45. Kapitel
Tom Pinch und seine Schwester leisten sich ein kleines Extravergnügen; selbstverständlich in den bescheidensten Grenzen
Als sich Tom Pinch und seine Schwester unmittelbar nach der Szene auf dem Kai ihrer verschiedenen Geschäfte wegen trennen mußten, dachten Tom, in seiner einsamen Arbeitsstube angelangt, und Ruth in ihrem dreieckigen Salon den ganzen Tag über an nichts anderes als an das, was vorgefallen, und als die Stunde ihres nachmittäglichen Zusammentreffens herannahte, hatten sie immer noch den Kopf ganz voll davon.
Es war eine Art stummen Einverständnisses zwischen ihnen, daß Tom jedesmal ein und denselben Weg einschlug, wenn er aus dem Tempel wegging. Dieser Weg führte an der Fontäne vorüber durch den Fontänenhof, und dabei warf er jedesmal einen Blick über die Stufen, die nach dem Gartenhofe hinunterführten, und sah sich einmal in der Runde um. War dann Ruth gekommen, so fand er sie verabredungsgemäß hier, nicht etwa gemächlich herumschlendernd – der Kommis wegen, die sie sonst wahrscheinlich zudringlicherweise angeredet hätten –, sondern ihm munter und fröhlich entgegeneilend, mit einem Glanz auf dem Gesichtchen, der den der Fontäne wohl tausendmal übertraf. Fünfzig gegen eins war dann zu wetten, daß Tom jedesmal auf die unrechte Seite blickte und sie schon gar nicht mehr erwartete, während sie ihm bereits schnurstracks entgegenkam und mit den Schlüsseln in ihrer kleinen Retiküle klingelte, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Ob die kümmerliche Vegetation im Fontänenhof den armen berußten Bäumen und Sträuchern genug Leben ließ, so daß sie imstande gewesen wären, die Anwesenheit des hübschesten und herzigsten Mädchens unter der Sonne zu fühlen, das ist eine Frage für Gärtner oder für die, die mit dem Seelenleben oder den Herzensbedürfnissen von Pflanzen näher bekannt sind. Aber daß es sich auf dem gepflasterten Hofe recht hübsch ausnahm, wenn die zarte kleine Gestalt darüber hinhuschte und wie ein Lächeln an den düsteren alten Häusern und über die abgetretenen Steinfliesen hinglitt, um sie dann in Öde und Langeweile wieder zurückzulassen, das ist Tatsache. Am liebsten wäre die Tempelfontäne wohl zwanzig Fuß hoch emporgesprungen, um den Lenz hoffnungsvoller Jungfräulichkeit zu begrüßen, der in Ruths kleiner Persönlichkeit sich strahlend durch die dürren staubigen Kanäle dieses Heimes der Rechtsprechung stahl. Die zwitschernden Sperlinge, in den Spalten und Ritzen des Londoner Tempels geboren, schwiegen dann gerne, wie um den unsichtbaren Lerchen zu lauschen, die aus der Höhe des Himmels herab die Anwesenheit des so lieblichen Kindes besangen, und die dürren bestaubten Äste, nicht mehr gewohnt, sich herabzuneigen, seit sie kleine Pflänzchen gewesen, bemühten sich, sich freundlich herabzusenken, um mit Blätterrauschen ihren Segen über Ruths anmutiges Haupt zu gießen. Alte Liebesbriefe, in eisernen Kisten eingeschlossen, in den Bureaus ringsum und unter den alten Familiendokumenten, zwischen die sie geraten waren, unbeachtet und vergessen, hätten sich am liebsten rühren mögen und aufrauschen, um sich einen Augenblick an ihre alten Zärtlichkeiten zu erinnern, wenn Ruth so mit leichtem Schritt vorüberging. Alles das und noch viel mehr hätte in der belebten und leblosen Natur Ruth zuliebe geschehen können.
An diesem Nachmittage ereignete sich aber außerdem noch etwas. Zwar nicht ihr zuliebe, sondern rein zufällig, und ohne im geringsten durch sie veranlaßt zu sein.
Entweder war sie zu früh gekommen, oder Tom kam zu spät – sie war sonst in der Regel so pünktlich, daß sie es gewöhnlich auf die halbe Sekunde traf –, doch wer nicht kommen wollte, war Tom. Aber statt seiner war jemand anders da, und sie errötete so tief, als sie sich umsah und ihn erblickte, daß sie mit ungewöhnlicher Hast die Stufen hinabtrippelte.
Der Zufall hatte nämlich gefügt, daß in diesem Augenblick gerade Mr. Westlock vorüberging. Der Tempel ist eine öffentliche Passage, und mag auch hundertmal auf die Tore geschrieben stehen: »Kein Durchgang« – solange die Tore offenstehen, geht jeder durch. Warum hätte es sich da gerade Mr. Westlock versagen sollen? Aber weshalb lief Ruth davon? Sie war doch nicht schlecht gekleidet, vielmehr so sauber und niedlich wie immer; warum lief sie also davon? Ihre braunen Locken, die unter ihrem Hütchen hervorquollen mit einer einzigen gottlosen falschen kleinen Rose darin, die sich ihrer Frechheit vor aller Welt rühmte, konnten doch nicht die Ursache sein? Also warum lief sie davon?
Lustig glitzerte die schlanke Fontäne, und lustig strahlten die Grübchen auf Ruths sonnigem Antlitz. John Westlock eilte ihr nach. Unter murmelndem Flüstern fiel und brach sich die Fontäne, und die Grübchen zuckten schelmisch, als John Ruth nacheilte.
Warum tat sie nur, als merke sie sein Kommen nicht? Warum wünschte sie sich so weit weg und zitterte doch vor Seligkeit?
»Wußte ich es doch, daß Sie es sein mußten«, sagte John, als er sie im Heiligtum des Gartenhofes einholte. »Ich wußte gleich, daß ich mich nicht täuschen konnte.«
Ruth war außerordentlich überrascht.
»Sie warten wohl auf Ihren Bruder?« fragte John. »Wenn Sie erlauben, werde ich Ihnen Gesellschaft leisten.«
Die Berührung ihres kleinen Händchens war so leicht, daß er niederschaute, um sich zu überzeugen, ob sie seinen Arm auch wirklich angenommen habe. Sein Blick wurde für den Moment von den leuchtenden Augen des Mädchens festgehalten, und er vergaß daher seine erste Absicht und blieb eine Sekunde stehen.
Dann schlenderten sie wohl drei- oder viermal auf und ab und unterhielten sich über Tom und seine geheimnisvolle Beschäftigung. Das war gewiß ein sehr natürliches und unschuldiges Thema, warum senkte also Ruth, sooft sie aufblickte, sogleich ihre Augen wieder und betrachtete das Pflaster des Hofes so sorgsam? Ihre Augen hatten gewiß das Licht nicht zu scheuen, sie brauchten nicht Verstecken zu spielen, um an Reiz und Schönheit zu gewinnen. Ruth war viel zu lieb und ursprünglich, um solcher kleinen Künste zu bedürfen. Fühlte sie vielleicht, daß John sie nicht aus den Augen ließ?
Endlich entdeckten sie Tom, und zwar schon in der Ferne. Er blickte wie gewöhnlich nach allen Richtungen, nur nicht in der, auf die es ankam, und vermied diese so hartnäckig, rein als ob er es mit Absicht täte. Als sie sich schließlich klar waren, daß er imstande wäre, direkt nach Hause zu eilen, wenn man ihn nicht daran verhinderte, eilte John Westlock auf ihn zu.
Das mußte die arme kleine Ruth natürlich abermals in größte Verlegenheit bringen. Tom zeigte auch richtig das größte Erstaunen, denn Geistesgegenwart war nicht seine starke Seite, aber John rettete die Situation oder trachtete sie wenigstens zu retten, indem er mit höchst unnötiger Beredsamkeit ihr Beisammensein erklärte. Ruth fühlte glühendes Rot in ihre Wangen steigen, suchte aber möglichst gleichgültig die Augenbrauen in die Höhe zu ziehen und ihre rosigen Lippen aufzuwerfen, als gehe sie die ganze Sache gar nichts an.
»Was für ein höchst außerordentliches Zusammentreffen!« rief Tom. »Ich hätte mir nichts weniger träumen lassen, als euch beide hier zusammen zu sehen.«
»Es war ganz zufällig«, stotterte John.
»Natürlich«, sagte Tom. »Ich wollt es gerade bemerken, denn wenn es nicht zufällig wäre, läge nichts Merkwürdiges darin.«
»Natürlich«, stammelte John.
»Nein, daß ihr euch an einem Ort, der so ganz außer Johns Wege liegt, treffen müßt«, fuhr Tom ganz entzückt fort. »Und noch dazu an einem so ungewöhnlichen Platz.«
John bestritt das. Im Gegenteil, meinte er, der Platz sei gar nicht so ungewöhnlich. Er pflege hier übrigens immer auf und ab zu gehen und er würde sich gar nicht wundern, wenn sich Ähnliches wiederum begeben sollte. Er seinerseits sei nur erstaunt, daß es nicht schon früher geschehen.
Indessen hatte Ruth den Arm ihres Bruders genommen und drückte ihn jetzt, um ihm zu verstehen zu geben, er solle doch nicht den ganzen Tag hier stehen bleiben.
»John«, sagte Tom, »wenn du meiner Schwester deinen Arm reichen willst, so können wir sie in die Mitte nehmen und zusammen weitergehen. Ich habe dir übrigens von einem höchst seltsamen Umstand zu berichten. Wirklich ausgezeichnet, daß wir uns heute getroffen haben.«
Lustig hüpfte und tanzte die Fontäne, und Grübchen bildeten sich in dem Becken und barsten wie in lautem Lachen. »Tom«, sagte John Westlock, als sie in eine belebte Straße einbogen, »ich hätte dir einen Vorschlag zu machen. Ich würde mich riesig freuen, wenn du und deine Schwester – falls sie die Wohnung eines alten Junggesellen mit ihrer Gegenwart beehren will – mir heute beide das Vergnügen machtet, bei mir zu speisen.«
»Wie? Heute?« rief Tom.
»Jawohl, heute. Du weißt, ich wohne ganz in der Nähe. Ich bitte, Miss Pinch, bestehen Sie doch darauf. Freilich wird es eine sehr uneigennützige Hilfe von Ihnen sein, denn ich kann Ihnen nicht viel vorsetzen.«
»Das darfst du natürlich nicht glauben, Ruth«, fiel Tom ein, »er ist ein ganz wüster Bursche. So etwas von einer Junggesellenwirtschaft habe ich überhaupt noch nicht gesehen. Beim Bürgermeister von London könnte es nicht höher hergehen. Also was meinst du? Wollen wir zu ihm gehen?«
»Ganz wie du glaubst, Tom«, entgegnete Ruth gehorsam.
So wurde denn die Einladung angenommen.
»Hätte ich früher gewußt, daß es sich so treffen wird«, sagte John, »so würde ich eine andere Art von Pudding besorgt haben. Nicht, um mit Ihnen zu rivalisieren, Miss Pinch, sondern bloß des Gedächtnisses wegen an Ihren famosen Pudding von damals; keinesfalls hätte ich ihn mit Rindsfett gemacht.«
»Warum denn nicht?« fragte Tom.
»Es steht zwar so im Kochbuch«, sagte John, »aber bei euch war er aus Mehl und Eiern. Haha!«
»Was? Unserer war aus Mehl und Eiern bereitet?« rief Tom. »Ein Beefsteakpudding aus Mehl und Eiern! Da hört sich doch alles auf.«
Es ist unnötig hervorzuheben, daß Tom, der doch bei der Bereitung des Puddings zugegen gewesen war, andächtig an ihn glaubte, aber er fand eine gewisse Freude daran, seine geschäftige kleine Schwester ein wenig zu necken, und immerfort rief er daher mit unverwüstlicher Fröhlichkeit: »Mehl und Eier! Ein Beefsteakpudding aus Mehl und Eiern!«, bis John Westlock und Ruth ihn allein stehen ließen und mitsammen vorausgingen. Dann kam er ihnen langsam nach mit von so zärtlicher Freude strahlendem Gesicht, daß sicher schönes Wetter geworden wäre, wenn nicht schon sowieso die Sonne geschienen hätte.
Die Inns, in denen die Junggesellen in London leben, haben ganz prächtige Zimmer aufzuweisen. Es ist erstaunlich, wie gut sich dieses Gesindel fortbringt, trotzdem es sich jedesmal und überall über Einsamkeit beklagt. Auch John erging sich pathetisch in allerhand Klagen über sein trauriges Dasein und über die kläglichen Notbehelfe, auf die er angewiesen sei. Aber trotz alledem schien es ihm recht gut im Leben zu gehen. Seine Zimmer waren äußerst reinlich und bequem, und wenn es ihm darin nicht wohl war, sie traf gewiß keine Schuld.
Kaum hatte er Tom und Ruth in seine beste Stube geführt, wo eine schöne kleine Vase mit frischen Blumen stand – rein als ob man eine Dame erwartet hätte, meinte Tom –, als er auch schon wieder nach seinem Hut griff und geschäftig hinauseilte. Gleich darauf sah ihn das Geschwisterpaar in Begleitung einer Matrone mit glühend rotem Gesicht und einem zerknüllten Hut, dessen auffallend lange Bänder ihr über den Rücken hinunterflatterten, wieder zurückkehren. Sofort begann er sodann unter Beihilfe dieser äußerst tüchtigen Person das Tischtuch für das Dinner zurechtzulegen, eigenhändig die Weingläser zu polieren, den Deckel einer Pfefferbüchse an seinem Rockärmel blank zu reiben, Flaschen zu entkorken und die Getränke mit auffallendem Geschick in Karaffen zu füllen. Rein, als ob es Aladins Wunderlampe sei, die er da rieb und polierte, erschien mit einem Mal, wenn auch nicht eine Schar von zwanzigtausend übernatürlichen Sklaven, so doch ein Wesen mit einer weißen Weste, das eine Serviette unter dem Arme trug, begleitet von einem anderen Wesen mit einer ovalen kleinen Schüssel auf dem Kopf, aus der sogleich ein dampfendes Gericht zum Vorschein kam. Lachs, Lammbraten, Erbsen, ganz unschuldige junge Kartoffeln, ein Salat, kühl bis ans Herz hinan, Gurkenschnitten, ein zartes Entchen und eine Torte, alles stand im Nu auf dem Tisch und alles zu rechter Zeit. Woher es kam, das wußte niemand, aber unaufhörlich ging die ovale Schüssel aus und ein und verkündete das Wesen mit der weißen Weste ihre Ankunft vor der Türe draußen durch ein bescheidenes Klopfen – denn nachdem es sich zum erstenmal kühn gezeigt, wagte es offenbar nicht mehr im Zimmer zu erscheinen. Das Wesen in der weißen Weste war niemals sonderlich überrascht in solchen Fällen und schien sich auch nicht im geringsten über diese außerordentlichen Vorgänge oder über die Schätze zu wundern, die man dann in der Truhe fand, denn es nahm sie stets mit der gelassensten Miene von der Welt heraus und stellte sie auf den Tisch. Das Wesen war überhaupt ein sehr freundlicher Mann, sanft in seinem ganzen Gehaben und außerordentlich für den Gaumen der Gesellschaft besorgt. Es war auch ein gelehrter und sehr erfahrener Mann, kannte genau John Westlocks Lieblingssaucen und pries sie leise und gefühlvoll an, wenn es die kleinen Kännchen herumreichte. Und es war auch ein ernster und stiller Mann, denn kaum war das Dinner vorüber und der Wein mit dem Obst auf dem Tische erschienen, so verschwand es mitsamt der Wundertruhe wie ein Geist.
»Hab ich’s nicht gleich gesagt: John ist ein wüster Bursche?« rief Tom. »Sollte man so etwas überhaupt für möglich halten!?«
»Ach, Miss Pinch«, klagte John, »das sind eben so die einzigen Sonnenblicke in dem traurigen Leben, das man als Junggeselle hier führt. Ich hätte es kaum mehr länger ertragen, wenn es sich nicht heute, Gott sei Dank, aufgehellt hätte.«
»Glaub ihm doch kein Wort!« rief Tom, »er lebt wie ein Fürst hier und möchte nicht um alles in der Welt mit irgend jemandem tauschen. Er spielt jetzt nur absichtlich den Leidenden.«
Aber John schien durchaus nicht zu scherzen; es schien ihm vielmehr sehr ernst mit seinem Wunsch, man möge ihm glauben, welch trauriges, einsames, unbehagliches Leben er für gewöhnlich hier führe. Es sei ein elendes, unglückliches Leben, sagte er, und er denke an nichts anderes, als das Quartier so bald wie möglich loszuwerden. – Morgen schon wolle er es zum Vermieten ausschreiben lassen.
»Na«, meinte Tom Pinch, »ich wüßte wahrhaftig nicht, wo du hinziehen solltest, um es besser zu haben. Mehr sag ich nicht. Was meinst du dazu, Ruth?« Ruth spielte mit den Kirschen auf ihrem Teller und sagte, sie glaube, Mr. Westlock müsse ganz glücklich sein; sie könne unmöglich daran zweifeln.
Wie schüchtern sie das hervorbrachte.
»Aber du vergißt ja ganz, daß du uns erzählen wolltest, Tom, was dir heute früh passiert ist«, schloß sie hastig den Satz.
»Ja richtig«, rief Tom; »vor lauter Geschwätz über alles mögliche kam ich gar nicht dazu und hatte es schon ganz und gar vergessen. Ich werde dir gleich jetzt alles erzählen, John, damit ich’s nicht wieder vergesse.«
Als er dann den Vorgang auf dem Kai erzählte, wurde John Westlock plötzlich sehr nachdenklich und legte ein Interesse an der Geschichte an den Tag, das Tom geradezu unbegreiflich schien. Er sagte, er kenne die alte Frau, deren Bekanntschaft sie gemacht hätten, oder glaube es wenigstens, und wolle wetten, daß sie nach Toms Beschreibung »Gamp« heißen müsse. Was es aber für eine Nachricht gewesen sei, mit deren Überbringung Tom so unerwarteterweise beauftragt worden, und warum sie gerade ihm anvertraut worden, und wieso so ganz verschiedene Personen darin verwickelt seien, und was überhaupt für ein Geheimnis der ganzen Sache zugrunde liege, das sei ihm ein Rätsel. Tom war von vornherein überzeugt gewesen, daß die Erzählung seinen Freund interessieren würde, aber auf ein so warmes Interesse hatte er nicht gerechnet, denn John Westlock hörte gar nicht auf, immer wieder darauf zurückzukommen, selbst nachdem Ruth das Zimmer verlassen hatte, und behandelte das Thema mit viel größerer Wißbegierde, als zu erwarten gewesen war.
»Ich werde natürlich mit meinem Hauswirt darüber sprechen«, schloß Tom, »wenn er auch ein höchst auffallend geheimnisvoller Mensch ist und mir voraussichtlich nicht viele Auskünfte geben wird – angenommen, daß er überhaupt weiß, was in dem Briefe stand.«
»Daß das der Fall ist, darauf möchte ich schwören«, fiel ihm John ins Wort.
»So? Meinst du?«
»Ich bin überzeugt davon.« »Also gut«, sagte Tom, »wenn ich ihn zu Gesicht bekomme – allerdings geht er in etwas seltsamer Weise in seinem Hause ein und aus, aber trotzdem will ich’s versuchen, ihn morgen früh abzufangen – also, wenn ich ihn sehe, werde ich ihm meine Meinung sagen, wieso er mich zu einem so unangenehmen Auftrag mißbrauchen konnte. Ich habe mir übrigens schon gedacht, John, ich könnte eigentlich morgen früh zu Mrs. ––– wie heißt sie doch nur? – ja richtig – zu Mrs. Todgers gehen, vielleicht treffe ich dort die arme Gratia Pecksniff. Ich könnte mich dann bei ihr rechtfertigen und ihr erklären, wieso ich in die ganze Sache verwickelt wurde.«
»Da hast du ganz recht, Tom«, rief John Westlock nach kurzer Überlegung. »Es ist wohl das Beste, was du tun kannst. Sei’s übrigens, wie es wolle, es steckt gewiß nichts Gutes dahinter, und es kann nur wünschenswert für dich sein, jeden Schein zu vermeiden, als hättest du mit Vorsatz die Hand in der Angelegenheit gehabt. Ich würde dir sogar raten, womöglich ihren Gatten aufzusuchen und ihn von deiner Unschuld zu überzeugen, indem du ihm schlicht den Hergang dieser Sache erzählst. Mir schwant, es ist da irgendeine Schurkerei im Werke. Ich werde dir ein andermal die Gründe, die mich dazu veranlassen, mitteilen. Ich muß aber selbst erst gewisse Erkundigungen einziehen.«
Das alles klang für Tom Pinch höchst geheimnisvoll. Da er jedoch wußte, daß er sich in allen Stücken auf seinen Freund verlassen konnte, so entschloß er sich, dessen Rat unbedingt zu befolgen.
Höchst ergötzlich anzusehen, wie sich inzwischen die kleine Ruth in John Westlocks Räumen, während dieser und Tom beim Weine plauderten, benahm. Voller Sanftheit versuchte sie, mit der Matrone mit dem roten Gesicht und dem verknitterten Hut, die zu ihrer Bedienung dageblieben war, nachdem sie einen verzweifelten Versuch gemacht, sich etwas stattlicher herauszuputzen, und einen ausgewaschenen gelben Rock mit ebensolchen Blumen darin, die wie zerlassene Butterstücke in der Pfanne aussahen, angezogen hatte, ein Gespräch anzuknüpfen, aber mit grimmiger, drachenartiger Unbeugsamkeit wies die alte Dame jeden Annäherungsversuch zurück, rein, als ob sie von einer feindlichen und gefährlichen Macht kämen, die nichts weniger im Schilde führe, als ihr einen Kunden abspenstig zu machen oder das Rätsel aufzuklären, wieso es komme, daß Tee und Zucker von selbst verschwänden, und ähnliches mehr. Mit verschämter und entzückender Neugierde guckte die kleine Ruth, als die Dame mit dem roten Gesicht schließlich fort war, in die verstreut umherliegenden Bücher und andere Siebensachen und zerbrach sich den Kopf, wer wohl die hübschen Nippesfiguren auf dem Kaminsims entworfen und zusammengestellt haben möge. Es war ein entzückendes Bild, wie sie mit zögernder Hand ihre Blumen zusammenband, sie an ihren Busen steckte und beinahe errötend über ihr hübsches Gesicht im Spiegel sich mit seitwärts geneigtem Kopf ansah, halb entschlossen, sie wieder fortzutun, dann aber wieder, sie zu belassen, wo sie waren.
John schien förmlich wonnetrunken zu sein, denn als er mit Tom zum Tee hereinkam, nahm er ganz befangen und wie verzaubert sofort neben Ruth Platz. Als schließlich das Teeservice abgetragen worden war und Tom sich ans Klavier setzte und sich in seine alten Orgelmelodien vertiefte, saß er immer noch am offenen Fenster neben ihr und blickte stumm hinaus in die Dämmerung.
In Furnivals Inn gibt es im allgemeinen wenig genug zu sehen. Es ist ein schattiger, geruhsamer Ort, der nur das Echo der vorübereilenden Schritte nachhallen läßt und an Sommerabenden sogar einen eintönigen und düsteren Eindruck macht. Was mochte dem Orte plötzlich einen solchen Zauber gegeben haben, daß Ruth und John am Fenster stehen blieben und so wenig auf den Flug der Zeit achteten wie Tom, der Träumer, der sich inzwischen ganz in die Melodien verloren hatte, die so oft seine Seele ruhig gestimmt? Welche Zaubermacht lag in dem langsam entschwindenen Dämmerlicht und der sich immer mehr ansammelnden Dunkelheit – in den da und dort aufblitzenden Sternen – in der Abendluft, in dem fernen Gesumme der City und dem Zusammenklingen der alten Kirchturmuhren? Die göttlichste und herrlichste Landschaft, die es auf Erden gibt, hätte die beiden mit ihrer Schönheit wohl nicht stärker zu fesseln vermocht. Immer tiefer und dunkler wurden die Schatten, und das Zimmer lag bereits in schwarzer Finsternis. Immer noch wanderten Toms Finger über die Tasten, und immer noch standen die beiden am Fenster.
Endlich fühlte Tom die Hand seiner Schwester auf seiner Schulter und ihren Arm auf seiner Stirn; – er erwachte aus seinen Träumereien.
»O Gott«, rief er, plötzlich auffahrend, »ich fürchte, ich bin sehr rücksichtslos und unhöflich gewesen.« – Er hatte keine Ahnung, wieviel Rücksicht er im Gegenteil geübt hatte. – »Singe uns doch etwas, Liebste«, lud er Ruth ein, »komm, laß uns deine Stimme hören!« Und in so eindringlicher Weise vereinigte John Westlock seine Bitten mit den seinigen, daß nur ein Herz von Stein hätte widerstehen können. Sie aber hatte kein Herz von Stein. O Gott, nichts weniger als das. Sie setzte sich also nieder und begann mit süßer einschmeichelnder Stimme eine von Toms Lieblingsballaden zu singen, alte Romanzen mit hie und da einer Pause für ein paar einfache Akkorde, wie sie die Harfeniere in alter Zeit erklingen ließen, um sich den Gang einer halbvergessenen Sage ins Gedächtnis zu rufen, Texte aus den Liedern alter Dichter, mit so passenden Melodien zusammengefügt, daß die Musik wie der Atem des Poeten war, und dann wieder eine Melodie, so fröhlich und leicht beschwingt, daß man glauben mußte, die, die sie da sang, könne nie und nimmer traurig sein oder eines wehmütigen Gedankens fähig – bis sie wieder in gottloser Flatterhaftigkeit zu melancholischen Tönen zurückkehrte und ihren Zuhörern das Herz brach; – das waren so die kleinen einfachen Künste, mit denen Ruth die Herzen ihrer beiden Zuhörer verzauberte. Und daß diese harmlosen Künste ihre volle Macht bewiesen, ließ sich daraus schließen, wie lange die Stube noch dunkel blieb und wie spät man erst das Licht anzündete.
Endlich wurden die Kerzen hereingebracht, aber es war bereits die höchste Zeit, nach Hause zu gehen. Es dauerte noch geraume Zeit, bis sorgfältig Papier zurechtgeschnitten war, um es um die Stengel der Blumen, die Ruth mitnehmen sollte, zu wickeln, aber auch das kam endlich zustande, und das junge Mädchen war bereit.
»Gute Nacht«, sagte Tom. »Es war wirklich ein entzückender Nachmittag und Abend, John. – Gute Nacht.«
John schickte sich an, sie zu begleiten.
»Nein, nein, bleibe doch nur«, wehrte ihm Tom, »was für ein Unsinn! Wir können doch wirklich ganz gut allein nach Hause gehen. Ich kann es unmöglich zugeben, daß du dich so inkommodierst.«
John versicherte nur, daß es ihm im Gegenteil ein großes Vergnügen sei.
»Ist es wirklich wahr, daß es dir ein Vergnügen macht?« fragte Tom harmlos. »Ich fürchte, du sagst es nur aus Höflichkeit.«
Aber John versicherte ihm aufs eindringlichste, daß es ganz und gar gewiß wahr sei, bot Ruth seinen Arm und führte sie hinaus.
Die Dame mit dem roten Gesicht, die wieder zur Bedienung bereitstand, bedankte sich für die Begrüßung der Gäste mit einem so kalten Knicks, daß ein sehr scharfes Auge dazu gehörte, ihn wahrzunehmen. Von Tom nahm sie überhaupt keine Notiz.
Mr. Westlock bestand unbedingt darauf, seine Gäste den ganzen Weg zu begleiten, und wollte durchaus nichts von seines Freundes Widersprüchen hören.
Glückliche Zeit, glücklicher Spaziergang, glücklicher Abschied, glückliche Träume! Aber dennoch gab es auch für John gewisse süße Träume des Tages, vor denen die Visionen der Nacht zuschanden wurden.
Geschäftig murmelte die Fontäne im Mondlicht, während Ruth schlafend dalag, ihre Blumen neben sich auf dem Kissen – und John Westlock entwarf aus dem Gedächtnis ein Porträt – von wem wohl?