden!« rief Tom. »Sie erweisen mir damit einen großen Freundschaftsdienst.«

»Ich geniere Sie doch nicht?« fragte Martin und blickte auf Mr. Pinch hernieder, der eben über sein Bein hinweg ins Feuer sah.

»Durchaus nicht!«

»Um es kurz zu machen, müssen Sie also wissen«, fing Martin mit einer gewissen Anstrengung an, die verriet, daß es sich um eine für ihn nicht besonders angenehme Eröffnung handelte, »daß ich von Kindheit auf zu großen Erwartungen erzogen und stets in dem Glauben gehalten wurde, es müsse mir eines Tages ein sehr großes Vermögen zufallen. Dies würde auch zuverlässig eingetreten sein, wenn nicht gewisse Umstände, die ich Ihnen in Kürze mitteilen will, meine Enterbung herbeigeführt hätten.«

»Durch Ihren Vater?« fragte Mr. Pinch mit großen Augen.

»Durch meinen Großvater. – Ich habe schon seit so vielen Jahren keine Eltern mehr, daß ich mich kaum mehr an meinen Vater erinnern kann.«

»Auch bei mir ist das der Fall«, sagte Tom, berührte leise die Hand des jungen Mannes, zog aber gleich wieder schüchtern den Arm zurück. »Leider! Leider!«

»Nun, was das betrifft, Pinch«, fuhr Martin in seiner raschen wegwerfenden Weise fort und schürte wieder das Feuer, »so ist’s ja sehr gut und schön, seine Eltern zu lieben, wenn man welche besitzt, oder sie nach ihrem Tode in gutem Andenken zu halten, wenn man überhaupt etwas Näheres von ihnen weiß. Da ich jedoch meine Eltern kaum von Angesicht zu Angesicht kannte, so werden Sie wohl begreifen, daß bei mir von einer besondern Sentimentalität diesbezüglich nicht die Rede sein kann. Auch müßte ich lügen, wenn ich sagen wollte, es wäre anders.«

Mr. Pinch blickte gerade gedankenvoll auf das Kamingitter. Da sein Freund innehielt, fuhr er mit den Worten: »Natürlich, natürlich!« auf und war dann wieder ganz Ohr.

»Mit einem Wort«, erklärte Martin, »ich bin fast mein ganzes Leben lang von meinem Großvater erzogen worden. Er hat nun ohne Frage viele gute Eigenschaften, aber andererseits kann ich Ihnen die Tatsache nicht verhehlen, daß er auch zwei sehr große Fehler besitzt, die seine schlimme Seite ausmachen. Erstens ist er von einem Starrsinn, der kaum seinesgleichen hat, und dann ist er ein geradezu beispielloser Egoist.«

»Wirklich?« rief Tom.

»Hinsichtlich dieser beiden Punkte«, fuhr Martin fort, »ist er geradezu unübertroffen. Allerdings habe ich von Leuten, die es wissen müssen, oft genug gehört, das sei seit unvordenklichen Zeiten ein Erbfehler unserer Familie, und ich glaube auch gern, daß etwas Wahres daran ist, obschon ich nicht aus eigener Erfahrung darüber sprechen kann. – Alles, was ich tun kann, ist, dem Himmel danken, daß sie sich nicht auf mich vererbt haben, und achtgeben, daß ich sie nicht auch annehme.«

»Natürlich«, meinte Mr. Pinch. »Sehr, sehr richtig.«

»Und nun, Sir«, nahm Martin seine Erzählung wieder auf, stocherte mit dem Schüreisen im Feuer herum und zog seinen Stuhl noch näher an den Kamin, »sehen Sie, gewöhnte er sich in seiner Selbstsucht an, alle möglichen Ansprüche an mich zu stellen und in seinem Starrsinn nicht davon abzugehen. Die Folge davon war, daß er von mir alle erdenkliche Achtung, Unterwürfigkeit – ja, wo seine Wünsche mit ins Spiel kamen, geradezu grenzenlose Selbstverleugnung und so weiter verlangte. Ich habe mir viel von ihm gefallen lassen, weil ich Verpflichtungen gegen ihn hatte (wenn überhaupt von solchen gegenüber einem Großvater die Rede sein kann), und dann, weil ich wirklich eine aufrichtige Zuneigung zu ihm empfand. Trotzdem gab es alle Naselang Streit auf Streit, denn ich konnte mich sehr oft nicht in seine Art und Weise schicken – wohlgemerkt, durchaus nicht etwa meinetwillen, sondern –, weil – –«

Hier stockte er und wurde ziemlich verlegen.

Mr. Pinch war auf der ganzen Welt der letzte, der verstanden hätte, wie man jemandem aus einer derartigen Verlegenheit hilft, und blieb daher stumm wie ein Fisch.

»Also gut, da Sie verstehen, was ich meine«, fing Martin hastig wieder an, »so brauche ich ja nicht lange nach einem passenden Ausdruck zu suchen. Ich komme jetzt zum Kern meiner Geschichte und der Veranlassung meines Hierseins. Ich bin verliebt, Pinch.«

Mr. Pinch sah mit gesteigertem Interesse zu ihm auf.

»Also, kurz und gut, ich bin verliebt – und zwar verliebt in eines der schönsten Mädchen, die je unter der Sonne wandelten. Sie ist jedoch gänzlich mittellos und vollständig von dem Willen meines Großvaters abhängig, und wenn er erführe, daß sie meine Gefühle erwidert, so wäre es um ihr Obdach und um alles, was sie auf Erden besitzt, geschehen. Es ist doch nichts sonderlich Selbstsüchtiges in dieser Liebe, glaube ich?«

»Selbstsüchtiges!« rief Tom. »Sie haben edel gehandelt. – Sie mit Inbrunst zu lieben, wie es bei Ihnen der Fall ist, und ihr doch in Anbetracht ihrer abhängigen Stellung nicht einmal zu erklären – –«

»Ja, von was sprechen Sie eigentlich, Pinch?« fuhr Martin ärgerlich auf. »Machen Sie sich nicht lächerlich, mein guter Freund! Was soll ich ihr nicht entdeckt haben?«

»Ich bitte um Verzeihung«, stotterte Tom; »ich glaubte, Sie hätten es so gemeint, sonst würde ich es nicht gesagt haben.«

»Wenn ich ihr nicht gestanden hätte, daß ich sie liebe, wozu wäre da mein Verliebtsein gut gewesen? Zu nichts als zu beständigem Kummer und Herzweh!«

»Ganz richtig«, bestätigte Tom. – »Nun kann ich auch erraten, was sie sagte, als Sie sich ihr entdeckten!« fügte er mit einem bewundernden Blick in Martins schöne Züge bei.

»Nun, das wohl nicht, Pinch«, versetzte Martin mit leichtem Stirnrunzeln, »denn sie hat ein wenig mädchenhafte Begriffe von Pflicht, Dankbarkeit und was dergleichen mehr ist – kurz, Dinge, denen nicht so leicht auf den Grund zu kommen ist. – – In der Hauptsache haben Sie übrigens recht. – Ich sah, ihr Herz gehörte mir.«

»Das dachte ich mir«, sagte Tom, »ganz natürlich!« Und sehr zufrieden mit seinem Scharfsinn tat er einen langen Zug aus seinem Weinglase.

»Trotzdem ich von Anfang an mit größter Vorsicht vorgegangen war«, fuhr Martin fort, »hatte ich doch die Geschichte nicht ganz so geschickt eingeleitet, daß mein Großvater, der voll Argwohn und Mißtrauen ist, meine Liebe zu ihr nicht gemerkt hätte. Er sagte ihr zwar kein Wort davon, nahm mich aber unter vier Augen vor und bezichtigte mich, ich wolle ihm das junge Wesen entfremden. – Sie erkennen hieraus seine Selbstsucht, daß er sich eine ergebene Gefährtin erziehen wollte, wenn er mich dereinst, sowie er es für gut fand, verheiratet haben werde. Das brachte mich natürlich in Harnisch, und ich sagte ihm klipp und klar, ich gedächte, mich so zu verheiraten, wie ich es für gut fände, und hätte nicht vor, mich durch ihn oder irgendeinen andern Auktionator an den Meistbietenden losschlagen zu lassen.«

Mr. Pinch riß die Augen noch weiter auf und blickte noch angelegentlicher als bisher ins Feuer.

»Sie können sich denken, Tom, daß ihm das gewaltig in die Nase stach und daß er gerade keine Komplimente über mich ausgoß. Die Sache spitzte sich schließlich darauf zu, daß ich meine Ansprüche entweder an sie oder an ihn aufgeben sollte. Nun müssen Sie sich aber vor Augen halten, Pinch, daß ich das Mädchen nicht nur aufs leidenschaftlichste liebe, sondern auch, daß ein Hauptzug meines Charakters eine ganz entschiedene – –«

»Hartnäckigkeit ist«, ergänzte Tom arglos.

Die Bemerkung wurde jedoch nicht so gut aufgenommen, wie er erwartet hatte, denn Martin erwiderte sogleich unwillig:

»Sie sind wirklich ein unglaublicher Mensch, Pinch!«

»Ich bitte um Verzeihung«, stotterte Tom rasch. »Ich glaubte, Sie suchten nach einem Ausdruck.«

»Gewiß, aber doch nicht nach diesem! Ich sagte Ihnen bereits, Hartnäckigkeit sei keine Charaktereigenschaft von mir – oder vielleicht nicht? Ich wollte mit Ihrer gütigen Erlaubnis sagen, daß Festigkeit meine Haupttugend ist.«

»Ja, gewiß«, rief Tom eifrig nickend. »Ja, ja, ich sehe!«

»Und um dieser Festigkeit willen«, fuhr Martin fort, »konnte ich natürlich auch nicht einen Zollbreit nachgeben.«

»Gewiß nicht, gewiß nicht«, brummte Tom.

»Im Gegenteil; je mehr er drängte, desto entschiedener mußte ich mich dagegen stemmen.«

»Freilich, freilich!«

»Nun also«, erklärte Martin, lehnte sich in seinem Stuhle zurück und winkte gleichgültig mit der Hand ab, als ob der Gegenstand damit erledigt und nichts mehr darüber zu sagen sei – »das ist das Ende vom Lied, und deswegen bin ich jetzt hier!«

Mr. Pinch starrte einige Minuten so verwirrt ins Feuer, als hätte ihm jemand ein ungemein schwieriges Rätsel aufgegeben, und sagte dann:

»Pecksniff haben Sie natürlich schon früher gekannt?«

»Nur dem Namen nach. Ich hatte ihn nie gesehen, denn mein Großvater hielt nicht nur sich selbst, sondern auch mich von allen seinen Verwandten fern. Unsre Trennung fand jedoch in einer Stadt der benachbarten Grafschaft statt, von da aus kam ich nach Salisbury und las Pecksniffs Annonce. Sie sagte mir zu, da ich von jeher eine gewisse natürliche Neigung für die Gebiete hatte, die er darin anführte. Und da es gerade Pecksniff war, ließ ich mir’s doppelt angelegen sein, womöglich zu ihm zu kommen, um so mehr, als er – –«

»Ein so vortrefflicher Mann ist«, fiel Tom händereibend ein. »Ja, das ist ein wahres Wort. Sie hatten vollkommen recht.«

»Aufrichtig gesprochen«, entgegnete Martin kühl, »geschah es nicht deshalb, sondern weil mein Großvater einen alteingewurzelten Haß gegen ihn hegte. Und nach der tyrannischen Behandlung, die mir der alte Mann hat zuteil werden lassen, mußte begreiflicherweise in mir der natürliche Wunsch rege werden, allen seinen Ansichten gerade entgegenzuhandeln. – – Nun, wie gesagt, hier bin ich. Mein Verhältnis zu der jungen Dame, von der ich Ihnen erzählt habe, wird sich wahrscheinlich ziemlich in die Länge ziehen, denn unser beider Aussichten sind nicht gerade glänzend, und ich denke natürlich nicht ans Heiraten, ehe ich nicht die Mittel dazu besitze. Sie werden einsehen, daß ich mich nicht – mir nichts, dir nichts – in Armut, Entbehrung, Liebe ohne Brot und dergleichen stürzen oder vielleicht in einer Mansarde drei Treppen hoch wohnen kann.«

»Ihrer Braut gar nicht zu gedenken«, bemerkte Tom Pinch mit gedämpfter Stimme.

»Sehr richtig«, versetzte Martin und stand auf, um sich am Kamin anzulehnen und seinen Rücken zu wärmen. »Ihrer gar nicht zu gedenken. Obgleich es von ihr nicht allzuviel verlangt wäre –, erstens, weil sie mich sehr liebt, und zweitens, weil ich um ihretwillen sehr viel geopfert habe, und, wie Sie sich denken können, noch viel mehr geopfert haben würde.«

Es dauerte sehr lange, bis Tom »freilich ja« sagte – so lange, daß man in der Zwischenzeit ganz gut hätte ein Schläfchen machen können. Aber endlich sagte er es doch.

»Nun knüpft sich an diese Liebesgeschichte ein sonderbarer Zwischenfall«, sprach Martin weiter, »den ich noch erwähnen muß. Sie erinnern sich, was Sie mir in bezug auf Ihre schöne Kirchenbesucherin auf der Herfahrt mitgeteilt haben?«

»Natürlich«, rief Tom, stand von seinem Schemel auf und setzte sich in den Stuhl, von dem Martin soeben aufgestanden war, um Pinchs Gesicht besser sehen zu können. »Selbstverständlich.«

»Das war sie.«

»Ich fühlte, was Sie sagen wollten«, entgegnete Tom mit leiser Stimme und sah Martin fest dabei an. »Ist das Ihr voller Ernst?«

»Das war sie«, wiederholte der junge Mann; »nach all dem, was ich von Pecksniff gehört habe, zweifle ich nicht einen Augenblick, daß sie mit meinem Großvater kam und wieder abreiste. – Trinken Sie doch nicht soviel von diesem sauern Zeug! – Sie ziehen sich noch etwas zu.«

»Ich fürchte auch, es ist nicht sehr gesund«, sagte Tom und setzte das Glas, das er bereits eine Weile leer in der Hand gehalten hatte, nieder. »Das war sie also wirklich?«

Martin nickte bejahend und meinte dann unwirsch, wenn er nur ein paar Tage früher gekommen wäre, würde er sie haben sprechen können; jetzt dürfte sie wohl schon wieder hundert Meilen von hier weg sein. Nachdem er sodann einigemal ungeduldig im Zimmer auf und ab gegangen war, warf er sich in einen Stuhl und grollte wie ein verwöhntes Kind.

Tom Pinch hatte ein weiches, gefühlvolles Herz und konnte es nicht ertragen, einen ihm gleichgültigen Menschen leiden zu sehen – geschweige denn jemanden, an dem er Anteil nahm, und der ihm (wie er felsenfest überzeugt war) mit Freundschaft entgegenkam. Was auch einige Augenblicke zuvor seine Gedanken gewesen sein mochten – und seinem Gesicht nach zu urteilen, waren sie ziemlich ernsthafter Natur – er ließ sie sofort fallen und suchte seinen jungen Freund nach Kräften zu trösten.

»Mit der Zeit wird alles wieder gut werden«, sagte er. »Wenn Sie auch gegenwärtig mit Prüfungen und Widerwärtigkeiten zu kämpfen haben, so wird es nur dazu dienen, euch für bessere Tage inniger miteinander zu verketten. Ich habe immer gelesen, daß es so ist, und ein inneres Gefühl sagt mir, daß das recht und natürlich ist. Was bisher noch nicht glatt ging«, fügte er mit einem Lächeln hinzu, das trotz seines wenig schönen Gesichts etwas weit Lieblicheres hatte als der leuchtendste Blick so manch stolzen Antlitzes, »was bisher noch nicht glatt ging, von dem darf man nicht erwarten, daß es um unsertwillen im Handumdrehen anders wird. Wir müssen es eben nehmen, wie es ist, und ihm mit Geduld und guten Mutes die beste Seite abgewinnen. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß ich fast nichts vermag, aber ich habe den allerbesten Willen, und wenn ich mich Ihnen je in was immer für einer Weise nützlich machen kann, so soll es mit Freuden geschehen.«

»Danke Ihnen«, entgegnete Martin und drückte ihm die Hand. »Auf mein Wort, Sie sind ein guter Kerl. – – – Gewiß«, fügte er nach einer Pause hinzu, während der er seinen Stuhl wieder ans Feuer rückte, »würde ich nicht zögern, von Ihrer Dienstwilligkeit Gebrauch zu machen, wenn Sie mir irgendwie behilflich sein können; aber, zum Teufel auch!« – er fuhr sich ungeduldig durch die Haare und blickte ärgerlich Tom an – »Ihre Hilfe, die Sie mir anbieten, Pinch, ist für mich so wenig wert wie eine Brotröstgabel oder eine Bratpfanne.«

»Außer, was den guten Willen betrifft«, sagte Tom leise.

»Natürlich. Das versteht sich von selbst. – – Wenn Zuneigung allein etwas vermöchte, würde es mir nicht an Beistand fehlen. – Übrigens, wissen Sie, was Sie tun könnten, wenn Sie Lust dazu haben – und zwar jetzt gleich?«

»Das wäre?« fragte Tom begierig.

»Lesen Sie mir vor.«

»Mit tausend Freuden«, rief Mr. Pinch enthusiastisch und griff nach der Kerze. »Entschuldigen Sie, wenn ich Sie einen Augenblick im Finsteren lasse, ich will nur ein Buch holen. Was möchten Sie, Shakespeare?«

»Ja!« antwortete Martin gähnend und sich räkelnd. »Das tut’s, ich bin müde von dem heutigen Trubel und der ungewohnten Umgebung. In einem solchen Falle gibt es auf der ganzen Welt keinen köstlicheren Genuß, als sich in Schlaf lesen zu lassen. Sie machen sich doch nichts daraus, daß ich einschlafe, während Sie vorlesen?«

»Durchaus nicht!« beteuerte Tom.

»So fangen Sie an, sobald es Ihnen beliebt. – Sie brauchen nicht aufzuhören, wenn Sie mich schläfrig werden sehen – Sie müßten denn selbst müde sein –, denn es ist riesig angenehm, nach und nach von den Tönen wieder geweckt zu werden. – Haben Sie das nie versucht?«

»Nein, nie.«

»Nun, so kann’s ja dieser Tage einmal geschehen, wenn wir beide entsprechend aufgelegt dazu sind. Nehmen Sie nur das Licht mit; aber beeilen Sie sich!«

Mr. Pinch verlor keine Zeit und kam in zwei Minuten mit einem seiner geliebten Bände von dem Sims neben seinem Bett wieder zurück. Martin hatte sich’s in der Zwischenzeit so bequem gemacht, wie es die Umstände gestatteten, nämlich sich vor dem Kamin aus drei Stühlen und Gratias Schemel als Kissen ein Sofa improvisiert, auf dem er sich selbst der Länge nach ausstreckte.

»Lesen Sie aber nicht zu laut, wenn ich bitten darf.«

»Nein, nein«, versprach Tom.

»Es friert Sie aber doch nicht?«

»Nicht im geringsten!«

»Nun, dann los!«

Mr. Pinch schlug die Seiten seines Buches so zart und behutsam um, als wären sie lebendige, innig geliebte Wesen, traf dann seine Wahl und begann vorzulesen. Noch ehe er es bis zu fünfzig Zeilen gebracht hatte, schnarchte sein Freund bereits laut.

»Der arme Mensch!« murmelte Tom und blickte ihm über die Stuhllehne ins Gesicht. »Er ist noch so jung und hat schon so viel gelitten. Wie treuherzig und großmütig von ihm, mir so viel Vertrauen zu schenken!– – – Also, das war – – sie!«

Dann erinnerte er sich plötzlich seines Versprechens, nahm sein Buch wieder auf und fuhr fort zu lesen, wo er stehengeblieben war, daß er darüber sogar das Schneuzen seiner Kerze vergaß, bis der Docht wie ein Pilz aussah. Er wurde allmählich so warm bei der Lektüre, daß er gar nicht daran dachte, das Feuer nachzuschüren – bis er durch Martin Chuzzlewit daran erinnert wurde, der nach Verfluß von etwa einer Stunde auffuhr und schaudernd vor Kälte rief:

»Wahrhaftig, das Feuer ist ausgegangen! Kein Wunder, daß mir träumte, ich sei erfroren. Holen Sie doch ein paar Kohlen. – Nein, was Sie für ein seltsamer Kauz sind, Pinch!«

7. Kapitel


7. Kapitel

Mr. Chevy Slyme legt große Unabhängigkeit an den Tag, und dem blauen Drachen wird ein Glied ausgerissen

Martin machte sich am andern Morgen mit so viel Eifer und Beflissenheit an seine »Elementarschule«, daß Mr. Pinch wiederum Grund hatte, die natürlichen Talente dieses jungen Gentlemans anzustaunen und dessen unendliche Überlegenheit anzuerkennen.– Martin nahm seine Komplimente sehr gnädig auf, und da er Pinch – in seiner Art – wirklich recht lieb gewonnen hatte, so prophezeite er, sie würden stets die allerbesten Freunde bleiben und er sei überzeugt, daß keiner von ihnen je Grund haben werde, sich nicht mit Freude des Tages zu erinnern, an dem sie miteinander bekannt geworden. Mr. Pinch, dem dies aus der Seele gesprochen war, freute sich natürlich unendlich darüber und fühlte sich so geschmeichelt durch die wohlwollenden Versicherungen von Freundesgefühl und Gönnerschaft, daß er gänzlich unfähig war, sein Entzücken in Worte zu kleiden. – Und wirklich ließ sich auch von diesem Bündnis, so wie die Sachen lagen, sagen, daß es längere Dauer versprach als so manche beschworene und verheißungsvolle Freundschaft. Solange der eine Teil sich darin gefiel, den Gönner zu spielen, und der andere sich darüber herzlich freute, wie hier der Fall lag, so lange war es so gut wie ausgeschlossen, daß sich je zwischen ihnen die Zwillingsdämonen Neid und Stolz erheben konnten.

Am Nachmittag nach der Abreise der Familie waren beide emsig beschäftigt – Martin mit seiner Elementarschule und Tom mit der Berechnung gewisser Pachtzinsbezüge, von denen er Mr. Pecksniffs Provisionen in Abrechnung brachte. Während sie so dasaßen – Martin durch seine liebenswürdige Gewohnheit, beim Zeichnen laut zu pfeifen, den armen Mr. Pinch bei seiner kniffligen Arbeit fast zur Verzweiflung bringend –, wurden sie nicht wenig durch den Umstand erschreckt, daß sich plötzlich ein menschlicher Kopf zur Türe hereinsteckte und ihnen, obgleich äußerst zottig und auch sonst wenig beruhigend, höchst leutselig und in einer Weise zulächelte, die zugleich schelmisch, gewinnend und gönnerhaft war.

»Ich selbst bin nicht fleißig, meine Herren«, begann der Kopf, »weiß aber diese Eigenschaft an andern zu schätzen. Ich will grau und häßlich werden, wenn ich nächst dem Genie den Fleiß nicht für eine der charmantesten Eigenschaften des menschlichen Geistes halte. Meiner Seel, ich bin meinem Freunde Pecksniff zu größtem Dank verpflichtet, daß er mir zu dem Anblick einer so köstlichen Szene verholfen hat. Sie erinnern mich an Whittington, der später dreimal Lord-Mayor von London wurde. Ich gebe Ihnen mein großes Ehrenwort, daß Sie mir diesen historischen Charakter lebhaft ins Gedächtnis rufen. Sie sind ein paar Whittingtons, meine Herrn, nur ohne die Katze. Und das ist für mich sehr angenehm, da ich der Katzenspezies nicht sonderlich zugetan bin. Mein Name ist Tigg. Wie geht es Ihnen, meine Herren?«

Martin blickte Mr. Pinch fragend an, und Tom, der in seinem Leben noch nie etwas von einem Mr. Tigg gesehen hatte, faßte die seltsame Erscheinung näher ins Auge.

»Chevy Slyme?« fuhr Mr. Tigg fragend fort und küßte zum Zeichen der Freundschaft seine linke Hand. »Sie werden mich verstehen, wenn ich sage, daß ich der Bevollmächtigte Mr. Chevy Slymes bin – Ambassadeur am Hofe Chivs. – – Ha, ha!« »Hallo!« rief Martin und stutzte bei Nennung dieses Namens. »Bitte, was will er von mir?«

»Wenn Sie Pinch heißen –« begann Mr. Tigg.

»Nein«, erklärte Martin reserviert. »Dies hier ist Mr. Pinch.«

»Wenn dies Mr. Pinch ist«, rief Tigg, küßte abermals seine Hand und ließ seinen Leib seinem Kopfe in das Zimmer nachfolgen, »so wird er mir die Versicherung gestatten, daß ich ihn höchlichst schätze und respektiere, da ihn mein Freund Pecksniff mir gegenüber außerordentlich lobte – auch, daß ich seine Begabung hinsichtlich Orgelspieles sehr bewundere, wenn ich auch dieses Instrument – darf ich mich des Ausdrucks bedienen – nicht selbst – – ›quetsche‹. Wenn dies also Mr. Pinch ist, so möchte ich die Hoffnung auszudrücken wagen, daß er sich wohlbefinde und ihm der Ostwind keine Gesundheitsbeeinträchtigung zugefügt hat.«

»Ich danke Ihnen«, sagte Tom. »Ich befinde mich sehr wohl.«

»Das ist ein großer Trost«, rief Mr. Tigg. »Übrigens«, er hielt geheimnisvoll die Hand vor den Mund, »komme ich wegen des Briefes.«

»Wegen des Briefes?« fragte Tom laut. »Was für einen Brief meinen Sie?«

»Den Brief«, flüsterte Tom vorsichtig, »den Ihnen mein Freund Pecksniff unter der Adresse ›Chevy Slyme, Esquire‹ zurückgelassen hat.«

»Er hat mir keinen Brief gegeben.«

»Pst!« flüsterte Mr. Tigg. »Das macht nichts aus – obgleich ich wünschte, daß mein Freund Pecksniff die Sache zartfühlender arrangiert hätte – also – das Geld.«

»Das Geld?« rief Tom erschreckt.

»Sehr richtig. – – – Das Geld«, wiederholte Mr. Tigg, tippte Tom ein paarmal auf die Brust und nickte verständnisinnig, als wolle er sagen, man brauche den Umstand nicht unnötigerweise vor einer dritten Person ausführlich zu erwähnen und er würde es für eine besondere Gunst halten, wenn ihm Tom den Betrag so unauffällig wie möglich in die Hand gleiten ließe.

Mr. Pinch war jedoch über dieses ihm gänzlich unerklärliche Benehmen dermaßen erstaunt, daß er unumwunden erklärte, es müsse hier offenbar ein Irrtum obwalten, da er durchaus keinen Auftrag erhalten habe, der sich irgendwie auf den Herrn oder dessen Freund bezöge. Mr. Tigg nahm diese Erklärung mit der ernsten Bitte entgegen, Mr. Pinch möge die Güte haben, sie noch einmal zu wiederholen, und als ihm Tom in einer noch nachdrücklicheren Weise willfahrte, rekapitulierte er sie Satz für Satz und nickte bei jedem Wort feierlich mit dem Kopf. Als Tom zum zweitenmal fertig geworden war, ließ sich Mr. Tigg in einen Stuhl nieder und hielt an die beiden jungen Leute folgende Ansprache:

»Dann will ich Ihnen also sagen, um was es sich handelt, meine Herren. Im gegenwärtigen Augenblicke befindet sich hier in diesem Orte eine vollendete Legierung von Talent und Genie, die durch das, was ich nur als tadelnswerte Nachlässigkeit meines Freundes Pecksniff bezeichnen kann, in eine so furchtbare Situation versetzt wurde, wie sie eben nur bei der sozialen Lage im neunzehnten Jahrhundert möglich ist. In diesem Augenblicke befindet sich im ›Blauen Drachen‹ dieses Dorfes – einer ordinären, armseligen, bäurischen, nach Tabak stinkenden Bierkneipe – ein Individuum, von dem man – um mit dem Dichter zu sprechen – behaupten kann, daß es eigentlich mit nichts verglichen werden kann als mit sich selber. Und dieses Individuum wird nun seiner Zeche wegen dort zurückgehalten. Ha! ha! – Seiner Zeche wegen! Ich wiederhole es: – seiner Zeche wegen. Wir alle«, fuhr Mr. Tigg fort, »haben wohl schon von Fox‘ Märtyrerbuch gehört, desgleichen auch von dem Schuldturm und der Sternkammer; aber ich fürchte keinen Widerspruch, weder von Lebenden, noch von Toten, wenn ich kühnlich behaupte: meinen Freund Chevy Slyme einer Zeche wegen als Geisel zurückzuhalten, das spricht allem Hohn!«

Martin und Mr. Pinch sahen zuerst einander an und dann Mr. Tigg, der, die Arme auf der Brust gekreuzt, ihren Blick halb trostlos, halb bitter erwiderte.

»Mißverstehen Sie mich nicht, meine Herren«, sagte er und streckte seine rechte Hand aus. »Wäre es wegen etwas anderem als einer Zeche wegen geschehen, so hätte ich es ertragen und das menschliche Geschlecht immerhin noch mit einem gewissen Gefühl von Achtung betrachten können. Wenn aber ein Mann wie mein Freund Slyme einer Wirtshausrechnung wegen festgehalten wird – wegen eines an sich selbst schon so gemeinen nichtigen Dinges, so fühle ich: es ist da irgendwo eine Schraube von so ungeheurer Wichtigkeit losgeworden, daß das ganze Gebäude der Gesellschaft in seinen Grundfesten schwankt und man sich nicht einmal mehr auf Hauptprinzipien der Welt verlassen kann. – Kurz – meine Herren –, wenn ein Mann wie Slyme wegen einer armseligen Zeche zurückgehalten wird, so weise ich alles, was die Jahrhunderte gezeitigt, als Wahn zurück und glaube an nichts mehr. Ja, Fluch über mich, wenn ich sogar glaube, daß ich nicht glaube!«

»Es tut mir wahrhaftig herzlich leid«, begann Tom nach einer Pause, »aber Mr. Pecksniff hat mir nichts davon gesagt, und ohne seine Weisung darf ich nichts tun. Würde es nicht am besten sein, Sir, wenn Sie – ich weiß nicht, woher Sie kommen – aber ich meine, würde es nicht am besten sein, wenn Sie nach Hause führen und Ihrem Freunde von dort das Geld schickten?«

»Wie ist das möglich, da ich gleichfalls hier festgehalten werde!« rief Mr. Tigg. »Und noch obendrein, wo ich – dank der unerhörten und, ich muß sagen, unverantwortlichen Nachlässigkeit meines Freundes Pecksniff – kein Geld habe, um einen Platz im Postwagen zu bezahlen?«

Tom wollte schon den Gentleman darauf aufmerksam machen, daß es auch eine Briefpost im Lande gebe – was dieser ohne Zweifel in seiner Aufregung vergessen hatte – und er ja nur an irgendeinen Freund oder Bevollmächtigten zu schreiben brauche, um sich das Geld kommen zu lassen – seine Gutmütigkeit ließ ihn jedoch erraten, daß es Gründe geben könne, diesen guten Rat für sich zu behalten. Er schwieg daher eine Weile und fragte dann:

»Sagten Sie nicht, Sir, daß man Sie ebenfalls zurückhält?«

»Kommen Sie einmal her«, rief Mr. Tigg und stand auf. – »Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich einen Augenblick dieses Fenster öffne?«

»Durchaus nicht.«

»Sehr gut«, sagte Mr. Tigg und schob das Fenster in die Höhe. »Sehen Sie dort unten den Kerl mit dem roten Halstuch und ohne Weste?« »Natürlich!« rief Tom. »Das ist doch Mark Tapley.«

»So, Mark Tapley ist es!« entgegnete der Gentleman. »Also, Mark Tapley war so ungemein liebenswürdig, mich hierher zu begleiten und jetzt zu warten, ob ich auch wieder zurückkomme! – Und um dieser Aufmerksamkeit willen,« fügte Mr. Tigg hinzu und strich sich den Schnurrbart,« möchte ich sagen, es wäre besser für ihn gewesen, seine Frau Mutter hätte ihn in der Wiege erdrosselt, anstatt ihn zu solchen Schandtaten heranwachsen zu lassen!«

Mr. Pinch war ob dieser schrecklichen Drohung nicht so entsetzt, als daß ihm nicht noch Atem genug geblieben wäre, Mark heraufzurufen – eine Aufforderung, der dieser so schleunig Folge leistete, daß Tom und Mr. Tigg kaum ihre Köpfe zurückgezogen und das Fenster wieder geschlossen hatten, als er bereits im Zimmer stand.

»Hören Sie, Mark!« sagte Mr. Pinch. »Um Gottes willen, was geht denn zwischen Mrs. Lupin und diesem Gentleman vor?«

»Und welchem Gentleman?« fragte Mark. »Ich sehe hier keinen Gentleman, Sir, als Sie und den neuen Herrn da« – er machte Martin eine linkische Verbeugung – »und zwischen Ihnen und Mrs. Lupin ist durchaus nichts vorgefallen.«

»Possen, Mark!« rief Tom. »Sie sehen da Mr. –«

»Tigg,« ergänzte der Gentleman. »Ein bißchen Geduld; ich werde ihn gleich zermalmen. – Alles zu seiner Zeit!«

»Ach, den!« brummte Mark geringschätzig. »Ja, densehe ich allerdings. Ich könnte ihn zwar noch ein bißchen besser sehen, wenn er sich rasieren und das Haar schneiden lassen wollte –«

– Mr. Tigg schüttelte wütend den Kopf und schlug sich an die Brust. – »Hilft alles nichts«, sagte Mark. »An diese Tür können Sie klopfen, soviel Sie wollen. Da werden Sie keine Antwort kriegen, ich weiß das besser. Es steckt nichts dahinter als Watte, und zwar eine ziemlich schmierige.«

«Lassen Sie das, Mark«, bat Mr. Pinch und legte sich ins Mittel, um Feindseligkeiten zu verhüten, »beantworten Sie mir lieber, was ich Sie fragen werde. Sie sind doch hoffentlich nicht übler Laune?«

»Übler Laune, Sir?« rief Mark, übers ganze Gesicht lachend. »Nein, wahrhaftig nicht, Sir. Es macht einem ein bißchen Ehre – nicht viel zwar, aber doch ein bißchen –, wenn man fidel ist, trotzdem Kerle wie diese da wie brüllende Löwen mit Mähne herumziehen. – – Was es zwischen Mrs. Lupin und ihm gegeben hat? Je nun, eine unbezahlte Zeche hat es gegeben. – Ich glaube, es ist billig genug von Mrs. Lupin, daß sie ihm und seinem Freund nicht doppelte Preise anrechnete; sie sind doch geradezu ein Schandfleck für den ›Drachen‹. Das ist meine Meinung. Wenn ich an ihrer Stelle wäre, ich litte keine solchen Waldteufel in meinem Hause, und wenn man mir Wettrennpreise zahlte. – Das bloße Aussehen dieses Burschen könnte schon das Bier im Faß sauer werden lassen. – Und das Bier würde auch bestimmt sauer werden, wenn es Verstand hätte.«

»Sie haben mir noch immer meine Frage nicht beantwortet, Mark«, bemerkte Mr. Pinch.

»Nun, Sir«, entgegnete Mr. Tapley, »ich wüßte nicht, was es da lange zu beantworten gibt. Erst gehen die beiden in den ›Halbmond und die sieben Sterne‹, bis sie genügend in der Kreide stehen, dann kommen sie zu uns und treiben’s ebenso. Das gewöhnliche Zechprellen ist nichts gerade Neues für uns, Mr. Pinch; das hätte uns nicht so aufgeregt, wenn nicht das unverschämte Benehmen dieses Kerls gewesen wäre. – Nichts ist ihm gut genug; alle Weiber, meint er, seien sterblich in ihn verliebt und überglücklich, wenn er ihnen nur zublinzelt. Und die Männer, glaubt er, seien nur dazu da, um sich von ihm herumkommandieren zu lassen. Diesen Morgen noch sagte er zu mir in seiner gewöhnlichen liebenswürdigen Weise: ›Heute abend rücken wir aus, mein Bester.‹ – ›Wirklich, Sir?‹ sagte ich. ›Da soll ich Ihnen wohl die Rechnung vorbereiten, Sir?‹ – ›Ist nicht nötig, mein Bester‹, sagte er; ›Sie brauchen sich nicht damit zu bemühen. Ich werde Pecksniff schon anweisen, daß er die Kleinigkeit begleicht.‹ Darauf erwiderte der Drache: ›Besten Dank, Sir, daß Sie uns beehrt haben; aber da wir Sie nicht näher kennen und Sie ohne Gepäck reisen und Mr. Pecksniff nicht zu Hause ist – was Sie selbstverständlich nicht wissen –, so möchten wir gerne etwas Greifbares von Ihnen sehen.‹ So stehen die Sachen. Und jetzt frage ich Sie«, sagte Mr. Tapley und deutete mit der Hutkrempe auf Mr. Tigg, »welcher Herr oder welche Dame von gesundem Menschenverstand kann behaupten, daß der Bursche nicht ein ganz verdammter Lump ist!?«

»Sagen Sie, bitte«, mischte sich Martin ein und erstickte damit ein vernichtendes Anathema von seiten Mr. Tiggs im Keime, »wie hoch beläuft sich die Schuld?«

»Ach Gott, nicht besonders viel. – Höchstens drei Pfund, Sir«, meinte Mark. »Das würde auch weiter nichts ausmachen, – wenn nicht – wie gesagt – –«

»Ja, ja, das haben wir schon gehört«, unterbrach Martin Chuzzlewit kurz. »Pinch, auf ein Wort.«

»Was ist’s?« fragte Tom und zog sich mit seinem Kollegen in eine Ecke des Zimmers zurück.

»Offen gestanden – ich schäme mich fast, es auszusprechen – aber dieser Slyme ist ein Verwandter von mir, von dem ich nie viel Gutes gehört habe. Es paßt mir nicht, daß er sich hier herumtreibt, und ich möchte ihn für drei oder vier Pfund gerne loswerden. Sie haben wohl nicht so viel Geld, um diese Zeche zu begleichen?«

Tom schüttelte so nachdrücklich den Kopf, daß an seiner Aufrichtigkeit unmöglich zu zweifeln war.

»Das ist fatal, denn ich bin gleichfalls auf dem Trockenen. Falls Sie es gehabt hätten, würde ich Sie darum angegangen haben. – – Hm. – – Was, wenn wir aber der Wirtin sagen, wir wollten dafür gutstehen? Glauben Sie, daß sie darauf einginge?«

»Oh, sicher!« rief Tom. »Sie kennt mich. – Gottlob!«

»Dann wollen wir gleich zu ihr gehen und ihr den Vorschlag machen. Je eher wir diese Gesellschaft loswerden, desto besser. Da Sie bisher das Wort geführt haben, machen Sie dem Herrn vielleicht klar, was wir zu tun gedenken – wollen Sie?«

Mr. Pinch tat es mit Freuden und teilte Mr. Tigg das Nötige mit, der ihm dafür warm die Hand drückte und versicherte, sein Glaube an die Menschheit sei jetzt wieder gänzlich hergestellt. Nicht so sehr wegen des gütigen Beistandes als wegen des gelieferten Beweises, daß edle Naturen immer noch ein Verständnis für ihresgleichen auf Erden empfänden. Und er danke den Herren im Namen seines genialen Freundes ebenso warm und herzlich, als ob es sich um seine eigne Angelegenheit handle. In seiner schwungvollen Rede durch den allgemeinen Aufbruch gestört, bemächtigte er sich an der Haustüre des Rockärmels Mr. Pinchs, um weiteren Unterbrechungen vorzubeugen, und unterhielt seinen gutmütigen Zuhörer mit allerhand erbaulichen Gesprächen, bis sie vor dem »Drachen« anlangten.

Es bedurfte bei der blühenden Wirtin kaum Mr. Pinchs Fürsprache, da sie ihre beiden Gäste sowieso möglichst rasch los sein wollte. In Wirklichkeit hatten diese ihre kurze Haft lediglich Mr. Tapley zu verdanken, der eine prinzipielle Abneigung gegen großsprecherische Gentlemen mit durchlöcherten Ellenbogen hegte und ganz speziell gegen Prachtexemplare von der Sorte wie Mr. Tigg und sein Freund. Nachdem die Angelegenheit so in Kürze abgemacht war, wollten sich Mr. Pinch und Martin sogleich wieder entfernen, aber Mr. Tigg bat sie so inständig, ihm die Ehre zu erweisen, sie seinem Freunde vorstellen zu dürfen, daß sie teils aus Gutmütigkeit, teils aus Neugierde nachgaben und sich diesem ausgezeichneten Gentleman vorführen ließen.

Mr. Chevy Slyme brütete gerade über der Neige einer Brandyflasche vom gestrigen Abend und war mit der tiefsinnigen Aufgabe beschäftigt, mit dem nassen Boden seines Trinkglases eine Kette von Ringen auf den Tisch zu zeichnen. So elend und herabgekommen er auch jetzt aussah, so war er doch einst in seiner Art gewissermaßen tonangebend gewesen und hatte seine Ansprüche als Mann von unendlichem Geschmack und vielversprechenden Gaben allenthalben geltend gemacht. Die nötigen Requisiten zu diesem Beruf sind leicht beschafft: ein Naserümpfen, ein spöttisches Aufwerfen der Lippe, ein geringschätziges Lächeln – – was will man mehr! Aber dieses Pfropfreis des Stammes Chuzzlewit hatte es sich – nachdem seine Mittel aufgebraucht waren und er zu faul war für irgendwelche Tätigkeit – in einer schlimmen Stunde sogar beifallen lassen, eine Art Professor des guten Geschmacks werden zu wollen. Zu spät fand er, daß dazu etwas mehr erforderlich war als seine ursprünglichen Qualifikationen, um sich in diesem Berufe halten zu können, und schnell war er daher bis zu seiner gegenwärtigen Stufe herabgesunken. Nichts war ihm von seinem frühern Ich übriggeblieben als sein prahlerisches Wesen und seine Gallsucht, und ohne seinen Freund schien er gar nicht existieren zu können. Im gegenwärtigen Augenblick bot er in seinem trunkenweinerlichen Zustand, seiner Unverschämtheit und seinem Bettlerstolz eine so jämmerliche Figur, daß sogar sein Freund und Schmarotzer daneben einen ritterlichen Eindruck machte.

»Chiv«, begann Mr. Tigg und klopfte ihm auf den Rücken, »mein Freund Pecksniff war nicht zu Hause, und ich habe daher die Sache mit Mr. Pinch und seinem Freund in Ordnung gebracht. – – Mr. Pinch nebst Freund – Mr. Chevy Slyme.«

»Eine recht angenehme Lage, um sich Fremden vorstellen zu lassen«, versetzte Chevy Slyme und richtete seine blutunterlaufenen Augen auf Tom Pinch. »Ich glaube, ich bin der unglücklichste Mensch auf Erden!«

Tom bat ihn, nicht davon zu sprechen, und wollte sich nach einer Pause mit Martin entfernen, aber Mr. Tigg beschwor sie durch Räuspern und Nicken so dringend, sie möchten doch an der Tür stehen bleiben, daß sie unwillkürlich haltmachten.

»Ich schwöre«, rief Mr. Slyme, ließ seine Faust kraftlos auf den Tisch fallen und stützte dann den Kopf auf die Hand, während ein paar Tränen besoffenen Jammers aus seinen Augen niedertropften, »daß ich das elendeste Geschöpf weit und breit bin. Die Menschheit hat sich gegen mich verschworen. Ich bin der gebildetste Mensch, der je gelebt. Ich weiß alles und jedes, bin voll Geist, voller Kenntnisse, voll neuer Ansichten – und doch in der schmachvollen Lage, in diesem Augenblick einer elenden Zeche wegen zwei Fremden verpflichtet sein zu müssen!«

Mr. Tigg schenkte seinem Freund das Glas wieder voll, drückte es ihm in die Hand und gab den beiden durch Zeichen zu verstehen, daß sie Chevy Slyme sogleich in einem bessern Lichte zu sehen bekommen würden.

»Zwei Fremden verpflichtet für eine Wirtshausrechnung! Was?!« wiederholte Mr. Slyme, nachdem er dem Glase verdrießlich zugesprochen. »Nette Sachen das! Und Scharen von Betrügern werden indessen berühmt – Kerle, die ebenso unwürdig sind, mir die Schuhriemen zu lösen, wie – wie – – Tigg, ich rufe dich zum Zeugen an, daß ich der verfolgteste Hund bin, der über die Erde hinstreicht.« Mit einem Gewinsel, das wirklich etwas Hündisches hatte, setzte er wieder das Glas an den Mund. Er mußte einigen Mut oder Stärkung daraus geschöpft haben, denn, als er es niedersetzte, lachte er laut und verächtlich auf. – Abermals machte Mr. Tigg Martin und Tom sehr nachdrückliche Gebärden, daß jetzt der Augenblick gekommen sei, wo »Chiv« in seiner vollen Größe sich entpuppen werde.

»Ha, ha, ha!« lachte Mr. Slyme. »Zwei Fremden verpflichtet für eine Wirtshausrechnung! Ich! Verpflichtet zwei Architektenlehrlingen – Kerlen, die die Erde mit eisernen Ketten abmessen und Häuser bauen wie die Maurer. – Man nenne mir die Namen dieser beiden Lehrlinge! Wie können sie sich unterstehen, mir Verpflichtungen aufzuerlegen?«

Mr. Tigg war ganz außer sich vor Bewunderung über diesen edlen Charakterzug seines Freundes, wie er Mr. Pinch durch lebhaftes Gebärdenspiel deutlich zu erkennen gab.

»Sie sollen wissen, und alle Welt soll es wissen«, schrie Chevy Slyme, »daß ich keiner von den gemeinen, kriecherischen, zahmen Charakteren bin, die man im gewöhnlichen Leben antrifft. Ich bin unabhängig und frei. Mein Herz ist stolz. Ich habe eine Seele, die sich hoch erhebt über niedrige Rücksichten.«

»O Chiv, Chiv, Chiv!« murmelte Mr. Tigg. »Du hast eine edle unabhängige Natur, Chiv!«

»Geh hin und tue deine Pflicht«, herrschte ihn Mr. Slyme unwillig an. »Borg dir Geld aus für die Reise, und wer’s immer sei, der’s herborgt, sag ihm, daß ich einen hohen und stolzen Geist besitze und daß in meiner Seele höllisch tiefe Saiten erklingen, die eine Gönnerschaft nicht ertragen können. Hörst du? Sag ihnen, daß ich sie hasse und auf diese Art mir die Achtung vor mir selbst bewahre. Sag ihnen, daß noch nie ein Mensch sich selbst so geachtet hat wie ich mich!«

Er wollte noch hinzufügen, daß er zwei Arten von Menschen besonders hasse, nämlich alle, die ihm Wohltaten erwiesen, und alle, denen es besser ging als ihm selbst, da in beiden Fällen ihre Lage eine Kränkung für einen Mann von seinen unerhörten Verdiensten bedeute. – Er sprach es jedoch nicht aus, denn gleich darauf sank er mit dem Kopf auf den Tisch und verfiel in einen trunkenen Schlaf. – Zu hochmütig, um zu arbeiten, zu betteln, zu borgen oder zu stehlen, war er doch gemein genug, sich von einem andern die Kastanien aus dem Feuer holen zu lassen; zu patzig, um die Hand zu lecken, die ihn in seiner Not fütterte, war er doch Köter genug, hinterrücks zu beißen und sie zu zerfleischen!

»Hat es je«, rief Mr. Tigg und begleitete die jungen Leute hinaus und schloß sorgsam die Türe hinter sich, »hat es je einen so freien unabhängigen Geist gegeben wie diesen außerordentlichen Menschen? Je einen solchen Römer im Altertum wie unsern Freund Chiv! Je einen Mann von so streng klassischem Gedankenflug, von einer so togaartigen Einfachheit des Wesens? Gab es je einen Mann von so fließender Beredsamkeit? Ich frage Sie, meine Herrn, hätte er sich nicht im Altertum auf einen Dreifuß setzen und uns bis ins Grenzenlose prophezeien können, vorausgesetzt, man hätte ihn auf Staatskosten mit Grog versorgt?!«

Mr. Pinch war eben im Begriffe, diese kühne Behauptung mit seiner gewohnten Milde zu bezweifeln, als er bemerkte, daß sein Begleiter bereits die Treppe hinuntergegangen war. Er schickte sich daher an, ihm zu folgen.

»Sie wollen doch nicht schon gehen, Mr. Pinch?« fragte Tigg.

»Ja. – Ich danke«, antwortete Tom, »bitte, bemühen Sie sich nicht, bleiben Sie nur hier.«

»Wissen Sie, ich möchte noch gern ein Wörtchen im Vertrauen mit Ihnen reden«, versetzte Tigg. »Es würde mein Herz sehr erleichtern, wenn ich mich auf der Kegelbahn noch einige Minuten Ihrer Gesellschaft erfreuen könnte. Darf ich Sie um diese Gunst ersuchen?«

»O gewiß, wenn Ihnen soviel daran liegt«, erwiderte Tom. Er begleitete also Tigg, und als sie bei der Kegelbahn angekommen waren, zog dieser etwas, was wie die fossilen Überreste eines antediluvianischen Schnupftuchs aussah, aus seinem Hute und wischte sich die Augen damit.

»Sie haben mich heute in einem ungünstigen Lichte gesehen«, schluchzte Mr. Tigg.

»Bitte, reden wir nicht davon«, bat Tom.

»Es ist aber doch so«, rief Tigg. »Ich muß auf dieser Ansicht beharren. Hätten Sie mich an der Küste Afrikas an der Spitze meines Regiments sehen können, Mr. Pinch, wie ich ein Karree formierte – in der Mitte die Weiber, die Kinder und die Regimentskasse – und zum Angriff schritt, so würden Sie nicht glauben, daß jetzt derselbe Mann vor Ihnen steht. Sie würden den größten Respekt vor mir gehabt haben, Sir.«

– Tom schien diesbezüglich seine eigenen Ansichten zu haben und war daher von dieser Schilderung nicht ganz so hingerissen, wie Mr. Tigg wohl wünschen mochte. –

»Doch gleichviel! – Ich bitte um Verzeihung, wenn ich mich schwach zeigte. – – – Sie haben meinen Freund Slyme gesehen?«

»Kein Zweifel.«

»Und welchen Eindruck hat mein Freund Slyme auf Sie gemacht, Sir?«

»Keinen sehr angenehmen, muß ich sagen«, antwortete Tom stockend.

»Das tut mir leid, aber es überrascht mich nicht«, rief Mr. Tigg und hielt Tom an beiden Rockaufschlägen fest, »es ist auch meine Meinung. Aber, Mr. Pinch, wenn ich auch nur ein schlichter und gedankenloser Mensch bin, so weiß ich doch den Geist zu ehren. Ich ehre das Talent in meinem Freunde. Ich habe das Recht, Mr. Pinch, vor allen Menschen gerade an Sie um seines hohen Geistes willen zu appellieren, wenn ihm schon die Fähigkeit mangelt, in der Welt sein Glück zu machen. Und daher, Sir, – nicht um meinetwillen, der ich durchaus keine Ansprüche an Ihre Teilnahme habe, sondern um meines niedergedrückten, meines geistig so unendlich hochstehenden, stolzen Freundes willen, der zu wirklichen Ansprüchen berechtigt ist wie keiner sonst – bitte ich Sie um ein Darlehen von drei halben Kronen. Ich bitte Sie darum offen und ohne Erröten. Ich bitte darum, gewissermaßen wie um ein Recht. Und wenn ich hinzufüge, daß sie noch in dieser Woche zurückerstattet werden sollen, so fühle ich, daß Sie mich wegen dieser kleinlichen Worte innerlich nicht tadeln werden.«

Mr. Pinch zog einen altmodischen rotledernen Geldbeutel mit einem Stahlschloß, der wahrscheinlich seiner seligen Großmutter gehört hatte, hervor. Er enthielt eine einzige halbe Guinee – Toms ganzes Gehalt für dieses Quartal. »Halt!« rief Mr. Tigg, der ihn dabei scharf beobachtet hatte. »Ich wollte eben sagen, besser wäre noch eine halbe Guinee – – der Post wegen – Gold läßt sich bequemer zurückschicken. – – Ich danke Ihnen. Als Adresse genügt vermutlich: ›Mr. Pinch bei Mr. Pecksniff‹?«

»Ja, ganz richtig. Nur schreiben Sie, bitte, hinter Mr. Pecksniffs Namen: ›Hochwohlgeboren‹. Also an mich bei Mr. Seth Pecksniff, Hochwohlgeboren.«

»Bei Seth Pecksniff, Hochwohlgeboren«, buchstabierte Mr. Tigg und schrieb sich die Adresse mit einem Bleistiftstümpfchen sorgfältig auf. »Wir sagten, glaube ich, diese Woche?«

»Ja; oder meinetwegen auch Montag«, bemerkte Tom.

»Nein, nein, pardon! Montag, das geht nicht«, protestierte Mr. Tigg. »Wenn wir diese Woche ausgemacht haben, so ist Samstag der späteste Termin. Wurde diese Woche festgesetzt?«

»Wenn Sie’s schon so genau nehmen – ja«, entgegnete Tom. Mr. Tigg merkte sich auch dies genau an, überlas noch einmal die Notiz mit ernstem Stirnrunzeln und setzte dann, um das Geschäft noch korrekter und buchungsmäßiger zu machen, dem ganzen die Anfangsbuchstaben seines eigenen Namens bei. Sodann versicherte er Mr. Pinch, es sei jetzt alles vollkommen in Ordnung, drückte ihm mit großer Wärme die Hand und entfernte sich.

Da Mr. Pinch fürchtete – und wohl mit Recht –, Martin könne dieses Interview ins Lächerliche ziehen, wollte er nicht sogleich nachkommen und ging daher in der Kegelbahn auf und ab, bis Mr. Tigg und sein Freund den »Drachen« verlassen hatten. – Gerade als sie abzogen, begegnete er Mark vor dem Wirtshaus.

»Ich wollte eben sagen«, bemerkte Mark und deutete den beiden nach, »daß das so eine Art Dienst für mich wäre, wenn man davon leben könnte. Solchen Individuen aufzuwarten wäre doch noch besser, als Totengräber zu sein, Sir.«

»Hierzubleiben wäre besser als beides, Mark«, entgegnete Tom. »Lassen Sie sich raten und bleiben Sie, wo’s Ihnen gutgeht.«

»Dazu ist es jetzt zu spät, Sir«, sagte Mark. »Ich habe ihr bereits gekündigt, und morgen früh geht’s fort.«

»Wirklich fort? Und wohin denn?« »Nach London, Sir.«

»Und was dort?« fragte Mr. Pinch.

»Das weiß ich selbst noch nicht, Sir. Seit ich Ihnen mein Herz ausgeschüttet habe, hat sich noch nichts Geeignetes gefunden. All die Berufe, an die ich dachte, waren viel zu heiter, und man hätte keine besondere Ehre dabei einlegen können. Ich werde mich wohl um einen Privatdienst umsehen müssen, Sir. Ich möchte meine Kraft allenfalls an einer frommen Familie versuchen, Mr. Pinch.«

»Ob das aber die fromme Familie aushielte?« meinte Tom.

»Da könnten Sie recht haben, Sir. – Wäre ich imstande, bei einer gottlosen Familie unterzukommen, wäre das meinen Kräften vielleicht angemessener. Aber da ist wieder die Schwierigkeit: Wo finde ich das Richtige? Ein junger Mensch kann doch nicht gut in die Zeitung einrücken lassen: ›Stelle wird gesucht. Es wird mehr auf Gottlosigkeit als auf hohen Lohn gesehen.‹ Oder meinen Sie doch, Sir?«

»Nein, nein«, gab Tom zu. »Das geht keinesfalls.«

»Eine neidische Familie«, fuhr Mark mit gedankenvoller Miene fort, »eine streitsüchtige Familie, eine boshafte Familie, oder sogar eine so ganz durch und durch niederträchtige Familie würde mir einen Wirkungskreis öffnen, in dem ich etwas leisten könnte. Am besten von allen Leuten hätte mir der alte Herr gepaßt, der hier krank lag. Der war so der richtige Plagegeist. – Nun, ich muß eben warten und zusehen, was kommt, Sir. Hoffen wir das Schlimmste.«

»Sie sind also fest entschlossen zu gehen?« fragte Mr. Pinch.

»Mein Koffer ist bereits beim Fuhrmann, Sir, und ich gehe morgen zu Fuß fort. Wenn mich die Kutsche einholt, so sitze ich auf. Aber jetzt Gott befohlen, Mr. Pinch, leben Sie wohl – und auch Sie, mein Herr. Leben Sie wohl alle beide – und viel Glück und Wohlergehen!«

Lachend erwiderten die beiden Kollegen diesen Abschiedsgruß und gingen Arm in Arm nach Hause. Unterwegs teilte Mr. Pinch Martin zur näheren Erklärung die Einzelheiten von Mr. Mark Tapleys wunderlichem Ehrgeiz mit, die der Leser bereits kennt. Hartnäckig wich Mark den ganzen Nachmittag bis zum Abend seiner Gebieterin aus, denn er hatte gemerkt, daß sie sehr niedergeschlagen war, und glaubte seinerseits nicht so ganz für die Folgen eines verlängerten Tête-à-tête hinter dem Schankverschlag stehen zu können. Bei dieser Taktik wurde er durch den großen Andrang in der Bierstube unterstützt. Die Kunde von seinem Vorhaben war nämlich ruchbar geworden, und es gab deshalb den ganzen Abend ein förmliches Gedränge, da jeder noch auf seine Gesundheit trinken wollte, was natürlich in der Folge ein gewaltiges Krügegeklapper veranlaßte. Endlich wurde das Haus für die Nacht geschlossen. Mark mußte jetzt – da war nicht mehr zu helfen – die beste Miene zum bösen Spiel machen und begab sich daher anscheinend sehr verdrießlich zur Büfettüre.

»Wenn ich ihr in die Augen schaue«, sagte er sich, »so ist’s um mich geschehen. Ich fühle schon jetzt, wie’s mich reißt.«

»Endlich kriegt man Sie zu sehen«, begann Mrs. Lupin.

»Ja«, brummte Mark. »Da bin ich.«

»Und Sie sind also wirklich fest entschlossen, uns zu verlassen, Mark?«

»Nun freilich«, sagte Mark, ohne die Augen aufzuschlagen.

»Ich dachte«, fuhr die Wirtin mit ermutigendem Stocken fort, »Sie hätten den ›Drachen‹ gern?«

»Ich habe ihn auch gern«, antwortete Mark.

»Nun also«, fragte die Wirtin – und es war gewiß eine sehr natürliche Frage – »warum wollen Sie ihn denn dann verlassen?«

Da Mark auf diese Frage keine Antwort gab, nicht einmal, als sie wiederholt wurde, zählte ihm Mrs. Lupin daher sein Geld auf die Hand und fragte ihn – nicht ungütig, ganz im Gegenteil –, was er sonst noch etwa möchte.

Das Sprichwort sagt schon, es gebe gewisse Dinge, denen Fleisch und Blut nicht widerstehen können. Eine Frage wie diese, und noch dazu in solcher Art, zu einer solchen Zeit und von einer solchen Person gestellt, war – soweit es wenigstens Marks Fleisch und Blut betraf – gewiß eines dieser Dinge. Mark sah wider Willen auf und blickte, nachdem dies einmal geschehen war, nicht mehr zu Boden – stand doch die Blüte aller rundlichen, drallen, hübschen, glutäugigen, mit Wangengrübchen geschmückten Wirtinnen, die je auf Erden gewandelt, leibhaftig vor ihm.

»Nun, ich will Ihnen was sagen«, rief Mark, wurde plötzlich ganz Feuer und Flamme und schlang den Arm um Mrs. Lupins Taille – was diese ganz und gar nicht beunruhigte, wußte sie doch, was Mark für ein wackerer junger Mensch war – »wenn ich mir nehmen dürfte, was mir am meisten gefiele, so wären Sie es. Jawohl, Sie und nur Sie«, rief Mr. Tapley, nickte nachdrücklich und blieb mit seinen Blicken, ohne daran zu denken, was er sich so fest vorgenommen, an den Kirschenlippen der hübschen Witwe hängen. »Und kein Mensch würde sich wundern, wenn ich’s täte!«

Mrs. Lupin sagte, sie sei geradezu aus den Wolken gefallen. Wie er nur solches Zeug reden könne. Sie hätte das nie von ihm gedacht.

»Wahrhaftig, ich hätte es früher auch nie von mir gedacht!« entgegnete Mark und zog seine Augenbrauen in komischem Erstaunen in die Höhe. »Ich dachte immer, wir würden ganz mir nichts, dir nichts voneinander scheiden, und hatte mir eben vorhin noch, ehe ich eintrat, vorgenommen, es so zu halten. Aber Sie haben etwas an sich, das einem das Herz aufgehen macht. – Doch reden wir mal gescheit miteinander« – fügte er im ernsten Tone hinzu, um jedem Irrtum vorzubeugen – »Sie wissen, daß ich Ihnen keine Liebeserklärung nicht machen will.«

Eine Sekunde lang überflog ein Schatten – wenn auch kein gerade finsterer – das offene Gesicht der Wirtin, verschwand jedoch gleich wieder und machte einem herzlichen Lachen Platz.

»Meinen Sie nicht«, sagte sie, »wenn Sie an so was nicht denken, daß es besser wär, wenn Sie Ihren Arm wegtäten?«

»Warum sollt ich denn das?« rief Mark. »Es ist doch nichts Unrechtes dabei!«

»Natürlich ist nichts Unrechtes dabei«, entgegnete Mrs. Lupin, »sonst würde ich es auch nicht erlauben.«

»Na gut«, meinte Mark, »dann lassen wir’s halt dabei.«

Das war so vernünftig gesprochen, daß die Wirtin ihn lachend gewähren ließ, ihn aber zugleich aufforderte, mit dem, was er zu sagen habe – und zwar schnell – herauszurücken. – Übrigens sei er ein unverschämter Bursche, setzte sie hinzu. »Ha, ha! Mir kommt’s beinahe auch so vor«, lachte Mark, »ich hätt’s früher wahrscheinlich selbst nicht geglaubt. Aber macht nix, heut abend getrau ich mir schon was zu sagen.«

»Also, raus damit – endlich schon!« rief Mrs. Lupin. »Ich möcht zu Bett gehen.«

»Na, so hören S’«, sagte Mark, »und ich möcht den Mann sehen, der sagt, daß er je eine freundlichere Frau als Sie gesehen hat – was möcht eigentlich sein, wann wir zwei mitsamm –« »Aber Unsinn!« rief Mrs. Lupin. »Reden Sie nicht so dummes Zeug daher!«

»Gar kein dummes Zeug«, protestierte Mark, »und ich möcht Sie bitten, daß Sie mich bis zu End hören. Also, was möcht sein, wenn wir zwei zusamm ein Paar wären? Wenn mir jetzt schon nicht recht wohl in dem schönen ›Drachen‹ ist, wie könnt ich dann erst zufrieden sein?! Schon gar nicht. Das ist doch gar keine Frag nicht. Wenn Sie noch so gut aufgelegt wären, möchten Sie sich doch immer damit abquälen, ob Sie nicht zu alt für meinen Geschmack würden, und möchten sich einreden, daß ich an Sie angebunden wär wie der Drachen ober der Tür, und immer ausreißen möcht. – Ich weiß ja nicht, ob es so kommen würde«, fuhr Mark gedankenvoll fort, »aber sein könnt’s doch immerhin. Sie wissen, ich bin ein unsteter Mensch und hab gern Abwechslung. Ich glaub immer, daß ein Mensch von meiner Gesundheit und meiner guten Laune eigentlich nur dann Ehre einlegen kann, wenn er dort fidel ist, wo andere sich unglücklich fühlen. Vielleicht hab ich unrecht, aber sehen Sie, wenn’s auch so wär, was könnt’s da Besseres geben als Ausprobieren? Es ist also wohl das beste, wenn ich geh. Besonders, wo Sie mir erlaubt haben, alles das rund herauszusagen. So können wir wenigstens als gute Freunde scheiden, wie wir’s immer gewesen sind, seitdem ich zum erstenmal hier unter dem Dach dieses edlen Drachen eingezogen bin, an den ich«, setzte Mr. Tapley zum Schlüsse hinzu, »bis zum letzten Atemzug mit Hochachtung denken werde.«

Eine kleine Weile blieb die Wirtin ganz stumm sitzen, dann legte sie ihre beiden Hände in die Mr. Tapleys und drückte sie herzlich. »Sie sind halt ein guter Mensch«, sagte sie und sah ihm mit einem Lächeln, das sich an ihr ein wenig ernst ausnahm, ins Gesicht. »Ich glaube, Sie sind mir heute abend ein besserer Freund gewesen, als ich je einen in meinem ganzen Leben gehabt hab.«

»Ach, was das betrifft, wissen Sie«, entgegnete Mark, »das sind Possen. Aber, so wahr ich lebe!« rief er und sah sie mit einer Art Begeisterung an. »Wenn es Ihnen wirklich darum zu tun wäre – wieviel annehmbaren Freiern könnten Sie nicht den Kopf verdrehen!«

Mrs. Lupin lachte herzlich über dieses Kompliment, schüttelte ihm wieder die Hände und bat ihn, wenn er je einen Freund in der Not brauche, ihrer nicht zu vergessen. Dann verließ sie fröhlich das kleine Schenkzimmer und begab sich die Drachentreppe hinauf.

»Sie singt ein Liedchen im Gehen«, murmelte Mark lauschend, »damit ich nicht glauben soll, sie sei traurig. Na, da ist’s doch wenigstens ein bißchen Ehre, wenn man dabei fidel ist!«

Mit diesem Trosteswort, das recht kläglich klang, ging er nichts weniger als fidel zu Bett.

Am nächsten Morgen stand er noch früher auf als gewöhnlich und war schon bald nach Sonnenaufgang auf den Beinen. Doch das half alles nichts; der ganze Ort war gleichfalls schon wach, um Mark Tapley scheiden zu sehen: – die Buben, die Hunde, die Kinder, die alten Männer, die Fleißigen und die Müßiggänger, alle waren sie da und riefen jeder sein: »Leb wohl, Mark!« und jedem tat es leid, daß er ging. Tapley hatte auch so eine Art Ahnung, daß seine gewesene Gebieterin aus ihrem Kammerfenster heraussähe, aber er konnte es nicht übers Herz bringen, hinaufzuschauen.

»Lebt wohl – alle miteinander!« rief er, schwenkte seinen Hut auf seinem Wanderstab und marschierte mit raschen Schritten die schmale Gasse hinauf. »Brave Kerle, die Wagenmacher – hurra! Da kommt der Fleischerhund aus dem Garten nach Haus, alter Kerl! – Und Mr. Pinch geht zu seiner Orgel – leben Sie wohl, Sir! Und der kleine Dachshund vom Nachbar! Obs d‘ schaust, daß d‘ heimkommst! Und Kinder, genug, um das Menschengeschlecht bis zum jüngsten Tag fortzupflanzen – lebt wohl, ihr Buben und Mädels! – Na, da kann man wirklich mal Ehre einlegen – da braucht’s die ganze Manneskraft, um fidel zu bleiben. – Aber ich bin ungeheuer fidel! Nicht ganz so zwar, wie ich möchte – aber doch beinah. – Adjö, adjö!«

8. Kapitel


8. Kapitel

Was alles Mr. Pecksniff und seinen beiden lieblichen Töchtern auf der Reise nach London passierte

Als Mr. Pecksniff und die beiden jungen Damen am Ende der Gasse in die schwerfällige Postkutsche stiegen, fanden sie zu ihrer großen Freude die Innenplätze unbesetzt, was ihnen um so angenehmer schien, als die Außensitze überfüllt waren und die Reisenden sehr erfroren aussahen. Denn, wie Mr. Pecksniff sehr richtig bemerkte – nachdem er und seine Töchter ihre Füße tief im Stroh eingegraben, sich selbst bis ans Kinn eingemummt und beide Fenster geschlossen hatten –, fühlt sich der Mensch bei rauhem Wetter um so behaglicher, je deutlicher ihm zum Bewußtsein kommt, daß andere frieren. Und das, sagte er, sei ganz natürlich und eine sehr schöne Einrichtung, die sich nicht bloß auf Kutschen beschränke, sondern auf viele Gebiete geselligen Lebens erstrecke. »Denn«, meinte er, »wenn jedermann im Warmen säße und Speise und Trank die Hülle und Fülle hätte, müßte man des Genusses entbehren, den Heldenmut zu bewundern, mit dem eine gewisse Menschenklasse Kälte und Hunger erträgt. Und wenn wir nicht besser daran wären als andere, wie wäre es mit unserer Dankbarkeit bestellt, die« – sprach Mr. Pecksniff mit Tränen in den Augen und drohte einem Bettler, der gerade hinten aufsitzen wollte, mit der Faust – »bekanntlich eines unserer edelsten Gefühle ist.«

Mit gebührender Ehrfurcht lauschten die beiden Schwestern diesen moralischen Belehrungen von den Lippen ihres Vaters und gaben durch ein Lächeln ihre Zustimmung zu erkennen. Um die heilige Flamme der Dankbarkeit desto besser in seiner Brust nähren zu können, bemerkte Pecksniff zu seiner ältesten Tochter, er müsse sie leider schon in der ersten Stunde ihrer Reise um die Rumflasche bemühen. Sodann sog er aus dem engen Halse dieses steinernen Gefäßes eine reichliche Erfrischung.

»Was sind wir?« fragte er schmatzend und stöpselte sie wieder zu. »Sind wir etwas anderes als Kutschen? Einige von uns gehören zu den langsamen –«

»O Gott, Pa!« rief Charitas.

»Einige von uns, sage ich«, wiederholte der Treffliche mit Nachdruck, »gehören zu den langsamen Kutschen, einige von uns sind Eilwagen. – Unsere Leidenschaften sind die Pferde – jedenfalls sich bäumende Tiere.«

»Wahrhaftig, Pa!« riefen die beiden Schwestern einstimmig. »Wie peinlich!«

»Jedenfalls sich bäumende Tiere!« beharrte Mr. Pecksniff so entschlossen auf seiner Ansicht, daß man hätte sagen können, er habe sich in diesem Augenblick selbst gewissermaßen moralisch gebäumt – »und die Tugend ist der Hemmschuh. Auf der Mutter Armen treten wir in die Welt und eilen der Grabschaufel zu.« Begreiflicherweise von dieser Kraftanstrengung sehr erschöpft, nahm Mr. Pecksniff eine weitere Erquickung und legte sich zurück, um drei Stationen weit zu schlafen.

Es gehört zu den Eigenheiten der Menschen, wenn sie in Kutschen schlafen, daß sie verdrießlich aufwachen und einander mit den Beinen inkommodieren, was um so peinlicher wirkt, je mehr Hühneraugen die Zehen zieren. Mr. Pecksniff, der von diesem gemeinsamen Lose der Menschheit keine Ausnahme machte, war, als er von seinem Schläfchen erwachte, so ausgesprochen das Opfer dieser Gebresten, daß er eine unwiderstehliche Neigung empfand, seine üble Laune an seinen beiden Töchtern auszulassen. Auch hatte er bereits begonnen, sie in Form aufs Geratewohl geführter Fußtritte und anderer schwer zu parierender pedestrischer Attacken an den Tag zu legen, als die Kutsche plötzlich anhielt und nach einer kurzen erwartungsvollen Pause der Schlag aufgerissen wurde.

»Aber wohlgemerkt«, rief eine dünne scharfe Stimme aus der Dunkelheit, »ich und mein Sohn nehmen Innenplätze nur, weil das Dach voll ist, bezahlen aber bloß für Außenplätze. Abgemacht, was?«

»Sehr wohl, Sir«, erwiderte der Schaffner.

»Ist schon jemand drin?« forschte die Stimme.

»Drei Passagiere.«

»Dann bitte ich die drei Passagiere, mir diese Abmachung zu bezeugen, wenn sie so gut sein wollen«, sagte die Stimme. »Mein Junge, ich glaube, wir können jetzt unbesorgt einsteigen.«

Gleich darauf nahmen zwei Personen in dem Fuhrwerke Platz, das laut feierlichem Parlamentsakt autorisiert war, sechs Personen – vorausgesetzt, daß ihr Leibesumfang es zuließ, den Wagenschlag zu passieren – von Station zu Station zu befördern.

»Das war ein Glück« flüsterte der alte Mann, als die Kutsche wieder weiterfuhr. »Sehr politisch von dir, mein Junge, daß du es gleich bemerktest. – Hi, hi, hi! Wir hätten doch gar keinen Außensitz nehmen können. Ich wäre an Rheumatismus gestorben.«

Ob es dem pflichtgetreuen Sohn vielleicht einfiel, er habe durch unbeabsichtigte Verlängerung der Lebenstage seines Vaters gewissermaßen übers Ziel hinausgeschossen, oder ob dies so verstimmend auf ihn wirkte, ließ sich schwer feststellen. – Jedenfalls gab er seinem Vater einen derartigen Rippenstoß als Antwort, daß dieser einen Hustenanfall erlitt, der volle fünf Minuten ohne Unterlaß währte und schließlich Mr. Pecksniff zu der heftigen Äußerung reizte:

»Da hört sich denn doch alles auf! Leute, die sich den Kopf erkältet haben, gehören hier nicht herein!«

»Bei mir«, entgegnete der alte Mann nach einer kurzen Pause, »sitzt die Erkältung nicht im Kopf, sondern auf der Brust, – Pecksniff.«

Die Stimme, der Tonfall, die Anwesenheit des halbwüchsigen schweigsamen Burschen und die Nennung seines Namens – alles verriet Mr. Pecksniff sofort, wer da eingestiegen war.

»Hm! Ich meinte, es sei ein Fremder«, brummte er und kehrte sofort zu seiner gewohnten Milde zurück, »und jetzt sehe ich einen Verwandten vor mir. – Mr. Anthony Chuzzlewit und sein Sohn, Master Jonas«, erklärte er seinen Töchtern. »Sie werden mir eine scheinbar rauhe Bemerkung verzeihen. Ich wünsche nicht, die Gefühle wessen immer, zumal, wenn ich mit dem Betreffenden durch Familienbande verkettet bin, zu verletzen. – Ich mag zwar ein Heuchler sein«, sagte er spitzig, »bin aber kein Unmensch.«

»Puh, puh!« krächzte der alte Mann. »Was besagt denn das Wort, Pecksniff? Heuchler! Wir sind doch alle Heuchler. Unlängst waren wir alle Heuchler. Ich dachte, wir wüßten das alle ganz genau, sonst hätte ich Sie nicht so tituliert. Wir würden doch gar nicht zusammengekommen sein, wenn wir nicht Heuchler gewesen wären. Der einzige Unterschied zwischen Ihnen und den übrigen war – soll ich Ihnen den Unterschied sagen, Pecksniff?«

»Wenn Sie so gut sein wollen, mein guter, werter Herr, bitte, sagen Sie es nur.«

»Also, die widerwärtigste Eigenschaft an Ihnen ist, daß Sie bei Ihren Tiraden sozusagen nie einen Partner haben. Sie möchten am liebsten alle täuschen, sogar diejenigen, die selbst die Kunst praktizieren. Und dann haben Sie so eine Art, als ob Sie – hi, hi, hi – als ob Sie womöglich selbst glaubten, was Sie sagen. Wenn das Wetten meine Sache wäre, was jedoch nicht der Fall ist und nie der Fall war«, versicherte der Alte, »so möchte ich eine schöne Summe einsetzen, daß Sie, so gewissermaßen in stillem Einverständnis, sogar vor Ihren Töchtern hier den Schein wahren. Sehen Sie, wenn ich dagegen ein derartiges Geschäftchen vorhabe, so sage ich Jonas ruhig, was es ist, und wir sprechen ganz offen darüber. – Sie sind doch nicht am Ende beleidigt?«

»Beleidigt, mein werter Herr!« rief Mr. Pecksniff strahlend, als ob man ihm das größte Kompliment gemacht hätte.

»Reisen Sie nach London, Mr. Pecksniff?« mischte sich Master Jonas ein.

»Ja, so ist es, wir reisen nach London. Hoffentlich werden wir doch den ganzen Weg über das Vergnügen Ihrer Gesellschaft haben?«

»Na, ich dächte, Sie sollten da lieber meinen Vater fragen«, erwiderte Jonas. »Wissen Sie, ich möchte mich nicht gern verschnappen.« Begreiflicherweise fand Mr. Pecksniff diese Antwort äußerst humoristisch. Nachdem sich seine Heiterkeit ein wenig gelegt hatte, gab ihm Jonas zu verstehen, daß er und sein Vater allerdings nach Hause in die Hauptstadt reisten und daß sie seit jenem denkwürdigen Familientag sich in der Umgebung aufgehalten hätten, um einige Geldgeschäfte abzumachen, die sie gleich bei ihrem Herwege im Auge gehabt. Denn, sagte Mr. Jonas, es sei ihre Gewohnheit, womöglich immer zwei Fliegen mit einem Klapps zu erschlagen und nie einen Kreßling wegzuwerfen, außer um einen Walfisch zu ködern. Nachdem er Mr. Pecksniff so gründlich belehrt, schlug er ihm vor, mit ihm den Platz zu wechseln, wenn er nichts dagegen habe, um mit den »Mädeln« ein bißchen plaudern zu können. Da Mr. Pecksniff bereitwillig darauf einging, kam Jonas gleich darauf in der anderen Ecke neben der schönen Miss Gratia zu sitzen.

Die Erziehung des Mr. Jonas war von seiner Wiege an äußerst zielbewußt gewesen. Das erste Wort, das er buchstabieren lernte, war »Geld«, und das zweite (beim Übergang zu den zweisilbigen) »Gewinn«. Dieses Erziehungssystem hätte vollendet genannt werden können, wenn es nicht zu zwei Nebenprodukten geführt hätte, die sein wachsamer Vater wahrscheinlich nicht ganz klar vorausgesehen hatte. Diese unheilvollen Resultate waren erstens, daß Jonas, so lange von seinem Erzeuger darauf dressiert, jedermann zu übervorteilen, unmerklich den Hang angenommen hatte, auch seinen ehrwürdigen Lehrer zu begaunern, und zweitens, daß er – gemäß früh erworbener Gewohnheit, alles als Eigentumsfrage anzusehen – zuletzt auch seinen Vater als ein gewisses Kapital betrachtete, das kein Recht hatte, zu zirkulieren, und unbedingt so bald wie möglich festzulegen sei – in diesem Falle in der Kassa, die man gemeinhin »Sarg« zu nennen pflegt.

»Nun, Cousine«, sagte Mr. Jonas, »Sie wissen doch, daß wir entfernt miteinander verwandt sind – Sie gehen also nach London, so so?«

Miss Gratia bejahte und zwickte dabei, ausgelassen kichernd, ihre Schwester in den Arm.

»Massenhaft junge schöne Herren in London, Cousine!« fuhr Mr. Jonas fort und rückte ein wenig mit dem Ellenbogen näher. »Wirklich, Sir?« rief die junge Dame. »Nun, hoffentlich werden sie uns nicht inkommodieren.«

Und nachdem sie mit großer Sittsamkeit diese Antwort gegeben, wurde sie so sehr von ihrer Heiterkeit überwältigt, daß sie das Lachen im Schal ihrer Schwester verbeißen mußte.

»Aber Grazy«, rief die verständigere junge Dame. »Wirklich, ich muß mich deiner schämen! Wie kannst du dich nur so aufführen, du wildes Ding!«

Miss Gratia lachte daraufhin natürlich nur noch um so mehr.

»Ich habe schon neulich eine gewisse Ausgelassenheit in ihrem Blick bemerkt«, wendete sich Mr. Jonas zu Charitas. »Ja, Sie haben es hinter den Ohren. Wahrhaftig ja – Cousine.«

»Ach, die altmodische Vogelscheuche!« murmelte Gratia. – – »Liebste Cherry, auf mein Wort, du mußt dich neben ihn setzen. Ich sterbe, wenn er so weiterspricht – ja, wahrhaftig!«

Und um dieses schreckliche Ereignis von sich abzulenken, sprang die quecksilberne junge Dame von ihrem Sitze auf und drückte ihre Schwester auf den eben verlassenen Platz.

»Brauchen sich nichts daraus zu machen, wenn Sie mich auch ein bißchen drücken«, rief Mr. Jonas. »Ich hab das bei Mädeln ganz gern. Kommen Sie nur noch näher, Cousine!«

»Nein, nein, ich danke, Sir«, versetzte Charitas.

»Da lacht die natürlich schon wieder«, sagte Mr. Jonas, »und mir scheint gar, über meinen Vater. Na, wie wird das erst werden, wenn er seine alte Flanellnachtmütze aufsetzt! – – Sagen Sie, ist’s mein Vater, der da drüben so schnarcht, Pecksniff?«

»Ja, Mr. Jonas.«

»Möchten Sie nicht so gut sein und ihm auf den Fuß treten?« fragte der junge Gentleman. »Grad in dem Haxen neben dem Ihrigen hat er die Gicht.«

Da Mr. Pecksniff zögerte, dieser menschenfreundlichen Aufforderung nachzukommen, tat es Mr. Jonas selbst und schrie dabei:

»Heda, Vater, wach auf, sonst kriegst du wieder das Alpdrücken und schreist los. – Haben Sie je schon mal Alpdrücken gehabt, Cousine?« fragte er seine Nachbarin mit der ihm charakteristischen Galanterie und dämpfte seine Stimme wieder. »Bisweilen«, antwortete Charitas, »nicht oft.«

»Und die drüben? Was? Hat sie schon mal Alpdrücken gehabt?«

»Ich weiß es nicht«, versetzte Charitas. »Fragen Sie sie doch selbst.«

»Man kann doch mit ihr nicht reden«, knurrte Jonas. »Sie lacht doch in einem fort. Hören Sie nur, da bricht sie schon wieder los! Was denn, Sie! Sie sind halt die verständigere Cousine!«

»Ach, gehen Sie, Sie Schlimmer«, rief Charitas.

»Ja, ja, was wahr ist, ist wahr! Sie wissen’s doch selber auch.«

»Gratia ist ein bißchen lebhaft«, gab Miss Charitas zu. »Aber sie wird mit der Zeit schon gesetzter werden.«

»Na, das wird wohl hübsch lang brauchen, wenn’s überhaupt glückt«, meinte Jonas. »Machen Sie sich doch ein bißchen breiter.«

»Ich fürchte nur, ich drücke Sie«, zierte sich Charitas, kam aber trotzdem seiner Aufforderung nach.

Nach ein paar Bemerkungen über den »entsetzlichen Rumpelkasten« mit seinem ewigen Haltmachen trat ein Stillschweigen ein, das bis zur Abendessenszeit von niemandem in der Gesellschaft unterbrochen wurde.

Obgleich Mr. Jonas seine Cousine Charitas in der Station zu Tisch führte und sich neben sie setzte, so schielte er doch ziemlich deutlich auch auf »die andere«. Er blickte recht oft nach Gratia hinüber und schien Vergleiche zwischen den beiden Schwestern anzustellen, die – wahrscheinlich infolge der üppigeren Körperformen – zugunsten der jüngeren ausfielen. Besonders viel Zeit nahm er sich indes nicht zu diesen Betrachtungen, da ihn das Souper zu sehr interessierte, das, wie er seiner schönen Gefährtin ins Ohr flüsterte, á la table d’hôte berechnet werde; – je mehr man daher esse, desto besser käme man dabei auf die Spesen. Sein Vater und Mr. Pecksniff gingen vermutlich nach demselben Prinzip vor – wenigstens richteten sie unter allen Speisen, die in ihren Bereich kamen, so gewaltige Verheerungen an, daß ihre Gesichter bald in Fettglanz erstrahlten.

Als sie auch mit dem besten Willen keinen Bissen mehr essen konnten, bestellten sowohl Mr. Pecksniff als Mr. Jonas zweimal für je sechs Pence Grog, da der umsichtige junge Gentleman erklärte, sie kämen dabei wegen des Eichmaßes besser weg, als wenn sie zusammen für zwölf Pence Brandy in einer Flasche kommen ließen. Nachdem sich Mr. Pecksniff seinen Anteil an der belebenden Flüssigkeit einverleibt hatte, begab er sich unter dem Vorwande, nach der Kutsche sehen zu wollen, heimlich zum Ausschank und ließ sich seine kleine Flasche füllen, um sich auf der Weiterfahrt in der Finsternis unbemerkt nach Muße erquicken zu können.

Als die Kutsche wieder reisefertig war, nahmen alle ihre alten Plätze wieder ein und rumpelten weiter. Ehe sich jedoch Mr. Pecksniff zu einem Schläfchen anschickte, hielt er es noch für angezeigt, sich einer Art Dankgebet mit folgenden Worten zu entledigen:

»Der Verdauungsprozeß ist, wie ich mir von anatomischen Freunden sagen ließ, eine der wundervollsten Einrichtungen der Natur. Ich weiß nicht, wie es bei anderen sein mag – aber ich empfinde es stets als eine große Genugtuung, zu wissen, daß ich durch einfaches Zumirnehmen eines frugalen Mahles die schönste Maschinerie in Gang setze, von der wir Kunde haben. Es ist mir zu solchen Zeiten in der Tat, als ob ich einen allgemeinen öffentlichen Dienst verrichte. Wenn ich – gestatten Sie diesen Ausdruck – mich selber aufgezogen habe«, sagte Mr. Pecksniff voll Innigkeit, »und weiß, daß ich gehe: so fühle ich gleichsam an der Lehre, die das Uhrwerk mir gibt, wie sehr ich mich als Wohltäter meiner Gattung betätige.«

Dagegen ließ sich nichts einwenden, und da auch niemand einen Versuch dazu machte, schickte sich Mr. Pecksniff, erfüllt von dem Bewußtsein seines moralischen Nutzens, wieder zum Schlaf an.

Der Rest der Nacht wurde wie bisher verbracht; Mr. Pecksniff und der alte Anthony stießen fleißig mit den Köpfen zusammen und wachten dann jedesmal erschreckt auf, oder sie drückten ihre Gesichter in die Wagenecken und tätowierten sie sich im Schlaf mit dem Muster der Polsterung. Passagiere stiegen ein und aus, frische Pferde wurden vorgespannt, ausgespannt und abermals vorgespannt, kurz, die Reise schien kein Ende nehmen zu wollen. Endlich fing die Kutsche an, über ein gräßlich unebenes Pflaster zu holpern und zu poltern. – Mr. Pecksniff erwachte, sah aus dem Fenster und stellte fest, daß es Morgen sei und sie sich an Ort und Stelle befänden.

Sehr bald darauf hielt die Diligence vor dem Postbureau in der City, und die Straße war bereits so belebt, daß Mr. Pecksniffs Worte hinsichtlich des »Morgens« reichlich bestätigt schienen, trotzdem es, nach dem Aussehen des Himmels zu schließen, ebensogut noch Mitternacht hätte sein können. So dichter Nebel lag, daß es ihnen schien, als befänden sie sich in einer Wolkenstadt, zu der sie die lange Nacht hindurch an einer traumhaften magischen Bohnenstange emporgeklettert seien; – und auf dem Pflaster lag eine dicke Paste, die wie Ölschmiere aussah und von einem der Außenpassagiere – fraglos einem Wahnsinnigen – für – – Schnee erklärt wurde.

Mr. Pecksniff verabschiedete sich hastig von Anthony und seinem Sohn und ließ sein und seiner Töchter Gepäck in dem Postbureau, von wo es später abgeholt werden sollte. Dann rannte er wie besessen, eine Tochter an jedem Arm, über alle möglichen Straßen hinüber, die sonderbarsten Sackgassen und Höfe hinauf und hinunter, unter den finstersten Bogengängen weg – bald hüpfte er über eine Gosse, dann riß er wieder aus, um nicht überfahren zu werden, – bald war er der Meinung, den Weg verloren zu haben, dann wieder richtig zu gehen, das eine Mal voll hoher Zuversicht, das andere Mal aufs äußerste verzagt. Aber stets schwitzte er wie ein Braten und lief wie ein Windhund, bis sie endlich in einer Art gepflastertem Hof in der Nähe des Monumentes haltmachten. Das heißt, Mr. Pecksniff behauptete es, denn von dem Monument selbst konnten sie so wenig sehen, als hätten sie in Salisbury mit verbundenen Augen Blindekuh gespielt.

Mr. Pecksniff spähte einen Augenblick umher, dann klopfte er an die Tür eines Hauses, das sogar unter den auserlesen schmutzigen Gebäuden in der Nähe sich dieses Prädikats in superlativo erfreute. Davor hing eine kleine ovale Tafel, wie ein Teebrett, mit der Aufschrift »Logier- und Speisehaus für Handelsbeflissene von M. Todgers«.

M. Todgers schien noch nicht auf zu sein, wenigstens klopfte Pecksniff zweimal und klingelte dreimal, ohne daß dies auf irgendein lebendes Wesen, einen Hund über der Straße drüben ausgenommen, den geringsten Eindruck gemacht hätte. Endlich wurden eine Kette und etliche Riegel mit rostigem Kreischen zurückgeschoben – als ob das Wetter sogar das Metall heiser gemacht hätte –, es erschien ein kleiner Junge mit einem großen roten Kopf, einer Nase, die nicht der Rede wert war, und einem sehr kotigen Krempstiefel über dem linken Arm und rieb sich in seiner Überraschung die erwähnte Nase mit dem Rücken einer Schuhbürste.

»Noch im Bett, mein Junge?« fragte Mr. Pecksniff.

»Noch im Bett!« antwortete der Kleine. »I wollt, sie wären noch alle im Bett. – Alles schreit auf amal nach die Stiefeln. I hab gemoant, Sie san dö Zeidung und hab mi gwundert, warum Sös net wie sunst durchs Gitter schieben. Was wollen S‘ denn?«

In Anbetracht seines noch sehr zarten Alters hätte man die Art, wie der Knabe diese Frage vorbrachte, finster, ja fast trotzig nennen können, aber Mr. Pecksniff nahm keinen Anstoß daran und steckte ihm eine Karte in die Hand mit der Weisung, sie hinaufzutragen und ihm und seinen Töchtern ein geheiztes Zimmer anzuweisen. »Oder wenn das Speisezimmer geheizt ist«, setzte Mr. Pecksniff hinzu, »tut’s das inzwischen auch.«

Sodann führte er – da letzteres der Fall war – seine Töchter ohne weitere Umstände in ein Parterrezimmer, wo bereits der Tisch mit einem etwas knapp bemessenen Tuch darüber für das Frühstück gedeckt, das heißt mit einem großen Teller voll gesottenen, nelkenroten Ochsenfleisches, einem jener Brote von ausgezeichneter Beschaffenheit, die im Volksmunde sich des Namens »Pfennigmuggel« erfreuen, sowie einem reichlichen Vorrat von Unter- und Obertassen geschmückt war.

In dem Kamingitter staken ein halbes Dutzend Paar Schuhe und Stiefel von verschiedener Größe, soeben gereinigt – und mit den Sohlen nach oben gekehrt, um den Trockenprozeß zu beschleunigen; – desgleichen ein Paar kurze schwarze Gamaschen, auf deren einer mit Kreide die Worte »Eigentum Mr. Jinkins’« standen, während die andere eine Profilskizze – wahrscheinlich ein Porträt Mr. Jinkins‘ – aufwies – beides vermutlich ein Scherz eines Gentlemans, der zu diesem Zweck seine Toilette unterbrochen haben, heruntergeschlichen und nach vollbrachter Tat wieder auf sein Zimmer zurückgeeilt sein mochte.

M. Todgers‘ Logier- und Speisehaus für Handelsbeflissene war ohne allen Zweifel zu jeder Tagesstunde ein dunkles Quartier, an diesem Morgen aber ganz besonders finster. In der Flur herrschte ein sonderbarer Geruch vor, als ob die konzentrierte Essenz aller Mittagsmahle, die seit Erbauung des Hauses hier gekocht worden, oben auf der Küchentreppe spuke und sich, wie der schwarze Mönch im Don Juan, nicht wolle vertreiben lassen. Besonders stach ein gewisser Kohlduft hervor, wie wenn sämtliche Gemüse, die je hier bereitet worden, gewissermaßen als Immergrün unausrottbar weiterblühten. Das Speisezimmer war getäfelt und erfüllte den Fremdling mit der instinktiven Ahnung einer zahlreichen Anwesenheit von Ratten und Mäusen. Die außerordentlich finstere und breite Stiege hatte so dicke und schwere Geländer, daß man sie ruhig als Brücke hätte verwenden können. In einer dunkeln Ecke auf dem ersten Treppenabsatz stand eine riesige mürrische alte blinde Wanduhr mit einem widersinnigen Ornament von drei Messingkugeln auf dem Kopf, die nur zu dem Zweck laut zu ticken schien, um unvorsichtige Leute zu warnen, sich an ihr nicht den Kopf anzurennen. Seit Menschengedenken war kein Tüncher oder Tapezierer zu Todgers gekommen, was deutlich aus dem schwarzen, staubigen Aussehen der Wände hervorging. Oben im Treppenhause schielte ein altes und auf jede mögliche Art verklebtes und geflicktes Deckenfenster auf alles, was unten vorging, mißtrauisch herunter und verlieh Todgers‘ Etablissement das Aussehen eines zur Zucht menschlicher Mißgeburten bestimmten Gurkenmistbeetes.

Mr. Pecksniff und seine lieblichen Töchter hatten noch keine zehn Minuten an dem wärmenden Kamin gestanden, als sich Fußtritte auf der Treppe vernehmen ließen und gleich darauf die präsidierende Gottheit der Anstalt ins Zimmer geeilt kam. Mrs. Todgers war eine Dame von etwas knöchernem und hartzügigem Äußern, mit einer Reihe von Locken an der Vorderfassade ihres Kopfes, die wie kleine Bierfäßchen aussahen, und darüber – als Abschluß – eine schwarze Spinnenwebe als Kopfputz. Sie trug ein Körbchen am Arm, nach dem Klirren zu schließen, mit Schlüsseln gefüllt. In der anderen Hand hielt sie eine brennende Talgkerze, die sie, nachdem sie Mr. Pecksniff einen Augenblick bei Licht gemustert, auf den Tisch niedersetzte, um ihre Gäste mit desto größerer Herzlichkeit willkommen heißen zu können.

»Oh, Mr. Pecksniff!« rief Mrs. Todgers. »Willkommen in London! Wer hätte an einen solchen Besuch gedacht nach so – o Gott! – nach so vielen Jahren! Wie geht es Ihnen, Mr. Pecksniff?«

»So gut wie immer; und stets freue ich mich von neuem, wenn ich Sie sehe«, antwortete Mr. Pecksniff. »Wahrhaftig, Sie sind in der Zwischenzeit noch jünger geworden!«

»Das könnte man von Ihnen behaupten!« entgegnete Mrs. Todgers. »Sie haben sich wirklich nicht im mindesten verändert.«

»Nun, und was sagen Sie dazu?« rief Mr. Pecksniff und wies auf die beiden jungen Damen. »Macht mich das nicht älter?«

»Doch nicht Ihre Töchter?« rief Mrs. Todgers und erhob staunend die Hände. »Nein, nein, Mr. Pecksniff! Ihre zweite Frau und deren Brautjungfer!«

Mr. Pecksniff lächelte geschmeichelt, schüttelte den Kopf und erwiderte: »Meine Töchter, Mrs. Todgers, tatsächlich meine Töchter.«

»Ach!« seufzte die gute Dame. »Ich muß es Ihnen wohl glauben. Und jetzt, wo ich sie genauer betrachte, wundere ich mich, daß ich sie nicht gleich erkannt habe. – – Wirklich, meine lieben Misses Pecksniff, Sie glauben gar nicht, wie glücklich mich Ihr Papa gemacht hat, daß er Sie mitbrachte.«

Und überwältigt von ihren Gefühlen – oder von der rauhen Morgenluft – zog sie ein kleines Taschentuch aus dem Körbchen und führte es an die Augen.

»Meine gute Madame«, nahm Mr. Pecksniff das Wort, »ich kenne Ihre Hausregeln und weiß, daß Sie nur Herren in Pension nehmen. Aber, als ich meine Reise antrat, überlegte ich, ob Sie nicht doch vielleicht mit meinen Töchtern eine Ausnahme machen würden.«

»Vielleicht?!« rief Mrs. Todgers in Ekstase. »Vielleicht?!«

»So will ich denn sagen, ich sei überzeugt davon gewesen«, verbesserte Mr. Pecksniff. »Ich weiß, daß Sie ein kleines Privatzimmer haben, und da könnten meine Töchter vielleicht Unterkunft finden, ohne an der allgemeinen Tafel erscheinen zu müssen.«

»Ihr lieben Mädchen!« rief Mrs. Todgers. »Ich muß mir noch einmal die Freiheit nehmen.«

Darunter verstand sie, sie müsse die beiden jungen Damen noch einmal umarmen; – was sie denn auch mit großer Wärme tat. – Eigentlich nur, um Zeit zu gewinnen, denn augenblicklich war das ganze Haus bis auf ein einziges Bett besetzt, das jetzt überdies für Mr. Pecksniff hergerichtet werden mußte. – Das Problem, wo die beiden Mädchen untergebracht werden sollten, war so schwierig zu lösen, daß Mrs. Todgers noch eine ganze Weile nach dieser zweiten Umarmung gedankenverloren – halb Zärtlichkeit, halb Berechnung im Auge – dastehen mußte.

»Ich denke, es wird sich machen lassen«, sagte sie endlich. »Ein Schlafdiwan in dem dritten kleinen Zimmer rechts – ach, ihr lieben, lieben Mädchen!«

Und abermals umarmte sie die beiden Misses Pecksniff und bemerkte sodann, sie könne wahrhaftig nicht angeben, welche von ihnen der seligen Frau Mama – sie hatte diese nie gesehen – ähnlicher sei. Sie glaube, die jüngere. – Schließlich fragte sie, da die Herren gleich herunterkommen würden, ob es den Damen, die gewiß von der Reise sehr müde sein müßten, nicht beliebe, sich inzwischen in ihr eigenes Privatzimmer zu begeben. Es läge im gleichen Stockwerk, ginge hinten hinaus und habe, wie besonders hervorzuheben, den in London nicht zu unterschätzenden Vorteil, daß es kein Visavis besäße, wie die Damen bemerken würden, wenn sich der Nebel verziehe. Das war auch durchaus nicht aufgeschnitten; denn die Aussicht von dort betrug höchstens zwei Fuß und erstreckte sich auf eine braune Mauer mit einem schwarzen Wasserreservoir darauf. In das anstoßende Schlafzimmer der jungen Damen gelangte man durch eine äußerst bequeme kleine Türe – sie ging nur auf, wenn sich eine kräftige Person mit voller Wucht dagegen warf – und konnte von dort den Ausblick auf eine andere Ecke der Mauer und eine andere Seite des Wasserreservoirs genießen. »Nicht die feuchte Seite«, erklärte Mrs. Todgers, »die hat Mr. Jinkins.« In dem ersten dieser Sanktuarien wurde unverzüglich Feuer gemacht, und zwar von dem jugendlichen Portier, der inzwischen beim Stiefelputzen laut gepfiffen, sich abwechslungsweise mit Kohle Ornamente auf die Hosen gezeichnet und sich infolgedessen – dabei von Mrs. Todgers unglücklich-unseligerweise ertappt – eine kräftige Ohrfeige zugezogen hatte. Nachdem sodann die Gnädige den jungen Damen eigenhändig das Frühstück bereitet hatte, entfernte sie sich, um im Speisezimmer den Vorsitz zu übernehmen, wo der bereits erwähnte auf Mr. Jinkins‘ Kosten ausgeführte Spaß einen etwas geräuschvollen Auftritt herbeigeführt zu haben schien. »Ich darf euch wohl nicht fragen, meine Lieben«, sagte Mr. Pecksniff zur Türe hereinsehend, »wie euch London gefällt? Oder?«

»Wir haben noch recht wenig davon gesehen, Pa«, klagte Grazy. – »Eigentlich gar nichts!« schmollte Cherry.

»Das ist freilich wahr«, gab Mr. Pecksniff zu. »Aber wir haben ja auch unser Vergnügen und nicht nur unser Geschäft noch vor uns; alles zu seiner Zeit. Alles zu seiner Zeit.«

Ob Mr. Pecksniffs Geschäfte in London wirklich so eng mit seinem Berufe zusammenhingen wie er seinem neuen Schüler zu verstehen gegeben, auch das wird sich »zu seiner Zeit« zeigen.

9. Kapitel


9. Kapitel

London und Todgers‘ Logier- und Kosthaus

Wohl noch nie mag es in einer Stadt, einem Marktflecken oder einem Dorf auf der Welt eine so eigentümliche Anstalt als die von Mrs. Todgers gegeben haben. Und doch war Todgers‘ Etablissement ganz der Hauptstadt würdig und nicht viel anders als Hunderte und Tausende ähnlicher Häuser, die London in diesem Stadtteil einengt, drängt, quetscht, mit ziegelsteinernen Ellenbogen knufft und des Lichtes und der frischen Luft beraubt.

In der Umgebung von Todgers‘ Anstalt konnte man nicht herumschlendern wie vielleicht anderswo; da hieß es, seinen Weg wohl eine Stunde weit durch Gassen und Gäßchen, Durchlässe und Höfe zu tappen, bis man endlich auf etwas stieß, was man füglich eine Straße nennen konnte. Den Fremden wandelt eine Art verzweifelte Ergebung an, wenn er in diese unwegsamen Irrgänge gerät, in denen er sich unbedingt für verloren geben muß. Da hinein, dort heraus und im Kreis herum, bis ihn schließlich eine Mauer oder ein eisernes Geländer aufhält und er sich – ergeben in Gottes Willen – zur Umkehr genötigt sieht – überzeugt, daß sich schließlich alles zum Guten wenden müsse. Es sind Beispiele bekannt, daß Leute – zu Todgers zum Mittagessen eingeladen – eine halbe Ewigkeit im Kreise herumgingen, ohne die Schornsteine des Etablissements aus den Augen zu verlieren, und es doch nicht finden konnten und schließlich – zwar schweren Herzens, aber doch – wieder nach Hause gingen. Niemals hat wohl jemand Todgers‘ Etablissement auf bloße mündliche Weisung hin, und wäre sie kaum fünfzig Schritt davon entfernt erteilt worden, aufzufinden vermocht. Bedächtige Fremde aus Schottland oder dem Norden von England sollen sich zwar – angeseilt an einen Gassenjungen als Führer oder in die Fußstapfen von Briefträgern tretend – glücklich zurechtgefunden haben. Aber das waren eben seltene Ausnahmen, die nur die Regel bestätigen. Der Ariadnefaden zu Todgers‘ Etablissement ist nur wenigen Auserwählten anvertraut!

In der Nähe von Todgers‘ Logierhaus haben verschiedene Obsthändler ihre Stände, und das ist der Grund, weshalb sich den Sinnen des Wanderers zuerst der Geruch von Orangen aufdrängt – nämlich von schadhaften mit blauen und grünen Beulen versehenen –, die in Kisten oder dumpfen Kellern dahinsiechen. Den ganzen Tag hindurch wogt ein Strom von Lastträgern von den Löschplätzen der Themse her, die, mit zum Bersten überfüllten Orangenkisten auf dem Rücken, langsam durch die Gassen ziehen, während sich unter dem Torweg des Wirtshauses vom Morgen bis in die Nacht hinein ganze Haufen von Leuten zusammendrängen, um auszuruhen oder eine Erfrischung zu sich zu nehmen. Seltsame einsiedlerhafte Pumpbrunnen stehen in der Nachbarschaft von Todgers‘ Logierhaus herum, verstecken sich in Sackgäßchen und leisten den Feuerleitern Gesellschaft. Auch Kirchlein gibt es die Menge, mit so manchem gespenstischen kleinen Friedhof dahinter, überwuchert von der gewissen kümmerlichen Vegetation, die freiwillig aus Grüften und Ruinen, aus Schutt und dumpfigem Grasboden aufzusprießen pflegt. Auf einigen dieser schmutzigen Ruheplätze, die mit einem gewöhnlichen Friedhofsrasen ebenso viel Ähnlichkeit haben wie in den benachbarten Fenstern die irdenen Töpfe für Bartnelken und Goldlack mit ländlichen Gärten, stehen Bäume – hohe Bäume, die Jahr für Jahr ihre Blätter treiben, aber, wie man aus den kränklichen Zweigen entnehmen kann, mit der träumerischen Sehnsucht nach Licht, wie Vögel in Käfigen. Lahme alte Wächter hüten zur Nachtzeit hier die Toten, bis sie sich endlich selbst der schweigsamen Brüderschaft anschließen; nur, daß sie dann gesunder schlafen – von einer andern Art »Schilderhäuschen« umschlossen – als früher jemals über der Erde und sich dann selber bewachen lassen, anstatt noch länger Wächter zu sein.

In den engen Durchfahrten in der Nähe taucht hin und wieder ein altes, mit Schnitzwerk versehenes Eichenportal auf, dahinter vor alters gar oft der Lärm nächtlicher Schwelgerei und üppiger Gelage erscholl. Jetzt sind diese ehemaligen Paläste nichts weiter als dunkle, öde Warenmagazine, deren Echo mit schweren Wollen- und Baumwollballen die Kehle gestopft worden ist – Gebäude, die in ihrem Schweigen, ihrer Einsamkeit und Abgestorbenheit etwas Finsteres, Geisterhaftes haben. Dann liegen düstere Höfe ringsum verstreut, in die sich höchstens einmal ein verspäteter Wanderer verirrt und wo ungeheure Güterballen, für stromauf- oder stromabwärts bestimmt, unablässig an hohen Kränen zwischen Himmel und Erde schweben.

In der Nähe von Todgers‘ Logierhaus gibt es mehr Schubkarren, als man wohl für die Bedürfnisse einer ganzen Stadt für nötig halten sollte – keine aktiven Schubkarren, sondern eine Vagabundenrasse, die beständig in den engen Gassen vor den Türen ihrer Herren herumfaulenzt, den Durchgang versperrt, und wenn einmal eine verirrte Mietkutsche oder ein rumpelnder Frachtwagen des Weges kommt, Anlaß zu einem Lärm gibt, daß die ganze Umgegend lebendig wird und sogar die Glocken des nächsten Kirchturms vibrieren. In den Schlünden und Rachen der Torwege und Sackgassen halten Weingroßhändler und Spezerei-Engrossisten vollkommene, kleine Städte, und tief unter den Fundamenten der Gebäude ist der Grund unterwühlt von Stallungen, aus denen an stillen Sonntagen das Halftergerassel der von Ratten geplagten Karrengäule spukhaft empordringt wie das Kettenklirren ruheloser Gespenster aus Spinnstubenmärchen.

Bände und aber Bände würde die Schilderung der wunderlichen alten Tavernen füllen, die in der Nähe von Todgers‘ Logierhaus ein schläfriges, geheimnisvolles Dasein fristen, mit ihren kuriosen alten Stammgästen, die mit rasselndem Husten, asthmatisch und kurzatmig, nur noch inbetreff Geschichtenerzählens wunderbar gute Blasbälge besitzen und gewaltige Gegner der Dampfkraft und all des neumodischen Zeugs sind, die die Aeronautik für sündhaft halten, die Entartung des Zeitalters beklagen und zu der Ansicht hinneigen, die Sittlichkeit gehe zu Ende mit dem Perückenpuder und Englands alte Größe werde mit der Frisierkunst zu Grabe getragen.

Was Todgers‘ Logierhaus selbst betrifft – um von ihm bloß als Gebäude und nicht von seiner Eigenschaft und seinem Verdienst als Beherbergungs- und Speiseanstalt für Handelsbeflissene zu sprechen –, so war es seiner Umgebung vollkommen würdig. Für das Stiegenhaus hatte es ein einziges Fenster seitwärts im Erdgeschoß, das der Sage nach seit hundert Jahren nicht geöffnet worden und von dem Schmutz des Nebengäßchens dahinter derart mit einer zähen Schlammkruste überzogen war, daß keine Scheibe hätte herausfallen können, und wenn jede in zwanzig Stücke zersprungen gewesen wäre. Aber das große Geheimnis von Todgers‘ Logierhaus war der Keller, zu dem man nur durch ein kleines Hinterpförtchen und ein rostiges Gitter gelangen konnte. Seit Menschengedenken hatte er in keiner Verbindung mit dem Haus gestanden, sondern war stets das zinsfreie Eigentum irgendeines Unbekannten gewesen. Es ging die Sage, er stäke voller Schätze, wenngleich deren Art – ob nun Silber, Erz, Gold, Weinfässer oder Pulvertonnen – sowohl für Todgers‘ Etablissement wie für dessen sämtliche Insassen ein Gegenstand tiefer Ungewißheit und vollkommenster Wurstigkeit war.

Der Giebel des Hauses war besonders der Beachtung wert. Über das Dach hin erstreckte sich eine Art Terrasse, geschmückt mit Stangen und den verwitterten Überresten pensionierter Wäschestricke und ein paar mit Erde gefüllter Teekisten, in denen einige vergessene verdorrte Pflanzen wie alte Spazierstöcke staken. Wer immer zu diesem Observatorium emporklomm, wurde zuvörderst durch einen Schlag auf den Kopf von einer kleinen Falltür betäubt und sodann beinahe erstickt von der Rauchsäule aus dem Küchenschornstein, über den jeder Eindringling beim Aufwärtsklimmen seinen Kopf einen Augenblick zu halten gezwungen war. Hatte man aber einmal diese Fährnisse hinter sich, so konnte man von Todgers‘ Giebel aus Dinge schauen, die allerdings sehenswert waren. Erstlich und zuvörderst erblickte man, wenn der Tag hell war, über die Dächer sich weithin erstreckend einen langen, dunklen Pfad: – den Schatten des Monuments; und wenn man sich umwandte, stand das hohe Original selbst dicht vor einem, jedes Haar gesträubt auf dem goldenen Kopf, als sei es entsetzt über das Treiben der Stadt. – Dann sah man alte Stadttürme, Kirchtürme, Glockentürme, blinkende Wetterfahnen und einen ganzen Wald von Schiffsmasten – Giebel, Dächer, Dachfenster ohne Zahl und Ende – Rauch und Lärm genug für eine ganze Welt.

Allmählich tauchten dann aus dem Gewirr unwesentlichere Gegenstände auf und zogen ohne ersichtlichen Grund aus dem Getümmel hervorspringend die Aufmerksamkeit des Beschauers auf sich, mochte er nun wollen oder nicht. So schienen zum Beispiel die beweglichen Kappen eines Schornsteinungetüms sich hin und wieder gravitätisch miteinander zu besprechen und sich ihre Beobachtungen über das, was unten vorging, zuzuflüstern. Andere von buckliger Gestalt stellten sich hartnäckig und boshafterweise quer, um die Aussicht zu versperren. Der Mann, der über der Straße drüben im Mansardenfenster seine Feder schnitt, wurde plötzlich von unendlicher Wichtigkeit in der Szene und ließ eine lächerliche, ganz unverhältnismäßige Lücke im Bilde zurück, als er sich entfernte. Die Kapriolen eines Stückes Tuch auf einer Färberstange boten mit einem Male weit mehr Interesse als all die wechselnden Bewegungen der Volksmassen. Und noch während der Beschauer sich ärgerlich darüber wunderte, wie dies nur möglich sei, schwoll der Tumult zu einem Gebrüll an; die Masse von Gegenständen schien sich zu verdichten und hundertfältig auszudehnen. Verschüchtert sah sich dann der Fremdling um, kehrte schneller, als er gekommen, in Todgers‘ inneres Heim wieder zurück und erzählte Mrs. Todgers in neun unter zehn Fällen, er würde zuverlässig auf dem kürzesten Weg – nämlich kopfüber – auf die Straße hinabgelangt sein, wenn er noch länger geblieben wäre.

Und so sagten auch die beiden Misses Pecksniff, als sie mit Mrs. Todgers von diesem Beobachtungsposten zurückkehrten, es dem jungen Portier überlassend, die Türe zu schließen und ihnen nachzukommen, oder, wie es in diesem Falle zutraf, sich mit der seinem Geschlechte und Lebensalter eigentümlichen Freude an der Möglichkeit, herunterzustürzen und zu zerschellen, auf der Brustwehr noch ein wenig zu ergehen.

Am zweiten Tage ihres Aufenthaltes in London standen die Misses Pecksniff und Mrs. Todgers bereits auf sehr vertrautem Fuß miteinander; wenigstens hatte Mrs. Todgers ihre jungen Freundinnen schon zum zweitenmal in alle Einzelheiten der drei unglücklichen Liebschaften ihrer frühern Jahre und in das Leben, die Aufführung und den Charakter Mr. Todgers‘ eingeweiht, der seine eheliche Laufbahn etwas unversehens abgebrochen zu haben schien, um auf völlig ungesetzliche Weise sich dem häuslichen Glück zu entziehen und sich im Ausland als Junggeselle von neuem zu etablieren.

»Auch Ihr Papa erwies mir seinerzeit manche Aufmerksamkeit, meine lieben Kinder«, fuhr Mrs. Todgers in ihren vertraulichen Eröffnungen fort, »doch das große Glück, Ihre Mama zu werden, war mir versagt. – – – Sie erraten wohl kaum, wen dies darstellen soll?«

Sie lenkte damit die Aufmerksamkeit ihrer jungen Freundinnen auf ein ovales Miniaturbild, das, von einem kleinen Blasenpflaster kaum zu unterscheiden, eine nebelhafte Skizzierung ihres eigenen Antlitzes darstellte.

»Wirklich, zum Sprechen ähnlich!« riefen die beiden Misses Pecksniff wie aus einem Munde.

»So behauptete man wenigstens früher,« gab Mrs. Todgers zu und wärmte sich nach Herrenart den Rücken am Kamin; »ich hätte nicht gedacht, meine Lieben, daß Sie es so schnell erkennen würden.« Sie würden es an allen Orten und unter allen Umständen erkannt haben, versicherten die jungen Damen. »Hätten wir es auf der Straße oder in einem Ladenfenster gesehen, so würden wir ohne weiteres gerufen haben: ›Sieh doch nur, das ist ja Mrs. Todgers!‹«

»Wenn man einem Hauswesen wie dem meinigen vorzustehen hat, erleiden die Züge traurige Verheerungen, meine lieben Misses Pecksniff«, erklärte Mrs. Todgers. »Ich kann Ihnen versichern, die Fleischbrühe allein macht einen schon um zwanzig Jahre älter.«

»O Gott!« riefen die beiden Misses Pecksniff.

»Die Angst, die man dabei aussteht, ob man’s auch allen recht macht, meine lieben Kinder, erhält den Geist in unablässiger Spannung. In der ganzen menschlichen Natur ist keine Leidenschaft so ausgeprägt wie die für Fleischbrühe unter den Herren Handlungsbeflissenen. Eine Ochsenkeule – was sage ich? – ein ganzer Ochse reicht nicht aus, um die Fleischbrühe, die sie jeden Mittag haben wollen, zu bestreiten. Ach, was ich deshalb schon ausgestanden habe!« rief Mrs. Todgers und blickte kopfschüttelnd zur Decke auf. »Nein, es übersteigt alle Grenzen.«

»Gerade wie Mr. Pinch, Grazy!« sagte Charitas. »Erinnerst du dich, daß wir stets einen gleichen Hang an ihm bemerkt haben?«

»Ja, liebe Cherry«, kicherte Grazy; »aber du weißt, er hat doch keine gekriegt.«

»Was denn, Sie, meine Lieben, Sie können sich’s einrichten, wie Sie wollen. Sie haben es nur mit den Schülern Ihres Vaters zu tun, und die müssen sich alles gefallen lassen«, lamentierte Mrs. Todgers; »aber in einem Etablissement für Handlungsbeflissene, wo jeder am Samstagabend sagen kann: ›Mrs. Todgers, heut über acht Tag sind wir von wegen diesem Käse geschiedene Leute‹, ist es nicht so leicht, in gutem Einvernehmen miteinander zu bleiben. Ihr Papa« – setzte die gute Dame hinzu – »war so freundlich, mich heute zu einer Ausfahrt mit Ihnen einzuladen; und wenn ich nicht irre, so gedenkt er bei Miss Pinch einen Besuch zu machen. Vermutlich eine Verwandte des Gentlemans, von dem Sie eben gesprochen haben, Miss Pecksniff?« »Um Himmels willen, Mrs. Todgers«, fiel ihr die lebhafte Grazy ins Wort, »nennen Sie ihn doch nicht einen Gentleman. Liebe Cherry, denk nur: Pinch ein Gentleman! Schon der Gedanke!«

»Was Sie für ein gottloses Mädchen sind!« rief Mrs. Todgers und umarmte Miss Gratia mit großer Zärtlichkeit. »Wahrhaftig, der reinste Spottvogel! Meine liebe, liebe Miss Pecksniff, wie glücklich muß nicht die Lebhaftigkeit Ihrer Schwester Ihren Papa und Sie machen!«

»Er ist die häßlichste, glotzäugigste Kreatur von der Welt, Mrs. Todgers«, erklärte Gratia. »Ein leibhaftiger Menschenfresser. Der garstigste, linkischste und abschreckendste Kerl, den Sie sich nur vorstellen können. – Man kann sich da ungefähr ausmalen, wie seine Schwester ausschauen muß. Ich werde laut herauslachen müssen, wenn ich sie sehe; – das weiß ich jetzt schon!« rief das charmante Mädchen. »Der bloße Gedanke, daß es überhaupt eine Miss Pinch geben kann, wirft einen schon um. – Oh, du allbarmherziger Himmel!«

Mrs. Todgers konnte sich gar nicht fassen vor Heiterkeit über den Humor der holden Jungfrau und erklärte, sie kriege wahrhaftig Angst vor ihr; sie sei gar zu streng.

»Wer ist streng?« rief eine Stimme an der Türe. »Ich hoffe, es gibt nichts dergleichen in unserer Familie!« Und dann guckte Mr. Pecksniff lächelnd ins Zimmer und fragte: »Darf ich eintreten, Mrs. Todgers?«

Mrs. Todgers schrie fast laut auf, denn die kleine Verbindungstüre zwischen den beiden Zimmern stand weit offen und ließ den Schlafdiwan in seiner ganzen monströsen Anstößigkeit erblicken. – Aber geistesgegenwärtig schloß sie sie rasch und rief, wenn auch nicht ohne Verwirrung:

»O ja, Mr. Pecksniff, bitte, treten Sie nur ein.«

»Wie befinden wir uns heute?« fragte Mr. Pecksniff aufgeräumt. »Und was haben wir vor? Sind wir bereit, aufzubrechen und Tom Pinchs Schwester zu besuchen? – – Ha, ha, ha! der arme Thomas Pinch.«

»Nun, sind wir bereit«, nahm Mrs. Todgers verständnisvoll nickend die Frage auf, »sind wir bereit, auf Mr. Jinkins‘ und der übrigen Herren Bitte eine geneigte Antwort zu geben? Das ist die erste Frage, Mr. Pecksniff.«

»Mr. Jinkins‘ Bitte, meine liebe Madame?« fragte Mr. Pecksniff, legte den einen Arm um Gratia und den andern um Mrs. Todgers, sie in der Zerstreuung vermutlich für Charitas haltend. »Wie kommen Sie auf Mr. Jinkins?«

»Weil er das Zirkular entworfen hat und überhaupt bei allem, was im Hause geschieht, den Ton angibt«, erklärte Mrs. Todgers aufgeräumt. »Nur deshalb.«

»Mr. Jinkins ist ein Mann von ausgezeichneten Talenten«, bemerkte Mr. Pecksniff. »Alle Achtung vor Mr. Jinkins. Ich ersehe aus seinem Wunsch, meinen Töchtern eine Aufmerksamkeit zu erweisen, einen weitern Beleg für seine freundschaftlichen Gesinnungen, Madame.«

»Nun gut«, meinte Mrs. Todgers, »wenn Sie sich so weit ausgesprochen haben, müssen Sie auch mit dem übrigen herausrücken, Mr. Pecksniff, und den lieben jungen Damen alles mitteilen.«

Dabei machte sie sich sanft von Mr. Pecksniff los und umarmte Miss Charitas, möglicherweise aus heißer, mütterlicher Liebe, vielleicht aber auch, weil die vernachlässigte junge Dame sie lauernd und gehässig, sogar entschieden verächtlich von der Seite angesehen hatte. Sei dem übrigens, wie es wolle, Mr. Pecksniff zögerte nicht länger, seine Töchter hinsichtlich Entstehung und Inhalt erwähnter, mit Unterschriften versehener Bitte zu belehren, die kurz dahin lautete, daß die Herren Handelsbeflissenen, die die Summe und das Um und Auf des eine große Gesamtheit umfassenden Namens »Todgers« bilden halfen, solange die Misses Pecksniff im Hause weilten, um die Ehre ihrer Anwesenheit bei der Table d’hôte bäten. – Es war ausdrücklich betont, die Damen möchten damit schon am morgigen Sonntag den Anfang machen. Mr. Pecksniff erklärte, daß er für seinen Teil gegen die Einladung nichts einzuwenden habe, da Mrs. Todgers damit einverstanden sei. Dann verließ er die Damen, um sein gnädiges Antwortschreiben zu verfassen, während diese sich mit ihren besten Hüten bewaffneten, um Miss Pinch eine gründliche Niederlage zu bereiten. Tom Pinchs Schwester war Gouvernante in einer ungemein stolzen Familie – vielleicht der reichsten Rot- und Gelbgießerfamilie, von der die Menschheit weiß. Sie wohnten in Camberwell in einem so großen und protzigen Hause, daß schon die Fassade wie die eines von Riesen bewohnten Schlosses gemeine Seelen mit Schrecken erfüllte und auch den Kühnsten erzittern machte. Vorne befand sich ein großes Tor mit einer großen Glocke, deren Handgriff an sich schon ein Ausrufungszeichen bedeutete, und eine große Portierloge, die so dicht ans Haus gebaut war, daß sie jede Aussicht zwar verbarrikadierte, aber den Pomp ungemein erhöhte. An diesem Eingang hielt ein großer Portier beständig Wacht, und wenn er einem Besuch gnädig Erlaubnis erteilte, einzutreten, erscholl eine zweite große Glocke, auf deren Klang nach einer geziemenden Weile an dem großen Hallentore ein großer Lakai erschien, mit so großen Achselfangschnüren auf der Livree, daß er sich alle Augenblicke an den Stuhllehnen festhakte und sozusagen das qualvolle Leben einer Schmeißfliege in einer Welt von Spinnweben führte.

Höchst prunkvoll fuhr nun Mr. Pecksniff in Begleitung Mrs. Todgers‘ und seiner Töchter in einem Einspänner vor diesem Prachtgebäude vor. Nach glücklicher Erledigung der geschilderten Einleitungszeremonien wurden die Herrschaften in das Haus geführt und gelangten nach längerer Irrfahrt endlich in ein kleines Zimmer mit Büchern, wo Mr. Pinchs Schwester eben ihre älteste Schutzbefohlene unterrichtete, ein kleines frühreifes Dämchen von dreizehn Jahren, das es bereits zu einer solchen Höhe von Schnürleibchenanstand und Erziehung gebracht hatte, daß es zur großen Freude aller ihrer Familienangehörigen und Verwandten nicht die geringste Spur von Mädchenhaftigkeit mehr durchblicken ließ.

»Besuch für Miss Pinch!« meldete der Lakai.

Er war offenkundig ein sehr talentvoller junger Mann, denn er entledigte sich der Botschaft ungemein taktvoll, das heißt, er traf vorzüglich den richtigen Ton zwischen dem kalten Respekt, womit er Gäste der Familie, und der warmen, persönlichen Anteilnahme, mit der er einen Besuch bei der Köchin angekündigt haben würde. »Besuch für Miss Pinch!«

Miss Pinch erhob sich hastig und mit solcher Aufregung, daß man leicht erriet, wie gering die Liste derer, die sie erwarten konnte, sein mochte. Gleichzeitig nahm die kleine Schülerin auf ihrem Stuhle eine beunruhigend steife Haltung an, sichtlich entschlossen, sich jedes Wort genau im Geiste zu notieren. Die Frau vom Hause war nämlich ungemein wißbegierig hinsichtlich der Naturgeschichte und der Gewohnheiten des Tieres, das man »Gouvernante« nennt, und munterte ihre Tochter stets auf, alles zu melden, was sie im Interesse der guten Sache erlauern könnte.

Höchst bedauerlich zwar, aber nichtsdestoweniger Tatsache war, daß Mr. Pinchs Schwester durchaus nicht häßlich genannt werden durfte, sogar im Gegenteil ein sehr sanftes, einnehmendes Gesichtchen und eine wenn auch kleine und zarte, so doch äußerst reizvolle Figur hatte. Sie sah in gewissem Sinne ihrem Bruder ähnlich, das heißt, sie hatte dieselbe Sanftmut im Benehmen und den gleichen schüchternen und doch vertrauensvollen Blick, aber es fehlte ihr doch soviel zu der Vogelscheuche, der Schlumpe, dem Scheusal oder dergleichen, wofür sie von den Misses Pecksniff zum voraus erklärt worden war, daß die beiden jungen Damen sie natürlich mit großem Unwillen betrachteten, deutlich fühlend, daß Miss Pinch nicht im entferntesten die Person war, um derentwillen sie sich herbemüht hatten.

Miss Gratia, die lustigere von beiden, schickte sich noch am besten in die Enttäuschung und setzte sich wenigstens äußerlich durch ein Gekicher über ihren Ärger hinweg, ihre Schwester hingegen gab sich überhaupt keine Mühe, sich zu verstellen, und drückte ihren Unmut ziemlich offen in einer geringschätzigen Miene aus. Mrs. Todgers stützte sich auf Mr. Pecksniffs Arm und legte eine gewisse vornehme Grämlichkeit an den Tag, die zu jeder Gemütsstimmung passen und alle Meinungsschattierungen in sich schließen konnte.

»Erschrecken Sie nicht, Miss!« begann Mr. Pecksniff, nahm Miss Pinchs Hand herablassend in seine linke und tätschelte sie mit der rechten. »Ich besuche Sie zufolge eines Versprechens, das ich Ihrem Bruder, Thomas Pinch, gegeben habe. Mein Name – fassen Sie sich, Miss – ist Pecksniff.« Der Treffliche betonte diese Worte mit besonderem Nachdruck, und es klang so etwas durch wie: »Junge Person, du siehst in mir den Wohltäter deines Stammes, den Gönner deines Hauses und den Brotherrn deines Bruders, der tagtäglich an meinem Tische mit Manna gespeist wird und in den Büchern des Himmels als ›Haben‹-Posten für mich eingetragen steht. Ich bin trotzdem keineswegs stolz; es bedarf dessen nicht.«

Die arme Miss Pinch fühlte dies alles wie ein Evangelium. Ihr Bruder hatte ihr in der Fülle seines schlichten Herzens oft dasselbe geschrieben und noch viel mehr. Als Mr. Pecksniff schwieg, senkte sie daher ihr Köpfchen und ließ eine Träne auf seine Hand fallen.

»Ah, Miss Pinch«, dachte die kleine scharfsinnige Schülerin, »Sie weinen vor Freuden. Das soll wohl heißen, Sie fühlen sich unglücklich auf Ihrem Posten!?«

»Thomas ist wohlauf«, berichtete Mr. Pecksniff, »läßt Sie grüßen und schickt Ihnen diesen Brief. Ich kann zwar gerade nicht behaupten, daß der arme Mensch sich je in unserer Kunst auszeichnen wird, aber er hat doch den besten Willen, was gleich nach wirklichem Können kommt, und daher müssen wir eben ein Auge zudrücken. – Was?«

»Ich weiß, daß es ihm an gutem Willen nicht fehlt«, rief Miss Pinch; »auch weiß ich genau, wie gütig und rücksichtsvoll Sie ihn behandeln. – Ach, wir schreiben einander oft, daß wir Ihnen nie dankbar genug sein können. Auch den jungen Damen« – setzte sie mit einem strahlenden Blick auf die Misses Pecksniff hinzu –, »ich weiß, wie sehr wir Ihnen allen verpflichtet sind.«

»Meine Lieben«, wendete sich Mr. Pecksniff an seine Töchter, »Toms Schwester sagt etwas, was ihr mit Vergnügen hören werdet.«

»Wir können durchaus kein Verdienst für uns in Anspruch nehmen, Papa!« lehnte Cherry schroff ab und gab, wie auch Gratia, Miss Pinch mit einem steifen Knicks zu verstehen, sie wünsche die gehörige Distanz gewahrt zu sehen. »Daß Mr. Pinch so gut versorgt ist, verdankt er dir allein, und wir können uns nur freuen, zu hören, daß er das, was du für ihn tust, gebührendermaßen anerkennt.« »Vortrefflich, Miss Pinch!« dachte die scharfblickende kleine Schülerin abermals. »Sie haben also einen dankbaren Bruder, der von anderer Leute Wohltaten lebt. So, so!«

»Es war sehr freundlich von Ihnen«, sagte Miss Pinch mit der schlichten Einfachheit und dem Lächeln ihres Bruders, »wirklich außerordentlich freundlich, daß Sie sich selbst zu mir bemühten. Wo Sie so wenig Gewicht auf die Wohltaten legen, die Sie spenden, können Sie sich gar nicht denken, wie sehr ich es empfinde, daß Sie mir Gelegenheit geben, Ihnen mündlich danken zu dürfen!«

»Sehr erfreulich; sehr verbunden; sehr hübsch gesagt«, murmelte Mr. Pecksniff.

»Und ich bin so froh«;, fuhr Ruth Pinch fort, nachdem die erste Befangenheit vorüber war, in das fröhliche herzliche Wesen verfallend, das auch ihren Bruder auszeichnete, der in seiner redlichen Einfalt auch immer gleich alles von der besten Seite nahm, »so froh, denken zu dürfen, daß Sie Tom jetzt bezeugen können, wie außerordentlich glücklich ich mich hier in meiner Stellung fühle und wie unnötig es ist, daß er sich stets mit Sorgen quält, weil ich wegen meines Unterhalts auf mich selbst angewiesen bin. – Wirklich, ich bin überzeugt, wir könnten ohne Murren oder Klage weit mehr ertragen, als uns je auferlegt wurde, solange nur eins von dem andern hört, daß es glücklich ist.«

– Wenn je auf dieser dann und wann recht verlogenen Erde ein wahres Wort gesprochen wurde, so war es diesmal gewiß bei Toms Schwester der Fall gewesen. –

»Ach!« rief Mr. Pecksniff, dessen Blick inzwischen auf die kleine Schülerin gefallen war. »Und wie geht es Ihnen, mein höchst interessantes liebes Kind?«

»Ganz gut. Danke, Sir«, antwortete die frostige Unschuld.

»Welch holdes Antlitz, meine Lieben«, fuhr Mr. Pecksniff zu seinen Töchtern gewendet fort, »und das entzückende Benehmen!«

Die beiden jungen Damen waren schon von Anfang an ganz hingerissen gewesen von dem Sprößling eines reichen Hauses, durch den man mutmaßlich den Eltern am schnellsten und leichtesten beikommen konnte, und Mrs. Todgers versicherte hoch und teuer, sie habe noch nirgends ein so engelhaftes Wesen gesehen. »Sie brauchte nur«, erklärte die wackere Frau, »sie brauchte nur noch ein paar Flügelchen zu haben, um ein vollendeter junger Sirup zu sein« – womit sie vermutlich einen Seraph oder eine Sylphide meinte.

»Wenn Sie das Ihren verehrten Herren Eltern geben und ihnen zugleich sagen wollten, meine liebenswürdige kleine Freundin«, säuselte Mr. Pecksniff und zog eine seiner Geschäftskarten hervor, »daß ich und meine Töchter –«

»Und Mrs. Todgers, Papa!« ergänzte Gratia.

»– und Mrs. Todgers aus London – also, daß ich, meine Töchter und Mrs. Todgers aus London nicht lästig fallen wollen, da wir einzig und allein beabsichtigten, ein wenig nach Miss Pinch zu sehen, deren Bruder als junger Mann bei mir in Diensten steht, und daß ich übrigens dieses in den reinsten Formen gehaltene Palais nicht verlassen kann, ohne als Architekt dem korrekten und eleganten Geschmack des Eigentümers meine ergebenste Huldigung zu zollen und die gerechte Würdigung ehrend anzuerkennen, die er der herrlichen Kunst angedeihen läßt, deren Pflege ich ein ganzes Leben geweiht und deren Ruhm zu fördern ich ein – ein Vermögen geopfert habe, so würde ich Ihnen sehr zu Dank verpflichtet sein.«

»Missis läßt sich Miss Pinch empfehlen«, meldete plötzlich eintretend der Lakai ganz in demselben Stile wie früher, »und läßt fragen, was das gnädige Fräulein momentan lernt.«

»Oh!« rief Mr. Pecksniff. »Da ist der junge Mann. Vielleicht kann er die Karte abgeben. Meine Lieben, wir stören im Unterricht. Lasset uns gehen.«

Einen Augenblick richtete Mrs. Todgers eine gewisse Verwirrung an, indem sie ihr flaches Armkörbchen aufschnallte und dem »jungen Mann« eine von ihren eigenen Karten zusteckte, die, außer umständlichen Erörterungen der Statuten ihres Logierhauses, eine Anmerkung mit dem Zusatze enthielt, M. T. nähme die Gelegenheit wahr, den Herren zu danken, die sie mit ihrem geneigten Zuspruch beehrt hätten, und sie um die Gewogenheit zu bitten, falls sie mit dem Mittagstisch zufrieden gewesen sein sollten, ihr Haus gütigst weiter zu empfehlen. – Mr. Pecksniff eroberte jedoch mit bewunderungswürdiger Geistesgegenwart das Dokument wieder zurück und verwahrte es in seiner eigenen Tasche.

Dann redete er Miss Pinch an, und zwar mit noch größerer Herablassung und Güte als vorher, galt es doch, dem Lakaien begreiflich zu machen, daß sie nicht Freunde, sondern Gönner des Mädchens seien:

»Guten Morgen. Leben Sie wohl. Gott behüte Sie! Sie können sich darauf verlassen, daß ich Ihrem Bruder Thomas meinen Schutz nicht entziehen werde. Seien Sie über diesen Punkt unbesorgt, Miss!«

»Ich danke Ihnen viel – vielmals«, entgegnete Toms Schwester mit großer Herzlichkeit, »wirklich tausend –«

»Keine Ursache«, unterbrach sie Mr. Pecksniff und tätschelte ihr gütig den Arm. »Nicht der Rede wert. Sie machen mich böse, wenn Sie noch ein Wort darüber verlieren. – Und Sie, mein süßes Kind«, wendete er sich zu der kleinen Schülerin, »leben Sie wohl! Nein, dieses feenhafte liebe Geschöpfchen« – setzte er hinzu und stierte dabei zerstreut den Lakaien an, als meine er ihn – »hat ein Licht auf meinen Lebenspfad geworfen, so strahlend, daß ich es wohl so leicht nicht werde vergessen können! – Nun, meine Lieben, seid ihr bereit?«

Die Damen waren aber noch nicht ganz fertig, denn sie mußten die Kleine doch erst liebkosen! Endlich rissen sie sich los, rauschten mit einem hochmütigen Kopfnicken und einem schon in der Geburt erstickten Knicks an Miss Pinch vorbei und stolzierten hinaus.

Der »junge Mann« brauchte ziemlich lange, um die Herrschaften hinauszubegleiten, denn Mr. Pecksniffs Entzücken über die geschmackvolle Konstruktion und Einrichtung des Hauses kannte keine Grenzen, und er konnte auch nicht umhin, des öftern (namentlich als sie in die Nähe des Wohnzimmers kamen) haltzumachen und seinem Lob mit lauter Stimme und in sehr gelehrten Ausdrücken Worte zu verleihen. Er hielt geradezu einen populären Vortrag über Architektonik, soweit diese natürlich auf Wohnhäuser anwendbar sein kann, und war noch im schönsten Redefluß, als sie den Garten erreichten. »Wenn ihr«, sprach er, trat rücklings von der Treppe zurück, legte den Kopf auf die Seite und kniff ein Auge zu, um die Proportionen des Baues besser beurteilen zu können, »wenn ihr, meine Lieben, den Fries betrachtet, der das Dach trägt, und das Leichte in der Konstruktion, namentlich dort am südlichen Winkel des Gebäudes, zu erkennen vermögt, so werdet ihr mit mir fühlen. – – – Oh, wie steht das werte Befinden, Sir, ich hoffe, Sie sind wohlauf?«

Mit diesem Ausruf unterbrach er seine Rede und verbeugte sich sehr höflich vor einem Herrn in mittleren Jahren, der jetzt an einem Fenster im oberen Stock sichtbar wurde. Er redete natürlich den Herrn nicht an, zumal ihn dieser gar nicht hätte hören können, sondern akkompagnierte seinen Gruß lediglich mit geziemenden Worten.

»Ich zweifle nicht, meine Lieben«, fuhr Mr. Pecksniff, zu seinen Töchtern gewendet, fort und tat, als mache er sie auf weitere bauliche Schönheiten aufmerksam, »daß dies der Eigentümer des Hauses ist. Es würde mich freuen, mit ihm näher bekannt zu werden, da es für mich sehr ersprießlich sein könnte. – Sieht er nach uns herunter, Charitas?«

»Er öffnet das Fenster, Papa!«

»Aha!« meinte Mr. Pecksniff leise. »Sehr gut! Er hat gemerkt, daß ich ein Sachverständiger bin. Ohne Zweifel hörte er mich drinnen schon. Schauet jetzt nicht hinauf! – Was die mit Hohlkehlen verzierten Pilaster im Portikus betrifft, meine Lieben –« begann er laut –

»Heda!« rief der Herr herunter.

»Sir? Ihr Diener«, erwiderte Mr. Pecksniff und zog den Hut. »Ich bin stolz darauf, Ihre werte Bekanntschaft zu machen.«

»Ich frage Sie, ob Sie aus dem Rasen heraustreten wollen!« brüllte der Herr.

»Ich bitte um Verzeihung, Sir«, entgegnete Mr. Pecksniff, im Zweifel, ob er recht gehört habe. »Wollten Sie –?«

»Heraus aus dem Rasen!« wiederholte der Herr mit Nachdruck. »Wir möchten nicht gern lästig fallen, Sir – –« begann Mr. Pecksniff lächelnd.

»Aber Sie fallen lästig! Über die Maßen lästig. Und verderben mir meinen Grasplatz. Sehen Sie denn nicht, daß ein Kiesweg da ist?! Zu welchem Zweck, glauben Sie wohl, habe ich ihn anlegen lassen? Das Tor dort aufgemacht und die Leute hinausgewiesen!«

Damit schlug der Herr das Fenster wieder zu und verschwand.

Mr. Pecksniff setzte seinen Hut auf und verfügte sich sehr bedächtig nach seinem Einspänner, dabei stumm und angelegentlich die Wolken betrachtend. Nachdem er Mrs. Todgers und seinen Töchtern einzusteigen geholfen hatte, blieb er noch eine Weile sinnend vor dem Wagen stehen, als sei er nicht ganz mit sich im reinen, ob es ein Fuhrwerk oder ein Tempel sei; erst, als er sich diesbezüglich völlig klar war, nahm er Platz, faltete die Hände über dem Knie und lächelte seinen drei Begleiterinnen zu.

Seine Töchter jedoch, weniger seelenruhig, ließen ihrem Unwillen freien Lauf. Das habe man davon, meinten sie, wenn man Kreaturen wie die Pinchs am Busen nähre. Das sei die Folge, wenn man sich wegwerfe, und das komme dabei heraus, wenn man sich in die demütigende Lage versetze, den Anschein zu erwecken, als sei man mit solchen kecken, frechen, verschmitzten und abscheulichen Dingern wie Toms Schwester bekannt. Sie hätten das übrigens kommen sehen und Mrs. Todgers gegenüber noch diesen Morgen davon gesprochen, wie dieselbe bezeugen könne. Der Eigentümer des Hauses habe, in der Meinung, sie seien mit Miss Pinch befreundet, ihrer Ansicht nach ganz recht gehandelt und nichts getan, was sich nicht unter solchen Umständen vernünftigerweise erwarten lassen müsse. – Und er sei, setzten sie etwas inkonsequenterweise hinzu, »ein gemeines Vieh und ein Rüpel«, worauf sie in einen Strom von Tränen ausbrachen, der alle weitern Beiwörter wegschwemmte.

Nun war jedoch Miss Pinch weit weniger die Veranlassung zu einer solchen Behandlung als vielmehr der »Sirup«, der unmittelbar nach Abgang des Besuches zum Rapport mit dem ausführlichen Bericht ins Hauptquartier geeilt war, in welch vermessener Weise man ihn mit einem Auftrag belästigt hatte, der Sache des Lakaien, und zwar von Anfang an, gewesen wäre; – ein Verbrechen, das in Verbindung mit Mr. Pecksniffs durchaus nicht aufdringlich gemeinten Bemerkungen über das Gebäude offenbar die Schuld an der barschen Abfertigung trug. Die arme Miss Pinch mußte natürlich dafür büßen und wurde von der Mutter des »Sirups« wegen ihrer ordinären Bekanntschaften so heruntergekanzelt, daß sie sich in Tränen in ihr Kämmerlein zurückzog und sich lange trotz ihres natürlichen Frohsinns über die Ehre, Mr. Pecksniff kennengelernt und einen Brief von ihrem Bruder erhalten zu haben, nicht freuen konnte.

Was Mr. Pecksniff betraf, so belehrte er seine Begleiterinnen, daß eine gute Handlung ihren Lohn stets in sich selbst trage; oder er gab ihnen vielmehr zu verstehen, wenn er bei genanntem Anlaß Fußtritte erhalten hätte, es in seelischer Hinsicht sogar noch besser gewesen wäre. Das war jedoch kein besonderer Trost für die jungen Damen, wenigstens grollten sie auf dem ganzen Rückweg in einem fort und verrieten mehr als einmal den lebhaften Wunsch, auf die stillergebene Mrs. Todgers loszufahren, der sie innerlich mit die Schuld an der üblen Behandlung gaben – schon infolge ihres nichtzuverkennenden Äußern als Logierhausbesitzerin, gar nicht zu sprechen von dem Verstoß mit der Karte und dem verdächtigen Armkörbchen.

In Todgers‘ Etablissement ging es noch am selben Abend sehr geräuschvoll zu, teils wegen einiger häuslicher Extravorbereitungen für morgen, teils auch wegen des in einem solchen Hause unvermeidlichen Samstagtumultes, da gegen Wochenschluß von früh bis abends die Wäschepäckchen der »Handelsbeflissenen« mit darauf gehefteten Rechnungen einzulaufen pflegten. An diesen Tagen gab es immer bis Mitternacht auf den Treppen viel Schlurfen von Überschuhen, ein rätselhaftes Auftauchen und Wiederverschwinden geheimnisvoller Lichter im Hausflur, rastloses Gepumpe am Brunnen und dito Klirren des eisernen Wassereimerhandgriffs. Von Zeit zu Zeit erhob sich auch ein kreischender Wortwechsel zwischen Mrs. Todgers und gewissen unbekannten Weibspersonen in verborgenen Hinterküchen, und mitunter erschollen Töne, wie wenn dem jugendfrohen Portier kleines Eisengerät oder sonstige Metallwaren nachgeworfen würden. Es gehörte zu den Sonnabendsbefugnissen dieses hoffnungsvollen Jünglings, die Hemdärmel bis an die Achseln aufgestreift, alle Teile des Hauses in einer groben, grünen Wollenzeugschürze unsicher zu machen, und zu seinen Sabbatfesten (an anderen Tagen war weniger Gelegenheit dazu), sooft er in die Nähe der Türe kam, Ausflüge in die benachbarten Gäßchen zu unternehmen, um daselbst mit der Straßenjugend »Räuber und Gendarm« oder andere Spiele zu spielen, bis er verfolgt und an den Händen oder an dem Ohrläppchen seiner Pflicht wieder zugeführt wurde.

Sosehr nun aber auch seine Tätigkeit zur Belebung des letzten Wochentages beizutragen pflegte, so sehr übertraf er sich selbst durch die Rolle, die er an diesem Samstag spielte.

Vorzugsweise beehrte er die Misses Pecksniff mit seiner besondern Aufmerksamkeit, und selten kam er an Mrs. Todgers‘ Privatzimmer, wo die beiden jungen Damen allein am Kaminfeuer saßen und sich beim Lichte einer einsamen Kerze beschäftigten, vorbei, ohne den Kopf hineinzustecken und sie mit Komplimenten wie: »Ah, da sind Sie!« oder: »Fein! Was?« und ähnlichen humoristischen Einfällen zu begrüßen.

»Hamm S‘ an Idöö, Fräuln«, flüsterte er, als er in seinem Hausgalopp gelegentlich wieder einmal haltmachte, »was mir murgen für a Suppn kriagn? Grad wird’s aufgossen. Meinen S‘ leicht a Wassersuppn? A gor ka Spur!« Um sich weiter dienstfertig zu zeigen, klopfte er gleich darauf abermals, steckte den Kopf herein und sagte:

»Ja – und Hendln gibt’s a morgen. Sakra, san dö fett – hamm S’an Idöö!«

Unmittelbar darauf rief er durch das Schlüsselloch: »Fisch gibt’s a – grad sans onkemma. – Aber lassen S‘ Eahna roten: Essen S‘ nix davo!« Und mit dieser gespenstigen Warnung verschwand er wieder.

Bald nachher kehrte er jedoch abermals zurück, um den Tisch für das Nachtessen zu decken, denn es war zwischen Mrs. Todgers und den jungen Damen ausgemacht worden, daß sie in dem Stübchen ungestört und abgesondert gemeinschaftlich ein paar Kalbsrippchen verzehren sollten. Bei dieser Gelegenheit bestritt er die Unterhaltung damit, daß er den glimmenden Lichtdocht in den Mund steckte und mit seiner Hilfe seine Backen transparent machte. Nachdem er dieses Kunststück produziert, wendete er sich wieder seinen Berufspflichten zu, die zur Zeit darin bestanden, die Messer blank zu putzen, das heißt, die Klingen anzuhauchen und sie dann an der Schürze abzuwischen. Nach Beendigung dieser anstrengenden Arbeit verzog er sein Gesicht zu einem breiten Grinsen und erklärte den Schwestern, er glaube, das Abendessen werde höllisch fein ausfallen.

»Dauert´s noch lange, bis es fertig ist, Bailey?« fragte Gratia.

»Na«, entgegnete Bailey, »kocht is schon. Vor i raufkommen bin, hat die Madam grad drin umanand gstierlt.«

Kaum jedoch waren diese Worte seinen Lippen entflohen, da erhielt er von rückwärts ein Kopfstück, daß er an die Wand taumelte, und Mrs. Todgers stand, einen Teller in der Hand, wie eine Rachegöttin vor ihm.

»O du kleiner Halunke!« rief sie zürnend. »Du ganz schlechter, falscher, boshafter Bube du.«

»Net boshafter als Sie selbst«, rief Bailey und schützte seinen Kopf mit der bekannten Parade des Boxerchampions Thomas Cribb. »Probiern S‘ dös fein noch amal, wann S‘ Eahna traun.«

»Es ist der abscheulichste Junge, der mir je unter die Augen gekommen ist«, erklärte Mrs. Todgers und stellte den Teller aus der Hand. »Die Herren bei uns lehren ihn immer solche Unarten, daß ich fürchte, er wird nicht eher gut tun, als bis er am Galgen hängt.«

»So? Meinen S‘?« rief Bailey. »Drum geben S‘ mir wahrscheinlich so wenig zum Essen, damit i mir net vorher noch ’n Magen verdirb?«

»Hinaus mit dir, du gottloser Junge!« schrie Mrs. Todgers und öffnete die Türe. »Hörst du, pack dich hinunter!«

Mit zwei oder drei geschickten Wendungen gewann Master Bailey das Freie und ließ sich den ganzen Abend hindurch nur ein einziges Mal wieder blicken, um einige Krüge mit heißem Wasser heraufzubringen und zur größten Verlegenheit der beiden Misses Pecksniff hinter dem Rücken der ahnungslosen Mrs. Todgers greuliche Grimassen zu schneiden. Erst, nachdem er auf diese Art seinen verletzten Gefühlen Luft gemacht, verfügte er sich endgültig ins Souterrain, um sich dort in Gesellschaft eines Schwarmes von Küchenschaben bei einem Sparlicht bis tief in die Nacht hinein mit Stiefelputzen und Kleiderausbürsten die Zeit zu vertreiben.

Wie das Gerücht ging, war Benjamin der eigentliche Name dieses jugendlichen Hausgeistes, obgleich er deren viele hatte. So kürzte man zum Beispiel »Benjamin« in »Onkel Ben«, und daraus wurde schließlich das einfache »Onkel«. – Durch eine leichte Ideenverschiebung ergab sich hieraus »Barnwell«, zum Andenken an einen gewissen berühmten Onkel gleichen Namens, der bekanntlich in seinem Garten in Camberwell, als er gerade tief in Gedanken verloren in seinem Lehnstuhl saß, von seinem Neffen Georg erschossen wurde. Die Herren Handelsbeflissenen in Todgers‘ Logierhaus liebten es auch, ihm je nach Umständen den Namen eines berüchtigten Übeltäters oder Ministers zu geben; und wenn die Tageschronik gerade arm an großen Männern war, nahmen sie sogar die Geschichte zu Hilfe und nannten ihn Mr. Pitt, Jung-Brownrigg und dergleichen. In der Zeit, in der unser Roman spielt, erfreute er sich der Bezeichnung »Old Bailey« – als Anspielung auf das gleichnamige berüchtigte Strafgefängnis oder vielleicht als Reminiszenz an die unglückliche »Miss Bailey«, die in jugendlichem Alter Hand an sich selbst gelegt und in einer Ballade den Kranz der Unsterblichkeit gewonnen hatte.

Die gewöhnliche Essenszeit in Todgers‘ Speiseanstalt war zwei Uhr – eine für alle Teile gleich bequeme Stunde, erstens für Mrs. Todgers wegen des Bäckers, und dann für die Gentlemen in bezug auf die Nachmittagsvergnügungen. An dem Sonntag jedoch, wo die beiden Misses Pecksniff eingeführt werden sollten, wurde das Dinner des vornehmeren Stiles wegen auf fünf Uhr verlegt.

Als die Stunde herannahte, erschien »Old Bailey« sehr aufgeregt in einem vollständigen Salonanzug aus lauter abgelegten Kleidungsstücken, die ihm sämtlich viel zu weit waren. Namentlich die Halsgarnitur schien so umfangreich, daß ihm ein als witziger Kopf gefeierter Gentleman sofort den neuen Spitznamen »Vatermörder« gab. Um dreiviertel über vier Uhr klopfte eine Deputation, bestehend aus Mr. Jinkins und einem andern Herrn namens Gänserich, an die Türe von Mrs. Todgers‘ Zimmer und erbat sich, nachdem sie den beiden Misses Pecksniff von dem würdigen Herrn Papa in aller Form vorgestellt war, die Ehre, die Damen hinunterbegleiten zu dürfen.

Das Gesellschaftszimmer in Todgers‘ Etablissement war nicht im üblichen Stile gehalten, und niemand würde es wohl für ein solches angesehen haben, wenn nicht Eingeweihte es ausdrücklich dafür erklärt hätten. Der Boden war mit Läufern belegt und die Decke, mit Einschluß eines großen Querbalkens in der Mitte, tapeziert. Außer den drei kleinen Nischenfenstern mit Sitzen davor und der Aussicht auf den Torweg gegenüber befand sich noch ein viertes in der Mauer, das ganz unverfroren in Mr. Jinkins‘ Schlafzimmer hineinsah. Und hoch oben lief die ganze Wand entlang ein Streifen von Glasscheiben, je zwei übereinander, um das Stiegenhaus am Tageslicht teilnehmen zu lassen. In dem Getäfel lauerten kuriose, treppenförmige Wandschränke mit kleinen Fensterchen wie an den Achttaguhren. Sogar die schwarz angestrichene Türe hatte unter ihrer Stirne zwei große Glasaugen mit inquisitorischen grünen Pupillen in der Mitte.

Hier waren jetzt sämtliche Gentlemen versammelt. Als Mr. Jinkins mit Charitas am Arm erschien, hörte man ein allgemeines: »Ah!« und »Bravo, Jink!«, das sich zu einer wahren Verzückung steigerte, als Mr. Gänserich mit Miss Gratia folgte und Mr. Pecksniff mit Mrs. Todgers den Zug beschloß.

Dann wurden die Herren vorgestellt, und zwar: ein sportsfreudiger Gentleman, der den Herausgebern der Sonntagsblätter harte Nüsse in Form von Anfragen über Wettrennentips aufzuknacken zu geben pflegte; ein emsiger Theaterbesucher, der einst selbst ernstlich daran gedacht hatte, zu debütieren, und nur durch die Gottlosigkeit der Massen daran gehindert worden war; ein sehr debattelustiger Herr und gewaltiger Redner; ein Literaturdilettant, der auf die übrigen Epigramme dichtete und jedermanns schwache Seite kannte, nur seine eigene nicht; dann ein Freund des Gesanges, ein eingefleischter Verehrer des Rauchtabaks, ein Verfechter geselliger Gelage und einige Anhänger des Whistspiels. – Die Passion für Billard und Wetten war einem großen Teil der anwesenden Herren gemeinsam und eine gewisse Vorliebe für geschäftliche Themen wohl allen, da sie sämtlich in einer oder der anderen Weise dem Handelsstande angehörten, was sie selbstverständlich nicht hinderte, allen möglichen Arten von Vergnügungen noch besonders zugetan zu sein. So hatte zum Beispiel Mr. Jinkins einen ausgesprochenen Zug zum Fashionablen; wenigstens besuchte er jeden Sonntag regelmäßig die Parks und kannte sehr viele Equipagen – vom Ansehen. Auch sprach er sehr geheimnisvoll von »feschen Weibern« und stand im Verdacht, sich einmal mit einer Gräfin fast kompromittiert zu haben. Mr. Gänserich war ein witziger Kopf, und niemand anderem als ihm verdankte man den humoristischen Einfall mit dem »Vatermörder« – ein Bonmot, das jetzt unter dem Titel »Gänserichs Letzter« von Mund zu Mund ging und sich allgemeinen Beifalles erfreute. Mr. Jinkins, müssen wir hinzusetzen, konditionierte als Buchhalter in dem Bureau eines Fischhändlers und zählte als Ältester in der Gesellschaft ungefähr vierzig Jahre. Er war aber auch der älteste Kostgänger des Etablissements und infolge dieser doppelten Seniorschaft, wie Mrs. Todgers bereits bemerkt hatte, tonangebend im Hause.

Das Auftragen des Dinners zog sich ungemein in die Länge, und die arme Mrs. Todgers, von Mr. Jinkins deshalb im Flüsterton mit Vorwürfen überschüttet, sah sich wohl zwanzigmal genötigt, hinauszueilen und so zu tun, als ob sie in der Küche nachgesehen hätte; – trotzdem geriet die Unterhaltung durchaus nicht ins Stocken, denn ein Gentleman aus der Parfümeriebranche erklärte eine hochinteressante Erfindung aus Deutschland in Form einer merkwürdigen Rasierseifenkugel, während der Literaturdilettant »auf Verlangen« einige sarkastische Strophen deklamierte, die er vor einigen Tagen anläßlich des Gefrierens des Wasserbehälters hinter dem Hause gedichtet hatte. Unter solchen Unterhaltungen und den daraus entspringenden Gesprächen verfloß die Zeit wie ein kurzer schöner Traum, bis endlich »Old Bailey« meldete, daß das Essen »kumme«.

Auf diese frohe Botschaft hin verfügten sich die Gäste, ohne zu zögern, in die Banketthalle, wobei einige witzige Geister die glücklichen Tischherren der beiden Misses Pecksniff nachahmten, indem sie ihren männlichen Partnern ritterlich galant den Arm reichten. Mr. Pecksniff sprach das Tischgebet – ein kurzes und andächtiges Gebet, in dem er Segen auf den Appetit aller Anwesenden herabflehte und die zahlreichen Armen, die heute nichts zu essen hatten, der Fürsorge des Himmels empfahl. Sodann griffen alle mit weniger Förmlichkeit als Appetit zu. Der Tisch bog sich unter der Last – nicht nur der den Misses Pecksniff bereits gestern angekündigten Leckerbissen, sondern auch von gekochtem Rindfleisch, gebratener Kalbsbrust, Schinken, Pasteten und eines Überflusses der gewissen schwer verdaulichen Pflanzenstoffe, die bei allen Pensionsinhaberinnen wegen ihrer sättigenden Eigenschaften so hoch in Ehren stehen. Außerdem gab es noch Doppelbier in Flaschen, Wein, Ale und unterschiedliche andere fremde und einheimische starke Getränke.

Alles dies mutete die beiden Misses Pecksniff gar lieblich an, um so mehr, da sie die Löwinnen des Tages waren. Sie saßen am oberen Ende der Tafel, zu beiden Seiten Mr. Jinkins‘, und wurden jede Minute von einem neuen Bewunderer mit einem »Prosit« beehrt. Wohl nie in ihrem ganzen Leben hatten sie sich so wohl und umworben gefühlt – besonders Gratia, die so brillierte und so treffliche Antworten gab, daß sie bald für ein wahres Wunder an Schlagfertigkeit galt. Kurz, wie die jungen Damen bemerkten, jetzt empfanden sie so recht, daß sie in London waren.

Ihr junger Gönner Master Bailey legte die lebhaftesten Sympathien mit diesen Empfindungen an den Tag und ermutigte beide Damen stets in gleicher Weise. Wenn er sich weniger beobachtet glaubte, beehrte er sie mit vertraulichem Blinzeln und anderen Zeichen des Verständnisses und berührte auch gelegentlich seine Nase mit dem Korkenzieher; wahrscheinlich eine Anspielung auf den bacchantischen Charakter des Banketts. Genaugenommen war vielleicht nicht einmal der Frohsinn der Misses Pecksniff oder die hungrige Wachsamkeit Mrs. Todgers‘ so beachtenswert wie das Tun und Lassen dieses merkwürdigen Knaben, den nichts aus der Fassung bringen oder stören konnte. Wenn zum Beispiel ein Stück Geschirr, ein Teller oder was sonst zufällig seinen Händen entglitt, was ein- oder zweimal der Fall war, so benahm er sich dabei ganz wie ein Mann von feinster Bildung, der die Sache nicht weiter erwähnt oder die Störung durch Äußerungen des Bedauerns noch peinlicher gestaltet. Auch störte er nicht durch Hinundherrennen, wie es so oft gut dressierte Dienstboten zu tun pflegen, sah vielmehr die Hoffnungslosigkeit, einer so großen Gesellschaft zu servieren, vollkommen ein und überließ es daher ruhig den Herren, sich selbst zu bedienen. Nur selten verließ er seinen Platz hinter Mr. Jinkins‘ Stuhllehne, von wo aus er, die Hände in den Taschen und die Beine gespreizt, zwanglos mit an der Konversation teilnahm. Das Dessert war glänzend. – Auch hier wurde nicht umständlich serviert. Die Teller für den Pudding wurden, nachdem der Käse aufgetragen worden, inzwischen in einem Kübel vor der Türe gewaschen und kamen, noch etwas naß und warm vom Reiben zwar, aber mit um so größerer Schnelligkeit wieder auf den Tisch. Mandeln schüsselweise, Orangen zu Dutzenden, Rosinen dem Pfunde nach, Zimmetsterne in Haufen und ganze Suppenschüsseln voller Nüsse! – Oh, Mrs. Todgers konnte schon – vorausgesetzt, daß sie wollte.

Dann kam noch mehr Wein, rote und weiße Sorten, und eine große Porzellanterrine mit Punsch, von dem Verfechter geselliger Gelage gebraut, der die Misses Pecksniff bat, ja nicht wegen der geringen Menge des Getränkes kleinmütig zu sein. Es sei im Hause noch genug Material vorhanden, um ein weiteres halbes Dutzend solcher Bowlen damit zu bestreiten. – Gütiger Himmel, wie die Damen da lachen mußten! Wie sie, nachdem sie davon geschlurft, husteten, weil das Getränk gar so scharf war, und dann wieder laut auflachten, als jemand beteuerte: hätte das Getränk nicht so eine verräterische Farbe, könne man es ganz gut wegen seiner Harmlosigkeit mit lauwarmer Milch verwechseln! Welch flammender Protest von den Lippen sämtlicher Herren, als die Damen Mr. Jinkins flehentlich ersuchten, den Punsch mit heißem Wasser verdünnen zu dürfen, und wie sie dann errötend doch nach und nach mit ihren Gläsern bis auf die Nagelprobe fertig wurden!

Doch die schwere Stunde naht.

»Die Sonne«, wie sich Mr. Jinkins ausdrückt, immer Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle, »ist im Begriff, das Firmament zu verlassen.« »Miss Pecksniff«, fragt Mrs. Todgers leise, »vielleicht–?«

»O Himmel, nein, nichts mehr, Mrs. Todgers.«

Mrs. Todgers steht auf; die Misses Pecksniff stehen auf; alles steht auf. Miss Gratia sieht nach ihrem Umschlagtuch hinunter. Wo ist es nur? O Gott, wo kann es nur sein? Bezauberndes Mädchen, sie hat es um. Nur ruht es nicht mehr an ihrem schönen Nacken! Lose umflattert es ihren schlanken Leib. Ein Dutzend Hände stehen ihr bei. Sie errötet und ist verwirrt. Den jüngsten Gentleman in der Gesellschaft dürstet nach Mr. Jinkins‘ Blut. Sie hüpft davon und holt unter der Türe ihre Schwester ein. Charitas hat ihren Arm um Mrs. Todgers‘ Leib geschlungen, und Miss Gratia schlingt den ihrigen um die schlanke Taille ihrer Schwester. O Göttin Diana, welches Bild! Das letzte, was man sieht, sind ein Stück Spitzenkragen und ein hüpfendes Füßchen. – »Meine Herren, auf das Wohl der Damen!«

Der Enthusiasmus ist grenzenlos. Der debattelustige Gentleman erhebt sich und läßt plötzlich einen Strom von Beredsamkeit los, der alles vor sich niederwirft. Es drängt ihn zu einem Toast – zu einem Toast, in den sämtliche Anwesende begeistert einstimmen werden! Es ist ein Mann zugegen, er hat ihn im Auge, ein Mann, dem sie alle tiefste Dankbarkeit schulden! Ihre rauhen Naturen sind heute veredelt worden durch die Zaubermacht lieblicher Weiblichkeit. Ein Gentleman weilt unter ihnen, zu dem zwei entzückende junge Damen mit Verehrung aufblicken, den sie als den Urheber ihres irdischen Daseins betrachten. Ja, als die beiden Misses Pecksniff noch mit kindlicher Zunge in der Wiege lallten, nannten sie diesen Gentleman bereits: »Vater!« – (Stürmischer Beifall.) – Sein Toast lautet daher: »Der Himmel segne Mr. Pecksniff!« – Alle drücken Mr. Pecksniff die Hand und trinken Bescheid. Der jüngste Gentleman wankt dabei, denn er fühlt, daß ein geheimnisvoller Einfluß dem Manne innewohnt, der das Wesen im nelkenroten Schal »Tochter« nennen darf.

Was sagt Mr. Pecksniff darauf? Oder vielmehr, was läßt er ungesagt? Nichts. – Man ruft nach mehr Punsch und trinkt. Die Wogen der Begeisterung gehen noch höher. Niemand stellt sein Licht länger unter den Scheffel. Der emsige Theaterbesucher deklamiert. Der sangesfreudige Herr beglückt die Gesellschaft mit einem Liede. Gänserich läßt den Gänserich früherer Witzworte meilenweit hinter sich. Er erhebt sich, um einen Toast auszubringen. Er gilt dem Patriarchen von Mrs. Todgers‘ Logierhaus, ihrem gemeinsamen Freund Jink, dem alten Jink, wenn dieser vertrauliche Ausdruck erlaubt ist. Der jüngste Gentleman protestiert wütend; – er kann das nicht zugeben – es darf nicht sein! Aber die Tiefe seiner Gefühle wird nicht verstanden. Man hält ihn für benebelt und achtet nicht auf ihn.

Mr. Jinkins dankt aus dem Grunde seines Herzens. Der heutige Tag ist bei weitem der stolzeste in seinem bescheidenen Erdenwallen. Wenn er umherblickt, so fühlt er, daß ihm die Worte mangeln, um seinen Dank ausdrücken zu können. Nur eines will er sagen: Man hat bewiesen, daß man bei Todgers treu zusammenhalten kann und gesellschaftlich höher steht als in den benachbarten Kosthäusern. Er erinnert seine geehrten Tischgenossen unter donnerndem Beifall an ein gewisses ähnliches Etablissement in Cannon Street, das man diesbezüglich rühmlich habe erwähnen hören. Er wünsche keine gehässigen Parallelen zu ziehen. Er wäre der letzte, dem etwas derartiges in den Sinn käme, aber wenn die Cannon-Street-Pension imstande sei, eine so hohe Vereinigung von Geist und Schönheit, wie sie heute Todgers‘ Tafel geziert, aufzuweisen und ein auch nur ähnliches Dinner zu servieren, wie sie es soeben eingenommen, so werde er sich’s zur Ehre anrechnen, besagtem Etablissement das Wort zu reden. – »Bis dahin aber, meine Herren, Todgers für immer!«

Abermals Punsch – Enthusiasmus – Reden! Jedermanns Gesundheit wird ausgebracht, nur die des jüngsten Gentlemans nicht. Grollend sitzt der Herr abgesondert von den anderen, hat die Ellenbogen auf die Lehne eines unbesetzten Stuhles gestützt und wirft verächtliche Blicke auf Jinkins. Gänserich bringt in einer zwerchfellerschütternden Rede die Gesundheit von »Old Bailey« aus. Der »Schnackler« geht um, und ein Glas wird zerbrochen. Mr. Jinkins fühlt, daß es Zeit ist, die Damen nicht länger allein zu lassen. Nur noch rasch ein Toast auf Mrs. Todgers. Sie verdient eine besondere Erwähnung. – »Hört hört!« – Sie alle finden zwar zu anderen Zeiten Fehler auf Fehler an ihr, aber in diesem Augenblick fühlt jeder, daß er sein Leben für sie lassen könnte. Man geht die Treppe hinauf, wo man so bald noch nicht erwartet wurde, wenigstens »nickt« Mrs. Todgers, Miss Charitas ordnet sich das Haar und Gratia, die sich aus einem Fenstersitz ein Sofa zurechtgemacht hat, liegt in anmutiger Stellung hingegossen. Sie erhebt sich hastig, wird aber von Mr. Jinkins inständig gebeten, sich doch ja nicht stören zu lassen; sie sehe so reizend aus in dieser Attitüde, daß es ewig schade wäre, wenn sie sie verändere. Sie lacht, gibt nach, fächelt sich und läßt ihren Fächer fallen. Alles stürzt hinzu, ihn aufzuheben. Da sie sich einstimmig als Schönheit des Tages erklärt sieht, wird sie grausam und launenhaft, läßt die Herren einander Aufträge ausrichten, die sie längst vergessen hat, wenn die Antwort zurückkommt, und erfindet tausend Qualen für die Herzen ihrer Verehrer. »Old Bailey« bringt Tee und Kaffee herauf. – Um Charitas hat sich gleichfalls eine kleine Gruppe von Bewunderern gesammelt, jedoch nur von solchen, die ihrer Schwester nicht nahekommen können. Der jüngste Gentleman in der Gesellschaft ist blaß, aber gefaßt, und sitzt abgesondert, denn sein Geist hält geheime Zwiesprache mit sich selbst, und seine Seele verabscheut das lärmende Getriebe. – Gratia entgeht seine Gegenwart und die Glut seiner Gefühle nicht, denn er sieht bisweilen in ihrem Augenwinkel einen Lichtblick der Ermutigung. – Sieh dich vor, Jinkins, daß du einen Verzweifelnden nicht bis zum Wahnsinn reizest!

Mr. Pecksniff war seinen jüngeren Freunden gefolgt und an Mrs. Todgers‘ Seite in einen Stuhl gesunken. Er hatte sich eine Tasse Kaffee über das Bein gegossen, dem Umstand aber offenbar keine Beachtung geschenkt. Auch schien er gar nicht zu wissen, daß eine Semmel auf seinem Knie lag.

»Und wie hat man sich gegen Sie benommen unten?« fragte Mrs. Todgers.

»Das Benehmen der Herren ist derart gewesen, meine teure Madame«, entgegnete Mr. Pecksniff, »daß ich nie ohne Rührung oder eine Träne werde daran zurückdenken können. – Oh, Mrs. Todgers, oh, oh!«

»Lieber Gott!« rief die wackere Frau. »Warum denn auf einmal so niedergeschlagen, Sir?« »Ich bin ein Mann, meine teure Madame«, antwortete Mr. Pecksniff mit tränenerstickter Stimme, »aber ich bin auch Vater. Und Witwer. Meine Gefühle lassen sich nicht ersticken, Mrs. Todgers, wie die kleinen Kinder im Tower. Sie sind gewachsen und gewachsen, und je mehr ich sie mit Kissen zu erdrücken suche, desto lebhafter erheben sie ihre Häupter.«

Plötzlich gewahrte er das Semmelfragment auf seinem Knie und starrte es traumverloren an. Dabei schüttelte er ratlos und geistesschwach den Kopf, schien es für einen bösen Genius zu halten und haderte leise mit ihm.

»Sie war schön, Mrs. Todgers«, murmelte er und richtete wieder seinen verglasten Blick auf die Pensionsinhaberin, »und hatte einiges Vermögen.«

»Ich habe davon gehört!« rief Mrs. Todgers mit lebhafter Teilnahme.

»Das sind ihre Töchter«, fuhr Mr. Pecksniff mit steigender Rührung fort, und deutete auf die jungen Damen.

Mrs. Todgers zweifelte keinen Augenblick daran.

»Gratia und Charitas – Charitas und Gratia. Hoffentlich keine unheiligen Namen, wie?«

»Mr. Pecksniff!« rief Mrs. Todgers. »Wie geisterhaft Sie lächeln! Sie sind doch nicht unwohl, Sir?«

Mr. Pecksniff preßte ihren Arm und antwortete mit matter, feierlicher Stimme:

»Chronisch.«

»Kolik?« schrie Mrs. Todgers entsetzt.

»Chron-isch«, wiederholte Mr. Pecksniff mit einiger Anstrengung. »Chronisch. Ein chronisches Leiden. Ich leide an ihm von meiner Kindheit an. Es wird mich begleiten bis zum Grabe.«

»Gott behüte!« rief Mrs. Todgers.

»Ja, es ist so«, sprach Mr. Pecksniff trostlos. »Und doch bin ich gewissermaßen froh darüber. – Sie haben Ähnlichkeit mit ihr, Mrs. Todgers.«

»Bitte, bitte, drücken Sie mich nicht so, Mr. Pecksniff. Was, wenn einer von den Herren uns zusähe!«

»Um ihretwillen«, lallte Mr. Pecksniff. »Erlauben Sie es mir – um ihres Andenkens willen. Um einer Stimme willen aus dem Grabe. Sie sind ihr sehr sehr ähnlich, Mrs. Todgers! Es ist eine seltsame Welt!«

»Ach ja; Sie haben recht«, seufzte Mrs. Todgers.

»Ich fürchte, es ist eine eitle, eine gedankenlose Welt«, fuhr Mr. Pecksniff niedergedrückt fort. »Diese jungen Leute rings um uns! Oh, haben sie überhaupt ein Gefühl für Verantwortlichkeit? Nein! – Geben Sie mir auch Ihre andere Hand, Mrs. Todgers.« Die Dame zögerte und erklärte, sie täte es nicht gern. »Hat eine Stimme aus dem Grabe kein Gewicht?« fragte Mr. Pecksniff mit trübseliger Zärtlichkeit. »Das ist irreligiös, mein teures Wesen!«

»Pst, wirklich«, flüsterte Mrs. Todgers, »wirklich, es geht nicht.«

»Ich bin es doch nicht, der spricht. Glauben Sie ja nicht, daß ich es bin. Es ist die Stimme – es ist ihre Stimme.«

Die selige Mrs. Pecksniff mußte eine ungewöhnlich heisere und rauhe Stimme gehabt haben, eine für eine Dame sogar seltsam schwere und lallende, wenn sie jetzt wirklich aus ihrem Gatten sprach. – Aber vielleicht war das Ganze nur ein Irrtum von seiner Seite.

»Heute ist ein Tag der Freude gewesen, Mrs. Todgers, aber auch zugleich ein Tag des Schmerzes für mich. Er hat mich an meine Verlassenheit gemahnt. – Was bin ich auf der Welt?«

»Ein vortrefflicher Gentleman, Mr. Pecksniff«, rief Mrs. Todgers.

»Darin läge wenigstens noch ein Trost«, meinte Mr. Pecksniff. »Bin ich es wirklich?«

»Zuverlässig! Es gibt keinen bessern auf dem ganzen Erdenrund«, beteuerte Mrs. Todgers.

Mr. Pecksniff lächelte unter Tränen und schüttelte mild das Haupt. »Sie sind sehr gütig; ich danke Ihnen. Ich finde mein größtes Glück darin, junge Leute emporzuheben. Das Wohl meiner Zöglinge geht mir über alles. Ich liebe sie von ganzem Herzen. Aber auch sie beten mich fast an – bisweilen wenigstens.«

»Stets! Immer!« verbesserte Mrs. Todgers. »Wenn die Welt behauptet, sie hätten sich bei mir nicht vervollkommnet, Madam«, flüsterte Mr. Pecksniff mit abgrundtiefem Blick und winkte Mrs. Todgers, sie möge ihr Ohr seinen Lippen näher bringen – »wenn die Welt sagt, sie hätten sich bei mir nicht vervollkommnet und müßten ein zu hohes Lehrhonorar bezahlen, so lügt sie! Doch genug davon! Sie verstehen mich. Ihnen, als einer alten Freundin, darf ich’s wohl sagen – sie lügt!«

»Oh, die Elenden!« rief Mrs. Todgers.

»Ja, Madame, Sie haben recht. Und ich schätze Sie hoch um dieser Bemerkung willen. – Noch ein Wort ins Ohr. Für Eltern und Vormünder – dies im Vertrauen, Mrs. Todgers –«

»Sie können sich vollständig auf mich verlassen«, versicherte die wackere Frau.

»Für Eltern und Vormünder«, wiederholte Mr. Pecksniff, »es bietet sich eine vortreffliche Gelegenheit, die Vorteile der besten praktischen Ausbildung in der Baukunst mit den Annehmlichkeiten eines häuslichen Heimes und dem beständigen Aufenthalt unter Personen zu vereinigen, die, wie unbedeutend ihr Wirkungskreis und wie beschränkt ihre moralischen Fähigkeiten auch sein mögen – wohlgemerkt!? –, doch stets ihrer moralischen Verantwortlichkeit eingedenk bleiben werden.«

Man kann sich denken, welch verblüfftes Gesicht Mrs. Todgers machte, da sie sich den Sinn dieser ziemlich unverständlichen Worte, die sie überdies schon irgendwo gelesen zu haben glaubte (nämlich auf den Reklameplakaten Mr. Pecksniffs) absolut nicht erklären konnte. Doch der Treffliche erhob den Finger zur Warnung, daß sie ihn nicht unterbrechen möge.

»Kennen Sie Eltern oder Vormünder, Mrs. Todgers«, fuhr er eindringlich fort, »die sich eine solche günstige Gelegenheit für einen jungen Gentleman zunutze zu machen wünschen? Eine Waise hätte den Vorzug. Kennen Sie irgendein Waisenkind mit drei- oder vierhundert Pfund?«

Mrs. Todgers überlegte, schüttelte aber dann den Kopf.

»Wenn Sie von einer Waise mit drei- oder vierhundert Pfund hören sollten, nicht wahr, so bedeuten Sie den Verwandten des lieben, verlassenen jungen Menschen, sie möchten sich brieflich – franko natürlich – an S. P., postamtlagernd Salisbury, wenden. – Ich weiß nicht, was das wieder ist! Erschrecken Sie nicht, Mrs. Todgers«, lallte Mr. Pecksniff und sank schwerfällig zurück, »Chronisch – chronisch! Geben Sie mir doch einen Schluck zu trinken.« »Gott im Himmel, Misses Pecksniff!« rief Mrs. Todgers laut. »Ihrem lieben Papa ist unwohl!«

Mit erstaunlicher Kraft richtete sich Mr. Pecksniff, als er plötzlich aller Augen auf sich gerichtet sah, auf, stellte sich auf die Füße und richtete einen Blick tiefgründiger Weisheit auf die Gesellschaft. Dann verzog er sein Antlitz allmählich zu einem Lächeln – zu einem matten, hilflosen, melancholischen Lächeln, mild, fast todestraurig.

»Beklaget mich nicht, meine Freunde«, sprach er wehmütig. »Weinet nicht um mich. Es ist chronisch.«

Und mit diesen Worten fiel er, nach einem vergeblichen Versuch, seine Schuhe auszuziehen, in den Kamin.

Der jüngste Gentleman in der Gesellschaft zog ihn im Nu wieder heraus. – Ja, noch ehe ein Haar seines Hauptes versengt war, hatte ihn Gratia glücklich wieder auf dem Teppich vor dem Kamine liegen – ihren Vater!

Sie war fast außer sich. Desgleichen ihre Schwester. Jinkins tröstete sie beide. Alle trösteten sie. Jeder hatte etwas zu sagen, nur der jüngste Gentleman in der Gesellschaft nicht, der mit edler Selbstaufopferung das schwere Werk vollbracht und jetzt Mr. Pecksniffs Haupt stützte, ohne von sonst jemandem die geringste Notiz zu nehmen. Endlich sammelte sich alles um den Leidenden, und man beschloß, ihn hinauf ins Bett zu schaffen. Der jüngste Gentleman bekam von Mr. Jinkins Vorwürfe, weil er Mr. Pecksniffs Rock zerrissen haben sollte! »Ha! Auch das noch! – Aber schon gut – schon gut!«

Dann schleppten sie den Patienten die Treppe hinauf und traten dem jüngsten Gentleman dabei unablässig auf die Zehen.

Mr. Pecksniffs Schlafgemach befand sich fast unter dem Giebel, und es war ein beschwerlicher Weg bis dahin; aber mit der Zeit brachten sie ihn doch glücklich an Ort und Stelle. Unterwegs forderte er die Herren zu wiederholten Malen auf, ihm doch einen Schluck zu trinken zu geben. Es schien förmlich eine Idiosynkrasie zu sein. – Der jüngste Gentleman in der Gesellschaft schlug ein Glas Wasser vor, zog sich aber dafür von Mr. Pecksniff sofort eine Flut von Schimpfwörtern zu.

Jinkins und Gänserich übernahmen den Rest der Arbeit und legten den Trefflichen so bequem wie möglich auf sein Bett. Da er geneigt schien, schlafen zu wollen, verließen sie ihn, aber noch hatten sie kaum den untersten Treppenabsatz gewonnen, da erschien oben am Geländer, spukhaft gekleidet, Mr. Pecksniff und schickte sich an, ihnen einen längeren Vortrag über das Wesen des menschlichen Lebens halten zu wollen.

»Meine Freunde«, rief er herab, »lasset uns unsern Geist erfreuen durch Fragen und Erwägungen aller Art. Fassen wir die Moral ins Auge. Lasset uns Betrachtungen über das menschliche Dasein anstellen. Wo ist Jinkins?«

»Hier, mein Herr, hier! Wollen Sie aber nicht lieber wieder zu Bett gehen?«

»Zu Bett gehen?!« rief Mr. Pecksniff. »Zu Bett gehen?! – So spricht der Tagedieb und der Träge; und ich höre ihn klagen: ›Ihr habet mich zu balde gewecket, dieweil ich noch schlummern will!‹ Wenn eine junge Waise die Strophen dieses schlichten Gedichtes aus Doktor Watts‘ Poesien deklamieren will, so bietet sich jetzt eine vortreffliche Gelegenheit.«

Niemand schien Lust dazu zu haben.

»Sehr wohltuend«, lallte Mr. Pecksniff nach einer Pause. »Außerordentlich wohltuend. Kühl und erfrischend; namentlich für die Beine. Die Beine sind eine gar herrliche Einrichtung am menschlichen Organismus, meine Freunde. Vergleichen wir ihre Konstruktion mit den hölzernen Beinen und achten wir dabei auf den Unterschied zwischen der Anatomie der Natur und der Anatomie der Kunst. – Wissen Sie«, fuhr er eindringlich fort wie in einer nebelhaften seltsamen Reminiszenz an die gewisse leutselige Art, in der er zu Hause neu angekommene Schüler vorzunehmen pflegte. »Wissen Sie, daß ich sehr gern sehen würde, wie sich Mrs. Todgers die Konstruktion eines hölzernen Beines denkt? Vorausgesetzt, daß sie sich darüber aussprechen will.«

Da nach dieser Rede zu schließen vernünftigerweise jede Hoffnung ausgeschlossen schien, er werde sich aus eigenem Antrieb zur Ruhe begeben, stiegen Mr. Jinkins und Mr. Gänserich die Treppe hinauf und schafften ihn von neuem zu Bett. Doch kaum erreichten sie auf dem Rückweg den zweiten Stock, stand er bereits wieder am Geländer. So ging das noch einige Male fort, und jedesmal erschien er mit einer neuen moralischen Phrase bewaffnet auf der Plattform, von dem lebhaften Wunsche, zur Veredelung seiner Mitmenschen beizutragen, beseelt, so daß schließlich Mr. Jinkins nichts anderes übrigblieb, als ihn im Bette festzuhalten und »Old Bailey« von Mr. Gänserich heraufholen zu lassen.

Sofort erfaßte der umsichtige Jüngling die Situation und schaffte frohgelaunt einen Schemel, ein Licht und sein Nachtessen zur Stelle, um seine Wache vor Mr. Pecksniffs Schlafstübchen erfolgreich überdauern zu können.

Sodann wurde die Türe verschlossen und der Schlüssel außen stecken gelassen. Ausdrücklich bedeutet, sofort Hilfe zu requirieren, falls apoplektische Symptome hörbar würden, die möglicherweise den Schlummer des Patienten stören könnten, erwiderte Mr. Bailey schlicht, er hoffe zu wissen, wieviel die Glocke geschlagen habe, und werde die Herren nicht unnötigerweise alarmieren.

48. Kapitel


48. Kapitel

Nachrichten von Martin, von Mark und einer dritten gewissen Person. – Die Kindesliebe zeigt sich in sehr häßlichem Lichte und wirft einen bedenklichen Schein in eine bisher dunkel gebliebene Ecke

Tom Pinch und Ruth saßen neben dem offnen Fenster bei ihrem Frühstück, und eine Reihe frischer kleiner Blumenstöcke, die Ruth eigenhändig auf dem innern kleinen Simse aufgestellt hatte, verbreiteten ihren lieblichen Geruch. Ruth hatte einen Geraniumzweig in Toms Knopfloch gesteckt, damit er, wie sie sagte, sommerlich aussehe – sie mußte den Zweig natürlich festbinden, denn der kindische Tom hätte ihn sonst sicher verloren. Auf der Gasse schritten die Blumenverkäuferinnen auf und nieder und riefen ihre Ware aus. Eine ungeschickte Biene, die sich zwischen zwei Fensterscheiben verirrt hatte, hämmerte beständig mit dem Kopf an das Glas und suchte sich in den schönen Morgen hinauszuretten, offenbar tief davon durchdrungen, ein böser Zauber müsse sie gefangen halten, da es ihr so gar nicht gelingen wollte. Der Morgen war schöner als je, und die würzige Sommerluft küßte Ruth und fächelte Tom, als wollte sie sagen: »Nun, wie geht’s euch, meine Kinder? Ich habe eine weite Reise gemacht, nur um euch zu grüßen.« Kurz, es war eine jener frohen Stunden, wo man wünscht oder doch wünschen sollte, daß jeder Mensch auf Erden glücklich sein möge, um den Hauch des Sommers und die Schönheit der Jahreszeit in seinem Herzen zu empfinden.

Das Frühstück verlief womöglich noch gemütlicher als sonst. Die kleine Ruth hatte jetzt zwei Zöglinge zu unterrichten und hatte jedem derselben dreimal in der Woche je zwei Stunden zu widmen. Außerdem hatte sie auch einige Kleinigkeiten gemalt und war hinter Toms Rücken in ein Geschäft gegangen, das mit solchen Artikeln handelte, nachdem sie oft lange davorgestanden und durchs Fenster geguckt hatte, ohne den Mut zu finden, einzutreten und die Frau im Laden zu fragen, ob sie ihr die Sachen abkaufen wolle. Und die Frau hatte sie ihr nicht nur abgekauft, sondern noch mehr davon bestellt. Und noch am selben Morgen hatte Ruth dies alles Tom gestanden und ihm den Erlös in einer kleinen Börse übergeben, die sie eigens zu diesem Zweck gestrickt hatte. Sie waren jetzt beide noch ganz entzückt darüber und hatten vielleicht auch ein paar glückliche Tränen darüber geweint. Aber jetzt war alles vorüber, und seit die Sonne zum letztenmal untergegangen war, hatte sie keine so seligen Gesichter beleuchtet als die der beiden Geschwister.

»Meine liebe, liebe Ruth«, sagte Tom so plötzlich, daß er darüber vergaß, das Brot abzuschneiden, das er seiner Schwester geben wollte, und das Messer im Brotlaib stecken ließ, »was doch unser Hauswirt für ein seltsamer Kauz ist. Ich glaube, er ist auch nicht ein einziges Mal wieder nach Hause gekommen, seit er mich damals in die leidige Patsche brachte. Mir scheint, er wird überhaupt nicht mehr wiederkommen. Was der nur für ein geheimnisvolles Leben führen mag?«

»Sehr seltsam, allerdings, Tom.«

»Das will ich meinen«, rief Tom. »Wenn es nur nicht mehr ist als bloß kurios. Ich will hoffen, daß keine Schurkerei dahintersteckt. Zuweilen kommt es mir ganz so vor. Aber, wenn ich ihn erwische«, sagte er und schüttelte den Kopf mit fürchterlich drohender Miene, »so muß er mir eine Aufklärung geben.«

In diesem Augenblick ertönte ein kurzes zweimaliges Klopfen an der Tür und ließ Tom alle seine Rachegedanken vergessen und setzte ihn dafür in das größte Erstaunen.

»Hallo«, rief er, »ist das aber ein früher Besuch! Es kann offenbar nur John sein!«

»Ich – nein – ich glaube nicht, daß er es ist – er – er klopft anders, Tom«, stotterte Ruth.

»So?« sagte Tom. »Nun, mein Prinzipal wird doch nicht am Ende plötzlich angekommen und von Mr. Fips hierher gewiesen worden sein, um sich den Schlüssel zu seinen Zimmern zu holen? Aber jemand fragt nach mir, das ist einmal sicher. Herein! Bitte, treten Sie gefälligst ein.« – Als aber der Besuch eintrat, empfing ihn Tom Pinch nicht mit einem: »Wünschen Sie mich zu sprechen, Sir? Mein Name ist Pinch, Sir, darf ich fragen, was Sie von mir wünschen«, oder mit einer ähnlichen reservierten Höflichkeit, sondern er rief laut auf: »O Gott, O Gott«, und packte den Ankömmling mit beiden Händen, außer sich vor Freude und vor namenloser Überraschung, an den Schultern.

Aber auch der Fremde war nicht weniger ergriffen als Tom, und so schüttelten sie einander lange die Hände, ohne daß einer von beiden ein Wort weiter hervorbrachte. Tom war der erste, der das Schweigen brach:

»Mark Tapley, Sie?« rief er und sprang zur Türe, um noch jemandem draußen die Hand zu schütteln. »Lieber, lieber Mark, nehmen Sie Platz. Wie geht’s, Mark? Wirklich, Sie sehen nicht um einen Tag älter aus als in den frühern Zeiten im ›Drachen‹. Na, und wie geht es Ihnen denn, Mark?«

»Bin außerordentlich fidel, Sir, ich danke Ihnen«, entgegnete Mr. Tapley mit strahlendem Gesicht und nicht endenwollenden Verbeugungen. »Ich hoffe, auch Sie befinden sich wohl, Sir?«

»Du mein Himmel!« rief Tom, ihn herzlich auf den Rücken klopfend, »was ist das für eine Freude, wieder Ihre alte bekannte Stimme zu hören. – Mein lieber Martin, bitte setzen Sie sich doch. Hier meine Schwester, lieber Martin, – Mr. Chuzzlewit, meine Liebe – und hier Mr. Mark Tapley aus dem ›Drachen‹. Gott, ist das eine Überraschung! Aber so nehmen Sie doch Platz! Gott, ist das eine Überraschung!«

Er war so aufgeregt, daß er auch nicht einen Augenblick stillhalten konnte, sondern beständig zwischen Mark und Martin hin und her lief und bald dem einen, bald dem andern die Hände schüttelte und sie wohl zum neunhundertundneunzigstenmal seiner Schwester vorstellte.

»Ich erinnere mich noch so gut an den Tag, wo wir uns trennten, Martin, als wäre es gestern gewesen«, rief er. »War das ein Tag! Und wie leidenschaftlich erregt Sie waren! Und erinnern Sie sich noch, Mark, wie ich Sie an jenem Morgen traf, als ich mit dem Gig nach Salisbury fuhr, um ihn abzuholen? Sie wollten sich damals nach einer andern Stelle umsehen. Und denken Sie noch an das Dinner, Martin, das wir in Salisbury mit John Westlock eingenommen haben? O du lieber Himmel! Ruth, meine Liebe, hier, das ist Mr. Chuzzlewit, und hier Mr. Mark Tapley aus dem ›Drachen‹. Bitte, bringe doch noch ein paar Tassen mit Untertassen. Nein, was ich für eine Freude habe, euch beide hier zu sehen!«

Er machte es jetzt gerade so, wie es John Westlock seinerzeit gemacht, als er ihn empfing: er lief um einen Laib Brot und um Butter, aber bevor er noch ein einziges Stück abgeschnitten, fiel ihm plötzlich wieder etwas anderes ein, und er lief abermals zurück, um erst zu erzählen, dann schüttelte er seinen Gästen nochmals die Hand und stellte sie abermals seiner Schwester vor und tat wieder, was er schon getan hatte, zum tausendstenmal noch einmal, aber alles, was er tat oder sagte, drückte nicht halb die Freude aus, die er innerlich über ihre glückliche Heimkehr empfand. Mr. Tapley war der erste, der seine Besonnenheit wiedergewann. Es dauerte nicht lange, da hatte er sich, noch ehe man sich’s recht versah, als Kammerdiener der kleinen Gesellschaft in aller Form etabliert; – sie merkten es erst, als sie ihn vermißten und ihn dann aus der Küche mit einem Kessel Wasser kommen sahen, das er in den Teetopf schüttete, und zwar mit einer Umsicht, wie man sie nur bei ihm finden konnte.

»Aber setzen Sie sich doch und frühstücken Sie, Mark!« rief Tom. »So sagen Sie ihm doch, er solle sich setzen und mit uns frühstücken, Martin!«

»Ach Gott, dergleichen hab ich längst als unmöglich aufgegeben«, versetzte Martin. »Er ist unverbesserlich und hat einen unvergleichlichen Dickschädel. Sie würden es ihm nicht übelnehmen, Miss Pinch, wenn Sie wüßten, was für ein wertvoller Mensch er ist.«

»O Gott, sie kennt ihn genau«, versicherte Tom. »Ich habe ihr so oft von Mark Tapley erzählt. Ist’s nicht so, Ruth?«

»Ja, Tom.«

»Alles gewiß nicht«, sagte Martin. »Die beste Seite von Mark Tapley ist nur einem einzigen Menschen bekannt, und der würde nicht mehr am Leben sein, um es zu erzählen, wenn Mark nicht gewesen wäre.«

»Mark!« rief Tom Pinch jetzt sehr energisch, »wenn Sie sich nicht augenblicklich niedersetzen, so fange ich an, Ihnen zu fluchen.«

»Nun, Sir«, versetzte Mr. Tapley freundlich, »ehe Sie mir das antun, will ich mich doch lieber fügen. Dachte nur, es sei so aller ehrenhaften Fidelität schnurstracks zuwider, wenn man so besonders gut aufgenommen wird.«

»Also noch immer die alte Sorge?« fragte Tom lächelnd.

»Nun, so halb und halb habe ich schon Ursache gehabt, fidel zu sein. Drüben auf der andern Seite des großen Wassers«, entgegnete Mr. Tapley. »Und ein bißchen Ehre war auch dabei einzulegen. Aber die ganze Menschheit scheint sich wieder gegen mich verschworen zu haben. Ich kann und kann die Sache nun einmal nicht bis zu Ende durchführen. Ich werde übrigens in meinem Testament die Verfügung treffen, daß man mir aufs Grab schreibt: er war ein Mann, der sich gerne groß gezeigt hätte, aber das Schicksal hat ihm die Möglichkeit dazu versagt.«

Dabei lachte Mr. Tapley übers ganze Gesicht, blickte fröhlich umher und machte dann eine Attacke auf das Frühstück mit einem Appetit, der nichts weniger als Vernichtung seiner Hoffnungen oder Kleinmut ausdrückte.

Unterdessen hatte Martin seinen Stuhl ein wenig näher zu Tom und seiner Schwester gerückt, um ihnen zu berichten, was in Mr. Pecksniffs Hause vorgegangen war, und zugleich einen kurzen Überblick über seine Leiden und Enttäuschungen in Amerika zu geben.

»Für Ihre so treue Erfüllung des Auftrages, den ich Ihnen hinterlassen, Tom«, fuhr er fort, »und für alle Ihre Güte und Uneigennützigkeit werde ich Ihnen nie genug danken können. Wenn ich meinem Dank auch noch den von Mary beifüge –«

Das Blut wich aus Toms Wangen und strömte dann wieder so heftig zurück, daß es jeden, der um seine Gefühle gewußt hätte, aufs tiefste erschüttert haben würde. Aber es war eine Erleichterung für ihn und ein Balsam für sein wundes Herz.

»Wenn ich noch meinem Dank den von Mary hinzufüge«, sagte Martin, »so haben Sie damit die einzige armselige Anerkennung, die ich Ihnen geben kann. Aber wenn Sie wüßten, wie tief und innig wir für Sie empfinden, Tom, so würden Sie gewiß Wert darauf legen.«

– Und wenn sie gewußt hätten, wie tief und innig Tom fühlte – doch das wußte keine menschliche Seele –, so würden sie ihn sicherlich bewundert haben.

Rasch wechselte Tom das Thema. Es tat ihm leid, den Gegenstand nicht weiter verfolgen zu können, da es Martin Freude zu machen schien, aber für den Augenblick konnte er es nicht über sich bringen. Wohl war nicht eine Spur von Bitterkeit oder Neid in seiner Seele, aber er konnte sich nicht so weit beherrschen, um Marys Namen ohne Beben auszusprechen. So fragte er, was Martin jetzt für Pläne habe.

»Ich habe es mir endgültig aus dem Kopf geschlagen, Sie zu protegieren, Tom«, sagte Martin. »Ich muß mich jetzt damit begnügen, mir erst selber einmal mein Brot zu verdienen. Ich habe es bereits einmal in London versucht, Tom, aber es ist mir nicht gelungen. Wenn Sie nun so gut sein wollen, mir mit Ihrem freundschaftlichen Rat zur Seite zu stehen, so hoffe ich, wird es vielleicht besser gehen. Ich will wirklich alles tun, Tom, und scheue mich vor nichts, auch nicht vor der niedrigsten Arbeit, nur mein Brot will ich mir verdienen. Höher versteigen sich meine Hoffnungen nicht mehr.«

»Was? Ihre Hoffnungen sollten sich nicht höher versteigen? Wie können Sie nur so etwas sagen!« rief Tom. »Hoffen Sie denn nicht mehr auf die Zeit, wo Sie dereinst mit ihr glücklich sein werden, Martin? Doch, doch! Sie müssen darauf hoffen, Martin! Meinen freundschaftlichen Rat?! Gewiß werde ich es an nichts fehlen lassen, soweit es an mir liegt, aber ich hoffe, es wird Ihnen ein besserer Rat zuteil werden, als ich Ihnen wohl zu geben vermag, wenn er auch kaum einer größeren Teilnahme für Sie entspringen kann als meiner. Sie müssen sich mit John Westlock besprechen; wir wollen uns auf der Stelle zu ihm begeben. Es ist noch so früh an der Zeit, daß ich Sie bequem nach seiner Wohnung begleiten kann, ehe ich an meine Geschäfte gehe. Ich muß sowieso dort vorbei und will Sie dort lassen, damit Sie mit ihm über Ihre Angelegenheiten reden können. Also kommen Sie, kommen Sie! Ich habe jetzt viel zu tun, müssen Sie wissen«, setzte er mit seinem liebenswürdigsten Lächeln hinzu, »und darf daher keine Zeit verlieren. Also höher versteigen sich Ihre Hoffnungen nicht? Hoffentlich glauben Sie das selber nicht! Aber ich kenne Sie. Sie werden sich bald so hoch emporschwingen, Martin, daß wir Sie ganz aus dem Gesichte verlieren und sie uns meilenweit hinter sich zurücklassen werden, ehe wir es uns versehen.«

»Ach, ich habe mich recht sehr verändert, Tom, seit damals, als Sie mich zuerst kennenlernten, Tom.«

»Unsinn, Unsinn«, rief Mr. Pinch, »warum hätten Sie sich denn verändern sollen? Sie reden ja rein, als wären Sie ein alter Mann. In meinem ganzen Leben habe ich noch niemanden so reden hören. Kommen Sie nur erst einmal zu John Westlock. Und Sie müssen natürlich mit, Mark Tapley. Ja, das hat alles dieser Mark angerichtet, und es geschieht Ihnen schon recht, Martin; warum haben Sie sich einen solchen Querkopf zum Gefährten gewählt.«

»Wahrhaftig, man legt keine Ehre ein, wenn man bei Ihnen fidel ist, Mr. Pinch«, protestierte Mark und lachte wieder übers ganze Gesicht. »In Ihrer Gesellschaft könnte sogar ein Armendoktor fidel sein. Ich müßte rein noch einmal nach Amerika, um mit einigermaßen Verdienst fidel zu sein, nachdem ich Sie gesehen habe.«

Tom lachte, sagte seiner Schwester Lebewohl und eilte mit Mark und Martin fort, um sich auf dem nächsten Wege zu John Westlock zu begeben. Seine Geschäftszeit fing bald an, und er setzte seine Stolz darein, immer pünktlich zu sein.

John Westlock war zu Hause, aber seltsamerweise ein wenig verlegen über den Besuch, und als Tom direkt in das Zimmer gehen wollte, wo sein Freund zu frühstücken pflegte, sagte er, er habe einen Fremden zu Besuch. Es schien ein sehr geheimnisvoller Mensch zu sein, dieser Fremde, denn John schloß bei diesen Worten sorgsam die Türe und führte seine Gäste in das Zimmer nebenan. Gleichwohl war er sehr erfreut, Mark Tapley wiederzusehen, wie er denn auch Martin Chuzzlewit mit größter Höflichkeit bewillkommnete. Martin hatte das Gefühl, daß er John nicht viel Sympathie einflöße, und glaubte auch zu bemerken, daß dieser Tom Pinch einige Male bedenklich, wenn nicht gar mitleidig anblickte. Er glaubte die Ursache zu erraten und errötete bei dem Gedanken daran.

»Ich fürchte, Sie sind beschäftigt«, sagte er daher, als Tom den Zweck ihres Besuches erzählt hatte, »wenn Sie gestatten, möchte ich Sie vielleicht lieber zu einer Zeit besuchen, wo Sie nicht verhindert sind.«

»Allerdings bin ich augenblicklich beschäftigt«, versetzte John mit einigem Widerstreben, »aber es betrifft, offen gestanden, die Sache, die mich augenblicklich in Anspruch nimmt, mehr Sie als mich.«

»Mich?« rief Martin.

»Die Angelegenheit ist ziemlich ernster Natur und betrifft ein Mitglied Ihrer Familie. Wenn Sie die Güte haben wollen, mich hier zu erwarten, so würde mich das sehr freuen, denn ich könnte Ihnen nachher alles unter vier Augen mitteilen, damit Sie selbst urteilen, wie weit die Angelegenheit Sie angeht.«

»Ich kann sowieso jetzt nicht bleiben«, fiel Tom ein.

»Sind Ihre Geschäfte denn so dringend«, unterbrach ihn Martin, »daß Sie nicht ein halbes Stündchen mehr hierbleiben können? Es wäre mir wirklich sehr lieb, wenn es irgendwie ginge. Was haben Sie denn für Geschäfte, Tom?«

Tom wurde verlegen, sagte aber, nachdem er eine Minute nachgedacht, offen heraus:

»Leider kann ich Ihnen darüber keine nähere Auskunft geben, Martin, aber ich hoffe, ich werde es bald dürfen. Der Grund dafür liegt eigentlich nur darin, daß mein Prinzipal mir verboten hat, darüber zu sprechen. Meine Situation ist überhaupt sehr merkwürdig«, setzte er unruhig hinzu, denn er wünschte auch den Schein zu vermeiden, als ob er irgendwie Zweifel in Martins Vertrauen setze – »aber ich kann wirklich nicht anders. Nicht wahr, du wirst mir das bestätigen, John?«

John Westlock bejahte, und Martin bat Mr. Pinch, doch kein Wort mehr weiter darüber zu verlieren. Nichtsdestoweniger natürlich wunderte er sich innerlich, warum Tom in betreff seiner Geschäfte so geheimnisvoll, so verlegen und so ganz anders war, als er sonst zu sein pflegte. Auch als Mr. Pinch sich bereits entfernt hatte, wollte ihm der Gedanke nicht aus dem Kopf.

Unmittelbar darauf verabschiedete sich Tom und nahm Mr. Tapley mit sich, der lachend um die Erlaubnis bat, ihn, wenn es ihm nichts ausmache, bis nach Fleet Street begleiten zu dürfen.

»Nun, und was gedenken Sie jetzt anzufangen, Mark?« fragte Tom, als sie zusammen nebeneinander her gingen.

»Je nun, Sir«, sagte Mark Tapley, »offen gestanden, gedenke ich mich zu verheiraten.«

»Warum nicht gar, Mark!« rief Tom.

»Jawohl, Sir, so ist’s. Ich habe mir die Sache lange überlegt.«

»Und wer ist die Glückliche, Mark?«

»Wer die Glückliche ist, Sir?« wiederholte Mr. Tapley.

»Ja, ja, die Glückliche. So tun Sie doch nicht, als ob Sie nicht wüßten, was ich meine«, versetzte Tom lachend.

Mr. Tapley unterdrückte seine eigene Lachlust und sagte mit komisch ernstem Gesicht:

»Sie können’s natürlich nie erraten, Mr. Pinch.«

»Wie wäre das auch möglich«, rief Tom. »Ich kenne doch keine von Ihren Flammen, außer vielleicht Mrs. Lupin.«

»Na, Sir, und wenn die’s wäre?«

Tom blieb stehen und blickte Mark Tapley an. Aber dieser machte einen Augenblick ein vollkommen ausdrucksloses Gesicht – so ausdruckslos wie eine Häusermauer mit geschlossenen Fenstern. Aber allmählich machte er ein Fenster nach dem andern auf, und schließlich lachte er über das ganze Gesicht.

»Gesetzt nun den Fall, sie wäre es, Sir?«

»Aber Sie haben mir doch einmal selbst gesagt«, rief Tom, »eine solche Verbindung wäre nichts für Sie!«

»Ja, ja, das habe ich früher auch geglaubt«, scherzte Mark, »aber inzwischen bin ich doch wankend geworden. Sie ist ein liebes, herziges Geschöpf.«

»Gewiß ist sie ein liebes, herziges Geschöpf«, versicherte Tom, »aber das ist sie doch von jeher gewesen.«

»Das will ich meinen«, pflichtete Mr. Tapley bei.

»Warum, um Gottes willen, haben Sie denn dann die wackere Frau nicht gleich von vornherein geheiratet, Mark, und sich erst lange in der Fremde herumgetrieben? Warum sie die ganze Zeit über allein lassen und der Hofmacherei von Fremden preisgeben?«

»Nun, Sir«, erklärte Mr. Tapley im Tone des größten Vertrauens, »ich will Ihnen sagen, wie das zuging. Sie kennen mich, Mr. Pinch, niemand kennt mich besser als Sie. Sie kennen meinen Charakter und wissen auch, worin meine Schwäche besteht. In meiner Natur liegt es, fidel zu sein, und meine schwache Seite ist, daß ich gerne fidel wäre, wo es eine Kunst ist, fidel zu sein. Also gut, Sir. Und so kam es, daß ich es mir in den Kopf setzte, sie müsse – wie soll ich nur sagen – sie müsse stolz auf mich sein«, setzte er bescheiden hinzu.

»Gewiß, gewiß«, rief Tom, »ich ahnte das, als wir damals darüber sprachen, wie Sie noch im ›Drachen‹ waren.«

Mr. Tapley nickte zustimmend.

»Sehr gut, Sir. Aber damals trug ich mich mit allerlei Hoffnungen und kam zu dem Schlusse, daß es keine Kunst sei, fidel zu sein, wenn man ein Leben führt, das von lauter Annehmlichkeiten umgeben ist. Wie ich mir so die schöne Seite des Lebens betrachtete, da dachte ich mir, ich müsse vor allem noch einmal recht viel Elend durchmachen; denn da sei wenigstens Ehre dabei zu holen, wenn man fidel bliebe. So zog ich voller Erwartungen in die Welt hinaus, um es zu probieren. Zuerst ging ich an Bord eines Schiffes, bemerkte aber bald – da es auch dort ganz leicht war, fidel zu sein –, daß da nicht viel Ruhm für mich zu ernten sei. Ich hätte mir’s wohl können zur Warnung dienen lassen und die Sache aufgeben sollen, aber ich tat es nicht. Dann ging ich in die Vereinigten Staaten, und da fing ich – ich kann’s nicht leugnen – zum erstenmal an, zu fühlen, daß man dort Ehre einlegen könne, wenn man bei guter Laune bleibt. Aber was geschah? Kaum fange ich an, in die Höhe zu kommen, da hintergeht mich mein Herr.«

»Er hintergeht Sie?« rief Tom.

»Er hintergeht mich im wahrsten Sinne des Wortes«, sagte Mr. Tapley mit strahlendem Gesicht. »Legt alle die Gewohnheiten ab, die den Dienst bei ihm noch als ein bißchen anerkennenswert hingestellt hätten, und macht mir Freude. Selbstverständlich kehre ich da sofort wieder heim. Gut. Und wie alle meine hoffnungsvollen Aussichten gescheitert sind und ich einsehe, daß ich mich nirgends mehr herausreißen kann, da packt mich die Verzweiflung, und ich sage mir: So will ich also tun, was gar keine Kunst ist; ich will ein liebes braves Geschöpf heiraten, das mich liebt und das ich ebenfalls liebe, ich will ein glückliches Leben führen und nicht mehr weiter kämpfen gegen das Schicksal, das alle meine Aussichten vernichtet hat.«

»Ihre Philosophie ist wohl so ziemlich das Närrischste, was ich mir denken kann, aber unweise ist sie darum eigentlich nicht«, sagte Tom herzlich lachend. »Mrs. Lupin hat natürlich ›ja‹ gesagt?«

»Wo denken Sie hin!« versetzte Mr. Tapley. »So weit ist sie noch nicht. Ich schreibe das vorzüglich dem Umstande zu, daß ich sie noch nicht danach gefragt habe. Aber gefreut haben wir uns beide mächtig, als wir uns an dem Abend, wo ich nach Hause kam, wiedersahen. Es ist schon soweit alles in Ordnung, Sir.«

»Nun, dann wünsche ich Ihnen von ganzem Herzen Glück«, sagte Tom. »Hoffentlich sehe ich Sie doch heute noch? – Inzwischen leben Sie wohl.«

»Leben Sie wohl, Sir! – – Adieu, Mr. Pinch«, setzte Mark innerlich hinzu, als er allein auf der Straße stand und Tom nachsah. »Du bist so recht ein Dämpfer für einen tüchtigen Ehrgeiz. Du weißt freilich nichts davon, daß du der erste warst, der meinen Hoffnungen den ersten Stoß versetzte. Ja, der Mr. Pecksniff hätte mich für mein ganzes Leben aufgerichtet! Aber mit einer Sanftmut wie der deinigen kann es der Mensch unmöglich aushalten. – Adieu, Mr. Pinch!«

Inzwischen waren Martin und John Westlock auf ganz andere Weise beschäftigt. Sie waren kaum allein, da begann Martin mit einer Anstrengung, die er nicht ganz verbergen konnte:

»Mr. Westlock, wir haben uns zwar nur ein einziges Mal gesehen, aber Sie kennen Tom so lange, daß ich vermuten muß, dieser Umstand allein veranlaßt Sie, so freundlich gegen mich zu sein. Ich kann nun aber nicht offen heraus mit Ihnen sprechen, bevor ich mich nicht von einer Last, die mich jetzt schwer bedrückt, befreie. Zu meinem Leidwesen muß ich sehen, daß Sie mir nicht so weit trauen, als daß Sie nicht glauben könnten, ich wäre imstande, Toms Uneigennützigkeit, sein gutes Herz oder sonst eine seiner guten Eigenschaften zu mißbrauchen.«

»Ich hatte nie die Absicht, einen solchen Eindruck bei Ihnen hervorzubringen«, versetzte John, »und bedaure wirklich sehr, daß es trotzdem geschehen ist.«

»Aber offenbar sind Sie dieser Ansicht, nicht wahr?« fragte Martin.

»Sie fragen mich so direkt und bestimmt«, entgegnete John, »daß ich nicht ganz in Abrede zu stellen vermag, Sie als einen Mann betrachtet zu haben, der – nicht etwa aus Übermut oder Schlechtigkeit, sondern aus bloßer Gedankenlosigkeit – Toms Wesen einst nicht gehörig würdigte und ihn nicht ganz so behandelte, wie er gewiß behandelt zu werden verdient. Glauben Sie mir, es ist viel leichter, Tom Pinch geringzuschätzen, als ihn nach Gebühr zu würdigen.«

John sprach durchaus nicht erregt, aber immerhin energisch, denn, ein einziges Wesen vielleicht ausgenommen, gab es auf der ganzen Welt niemanden, den er höher geschätzt hätte als Tom.

»Als ich an Jahren reifer wurde, lernte ich meinen Freund ebenfalls besser erkennen«, fuhr er fort, »und ich habe in ihm einen Menschen lieben gelernt, der unendlich besser ist als ich. Ich glaube nicht, daß Sie ihn recht verstanden haben, als wir uns damals in früheren Zeiten trafen, und vermute auch, daß Ihnen nicht besonders viel daran lag, ihn näher kennenzulernen. Die Umstände, aus denen ich dies schloß, waren sehr geringfügig – sogar harmlos, kann ich sagen, aber sie haben damals keinen sehr angenehmen Eindruck auf mich gemacht und drängten sich mir, sozusagen, mit Gewalt auf –, denn Sie dürfen nicht glauben, daß ich Sie vielleicht absichtlich beobachtet hätte. Sie werden denken«, setzte John liebenswürdig lächelnd – er konnte nie lange ungehalten sein – hinzu, »daß ich Ihnen damit nichts besonders Angenehmes sage und daß Ihnen an mir gewiß auch so mancherlei mißfällt. Aber ich kann Ihnen darauf nur erwidern, daß das Thema nicht von mir ausging, denn ich würde es um keinen Preis zur Sprache gebracht haben.«

»Ich weiß, daß ich selbst Anlaß dazu gegeben habe«, erwiderte Martin, »und bin weit entfernt, darüber irgendwie gekränkt zu sein. Im Gegenteil erfüllen mich die Freundschaft, die Sie für Tom empfinden, und die vielen Beweise, die Sie ihm davon gegeben haben, mit der größten Hochachtung. Warum sollte ich auch versuchen, Ihnen zu verhehlen« – dennoch errötete er dabei – »daß ich damals Tom weder verstand noch daß mir daran gelegen war, ihn näher kennenzulernen, als wir beisammen waren. Jetzt aber tut mir dies alles aufrichtig leid.«

Diese Antwort war so schlicht, so bescheiden und männlich, daß ihm John sofort die Hand entgegenstreckte. Und damit wich auch augenblicklich jeder Zwang zwischen den beiden jungen Leuten.

»Aber jetzt muß ich Sie vor allem bitten«, ging John auf ein anderes Thema über, »es mir nicht übelzunehmen, wenn ich Ihre Geduld auf längere Zeit in Anspruch nehme. Es handelt sich nämlich um etwas außerordentlich Wichtiges.«

Nach dieser Einleitung erzählte er Martin ausführlich alle Einzelheiten von der Krankheit und der langsamen Rekonvaleszenz des Patienten im »Ochsen« und knüpfte daran den Bericht, den ihm Tom seinerzeit über den Vorfall auf dem Kai erstattet hatte. Martin war nicht wenig verblüfft, als John schloß, denn die beiden Geschichten schienen in gar keinem Zusammenhang miteinander zu stehen und ließen ihn vollständig im unklaren.

»Und jetzt bitte ich Sie, mich einen Augenblick zu entschuldigen«, sagte John und stand auf. »Ich werde Sie sogleich ersuchen, mit mir in das anstoßende Zimmer zu kommen.«

Erstaunt blieb Martin allein, bis gleich darauf John wiederkam. Dann traten sie mitsammen in das anstoßende Zimmer, wo Martin den Fremden erblickte, von dem Westlock vorhin gesprochen.

Es war ein junger Mann mit tiefliegenden Augen und schwarzen Haaren, blaß und abgezehrt, wie es schien infolge einer soeben erst überstandenen schweren Krankheit. Als Martin eintrat, stand er auf, nahm aber auf Johns Aufforderung wieder Platz. Er hatte die Augen schüchtern niedergeschlagen und erhob sie nur ein einziges Mal, halb demütig, halb flehend, zu den beiden, senkte sie dann wieder und blieb stumm sitzen.

»Lewsome ist der Name diese Herrn«; stellte ihn John Westlock Martin vor, »er ist derselbe, der, wie ich Ihnen schon sagte, in dem Wirtshaus Zum Ochsen krank wurde und so außerordentlich viel durchgemacht hat. Es war eine schwere Leidenszeit für ihn, aber Sie sehen, daß es ihm jetzt bereits wieder gut geht.«

Der Fremde rührte sich nicht, und da John Westlock eine Pause machte, stotterte Martin in seiner Verlegenheit:

»Freut mich sehr, zu hören.«

»Den kurzen Bericht, den ich Sie bitte, aus dem Munde dieses Herrn selbst anzuhören, Mr. Chuzzlewit«, fuhr John fort, »hat mir Mr. Lewsome selbst gestern zum erstenmal erstattet und heute früh aufs genaueste und ohne die geringste Abweichung wiederholt. Ich habe Ihnen vorhin bereits gesagt, daß er mir, ehe er das Wirtshaus verließ, mitteilte, er habe mir ein Geheimnis zu enthüllen, das ihn schwer bedrücke. Zwischen Gesundheit und abermaligen Krankheitsrückfällen schwebend und teils von dem Wunsch beseelt, sein Gewissen von der ihn drückenden Last zu erleichtern, halb aus Furcht, sich durch die Entdeckung desselben in allerlei Unannehmlichkeiten zu verstricken, hat er bis gestern gezögert, sich mir anzuvertrauen. Ich habe ihn niemals gedrängt, da ich nicht die geringste Ahnung von der Wichtigkeit seines Geheimnisses hatte und mich im übrigen auch nicht berechtigt glaubte, ihn ernstlicher um Erfüllung seines Versprechens anzugehen. Erst vor einigen Tagen, als er mir in einem Brief mitteilte, was ihn bedrücke, beziehe sich auf eine Person namens Jonas Chuzzlewit, kam ich auf den Gedanken, die Sache könne vielleicht einiges Licht auf das kleine Geheimnis werfen, auf das Tom immer wieder und wieder zurückkommt. So bestand ich daher auf der Enthüllung und hörte, was Sie selbst jetzt aus seinem Munde vernehmen werden. Ich muß zu Mr. Lewsomes Lobe sagen, daß er auf dem Krankenlager das Geheimnis niedergeschrieben, versiegelt und mit meiner Adresse versehen hat, wenn er sich auch lange Zeit nicht entschließen konnte, es mir zu übergeben. Er trägt, glaube ich, noch jetzt den Brief auf der Brust.«

Der Fremde griff hastig in die Brusttasche, um zu zeigen, daß es wahr sei.

»Vielleicht wird es gut sein, wenn wir den Brief jetzt in Verwahrung nehmen«, sagte John. »Aber dazu haben wir schließlich noch immer Zeit.« Dabei winkte er heimlich Martin, um ihn auf das aufmerksam zu machen, was der Fremde erzählen werde. Nach einer kurzen Pause begann Mr. Lewsome mit leiser, schwacher und hohler Stimme.

»In welcher Weise war Mr. Anthony Chuzzlewit, der kürzlich – gestorben ist, mit Ihnen verwandt?«

»Mit mir verwandt?« wiederholte Martin. »Er war der Bruder meines Großvaters.«

»Ich fürchte, er ist keines natürlichen Todes gestorben, sondern ermordet worden«, sagte Mr. Lewsome stockend.

»Gott im Himmel«, rief Martin, »von wem?«

Mr. Lewsome blickte hastig auf, schlug die Augen wieder nieder und sagte:

»Ich fürchte, durch mich.«

»Durch Sie?« rief Martin.

»Nicht vielleicht direkt durch mich, aber ich fürchte, ich bin vielleicht mit schuld daran.«

»Um Gottes willen, sprechen Sie sich doch genauer aus», rief Martin. »Bitte, sagen Sie uns die volle Wahrheit.«

»Ich fürchte, dies ist die Wahrheit.«

Martin war im Begriff, abermals eine hastige Frage zu stellen, aber John Westlock flüsterte ihm zu, er möge den jungen Mann die Geschichte in seiner eigenen Weise ruhig vortragen lassen.

»Ich habe als Lazarettgehilfe praktiziert und stand in den letzten paar Jahren bei einem Chirurgen in der City in Diensten«, begann Mr. Lewsome; »und dabei wurde ich mit Mr. Jonas Chuzzlewit bekannt, der der Hauptschuldige in dieser Sache ist.«

»Wissen Sie, was Sie damit sagen?!« rief Martin streng und ernst. »Wissen Sie, daß Jonas der Sohn des alten Mannes ist, von dem Sie sprachen?«

»Ich weiß es«, antwortete Lewsome.

Dann schwieg er einige Minuten und fuhr wieder in seiner Erzählung fort:

»Natürlich weiß ich es. Oft genug habe ich gehört, wie er wünschte, sein alter Vater möge endlich sterben. Er pflegte sich in diesem Sinne oft an einem Ort zu äußern, wo wir zu dritt oder viert jeden Abend zusammenkamen. Sie können sich wohl denken, daß es keine besonders sympathische Gesellschaft war, wenn Sie erfahren, daß er das Haupt davon bildete. Ach, wäre ich doch lieber gestorben, ehe ich ihn zu Gesicht bekam.«

Lewsome hielt wieder inne und fuhr dann aufs neue fort:

»Wir kamen dort zusammen, um zu trinken oder zu spielen – nicht hoch, aber immerhin um Summen, die für unsere Verhältnisse zu hoch waren. Gewöhnlich gewann er, und jedesmal lieh er den Verlierenden Geld gegen hohe Zinsen und bekam uns auf diese Weise schließlich alle in die Gewalt, trotzdem wir ihn im stillen haßten. Um ihn günstig für uns zu stimmen, machten wir mit, wenn er seine rohen Witze über seinen Vater riß, und pflegten sogar Toaste darauf auszubringen, der Alte möge rasch in die Grube fahren und Jonas seine Erbschaft antreten.«

Wieder eine Pause. »Eines Abends war Mr. Jonas in besonders übler Laune. Der alte Mann, sagte er, habe ihn den ganzen Tag über gequält. Er und ich waren allein, und da erzählte er mir in seiner Wut und seinem Ärger, Mr. Anthony Chuzzlewit, sein Vater, sei so kindisch, schwachsinnig oder blödsinnig, daß er nicht nur seinen Nebenmenschen, sondern auch sich selbst eine Last sei, und es wäre eine wahre Wohltat für ihn, wenn man ihn aus der Welt schaffte. Er beteuerte mit einem Schwur, er habe schon oft daran gedacht, ihm etwas in seinen Hustensaft zu mischen und ihm auf diese Weise zu einem leichten Tod zu verhelfen. Menschen, die von tollen Hunden gebissen werden, sagte er, brächte man doch zuweilen um die Ecke; warum solle man das nicht auch bei alten Leuten tun, bei denen es mit dem Sterben nicht so recht vorangehen wolle. Jonas sah mir bei diesen Worten voll ins Gesicht, und ich erwiderte seinen Blick. Aber weiter kamen wir an diesem Abend nicht.«

Lewsome machte abermals eine Pause und schwieg so lange, daß John Westlock ihn auffordern mußte, fortzufahren. Martin hatte kein Auge von seinem Gesicht verwandt und war so entsetzt, daß er seinerseits kein Wort hervorbringen konnte.

»Ungefähr eine Woche darauf – die Sache ging mir inzwischen nicht aus dem Kopf –, so lange kann es ungefähr gewesen sein – da kam er zum zweitenmal darauf zu sprechen. Wir waren wiederum allein, da wir etwas früher gekommen waren als die andern. Es bestand keine Verabredung zwischen uns, aber ich glaube doch, daß ich absichtlich etwas früher kam, um ihn zu treffen. Daß er deshalb früher kam, das weiß ich bestimmt. Also er war der erste am Platz und las gerade in einer Zeitung, als ich eintrat. Ohne aufzublicken und ohne sich im Lesen zu unterbrechen, nickte er mir zu. Ich setzte mich ihm gerade gegenüber. Ganz unvermittelt sagte er mir dann, ich müßte ihm zweierlei Mittel verschaffen: eines, das unmittelbar und sofort wirke und von dem man nur eine Kleinigkeit benötige, und eines, das langsamer wirke und nicht leicht Verdacht erwecke; davon brauche er mehr. Dabei las er immer in der Zeitung fort, wie es schien. Er sagte ›Mittel‹, ein anderes Wort gebrauchte er nicht, ich auch nicht.«

»Das stimmt ganz mit dem überein, was ich bereits früher gehört habe«, erklärte John Westlock.

»Ich fragte ihn, wozu er die Mittel brauche. Er meinte, zu nichts Bösem; um Katzen zu vergiften usw. Im übrigen könne mir das ja gleichgültig sein. Da ich ja sowieso in eine Kolonie zu gehen gedächte – ich hatte wohl eine derartige Anstellung erhalten, verlor sie aber wieder, wie Mr. Westlock weiß, infolge meiner Krankheit, und mit ihr auch meine einzige Hoffnung auf die Zukunft –, ginge mich die Sache um so weniger an. Er könne die Mittel übrigens ohne meine Beihilfe auf hunderterlei andere Art erhalten, wenn auch nicht ganz so leicht wie von mir – vielleicht werde er sie überhaupt nicht brauchen, und es falle ihm auch vorderhand nicht im entferntesten ein, sie zu benützen. Aber dennoch würde er sie gerne besitzen. Und während er dies sprach, las er ununterbrochen in der Zeitung. Wir unterhandelten dann wegen des Preises; er wollte mir eine kleine Schuld nachlassen – ich war nämlich völlig in seinen Händen – und mir außerdem fünf Pfund geben – dann unterbrachen wir das Thema, da andere Leute hereinkamen, aber am nächsten Abend unter ähnlichen Umständen händigte ich ihm die Mittel aus, nachdem er mir zuvor ausdrücklich versichert hatte, ich sei ein Narr, wenn ich glaubte, er werde sie jemals zu etwas Bösem benützen. Ich nahm das Geld und bin seitdem nicht wieder mit ihm zusammengetroffen. Ich weiß nun aber, daß der alte Mann gleich nachher starb, und zwar in einer Weise, die ganz gut die Folge dieser Gifte hätte sein können, und seit jener Zeit fühle ich mich als den elendsten aller Menschen. Nichts«, setzte Mr. Lewsome hinzu und verkrampfte die Hände, »nichts kann die Trostlosigkeit meines Innern schildern. Die Gewissensbisse sind wahrhaftig verdient, aber sie zu schildern bin ich nicht imstande.«

Damit senkte er den Kopf und schwieg. Abgezehrt und elend, wie er war, hätte ihm wohl niemand in diesem Zustand Vorwürfe zu machen gewagt.

»Ich kann es in der Nähe dieses Menschen nicht mehr länger aushalten«, sagte Martin halblaut und wendete sich ab.

»Er wird hier bleiben«, flüsterte John. »Kommen Sie.«

Leise drehte er den Schlüssel in dem Türschloß um, als sie fortgingen, und führte Martin in das Zimmer nebenan, in dem sie bereits vorhin gewesen.

Martin war so erstaunt, erschüttert und verwirrt über das Gehörte, daß er einige Zeit brauchte, ehe er sich fassen oder den Zusammenhang der einzelnen Punkte vollständig begreifen konnte. Als er endlich die ganze Geschichte klar überschaute, erklärte ihm John Westlock, wie wahrscheinlich es sei, daß das Verbrechen noch andern Leuten bekannt sei, die es zu ihrem eigenen Nutzen mißbrauchten und jenen Zwang auf Jonas ausübten, von dem der Vorfall mit Tom Pinch der beste Beweis sei. Das war so einleuchtend, daß sie es beide sofort einsahen, aber trotzdem gab es ihnen keinen Anhaltspunkt, was sie weiter zu tun hätten. Die Personen, die diese Macht offenbar besaßen und ausübten, waren ihnen unbekannt. Der einzige, von dem sie es wußten, war Toms Hauswirt. Aber selbst wenn es gelingen sollte, diesen Menschen stellig zu machen, was nach Toms Aussage nicht sehr leicht schien, so hatten sie doch kein Recht, irgendwelche Fragen an ihn zu richten. Aber auch angenommen, daß sie ihn fragten und er ihnen Rede stünde, so brauchte er doch nur mit Bezug auf das Abenteuer auf dem Quai zu sagen, er sei von da und dort geschickt worden, Jonas wegen eines dringenden Geschäftes zurückzurufen, und damit würde die Sache ein Ende gehabt haben. Überdies war es sehr schwierig und sehr verantwortlich, Schritte in dieser Sache zu tun. Lewsomes Geschichte konnte falsch sein, denn vielleicht war er nicht nur krank, sondern litt sogar an Geisteszerrüttung; und selbst wenn sie richtig war, so erbrachte das immer noch nicht den Beweis, daß der alte Chuzzlewit wirklich ermordet worden sein mußte. Pecksniff war bekanntlich zugegen gewesen, als der Alte starb (wie sich Tom sofort erinnerte, als er nachmittags zurückkam und sich ihren Beratungen anschloß), und überhaupt schien der Todesfall und alles, was damit zusammenhing, nichts besonders Auffallendes gehabt zu haben. Von Rechts wegen war nur Martins Großvater derjenige, der hinsichtlich des einzuschlagenden Verfahrens vor allem seine Meinung abzugeben hatte, aber es war offenbar unmöglich, sich mit ihm zu verständigen – sagte und dachte er doch nur, was Mr. Pecksniff ihm vorsprach und vordachte. Und wie Mr. Pecksniff sich über seinen eigenen Schwiegersohn äußern würde, ließ sich leicht vorhersehen.

Ganz abgesehen von allen diesen Rücksichten, konnte Martin außerdem den Gedanken nicht ertragen, es möchte vielleicht den Anschein haben, als nehme er die Gelegenheit wahr, durch eine so unnatürliche Anklage gegen einen Verwandten sich neuerdings um die Gunst seines Großvaters zu bewerben. Wenigstens mußte in diesem Licht sein Handeln erscheinen, wenn er abermals in Mr. Pecksniffs Hause vor dem alten Herrn erschien, um ihm das, was er erfahren, mitzuteilen; – immerhin mußte er damit rechnen, daß Mr. Pecksniff nicht einen Augenblick zögern werde, sein Benehmen von diesem Gesichtspunkte aus zu deuten. Andererseits wiederum konnte die Mitwisserschaft um das Geheimnis, ohne daß weitere Maßregeln zur nähern Erforschung der Angelegenheit eingeleitet wurden, als Mitschuld angesehen werden. Mit einem Wort, es schien kein Ausweg aus diesem Labyrinthe zu führen. Mr. Tapley wurde zwar gleichfalls ins Vertrauen gezogen, und die ausschweifende Phantasie dieses Gentlemans gab die allerkühnsten Mittel an – Entwürfe, die er auf eigene Verantwortung sofort zu vollziehen sich bereit erklärte –, aber dennoch wurde durch seinen Eifer und seine Dienstbeflissenheit die Angelegenheit – keineswegs klarer.

Wie die Dinge standen, erhielt Toms Erzählung über das seltsame Benehmen des geistesschwachen Buchhalters an jenem Abend, wo er und seine Schwester dort gemeinsam Tee getrunken hatten, ein sehr bedenkliches Aussehen und führte zur allgemeinen Überzeugung, daß man einen wichtigen Schritt zur Erforschung der Wahrheit täte, wenn man den Greis in ein Verhör nehmen könnte. Nachdem sie sich daher vorher versichert hatten, daß Lewsome und Mr. Chuffey nie miteinander zu tun gehabt, faßten sie einstimmig den Beschluß, an den alten Buchhalter heranzutreten.

Aber so leicht war es nicht, sich Chuffey zu nähern, ohne ihn oder Jonas stutzig zu machen oder zu beunruhigen, und da sie sich nicht recht klar darüber werden konnten, wie das alles am besten ins Werk zu setzen sei, wollte die Sache nicht recht in Schwung kommen.

Vor allem hieß es die Frage erörtern, wer von der Umgebung des alten Buchhalters noch den meisten Einfluß auf ihn habe, und Tom erklärte, daß dies augenscheinlich bei seiner jungen Herrin der Fall zu sein scheine. Aber selbstverständlich schreckten sowohl er wie alle übrigen vor dem Gedanken zurück, Gratia mit in das Komplott zu verwickeln und sie zu dem Werkzeug zu machen, das um Jonas‘ Hals den Strick zuziehen sollte. – War denn also niemand sonst da?

»Allerdings; – Mrs. Gamp«, sagte Tom, »die Krankenwärterin, besitzt großen Einfluß auf den alten Mann und hat ihn eine Zeitlang beaufsichtigt.«

Die Anregung fand sofort Anklang. Hier zeigte sich ein neuer Weg zum Ziel, den man bisher übersehen hatte. John Westlock kannte Mrs. Gamp. Er hatte ihr seinerzeit Beschäftigung gegeben und wußte, wo sie wohnte – denn die treffliche Frau hatte nicht verabsäumt, als sie sich das letztemal bei ihm empfahl, ihm ein ganzes Paket ihrer Geschäftskarten zum Verteilen zurückzulassen. Es wurde demnach beschlossen, vorsichtig, aber unverzüglich Mrs. Gamp einzufädeln und sorgfältig zu sondieren, wieviel diese verschwiegene Dame von Mr. Chuffey wußte und ob sie Mittel und Wege finden zu können glaube, sie alle oder wenigstens einen von ihnen in Verbindung mit dem alten Mann zu setzen.

Martin und John Westlock nahmen sich vor, noch am selben Abend ans Werk zu gehen, indem sie zuvörderst einmal Mrs. Gamp in ihrer Wohnung aufsuchten, um zu sehen, ob sie sie dort treffen könnten, und Tom eilte nach Hause, um keine Gelegenheit zu verlieren, sich eine Unterredung mit Mr. Nadgett zu verschaffen, falls dieser in seiner Wohnung auftauchen sollte. Mr. Tapley blieb auf seinen eigenen Wunsch in Furnivals Inn, um Lewsome nicht aus den Augen zu verlieren, obgleich das eigentlich überflüssig war, denn der junge Mann dachte an nichts weniger als an Flucht.

Ehe sie sich jedoch auf ihre verschiedenen Posten begaben, mußte ihnen Lewsome im Beisein der ganzen Gesellschaft die von ihm zu Papier gebrachte Erklärung laut vorlesen und erklären, daß er das Geständnis freiwillig angesichts des Todes und aus innerer Seelenpein niedergeschrieben habe. Hierauf unterzeichneten sie es sämtlich, und es wurde an einem sichern Ort eingeschlossen.

Auf Johns Rat schrieb Martin sodann einen Brief an den Vorstand der berühmten Elementarschule, in dem er ganz unverfroren den Entwurf des Bauplanes für sich in Anspruch nahm und Pecksniff unverhohlen des Diebstahls geistigen Eigentums zieh. Auch für diese Angelegenheit interessierte sich John Westlock sehr lebhaft und bemerkte mit seiner gewohnten Unehrerbietigkeit, Mr. Pecksniff habe sein Leben lang Glück genug gehabt mit seinen Gaunereien und es müsse ein Mordsspaß sein, ihn wenigstens in diesem Punkte einmal zu entlarven. Kurz, es war ein Tag voller Rührigkeit.

Martin hatte noch kein Logis gefunden, entschuldigte sich daher, als ihn John Westlock zum Dinner einlud, und machte sich sofort auf die Suche. Nach großer Mühe gelang es ihm endlich, für sich und Mark zwei Dachstübchen in der Nähe des Strandes nicht weit vom Tempel Bar zu mieten. Ihr Gepäck, das sie auf dem Postbureau gelassen, schaffte er selbst nach dem neuen Heim, und zwar mit einer Freude, wie er sie in seiner frühern Selbstsucht nie hatte empfinden können. Er jubelte innerlich, wieviel Mühe er dadurch Mark erspare und wie sehr sich dieser beim Nachhausekommen darüber freuen werde. Dann ging er im »Tempel« auf und ab und verzehrte sein frugales Mahl, bestehend aus einigen Wurstschnitten.

49. Kapitel


49. Kapitel

Mrs. Harris sät Zwietracht zwischen ein paar Freundinnen

Mrs. Gamps Zimmer in Kingsgate Street, High Holborn, trug, um bildlich zu sprechen, sein Galakleid, denn es war sauber gescheuert und für den Empfang eines Besuches hergerichtet. Der erwartete Gast war Betsey Prig – Mrs. Prig von St. Barthlmä, wie man dort kurz das St.-Bartholomäus-Spital des Schwesterordens nannte, dessen vornehmste Zierde Mrs. Betsey Prig war.

Mrs. Gamps Wohnung war nicht sehr geräumig, aber für ein zufriedenes Herz ist auch der schlechteste Winkel ein Palast, und die Beletage bei Mr. Sweedlepipe erschien Mrs. Gamps Einbildungskraft wie eine stattliche Halle. Wenn auch nüchterne Verstandesmenschen diese Ansicht nicht geteilt hätten, so konnte man besagtem Vorderzimmer doch nachrühmen, daß es immerhin so viel Komfort bot, wie man von einem Zimmer solchen Umfanges erwarten konnte. Wenn man die Bettstelle nur immer im Auge behielt, war man im allgemeinen vor jedem Unfall sicher. Das war das große Geheimnis. Wenn man das Bett nicht aus dem Auge verlor, konnte man sich sogar bücken, um ungefährdet unter dem kleinen Tisch etwas zu Boden Gefallenes aufzuheben und sich durch die kleine Mühe, dabei einfach in den Kamin hineinzufallen, sogar unter Umständen billigen Einlaß in das Bartholomäusspital verschaffen. Dem Laien wurde es im allgemeinen nicht schwer, das Bett stets im Auge zu behalten, denn es war außerordentlich groß. Es war kein Klappbett, aber auch kein französisches Bett und ebensowenig eine vierpfostige Bettstatt, sondern eher so etwas wie ein Zelt, und der bauchige Strohsack hing gewöhnlich so tief herab, daß Mrs. Gamps Koffer darunter keinen Platz finden konnte, sondern zur Hälfte hervorstand – ein Umstand, der die Schienbeine eines Laien immerhin zu gefährden imstande war.

Überdies war das Gestell, das als Stütze des Betthimmels und der Vorhänge gedient hätte, wenn welche dagewesen wären, mit verschiedenen aus Holz gedrechselten Äpfeln verziert, die beim leisesten – oder vielleicht bei gar keinem – Anstoß herunterzupurzeln pflegten, um den friedlichen Besucher mit unaussprechlichem Schrecken zu erfüllen.

Das Bett selbst war mit einer scheckigen Decke aus grauer Vorzeit geschmückt, und am obern Ende, zunächst der Türe, hing eine schmale Gardine von blau und weiß gestreifter Leinwand, damit die Zephire, die von der Kingsgate Street her wehten, Mrs. Gamps Haupt nicht so rauh berühren konnten. Einige verschossene Röcke und andere Garderobeartikel baumelten an dem Bettpfosten herunter und hatten infolge langen Gebrauchs derart die Figur ihrer Trägerin angenommen, daß ein ahnungsloser Besucher, wenn er um die Zeit der Dämmerung in das Zimmer getreten wäre, wie versteinert hätte stehenbleiben müssen im Glauben, Mrs. Gamp habe sich erhängt. Ein Gentleman, der gewöhnlich sehr eilig zu kommen pflegte, hatte einst die Bemerkung gemacht, sie sähen wie Schutzengel aus – diese kernlosen Hüllen, die Mrs. Gamp in ihrem Schlafe bewachten. Diese Äußerung habe er sich übrigens nur bei seinem ersten Besuche erlaubt, sagte Mrs. Gamp, und sie niemals später wiederholt, trotzdem er sie häufig besuchen käme.

Die Stühle bei Mrs. Gamp waren außerordentlich groß und mit sehr breiten Lehnen versehn, dafür waren ihrer aber auch nur zwei; alle beide Veteranen aus altem Mahagoniholz und besonders wertvoll dadurch, daß ihre Sitze, ursprünglich mit Roßhaar unterpolstert, im Laufe der Zeit so schlüpfrig geworden waren, daß sie förmlich opalisierten und jedem Fremden, der unvorsichtigerweise darauf Platz nahm, zu einer kleinen Rutschpartie verhalfen. Was Mrs. Gamp an Stühlen zu wenig hatte, das besaß sie dafür an Hutschachteln zu viel. Diese waren sämtlich der Aufnahme verschiedener wertvoller Gegenstände geweiht, obwohl sie durchaus nicht so gut schlossen, wie die wackere Frau sich einzubilden schien, denn, wenn auch jede von ihnen einen Deckel besaß, so hatte doch keine einzige einen Boden, so daß sie wie Lichtauslöscher über den darunter zusammengeknüllten Sachen hockten. Die Aufsatzkommode, ursprünglich dazu bestimmt, auf einem andern größern Kasten zu ruhen, hatte jetzt dadurch, daß sie allein stand, ein koboldartiges, zwerghaftes Aussehen, besaß aber in puncto Sicherheit unendliche Vorzüge vor den Hutschachteln, denn da sämtliche Griffe an den Schubladen längst abgerissen waren, konnte man zu ihrem Inhalte nur unter den größten Schwierigkeiten, wenn überhaupt, gelangen. Jedesmal mußte das ganze Möbel entweder schief nach vorwärts geneigt werden, bis alle Schubladen von selbst herausfielen, oder man mußte sie einzeln mit Messern aufstechen wie die Austern.

Ihren Hausrat pflegte Mrs. Gamp in einem kleinen Wandschrank neben dem Kamin aufzubewahren. Zuunterst lagen natürlich die Kohlen, und je höher es hinaufging, desto wertvoller wurden die verstauten Schätze, bis sie schließlich auf dem obersten Brett mit den Spirituosen endeten, die aus Rücksicht auf das Zartgefühl in einem Teetopf aufbewahrt wurden. Über dem Kaminsims hing ein kleiner Kalender, der hie und da Anmerkungen von Mrs. Gamps höchsteigener Hand aufwies: zum Beispiel einen roten Strich bei dem Datum, an dem diese oder jene Dame voraussichtlich niederkommen mußte. Außerdem hingen noch drei Porträts herum – das eine koloriert, Mrs. Gamp selbst als jugendliche Frau darstellend, ein bronziertes, eine Dame im Federhut und Ballanzug, angeblich Mrs. Harris, und eine Silhouette, die den gottseligen Mr. Gamp bedeuten sollte – letztere in Lebensgröße, um durch drastischen Hinweis auf das Holzbein die Ähnlichkeit hervorzuheben.

Ein Blasebalg, ein Paar Überschuhe, eine Röstgabel, ein Kessel, eine Breipfanne, ein Löffel zum Medizineinnehmen oder vielmehr -eingeben für widerspenstige Kranke und endlich Mrs. Gamps berühmter Regenschirm, der mit besonderer Ostentation aufgestellt war, vollendeten die Dekoration des Kamines und der daran anstoßenden Ecke. Zu allen diesen Kostbarkeiten erhob jetzt Mrs. Gamp freudestrahlend ihr Auge, nachdem sie den Teetisch zugerichtet und alle Vorbereitungen zum Empfang Mrs. Betsey Prigs getroffen hatte. Den Glanzpunkt des Mahles sollte offenbar ein breit hingestelltes Stück eines zwei Pfund schweren, scharf eingesalzenen Newcastler Lachses bilden.

»Ja, jetzt, wo bleiben denn Sie so lang, liebe Betsey?« fragte Mrs. Gamp, ihre abwesende Freundin im Geiste anredend. »Dös fehlet mir grad noch, daß i warten müßt. I mag hingehn wo i will, immer sag i: o mei, i bin bald zfrieden gestellt, i brauch nur wenig, aber dös muß jetzt wieder vom Besten sein und auf die Minutn und auf ’n Glocknschlag kommen, sonst san mir gschiedne Leut.«

Allerdings waren die Zurüstungen vom Allerfeinsten. Sie umfaßten einen guten, neugebackenen Laib Brot, einen Teller mit frischer Butter, eine Schale mit feinem weißen Zucker und ähnliches. Selbst der Schnupftabak war von so hervorragender Qualität, daß Mrs. Gamp, als ihr Auge darauf fiel, sofort eine Prise nahm.

»Aha, es läutt schon«, sagte sie, eilte an die Treppe und schaute hinunter. »Ah, der liebe – na Servus, jetzt glaub i gar, der blöde Rasierer hat mi derbleckt.«

»Ja, ich bin’s«, rief Mr. Sweedlepipe mit schwacher Stimme hinauf, »ich bin’s. Ich bin gekommen.«

»Na ja, dös sieht mer«, brummte Mrs. Gamp ungeduldig und wälzte sich die Treppe hinab. »Was gibt’s denn schon wieder? Brennt leicht der Fluß und kocht sich die eigenen Fisch? Ja was hat denn jetzt der Mann? Der schaut ja so weiß aus wie die Wand.«

Das waren ihre ersten Worte, als sie unten angelangt war und ihren Hauswirt in seinem Rasierstuhl blaß und trostlos dasitzen sah.

»Sie erinnern sich«, stöhnte Mr. Sweedlepipe, »Sie wissen doch noch, der Junge –«

»Doch nicht der junge Wilkins?!« rief Mrs. Gamp. »Wenn jetzt dös dem jungen Wilkins sei Frau is –«

»Es ist niemandes Frau«, schluchzte der kleine Barbier, »Bailey ist’s, der junge Bailey.«

»Sie wollen doch net sagn, daß der was angestellt hat?« fragte Mrs. Gamp ärgerlich. »Dummes Zeug! I bitt Ihna, was soll denn der gmacht haben?«

»Er hat gar nichts getan«, jammerte der arme Poll ganz verzweifelt. »Warum lassen Sie mich denn nicht zu Worte kommen? Er wird sein Lebtag nichts mehr tun. Es ist um ihn geschehen. Er ist tot! – Als ich den jungen Menschen zum erstenmal sah«, fuhr Poll zerknirscht fort, »habe ich ihn mit einem Rotkehlchen angeschmiert; ich hab ihm vier Dreier abgenommen, und das war mindestens die Hälfte zu teuer. Und jetzt ist er tot. Und wenn man alle Dampfmaschinen und elektrischen Flüssigkeiten der Welt zusammen hier in den Laden brächte und sie gleichzeitig losließe, so könnte das alles doch nicht mehr gutmachen, daß ich ihn um einen Penny übers Ohr gehauen habe.«

Und Mr. Sweedlepipe wandte sich ab und wischte sich mit dem Rasierhandtuch die Augen trocken.

»Und so ein netter Junge ist er gewesen« schluchzte er weiter, »ein überraschend gescheiter junger Mensch. Wie hat der reden können, und was hat er alles gewußt! Hier in diesem Stuhl hab ich ihn rasieren müssen, bloß des Spaßes halber – na ja, Ernst konnte es ja doch nicht sein –, und wenn ich denke, daß er’s nicht erlebt hat, wirklich einmal rasiert zu werden! Lieber hätten mir alle Vögel krepieren sollen, einer nach dem andern«, jammerte der kleine Barbier, und sein Blick wanderte von einem Käfig zum andern, »lieber hätten alle krepieren sollen, ehe ich das hören mußte.«

»Ja, wo habn S‘ denn dös schon wieder erfahren?« fragte Mr. Gamp neugierig. »Wer hat Ihnen denn dös alles erzählt?«

»Ich bin in die City gegangen«, erklärte der kleine Raseur, »um auf der Börse einen Herrn zu treffen, der ein großer Jäger ist und einige flügellahme Tauben haben wollte, um sich an ihnen zu üben. Und wie ich mit dem Geschäfte fertig war, ging ich in ein Wirtshaus, um einen Schluck Bier zu mir zu nehmen, und da sprachen alle Leute davon. Sogar in den Zeitungen steht es schon.«

»Hat Sie aber die Gschicht mitgnommen, Mr. Sweedlepipe«, sagte Mrs. Gamp und schüttelte den Kopf. »Ich glaub, a halbes Dutzend frische, junge, lebendige Blutegel auf Ihren Kopf wäre das Beste, was Sie machen könnten. Also, von was haben denn die Leut gredt, und was steht in den Zeitungen?«

»Die ganze Geschichte«, rief der Barbier. »Was sollte denn sonst drin stehen. Er und sein Herr sind in den Graben geworfen worden, und dann hat man ihn sterbend nach Salisbury gebracht. Nicht ein Wort hat er mehr gesprochen. Nicht ein einziges Wort. Aber das ist noch nicht das Schlimmste von der ganzen Geschichte. Sein Herr ist auch nicht zu finden, und der andere Direktor von dem Bureau in der City – er heißt David Crimple – ist mit dem ganzen Geld durchgebrannt, überall sind Steckbriefe angeschlagen, die dem, der ihn erwischt, eine große Belohnung zusichern. Mr. Montague, der Herr von dem armen jungen Bailey – ach, was war das für ein fescher Bursche – wird ebenfalls steckbrieflich gesucht. Einige sagen, er habe sich gedrückt, um sich im Ausland seinem Freund wieder anzuschließen, aber andere meinen, er sei noch in England, und überall sucht man nach ihm. Das ganze Geschäft war ein aufgelegter Schwindel, heißt es. Aber was ist ein Lebensversicherungsgeschäft gegen ein wirkliches Leben wie das des jungen Bailey!«

»Ach was«, brummte Mrs. Gamp, »wenn einer in dem irdischen Jammertal geboren is, so muß er sich nach der Decken strecken. Ja und spricht man denn gar nichts von Mr. Chuzzlewit?«

»Nein. Wenigstens nichts Bemerkenswertes. Er gehörte nicht mit zur Gesellschaft, wenn man auch sagt, er habe vorgehabt, beizutreten. Einige glauben, er sei der Betrogene, wieder andere meinen, er habe mit ihnen unter einer Decke gesteckt. Aber wie dem auch sein mag, jedenfalls kann man ihm nichts beweisen. Heute morgen hat er sich aus freien Stücken zum Bürgermeister begeben und zu ein paar andern großen Stadtperücken und hat sich beklagt, man habe ihn übers Ohr gehauen; und zwar hauptsächlich die beiden Lumpen, die jetzt flüchtig geworden sind. Mr. Montague hieße gar nicht Montague, sondern weiß der Kuckuck wie. Und wie der leibhaftige Tod soll Mr. Jonas Chuzzlewit ausgesehen haben aus Entsetzen über seine großen Verluste. Aber, Gott verzeih mir die Sünd«, rief Poll und kam wieder auf den Gegenstand seines eigenen Kummers zurück, »was geht das mich an, wie er ausgesehen hat, meinswegen hätt er fünfzigmal draufgehen können, und es wär kein solches Unglück gewesen wie das, was jetzt den armen jungen Bailey betroffen hat.«

In diesem Augenblick ertönte die kleine Glocke, und die Baßstimme Mrs. Prigs mischte sich in das Gespräch.

»Aha, Sie redn a scho von der Gschicht«, bemerkte sie. »Na hoffentlich seids jetzt fertig damit. Mich interessiert alles dös gar net.«

»Na, aber liebe Betsey«, rief Mrs. Gamp, »wie spät Sie heut wieder kommen!«

Die würdige Dame erwiderte etwas spitzig, wenn die verrückten Leute immer gerade stürben, wenn man’s am wenigsten erwarte, so sei das nicht ihre Schuld. Es sei ärgerlich genug, wenn man sich zu einer Teegesellschaft verspäte, und man brauche nicht noch extra darauf aufmerksam gemacht zu werden.

Mrs. Gamp schloß aus dieser Erwiderung auf Mrs. Prigs Gemütszustand und führte sie sogleich hinauf, um sie durch den Anblick des marinierten Lachses zu besänftigen.

Offenbar hatte Mrs. Betsey Prig Lachs erwartet, denn nachdem sie sich an der Tafel umgesehen, waren ihre ersten Worte:

»Hab mir’s doch glei denkt, daß kane Gurken dabei sin.«

Mrs. Gamp verfärbte sich und ließ sich fassungslos auf den Bettrand nieder.

»Meiner Seel, Betsey, da haben S‘ jetzt wieder amal die Wahrheit gsprochen. Ganz und gar hab i sie vergessen.«

Mrs. Prig sah ihre Freundin fest an, versenkte ihre Hand in die Tasche und zog mit sauertöpfisch triumphierender Miene einen Gegenstand hervor, der entweder der älteste Lattich der Erde oder die jüngste Kohlstaude der Saison war – jedenfalls aber ein Grünzeug, und zwar von so gigantischer Größe, daß Mrs. Prig die Zweige wie Regenschirmspangen zusammendrücken mußte, ehe sie es aus der Tasche brachte. Dann zog sie noch eine Handvoll Senf und Kresse, ein Büschel Löwenzahnsalat, drei Bündel Radieschen und einige Zwiebeln, die jede einzeln etwas größer waren als eine Durchschnittsmohrrübe, und einen Kopf Sellerie hervor. Alles das war wenige Minuten vorher auf dem Markt öffentlich für zwei Pence feilgeboten und von Mrs. Prig unter der Bedingung käuflich erworben worden, daß die Hökerin alles in ihrer Tasche unterzubringen vermöge. Zum großen Staunen sämtlicher Droschenkutscher in High Holborn hatte denn auch die Gemüsehändlerin ihre Aufgabe glücklich gelöst. Mrs. Prig legte so wenig Gewicht auf alle diese unschätzbaren Dinge, daß sie nicht einmal lächelte, sondern die Tasche wieder in ihre frühere Lage brachte und ihrer Freundin empfahl, die Naturprodukte zerschnitten in möglichst viel Essig zu tauchen, damit man sie sogleich genießen könne.

»Aber lassn S‘ kan Schnupftabak net falln«, warnte sie. »In Hafer, Grütze, Gerstenschleim, Bouillon und so weiter macht’s ja weiter nix. Es is zwar a guats Reizmittel für die Patienten, aber i selber mag’s net.«

»Aber Betsey«, rief Mrs. Gamp, »wie können S‘ jetzt nur a so daher redn?«

»Na, tun sich leicht Ihnere Patienten net ’s Hirn ausn Kopf nießen von Ihneran Schnupftabak?« fragte Mrs. Prig.

»Na ja, und – und was wär da weiter dabei?« fragte Mrs. Gamp.

»Nix is weiter dabei«, sagte Mrs. Prig, »aber leugnen sollen S‘ net, Sarah.«

»Wer tut denn was leugnen, Betsey«, fragte Mrs. Gamp vorwurfsvoll.

Mrs. Prig schwieg.

»Wer leugnet was, Betsey?« fragte Mrs. Gamp abermals und bediente sich dann, um ihren Worten einen tieferen und feierlicheren Nachdruck zu geben, der Sprache der feinen Kreise: »Betsey, wer stellt es denn in Abrede?«

Es fehlte nur noch sehr wenig, und es wäre zu einer ernsthaften Differenz zwischen den beiden Damen gekommen, aber da Mrs. Prigs Sehnsucht nach den Speisen größer war als ihre Lust zu widersprechen, so antwortete sie des lieben Friedens wegen: »Niemand nicht, wann Sie’s net tun, Sarah«, und setzte sich zum Tee nieder; denn zum Zank war schließlich immer noch Zeit, um aber beim Lachs nicht zu kurz zu kommen, war es höchste Zeit.

Die Toilette der vortrefflichen Dame war außerordentlich einfach. Sie brauchte bloß Hut und Schal auf das Bett zu werfen, sich rechts und links einmal in die Haare zu fahren, als wolle sie ein paar Glockenstränge ziehen, und damit war sie fertig. Der Tee stand bereit, Mrs. Gamp brauchte zum Salatbereiten auch nicht allzu lange, und so konnten sich denn beide Damen sehr bald an ihrem Mahle erquicken.

Ihre Gemütsstimmung besserte sich infolge der Tafelfreuden in kurzer Zeit. Als sie mit dem Essen fertig waren und Mrs. Gamp den Tisch abgeräumt hatte und den Teetopf sowie ein paar Weingläser vom obersten Gesims bereits auf der Tafel standen, waren sie bereits ein Herz und eine Seele.

»Betsey«, begann Mrs. Gamp, schenkte sich ein und reichte ihrer Freundin den Teetopf hinüber, »auf Ihnere Gsundheit! Auf die Gsundheit meiner lieben Kollegin Betsey.«

»Was i nur, indem i den Namen in ›Sarah Gamp‹ umänder, mit Liebe und Zärtlichkeit erwider«, sagte Mrs. Prig.

Und von diesem Augenblicke an begannen sich allmählich Symptome inneren Feuers an den Nasen der beiden Damen und vielleicht auch, trotzdem der äußere Schein dagegen sprach, in ihren Herzen zu entwickeln.

»Alsdann, Sarah«, fing Mrs. Prig nach einer Weile an, »um aufs Geschäft zu kommen: um was für a Gschäft handelt sich’s denn, zu dem Sie mich brauchten?«

Da Mrs. Gamps Mienen Lust verrieten, der Frage auszuweichen, setzte Mrs. Betsey spöttisch hinzu:

»Vielleicht um die Mrs. Harris?«

»Na, liabe Betsey, ’s is net die Harris«, antwortete Mrs. Gamp.

»Dös is gscheit«, versetzte Mrs. Prig mit einem kurzen Lachen; »dös is gscheit, daß ’s wenigstens net die is.«

»Warum soll denn jetzt dös gscheit sein, Betsey?« fuhr Mrs. Gamp erregt auf. »Sie kennen sie ja gar net. Warum sagen S‘ nacher, daß dös gscheit is? Habn S‘ leicht etwas gegen der Harris ihren Charakter? I kann Ihna nur sagn, da dran is nix auszusetzen. S‘ is a liabe Frau«, setzte Mrs. Gamp kopfschüttelnd und mit Tränen in den Augen hinzu. »I kenn sie schon seit ihrem ersten Mal, wo ihr Mann, der Harris, der schrecklich ängstlich is, sich die Ohren zughalten hat und den Kopf in den leeren Kübel gesteckt hat und net hat rauswollen, bis man ihm des kleine Kind zeigt hat, und nacher hat er glei Krämpf kriegt, und der Doktor hat ihn beim Kragen nehman müssen und mit ‚m Buckel auf die Stoan legn, damit er wieder zu sich kemmt. Aber später, liabe Betsey, hat er das gfühlvolle Gschöpf mit die rauhen Worte verwundet: des neunte Kind und a schon des achte wär am gscheitesten wegblieben, und dös hat er rausbracht, grad während ihm die kleine Unschuld ins Gsicht glächelt hat. Schlag auf Schlag is ’s gangen, kann i Ihna sagn. Und nöt die geringsten unangenehmen Umständ sin dabei gwesen, kann i Ihna sagn. Und um so weniger kann i mir jetzt denken, warum Sie sagen: ›Dös is gscheit.‹ Die Harris wird niemals nicht nach Ihna schicken, da können S‘ Ihna drauf verlassen. ›Wann i’s amol nötig hab‹, das werden ihre Worte immer sein, ›schickt’s nur zerscht nach der Sarah.‹«

Mrs. Prig tat sehr gewandt, als sei sie die Beute jener gewissen Geistesabwesenheit, die aus übermäßiger Aufmerksamkeit entspringt, bediente sich aber rastlos des Teetopfes, ohne sich, wie es schien, dessen bewußt zu sein. Mrs. Gamp ließ sich jedoch nicht so leicht hinters Licht führen und schloß deshalb ihre Rede lang vor der Zeit.

»Na, also gut, wann sie’s net is«, sagte Mrs. Prig kühl, »wer is ’s denn nacher?«

»Sie haben gwiß«, erwiderte Mrs. Gamp mit einem vielsagenden Blick auf den Teetopf, »Sie haben gwiß von einer Person ghört, bei der i damals Wärterin war. Wissen S‘, drüben im ›Ochsen‹. Grad zu der Zeit, wor wir mitsamm beim Chuzzlewit abgwechselt haben.«

»Aha, der alte Schnupfy«, bemerkte Mrs. Prig.

Mrs. Gamp warf ihrer Kollegin einen flammenden Blick zu, denn sie erblickte in dieser Namensverdrehung von seiten der Prig einen boshaften Hieb auf ihre eigene Gewohnheit, zu schnupfen – eine Anzüglichkeit, die heute bereits zum zweitenmal peinlich auf sie wirkte. Dies wurde ihr noch klarer, als sie höflich, aber mit Festigkeit ihrer Kollegin durch ein klares Vorbuchstabieren des Wortes »Chuffey« ihren Irrtum klarmachte, denn diese nahm die Korrektur mit einem diabolischen Lächeln auf.

Mrs. Prigs Haupttugend bestand nun darin, daß sie ihre herben Charaktereigenschaften nicht lediglich an ihren Patienten erschöpfte, sondern auch einen großen Teil davon für ihre Freunde reservierte. Der stark marinierte Lachs und der scharf angemachte Salat mochten infolge der ihnen innewohnenden Essigsäure vielleicht diesen Fehler Mrs. Prigs für den Augenblick noch mehr in den Vordergrund gedrängt haben, und dieselbe Wirkung hatte wahrscheinlich auch der »Teetopf«, denn, wie schon die Freundinnen der trefflichen Dame des öftern die Bemerkung gemacht hatten, widersprach sie niemals lieber, als wenn sie sich innerlich durch Stimulantien angeregt fühlte – jedenfalls nahm ihr Gesicht jetzt einen höhnischen, geradezu herausfordernden Ausdruck an, und mit verschränkten Armen, und ein Auge geschlossen, setzte sie sich in fast kriegerischer Haltung zurecht.

Mrs. Gamp entging dies keineswegs, und für um so nötiger hielt sie es daher, ihre Kollegin in ihre Schranken zurückzuweisen und an ihre gesellschaftliche Stellung wie auch an ihre Verpflichtungen als geladener Gast zu erinnern. Sie nahm daher eine wenn möglich noch bedeutsamere Gönnermiene an und spann ihre Antwort noch ausführlicher aus, als sie es sonst getan hätte. »Mr. Chuffey«, erklärte sie, »ist ziemlich schwach im Kopf. Aber Sie müssen mich schon entschuldigen, wenn i sag, daß er vielleicht net gar so schwachsinnig is, wie die Leut glauben. I weiß, was i weiß, und was Sie net wissen, Betsey, das wissen Sie eben nicht, Betsey. So, fragen S‘ mich jetzt net weiter. Also, die Freunde von Mr. Chuffey haben mir den Vorschlag gmacht, i sollet mich seiner annehmen, und haben zu mir gsagt: ›Also, was is, Gamp, wollen Sie’s übernehmen oder net?‹ Jemand anders haben s‘ g’sagt, is ausgschlossen, aber Ihna können mir ihn schon anvertrauen, Sarah, denn Sie sin echt wie Gold. ›Also wollen Sie ihn übernehmen – natürlich ganz unter Ihre eigenen Bedingungen ganz allein, bei Tag und bei Nacht.‹ – Na, hab i gsagt, dös is ausgschlossen; schlagen S‘ Ihna dös aus ’n Kopf. Es gibt nur ein Gschöpf in der Welt, hab i gsagt, das i unter solchene Bedingungen übernehmen möcht, und dös Wesen heißt Harris. Aber, hab i gsagt, i bin mit einer Freundin bekannt, die Betsey Prig heißt, und die kann i Ihna rekommandieren, damit sie mit mir zsamm des Gschäft macht. Die Betsey, hab i gsagt, is, wann sie unter meiner Leitung steht, a ganz zuverlässige Person. Und i bin a ganz überzeugt, sie wird sich von mir was sagen lassen.«

Abermals stellte sich Mrs. Prig, ohne aber dabei ihre herausfordernde Miene zu ändern, als versinke sie in Geistesabwesenheit, und streckte ihre Hand begierig nach dem »Teetopf« aus. Das war mehr, als Mrs. Gamp ertragen konnte. Sie fiel ihr daher in den Arm und sagte tief gekränkt:

»Na, na, Betsey, wann Sie trinken wolln, trinken S‘ ehrlich. I derf net zu kurz kommen.«

Mrs. Prig warf sich in ihren Armstuhl zurück, schloß, ärgerlich, ihren Plan so unvermuteterweise vereitelt zu sehen, ihr eines Auge noch krampfhafter, verschränkte die Arme noch entschlossener und wiegte ihr Haupt langsam hin und her, dabei ihre Freundin mit verächtlichem Lächeln musternd.

Mrs. Gamp nahm ihre Rede wieder auf.

»Die Harris –«

»Bitt Sie, lassen S‘ mich scho aus mit der Harris«, rief Mrs. Betsey Prig gereizt.

Mrs. Gamp blickte erstaunt, ungläubig und unwillig auf, aber Mrs. Prig schloß ihr Auge womöglich noch fester, verschränkte die Arme noch krampfhafter und sprach die denkwürdigen Worte:

»Die Harris existiert überhaupt gar net. Mir reden S‘ so was net ein!«

Nachdem diese inhaltsschweren Worte dem Gehege ihrer Zähne entflohen waren, beugte sie sich vor und schnappte mit den Fingern einmal, zweimal, dreimal, und jedesmal näher an Mrs. Gamps Gesicht. Dann stand sie auf und nahm ihren Hut, als fühle sie tief innerlich, welch unüberbrückbar tiefe Kluft sich nunmehr zwischen ihnen gebildet habe.

Der geführte Schlag war so heftig und kam so plötzlich, daß Mrs. Gamp förmlich versteinert sitzen blieb, fassungslos in die leere Luft stierte und mit offenem Munde nach Luft schnappte, bis Mrs. Betsey Prig ihren Hut aufgesetzt und ihren Schal umgeworfen, das heißt sich ihn um den Hals gewickelt hatte. Dann erhob sie sich jedoch, physisch und moralisch, um loszubrechen.

»Was ham Sie da gesagt?!« schrillte sie, »Sie boshafte Kreatur, Sie! Hab i leicht die Harris fünfadreißg Jahr kennt, um mir auf d‘ letzt noch sagen zu lassen, es gebet gar keine solche Person nicht? Hab i ihr leicht net in alle Kindsnöten beistehen müssen, damits jetzt zu an solchen End kommt, während doch ihr eigenes Porträt die ganze Zeit über Ihna hängt als a lebendiger Gegenbeweis für dös dumme Zeug, was Sie daherreden? Aber meinswegen können S‘ ja glauben, was S‘ mögen. Die Harris möcht sich niemals nicht so weit erniedrigen, Ihna a nur mit an Aug anzuschaugn. Und wie oft hat s‘ net zu mir gesagt, wenn i Ihnern Namen gnennt hab, was i leider viel zu oft tan hab: Was, Sarah Gamp, hat s‘ gsagt, bis zu dera Person würdigen Sie Ihna herab? – So, und jetzt schaugn S‘, daß naus kommen!«

»No ja, i geh ja scho«, brummte Mrs. Prig, machte aber gerade im Gegenteil halt.

»Des möcht i Ihna a graten habn«, keuchte Mrs. Gamp.

»Mir scheint, Sie wissen net, mit wem Sie sprechen!« rief Mrs. Prig.

»Mit der Betsey, mit wem denn sonst?« knurrte Mrs. Gamp und musterte ihre Kollegin verächtlich von Kopf bis zu Fuß. »Schaugn S‘ daß weiter kommen, sag i!«

»Und Sie unterstengan sich, mi a no zu proteschüren!« rief Mrs. Prig und musterte ihrerseits Mrs. Gamp von Kopf bis zu Füßen. »Sie, wer san denn Sie eigentlich? – Dös’s a Unverschämtheit«, fügte sie mit einem raschen Übergang vom Hohn zur Wildheit hinzu. »Was denken denn Sie eigentlich?«

»Marsch!« schrie Mrs. Gamp, »gengan S‘ mir aus die Augen, daß i mi not für Ihna schäm.«

»Da schämen S‘ lieber Ihna selber«, sagte Mrs. Prig. »Gö mit Ihnern tepperten Schnupfy!«

»Wahrscheinlich möcht er ganz teppert werden, wann er mit Ihna was zschaffn hätt«, revanchierte sich Mrs. Gamp.

»Aha, dazu hat ma mi leicht habn wollen!« rief Mrs. Prig triumphierend, »da haben S‘ Ihna aber gschnitten, bei so was rühr i net die Hand. Sie werdn scho so ohne mi fertig wern. Na, mit dem will i nix zschaffen habn.«

»Oder umgekehrt!« brummte Mrs. Gamp, »aber jetzt schaugn S‘, daß S‘ naus kemman.«

Ihr so sehnlich ausgedrückter Wunsch, Zeuge von Mrs. Prigs Entfernung aus dem Zimmer zu sein, ging nicht in der Art in Erfüllung, wie sie es sich gewünscht hatte, denn die vortreffliche Dame stieß, blind, wie sie vor Wut war, in ihrer Hast gegen die Bettstelle an, und drei oder vier der ornamentalen hölzernen Äpfel rollten herab und trafen Mrs. Gamps Scheitel so empfindlich, daß Mrs. Prig bereits längst fort war, ehe sich Sarah von den Folgen dieser hölzernen Traufe erholt hatte.

Nur eine Freude blieb Mrs. Gamp, nämlich, daß sie Betseys Baßstimme draußen hörte, wie sie sich laut über die erlittene Beleidigung beklagte und ihren Entschluß kundtat, nichts mit Mr. Chuffey zu tun haben zu wollen – und zwar nicht nur unten im Hause, sondern sogar noch vor der Türe auf der Straße.

An der Stelle, wo noch vor einigen Minuten Mrs. Prig gestanden, erkannte Mrs. Gamp jetzt langsam und dämmerhaft Mr. Sweedlepipe und zwei Herren.

»Gott im Himmel!« rief der kleine Barbier, »was ist denn da vorgegangen? Was ihr beiden Frauenzimmer da wieder für einen Radau gemacht habt! Die beiden Herren haben fast die ganze Zeit über draußen auf der Treppe gestanden und wollten sich bemerkbar machen, aber ihr konntet sie natürlich nicht hören, wie ihr einander so in die Haare fuhrt! Der kleine Blutfink im Laden drunten ist bei dem Lärm so erschrocken, daß er vielleicht den Tod davon haben kann. In seinem Schrecken hat er sich dermaßen angestrengt, daß er sich mehr Wasser mit seinem Mechanismus im Vogelbauer herausgepumpt hat, als er in zwölf Monaten austrinken kann! Er muß wahrscheinlich geglaubt haben, das Haus brennt.«

Mrs. Gamp war mittlerweile in ihren Lehnstuhl gesunken und entledigte sich mit überströmenden, zum Himmel gerichteten Augen und gefalteten Händen folgender Lamentation:

»Ach, Mr. Sweedlepipe und Sie, Mr. Westlock, wenn mich meine Augen nicht trügen – und noch ein Herr, wo ich nicht zu kennen das Vergnügen hab – wirklich, was i heut abend wieder mit der Betsey Prig ausgstanden hab, dös kann sich kein Mensch nicht vorstellen. Glei am Anfang, wie s‘ reinkommen is zu mir, hab i mir denkt: jessas, riecht die aber nach Schnaps! Aber i hab gmeint, mich täuschen meine Sinne, weil i selbst niemals nicht Branntwein zu riechen bekomm (in Wirklichkeit war Mrs. Gamp selbst bereits ziemlich benebelt und der ›Teetopf‹ war fast bis auf die Neige geleert), übrigens, wann sie bloß betrunken gwesen wär, hätt i mir noch net soviel draus gmacht aus ihre Schimpfereien, aber wenn eins über die Harris schimpft, so vertrag i dös net. – Na«, setzte sie mit einem Wutausbruch hinzu – »na, i net.«

Der kleine Barbier kratzte sich am Kopf, zog die Augenbrauen in die Höhe, warf einen Blick auf den »Teetopf« und war sichtlich bestrebt, sich aus dem Zimmer zu drücken. John Westlock jedoch holte sich kaltblütig einen Stuhl und ließ sich neben Mrs. Gamp nieder, während Martin zu Füßen des Bettes Platz nahm und sehr gespannt schien.

»Ich kann mir ganz gut denken, daß Sie sich über unser Erscheinen hier wundern«, begann John, »aber ich werde Ihnen sofort näheres Diesbezügliches mitteilen, sobald Sie sich ein wenig gefaßt haben. Auf einige Minuten mehr oder weniger kommt es nicht an. – Wie befinden Sie sich jetzt – besser?«

Mrs. Gamp vergoß nur noch mehr Tränen, schüttelte das Haupt und stöhnte gramerfüllt den Namen »Harris«.

»Wollen Sie nicht ein wenig« – John war in Verlegenheit, wie er es nennen sollte – »– –«

»Tee!« ergänzte Martin.

»Es is kein Tee nicht«, schluckte Mrs. Gamp.

»Also offenbar eine Arznei – eine Herzstärkung«, versetzte John. »Nehmen Sie doch ein wenig!«

Mrs. Gamp ließ sich zu einem Glase voll überreden.

»Aber unter der Bedingung«, fügte sie leidenschaftlich hinzu, »daß die Betsey keine Stunde Arbeit mehr von Ihnen bekommt.«

»O gewiß nicht!« versprach John. »Ich möchte ganz energisch dagegen protestieren, daß sie Krankenwärterin bei mir wäre.«

»Schon der Gedanke«, rief Mrs. Gamp, »daß sie mir jemals hat helfen müssen, Ihren Freund zu pflegen, und daß nur wenig gfehlt hätt, und sie hätt alles ghört – hm.«

John warf Martin einen Blick zu.

»Ja ja«, warf er hin, »das wäre beinahe geschehen, Mrs. Gamp.«

»Jawohl, bälder, als ma denkt hätt«, sagte Mrs. Gamp. »Zum Glück war i damals in der Nacht bei ihm, und am Tag hat er nöt phantasiert. Wenn i mir denk, was sie alles gsagt und getan haben würde, wenn sie gwußt hätt, was i weiß – dös perpfide Frauenzimmer, und von der – Himmel Herrgott Sakrament«, rief Mrs. Gamp und trampelte in der Erinnerung an Mrs. Prig mit den Füßen auf den Boden, »von der hab i mir über die Harris Niederträchtigkeiten anhörn müssen.«

»Machen Sie sich nichts daraus«, tröstete sie John, »es genügt doch, daß Sie wissen, daß es nicht wahr ist.«

»Ja, da habn Sie recht«, rief Mrs. Gamp, »aber nicht mehr über die Schwelln darf mir des Mistviech – diese kriecherische Schlange!«

»Wo Sie doch immer so gut gegen sie gewesen sind!« schürte John.

»Dös is doch eben die Gemeinheit«, schrie Mrs. Gamp. »Dös is ja grad, was mir so zu Herzen geht, Mr. Westlock«, und mechanisch hielt sie ihr Glas hin, das Martin sofort anfüllte.

»Sehen Sie, und nicht nur zu Mr. Lewsome haben Sie sie mitgenommen«, sagte John, »sondern auch zu Mr. Chuffey.«

»Einmal und nie mehr wieder«, rief Mrs. Gamp, »wir sin gschiedne Leut!«

»Ganz recht, ganz recht«, sagte John, »ich an Ihrer Stelle würde auch nicht anders handeln.«

»I weiß überhaupt gar net, wie i dazu kommen bin«, versicherte Mrs. Gamp mit jener Feierlichkeit, die Betrunkenen manchmal eigen ist, »jetzt wo sie keine Larven net mehr vorm Gsicht hat, weiß i gar net, wie i je dazu kommen bin. Segn S‘, unsereins muß verschwiegen sein, dös is das erste, damit man sich allerseits das Vertrauen verdient, das einem gschenkt wird. I möcht gern wissen, wer sich der Betsey Prig anvertrauen wird, wenn mer erfährt, was sie hier in dem Sessel da über die Harris gsagt hat.«

»Sehr richtig«, entgegnete John, »vollkommen richtig, aber Sie werden schon beizeiten noch eine andre Assistentin finden, Mrs. Gamp.«

Teils aus Entrüstung, teils infolge der Wirkung des »Tees« verlor Mrs. Gamp nachgerade die Fähigkeit, zu verstehen, was man zu ihr gesagt hatte. Sie blickte John mit Tränen in den Augen an und murmelte immer wieder den wohlbekannten Namen vor sich hin, dem Mrs. Prig solche Schmach angetan. Sie schien ihn für einen Talisman gegen alle irdischen Leiden zu halten, aber einem Laien mußte es scheinen, sie deliriere.

»Ich hoffe«, wiederholte John, »daß Sie noch beizeiten eine andre Assistentin finden werden.«

»Die Zeit – is – leider – kurz«, gluckste Mrs. Gamp und schlug die schwimmenden Augen zur Decke auf, dabei Mr. Westlock mit mütterlicher Zärtlichkeit am Handgelenk ergreifend, »für morgen abend schon hat mich Mr. Chuzzlewit auf neun oder zehn Uhr bestellt.«

»Auf neun oder zehn Uhr«, wiederholte John und warf Martin einen bedeutsamen Blick zu, »und dann wird Mr. Chuffey wohl in sichern Gewahrsam gebracht, nicht wahr?«

»Ja, dös braucht’s dringend«, antwortete Mrs. Gamp mit geheimnisvoller Miene, »auch noch andre Leut als wie ich dürfen froh sein, wann s‘ nix mit der Betsey Prig zu schaffen ham. I hab dös Weibsbild früher zu wenig gekannt; die hätt den Mund net halten können.«

»Den Mund nicht halten können, meinen Sie?« sagte John.

»Na und ob«, brummte Mrs. Gamp, »no Servus.«

Die tiefe Ironie, die sie in diese Antwort legte, bekräftigte sie noch durch ein heftiges Kopfnicken und ein höhnisches Herabziehen der Mundwinkel. Dann entschlummerte sie für ein paar Sekunden, fuhr aber wieder empor und rief mit außerordentlicher Höflichkeit:

»Aber i halt die Herrn auf, und die Zeit is kostbar.«

Offenbar schien sie zu glauben, man habe sie aufgefordert, sogleich irgendwohin zu kommen, und zu dieser Wahnvorstellung gesellte sich noch eine instinktive Erkenntnis, nicht mehr von den Angelegenheiten sprechen zu dürfen, über die sie sich unvorsichtigerweise soeben geäußert. Sie erhob sich daher, stellte die »Teekanne« wieder auf ihren Platz, schloß das Wandschränkchen mit großer Feierlichkeit ab und fing an, sich anzukleiden, als gedenke sie zu einem Patienten zu gehen.

Ihre Vorbereitungen waren bald getroffen, denn sie bestanden aus nicht viel mehr als aus dem Ausstaffieren ihrer Persönlichkeit mit dem schnupftabakfarbigen Hute, dem dito Schal, ihrem unentbehrlichen Regenschirm und einem Paar Überschuhe. Nachdem sie sich mit diesen Ausrüstungen versehen, kehrte sie zu ihrem Stuhl zurück, nahm Platz und erklärte, sie sei bereit.

»’s is wahrhaftig a Glück, wann mer weiß, daß mer dem armen Gschöpf a Wohltat erweisen kann«, bemerkte sie, plötzlich wieder ganz berufsmäßige Wärterin, »net alle sin des imstande. Zum Beispiel, das Mistviech, die Betsey, geht schauderhaft mit die Leut um.«

Vor lauter Mitleid mit Betseys Patienten schloß sie ergriffen die Augen und tat sie nicht wieder auf, bis ihr plötzlich ein Überschuh vom Fuß fiel. Wie der sagenhafte Schlummer des Mönches Bacon wurde ihr Schlaf ebenfalls von Zeit zu Zeit unterbrochen, denn zuerst fiel ihr der andre Überschuh und dann auch der Regenschirm zu Boden. Erst als sie diese beiden Hemmnisse los war, störte nichts mehr ihre Ruhe. Die beiden jungen Männer sahen einander an, und Martin, der seine Lachlust kaum mehr zurückdrängen konnte, flüsterte John Westlock ins Ohr: »Was fangen wir also jetzt an?«

»Wir bleiben hier«, lautete die Antwort.

»Hm – – ja, die Harris«, murmelte Mrs. Gamp aus dem Schlafe.

»Verlassen Sie sich darauf«, flüsterte John mit einem vorsichtigen Blick auf die Schlummernde, »verlassen Sie sich darauf, es gelingt uns, den alten Buchhalter auszuhorchen. Jedenfalls wissen wir jetzt genug, um die Person hier für unsere Zwecke benutzen zu können. – Dank sei diesem Streite, der das alte Sprichwort bestätigt, daß, wenn sich die Diebe zanken, die ehrlichen Leute wieder zu ihrem Geld kommen. Jonas Chuzzlewit mag sich in acht nehmen. Lassen wir sie schlafen, solang sie will, wir werden unser Ziel schon beizeiten erreichen.«