Fünfzehntes Kapitel.


Fünfzehntes Kapitel.

Macht den Leser mit der Veranlassung der im vorigen Kapitel beschriebenen Unterbrechung und einigen andern Dingen, die zu wissen nötig sind, bekannt.

Newman Noggs kletterte in ungestümer Hast die Stiegen hinan, den dampfenden Punsch in der Hand, den er mit so wenig Umständen von Herrn Kenwigs Tische, und in der Tat auch dem Herrn Wassersteuereinnehmer, der über den Inhalt des Glases mit sehnsüchtigem Behagen hinschnupperte, recht eigentlich vor der Nase weggenommen hatte. Er trug seine Beute geradeswegs nach seinem Dachstübchen, wo mit wunden Füßen und beinahe schuhlos, naß, schmutzig, abgemattet und durch alle Spuren einer ermüdenden Reise entstellt, Nicolaus neben Smike, dem Urheber und Teilhaber dieser mühevollen Wanderschaft, saß.

Newmans erstes Geschäft war, Nicolaus mit sanfter Gewalt zu nötigen, die Hälfte des fast kochenden Punsches auf einmal hinunterzuschlucken, und sein zweites, den Rest in Smikes Kehle zu gießen, der, da er in seinem Leben nie etwas Kräftigeres als eine abführende Arznei gekostet hatte, durch manche seltsame Gebärde seine Überraschung und Freude an den Tag legte, daß der Trank so behaglich hinunterglitt, und dann seine Augen auf eine höchst merkwürdige Weise verdrehte.

»Sie sind durch und durch naß«, sagte Newman, indem er den Rock, den Nicolaus abgelegt hatte, mit der Hand befühlte, und ich – ich kann Ihnen keine andere Bedeckung anbieten«, fügte er mit einem trübseligen Blick auf die abgeschabten Kleider, die er selbst trug, bei.

»Ich habe trockene Kleider in meinem Ränzel«, versetzte Nicolaus. »Wenn Sie aber eine so betrübte Miene zu meinem Besuch machen, so werden Sie den Schmerz, den ich bereits fühle, für eine Nacht bei Ihren spärlichen Mitteln Beistand und Obdach suchen zu müssen, nur noch erhöhen.«

Newmans betrübte Miene gewann jedoch durch Nicolaus‘ Worte keineswegs einen heiteren Ausdruck. Als ihn aber sein junger Freund herzlich bei der Hand faßte und die Versicherung abgab, daß nichts als das unbedingte Vertrauen zu der Aufrichtigkeit seines Versprechens und der in diesem an den Tag gelegten wohlwollenden Gesinnungen ihn hätte veranlassen können, Herrn Newman seine Ankunft in London auch nur wissen zu lassen, so erheiterten sich die Mienen des letzteren, und er schickte sich mit dem größten Eifer an, alle Vorkehrungen für die Bequemlichkeit seiner Gäste, wie sie ihm eben zu Gebote standen, zu treffen.

Diese waren freilich einfach genug; denn die Mittel des armen Newmans konnten mit seinen Wünschen bei weitem nicht gleichen Schritt halten. Aber trotz ihrer Geringfügigkeit ging es dabei doch nicht ohne viel Geräusch und Hin- und Herrennen ab. Da Nicolaus mit seinem spärlichen Geldvorrat so gut hausgehalten hatte, daß ihm sogar noch etwas übrig war, so stand der Tisch bald mit einem Nachtessen von Brot und Käse nebst einem Stücke kalten Rindfleisches aus einer benachbarten Garküche besetzt; und der Umstand, daß diesen Lebensmitteln eine Flasche Branntwein und ein Krug Bier zur Seite stand, entfernte wenigstens allen Grund zu Besorgnissen hinsichtlich des Hungers und des Durstes. Dies waren die Vorbereitungen, die Newman zu Gebot standen; denn die Zurüstung der Nachtlager war in der Tat bald erledigt. Dann bestand Herr Noggs ausdrücklich darauf, daß Nicolaus seine Kleider wechseln und Smike sich in seinen (Newmans) einzigen Rock hüllen solle. Denn er ließ sich durch keine Bitte abhalten, denselben zu diesem Zwecke auszuziehen. Nun nahmen die Wanderer ihr spärliches Mahl mit mehr Zufriedenheit ein, als wenigstens der eine von ihnen bei mancher besseren Tafel gefühlt hatte.

Nachdem sie sich gelabt hatten, setzten sie sich an das Feuer, das Newman Noggs so gut anschürte, wie es sich nach Crowls Angriffen auf das Brennmaterial tun ließ; und Nicolaus, der bisher durch die außerordentlich besorgten Aufforderungen seines Freundes, daß er sich nach den Anstrengungen seiner Reise kräftigen möchte, fast nicht hatte zum Wort kommen können, bedrängte diesen nun mit ernsten Fragen nach seiner Mutter und Schwester.

»Wohl«, antwortete Newman mit seiner gewohnten Kürze; »beide wohl.«

»Wohnen sie noch in der City?« fragte Nicolaus.

»Ja«, versetzte Newman.

»Und meine Schwester –« fügte Nicolaus bei, »ist sie noch immer bei dem Geschäft, von dem sie mir schrieb, sie glaube, daß es ihr gut gefallen würde?«

Newman riß seine Augen etwas weiter auf als gewöhnlich und antwortete nur durch ein Jappen, das je nach der dieses Jappen begleitenden Kopfbewegung von seinen Freunden als ja oder nein gedeutet werden konnte. In dem gegenwärtigen Falle bestand die Pantomine in einem Nicken und nicht in einem Schütteln, weshalb Nicolaus die Antwort für eine günstige nahm.

»Hören Sie mir jetzt zu«, sagte Nicolaus, indem er seine Hand auf Newmans Schulter legte.

»Ich hielt es, ehe ich den Versuch machen wollte, meine Angehörigen zu besuchen, für geeignet, zu Ihnen zu kommen, damit ich ihnen durch eine Nachsicht gegen meine eigenen selbstsüchtigen Wünsche keinen Schaden zufüge, der sich vielleicht nicht wieder ausgleichen ließe. Was hat mein Onkel von Yorkshire gehört?«

Newman öffnete und schloß seinen Mund mehrere Male, als versuche er, mit aller Anstrengung zu sprechen, ohne jedoch etwas hervorbringen zu können, und heftete endlich seine Augen in gespensterhaftem Starren auf Nicolaus.

»Was hat er gehört?« drängte Nicolaus erglühend. »Sie sehen, daß ich vorbereitet bin, das Schlimmste zu hören, was die Bosheit aushecken konnte. Wozu eine Schonung gegen mich, da ich es früher oder später doch erfahren muß? Und was können Sie mit der Zögerung einiger Minuten gewinnen, da Sie mich in der Hälfte dieser Zeit von allen Vorgängen in Kenntnis setzen können? Ich bitte, endigen Sie meine Ungewißheit.«

»Morgen früh«, sagte Newman; »morgen früh sollen Sie alles erfahren.«

»Aber warum erst morgen – warum nicht gleich jetzt?« drängte Nicolaus.

»Sie werden besser schlafen«, versetzte Newman.

»Nein, ich werde um so schlechter schlafen«, entgegnete Nicolaus ungeduldig. »Schlafen! So erschöpft wie ich bin und so sehr ich einer gründlichen Ruhe bedarf, so kann ich doch nicht hoffen, die ganze Nacht über auch nur ein Auge zu schließen, wenn Sie mir nicht alles sagen.«

»Und wenn ich Ihnen alles sage?« erwiderte Newman stockend.

»Je nun«, sagte Nicolaus, »ich komme dann vielleicht etwas in Wallung oder mein Stolz wird verletzt – in keinem Falle aber wird meine Ruhe für länger getrübt; denn stünde mir eine solche Szene abermals bevor, so würde ich doch um kein Haar anders handeln, was auch für Folgen daraus entspringen möchten. Auch werde ich nie bereuen, was ich tat – nie; und wenn ich deshalb auch betteln oder Hungers sterben müßte. Was ist Armut und Leiden gegen die Schmach der niederträchtigsten und unmenschlichsten Feigheit! Ich sage Ihnen, wenn ich gelassen und untätig hätte dabeistehen können, so hätte ich mich selbst hassen müssen und die Verachtung eines jeden ehrlichen Mannes verdient. Der niederträchtige Schurke!«

Mit dieser zarten Anspielung auf den abwesenden Herrn Squeers drückte Nicolaus seinen steigenden Zorn nieder, und nachdem er Newman die Vorgänge in Dotheboys Hall umständlich mitgeteilt hatte, bat er diesen zu sprechen, ohne sich weiter nötigen zu lassen. So beschworen, nahm Herr Noggs aus einer alten Truhe ein Blatt Papier, das in großer Eile überkritzelt zu sein schien, und machte sich dann nach einigen ungewöhnlichen Andeutungen seines Widerstrebens in folgenden Worten Luft:

»Mein lieber junger Herr, man darf sich nicht so gehen lassen; bekanntlich tun derartige Sachen nie gut, und man kommt nicht fort in der Welt, wenn man sich eines jeden Mißhandelten annehmen will – aber – nein, zum Henker, ich freue mich, das von Ihnen zu hören, und ich würde selbst nicht anders gehandelt haben.«

Newman begleitete diesen höchst ungewöhnlichen Ausbruch mit einem gewaltigen Schlag auf den Tisch, als ob er in der Hitze des Augenblicks diesen für den Rücken oder für die Rippen des Herrn Wackford Squeers gehalten hätte; und da er sich durch diese offene Entfaltung seiner eigenen Gefühle jede Einwirkung durch weltkluge Belehrungen, die er anfangs anzubringen gedachte, abgeschnitten hatte, so zögerte er nicht weiter.

»Vorgestern«, sagte Newman, »erhielt Ihr Onkel diesen Brief. Ich habe in der Geschwindigkeit, als er nicht zu Hause war, eine Abschrift davon genommen. Soll ich ihn vorlesen?«

»Wenn’s Ihnen gefällig ist«, versetzte Nicolaus«.

Newman Noggs las demgemäß folgendes:

»Dotheboys Hall, Donnerstag morgens.

Sir!

Mein Bapa trägt mir auf, Ihnen zu schreiben. Die Ärzte halten es für zweifelhaft, ob er je wieder zum Gebrauch seiner Beine kommen wird, was ihn verhendert, die Feeder zu halden.

Wir send in einem Selenzustande, der außer aller Beschreibung ist und mein Bapa ist im gansen Leibe nur eine Beile, bald blau bald grön; auch sind zwei Benke mit seinem Blute beflegt. Wir sahen uns genetigt, ihn in die Kiche hinunter zu bringen, woer jetzt ligt. Sie werden hieraus selber urteilen, daß er sehr heruntergekommen ist.

Nachdem Ihr Newö, den Sie als einen Leerer recommandirten, meinem Bapa dieß angedan und mit baren Füsen auf seinem Leib herumgesprungen hate und auch schempfte mit was ich die Beschreibung meiner Feder nicht beschmutzen mag, so grif er Mama auf eine firchderliche Weise an, schleuderte sie zu Boden und schlug ihr den Kam einige Zol tief in den Kopf, ein klein wenig weider und es were in den Schedel gegangen. Wir haben ein medizinisches Zerdifikat, das, wenn dieß geschehen wäre, der Schildkrot das Hirn verletzt haben würde.

Dann wurde ich und mein Bruder die Opfer seiner Wut und wir haben seitdem ser viele schmerzen ausgestanden, was uns zu der peinlichen Vermutung leitet, daß wir irgendwo innerlich Schaden genommen haben, besonders da euserlich keine Spuren der Gewaldsamkeit sichtbar sind.

Ich muß die ganse Zeit über, das ich schreibe, immer laud aufschreien, und so auch mein Bruder, was meine Aufmergsamkeit zerstreut und ich hoffe, meine schlechte Schrift entschultigen wirt.

Als das Ungeheuer seinen Blutdurst gesettigt hatte, ging er durch und nam einen Menschen von gans geferlichen Karakter, den er zu einem Röböller verleidet hatte, wie auch einen der Mama gehörenten Granatring mit und da ihn die Konstabel nicht einfangen konnten, so glauben wir daß er auf einem Eilwagen fortgefahren ist. Bapa bittet, man möchte den Ring, wen er zu inen kommt, wieder zurügschicken und daß sie den Dieb und Maichelmörder laufen lassen, da er, wenn man ihn vor Gericht stellte, nur debortiert würde und er, wenn man ihn laufen läßt, über kurz oder lang, gehengt wird, was uns die Mihe erspart und zu viel greserer Freude gereichen muß. In der Hofnung, etwas zu heren, wen es ihnen anstet, verbleibe ich

ihre
etzetera
Fanny Squers.

P.S.

ich bemitleite seine Unwissentheit und verachde ihn.«

Während des dem Vortrage dieser auserlesenen Epistel folgenden Schweigens blickte Newman Noggs, als er seine Abschrift wieder zusammengefaltet hatte, mit einer Art komischen Mitleids auf den Menschen von gefährlichem Charakter, von dem der Brief sprach, während dieser, ohne einen deutlicheren Begriff von der Sache zu haben, als daß er der unglückliche Anlaß der Menge von Verdrießlichkeiten und Lügen wäre, die Nicolaus umgarnten, stumm und niedergeschlagen mit dem Ausdrucke des peinlichsten Kummers dasaß.

»Herr Noggs«, sagte Nicolaus nach einem kurzen Besinnnen, »ich muß geschwind fort.«

»Fort?« rief Newman.

»Ja«, versetzte Nicolaus, »nach Golden Square. Niemand, wer mich kennt, wird diese Geschichte von dem Ringe glauben. Aber es kann dem Zweck des Herrn Ralph Nickleby entsprechen oder vielleicht seinem Hasse dienen, wenn er tut, als schenke er ihr Glauben. Ich bin es – nicht ihm – sondern mir selbst schuldig, daß die Wahrheit ans Licht kommt, und außerdem habe ich noch ein paar Worte mit ihm zu sprechen, die nicht verschoben werden dürfen.«

»Sie müssen verschoben werden«, entgegnete Newman.

»In keinem Falle«, erwiderte Nicolaus mit Festigkeit und schickte sich an, das Haus zu verlassen.

»So hören Sie mich doch«, sagte Newman, indem er seinem ungestümen jungen Freunde den Weg vertrat. »Er ist nicht zu Hause. Er ist über Land und wird vor drei Tagen nicht zurückkommen. Auch weiß ich gewiß, daß das Schreiben erst beantwortet wird, wenn er wieder hier ist.«

»Sind Sie dessen auch ganz gewiß?« fragte Nicolaus, indem er glühend vor Entrüstung mit raschen Schritten in dem engen Gemach auf und ab ging.

»Ganz gewiß«, antwortete Newman. »Er hatte den Wisch kaum gelesen, als er abgerufen wurde. Sein Inhalt ist niemandem als ihm und uns bekannt.«

»Kann ich mich darauf verlassen?« fragte Nicolaus hastig; »nicht einmal meiner Mutter oder Schwester? Wenn ich denken könnte, daß sie – ich will hingehen – ich muß sie sehen. Welchen Weg habe ich einzuschlagen? Wo wohnen sie?«

»Aber so nehmen Sie doch Rat an«, sagte Newman, der in diesem ernsten Augenblick wie ein anderer Mensch sprach: »unterlassen Sie Ihren Besuch, bis er nach Hause kommt. Ich kenne den Mann. Es darf nicht den Anschein haben, als ob Sie jemanden für sich zu gewinnen gesucht hätten. Wenn er wieder hier ist, so treten Sie vor ihn hin und sprechen Sie so kühn, wie es Ihnen beliebt. Verlassen Sie sich darauf, er durchschaut die Wahrheit so gut wie Sie oder ich.«

»Sie meinen es gut mit mir und müssen ihn natürlich besser kennen als ich«, versetzte Nicolaus nach einer Pause des Nachsinnens.

»Nun, meinetwegen!«

Newman, der sich während dieser Verhandlung mit dem Rücken gegen die Tür gepflanzt hatte, um nötigenfalls seinen Gast mit Gewalt abzuhalten, das Zimmer zu verlassen, nahm nun sehr zufrieden seinen Platz wieder ein; und da das Wasser im Kessel inzwischen zum Kochen gekommen war, mischte er ein Glas Grog für Nicolaus und einen Krug voll für sich selbst und Smike, von dem diese beiden in großer Eintracht Gebrauch machten, während Nicolaus, den Kopf auf die Hand gestützt, in trübem Sinnen versunken blieb.

Die Gesellschaft in der ersten Etage hatte sich, als man nach einem aufmerksamen Horchen kein Geräusch vernahm, was eine Einmischung im Interesse der Befriedigung ihrer Neugierde hätte rechtfertigen können, wieder in das Zimmer der Kenwigse zurückgezogen und beschäftigte sich nun mit einer Menge von Vermutungen hinsichtlich der Ursache von Herrn Noggs‘ plötzlichem Verschwinden und Ausbleiben.

»Lieber Himmel, wenn etwa gar ein Eilbote mit der Kunde angekommen wäre, daß er wieder Herr seines früheren Vermögens sei?« meinte Frau Kenwigs.

»Bei Gott, es wäre nicht unmöglich«, sagte Herr Kenwigs. »Wir würden für diesen Fall vielleicht gut tun, wenn wir hinaufschickten und fragen ließen, ob ihm nicht noch etwas Punsch beliebe.«

»Kenwigs«, sagte Herr Lillyvick mit lauter Stimme, »Sie setzen mich in Erstaunen.«

»Wieso, Sir?« fragte Herr Kenwigs mit der gebührenden Ergebenheit gegen den Einnehmer der Wassersteuer.

»Weil Sie eine solche Bemerkung machen«, versetzte Herr Lillyvick unmutig, »Er hat bereits Punsch gehabt – oder etwa nicht, Sir? Ich betrachte die Art, wie er den Punsch – um mich eines geeigneten Ausdrucks zu bedienen – geraubt hat, als höchst unehrerbietig gegen diese Gesellschaft und als skandalös, – ja als vollkommen skandalös. Es mag vielleicht Sitte in diesem Hause sein, sich derartige Dinge gefallen zu lassen, aber ich bin nicht gewöhnt, daß man sich in meiner Gegenwart so benimmt, und ich nehme daher keinen Anstand, es Ihnen zu sagen, Kenwigs. Ein Mann von Erziehung hat ein Glas Punsch vor sich, das er eben an die Lippen setzen will; da kommt ein anderer daher, nimmt das Glas Punsch ohne ein ›Mit Erlaubnis‹ oder ein ›Verzeihen Sie‹ weg und geht mit dem Glas Punsch davon. Das mögen allerdings schöne Manieren sein, und ich will es auch nicht im mindesten bezweifeln; aber ich für meine Person verstehe sie nicht, und was noch mehr ist, ich will sie auch nicht verstehen lernen. Es ist meine Art und Weise zu sprechen, wie mir’s ums Herz ist, Kenwigs, und wenn Ihnen meine Meinung nicht behagt, so ist meine gewohnte Schlafengehenszeit schon vorüber, und ich kann mich nach Hause finden, ohne daß ich’s noch später werden lasse.«

Jetzt war Not im Hause. Der Steuereinnehmer, der im Gefühl seiner beleidigten Würde einige Minuten in stummem

Zürnen dagesessen hatte, war nun losgebrochen. Der große Mann – der reiche Verwandte – der unverheiratete Onkel, der es in seiner Macht hatte, Morlina zu einer reichen Erbin zu machen und sogar das Wiegenkenwigslein mit einem schönen Legate zu bedenken – dieser Mann war beleidigt. Ihr himmlischen Mächte, wie konnte dies enden!

»Es tut mir sehr leid, Sir«, sagte Herr Kenwigs demütig.

»Reden Sie mir nicht von Ihrem Leidwesen«, versetzte Herr Lillyvick unmutig; »Sie hätten es verhindern sollen.«

Die Gesellschaft war durch diesen häuslichen Blitzstrahl förmlich gelähmt. Die Dame aus dem Parterrehinterstübchen saß mit weit offnem Munde da und schaute mit stummem Entsetzen den Steuereinnehmer an, während die übrigen Gäste durch den Zorn des großen Mannes kaum weniger verblüfft waren. Herr Kenwigs, der in derartigen Angelegenheiten keinen besonders feinen Takt besaß, fachte die Flamme noch mehr an, indem er sie auszulöschen suchte.

»Gewiß, Sir, ich habe nicht daran gedacht«, sagte Herr Kenwigs. »Ich konnte mir überhaupt auch gar nicht denken, daß eine solche Kleinigkeit, wie ein Glas Punsch, Sie mißlaunig machen könnte.«

»Mißlaunig? Was zum Teufel bezwecken Sie mit dieser neuen Unfreundlichkeit, Herr Kenwigs?« entgegnete der Steuereinnehmer. »Morlina, Kind, – gib mir meinen Hut!«

»Ach, Sie werden uns Loch nicht schon verlassen, Herr Lillyvick?« vermittelte Fräulein Petowker mit ihrem bezauberndsten Lächeln.

Aber Herr Lillyvick rief, ohne sich durch die Sirene beschwatzen zu lassen, fortwährend »Morlina, meinen Hut«, bis endlich bei der vierten Wiederholung dieser Aufforderung Frau Kenwigs mit einem Schrei, der sogar ein Wasserfaß, geschweige denn einen Wassersteuereinnchmer hätte erweichen können, in ihren Stuhl zurücksank, während die vier kleinen Mädchen, die im geheimen darauf abgerichtet worden waren, die Beinkleider ihres Großonkels mit ihren Armen umschlangen und ihn in ihrem gebrochenen Plappern zu bleiben baten.

»Warum soll ich hier bleiben, meine Lieben?« fragte Herr Lillyvick. »Man braucht mich hier nicht.«

»Ach, sprechen Sie nicht so grausam, Onkel«, schluchzte Frau Kenwigs, »wenn Sie mich nicht töten wollen.«

»Es sollte mich nicht wundernehmen, wenn mir gewisse Leute etwas der Art nachsagten«, versetzte Herr Lillyvick mit einem aufgebrachten Blicke nach Kenwigs. »Man höre doch, – mißlaunig!«

»Ach, ich kann es nicht ertragen, daß Sie solche Blicke nach meinem Manne schleudern«, rief Frau Kenwig«. »Es ist etwas Schreckliches, wenn derartige Auftritte in Familien vorkommen. Ach!«

»Herr Lillyvick«, sagte Kenwigs, »ich hoffe, um Ihrer Nichte willen, daß Sie nicht unversöhnlich sein werden.«

Die Züge des Steuereinnehmers wurden milder, als die ganze Gesellschaft ihre Bitten mit denen des Mannes seiner Nichte vereinigte. Er legte den Hut ab und streckte die Hand aus.

»Da, Kenwigs«, sagte Herr Lillyvick, »und damit Sie sehen, wie mißlaunig ich war, will ich Ihnen nur sagen, daß ich, wenn ich auch ohne ein weiteres Wort weggegangen wäre, hinsichtlich meiner Verfügung über die paar Pfunde, die ich nach meinem Tode Ihren Kindern hinterlassen werde, keine Änderung hätte eintreten lassen.«

»Morlina!« rief Madame Kenwigs in der höchsten Rührung, »falle vor dem lieben Onkel auf die Knie nieder und bitte ihn, daß er dich sein ganzes Leben über liebhaben möge; denn er ist mehr ein Engel als ein Mensch, wie ich immer gesagt habe.«

Morlina trat näher, um den ihr anbefohlenen Huldigungsakt zu vollziehen, wurde aber ohne Umstände von Herrn Lillyvick auf den Arm genommen und geküßt, worauf Frau Kenwigs herbeistürzte und den Steuereinnehmer küßte, während ein ununterdrückbares Beifallsgemurmel seitens der übrigen Gesellschaft, die Zeuge dieser Großmutsszene war, laut wurde.

Der Ehrenmann wurde abermals das Leben und die Seele der Gesellschaft und nahm seine alte Stelle als Löwe wieder ein, von der er durch die vorübergehende allgemeine Gedankenverwirrung für einen Augenblick heruntergesunken war. Vierfüßige Löwen sind, wie es heißt, nur wild, wenn sie hungrig sind, was auch bei den zweibeinigen zutrifft, da sie selten länger schmollen, wenn einmal ihr Appetit nach Auszeichnung beschwichtigt ist. Herr Lillyvick stand höher als je; denn er hatte seine Macht gezeigt, einen Wink hinsichtlich seines Vermögens und seiner testamentarischen Verfügungen fallen lassen, große Achtung wegen seiner Uneigennützigkeit und Tugend gewonnen und nebst all diesem zuletzt noch ein weit größeres Glas Punsch erhalten, als das gewesen war, mit dem Newman Noggs auf eine so unverantwortliche Weise davongegangen war.

»Ich muß noch einmal um Verzeihung für meine Zudringlichkeit bitten«, sagte Crowl, als er nach dieser glücklichen Wendung abermals durch die Tür hereinsah »aber das ist eine seltsame Geschichte – nicht wahr? Noggs wohnt nun schon fünf Jahre in diesem Hause, und die ältesten Mietsleute können sich nicht erinnern, je Besuch bei ihm gesehen zu haben.«

»Gewiß ist es etwas höchst Seltsames, wenn man so in der Nacht abgerufen wird«, entgegnete der Wassersteuereinnehmer; »und das Benehmen des Herrn Noggs ist, im mildesten Lichte betrachtet, wenigstens sehr geheimnisvoll.«

»Sie haben recht«, versetzte Crowl, »und ich will Ihnen noch mehr sagen, ich glaube, diese zwei Kraftgenies, wer sie auch sein mögen, sind irgendwo entlaufen.« »Was bringt Sie auf diesen Gedanken?« fragte der Steuereinnehmer, der durch eine stillschweigende Übereinkunft zum Wortführer der Gesellschaft erwählt zu sein schien. »Ich hoffe, Sie haben keinen Grund für die Annahme, daß sie irgendwo entlaufen sind, ohne ihre Steuern und Taxen zu bezahlen?«

Herr Crowl rümpfte die Nase und war eben im Begriff, gegen die Bezahlung von Steuern und Taxen im allgemeinen und unter allen Umständen zu protestieren, als er noch zeitig genug von seiten Herrn Kenwigs durch ein Flüstern und von seiten der Madame Kenwigs durch verschiedene Winke und Gesichtsverzerrungen vor einem so gewagten Schritte gewarnt wurde.

»Je nun«, sagte Crowl, der an Newmans Tür mit der größten Aufmerksamkeit gehorcht hatte; »sie sprachen so laut miteinander, daß sie mich fast aus meinem Zimmer vertrieben, und so mußte ich wohl hier und da ein Wort auffangen; aber alles, was ich daraus entnehmen kann, scheint darauf hinzudeuten, daß sie an dem einen oder dem andern Orte entlaufen sind. Ich möchte Frau Kenwigs nicht beunruhigen und hoffe daher, daß sie nicht aus irgendeinem Gefängnisse oder Hospitale kommen und vielleicht ein Fieber oder eine andere derartige Unannehmlichkeit mit sich bringen, wodurch die Kinder angesteckt werden könnten.«

Frau Kenwigs wurde durch diese Vermutung so überwältigt, daß es der ganzen zärtlichen Aufmerksamkeit der Fräulein Petowker vom Königl. Drury-Lane-Theater bedurfte, um sie nur einigermaßen wieder zu beruhigen; der Emsigkeit des Herrn Kenwigs gar nicht zu gedenken, der ein ziemlich umfangreiches Riechfläschchen so lange an die Nase seiner Gattin hielt, bis es zweifelhaft wurde, ob die Tränen, die ihr über die Wangen rollten, Wirkungen ihrer Gefühle oder das Resultat des Salmiakgeistes waren.

Die Damen, die anfangs ihr Mitgefühl einzeln ausgesprochen hatten, brachen nunmehr in einen kleinen Chor von beschwichtigenden Phrasen aus, unter denen die Redensarten: »die gute arme Frau!« – »an ihrer Stelle würde ich das nämliche fühlen« – »gewiß, eine schwere Prüfung« – und »niemand als eine Mutter weiß, was ein Mutterherz fühlt«, –die hervorstechendsten waren und am häufigsten wiederholt wurden. Kurz, die Gesellschaft sprach ihre Ansicht so unverhohlen aus, daß Herr Kenwigs im Begriffe war, sich nach Herrn Noggs‘ Zimmer zu begeben und eine Erklärung zu fordern. Er hatte auch in der Tat zu besserer Kräftigung und Befestigung seines Vorsatzes bereits ein muteinflößendes Glas Punsch zu sich genommen, als die Aufmerksamkeit aller Anwesenden durch eine neue schreckliche Überraschung in Anspruch genommen wurde.

Diese bestand in nichts Geringerem als in einem schrillen und durchbohrenden Geschrei, das von einem obern Stocke und allem Anschein nach von dem Dachhinterstübchen herkam, wo der junge Herr Kenwigs in seiner Wiege lag. Der Lärm hatte kaum angefangen, als Frau Kenwigs sogleich auf die Ahnung verfiel, eine fremde Katze habe sich hineingeschlichen und dem Kleinen, während das Dienstmädchen schlief, das Blut ausgesogen, weshalb sie auch nach der Tür stürzte, die Hände rang und zur großen Bestürzung und Verwirrung der Gesellschaft in die entsetzlichsten Angstrufe ausbrach.

»Kenwigs, sehen Sie nach, was es ist – eilen Sie!« rief die Schwester der Festgeberin, indem sie Madame Kenwigs mit Gewalt zurückhielt. »Ach, meine Liebe, zapple doch nicht so schrecklich, sonst kann ich dich nicht mehr halten.«

»Mein Kind! mein liebes – liebes – liebes – liebes Kind«, kreischte Frau Kenwigs, indem sie jedes folgende »liebes« lauter als das vorhergehende betonte. »Mein Ein und mein Alles, mein liebes, unschuldiges Lillyvickchen! O laßt mich zu ihm, laßt mich ge-he-he-hen!«

Unter diesem tollen Gekreisch und dem Weinen und Wehklagen der vier kleinen Mädchen eilte Herr Kenwigs die Stiegen hinauf nach dem Zimmer, von wo aus die Töne, die den Anlaß zu dieser Verwirrung gegeben hatten, herkamen. An der Tür begegnete er aber Nicolaus, der, das Kind auf seinen Armen, mit einem solchen Ungestüm herausstürztc, daß der ängstliche Vater sechs Stufen hinuntergeworfen wurde und gegen das nächste Geländer flog, ehe er noch Zeit gehabt hatte, den Mund zu der Frage, was es gäbe, zu öffnen.

»Seien Sie unbesorgt«, rief Nicolaus hinuntereilend! »hier ist es! Es ist alles vorbei – es ist alles vorüber! Ich bitte, fassen Sie sich; es ist kein Unglück geschehen.«

Mit diesen und tausend anderen Versicherungen überlieferte er das Kind, das er in der Eile mit nach unten gekehrtem Kopf fortgeschleppt hatte, der Frau Kenwigs und stürmte wieder hinaus, um Herrn Kenwigs beizustehen, der sich von seinem Fall noch nicht ganz erholt hatte und mit verwirrten Blicken sich den Kopf zerrieb.

Durch diese frohe Botschaft beruhigt, erholten sich die Anwesenden nach und nach wieder von ihrer Furcht, die sich bei einigen Gliedern der Gesellschaft zu einem gänzlichen Mangel der Geistesgegenwart gesteigert hatte. So hielt z. B. der unverheiratete Freund statt der Madame Kenwigs lange Zeit Madame Kenwigs‘ Schwester in seinen Armen; und den würdigen Herr Lillyvick sah man in der Verwirrung seiner Lebensgeister hinter der Zimmertür mehrere Male Fräulein Petowker so ruhig küssen, als ob ganz und gar nichts Ungewöhnliches vorginge.

»Die Sache ist durchaus von keiner Bedeutung«, sagte Nicolaus, als er zu Frau Kenwigs zurückkehrte. »Das kleine Mädchen, das das Kind hütete, ist – vermutlich aus Ermüdung – eingeschlafen und hat sich das Haar angezündet.«

»O du boshafte kleine Kreatur!« schrie Frau Kenwigs, indem sie ausdrucksvoll ihren Zeigefinger gegen die arme Unglückliche schüttelte, die etwa dreizehn Jahre alt sein mochte und mit versengten Haaren und an allen Gliedern zitternd dastand.

»Ich habe sie schreien hören«, fuhr Nicolaus fort, »und kam noch zeitig genug dazu, um zu verhindern, daß das Feuer nicht weiter um sich griff. Sie können sich darauf verlassen, daß das Kind unversehrt ist, denn ich nahm es selbst aus dem Bett und brachte es her, um Sie zu überzeugen.«

Nach dieser kurzen Auseinandersetzung wurde der Kleine, der, da er nach dem Steuereinnehmer getauft war, sich der Namen Lillyvick Kenwigs erfreute, von den Liebkosungen der Anwesenden fast erstickt und von der Mutter so lange an die Brust gedrückt, bis er abermals zu schreien begann. Die Aufmerksamkeit der Gesellschaft wurde nun vermöge eines ganz natürlichen Übergangs auf das kleine Mädchen gerichtet, das die Kühnheit gehabt hatte, sich das Haar zu verbrennen, und das nach verschiedenen kleinen Püffen von den aufgeregteren Damen in Gnaden nach Hause geschickt wurde; die neun Pence, die ihr als Lohn verheißen waren, fielen begreiflicherweise der Familie Kenwigs anheim.

»Aber wir wissen ja gar nicht, was wir zu Ihnen sagen sollen, Sir«, rief Frau Kenwigs, die sich endlich an den Überbringer des jungen Lillyvick wandte.

»Sie brauchen gar nichts zu mir zu sagen«, versetzte Nicolaus, »denn gewiß, ich habe nichts getan, wodurch ich einen besonderen Aufwand Ihrer Beredsamkeit verdient hätte.«

»Der Kleine hätte verbrennen können, wenn Sie nicht gewesen wären«, bemerkte Fräulein Petowker geziert.

»Ich halte dies nicht für sehr wahrscheinlich«, entgegnete Nicolaus, »denn es hätte von hier unten aus nicht an Beistand fehlen können, der das Kind erreicht haben würde, ehe es wirklich in Gefahr gekommen wäre.«

»Sie erlauben uns aber doch, auf Ihre Gesundheit zu trinken, Sir«, fragte Herr Kenwigs, sich dem Tische nähernd.

»In meiner Abwesenheit allerdings«, versetzte Nicolaus lächelnd. »Ich habe eine sehr ermüdende Reise gemacht und würde schlecht in eine Gesellschaft passen, da ich selbst im Falle, daß ich wach bliebe, was ich übrigens für sehr zweifelhaft halte, eher Ihre Heiterkeit stören als fördern würde. Sie werden mir daher erlauben, zu meinem Freunde, Herrn Noggs, zurückzukehren, der sich, als er sah, daß nichts Ernstliches vorgefallen, wieder nach seinem Zimmer verfügte. Gute Nacht!«

So der Teilnahme an den Festlichkeiten ausweichend, verabschiedete sich Nicolaus von Frau Kenwigs und den übrigen Damen in einer sehr gewinnenden Weise und entfernte sich, einen nicht unbedeutenden Eindruck bei der Gesellschaft zurücklassend.

»Welch ein herrlicher junger Mann!« rief Frau Kenwigs.

»Er hat ganz das Äußere eines Mannes von Stande«, sagte Herr Kenwigs. »Meinen Sie nicht auch so, Herr Lillyvick?«

»Ja«, meinte der Steuereinnehmer mit einem bedenklichen Achselzucken; »das Äußere – das Äußere.«

»Ich hoffe. Sie finden nichts an ihm auszusetzen, Onkel?« fragte Frau Kenwigs.

»Nicht doch, meine Liebe«, entgegnete der Steuereinnehmer, »nicht doch. Ich hoffe, er wird seinem Äußeren Ehre machen. – Nun – hat nichts zu sagen. Dir, Nichte, meine Liebe, und langes Leben dem Kinde!«

»Das Ihren Namen trägt«, fügte Flau Kenwigs mit einem süßen Lächeln bei.

»Und, wie ich hoffe, ihn mit Ehren tragen wird«, bemerkte Herr Kenwigs in der Absicht, den Steuereinnehmer wieder ganz zu versöhnen. »Ich bin überzeugt, der Kleine wird seinem Paten nie eine Schande machen und in späteren Jahren als ein Stück der Lillyvicks betrachtet werden, deren Namen er trägt. Ich darf wohl sagen – und meine Frau ist der gleichen Meinung, da sie es ebenso lebhaft wie ich empfindet –, daß ich es für eine der größten Segnungen und Ehren meines Lebens ansehe, ihn mit dem Namen Lillyvick nennen zu können.«

»Für die größte Segnung, Kenwigs«, flüsterte Madame.

»Ja, für die größte Segnung«, verbesserte sich Herr Kenwigs – »eine Segnung, die ich, wie ich hoffe, dermaleinst zu verdienen imstande sein werde.«

Das war ein Meisterstreich der Kenwigsschen Politik, da er Herrn Lillyvick zur Hauptquelle der Bedeutsamkeit des Kleinen machte. Der gute Herr fühlte die Zartheit und Feinheit dieser Anspielungen und brachte auf einmal die Gesundheit des unbekannten Herrn in Vorschlag, der in dieser Nacht so viele Raschheit und Besonnenheit gezeigt hatte.

»Der, wie ich mich zu sagen nicht geniere –« fuhr Herr Lillyvick, der damit gewiß nicht wenig einräumte, fort – »ein recht anständig aussehender junger Mann ist und sich so gut zu benehmen weiß, daß ich hoffe, sein Charakter werde damit im Einklang stehen.«

»In der Tat, ein recht hübsches Gesicht und ganz seine Manieren«, sagte Frau Kenwigs.

»Niemand kann ihm das streitig machen«, fügte Fräulein Petowker bei: »er hat etwas in seinem Äußeren, etwas ganz – ach du mein Himmel, wie heißt nur das Wort?«

»Was für ein Wort?« fragte Herr Lillyvick.

»Ach Gott, wie ich doch so dumm bin«, entgegnete Fräulein Petowker zögernd. »Wie nennt man es doch, wenn die Herren von Adel Klingeln abreißen, anderer Leute Geld verspielen, und was dergleichen mehr ist?«

»Aristokratisch?« meinte der Steuereinnehmer.

»Richtig, aristokratisch«, erwiderte Fräulein Petowker. »Er hat etwas ungemein Aristokratisches an sich. Ist’s nicht so?«

Die Herren blieben ruhig und lächelten sich gegenseitig zu, als wollten sie sagen, das wäre Geschmackssache: die Damen aber erklärten einstimmig, daß Nicolaus ein ganz aristokratisches Äußere hätte, und da sich’s niemand angelegen sein ließ, den Satz zu bestreiten, so wurde er auch als unbestreitbar angenommen.

Der Punsch war mittlerweile auf die Neige gegangen, und die kleinen Kenwigse, die schon seit einiger Zeit ihre kleinen Augen mit ihren kleinen Zeigefingern hatten offen halten müssen, wurden widerspenstig und verlangten dringend nach dem Bett. Der Steuereinnehmer gab das Zeichen zum Aufbruch, indem er seine Uhr herauszog und der Gesellschaft ankündete, daß es bald zwei Uhr sei, wodurch einige Gäste überrascht und andere erschreckt wurden. Man suchte die Herren- und Damenhüte unter den Tischen hervor, und als diese nach und nach aufgefunden waren, entfernten sich ihre Eigentümer nach vielen Händedrücken und oft wiederholten Beteuerungen, daß sie noch nie einen so köstlichen Abend erlebt hätten, daß sie sich wundern müßten, daß es schon so spät wäre, da sie gemeint hätten, es könne höchstens halb elf Uhr sein, daß sie wünschten, Herr und Frau Kenwigs möchten jede Woche einen solchen Tag feiern, daß sie nicht begreifen könnten, wie es Frau Kenwigs nur ermöglicht hätte, alles so hübsch anzuordnen – und was dergleichen Phrasen mehr sind.

Herr und Madame Kenwigs beantworteten alle diese schmeichelhaften Komplimente damit, daß sie jeder Dame und jedem Herrn der Reihe nach für das Vergnügen ihrer Gesellschaft dankten und den Wunsch aussprachen, sie möchten sich nur halb so gut unterhalten haben, wie dieses bei ihnen selbst der Fall gewesen wäre.

Was unsern Nicolaus anbelangt, so war er – des Eindrucks, den er hervorgebracht hatte, ganz unbewußt – schon längst in Schlaf verfallen, indem er es Herrn Newman Noggs und Smike überließ, gemeinschaftlich die Branntweinflasche zu leeren. Sie verrichteten auch dieses Geschäft so außerordentlich bereitwillig, daß Newman endlich ebensowenig zu unterscheiden wußte, ob er selbst vollkommen nüchtern wäre, oder, ob er je einen Menschcn so schwer und vollkommen betrunken gesehen hätte, wie seinen neuen Bekannten.

Sechzehntes Kapitel.


Sechzehntes Kapitel.

Nicolaus sucht eine Anstellung und nimmt, da ihm dieses fehlschlägt, eine Privatlehrerstelle an.

Am andern Morgen war es Nicolaus‘ erste Sorge, sich nach einem Zimmer umzusehen, wo er bis auf bessere Zeiten wohnen konnte, ohne Newman Noggs zur Last zu fallen, der mit Freude auf der Stiege geschlafen haben würde, wenn es nur sein junger Freund dadurch etwas bequemer bekam.

Das leerstehende Zimmer, auf das sich die Anzeige an der Haustür bezog, erwies sich bei näherer Nachforschung als ein kleines Hinterstübchen im zweiten Stock, von wo aus man eine gar liebenswürdige Aussicht auf mit Ruß bedeckte Dachziegel und Schornsteine hatte. Der Hausbesitzer hatte dem Mieter des Erdgeschosses die Vollmacht übertragen, diesen Teil des Hauses unter anständigen Bedingungen von Woche zu Woche zu vermieten, wie denn auch überhaupt der letztere den Auftrag hatte, die Zimmer, sobald sie leer würden, wieder zu vergeben und ein scharfes Auge auf die Hausbewohner zu haben, damit sie nicht davonliefen. Um den Mann zu einer pünktlichen Vollziehung dieser letzteren Obliegenheit zu vermögen, erhielt er freie Wohnung, damit er nicht in Versuchung käme, einmal selber davonzulaufen.

Der Erlös aus einigen entbehrlichen Kleidungsstücken setzte Nicolaus in den Stand, diese Kammer zu erstehen und auch die Miete für etliche notwendige Möbel, die er sich von einem benachbarten Trödler verschaffte, auf eine Woche voraus zu bezahlen. Hier saß er nun in seinen vier Wänden, um über seine Aussichten für die Zukunft nachzudenken, die aber freilich – wie die seines Fensters – gar beschränkt und trübe waren. Sie wurden aber durch das Nachsinnen nicht besser, und da allzu genaue Bekanntschaft leicht Verachtung erzeugt, so faßte er den Entschluß, seine Gedanken durch einen tüchtigen Spaziergang zu verscheuchen. Er nahm daher seinen Hut und überließ das Gemach dem armen Smike, der es stets aufs neue, und zwar mit einem Entzücken ordnete, als wenn es der herrlichste Palast gewesen wäre, während er sich selbst in das Gewühl der Straßen mengte.

Wenn man sich als eine bloße Einheit in einem geschäftigen Gedränge sieht, wo man von niemandem beachtet wird, so kann man allerdings das Gefühl der eigenen Wichtigkeit verlieren; aber es folgt daraus keineswegs, daß man sich ebenso leicht des drückenden Bewußtseins von der Wichtigkeit und Größe seiner Sorgen entledigen kann. Nicolaus‘ Gehirn war ausschließlich mit dem trostlosen Zustand seiner eigenen Angelegenheiten beschäftigt – Gedanken, die ungeachtet des schärfsten Laufes nicht weichen wollten –; und wenn er es auch versuchte, sie durch Betrachtungen über die Lage und Aussichten der ihn umgebenden Menge zu verscheuchen, so nahm ihn vielleicht der Vergleich der Gegensätze auf einige Augenblicke in Anspruch, führte ihn aber, ehe er sich’s versah, wieder auf seinen alten Gedankengang zurück.

Als er, von solchen Betrachtungen hingenommen, in einer von Londons Hauptstraßen hinschlenderte, trafen seine Blicke auf einmal eine blaue Tafel, worauf mit goldenen Buchstaben zu lesen stand: »General-Agentur; Plätze und Stellen aller Art sind im Hause zu erfragen.« Es war ein Laden mit einer Gasblende und einer inneren Tür, hinter deren Glasscheiben eine lange und lockende Reihe von Ankündigungen hing, die offene Stellen jeden Grades vom Sekretär bis zum Laufjungen hinunter anboten.

Nirolaus machte unwillkürlich vor diesem Tempel der Verheißung halt und überflog mit dem Auge die in großen Lettern beschriebenen Stellungen, die hier so verschwenderisch angeboten wurden. Als er mit diesem Studium zu Ende gekommen war, ging er eine Strecke weiter, kehrte aber wieder um und ging eine Weile unschlüssig vor der Tür des Bureaus der Generalagentur auf und ab, bis er sich endlich ein Herz faßte und eintrat.

Er befand sich nun in einem kleinen mit Bodenteppichen versehenen Zimmer, in dem ein hohes, mit einem Geländer versehenes Pult stand. Hinter diesem Pult saß ein magerer junger Mann mit schlauen Augen und einem hervorragenden Kinn, dessen Leistungen in Frakturschrift die Scheiben der Ladentür verdunkelten. Er hatte ein großes Hauptbuch aufgeschlagen vor sich liegen und die Finger seiner rechten Hand zwischen den Blättern desselben stecken, während seine Augen auf eine sehr beleibte alte Dame in einer Morgenhaube – augenscheinlich die Eigentümerin des Geschäfts – geheftet waren, die sich am Feuer wärmte. Er schien ihre Aufträge zu erwarten, um über einige Punkte, die sich in dem Bereiche der rostigen Klappen seines Buches befanden, Bericht zu erstatten.

Nicolaus hatte außen eine Tafel gesehen, die dem Publikum anzeigte, daß hier von zehn bis vier Uhr Dienstboten aller Art gemietet werden könnten, und konnte sich daher den Zweck der Anwesenheit von einem halben Dutzend kräftiger junger Frauenspersonen, die in Überschuhen und mit Sonnenschirmen auf einer Eckbank saßen, um so leichter erklären, da die armen Dinger gar ängstlich und verdrießlich aussahen. Nicht ganz so sicher war er hinsichtlich des Berufs und der Stellung zweier schmucker junger Frauenzimmer, die sich mit der dicken Dame am Feuer unterhielten, bis diese – er hatte sich inzwischen mit der Erklärung, daß er warten wolle, bis die übrigen Kunden bedient wären, in eine Ecke gesetzt – das Gespräch, das durch sein Eintreten unterbrochen wurde, wieder aufnahm.

»Köchin – Tom«, sagte die dicke Frau, die sich, wie vorhin bemerkt, an dem Feuer wärmte.

»Köchin«, versetzte Tom, einige Blätter seines Hauptbuches umschlagend; »gut.«

»Lesen Sie eine oder zwei leichte Stellen«, entgegnete die dicke Dame.

»Wenn ich bitten darf, ein paar recht leichte, junger Herr«, fügte ein modisch gekleidetes Frauenzimmer in buntkarrierten Zeugstiefeln, die die Klientin zu sein schien, bei.

»Frau Marker«, las Tom, »Russelplatz, Russelquare; bietet achtzehn Guineen, auch Tee und Zucker. Eine Familie von zwei Personen, die äußerst wenig Gesellschaft sieht. Hält fünf Dienstboten, aber keinen männlichen. Duldet auch keine Liebhaber.«

»Ach, lieber Himmel, das ist nichts«, kicherte die Klientin; »lesen Sie eine andere, junger Herr.«

»Frau Wrymug«, sagte Tom. »Angenehme Stelle in Finsbury, Lohn zwölf Guineen. Kein Tee, kein Zucker. Fromme Familie –«

»Ach lassen Sie das nur«, fiel die Klientin ein.

»Drei fromme Diener«, fuhr Tom mit Nachdruck fort.

»Drei, sagten Sie?« rief die Klientin in einem veränderten Tone.

»Drei fromme Diener«, wiederholte Tom – »Köchin, Haus- und Stubenmädchen: jeder weibliche Dienstbote muß Sonntags dreimal in die Kirche – mit einem frommen Diener. Wenn die Köchin frommer ist als der Diener, so erwartet man von ihr, daß sie den Diener bessere; ist der Diener frommer als die Köchin, so hofft man von ihm, daß er einen gleichen Einfluß auf die Köchin übe.«

»Ich bitte um die Adresse dieses Ortes«, sagte die Klientin; »ich weiß nicht, aber ich meine, diese Stelle könnte mir zusagen.«

»Hier ist noch eine andere«, bemerkte Tom, einige Blätter umschlagend; »Familie des Herrn Gallanbile, Parlamentsmitglied. Fünfzehn Guineen, Tee und Zucker; die weiblichen Dienstboten dürfen männliche Verwandte sehen, wenn diese recht fromme Personen sind. NB. Am Sabbat kaltes Mittagessen in der Küche, da Herr Gallanbile für strenge Beobachtung des Sabbats gestimmt hat. Am Tage des Herrn wird durchaus nichts gekocht, als das Mittagessen für Herrn und Frau Gallanbile, was natürlich als ein Werk der Frömmigkeit und Notwendigkeit eine Ausnahme erleidet. Herr Gallanbile speist an dem Tage der Ruhe spät, um der Köchin die Sünde des Ankleidens zu ersparen.«

»Ich glaube nicht, daß mir diese Stelle so gut wie die vorige ansteht«, sagte die Klientin nach einem kurzen Flüstern mit ihrer Freundin. »Seien Sie so freundlich, mir die Markersche Adresse zu geben, junger Herr. Ich kann ja wiederkommen, wenn sich’s nicht schicken will.«

Tom schrieb verlangtermaßen die Adresse heraus, und die modisch gekleidete Klientin entfernte sich mit ihrer Freundin, nachdem sie einstweilen die dicke Dame mit einer kleinen Gabe befriedigt hatte.

Nicolaus wollte eben seinen Mund öffnen, um den jungen Mann zu ersuchen, unter dem Buchstaben S die verfügbaren Sekretärstellen aufzusuchen, als eine Dame in das Bureau trat, deren Äußeres ihn ebensosehr überraschte, wie ansprach, weshalb er auch zu ihren Gunsten zurücktrat.

Die Dame, die kaum achtzehn Jahre zählen konnte und außerordentlich schön und zart gebaut war, trat schüchtern an den Schreibtisch und fragte mit leiser Stimme nach einer Stelle als Erzieherin oder als Gesellschafterin einer Dame.

Sie schlug, während sie ihre Angabe vorbrachte, ihren Schleier einen Augenblick zurück und ließ ein Gesicht von vollendeter Schönheit blicken, obgleich es durch eine Wolke der Trauer beschattet wurde, die bei einem so jungen Wesen doppelt auffallend war. Man schrieb ihr aus dem Buche eine Adreßkarte, und nachdem sie die gewöhnliche Gebühr entrichtet hatte, glitt sie hinaus.

Sie war nett, aber ungemein bescheiden gekleidet, so daß ihr Anzug an einem Mädchen von weniger persönlicher Anmut sogar als ärmlich erschienen wäre. Ihre Begleiterin – denn sie hatte eine solche – war ein schmutziges Mädchen mit rotem Gesicht und großen Augen, das nach einer gewissen Rauheit an den bloßen Armen, die unter dem schlampig umgeworfenen Halstuche hervorsahen, und nach den halbgewaschenen Spuren von Schmutz und Ruß, die ihr Gesicht tätowierten, zu schließen, augenscheinlich zu der Klasse der Dienstmägde auf der Bank gehörte, mit denen sie auch einige Blicke und Gebärden wechselte, die auf eine gewisse Geheimbündelei des Gewerbes hinwiesen.

Das Mädchen folgte ihrer Gebieterin; und noch ehe sich Nicolaus von den ersten Wirkungen der Überraschung erholt hatte, war die junge Dame verschwunden. Es ist nicht so ganz unwahrscheinlich, wie sich vielleicht einige nüchterne Leute denken mögen, daß er ihnen nachgefolgt wäre, wenn er nicht durch das, was zwischen der dicken Dame und ihrem Buchhalter verhandelt wurde, zurückgehalten worden wäre.

»Wann kommt sie wieder, Tom?« fragte die dicke Dame.

»Morgen früh«, antwortete Tom, seine Feder spitzend.

»Wo haben Sie sie hingesandt?« fragte die dicke Dame.

»Zu Madame Clarks«, entgegnete Tom.

»Sie wirds gut kriegen, wenn sie dort unterkommt«, bemerkte die dicke Dame, indem sie eine Prise aus einer zinnernen Schnupftabaksdose nahm.

Tom erwiderte nicht«, sondern deutete mit der Feder auf Nicolaus – eine Erinnerung, die der dicken Dame die Frage entlockte:

»Nun, Sir, was können wir für Sie tun?«

Nicolaus antwortete mit kurzen Worten, daß er wissen möchte, ob nicht irgendeine Stelle als Sekretär oder Hilfskraft bei einem Herrn zu haben sei.

»O, ein halbes Dutzend statt einer«, versetzte die Kommissionärin. »Nicht wahr, Tom?«

»Ich sollt’s meinen«, antwortete der junge Herr.

Er winkte bei diesen Worten Nicolaus mit einem Grad von Vertraulichkeit zu, der ohne Zweifel als ein sehr schmeichelhaftes Kompliment gelten sollte, was jedoch von dem Bewerber um die Sekretärstelle höchst undankbarerweise nur mit Widerwillen aufgenommen wurde.

Als man das Buch zu Rate zog, stellte sich heraus, daß die Dutzend Stellen zu einer einzigen eingeschrumpft waren. Herr Gregsbury, das große Parlamentsmitglied von Manchester Buildings in Westminster, suchte einen jungen Mann, der seine Papiere und Korrespondenz in Ordnung halten sollte, und Nicolaus war gerade von dem Schlag, dessen Herr Gregsbury bedurfte.

»Die Bedingungen sind uns unbekannt, da der Auftraggeber sie mit dem Stellungsuchenden selbst abzumachen gedenkt«, bemerkte die dicke Dame; »aber sie können nur sehr vorteilhaft sein, da er Parlamentsmitglied ist.«

So unerfahren auch Nicolaus war, so war er doch von der Richtigkeit dieses Schlusses nicht ganz überzeugt. Ohne jedoch auf weitere Nachfragen einzugehen, ließ er sich die Adresse aufschreiben und nahm sich vor, Herrn Gregsbury unverzüglich seine Aufwartung zu machen.

»Ich kann Ihnen die Hausnummer nicht angeben«, sagte Tom; »aber Manchester Buildings ist nicht groß, und im schlimmsten Falle finden sie ihn, wenn Sie an allen Türen auf beiden Seiten der Straße anklopfen, wozu Sie nicht allzulange brauchen werden. Aber nicht wahr – das war ein hübsches Mädchen?«

»Was für ein Mädchen, Sir?« fragte Nicolaus finster.

»O ja, ich weiß schon – was für ein Mädchen, he?« flüsterte Tom, indem er blinzelnd sein Kinn vorschob. »Sie haben sie natürlich nicht gesehen – was meinen Sie, möchten Sie morgen nicht an meiner Stelle sein, wenn sie wiederkommt?«

Nicolaus sah den häßlichen Schreiber mit einem Blicke an, als hätte er gute Lust, ihm als Lohn für seine Bewunderung der jungen Dame das Hauptbuch um die Ohren zu schlagen. Er hielt jedoch an sich und verließ stolz das Bureau, indem er in seiner Entrüstung den alten Gesetzen der Ritterlichkeit Trotz bot, die es nicht nur allen braven Rittern zur Pflicht machten, das Lob der Damen ihres Herzens anzuhören, sondern sogar von ihnen fordern, in der Welt herumzustreifen und allen jenen hölzernen und prosaischen Kerlen den Schädel einzuschlagen, die sich weigern, Damen in den Himmel zu erheben, von denen sie zufälligerweise nie etwas gesehen oder gehört hatten – als ob dieser letzte Umstand wirklich als eine Entschuldigung gelten könnte.

Nicolaus vergaß über den Betrachtungen, worin wohl das Unglück dieses schönen Mädchens bestehen möchte, seine eigene traurige Lage, und unter solchen Gedanken lenkte er seine Schritte nach Manchester Buildings, obgleich er nicht selten fehlging, da er auf seine vielen Fragen fast ebenso viele falsche Anweisungen erhielt.

In den Grenzen der früheren Stadt Westminster, ein paar hundert Schritte von ihrem alten Heiligtum, ist ein enger und schmutziger Bezirk, das Sanktuarium der unbedeutenderen Parlamentsmitglieder unserer Tage. Es beschränkt sich auf eine einzige Straße voll düsterer Häuser, von dessen Fenstern zur Zeit der Parlamentsferien lange, traurige Reihen von Anschlagzetteln herunterhängen, die ebenso offen wie die Gesichter der früheren Hausbewohner, die sich auf den Bänken der Regierung und der Opposition herumtreiben, der Welt sagen: »zu vermieten«, – »zu vermieten.« Ist das Parlament versammelt, so verschwinden diese Zettel, und die Häuser wimmeln von Gesetzgebern – Gesetzgeber im Erdgeschosse, in der ersten Etage, im zweiten und dritten Stock bis zu den Dachstuben hinauf; die kleinen Gemächer dampfen von dem Atem der Deputationen und Delegierten. Bei feuchtem Wetter sieht man nichts von dem Ort, da er in den Dünsten, die von den durchwässerten Parlamentsakten und den muffigen Petitionen aufsteigen, ganz umnebelt wird. Die Briefträger verfallen in Schwächezustände, wenn sie die Grenzen dieses angesteckten Bezirks betreten, und schäbige Gestalten, die die Postfreiheit der Parlamentsmitglieder ausbeuten möchten, schießen rastlos wie die aufgestörten Geister dahingeschiedener Briefsteller hin und her.

Das ist Manchester Buildings, und hier kann man alle Stunden der Nacht das Rasseln der Schlüssel in ihren Schlössern und hin und wieder – wenn ein über das Wasser, das den Fuß der Gebäude bespült, hinfegender Windstoß den Ton nach dem Eingänge führt – die schwache, schrille Stimme irgendeines Parlamentsmitglieds, das eine Rede auf den andern Morgen einübt, vernehmen. Hier hört man den ganzen Tag das Quieken der Drehorgeln und das Leiern von Spieluhren und Spieldosen; denn Manchester Buildings ist ein Sack, der keinen andern Ausgang hat als die unzierliche Mündung – ein Flaschenfutter ohne Durchgang mit einem kurzen und engen Hals –, und in dieser Hinsicht kann man es wohl das Vorbild des Schicksals von so manchem seiner Bewohner nennen, der, nachdem er sich mit vielem Mühen und Ducken ins Parlament geschlichen hat, am Ende findet, daß kein Ausweg für ihn vorhanden ist, und alles nur, wie Manchester Buildings, zu nichts als zu sich selbst führte, so daß er am Ende gern wieder herausgeht, wie er hineinkam, weder reicher noch weiser oder auch nur um einen Pfifferling berühmter.

Nach diesem Ort wanderte Nicolaus mit der Adresse des großen Herrn Gregsbury in der Hand und fand gleich am Eingang eine große Menschenmasse, die in ein armseliges Haus strömte. Er wartete, bis sich die Straße geleert hatte, suchte dann einen Diener dieses Hauses auf und fragte, ob er nicht wisse, wo Herr Gregsbury wohne.

Der Diener war ein blasser, schäbiger, junger Mensch, der aussah, als ob er von seiner Kindheit an in Kellern geschlafen hätte, was vielleicht auch der Fall war.

»Herr Gregsbury?« sagte er; »Herr Gregsbury wohnt hier. Sie sind ganz recht. Kommen Sie herein.«

Da Nicolaus keinen Grund einsah, warum er nicht hineingehen sollte, so tat er es; und kaum war dies geschehen, so schloß der junge Mensch die Tür und machte sich davon.

Das war seltsam genug, aber noch mehr verwirrte ihn der Umstand, daß sich auf der engen Hausflur und den engen Stiegen eine wirre Masse von Menschen befand, die sich mit gar bedeutungsvollen und wichtigen Gesichtern an die Fenster stellten und den dunklen Eingang noch dunkler machten. Sie harrten augenscheinlich in schweigender Erwartung auf ein bevorstehendes Ereignis; denn von Zeit zu Zeit flüsterte einer seinem Nachbar etwas zu, oder flüsterte eine kleine Gruppe zusammen, und dann nickten oder schüttelten die Flüsternden bedeutungsvoll ihre Köpfe, als ob sie etwas Verzweifeltes im Schilde führten und fest entschlossen wären, sich unter keinen Umständen abschütteln zu lassen.

Einige Minuten vergingen, ohne daß etwas vorfiel, was diesen Auftritt erklärt hätte, und Nicolaus, der sich nicht sonderlich behaglich in seiner Lage fühlte, schickte sich eben an, bei einem Nachbar einige Erkundigungen einzuziehen, als plötzlich eine lebhafte Bewegung auf den Stiegen bemerkbar wurde und eine Stimme sich vernehmen ließ:

»Nun, meine Herren, haben Sie die Güte, heraufzukommen.«

Die Herren auf den Stiegen begannen übrigens, statt hinaufzugehen, rasch hinunterzusteigen, und baten dann die Herren in der Nähe der Tür mit außerordentlicher Höflichkeit, voranzugehen. Diese erwiderten mit gleicher Höflichkeit, daß sie um keinen Preis an so etwas denken würden: aber sie taten es, ohne daran zu denken, denn die anderen Herren drängten ein halbes Dutzend, unter denen sich auch Nicolaus befand, vorwärts und stießen diese, indem sie sich hinten anschlossen, nicht nur die Stiegen hinauf, sondern auch bis in das Audienzzimmer des Herrn Gregsbury hinein, in das sie mit der ungebührlichsten Hast einzutreten genötigt waren, ohne imstande zu sein, sich wieder zurückzuziehen, da die nachdrängende Menge das Gemach füllte.

»Meine Herren«, sagte Herr Gregsbury, »Sie sind willkommen. Ich bin erfreut, Sie zu sehen.«

Für einen Mann, der erfreut war, einen ganzen Haufen Gäste bei sich zu sehen, sah Herr Gregsbury so unbehaglich wie nur möglich aus. Aber das hatte vielleicht seinen Grund in der Würde des Gesetzgebers und dem Zwang, den Staatsmänner ihren Gefühlen aufzuerlegen pflegen. Er war ein sehr wohlbeleibter, dickköpfiger Herr mit lauter Stimme und pomphaftem Wesen, dem eine erträgliche Menge nichtssagender Phrasen zu Gebot stand, und der – mit einem Worte – alle Erfordernisse eines guten Parlamentsmitgliedes besaß.

»Nun, meine Herren«, sagte Herr Gregsbury, indem er einen großen Stoß Papiere in einen zu seinen Füßen stehenden geflochtenen Korb warf und sich selbst mit übereinandergeschlagenen Armen in seinem Stuhle zurücklehnte: »Sie sind, wie ich aus den Zeitungen entnehme, unzufrieden mit meiner Art der Führung meines Amtes?«

»Ja, Herr Gregsbury, das sind wir«, versetzte ein plumper, alter Herr, der mit vielem Ungestüm aus dem Gedränge hervorbrach und sich vorn aufpflanzte.

»Wie?« entgegnete Herr Gregsbury, den Sprecher betrachtend; »täuschen mich meine Augen, oder ist dies wirklich mein alter Freund Pugstyles?«

»Der bin ich und kein anderer, Sir«, erwiderte der plumpe, alte Herr.

»Geben Sie mir Ihre Hand, mein würdiger Freund«, sagte Herr Gregsbury. »Pugstyles, mein teurer Freund, ich bedaure ungemein, Sie hier zu sehen.«

»Und ich bedaure ungemein, daß ich hier sein muß«, versetzte Herr Pugstyles; »aber Ihr Benehmen, Herr Gregsbury, hat diese Abordnung seitens Ihrer Wähler gebieterisch notwendig gemacht.«

»Mein Benehmen, Pugstyles«, entgegnete Herr Gregsbury, indem er die Deputierten der Reihe nach mit huldreicher Herablassung betrachtete – »mein Benehmen wurde stets und wird stets durch die aufrichtige Berücksichtigung der wahren und wirklichen Interessen dieses großen und glücklichen Landes geleitet werden. Ob ich auf meine Heimat oder auf andere Landesteile blicke, ob ich die friedlichen, gewerbtätigen Gemeinden unserer heimischen Insel betrachte, ihre mit Dampfbooten bedeckten Flüsse, ihre Straßen mit Fuhrwerken und Dampfwagen, ihren Himmel mit Luftschiffen von einer Macht und Größe, die in der Geschichte der Luftschiffahrt (sowohl dieses als eines anderen Volkes) nicht ihresgleichen haben – ich sage, ob ich bloß auf meine Heimat blicke oder meine Augen weiter gleiten lasse und die endlose Aussicht auf Eroberung und Besitz betrachte, die sich vor mir eröffnet, und die durch britische Ausdauer und britischen Mut errungen wurde – so schlage ich meine Hände zusammen, richte meine Blicke zu dem weiten Gewölbe über meinem Haupt und rufe: Dank dir Himmel, daß ich ein Brite bin!«

Es war einmal eine Zeit, wo dieser Ausbruch von Begeisterung allenthalben freudigen Anklang gefunden haben würde; aber in dem gegenwärtigen Augenblicke nahm ihn die Abordnung mit der tödlichsten Kälte auf. Der Gesamteindruck schien zu sein, daß diese Phrase, wenn sie als eine Erklärung von Herrn Gregburys politischem Benehmen gelten sollte, nicht genug ins Einzelne einginge, und ein Herr im Hintergrunde nahm keinen Anstand, laut zu bemerken, daß das Ganze ziemlich nach Wind röche.

»Ich weiß nicht, was Sie hier mit dem Ausdrucke ›Wind‹ sagen wollen«, entgegnete Herr Gregsbury: »wenn aber damit angedeutet werden soll, daß ich ein wenig zu glühend, vielleicht sogar hyperbolisch in Erhebung der Vorzüge meines Geburtslandes wurde, so erkenne ich die volle Gerechtigkeit dieser Bemerkung an. Ich bin stolz auf dieses freie und glückliche Land. Ich fühle mich größer; meine Augen glänzen, meine Brust hebt sich, mein Herz schwillt, mein Busen brennt, wenn ich mir seinen Ruhm und seine Größe ins Gedächtnis rufe.«

»Wir wünschen Ihnen einige Fragen vorzulegen«, bemerkte Herr Pugstyles ruhig.

»Ich stehe zu Diensten, meine Herren. Meine Zeit gehört Ihnen – und meinem Vaterlande – ja, und meinem Vaterlande –« erwiderte Herr Gregsbury.

Sobald diese Erlaubnis erteilt war, setzte Herr Pugstyles seine Brille auf und durchlief ein beschriebenes Papier, das er aus seiner Tasche zog, worauf fast alle übrigen Deputationsmitglieder gleichfalls Schriften aus ihren Taschen zogen, um Herrn Pugstyles, während er die Fragen ablas, nachzuprüfen.

Als dies geschehen war, ging Herr Pugstyles zu seinem Zweck über.

»Frage Numero eins. Gaben Sie vor Ihrer Erwählung nicht das freiwillige Versprechen, daß Sie, im Fall Sie reussierten, der üblen Gewohnheit des Hustens und Grunzens im Unterhaus ein Ende machen wollten, und haben Sie sich nicht schon in der ersten Debatte der Sitzung niederhusten und niedergrunzen lassen, ohne auch nur den Versuch zu machen, eine Abstellung dieses Unfugs zu beantragen? Haben Sie ferner nicht das Versprechen abgelegt, die Minister niederzudonnern und sie zu Kreuze kriechen zu machen – und haben Sie sie niedergedonnert und zu Kreuze kriechen gemacht?«

»Gehen Sie auf den nächsten Punkt über, mein lieber Pugstyles«, sagte Herr Gregsbury.

»Haben Sie hinsichtlich dieser Frage eine Erklärung abzugeben, Sir?« fragte Herr Pugstyles.

»Gewiß nicht«, antwortete Herr Gregsbury.

Die Mitglieder der Abordnung warfen sich zuerst untereinander und dann dem Mitgliede wilde Blicke zu, und »der liebe Pugstyles« nahm, nachdem er Herrn Gregsbury geraume Zeit über seine Brille weg scharf fixiert hatte, seine Fragenliste wieder auf.

»Frage Numero zwei. Haben Sie nicht in gleicher Weise freiwillig gelobt, daß Sie Ihren Kollegen bei jeder Gelegenheit unterstützen würden, und haben Sie ihn nicht vorgestern nachmittag verlassen und mit der Gegenpartei gestimmt, weil die Frau eines Haupthahns von der Gegenpartei Madame Gregsbury zu einer Abendgesellschaft eingeladen hatte?«

»Weiter«, sagte Herr Gregsbury.

»Haben Sie auch hierauf nichts zu sagen, Sir?« fragte der Sprecher.

»Nicht das mindeste«, versetzte Herr Gregsbury.

Die Abordnung, die ihn nur zur Zeit der Stimmenwerbung und der Wahl gesehen hatte, wurde durch die Kaltblütigkeit nicht wenig verblüfft. Er schien nicht mehr derselbe Mann zu sein; denn damals war er ganz Milch und Honig, während er sich jetzt als Galle und Essig zeigte. Aber die Menschen ändern sich wie die Zeiten.

»Endlich und schließlich Frage Numero drei –« fuhr Herr Pugstyles mit Nachdruck fort. »Haben Sie nicht während der Wahl Ihren festen und unabänderlichen Entschluß zu erkennen gegeben, sich jedem Vorschlage zu widersetzen, bei jeder Frage Abstimmung zu verlangen, über jeden Gegenstand aktenmäßige Nachweisung zu fordern, jeden Tag einen Antrag zu stellen und – um mich kürzlich Ihrer eigenen denkwürdigen Worte zu bedienen – aller Welt den Teufel im Glas zu zeigen?«

Mit dieser inhaltsschweren Frage faltete Herr Pugstyles sein Papier zusammen, und seine Hintermänner taten dasselbe.

Herr Gregsbury überlegte, schneuzte sich, lehnte sich in seinem Stuhl zurück, beugte sich dann wieder vorwärts, stützte seine Ellenbogen auf den Tisch, machte mit seinen zwei Daumen und seinen zwei Zeigefingern ein Dreieck, schlug sich mit der Spitze desselben auf die Nase und entgegnete lächelnd:

»Ich stelle alles in Abrede.«

Bei dieser unverhofften Antwort erhob sich unter der Abordnung ein unwilliges Murren, und derselbe Herr, der schon früher seine Ansicht über die windartige Beschaffenheit der Begrüßungsanrede zum besten gegeben hatte, ließ abermals eine einsilbige Demonstration laut werden, indem er das Wort »Verzichtleistung« brummte, das durch die Art und Weise, wie seine Gefährten darin einstimmten, in der Tat zu einer ernsten und allgemeinen Unwillensäußerung anschwoll.

»Ich bin beauftragt, Sir«, sagte Herr Pugstyles mit einer nachlässigen Verbeugung, »Ihnen zu erklären, daß eine große Mehrzahl Ihrer Wähler wünscht, Sie möchten die Güte haben, auf Ihren Sitz zugunsten eines Bewerbers zu verzichten, dem man besser vertrauen zu dürfen glaubt.«

Herr Gregsbury las nun die folgende Antwort ab, die er in dem Vorgefühl einer solchen Aufforderung in der Form eines Briefes abgefaßt hatte, um Abschriften davon an die Redaktionen der Tagesblätter senden zu können:

»Mein lieber Pugstyles!

Nächst der Wohlfahrt unserer geliebten Insel – dieses großen, freien und glücklichen Landes, dessen Kräfte und Hilfsquellen nach meiner innigsten Überzeugung grenzenlos sind – schlage ich die edle Unabhängkeit, deren sich ein Engländer mit hohem Stolze rühmen kann, und die ich meinen Kindern unbefleckt und unbesudelt hinterlassen möchte, am höchsten an. Durch keine persönlichen Triebfedern geleitet, sondern einzig und allein veranlaßt durch hohe und wichtige konstitutionelle Rücksichten, die ich nicht auseinanderzusetzen versuchen will, da sie in der Tat die Fassungskraft von Personen übersteigen, die sich nicht wie ich die Politik durch ein verwickeltes und mühsames Studium zu eigen gemacht haben – halte ich es für geeignet, meinen Sitz zu behaupten, und habe auch die Absicht, dieses wirklich zu tun.

Haben Sie die Güte, der Wahlkorporation meine Empfehlung mitzuteilen und ihr diese meine Entschließung kundzutun.

Mit großer Hochachtung
Mein lieber Pugstyles
usw.«

»Sie wollen also unter keinen Umständen zurücktreten?« fragte der Sprecher.

Herr Gregsbury lächelte und schüttelte den Kopf.

»Dann guten Morgen, Sir«, sagte Pugstyles zornig.

»Gott geleite Sie«, entgegnete Herr Gregsbury.

Und die Abordnung stürmte unter Brummen und Schelten so schnell hinaus, wie es das enge Stiegenhaus nur gestatten mochte.

Als sich der letzte Mann entfernt hatte, rieb Herr Gregsbury seine Hände und kicherte, wie lustige Burschen es tun, wenn sie glauben, daß sie etwas ungewöhnlich Gutes gesagt oder ausgeführt hätten. Er war überhaupt so sehr von seiner Selbstzufriedenheit hingenommen, daß er unsern Nicolaus, der hinter einer Fenstergardine zurückgeblieben war, nicht gewahrte, bis dieser in der Besorgnis, irgendein Selbstgespräch, das für keine fremden Ohren bestimmt war, mit anhören zu müssen, zwei- oder dreimal hustete, um die Aufmerksamkeit des Parlamentsmitglieds auf sich zu ziehen.

»Was ist das?« rief Herr Gregsbury mit scharfem Ton.

Nicolaus trat hervor und verbeugte sich.

»Was haben Sie hier zu schaffen, Sir?« fragte Herr Gregsbury. »Ein Spion in meinem Privatzimmer! ein versteckter Wähler! Sie haben meine Antwort vernommen, Sir; ich muß daher bitten, daß Sie der Abordnung folgen.«

»Wenn ich zu ihr gehörte, so würde es bereits geschehen sein«, entgegnete Nicolaus: »das ist jedoch nicht der Fall.«

»Aber was wollen Sie denn hier, Sir?« war natürlich die nächste Frage des Herrn Gregsbury, Parlamentsmitglied. »Und wo zum Teufel kommen Sie her, Sir?« lautete die zweite.

»Ich erhielt diese Karte von der Generalagentur, Sir«, antwortete Nicolaus, »und möchte mich Ihnen als Sekretär anbieten, da Sie dem Vernehmen nach eines solchen bedürfen.«

»Das wäre alles, weshalb Sie hergekommen sind?« fragte Herr Gregsbury, den Bittsteller mit bedenklichen Blicken messend.

Nicolaus bejahte diese Frage.

»Sie stehen in keiner Verbindung mit irgendeinem dieser schuftigen Zeitungsblätter?« fuhr Herr Gregsbury fort. »Sie haben sich nicht in das Zimmer geschlichen, um zu behorchen, was vorgeht, und es nachher drucken zu lassen – he?«

»Es tut mir leid, sagen zu müssen, daß ich vorderhand mit gar nichts in Verbindung stehe«, entgegnete Nicolaus zwar höflich, aber unbefangen.

»Ach, so«, erwiderte Herr Gregsbury. »Wie fanden Sie aber Ihren Weg hier herauf?«

Nicolaus erzählte, wie er durch die Abordnung herauf gedrängt worden.

»So ging es also zu?« versetzte Herr Gregsbury. »Nehmen Sie Platz.«

Nicolaus nahm einen Stuhl, und Herr Gregsbury betrachtete ihn eine Weile mit festen Blicken, als ob er sich vorher überzeugen wolle, daß in seinem Äußeren nichts Verdächtiges liege, ehe er weitere Fragen stellte.

»Sie möchten also mein Sekretär werden?« begann er endlich.

»Ja«, antwortete Nicolaus.

»Schön«, versetzte Herr Gregsbury, »aber was können Sie leisten?«

»Ich denke«, entgegnete Nicolaus lächelnd, »daß ich das, was gewöhnlich Sekretären anheimfällt, zu versehen imstande bin.«

»Und das wäre?« fragte Herr Gregsbury.

»Wie?« erwiderte Nicolaus.

»Ja, ja, worin besteht dies?« sagte das Parlamentsmitglied, indem es den Bittsteller, das Haupt auf eine Seite geneigt, mit schlauen Blicken ansah.

»Die Obliegenheiten eines Sekretärs sind vielleicht etwas schwer abzugrenzen«, sagte Nicolaus nach einigem Besinnen. »Sie umfassen, wie ich mir denke, die Korrespondenz.«

»Gut«, fiel Herr Gregsbury ein.

»Das Ordnen von Papieren und Dokumenten.«

»Sehr gut.«

»Hin und wieder vielleicht ein Niederschreiben dessen, was Sie diktieren, und wahrscheinlich –« sagte Nicolaus mit einem halben Lächeln – »das Abschreiben einer Rede für irgendein öffentliches Journal, wenn Sie eine solche von mehr als gewöhnlicher Wichtigkeit gehalten haben.«

»Gewiß«, versetzte Herr Gregsbury. »Was sonst noch?«

»In der Tat«, entgegnete Nicolaus nach einem kurzen Nachdenken, »ich bin im Augenblick nicht imstande, noch eine weitere Aufgabe eines Sekretärs namhaft zu machen, es müßte denn die allgemeine sein, sich seinem Prinzipal so viel wie möglich angenehm und nützlich zu machen, ohne dabei der eigenen Ehre etwas zu vergeben und ohne die Grenze der Verpflichtungen zu überschreiten, die nach allgemeinen Begriffen schon durch den Titel seines Amtes angedeutet sind.«

Herr Gregsbury faßte Nicolaus eine Weile fest ins Auge, ließ dann den Blick schlau durch das Zimmer schießen und sagte mit unterdrückter Stimme:

»Das ist alles ganz recht, Herr – wie ist Ihr Name?«

»Nickleby.«

»Das ist alles ganz recht, Herr Nickleby, und vollkommen in der Ordnung, soweit wie es geht – ja, soweit wie es geht: aber es geht nicht weit genug. Es gibt auch noch andere Verpflichtungen, Herr Nickleby, die der Sekretär eines Mannes, der im Parlament sitzt, nicht aus den Augen verlieren darf. Ich müßte die Forderung an ihn stellen, von ihm gedeckt zu werden, Sir.«

»Entschuldigen Sie –« fiel Nicolaus ein, zweifelhaft, ob er recht gehört habe oder nicht.

»Gedeckt zu werden, Sir«, wiederholte das Parlamentsmitglied.

»Ich muß nochmals um Entschuldigung bitten – darf ich fragen, was Sie unter diesem Ausdruck verstehen?« fragte Nicolaus.

»Der Sinn desselben ist deutlich genug, Sir«, versetzte Herr Gregsbury mit einer feierlichen Miene. »Mein Sekretär müßte sich vollständig mit der auswärtigen Politik, soweit sie sich in den Zeitungen abspiegelt, vertraut machen; er müßte alle Berichte über öffentliche Versammlungen wie auch die Hauptartikel, die in denselben zur Sprache kommen, überlesen und müßte sich alles aufzeichnen, was ihm geeignet dünkt, als ein Schlageffekt in irgendeiner kleinen Rede bei Behandlung einer oder der anderen Frage der Tagesordnung angebracht werden zu können. Verstehen Sie mich?«

»Ich denke, Sir«, versetzte Nicolaus.

»Dann«, fuhr Herr Gregsbury fort, »würde es für ihn nötig sein, mit den Tagesbegebenheiten, die in den Zeitungen besprochen werden, stets auf dem laufenden zu bleiben und Artikel, wie: ›Geheimnisvolles Verschwinden und mutmaßlicher Selbstmord eines Bierausträgers‹ und dergleichen, woran sich eine Frage an den Staatssekretär des Ministeriums für das Innere knüpfen ließe, nicht zu übersehen. Er hätte dann die Anfrage und das, was mir von der Antwort noch im Gedächtnis wäre, nebst Beifügung eines kleinen Kompliments über meine Unabhängigkeit und Einsicht aufzuschreiben und das Manuskript an irgendein Lokalblatt zu senden, könnte es allenfalls auch mit einem halben Dutzend Zeilen bevorworten und darin andeuten, daß ich im Parlament stets auf meinem Platz befunden würde, mich nie der Ausübung meiner schweren und wichtigen Pflichten entzöge usw. – Begreifen Sie?«

Nicolaus verbeugte sich.

»Außerdem würde ich von ihm erwarten, daß er hin und wieder auch einen Blick in die gedruckten statistischen Tabellen werfe und einige Resultate herauslese, die mir z.B. bei der Holzzollfrage und ähnlichen finanziellen Verhandlungen einen Namen machen könnten. Auch wäre es mir angenehm, wenn er einige kleine Belege für die unheilvollen Wirkungen einer Wiedereinführung der Zahlungen in gemünztem Geld und des Metallumlaufs, nebst gelegentlichen Andeutungen über die Ausfuhr von Gold- und Silberbarren, den Kaiser von Rußland, Banknoten und derartige Dinge sammelte, womit man’s jedoch nicht besonders gründlich zu nehmen braucht, da es doch niemand versteht. Ist Ihnen das klar?«

»Ich glaube. Sie zu verstehen«, sagte Nicolaus.

»Bei Fragen von nicht politischem Charakter«, verfolgte Herr Gregsbury, immer wärmer werdend, seine Rede, »und bei solchen, um die man sich nicht besonders zu kümmern nötig hat, es sei denn, daß man gebührende Sorge dafür tragen müßte, es denen, die unter uns stehen, nicht allzuwohl werden zu lassen (denn wo wären sonst unsere Privilegien?) – bei solchen Fragen würde ich es gerne sehen, wenn mein Sekretär einige kleine, begeisterte, patriotische Reden ausarbeitete. Wenn zum Beispiel irgendeine widersinnige Bill vorgebracht würde, um armen Teufeln von Schriftstellern ein Recht an ihr literarisches Eigentum zu sichern, so würde ich etwa sagen, daß ich für meine Person nie meine Zustimmung geben könne, wenn es gälte, der Verbreitung des Wissens unter dem Volke ein unübersteigliches Hindernis in den Weg zu legen (verstehen Sie mich?); daß das, was durch Geld geschaffen wird, soferne Geld für jedermann erreichbar ist, recht wohl einem Menschen oder einer Familie angehören könne; daß aber die Schöpfungen des Geistes, der ein Geschenk von oben ist, begreiflicherweise das Eigentum des Volkes im allgemeinen sein müßten. Wenn ich heiter gestimmt wäre, so würde ich einen Scherz über die Nachwelt beifügen und sagen, daß die, die für die Nachwelt schrieben, sich damit begnügen sollten, durch den Beifall der Nachwelt belohnt zu werden. So etwas würde das Haus belustigen und könnte mir nie schaden, da ich von der Nachwelt nicht erwarten kann, daß sie von mir oder meinem Spaß Notiz nimmt. Leuchtet Ihnen das ein?«

»Vollkommen«, versetzte Nicolaus.

»Sie müssen in derartigen Fällen, wobei wir nicht persönlich beteiligt sind, vorzugsweise Ihr Augenmerk darauf richten, das Volk aufs kräftigste in den Vordergrund zu stellen, weil es uns zur Zeit der Wahl gar gut zustatten kommt«, sagte Herr Gregsbury, »während Sie sich über die Schriftsteller so lustig machen können, wie Ihnen beliebt; denn ich glaube, der größte Teil derselben wohnt zur Miete und hat kein Stimmrecht. Das wäre ein flüchtiger Umriß Ihrer Hauptobliegenheiten, zu denen noch kommt, daß Sie jeden Abend in dem Vorsaale zu warten hätten, für den Fall, daß ich etwas vergessen hätte und einer frischen Deckung bedürfte. Hin und wieder bei wichtigen Debatten setzen Sie sich in die vordere Reihe der Galerie und sagen zu Ihren Nachbarn: ›Sehen Sie jenen Herrn mit der Hand an der Stirn und dem Arm um den Pfeiler – das ist Herr Gregsbury, der berühmte Herr Gregsbury‹ – nebst irgendeinem andern kleinen Lobspruch, wie ihn eben der Augenblick eingibt. Was das Gehalt anbelangt«, fuhr Herr Gregsbury rasch zum Schlusse eilend fort, da er ganz außer Atem gekommen war – »was endlich das Gehalt anbelangt, so will ich, um Sie völlig zufriedenzustellen, eine runde Summe nicht ansehen und Ihnen, wenn Sie mir zusagen – obgleich es mehr ist, als ich gewöhnlich zu geben pflege – fünfzehn Schillinge wöchentlich auswerfen, wobei Sie sich jedoch selbst zu verköstigen haben.«

Bei diesem schönen Anerbieten lehnte sich Herr Gregsbury mehr als einmal in seinem Stuhle zurück und gab sich ganz die Miene eines Mannes, der zwar verschwenderisch freigebig gewesen, aber trotzdem fest entschlossen ist, seine Großmut nicht zu bereuen.

»Fünfzehn Schillinge wöchentlich sind nicht viel«, sagte Nicolaus schüchtern.

»Nicht viel! Fünfzehn Schillinge wöchentlich nicht viel, junger Mann?« rief Herr Gregsbury. »Fünfzehn Schillinge wöch –«

»Ich bitte, glauben Sie nicht, daß ich mich über die Summe beschwere«, fiel Nicolaus ein, »denn ich schäme mich nicht, zu bekennen, daß sie, wie gering sie auch sein mag, für mich immer noch bedeutend ist. Aber die Pflichten und Verantwortlichkeiten machen die Belohnung zu einer geringen, und diese sind in der Tat so schwer, daß ich mich scheue, sie zu übernehmen.«

»Sie wollen also die Stelle nicht annehmen, Sir?« fragte Herr Gregsbury, mit der Hand an der Klingelschnur.

»Ich fürchte, ich bin ihr nicht gewachsen, wie gut auch der Wille sein mag«, entgegnete Nicolaus.

»Das will also so viel besagen, daß Sie den Posten nicht übernehmen und daß Sie fünfzehn Schillinge wöchentlich für zu wenig halten«, sagte Herr Gregsbury klingelnd. »Sie lehnen ihn also wirklich ab, Sir?«

»Ich habe keine andere Wahl«, versetzte Nicolaus.

»Die Tür, Matthäus!« rief Herr Gregsbury, als der Bediente erschien.

»Es tut mir leid, Sie unnötig belästigt zu haben, Sir«, sagte Nicolaus.

»Mir gleichfalls«, entgegnete Herr Gregsbury, Nicolaus den Rücken kehrend. »Die Tür, Matthäus!«

»Guten Morgen«, sagte Nicolaus.

»Die Tür, Matthäus!« rief Herr Gregsbury.

Der Diener winkte Nicolaus, taumelte träge die Stiege hinunter voraus, öffnete die Tür und führte ihn auf die Straße. Mit trauriger, nachdenklicher Miene trat er seinen Heimweg an.

Smike hatte von den Überresten des gestrigen Abendessens eine Mahlzeit zusammengescharrt und harrte ängstlich seiner Rückkehr. Die Ereignisse des Morgens waren nicht geeignet, Nicolaus‘ Appetit zu vermehren, und so blieb denn das Mittagsmahl von seiner Seite unangetastet. Er saß in nachdenklicher Stellung da und hatte den Teller, den der arme Junge emsig mit den auserlesensten Bissen gefüllt hatte, unberührt vor sich stehen, als Newman Noggs in das Zimmer sah.

»Wieder zurück?« fragte Newman.

»Ja«, antwortete Nicolaus, »aber todmüde, und was noch das schlimmste ist, ich hätte hinsichtlich des Erfolges meines Ausgangs ebensogut zu Hause bleiben können.«

»Sie konnten nicht erwarten, an einem Morgen viel auszurichten«, sagte Newman.

»Kann sein, aber ich bin etwas temperamentvoll und hoffte«, sagte Nicolaus. »Ich bin jedoch jetzt in demselben Maße enttäuscht.«

Er erzählte nun Newman den Verlauf seiner Bemühungen.

»Wenn ich etwas tun könnte«, fuhr Nicolaus fort, »nur etwas Weniges tun könnte, ehe Ralph Nickleby zurückkehrt, so würde ich ihm leichteren Herzens und in glücklicherer Stimmung entgegentreten. Der Himmel weiß, daß ich es nicht für eine Schande halte zu arbeiten, und es könnte mich wahnsinnig machen, daß ich untätig hier liegen soll wie ein halbgezähmtcs wildes Tier.«

»Ich weiß nicht«, sagte Newman; »etwas Geringes wäre zur Hand – es würde wenigstens die Hausmiete bezahlen und noch etwas mehr; aber es wird Ihnen nicht anstehen – nein, es läßt sich kaum erwarten, daß Sie darauf eingehen – nein, nein.«

»Auf was sollte ich nicht eingehen?« fragte Nicolaus, die Augen erhebend. »Zeigen Sie mir in dieser weiten Öde von London ein ehrliches Mittel, durch das ich nur die wöchentliche Miete dieses armseligen Zimmers aufbringen könnte, und geben Sie acht, ob ich davor zurückschrecke. Eingehen? Ich habe schon zu viel eingegangen, mein Freund, um jetzt besonders eigen zu sein oder dem Stolz Raum zu geben. Ich rede natürlich nur von Dingen«, fügte Nicolaus nach einem kurzen Schweigen hastig bei, »die auf ehrlichen Wegen ausgeführt werden können und sich mit der Selbstachtung vertragen; denn es ist keine große Wahl zwischen dem Gehilfen eines viehischen Schulmeisters und der Kreatur eines gemeinen und unwissenden Pilzes, mag er nun Parlamentsmitglied sein oder nicht.«

»Ich getraue mich kaum, Ihnen mitzuteilen, was ich diesen Morgen gehört habe«, versetzte Newman.

»Steht es in Verbindung mit dem, was Sie vorhin andeuteten?« fragte Nicolaus.

»Ja.«

»Nun so rücken Sie ins Himmels Namen damit heraus, mein Freund«, entgegnete Nicolaus. »Bedenken Sie um Gottes willen meine klägliche Lage und lassen Sie mich wenigstens Ihre Meinung hören; ich will Ihnen ja gerne versprechen, keinen Schritt zu tun, ohne mich mit Ihnen beraten zu haben.«

Newman ließ sich durch diese dringende Bitte erweichen und stotterte eine Masse der unverständlichsten und verwirrtesten Sätze hervor, deren Gesamtinhalt darin bestand, daß Madame Kenwigs ihn ein langes und breites über den Ursprung seiner Bekanntschaft mit Nicolaus und über dessen Leben, Schicksale und Familie ausgefragt hätte; er (Newman) sei zwar diesen Fragen solange als möglich ausgewichen, zuletzt aber so in die Enge getrieben worden, daß er endlich zugestanden hätte, Nicolaus wäre ein Lehrer von trefflichen Talenten, gegenwärtig freilich in einige mißliche Verhältnisse verwickelt, deren Natur er nicht weiter auseinandersetzen dürfe, und hieße Johnson. Madame Kenwigs hätte hierauf, von Dankbarkeit, Ehrgeiz, mütterlichem Stolz oder mütterlicher Liebe, vielleicht auch von allen diesen vier mächtigen Beweggründen geleitet – mit Herrn Kenwigs geheime Rücksprache genommen und wäre endlich mit dem Vorschlage zurückgekehrt, daß Herr Johnson die vier kleinen Kenwigschen in der französischen Sprache, wie sie von den geborenen Franzosen gesprochen würde, gegen ein wöchentliches Honorar von fünf Schilling landläufiger Münze unterrichten möchte, wobei sie wöchentlich einen Schilling für jede ihrer Töchter und auch noch außerdem einen Schilling für den Knaben in der Wiege bis zu der Zeit berechnet hätte, wann dieser an den Unterrichtsstunden teilzunehmen imstande wäre. Dies könne jedoch, wie Madame Kenwigs meinte, unmöglich lange anstehen, da es ihrer Ansicht nach auf der ganzen Welt keine klügeren Kinder als die ihrigen gäbe.

»Sie haben hier den ganzen Antrag«, schloß Newman. »Er ist zwar, wie ich wohl weiß, unter Ihrer Würde, aber ich dachte, er könnte vielleicht –«

»Vielleicht?« rief Nicolaus mit großer Lebhaftigkeit aus; »nein, nein, er kommt mir vollkommen gelegen. Sie können, lieber Freund, der würdigen Mutter ohne Verzug erklären, daß ich bereit bin, anzufangen, sobald es ihr beliebt.«

Newman eilte vergnügt hinunter, um Madame Kenwigs die Zustimmung seines Freundes mitzuteilen, und kehrte bald mit der Nachricht zurück, daß man sich glücklich schätzen werde, wenn er, sobald es ihm gelegen sei, einen Besuch in der ersten Etage machen wolle. Madame Kenwigs habe augenblicklich nach einer alten französischen Grammatik und nach französischen Gesprächen fortgeschickt, die schon lange Zeit auf einem Bücherkarren (Stück für Stück zu sechs Pence) herumgefahren wären; und die Familie, hochentzückt über die Aussicht, dem vornehmen Ton ihres Hauswesens einen neuen vornehmen Geleitton beizufügen, hege den lebhaften Wunsch, daß die erste Unterrichtsstunde sogleich gegeben würde.

Der Leser wird hieraus entnehmen, daß Nicolaus kein hochmütiger junger Mann im gewöhnlichen Sinne dieses Wortes war. Er mochte zwar eine Beleidigung, die ihm selbst widerfuhr, ahnden, oder ein Unrecht, das einen anderen bedrohte, so kühn und freimütig wie nur irgendein Ritter, der je eine Lanze brach, zu verhindern suchen. Aber es fehlte ihm an jenem hohen Maß von Besonnenheit und edler Selbstsucht, das unabänderlich zu dem Charakter der hochsinnigen Herren gehört. Wir für unsere Person sind freilich geneigt, solche Herren in Familien, die sich emporschwingen wollen, eher für eine Last zu betrachten, da wir zufälligerweise manche kennengelernt haben, die durch ihren hohen Sinn verhindert wurden, sich zu irgendeiner niedrigen Beschäftigung herabzulassen, und es vorzogen, denselben nur in der Kultivierung ihrer Schnurrbärte und in wilden Blicken zu zeigen. Obschon nun Schnurrbärte und ein wildes Aussehen in ihrer Art gar hübsche und ungemein empfehlenswerte Dinge sind, so müssen wir eben doch gestehen, daß wir diese lieber auf Kosten ihres Eigentümers als auf Unkosten der bescheiden gesinnten Leute gehegt zu sehen wünschen.

Da nun Nicolaus – nach der gewöhnlichen Ausdrucksweise – kein hochgesinnter junger Mann war und er es für eine größere Schmach hielt, zur Bestreitung seiner notwendigsten Bedürfnisse von Newman Noggs zu borgen, als die kleinen Kenwigschen für fünf Schillinge wöchentlich Französisch zu lehren, so nahm er das Anerbieten mit der bereits angedeuteten Bereitwilligkeit an und verfügte sich mit aller gebührenden Eile nach dem ersten Stock.

Hier wurde er von Madame Kenwigs mit einer vornehmen Miene, die den Lehrer des wohlwollenden Schutzes und Beistandes der Dame versichern sollte, empfangen. Auch fand er daselbst Herrn Lillyvick und Fräulein Petowker, die vier Fräulein Kenwigs auf ihrer Bank, des Unterrichts gewärtig, und den kleinen Herrn Kenwigs in einem mit einem tannenen Tischbrettchen versehenen Kindertragstuhl, wo er sich mit einem hölzernen Pferd ohne Kopf unterhielt. Das besagte Pferd bestand aus einem hölzernen Zylinder auf vier krummen Stäbchen, das auf eine sehr sinnreiche Weise mit Zinnober und Schuhwichse angestrichen war.

»Wie befinden Sie sich, Herr Johnson?« fragte Madame Kenwigs. »Onkel – Herr Johnson.«

»Wie geht es Ihnen, Sir?« fragte Herr Lillyvick in etwas barschem Tone, denn er hatte in der vorigen Nacht Nicolaus‘ Stand nicht gekannt, und allzugroße Höflichkeit gegen einen Hauslehrer wäre einem Steuereinnehmer nicht zu verzeihen gewesen.

»Wir haben Herrn Johnson als Hauslehrer für die Kinder angenommen, Onkel«, sagte Madame Kenwigs.

»Ich habe das eben von dir vernommen, meine Liebe«, versetzte Herr Lillyvick.

»Aber ich hoffe«, fuhr Frau Kenwigs, sich in die Brust werfend, fort, »daß sie dadurch nicht stolz werden, sondern ihrem guten Glück danken, das ihnen schon durch ihre Geburt eine bessere Stellung anweist als den Kindern gewöhnlicher Leute. Hörst du, Morlina?«

»Ja, Mama«, entgegnete Fräulein Kenwigs.

»Und wenn ihr auf die Straßen oder sonst wohin kommt, so verlange ich, daß ihr nicht gegen andere Kinder damit großtut«, sagte Frau Kenwigs. »Wenn ihr etwas darüber sprechen müßt, so sollt ihr nur sagen, wir haben einen Privatlehrer angenommen, der uns zu Hause Unterricht erteilt, aber wir sind nicht stolz darauf, denn Mama sagt, es wäre eine Sünde. Hörst du Morlina?«

»Ja, Mama«, antwortete Fräulein Kenwigs wieder.

»So vergiß es nicht und tu‘, wie ich dir sage«, sprach Frau Kenwigs. »Soll Herr Johnson anfangen, Onkel?«

»Ich bin bereit zuzuhören, wenn Herr Johnson anzufangen bereit ist, meine Liebe«, sagte der Steuereinnehmer mit einer Kennermiene. »Für was für eine Art von Sprache halten Sie das Französische, Sir?«

»Wie meinen Sie das?« fragte Nicolaus.

»Halten Sie es für eine gute Sprache, Sir?« fuhr der Steuereinnehmer fort – »für eine schöne Sprache, eine vernünftige Sprache?«

»Für eine schöne Sprache, gewiß«, versetzte Nicolaus; »und da sie für alles eine Bezeichnung hat und auch eine gewandte und zierliche Konversation zuläßt, so möchte ich sie auch eine verständige nennen.«

»Ich weiß nicht«, meinte Herr Lillyvick kopfschüttelnd. »Halten Sie das Französische auch für eine muntere Sprache?«

»Ganz gewiß«, entgegnete Nicolaus.

»Dann muß es sich seit meiner Zeit sehr geändert haben – ja, ja, recht sehr«, sagte der Steuereinnehmer.

»War es denn zu Ihrer Zeit eine traurige?« fragte Nicolaus, kaum imstande, ein Lächeln zu unterdrücken.

»Allerdings«, antwortete Herr Lillyvick mit einiger Heftigkeit. »Ich spreche von der Kriegszeit – von dem letzten Kriege. Es mag meinetwegen eine muntere Sprache sein, denn ich möchte niemandem gerne widersprechen, das aber kann ich behaupten – ich hörte die französischen Gefangenen, die sich doch als Eingeborene darauf verstehen müssen, in einer so traurigen Weise sprechen, daß es mir von dem Zuhören schon ganz elend wurde. Ja, ja, das ist mir fünfzigmal – wenigstens fünfzigmal vorgekommen, Sir.«

Herr Lillyvick war in seiner Ereiferung so unwillig geworden, daß es Madame Kenwigs für zweckmäßig erachtete, Nicolaus einen Wink zu geben, daß er nichts darauf erwidern möchte. Auch bedurfte es mancher Schmeichelworte von seiten Fräulein Petowkers, bis der vortreffliche alte Herr wieder ruhiger wurde und sich herabließ, das Schweigen durch die Frage zu unterbrechen:

»Wie heißt ›das Wasser‹ auf Französisch?«

»L’eau«, antwortete Nicolaus.

»Ah«, sagte Herr Lillyvick, den Kopf schüttelnd, »ich dachte mir so etwas. Lo – nicht wahr? Nein, ich halte nichts – nicht das mindeste auf diese Sprache.«

»Wollen wir die Kinder nicht anfangen lassen, Onkel?« fragte Madame Kenwigs.

»O ja, sie können anfangen, meine Liebe«, erwiderte der Steuereinnehmer unzufrieden. »Ich habe nicht die Absicht, ihnen etwas in den Weg zu legen.«

Auf diese Zustimmung setzten sich die vier Kenwigschen in eine Reihe, alle mit ihren Zöpfen nach einer Seite und Morlinchen obenan, während Nicolaus das Buch zur Hand nahm und die einleitenden Erklärungen begann. Fräulein Petowker und Madame Kenwigs sahen in bewunderndem Schweigen zu, das nur hin und wieder durch ein Flüstern der letztern unterbrochen wurde, die versicherte, Morlina werde in der kürzesten Zeit alles begriffen haben; und Herr Lillyvick betrachtete die Gruppe mit finsteren und achtsamen Blicken, der Gelegenheit harrend, die ihm zu einer neuen Erörterung über diese Sprache Anlaß geben könnte.

Siebzehntes Kapitel.


Siebzehntes Kapitel.

Käthchen Nicklebys weitere Schicksale.

Mit schwerem Herzen und vielen trüben Vorahnungen, die sie trotz aller Mühe nicht zu verbannen vermochte, verließ Käthchen Nickleby um dreiviertel auf acht Uhr des Morgens, der zu ihrem Eintritt in Madame Mantalinis Geschäft bestimmt war, die City und suchte allein mitten durch das Geräusch und die Geschäftigkeit der Straßen ihren Weg nach dem Westen Londons.

In dieser frühen Stunde sieht man viele dahinsiechende Mädchen durch die Straßen ihrem Geschäft nacheilen, das, wie das jenes armen Wurmes, darin besteht, mit unermüdlicher Emsigkeit den Schmuck zu schaffen, der die Üppigen und Gedankenlosen bedeckt. Auf diesem hastigen Gange nach dem Schauplatze ihrer täglichen Mühe fangen sie fast verstohlen den einzigen Atemzug gesunder Luft und den einzigen Sonnenblick auf, die ihr einförmiges Dasein während der langen Kette von Stunden, die einen Arbeitstag ausmachen, erheitern. Als sich Käthchen dem fashionableren Teil der Stadt näherte, bemerkte sie im Vorbeigehen manche Geschöpfe dieser Klasse, die, wie sie selbst, einer mühevollen Beschäftigung entgegeneilten, und erkannte aus ihrem ungesunden Aussehen und ihrem matten Gang nur zu deutlich, daß ihre Besorgnisse nicht ganz grundlos wären.

Sie langte bei Madame Mantalinis Hause einige Minuten vor der bestimmten Stunde an und ging einige Male, in der Hoffnung, ein anderes Frauenzimmer möchte kommen und ihr dadurch die Verlegenheit ersparen, ihr Anliegen dem Diener vortragen zu müssen, vor demselben auf und ab. Endlich aber wagte sie es, furchtsam an die Tür zu klopfen; sie wurde nach einigem Zögern durch den Diener geöffnet, der eben erst auf der Stiege sein gestreiftes Wams angezogen hatte und jetzt im Begriff war, eine Schürze vorzubinden.

»Ist Madame Mantalini zu Hause?« stotterte Käthchen.

»Sie geht zu dieser Stunde selten aus, mein Fräulein«, versetzte der Diener mit einem Ton, der das ›mein Fräulein‹ sogar noch beleidigender machte, als wenn er ›mein Schatz‹ gesagt hätte.

»Kann ich sie sprechen?« fragte Käthchen.

»Wie?« entgegnete der Mann, die Tür in der Hand haltend, indem er die Fragerin mit einem unverschämten Grinsen anstierte; »Es ist nicht daran zu denken.«

»Ich komme aber auf ihr eigenes Geheiß«, sagte Käthchen: »ich bin – ich soll – hier Beschäftigung finden.«

»Ah, da hätten Sie die Klingel für die Arbeiterinnen ziehen sollen«, versetzte der Diener, indem er den Griff derselben neben der Tür berührte. »Doch, wir wollen sehen – wenn ich nicht irre, Fräulein Nickleby?«

»Ja«, erwiderte Käthchen.

»Wollen Sie dann nur gefälligst die Stiege hinaufgehen«, sagte der Diener. »Madame Mantalini wünscht Sie zu sehen – hier hinauf – nehmen Sie die Sachen auf dem Boden in acht.«

Mit diesen Worten der Warnung, nicht über ein buntes Gewirre von Pastetenbrettern, Lampen, Flaschengestellen und umgeworfenen Stühlen, das alles in der Halle umherlag und auf ein Gelage der letzten Nacht hindeutete, zu stolpern, ging der Diener nach dem zweiten Stock voran und führte Käthchen in ein Hinterzimmer, das durch Flügeltüren mit dem Gemach, in dem sie die Modehändlerin zum erstenmal gesehen hatte, in Verbindung stand.

»Wenn Sie sich hier einen Augenblick gedulden wollen, so werde ich ihr sogleich Ihre Anwesenheit melden«, sagte der Diener.

Nach diesem mit der freundlichsten Miene gegebenen Versprechen entfernte er sich und ließ Käthchen allein.

Das Gemach enthielt nicht viel, woran man sich hätte unterhalten können. Das Hervorragendste war ein in Öl gemaltes Brustbild des Herrn Mantalini, den der Künstler dargestellt hatte, wie er sich ungezwungen am Kopf kratzte, um einen Diamantring, ein Geschenk der Madame Mantalini vor der Hochzeit, auf die vorteilhafteste Weise ins Auge fallen zu lassen. Im nächsten Zimmer hörte man jedoch einige Stimmen; und da die Unterhaltung ziemlich laut und die Wand dünn war, so entdeckte Käthchen im Augenblick, daß sie Herrn und Frau Mantalini gehörten.

»Wenn du so gehässig und abscheulich eifersüchtig sein willst, meine Seele, so wirst du dich selber sehr elend – schrecklich elend – verteufelt elend machen.«

Nach diesem ließ sich ein Ton vernehmen, als ob Herr Mantalini Kaffee schlürfe.

»Ach, ich bin schon elend«, erwiderte Madame Mantalini, augenscheinlich sehr übel gelaunt.

»Dann bist du eine undankbare, abscheuliche, verteufelt böse, kleine Zauberin«, entgegnete Herr Mantalini.

»Das bin ich nicht«, entgegnete Madame Mantalini schluchzend.

»Bringe dich nicht selbst in üble Laune«, sagte Herr Mantalini, ein Ei aufschlagend. »Du hast ein so schönes, bezauberndes, verteufeltes Gesichtchen, aber du solltest keinem Unmut darauf Raum geben, denn er beraubt es seiner Liebenswürdigkeit und macht es finster und widerwärtig, wie das eines schrecklichen, abscheulichen, verteufelten Kobolds.«

»Auf diese Weise wirst du mich nimmermehr beschwatzen«, versetzte Madame Mantalini schmollend.

»Je nun, so geht’s vielleicht auf eine lindere, oder meinetwegen auch auf gar keine«, entgegnete Herr Mantalini, mit dem Eilöffel nach seinem Munde fahrend.

»Diese leichten Reden –« sagte Frau Mantalini.

»Nicht so leicht, wenn man ein so verteufeltes Ei ißt«, erwiderte Herr Mantalini; »denn das Dotter läuft einem die Weste hinunter, und Eidotter paßt nicht gut mit einer Weste zusammen, es müßte denn eine verteufelte gelbe sein.«

»Du hast bei ihr die ganze Nacht den Schmetterling gemacht«, sprach Madame Mantalini, die augenscheinlich die Unterhaltung nach dem Punkte zurückzuführen wünschte, von dem sie abgeschweift war.

»Nein, nein, mein Leben.«

»Ja, sage ich«, versetzte Madame; »ich habe dich die ganze Zeit über im Auge gehabt.«

»Ach, dieses himmlische, allerliebste Auge – es war also die ganze Zeit auf mich gerichtet?« rief Mantalini in einer Art schläfrigen Entzückens: »ei der Teufel!«

»Und ich sage dir noch einmal«, nahm Madame wieder auf, »daß du mit niemandem als mit deiner Frau walzen sollst. Ich lasse mir’s nicht gefallen, Mantalini, und würde lieber Gift nehmen.«

»Ach was, sie wird kein Gift nehmen und schreckliche Schmerzen ausstehen«, sagte Mantalini, der, dem veränderten Ton seiner Stimme nach zu schließen, seinen Stuhl dem seiner Gattin genähert hatte, »sie wird kein Gift nehmen, weil sie einen verteufelt schönen Mann hat, der zwei Gräfinnen hätte heiraten können und eine Witwe –«

»Zwei Gräfinnen?« fiel Madame Mantalini ein: »du sagtest mir früher nur von einer.«

»Zwei«, beteuerte Mantalini, »zwei verteufelt schöne Damen, wirkliche Gräfinnen und unermeßlich reich, hol mich der Teufel.«

»Und warum tatest du’s nicht?« fragte Madame neckend.

»Warum ich’s nicht tat?« entgegnete ihr Gatte. »Hatte ich nicht in einem Morgenkonzert die verteufeltste kleine Zauberin aus der ganzen Welt gesehen? Und da diese kleine Zauberin gegenwärtig meine Frau ist, können da nicht alle Gräfinnen und Witwen in England zum –«

Herr Mantalini beendigte seinen Satz nicht, sondern gab Madame Mantalini einen sehr lauten Kuß, der von Madame Mantalini erwidert wurde; dann schienen noch mehrere Küsse von Zeit zu Zeit das Geschäft des Frühstücks zu unterbrechen.

»Und wie sieht es in der Kasse aus, du Juwel meines Daseins?« fragte Mantalini, als er mit diesen Liebkosungen zu Ende gekommen war. »Über wieviel können wir verfügen?«

»Nur über sehr wenig«, versetzte Madame.

»So müssen wir mehr beschaffen«, entgegnete Mantalini. »Der alte Nickleby muß uns wieder einen Vorschuß zahlen, daß wir uns durchschlagen können.«

»Du kannst aber doch im gegenwärtigen Augenblick nicht das Geld nötig haben?« fragte Madame einschmeichelnd.

»Mein Leben und meine Seele«, erwiderte ihr Gatte, »bei Scrubbs steht ein Pferd zum Verkauf, und es wäre Sünde und Schande, wenn man dieses hinausließe – man hat’s umsonst, Wonne meiner Augen.«

»Umsonst?« rief Madame. »Das freut mich.«

»Ein wahres Nichts«, versetzte Mantalini. »Für hundert Guineen kann man’s haben; Mähne, Hals, Schwanz, alles von der verteufeltsten Schönheit. Ich will darauf im Park gerade vor dem Wagen der verschmähten Gräfinnen herreiten. Die verteufelte alte Witwe wird vor Schmerz und Wut in Ohnmacht fallen, und die beiden anderen werden sagen: »Er ist verheiratet, er ist unsern Liebesnetzen entwischt – ein verteufeltes Ding, jetzt ist alles aus.« Sie werden sich gegenseitig teufelmäßig hassen und dich tot und begraben wünschen. Ha! ha! zum Teufel!«

Madame Mantalinis Klugheit, wenn sie überhaupt welche besaß, war nicht gegen diese Bilder ihres Triumphs gewaffnet. Sie klimperte ein wenig mit den Schlüsseln und erklärte, daß sie nachsehen wolle, was sich in ihrem Pult befände. Zu diesem Zweck öffnete sie die Flügeltür und trat in das Zimmer, wo Käthchen saß.

»Du lieber Himmel«, rief Madame Mantalini, überrascht zurückprallend: »wie kamen Sie hierher, mein Kind?«

»Kind?« rief Mantalini hereineilend. »Wie kam es – eh! oh – zum Teufel, wie geht es Ihnen?«

»Ich warte hier schon einige Zeit, Madame«, erklärte Käthchen gegen Madame Mantalini. »Vermutlich hat der Diener vergessen, Ihnen zu sagen, daß ich hier bin.«

»Du mußt wirklich diesem Burschen einmal etwas am Zeuge flicken«, sagte Madame zu ihrem Gatten.

»Ich will ihm seine verteufelte Nase aus dem Gesicht reißen, weil er so ein schönes Wesen hier ganz allein läßt«, sagte der Gatte.

»Mantalini«, rief Madame, »du vergissest dich.«

»Ich vergesse dich nicht, meine Seele, und kann und werde dich nie vergessen«, versetzte Mantalini, die Hand seiner Gattin küssend, indem er zugleich heimlich Fräulein Nickleby, die sich jedoch verächtlich abwandte, ein Gesicht zuschnitt.

Durch diese Schmeichelei beschwichtigt, nahm Madame Mantalini einige Papiere aus ihrem Schreibpult und händigte sie ihrem Gatten ein, der sie mit großem Vergnügen hinnahm. Sie forderte dann Käthchen auf, ihr zu folgen, und nach einigen vergeblichen Versuchen von seiten des Herrn Mantalini, die Aufmerksamkeit der jungen Dame auf sich zu ziehen, entfernten sie sich und ließen den würdigen Mann allein, der der vollen Länge nach auf dem Sofa ausgestreckt und die Füße nach oben gekehrt ein Zeitungsblatt in der Hand hielt.

Madame Mantalini führte Käthchen eine Stiegenflucht hinunter und über einen Gang nach einem großen Hinterzimmer, wo eine Anzahl junger Frauenzimmer mit Nähen, Zuschneiden, Ausputzen, Verändern und noch verschiedenen anderen Verrichtungen beschäftigt waren, die übrigens nur denen bekannt sind, die sich auf die Kunst des Putz- und Kleidermachens verstehen. Es war ein enges Zimmer, in das das Licht durch eine Öffnung in der Decke hereinfiel, und so düster und abgeschlossen, wie ein Zimmer nur sein kann.

Madame Mantalini rief laut nach Mamsell Knag, worauf sich sogleich ein kleines, geschäftiges, wichtigtuendes, überladen gekleidetes Frauenzimmer vorstellte, während alle anwesenden Mädchen einen Augenblick in ihren Beschäftigungen innehielten, sich gegenseitig kritische Bemerkungen über den Schnitt und Stoff von Käthchens Anzug zuflüsterten und auch ihr ganzes Äußere mit demselben guten Ton musterten, wie es die allerbeste Gesellschaft in einem gedrängt vollen Ballsaale tun würde.

»Mamsell Knag, das ist die junge Person, von der ich mit Ihnen gesprochen habe«, begann Madame Mantalini.

Mamsell Knag erwiderte diese Vorstellung durch ein achtungsvolles Lächeln, was sie gegen Käthchen gar geschickt in ein herablassendes umzuwandeln wußte, und erklärte dann, daß man zwar mit jungen Leuten, die an das Geschäft nicht gewöhnt wären, viele Mühe hätte; sie sei indes überzeugt, daß die junge Person ihr Bestes tun würde, wie sie denn in dieser Überzeugung bereits schon jetzt Interesse für Käthchen empfände.

»Ich denke, es wird vorderhand am besten sein, wenn Mamsell Nickleby mit Ihnen in das Ankleidezimmer geht und den Damen die Sachen anpassen hilft«, sagte Madame Mantalini. »Sie wird sich jetzt noch in keiner andern Weise nützlich machen können, und ihr Äußeres –«

»Paßt ganz zu dem meinigen, Madame Mantalini«, fiel Mamsell Knag ein. »Es ließ sich freilich erwarten, daß Ihnen dieser Punkt ins Auge fiel; denn Sie haben in allen derartigen Dingen so viel Geschmack, daß ich in der Tat den jungen Damen oft sage, ich könne gar nicht begreifen, wie, wann und wo es Ihnen nur möglich geworden sei, all das zu lernen, was Sie wissen. Hm – Mamsell Nickleby und ich sind ein ganz geeignetes Paar, Madame Mantalini, nur ist mein Teint ein wenig dunkler als der ihre, und – hm – ich glaube, mein Fuß wird ein wenig kleiner sein. Gewiß, Mamsell Nickleby wird mir nicht übelnehmen, daß ich so spreche, wenn sie hört, daß unsere Familie immer um ihrer kleinen Füße willen berühmt war, – seit – hm – seit, glaube ich, unsere Familie überhaupt Füße besaß. Ich hatte einmal einen Onkel, Madame Mantalini, der in Cheltenham wohnte und eine sehr ausgedehnte Tabaksfabrik besaß; – hm – dieser hatte so kleine Füße, nicht größer als die, die man gewöhnlich an hölzernen Beinen anbringt – Füße mit so schönem Ebenmaß, Madame Mantalini, wie Sie sich’s nur denken können.«

»Sie mögen wohl einige Ähnlichkeit mit den Klumpfüßen gehabt haben, Mamsell Knag«, sagte Madame.

»Ach, herrlich, herrlich, das sieht Ihnen ganz gleich«, entgegnete Mamsell Knag, »ha! ha! ha! Klumpfüße – in der Tat sehr gut! Wie oft äußerte ich gegen die jungen Damen, das muß ich gestehen, und ich kümmere mich nicht darum, wer es hört, ›von allem treffenden Witze‹ –hm – ›von dem ich je gehört habe‹, und ich habe viel gehört; denn als mein Bruder noch lebte (ich führte seine Wirtschaft, Mamsell Nickleby), hatten wir jede Woche zwei oder drei junge Männer beim Abendessen, die wegen ihres Witzes in hohem Ruf standen, Madame Mantalini – ›von allem treffenden Witz‹, sage ich den jungen Damen, ›von dem ich je gehört habe, ist der von Madame Mantalini der pikanteste‹ – hm! Er ist so edel, so sarkastisch und doch so gutmütig, daß es mir, wie ich erst diesen Morgen noch gegen Mamsell Simmonds behauptete, ein wahres Rätsel ist, wie, wann oder durch was für Mittel Sie dazu gekommen sind.«

Hier hielt Mamsell Knag inne, um Atem zu schöpfen, und während dieser Pause wollen wir bemerken, nicht daß sie wunderbar geschwätzig und wunderbar unterwürfig gegen Madame Mantalini war, – denn dies sind Tatsachen, die keines weiteren Kommentars bedürfen, – sondern daß es ihre Gewohnheit war, hin und wieder in den Strom ihrer Rede ein lautes, schrilles und helles ›Hm!‹ einzuflechten, dessen Sinn von ihren Bekannten auf eine verschiedene Weise gedeutet wurde. Einige hielten dafür, daß Mamsell Knag sich gern in Übertreibungen ergehe und diese kleine Silbe mit einlaufen lasse, wenn sie im Begriff sei, einen neuen in diese Klasse gehörenden Einfall in ihrem Gehirn auszuprägen, während andere der Ansicht waren, daß sie diese hinwerfe, um, wenn es ihr an einem Worte gebreche, Zeit zu gewinnen und doch dabei zu verhindern, daß ihr jemand in die Rede falle. Wir müssen ferner darauf aufmerksam machen, daß Mamsell Knag noch immer für jung gelten wollte, obgleich sie schon ziemlich hoch in Jahren stand, und daß man sie um ihrer Schwäche und Eitelkeit willen zu den Personen zählen konnte, die am besten durch den Ausdruck geschildert werden, man könne ihnen trauen, so weit man sie sehe, aber nicht weiter.

»Sie werden Sorge dafür tragen, daß Mamsell Nickleby ihre Stunden und das Weitere kennenlernt«, sagte Madame Mantalini, »ich überlasse sie daher jetzt Ihrer Obhut. Sie werden meine Anweisungen nicht vergessen, Mamsell Knag?«

Mamsell Knag entgegnete natürlich, daß es eine moralische Unmöglichkeit wäre, etwas zu vergessen, was Madame Mantalini befohlen hatte, worauf denn diese Dame nach einem allgemeinen guten Morgen gegen die Arbeiterinnen von dannen segelte.

»Eine bezaubernde Dame, – nicht wahr, Mamsell Nickleby?« fragte Mamsell Knag, sich die Hände reibend.

«Ich habe noch sehr wenig von ihr gesehen«, antwortete Käthchen, »und kann mir daher kaum ein Urteil erlauben.«

»Haben Sie schon Herrn Mantalini gesehen?« fragte Mamsell Knag.

»Ja, ich bin ihm schon zweimal begegnet.«

»Ist er nicht ein ganz charmanter Mann?«

»Er ist mir durchaus nicht so vorgekommen«, versetzte Käthchen.

»Nicht?« rief Mamsell Knag, ihre Hände zusammenschlagend. »Ei, barmherziger Himmel, wie sieht es mit Ihrem Geschmack aus! So ein schöner, schlanker, glänzender, vornehm aussehender Herr mit solchen Haaren, solchem Backenbart und – hm – nein, Sie setzen mich in Erstaunen!«

»Ich will wohl glauben, daß ich recht töricht bin, aber da meine Ansicht weder für ihn, noch für jemand anders einen besondern Wert hat, so bedaure ich nicht, sie gewonnen zu haben, wie ich auch nicht glaube, daß ich sie so schnell ändern werde.«

»Aber halten Sie ihn nicht für einen sehr hübschen Mann?« fragte eine der jungen Damen.

»Das mag wohl sein; jedenfalls maße ich mir nicht an, das Gegenteil zu behaupten«, antwortete Käthchen.

»Und hält sehr schöne Pferde – ist’s nicht so?« fragte eine andre.

»Ich will das nicht in Abrede ziehen, da ich sie nie gesehen habe«, antwortete Käthchen.

»Sie nie gesehen?« fiel Mamsell Knag ein. »O dann finde ich’s wohl begreiflich, denn wie könnten Sie ein richtiges Urteil über einen Herrn fällen – hm – wenn Sie ihn nicht gesehen haben, wie sich seine ganze Figur macht.«

Es lag so viel von der Welt – sogar von der kleinen Welt des Landmädchens – in diesem Einfall der alten Putzmacherin, daß Käthchen, die der Unterhaltung gerne eine andere Richtung gegeben hätte, sich keine weitere Bemerkung erlaubte und Mamsell Knag im vollen Besitze des Sieges ließ.

Nach einem kurzen Schweigen, währenddessen die Mädchen Käthchens Äußeres einer genaueren Beaugenscheinigung würdigten und ihre Ansichten darüber sich gegenseitig mitteilten, erbot sich eine davon, ihr das Halstuch abzunehmen, und fragte, als das Anerbieten angenommen wurde, ob sie sich in ihrer schwarzen Tracht nicht sehr unbehaglich fühle.

»Ach freilich«, versetzte Käthchen mit einem bittern Seufzer.

»So staubig und heiß«, bemerkte dieselbe Sprecherin, indem sie ihr das Kleid zurechtrückte.

Käthchen hätte sagen können, daß Schwarz die kälteste Tracht sei, die der Mensch anlegen kann, daß es nicht allein die Brust, die sie bedeckt, durcheist, sondern auch ihren Einfluß auf die Sommerfreunde ausdehnt, indem sie die Quellen ihres Wohlwollens und ihrer Teilnahme erstarren und die Knospen der Versprechungen, die sonst so reichlich wucherten, ersterben macht und nichts zurückläßt als nackte, kranke Herzen. Es gibt wenige, die, wenn sie einen Freund oder Verwandten verloren haben, an dem ihre einzige Lebenshoffnung hing, nicht den erkältenden Einfluß ihres schwarzen Gewandes bitter empfunden hätten. Auch auf Käthchen hatte er schwer gelastet, und da sie ihn auch in dem gegenwärtigen Augenblick fühlte, so konnte sie ihre Tränen nicht zurückhalten.

»Ach, es tut mir außerordentlich leid, Sie durch meine Unbedachtsamkeit verletzt zu haben«, sagte die Putzmachermamsell. »Sie trauern um irgendeinen nahen Verwandten?«

»Um meinen Vater«, antwortete Kätchen weinend.

»Um wen, Mamsell Simmonds?« fragte Mamsell Knags mit vernehmlicher Stimme.

»Um ihren Vater«, entgegnete die andere leise.

»Ihren Vater – wie?« fuhr Mamsell Knag in demselben Tone fort. »Ah, wahrscheinlich eine lange Krankheit, Mamsell Simmonds.«

»Pst – bitte«, erwiderte das Mädchen; »ich weiß es nicht.«

»Unser Unglück überfiel uns sehr unverhofft«, sagte Käthchen sich abwendend, »sonst wäre ich vielleicht zu einer Zeit, wie diese, imstande, es besser zu ertragen.«

Das Arbeiterinnenpersonal war, der unabänderlichen Gewohnheit zufolge, wenn irgendeine neue ›junge Person‹ ins Geschäft trat, nicht wenig neugierig gewesen, das Wer, Was und Warum von Käthchen zu erfahren. Aber obgleich das Äußere und die Gemütserregung des jungen Mädchens diesen Wunsch nur vermehren konnte, so reichte doch die Überzeugung, daß es sie schmerzen würde, wenn man sie darnach fragte, zu, diesen zu unterdrücken, weshalb denn auch Mamsell Knag den Versuch, weitere Kundschaft einzuziehen, vorderhand als hoffnungslos aufgab und – obgleich ungern – ihre Gehilfinnen an die Arbeit gehen ließ.

Die Mädchen arbeiteten in stummer Emsigkeit bis halb zwei Uhr fort, um welche Zeit eine gebratene Hammelkeule mit Kartoffeln in der Küche aufgetragen wurde. Als die Mahlzeit vorüber war und sich die jungen Damen der weiteren Erholung des Händewaschens erfreut hatten, ging es wieder ans Geschäft, das schweigend fortgesetzt wurde, bis der Lärm von Wagen, die durch die Straßen rasselten, und laute Doppelschläge an den Türen das Zeichen gaben, daß das Tagewerk der beglückteren Mitglieder der menschlichen Gesellschaft seinen Anfang nehme.

Einer dieser Doppelschläge an Madame Mantalinis Tür verkündigte die Equipage irgendeiner großen Dame – oder besser, einer reichen, denn hin und wieder ist ein gar mächtiger Abstand zwischen Reichtum und Größe – die mit ihrer Tochter gekommen war, um einige Gesellschaftskostüme, die schon seit langer Zeit in Arbeit waren, anzuprobieren. Käthchen wurde beauftragt, nebst Mamsell Knag – natürlich unter dem Vortritt der Madame Mantalini – die Dame zu empfangen.

Käthchens Rolle bei diesem Prunkaufzug war bescheiden genug, da sich ihre ganze Obliegenheit darauf beschränkte, einige Modekostümstücke zu halten, bis Mamsell Knag bereit war, sie anzuprobieren, und hin und wieder eine Schleife zu knüpfen oder eine Hafte einzuhaken. Man hätte daher glauben sollen, daß diese untergeordnete Stellung sie der Anmaßung oder den Ausbrüchen übler Laune hätte entheben können. Zufälligerweise war aber die reiche Dame und ihre reiche Tochter an diesem Tage gar nicht guter Stimmung, und so fiel auch für das arme Mädchen ihr Anteil an Scheltworten ab. Sie war tölpisch – ihre Hände kalt – schmutzig – rauh; – kurz, sie konnte nichts recht machen. Man wunderte sich, wie Madame Mantalini solche Leute um sich dulden könne, verlangte, wenn man das nächste Mal wieder herkäme, ein anderes junges Frauenzimmer zu sehen usw.

Ein so alltägliches Ereignis würde kaum der Erwähnung wert sein, wenn wir seiner nicht um der Folgen willen, die es auf das arme Mädchen hervorbrachte, erwähnen müßten. Als die Damen fort waren, vergoß Käthchcn bittere Tränen und fühlte zum ersten Male das Demütigende ihrer Stellung. Ihr Mut war zwar allerdings schon bei der Aussicht auf Dienstbarkeit und schwere Arbeit sehr zusammengesunken. Aber sie hatte nichts Herabwürdigendes in dem Gedanken, um Brot zu arbeiten, gefühlt, bis sie sich dem Übermut und dem rohesten Stolz ausgesetzt sah. Eine philosophische Weltanschauung würde sie zwar gelehrt haben, daß das Erniedrigende eines solchen Benehmens auf seiten derer sei, die so tief gesunken waren, um ohne alle Ursache ihrer Leidenschaftlichkeit die Zügel schießen zu lassen. Sie war jedoch zu jung, um hierin einen Trost zu finden, und ihr Ehrgefühl fühlte sich gekränkt. Hat nicht vielleicht die Klage, daß gewöhnliche Leute gern über ihren Stand hinauswollen, oft ihren Grund nur in dem Umstand, daß nicht gewöhnliche Leute unter den ihrigen heruntersinken?

Unter solchen Auftritten und Beschäftigungen rückte die Feierabendstunde heran, und Käthchen enteilte, ermattet und entmutigt von den Vorgängen des Tages, dem engen Raum des Arbeitszimmers, um ihrer Mutter an der Straßenecke zu begegnen und nach Haus zu gehen – ein schmerzlicher Abendgang, denn sie mußte ihre wahren Empfindungen verbergen und sich stellen, als teile sie alle die glutvollen Träume ihrer Begleiterin.

»Ach du meine Güte, Käthchen«, sagte Frau Nickleby, »ich habe den ganzen Tag darüber nachgedacht, was es für eine köstliche Sache sein würde, wenn Madame Mantalini mit dir in Kompanie träte – und wie leicht wäre dies nicht möglich? Die Schwägerin eines Vetters deines armen lieben Vaters – ein Fräulein Browndock – trat in Kompanie mit einer Dame, die ein Erziehungsinstitut in Hammersmith hatte, und machte in ganz kurzer Zeit ihr Glück. Ich weiß nicht mehr so genau, ob diese Miß Browndock dieselbe war, die zehntausend Pfund in der Lotterie gewann; aber ich glaube beinahe so; nein, ich kann mich jetzt wieder ganz genau entsinnen – ich weiß ganz bestimmt, daß sie es war. ›Mantalini und Nickleby‹, wie gut das klingen würde! Und wenn Nicolaus nur ein wenig Glück hat, so kann er noch als Doktor Nickleby, Vorstand der Westminsterschule, mit dir in derselben Straße wohnen.«

»Der liebe Nicolaus!« rief Käthchen, indem sie den Brief ihres Bruders, den er zuletzt von Dotheboys Hall geschrieben hatte, aus dem Strickbeutel nahm. »Wie glücklich können wir sogar in all unserem Mißgeschick sein, Mama, da wir hören, daß es ihm gut geht, und aus seinem Brief entnehmen, daß er heiter ist. Ach, wie tröstet es mich bei allem, was über uns verhängt sein mag, wenn ich denke, daß er vergnügt und glücklich ist.«

Armes Käthchen, sie dachte wenig daran, wie schwach dieser Trost war und wie bald sie enttäuscht werden sollte.

Achtzehntes Kapitel.


Achtzehntes Kapitel.

Mamsell Knag, nachdem sie drei ganze Tage in Käthchen Nickleby ganz vernarrt gewesen, nimmt sich vor, sie für immer zu hassen. Die Gründe, die Mamsell Knag zu diesem Entschluß veranlassen.

Es gibt so manches Leben, das eine Kette von Kummer, Not und Leiden ist und für niemanden als für den, der es hinschleppen muß, ein aufregendes Interesse hat, da selbst gefühlvolle Personen ihre Teilnahme gar gerne verzärteln und nur da Rücksichten nehmen, wo ihr Mitleid durch kräftige Reizmittel geweckt wird.

Die Jünger der Menschenliebe zählen nicht wenige, die, um zu handeln, einer nicht geringeren künstlichen Aufregung bedürfen als die, die den Lüsten fröhnen, für ihr Treiben nötig haben. Daher kommt es auch, daß ein krankhaftes Mitleid und Mitgefühl jeden Tag auf außer dem Wege liegende Gegenstände verschwendet wird, während doch sogar in der Gesichts- und Gehörweite der gedankenlosesten Person jeden Augenblick nur zu viele Anforderungen an die zweckmäßige Übung dieser Tugenden, sobald man sie richtig verstehen will, ergehen.

Kurz, die Menschenliebe bedarf ihrer Romantik, wie sie der Roman- oder Schauspieldichter haben muß. Ein Dieb im Zwillichkittel ist ein gemeiner Charakter, an den Leute von Bildung gar nicht denken mögen; aber kleidet ihn in grünen Samt, gebt ihm einen hohen Hut und verlegt den Schauplatz seiner Tätigkeit aus einer dichtbevölkerten Stadt auf einen Gebirgspfad, und ihr werdet in ihm den poetischsten Abenteurer finden, der sich nur denken läßt. Ebenso geht es mit dieser einen großen Kardinaltugend, die, zweckmäßig gehegt und gepflegt, zu allen übrigen führt, die sie nicht vorweg notwendig in sich begreift. Sie muß ihr romantisches Interesse haben, und je weniger sich diesem von dem wirklichen mühevollen Werktagsleben beimischt, desto besser.

Das Leben, zu dem das arme Käthchen Nickleby durch eine unvorgesehene Verkettung von Umständen, die bereits in dieser Erzählung dargelegt sind, gezwungen war, gehörte in der Tat zu den drückenden. Aber damit ihm die Eintönigkeit, der ungesunde Aufenthalt in einem kerkerähnlichen Gemach und die körperliche Anstrengung, die die Hauptsache bildete, die Teilnahme der großen Masse von mitleidigen und gefühlvollen Seelen nicht ganz und gar entziehen, wollen wir lieber Fräulein Nickleby selbst im Auge behalten, um nicht gleich im Anfang jene wohlwollenden Herzen durch eine ausführliche und gedehnte Schilderung von Madame Mantalinis Etablissement zu erkälten.

»In der Tat, Madame Mantalini«, sagte Mamsell Knags, als Käthchen am ersten Abend ihres Antritts ihren mühsamen Weg nach Hause angetreten hatte, »diese Mamsell Nickleby ist eine vorzügliche junge Person – in der Tat, eine ganz vorzügliche junge Person – hm – auf mein Wort, Madame Mantalini. Es gereicht Ihrem Urteil zu einer außerordentlichen Ehre, daß Sie ein so ausgezeichnetes, anständiges und – hm – so wenig anmaßendes junges Frauenzimmer aufgefunden haben, um beim Anprobieren zu helfen. Ich habe manches junge Frauenzimmer gesehen, das, wenn es Gelegenheit bekam, sich vor Vornehmeren zu zeigen, sich auf eine Weise benahm – ach du mein Himmel! – aber Sie treffen’s doch auch immer, Madame Mantalini – ja, jedesmal: und ich sage den jungen Frauenzimmern stets, daß ich es nicht begreifen kann, wie Sie es anfangen, um in allem das Richtige zu treffen, da doch andere Leute so oft einen falschen Weg einschlagen.«

»Ich habe aber nicht bemerkt, daß Mamsell Nickleby heute etwas Besonderes getan hätte; es müßte denn sein, daß sie einen meiner besten Kunden in üble Laune versetzt hat«, entgegnete Madame Mantalini.

»Du mein Gott«, sagte Mamsell Knag, »Sie wissen ja, daß man der Unerfahrenheit viel zugut halten muß.«

»Und der Jugend?« fragte Madame.

»O davon will ich gerade nicht reden, Madame Mantalini«, versetzte Mamsell Knag errötend. »Wenn Jugend ein Entschuldigungsgrund wäre, so würden Sie keine –«

»So gute Aufseherin haben, wie das wirklich der Fall ist, denke ich«, ergänzte Madame.

»Ach, ich habe nie jemanden wie Sie gekannt, Madame Mantalini«, erwiderte Mamsell Knag äußerst selbstgefällig. »Ja, das muß wahr sein; denn Sie wissen, was jemand sagen will, ehe man noch Zeit hat, es über die Lippen zu bringen. Ach, vortrefflich, ha! ha! ha!«

»Was mich betrifft«, bemerkte Madame Mantalini, indem sie mit erkünstelter Unbefangenheit ihre Gehilfin ansah, aber sich im Innern dabei halb totlachen wollte, »so betrachtete ich Mamsell Nickleby für das ungeschickteste Mädchen, das ich je in meinem Leben sah.«

»Das arme, gute Ding«, sagte Mamsell Knag: »sie ist nicht schuld daran, wenn dies der Fall wäre, so könnten wir hoffen, den Schaden zu heilen: aber da es ihr Unglück ist, Madame Mantlalini – ei, Sie wissen ja, was der Mann von dem blinden Pferde sagte – so müssen wir eben Nachsicht haben.«

»Ihr Onkel sagte mir, sie hätte für hübsch gegolten«, bemerkte Madame Mantalini: »mir scheint sie aber eines der gewöhnlichsten Mädchen, das mir je vorgekommen ist.«

»Gewöhnlich!« rief Mamsell Knag mit vor Wonne strahlendem Gesicht; »und ungeschickt! Nun, alles, was ich sagen kann, Madame Mantalini, ist dies, daß ich das arme Mädchen ungemein liebe. Und sähe sie auch zweimal so gewöhnlich aus, und wäre sie noch einmal ungeschickter, als sie ist, so würde ich nur um so mehr ihre Freundin sein – ja, ja, gewiß und wahrhaftig.«

Mamsell Knag hatte in der Tat schon eine kleine Zuneigung zu Käthchen Nickleby gefaßt, als sie Zeuge ihres mißlungenen ersten Auftretens am Morgen gewesen war, und die eben erwähnte kurze Unterhaltung mit ihrer Vorgesetzten gab ihrer guten Meinung von dem Mädchen die überraschendste Ausdehnung, was um so merkwürdiger war, da ihr bei der ersten Musterung von Käthchens Gesicht und Figur manche Ahnungen aufgestiegen waren, daß sie nicht am besten miteinander auskommen würden.

»Aber jetzt«, sagte Mamsell Knag, indem sie ihr Ebenbild in einem nahen Spiegel betrachtete, »jetzt liebe ich sie – ich liebe sie von ganzer Seele – und mache durchaus kein Hehl daraus.«

Diese edle Freundschaft war so uneigennützig und so erhaben über die kleinen Schwächen der Schmeichelei oder Mißgunst, daß die gutherzige Mamsell Knag des andern Tages Käthchen Nickleby unverhohlen erklärte: sie sehe wohl, Käthchen würde nie für das Geschäft passen; sie brauche sich aber deshalb nicht im mindesten zu grämen; denn sie (Mamsell Knag) wolle durch vermehrte Anstrengungen so viel wie möglich die Aufmerksamkeit von Mamsell Nickleby ablenken, wobei sie weiter nichts zu tun hätte, als sich ganz ruhig zu verhalten, wenn Leute da wären, indem dann ihre Ungeschicklichkeit weniger augenfällig würde. Diese letztere Ermutigung stand so sehr im Einklange mit den Gefühlen und Wünschen des schüchternen Mädchens, daß sie ohne Bedenken versprach, dem Rat der vortrefflichen alten Jungfer aufs genaueste nachzukommen, ohne auch nur einen Augenblick den Gründen, denen er entspringen mochte, nachsinnen zu wollen.

»Auf mein Wort, ich hege die wärmste Teilnahme für Sie, meine Liebe«, sagte Mamsell Knag, »gewiß – eine schwesterliche Teilnahme, so daß ich’s mir selber nicht zu erklären vermag.«

Es war allerdings etwas unerklärlich, daß, wenn Mamsell Knag in der Tat eine warme Teilnahme für Käthchen Nickleby fühlte, diese nicht vielmehr die einer Tante oder Großmutter war, da eine solche für die gegenseitigen Altersverhältnisse weit eher gepaßt hätte. Aber Mamsell Knag kleidete sich sehr jugendlich, und da mochten wohl auch ihre Gefühle von derselben Art sein.

»Mein Gott«, sagte Mamsell Knag, indem sie am Schlusse des zweiten Tages Käthchen einen Kuß gab: »wie entsetzlich ungeschickt sind Sie heute den ganzen Tag über gewesen!«

»Ich fürchte, Ihre wohlwollende und offene Mitteilung, die mich meiner Mängel nur noch schmerzlicher bewußt machte, hat nichts dazu beigetragen, sie zu verbessern«, seufzte Käthchen.

»Das hat sie freilich nicht getan«, versetzte Mamsell Knag in ganz ungewöhnlich guter Laune. »Aber wie viel besser ist’s, daß man es Ihnen gleich im Anfang sagte; denn Sie können jetzt mit mehr Ruhe Ihrem Ziele entgegeneilen. Welchen Weg nehmen Sie, meine Liebe?«

»Nach der City«, antwortete Käthchen.

»Nach der City?« rief Mamsell Knag, während sie sich mit großer Selbstgefälligkeit den Hut vor dem Spiegel zuknüpfte. »Du lieber Himmel, Sie wohnen wirklich in der City?«

»Ist es denn etwas so gar Ungewöhnliches, dort zu wohnen?« sagte Käthchen mit einem halben Lächeln.

»Ich hätte es nicht für möglich gehalten, daß ein junges Frauenzimmer, wie auch die Umstände sein mögen, nur drei Tage dort leben könnte«, erwiderte Mamsell Knag.

»Zurückgekommene – ich wollte sagen, arme Leute«, versetzte Käthchen, rasch sich selbst verbessernd, da sie nicht als stolz erscheinen mochte, »müssen leben, wo sie können.«

»Ach, sehr wahr, das müssen sie; es ist nichts Befremdliches darin«, entgegnete Mamsell Knag mit jener Art von halbem Seufzer, der in Verbindung von einigen nickenden Bewegungen des Kopfes gewöhnlich das Kleingeld des Mitleids vorstellt. »Ich sage das auch immer meinem Bruder, wenn unsere Dienstmädchen eins nach dem andern krank wieder entlassen werden müssen und er die Schuld auf die Hinterküche schiebt, weil sie zu feucht sei, um darin zu schlafen. Diese Art Leute, sage ich ihm, sind froh, wenn sie irgendwo schlafen können. Der Himmel bildet die Schultern nach der Bürde. Und ist’s nicht recht gut, daß es so ist?«

»O freilich«, erwiderte Käthchen, sich abwendend.

»Ich will Sie eine Strecke weit begleiten, meine Liebe«, sagte Mamsell Knag, »denn Sie kommen ziemlich nahe an unserem Hause vorbei, und da es schon ganz dunkel ist und unser letztes Mädchen vor einer Woche wegen einer Gesichtsrose ins Spital mußte, so freut es mich recht sehr, Sie zur Begleiterin zu haben.«

Käthchen hätte sich dieser schmeichelhaften Gesellschaft gerne entschlagen, aber Mamsell Knag nahm, nachdem sie sich den Hut zu ihrer völligen Zufriedenheit zurechtgesetzt hatte, ihren Arm mit einer Miene, die deutlich zeigte, wie hoch sie die Ehre, die sie erwies, anschlage, und so befanden sich beide auf der Straße, ehe Käthchen ein Wort sagen konnte.

»Ich fürchte«, stotterte Käthchen, »daß Mama – meine Mutter meine ich – auf mich wartet.«

»Sie brauchen sich dessen nicht im geringsten zu entschuldigen, meine Liebe«, sagte Mamsell Knag mit einem süßen Lächeln. »Ich bin überzeugt, daß sie eine achtbare alte Frau ist, und es wird mich sehr – hm – sehr freuen, sie kennenzulernen.«

Da die arme Frau Nickleby, am ganzen Leibe fröstelnd, an der Straßenecke stand, so hatte Käthchen keine andere Wahl, als sie der Mamsell Knag vorzustellen, die, die letzte in eigener Equipage vorgefahrene Kundin nachahmend, sich mit sehr herablassender Höflichkeit benahm. Alle drei gingen dann Arm in Arm weiter, Mamsell Knag, die ungemein herzlich und liebenswürdig war, in der Mitte.

»Sie können sich keinen Begriff davon machen, wie lieb ich Ihre Tochter habe«, sagte Mamsell Knag, als sie eine Weile in würdevollem Schweigen gegangen war.

»Es freut mich ungemein, das zu hören«, versetzte Frau Nickleby, »obgleich es gerade nichts Neues für mich ist, daß selbst landfremde Personen Käthchen liebgewinnen.«

»Hm!« räusperte sich Mamsell Knag.

»Sie werden sie übrigens noch mehr lieben, wenn Sie ihr gutes Herz kennengelernt haben«, fuhr Frau Nickleby fort. »Es wird mir zu einem großen Segen in meinem Unglück, daß ich ein Kind habe, das weder Stolz noch Eitelkeit kennt, obgleich es eine Erziehung genossen hat, die wohl ein bißchen von dem einen oder anderen entschuldigen könnte. Ach, Sie wissen nicht, was es heißt, einen Mann zu verlieren, Fräulein Knag.«

Da Mamsell Knag noch nicht einmal wußte, wie man einen Mann bekommt, so folgte daraus ganz natürlich, daß sie nicht wissen konnte, was es heißt, einen zu verlieren. Sie versetzte daher mit einiger Hast: »Nein, das weiß ich in der Tat nicht«, und sagte das mit einer Miene – die vielleicht andeuten sollte, daß sie bereit gewesen wäre, sich das Joch der heiligen Ehe auflegen zu lassen, meint vielleicht der Leser? – nein sie kannte etwas Besseres.

»Ich zweifle nicht, daß Käthchen sich schon in dieser kurzen Zeit ordentlich gemacht hat«, fuhr Madame Nickleby mit einem stolzen Blick auf ihre Tochter fort.

»Ah, natürlich«, versetzte Mamsell Knag.

»Und wird sich immer noch weiter vervollkommnen«, fügte Madame Nickleby bei.

»Ganz gewiß«, entgegnete Mamsell Knag, indem sie Käthchens Arm fester an den ihrigen drückte, um sie auf den köstlichen Spaß aufmerksam zu machen.

»Sie war immer, schon von Kindesbeinen an, sehr gelehrig«, sagte die arme Frau Nickleby mit leuchtenden Augen. »Ich erinnere mich noch, daß, als sie erst anderthalb Jahre alt war, ein Herr, der sehr viel in unser Haus kam – Herr Watkins – du kennst ihn noch, derselbe, für den dein armer Vater Bürgschaft leistete, und der dann heimlich nach den Vereinigten Staaten entwich und uns ein paar Schneeschuhe nebst einem so rührenden Brief schickte, daß dein armer seliger Vater eine ganze Woche lang darüber weinen mußte. – Du wirst dich des Briefes wohl noch entsinnen? Er sagte darin, daß es ihm sehr leid tue, die fünfzig Pfund vorderhand nicht zurückzahlen zu können, weil seine Kapitalien auf Zinsen angelegt wären. Er sei gegenwärtig ungemein tätig, um sein Glück zu machen, er hätte aber nicht vergessen, daß du sein Patchen wärest, und er würde es sehr übelnehmen, wenn wir dir nicht ein silbergefaßtes Korallenhalsband kauften und es auf seine alte Rechnung schrieben – wie, du erinnerst dich nicht mehr? Ach, wie dumm du doch bist! Und wie lobte er nicht den alten Portwein, von dem er jedesmal, sooft er kam, anderthalb Flaschen bei uns zu trinken pflegte! Ach, es muß dir einfallen, Käthchen?«

»Ja, ja, Mama, was ist es mit ihm?«

»Ei, dieser Herr Watkins, meine Liebe«, fuhr Madame Nickleby langsam fort, als fordere es nicht wenig Anstrengung, sich auf einen so besonders wichtigen Umstand zu besinnen: »dieser Herr Watkins – Sie müssen wissen, Fräulein Knag, daß er kein Verwandter des Watkins war, dem das Wirtshaus zum alten Eber im Dorf gehört; – doch ich weiß nicht mehr ganz genau, ob es der alte Eber oder Georg der Vierte ist – jedenfalls ist es eins von diesen beiden, und so kommt also nicht viel darauf an – dieser Herr Watkins sagte, als du erst anderthalb Jahre alt warst, du wärest ein solches Wunderkind, wie er nie eines in seinem Leben gesehen hätte. Ja, so sagte er, Fräulein Knag, obschon er sonst nichts weniger als ein Kinderfreund war und auch nicht den mindesten Grund haben konnte, so zu sprechen, wenn es nicht wahr gewesen wäre. Ich weiß ganz bestimmt, daß es Herr Watkins war, der dieses sagte; denn ich erinnere mich noch so gut, als ob es erst gestern gewesen wäre, daß er unmittelbar darauf zwanzig Pfund von meinem armen Manne borgte.«

Nachdem Madame Nickleby dieses außerordentliche und höchst uneigennützige Zeugnis für die Vorzüge ihrer Tochter angeführt hatte, hielt sie inne, um Atem zu schöpfen. Als aber nun Mamsell Knag bemerkte, daß die Unterhaltung auf Familiengröße ablenkte, so verlor sie keine Zeit, mit einer kleinen Erinnerung für ihre eigene Rechnung einzufallen.

»Sprechen Sie mir nicht vom Geldausborgen, Madame Nickleby«, sagte Mamsell Knag, »oder Sie treiben mich zur Verzweiflung – ja, vollkommen zur Verzweiflung. Meine Mama – hm – war das liebenswürdigste und schönste Wesen mit der auffallendsten und vollkommensten – hm – der allervollkommensten Nase, die man, glaube ich, je in einem menschlichen Gesicht gesehen hat, Madame Nickleby« – (Mamsell rieb sich hierbei sympathetisch ihre eigene Nase) – »die angenehmste und vollendetste Frau, die je lebte; aber sie hatte den einzigen Fehler, Geld auszuborgen, und ergab sich diesem in einer solchen Ausdehnung, daß sie – hm – o, tausende von Pfunden, all unser kleines Vermögen, und was noch mehr ist, Madame Nickleby, in einer Weise ausborgte, daß wir, wie ich glaube, nie etwas zurückerhalten werden, und wenn wir das Leben hätten, bis – bis – hm – bis zum jüngsten Tage.«

Als Mamsell Knag mit diesem Aufschwung ihrer Erfindungsgabe ohne Unterbrechung zu Ende gekommen war, erging sie sich in noch vielen andern ebenso ansprechenden wie wahren Rückblicken, deren Strom Madame Nickleby vergebens zu hemmen suchte, weshalb sich diese begnügen mußte, ihre eigenen Erinnerungen auf einer Nebenströmung mitsegeln zu lassen. So gingen denn die beiden Damen plaudernd und in vollkommener Zufriedenheit nebeneinander her. Der einzige Unterschied zwischen ihnen bestand darin, daß, wählend Mamsell Knag sich gewöhnlich an Käthchen wandte und ungemein laut sprach, Madame Nickleby in einem ununterbrochenen monotonen Fluß fortfuhr und vollkommen vergnügt war, daß sie nur sprechen konnte, ohne sich sonderlich darum zu kümmern, ob jemand zuhörte oder nicht.

So gingen sie aufs freundschaftlichste nebeneinander her, bis sie das Haus von Mamsell Knags Bruder erreichten, der mit buntem Papier handelte, in einem Nebengäßchen der St.-Giles-Straße eine Leihbibliothek hielt und auf Tage, Wochen, Monate oder das ganze Jahr die neuesten alten Romane auslieh, deren Titel auf einem großen Pappendeckel, der an dem Türpfosten hin und her baumelte, aufgezeichnet waren. Mamsell Knag befand sich in diesem Augenblick zufällig mitten in der Erzählung von dem zweiundzwanzigsten Heiratsantrag, den ihr ein sehr reicher Herr gemacht hatte, weshalb sie darauf bestand, daß ihre Begleiterinnen mit ihr zu Abend essen sollten, und so gingen sie miteinander ins Haus.

»Du brauchst nicht fortzulaufen, Mortimer«, sagte Mamsell Knag, als sie miteinander eintraten; »es ist nur eine von unsern jungen Mädchen und ihre Mutter, Madame und Mamsell Nickleby.«

»Ah – so«, entgegnete Herr Mortimer Knag.

Als Herr Knag diese Laute mit einer gar tiefsinnigen und gedankenvollen Miene ausgestoßen hatte, schneuzte er langsam die zwei Küchenlampen auf dem Ladentisch, dann zwei weitere an dem Fenster und endlich sich selbst, worauf er eine Dose aus seiner Westentasche hervorholte und eine Prise nahm.

Es lag etwas ungemein Ergreifendes in der gespenstigen Weise, in der das alles getan wurde; und da Herr Knag ein hoher, hagerer Herr mit ernsten Zügen war, eine Brille trug und weit weniger Haar hatte, als ein Mann um die Vierziger zu haben pflegt, so flüsterte Madame Nickleby ihrer Tochter zu, sie dächte, daß er ein Gelehrter sein müßte.

»Zehn vorbei«, sagte Herr Knag, seine Uhr zu Rat ziehend. »Thomas, schließe das Magazin.«

Thomas war ein Knabe, beinahe halb so groß wie ein Fensterladen, und das Magazin war ein Gelaß, ungefähr dreimal so groß als eine Mietkutsche.

»Ach«, sagte Herr Knag abermals mit einem tiefen Seufzer, indem er das Buch, in dem er gelesen hatte, wieder an seinen ursprünglicken Ort stellte. »Nun – ja – ich glaube, das Abendessen ist fertig, Schwester.«

Herr Knag nahm nun mit einem neuen Seufzer die Küchenlampen von dem Ladentisch und führte die Damen mit Trauerschritten nach einem Hinterzimmer, wo eine Taglöhnerin, die gegen einen Abzug von dem Lohn der kranken Magd im Betrage von täglich achtzehn Pence den Dienst derselben versah, das Abendessen auf den Tisch stellte.

»Frau Blockson«, sagte Mamsell Knag vorwurfsvoll, »wie oft habe ich Ihr gesagt, Sie solle nicht mit der Haube auf dem Kopf ins Zimmer kommen.«

»Ich kann Ihnen nicht helfen, Mamsell Knag«, entgegnete die Taglöhnerin schnippisch. »Man kann ohnehin in diesem Hause nicht fertig werden; und wenn Ihnen meine Haube nicht zusagt, so sehen Sie sich nur nach jemand anders um; ich bin für meine Mühe ohnehin nur halb bezahlt – ja, und ich müßte so reden, und wenn ich auch in der nächsten Minute gehenkt werden sollte.«

»Ich brauche Ihre Bemerkungen nicht«, sagte Mamsell Knag mit einem starken Nachdruck auf das ›Ihre‹. »Ist Feuer unten, um schnell heißes Wasser haben zu können?«

»Nein, es ist keins drunten, Mamsell«, entgegnete die provisorische Dienstmagd, »damit Sie nur gleich die Wahrheit wissen.«

»Warum nicht?« fragte Mamsell Knag.

»Weil man keine Kohlen herausgegeben hat. Wenn ich Kohlen machen könnte, so würde ich es tun. Da ich es aber nicht kann, so lasse ich’s bleiben und bin so keck, es dem Mamsellchen zu sagen.«

»Will Sie wohl das Maul halten, Weibsbild«, unterbrach Herr Mortimer Knag diesen Dialog etwas ungestüm.

»Mit Erlaubnis, Herr Knag«, erwiderte die Taglöhnerin, sich rasch umwendend, »ich bin froh, wenn ich in diesem Hause nicht sprechen muß, ausgenommen hier und da, wenn ich angeredet werde, Sir: und mit Respekt zu melden, wenn ich ein Weibsbild bin, Sir, so möchte ich doch wissen, was Sie eigentlich sind?«

»Ein elender Mensch!« rief Herr Knag, sich vor die Stirne schlagend – »ein elender Mensch!«

»Freut mich sehr, zu finden, daß Sie sich bei Ihrem rechten Namen nennen, Sir«, fuhr Frau Blockson fort, »und da ich erst vorgestern vor sieben Wochen Zwillinge gehabt habe und mein kleines Karlchcn am letzten Montag gefallen ist und sich den Ellenbogen verstaucht hat, so tun Sie mir den Gefallen und schicken Sie mir die neun Schillinge Wochenlohn ins Haus, ehe die Glocke morgen zehn schlägt.«

So sich verabschiedend, verließ die gute Frau mit sehr unbefangenem Wesen das Zimmer und ließ die Tür weit offen stehen, während Herr Knag in demselben Augenblick nach dem ›Magazin‹ stürzte und laut aufstöhnte.

»Ich bitte, was ist denn diesem Herrn?« fragte Madame Nickleby, nicht wenig durch diese Töne beunruhigt.

»Ist er krank?« fragte Käthchen erschrocken.

»Pst«, versetzte Mamsell Knag. »Es ist eine traurige Geschichte. Er war einmal ein glühender Anbeter von – hm – von Madame Mantalini.«

»Mein Gott!« rief Madame Nickleby.

»Ja«, fuhr Mamsell Knag fort: »sie begünstigte auch seine Bewerbung, und er hoffte zuversichtlich, sie zu heiraten. Er hat ein äußerst gefühlvolles Herz, Madame Nickleby, wie überhaupt – hm – wie überhaupt alle in unserer Familie, und das Fehlschlagen seiner Hoffnung war ein schrecklicher Schlag für ihn. Er ist ein Mann von höchst vortrefflichen – wunderbar vortrefflichen Eigenschaften – liest – hm – liest jeden neuen Roman, der herauskommt; ich meine jeden Roman, der – hm – der modern ist, natürlich. Die Sache ist so: er fand in den Büchern, die er las, so viel, was sich auf sein eigenes Unglück anwenden läßt, und fand in jeder Hinsicht eine so große Ähnlichkeit zwischen sich und den Helden derselben – begreiflich, weil er sich seiner eigenen Überlegenheit bewußt ist, wie dies natürlich bei uns allen sein muß –, daß er die Welt zu verachten anfing und ein Genie wurde. Ja, ich bin sogar überzeugt, daß er im gegenwärtigen Augenblick selbst ein Buch schreibt.«

»Ein Buch?« wiederholte Käthchen, als Mamsell Knag hier einen Augenblick innehielt, wodurch es möglich wurde, daß auch jemand anders ein Wörtchen anbringen konnte.

»Ja«, sagte Mamsell Knag mit triumphierendem Kopfnicken, »ein Buch in drei großen Oktavbänden. Natürlich ist es ein großer Vorteil für ihn, daß ihm bei allen seinen kleinen Schilderungen aus dem modernen Leben die Wohltat meiner – hm – meiner Erfahrung zustatten kommt, weil natürlich wenige Schriftsteller, die von derartigen Dingen schreiben, so gute Gelegenheit haben, es kennenzulernen als ich. Er hat sich so sehr in das vornehme und romantische Treiben vertieft, daß er bei der geringsten Andeutung auf Geschäfte oder Dinge aus der Wirklichkeit – wie es vorhin bei diesem Weibe der Fall war – ganz außer sich gerät. Ich glaube aber und habe es ihm oft gesagt, daß die Täuschung, die er erlitt, ein Ereignis von der höchsten Wichtigkeit für ihn ist: denn wäre sie nicht eingetreten, so hätte er nicht von geknickten Hoffnungen und dergleichen schreiben können. Auch bin ich überzeugt, daß sein Genie nicht zum Ausbruch gekommen wäre, wenn nicht alles gegangen wäre, wie es ging.«

Was die mitteilsame Mamsell Knag unter günstigeren Umständen eröffnet haben würde, läßt sich nicht erraten; da sich aber der Melancholikus in Hörweite befand und das Feuer angemacht werden mußte, so hatten ihre Enthüllungen hiermit ein Ende.

Da es ziemlich schwierig war, warmes Wasser zu erhalten, so mußte man fast auf die Vermutung kommen, daß die kranke Magd nicht sonderlich an ein anderes Feuer, als an das des St. Antonius gewöhnt war. Endlich brachte man aber doch etwas Branntwein und Wasser auf, und die Gäste nahmen, nachdem sie sich an kaltem Hammelbraten, Brot und Käse gelabt hatten, zeitigen Abschied. Käthchen unterhielt sich auf dem ganzen Heimweg mit der Erinnerung an ihren letzten Blick auf Herrn Mortimer Knag, der in tiefen Gedanken versunken in dem Laden saß; und Madame Nickleby überlegte in ihrem Innern, ob die Putzmacherfirma zuletzt wohl »Mantalini, Knag und Nickleby« oder »Mantalini, Nickleby und Knag« heißen würde.

Mamsell Knags Freundschaft hielt sich drei ganze Tage auf dieser Höhe, zur großen Verwunderung von Madame Mantalinis jungen Damen, die bei ihrer Direktrice nie vorher eine solche Beständigkeit gesehen hatten. Aber am vierten erhielt sie einen ebenso heftigen als plötzlichen Stoß, was folgendermaßen zuging:

Ein alter Lord von bedeutender Familie, der im Begriff war, eine junge Dame, die eigentlich aus gar keiner Familie stammte, zu ehelichen, kam mit dieser jungen Dame und der Schwester derselben in den Putzladen, um der Zeremonie des Anprobierens von zwei Hochzeitshüten, die tags zuvor bestellt worden waren, beizuwohnen. Madame Mantalini ließ die Kunde von diesem Besuch mittels eines schrillen Diskanttons durch das mit dem Arbeitszimmer in Verbindung stehende Sprachrohr an Mamsell Knag gelangen, die alsbald, mit einem Hut in jeder Hand, die Stiege hinaufstürzte und das Ankleidezimmer in einem bezaubernden Zustand von Atemlosigkeit betrat, der ihre eilige Hingabe an die Sache recht ins gehörige Licht stellen sollte. Die Hüte waren kaum aufgesetzt, als Mamsell Knag und Madame Mantalini in eine wahre Ekstase von Bewunderung verfielen.

»Es macht sich höchst elegant«, sagte Madame Mantalini.

»Ich habe in meinem Leben nie etwas so ausgesucht Geschmackvolles gesehen«, fügte Mamsell Knag bei.

Der alte Lord, der ein sehr alter Lord war, sagte nichts dazu, sondern murmelte und kicherte höchst vergnügt über die Brauthüte, über deren Trägerinnen und endlich über seine eigene Gewandtheit, die ihm eine so schöne Braut gewonnen hatte, vor sich hin. Die junge Dame aber, die eine sehr lebhafte Dame war, trieb den alten Herrn, als sie sein Entzücken bemerkte, hinter einen Toilettenspiegel und gab ihm hin und wieder einen Kuß, während Madame Mantalini und die andere junge Dame rücksichtsvoll in eine andere Richtung blickten.

Während dieses Zärtlichkeitsergusses trat jedoch Mamsell Knag, die einen guten Teil Neugierde besaß, ganz zufällig hinter den Spiegel und begegnete dem Auge der jungen Dame gerade in demselben Augenblick, als sie den alten Lord küßte, worauf die junge Dame übellaunig etwas von ›einer alten Jungfer‹ und ›großer Unverschämtheit‹ fallen ließ und mit verächtlichem Lächeln einen Blick des Unwillens nach Mamsell Knag schoß.

»Madame Mantalini«, sagte die junge Dame.

»Sie befehlen?« versetzte Madame Mantalini.

»Ich bitte, lassen Sie doch das artige junge Mädchen heraufkommen, das wir gestern sahen.«

»O ja, rufen Sie diese«, fügte die Schwester bei.

»Von allen Dingen auf der Welt, Madame Mantalini«, fügte die zukünftige gnädige Frau bei, indem sie sich nachlässig auf ein Sofa warf, »ist mir nichts mehr verhaßt, als von Vogelscheuchen oder alten Personen bedient zu werden. Ich bitte, lassen Sie mich, sooft ich komme, stets jenes junge Geschöpf sehen.«

»Allerdings«, fügte der alte Lord ein, »wir wollen von dem niedlichen Mädchen bedient sein.«

»Alle Welt spricht von ihr«, fuhr die junge Dame in derselben unbekümmerten Weise fort, »und mein Bräutigam, der ein großer Bewunderer von Schönheit ist, muß sie durchaus sehen.«

»Sie wird allgemein bewundert«, versetzte Madame Mantalini. »Mamsell Knag, senden Sie Mamsell Nickleby herauf: Sie brauchen nicht wiederzukommen.«

»Entschuldigen Sie, Madame Mantalini, was haben Sie zuletzt gesagt?« fragte Mamsell Knag zitternd.

»Sie brauchen nicht wiederzukommen«, wiederholte die Prinzipalin in scharfem Ton.

Mamsell Knag verschwand, ohne ein weiteres Wort zu sprechen, und wurde bald darauf durch Käthchen ersetzt, die den Damen die neuen Hüte abnahm und die alten wieder aufsetzte. Sie errötete indessen hoch und wurde ganz verwirrt, als sie bemerkte, daß der alte Herr und die beiden jungen Damen sie ohne Unterlaß fest ins Auge faßten.

»Ei, wie Sie rot werden, Kind«, sagte des Lords erkorene Braut.

»Sie ist noch nicht ganz so in ihr Geschäft eingeschossen, wie sie es wohl in einigen Wochen sein wird«, entschuldigte Madame Mantalini mit einem huldvollen Lächeln.

»Ich fürchte, Sie haben ihr einige Ihrer gottlosen Blicke zugeworfen, Mylord«, sagte die Verlobte.

»Nein, nein, nein«, versetzte der alte Lord, »nein, nein – ich bin im Begriff, mich zu verehelichen und ein neues Leben anzufangen – ha! ha! ha! ein neues Leben, ein neues Leben, ha! ha! ha!«

Es war tröstlich, mit anzuhören, daß der alte Herr im Begriff war, ein neues Leben anzufangen: denn es war augenscheinlich, daß das alte nicht mehr lange dauern konnte. Schon die bloße Anstrengung eines in die Länge gezogenen Kicherns bewirkte einen schrecklichen Anfall von Husten und Keuchen, und es brauchte einige Minuten, ehe er Atem zu der Bemerkung fand, daß das Mädchen zu hübsch für eine Putzmacherin sei.

»Ich hoffe nicht, daß Sie der Ansicht sind, ein gutes Aussehen beeinträchtige die Befähigung zu einem Geschäfte, Mylord«, sagte Madame Mantalini geziert.

»Nicht gerade«, versetzte der alte Lord, »sonst würden Sie es schon lange aufgegeben haben.«

»Sie Bösewicht«, rief die lebhafte junge Dame, indem sie das Mitglied des Oberhauses mit ihrem Sonnenschirme kitzelte: »wie können Sie es wagen, in meiner Gegenwart so zu sprechen?«

Sie begleitete diese scherzende Frage mit wiederholten neckenden Schlägen, bis endlich der alte Lord den Sonnenschirm auffing und ihn ihr nicht wieder hergeben wollte. Dies veranlaßte die andere Dame, ihrer Schwester zu Hilfe zu kommen, woraus sich denn ein ganz niedlicher Flirt entspann.

»Sorgen Sie dafür, daß diese kleinen Änderungen noch angebracht werden, Madame«, sagte die junge Dame. »Nein, Mylord, Sie müssen durchaus vorangehen; ich möchte Sie nicht eine halbe Sekunde mit diesem hübschen Mädchen in meinem Rücken lassen. Ich kenne Sie zu gut. Liebes Hannchen, lass ihn vorangehen, dass wir seiner sicher sind.«

Der alte Herr, der sich augenscheinlich durch diesen Argwohn sehr geschmeichelt fühlte, beschenkte Käthchen im Vorbeigehen mit einem komischen Seitenblick – eine Bosheit, wofür er einen zweiten Klaps erhielt – und humpelte die Stiege hinunter nach der Tür, wo sein beweglicher Leichnam von zwei stämmigen Lakaien in den Wagen gehoben wurde.

»Pfui«, sagte Madame Mantalini; »es ist mir unbegreiflich, wie der in einen Wagen steigen kann, ohne an eine Totenbahre zu denken. – Da, nehmen Sie den Plunder weg, meine Liebe; nehmen Sie ihn hinunter.«

Käthchen, die die ganze Szene über mit bescheiden zur Erde gehefteten Augen dagestanden hatte, fühlte sich bei der Erlaubnis, sich zurückziehen zu dürfen, höchst glücklich, und eilte freudig die Stiegen hinunter nach dem Herrschergebiete der Mamsell Knag.

In diesem kleinen Königreiche hatten sich jedoch während der kurzen Periode von Käthchens Abwesenheit die Umstände wesentlich verändert. Statt daß Mamsell Knag mit all der Würde und Erhabenheit einer Repräsentantin von Madame Mantalini auf ihrem gewohnten Platze saß, ruhte diese edle Seele in Tränen gebadet auf einer großen Kiste, während drei oder vier der jungen Frauenzimmer mit Salmiakgeist, Weinessig und andern Belebungsmitteln um sie her standen – ein hinreichender Beweis, daß sie in Ohnmacht lag, wenn auch nicht die Verwirrung ihres Kopfputzes und ihrer Locken darauf hingedeutet hätte.

»Ach Gott!« rief Käthchen, hastig vortretend: »was gibt es denn?«

Diese Frage bewirkte bei Mamsell Knag heftige Symptome eines Rückfalls, worauf mehrere junge Damen, Zornblicke nach Käthchen schießend, noch mehr Weinessig und Salmiakgeist anwendeten und sagten, daß es »eine Schande« wäre.

»Was ist eine Schande?« fragte Käthchen. »Worum handelt sich’s? Was ist vorgefallen? Reden Sie doch!«

»Vorgefallen?« rief Mamsell Knag, indem sie sich auf einmal zur großen Bestürzung der versammelten Mädchen pfeilgerade aufrichtete; »vorgefallen? Pfui über Sie, Sie garstiges Geschöpf!«

»Barmherziger Himmel!« rief Käthchen ganz erstarrt ob der

230 Heftigkeit, womit Mamsell Knag dieses Prädikat durch die zusammengebissenen Zähne hervorstieß: »habe ich Sie denn beleidigt?«

»Sie mich beleidigt!« erwiderte Mamsell Knag, »Sie! Ein Kind, ein Frätzchen, ein Pilz von gestern! O freilich! ha! ha!«

Da Mamsell Knag jetzt lachte, so war es augenscheinlich, daß ihr etwas ungemein spaßhaft vorkam, und da die jungen Damen sich stets nach Mamsell Knag als ihrer Vorgesetzten richteten, so brachen alle zumal ohne Zögern in ein Gelächter aus, nickten mit den Köpfen und lächelten sich gegenseitig sarkastisch zu, als wollten sie sich sagen, wie sehr gut das wäre.

»Da ist sie«, fuhr Mamsell Knag fort, indem sie sich von der Kiste erhob und Käthchen mit großer Förmlichkeit und vielen tiefen Knixen dem kichernden Mädchenkreise vorstellte; »hier ist sie – alle Welt spricht von ihr – dem hübschen Mädchen, meine Damen, – der Schönheit, der – o Sie unverschämtes Ding.«

In dieser Krisis war Mamsell Knag nicht imstande, einen tugendhaften Schauer zu unterdrücken, der sich augenblicklich allen übrigen jungen Damen mitteilte. Dann lachte Mamsell Knag aufs neue und fing endlich zu weinen an.

»Fünfzehn Jahre lang«, rief Mamsell Knag unter dem beweglichsten Schluchzen aus, »fünfzehn Jahre lang bin ich die Ehre und Zierde des Arbeits- und Ankleidezimmer« gewesen. Gott sei Dank!« fuhr sie fort, indem sie merkwürdig energisch zuerst mit dem rechten und dann mit dem linken Fuße stampfte, »ich bin diese ganze Zeit über nie den Kunstgriffen, den nichtswürdigen Kunstgriffen eines Geschöpfes ausgesetzt gewesen, das uns alle durch sein Benehmen entehrt und anständige Leute zum Erröten zwingt. Aber jetzt muß mir eine Kränkung widerfahren, die ich trotz des Abscheus, den ich gegen diese Person hege, schmerzlich empfinde.«

Mamsell Knag wurde hier wieder mit einem Rückfalle bedroht; die jungen Damen erneuerten ihre Aufmerksamkeit, meinten, sie solle sich über solche Dinge hinwegsetzen, und erklärten, daß sie für ihre Personen solche Künste verschmähten und gar nicht der Beachtung wert hielten. Zum Belege dieser Beteuerung riefen sie noch nachdrücklicher als vorher, »es wäre eine Schande, und sie fühlten sich so empört darüber, daß sie nicht wüßten, was sie mit sich selbst anfangen sollten.«

»Habe ich so lange leben müssen, um mich eine Vogelscheuche nennen zu lassen«, rief Mamsell Knag, indem sie in Krämpfe verfiel und mit ihren Fingern krampfhaft ihre Haare zerzauste.

»O nein, nein«, fiel der Chor ein: »bitte, sprechen Sie nicht so; nein, sprechen Sie nicht so.«

»Habe ich’s verdient, eine alte Person genannt zu werden?« schrie Mamsell Knag, gegen ihre dienstbeflissenen Untergebenen ankämpfend.

»Denken Sie nicht an solche Dinge, meine Liebe«, antwortete der Chor.

»Ich hasse sie«, rief Mamsell Knag. »Ich hasse und verabscheue sie. Sie soll es nicht wagen, mich je wieder anzureden, und niemand, der es gut mit mir meint, soll je wieder ein Wort mit ihr sprechen. Die Schlampe! Das Weibsstück! Die unverschämte Dirne!«

Nachdem Mamsell Knag den Gegenstand ihrer Wut mit diesen Worten näher bezeichnet hatte, schrie sie noch einmal laut auf, schluchzte dreimal und gurgelte in der Kehle: dann schloß sie die Augen, schauerte, erwachte, kam wieder zu sich, ordnete ihren Kopfputz und erklärte endlich, daß sie wieder ganz wohl sei.

Das arme Käthchen hatte diese Vorgänge anfangs in vollkommener Geistesabwesenheit mit angesehen: dann wurde sie abwechselnd rot und bleich und versuchte einigemal zu sprechen. Als ihr jedoch die Beweggründe allmählich klar wurden, trat sie einige Schritte zurück und sah ruhig zu, ohne sich durch eine Erwiderung zu entehren. Aber obgleich sie stolz nach ihrem Sitz ging und dem Haufen kleiner Trabanten, der sich in der entferntesten Ecke des Zimmers um seinen leitenden Planeten sammelte, den Rücken wandte, so entströmten ihr doch im stillen so bittere Tränen, daß Mamsell Knag im Innersten ihrer Seele erfreut gewesen wäre, wenn sie diese hätte fallen sehen.

Erstes Kapitel.


Erstes Kapitel.

das alle übrigen einleitet.

In einem abgelegenen Teile der Grafschaft Devonshire lebte einmal ein ehrenwerter Mann, Namens Gottfried Nickleby, der es sich in seinen späteren Lebensjahren noch in den Kopf gesetzt hatte, daß er heiraten müsse. Da aber außer dem Mangel der Jugend auch seine Vermögensumstände nicht zu den glänzendsten gehörten, und er daher nicht auf die Hand einer vermögenden Dame rechnen durfte, so verehelichte er sich aus purer Zuneigung mit einer alten Flamme, die ihn aus dem nämlichen Grunde nahm – wie etwa zwei Leutchen, die es nicht erschwingen können, um Geld Karten zu spielen, sich hin und wieder den Gefallen erweisen, miteinander eine Partie umsonst zu machen.

Boshafte Ehestandsspöttler mögen hier vielleicht die Einwendung machen, daß das gute Paar so ziemlich den Inhabern einiger Kampfhähne glich, die, wenn ihre Börse knapp bestellt ist und keine Wetter vorhanden sind, gar großmütig aus reiner Lust an dem Schauspiele die Vorzüge ihrer Tiere in einem Kampfe zur Schau stellen. Und in der Tat wäre auch der Vergleich in gewisser Hinsicht nicht ohne treffende Spitze; denn wenn die paar Glücksritter von Fives‘ Court nachher einen Hut herumgehen lassen werden, in der festen Zuversicht, die Zuschauer würden wohl die Güte haben, ihnen die Mittel zu einer Erfrischung zu liefern, so sahen auch Herr Gottfried Nickleby und seine traute Hälfte nach dem Ablauf der Flitterwochen sehnsüchtig in die Welt hinaus und verließen sich in nicht geringem Grade auf den Zufall, der ihrem Erwerb aufhelfen sollte. Herrn Nicklebys jährliches Einkommen schwankte zur Zeit seiner Verheiratung zwischen jährlichen sechzig bis achtzig Pfunden.

Es gibt – der Himmel weiß es – Leute genug in der Welt, und sogar in London, wo Herr Nickleby in jenen Tagen wohnte, hört man nur wenige Klagen darüber, daß die Bevölkerung zu sparsam sei. Aber es ist eben so wahr wie seltsam, daß man sich, weiß Gott, wie lange, unter der Menge umsehen kann, ohne das Gesicht eines Freundes zu entdecken. Herr Nickleby sah und sah sich um, bis ihn die Augen nicht weniger schmerzten als sein Herz, aber nirgends wollte sich ein Freund blicken lassen. Wenn er dann die vom Suchen ermüdeten Gesichtsorgane seinem eigenen Herde zuwandte, so zeigte sich auch dort gar wenig, an dem sie hätten ausruhen können. Ein Maler, der zu lange eine grelle Farbe angesehen hat, stärkt die geschwächte Sehkraft dadurch, daß er das Auge auf tieferen und dunkleren Tinten ruhen läßt; aber alles, was Herrn Nicklebys Blicken begegnete, war so gar schwarz und düster, daß das gerade Gegenteil davon ihn über die Maßen erfrischt haben würde.

Als endlich nach fünf Jahren Frau Nickleby ihren Gatten mit ein paar Söhnchen beglückt hatte, fühlte der tiefgedrückte Mann die Notwendigkeit, für seine Familie zu sorgen, immer mehr und mehr, und er war bereits nach ernstlicher Erwägung zu dem Entschluß gekommen, sich am nächsten Quartale in eine Lebensversicherungsgesellschaft aufnehmen zu lassen und dann ganz zufällig von irgend einem Monument oder Turm herunterzufallen, als eines Morgens ein schwarzgesiegelter Brief mit der Nachricht anlangte, Herr Ralph Nickleby, sein Oheim, sei gestorben und habe ihm die Gesamtmasse seines kleinen Vermögens, das sich im ganzen ungefähr auf fünftausend Pfund Sterling belief, hinterlassen.

Der Selige hatte bei seinen Lebzeiten keine weitere Notiz von seinem Neffen genommen, als daß er dessen ältestem Knaben – der infolge einer verzweifelten Spekulation bei der Taufe den Namen seines Großonkels erhalten hatte – einen silbernen Löffel in einem Maroquinfutterale schickte. Da der Knabe aber nicht allzuviel damit zu essen hatte, so sah das Geschenk fast wie eine Satire darauf aus, daß das Kind nicht mit diesem nützlichen Artikel im Munde auf die Welt gekommen sei. Herr Gottfried Nickleby konnte im Anfang die ihm auf diese Weise zugekommene Nachricht kaum glauben. Bei weiterer Untersuchung stellte sich jedoch heraus, daß sich die Sache wirklich so verhalte. Der wackere, alte Herr hatte, wie es schien, beabsichtigt, das ganze seiner Habe dem Zentral-Rettungsverein zu hinterlassen, und zu diesem Ende auch schon ein Testament ausfertigen lassen. Aber dieses Institut war einige Monate vorher so unglücklich gewesen, das Leben eines armen Verwandten des Ehrenmannes zu retten, dem er wöchentlich ein Almosen von sechs Schillingen und drei Pencen auszahlte, weshalb er in höchst gerechter Entrüstung das Vermächtnis durch eine Verfügung widerrief und Herrn Gottfried Nickleby zum Universalerben einsetzte, wobei er es nicht unterlassen konnte, seinen Unwillen sowohl gegen die Gesellschaft, die das Leben des armen Verwandten rettete, als auch gegen den armen Verwandten selbst, der sich dasselbe retten ließ, auszudrücken.

Mit einem Teile dieser Erbschaft kaufte Gottfried Nickleby ein kleines Landgut unweit Dawlisy in Devonshire, wohin er sich mit seiner Gattin und zwei Kindern zurückzog, um von dem spärlichen Ertrage des Gütchens und den Zinsen des ihm noch übrigbleibenden Geldes zu leben. Das Ehepaar führte fünfzehn Jahre lang so gute Wirtschaft, daß Herr Nickleby, als er – fünf Jahre nach dem Tode seiner Gattin – starb, seinem ältesten Sohne Ralph dreitausend Pfund in barem Gelde, und dem jüngeren, Nicolaus, tausend Pfund und das Landgut zu hinterlassen imstande war, wenn man anders ein Stück Feld ein Landgut nennen kann, das mit Ausnahme des Hauses und des eingehegten Grasgartens keinen größern Umfang hatte, als der Russellplatz von Convent-Garden.

Die zwei Brüder waren miteinander in einer Schule zu Exeter erzogen worden und hatten, da sie gewöhnlich wöchentlich einmal einen Besuch in ihrer Heimat machten, von den Lippen ihrer Mutter oft lange Erzählungen von den Leiden ihres Vaters in den Tagen seiner Armut und der Wichtigkeit ihres hingeschiedenen Onkels in den Tagen seines Wohlstandes mit angehört – Erzählungen, die auf die beiden Knaben einen gar verschiedenen Eindruck hervorbrachten: denn während der jüngere, dessen Charakter schüchtern und zurückgezogen war, nur Winke darin fand, die große Welt zu meiden und sein Glück in der Ruhe des Landlebens zu suchen, schöpfte Ralph, der ältere, die zwei großen Lehren daraus, »daß Reichtum die einzige wahre Quelle von Glück und Ansehen sei«, und »daß man zu dessen Erwerb alle Mittel anwenden dürfe, wofern sie nur nicht durch das Gesetz mit der Todesstrafe bedroht wären.« »Wenn meines Onkels Geld auch keinen Nutzen brachte, solange er lebte«, folgerte Ralph weiter, »so kam es doch nach seinem Tode meinem Vater zu Frommen, der jetzt den höchst lobenswerten Vorsatz hat, es für mich aufzusparen; und was den alten Herrn anbelangt, so hatte er doch auch einen Genuß davon in dem Vergnügen, all seiner Lebtage daran zu denken und außerdem von seiner ganzen Familie beneidet und in Ehren gehalten zu werden.« Und so kam Ralph immer bei derartigen Selbstgesprächen zu dem Schluß, daß auf der ganzen Welt nichts dem Gelde gleichkäme.

Der hoffnungsvolle Knabe beschränkte sich jedoch schon in seinen frühen Jahren nicht auf die Theorie und auf bloße abstrakte Spekulationen, sondern begann bereits in der Schule im kleinen Maßstab das Gewerbe eines Wucherers, indem er kleine Kapitalien von Schieferstiften und Kugeln auf gute Zinsen auslieh und allmählich seine Betriebsamkeit bis zu der Kupfermünze, über die seine Kameraden zu verfügen hatten, ausdehnte, wobei er auf eine sehr vorteilbringende Weise spekulierte. Er bemühte übrigens seine Schuldner nicht mit umständlichen und verwickelten Berechnungen, denn seine Interessenbestimmung beruhte einfach auf der goldenen Regel: »zwei Pfennig für jeden Heller«, wodurch die Rechnung sehr erleichtert wurde – ein Grundsatz, der großen und kleinen Kapitalisten, insbesondere aber den Geldwechslern, nicht genug zur Beachtung empfohlen werden kann, da er sich leichter erlernen und im Gedächtnis behalten läßt, als jede andere arithmetische Regel. Wir müssen jedoch diesen Herren Gerechtigkeit widerfahren und ihnen die Anerkennung zuteil werden lassen, daß diese Regel unter vielen von ihnen bis auf den heutigen Tag im Schwunge ist und mit ausgezeichnetem Erfolge geübt wird.

In gleicher Weise vermied der junge Ralph Nickleby alle umständlichen und verwickelten Berechnungen einzelner Tage, mit denen man, wie jeder weiß, der schon damit zu tun hatte, selbst bei dem einfachsten Zinsfuße, seine liebe Not hat. Er stellte einfach als allgemeine Regel fest, daß Kapital nebst Interessen jedesmal an dem Taschengeldtage, das heißt am Samstage, zurückbezahlt werden, und daß der Zinsenbelauf, mochte die Schuld am Montag oder am Freitag kontrahiert worden sein, stets derselbe sein solle. Er folgerte nämlich, und nicht ohne scheinbaren Grund, daß die Interessen eigentlich für einen Tag höher stehen sollten als für fünf, da man annehmen könne, daß in dem ersteren Falle dem Borgenden aus einer gar großen Verlegenheit geholfen würde, da er sonst gewiß nicht unter solchen nachteiligen Bedingungen Geld aufnehmen würde. Dieser Umstand ist sehr bezeichnend, da er die geheime Verbindung und Sympathie ans Licht stellt, die stets zwischen großen Geistern besteht, denn die obenerwähnte Klasse von Geschäftsleuten verfährt bei allen ihren Operationen genau nach demselben Grundsatze, obgleich unser junges Herrchen das damals noch nicht wissen konnte.

Aus diesen Schilderungen und der Bewunderung, die natürlich jeder Leser dem Gesagten zufolge für den Charakter eines solchen jungen Mannes hegen muß, könnte man auf die Vermutung kommen, daß Ralph der Held des Werkes sei, das wir eben begonnen haben. Um jedoch diesen Punkt ein für allemal zu erledigen, beeilen wir uns, jeden Irrtum dadurch zu beseitigen, daß wir zu dem wirklichen Anfange übergehen.

Nach dem Tode seines Vaters widmete sich Ralph Nickleby, der kurz zuvor in einem Londoner Handlungshaus untergebracht worden war, leidenschaftlich seinem alten Hange, Geld zu erwerben, in den er sich alsbald so sehr vertiefte, daß er seinen Bruder viele Jahre ganz und gar vergaß. Wenn auch hin und wieder eine Rückerinnerung an seinen alten Spielgefährten durch den Nebel, in dem er lebte, brach – denn das Gold umhüllt den Menschen mit einem Dunste, der auf die früheren Gefühle weit zerstörender und einschläfernder wirkt als die Dämpfe der Steinkohlen – so tauchte damit zugleich auch der Gedanke auf, daß jener im Falle eines innigeren Verhältnisses vielleicht Geld von ihm würde borgen wollen; und so schüttelte Herr Ralph Nickleby die Achseln und sagte: »Es ist besser so, wie es ist.«

Was Nicolaus anbelangt, so lebte er als Junggeselle auf seinem Erbgut, bis er der Einsamkeit müde war, und nahm dann die Tochter eines Nachbars mit einer Mitgift von tausend Pfunden zum Weibe. Diese gute Frau gebar ihm zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter, und als der Sohn ungefähr neunzehn Jahre und die Tochter, soweit wir vermuten können, vierzehn Jahre zählte (denn vor dem neuen Gesetz wurden in Englands Registraturen nirgends ganz zuverlässige Angaben über das Alter junger Damen aufbewahrt), so sah sich Herr Nickleby nach Mitteln um, sein Kapital wieder zu vergrößern, da es durch den Zuwachs seiner Familie und die Kosten der Erziehung seiner Kinder sehr geschmälert worden war.

»Spekuliere damit!« meinte Frau Nickleby.

»Spe-ku-lie-ren, mein Schatz?« entgegnete Herr Nickleby mit bedenklichem Tone.

»Warum nicht?« fragte Frau Nickleby.

»Weil wir nichts mehr zu leben hätten, meine Liebe, wenn wir es verlieren sollten«, antwortete Herr Nicklebey in seinem gewohnten bedächtigen und gezogenen Ton.

»Bah!« erwiderte Frau Nickleby.

»Man kann es ja überlegen, meine Gute«, versetzte Herr Nickleby.

»Der Nicolaus ist schon ziemlich herangewachsen«, fuhr die Dame fort; »es ist Zeit, daß er sich selbst einmal zu rühren anfängt; und was soll aus unserm Käthchen, dem armen Mädchen, werden, wenn wir ihr keinen Heller mitgeben können? Denk an deinen Bruder! Würde er sein, was er ist, wenn er nicht spekuliert hätte?«

»Das ist wahr!« entgegnete Herr Nickleby. »Nun gut also, mein Schatz. So will ich mich denn aufs Spekulieren legen, meine Liebe.«

Spekulationen sind ein Glücksspiel. Die Spieler sehen im Anfang wenig oder nichts von ihren Karten. Der Gewinn kann groß sein, ebenso aber auch der Verlust. Das Glück erklärte sich gegen Herrn Nickleby. Man war damals gerade wie toll auf eine Aktienunternehmung – die Seifenblase barst; vier Aktienmakler kauften sich Landgüter in Florenz, und vierhundert arme Schlucker, unter denen sich auch Herr Nickleby befand, waren ruiniert.

»Das Haus, in dem ich wohne«, seufzte der unglückliche Spekulant, »kann mir morgen genommen werden. Kein Stückchen unserer alten Möbeln bleibt uns; alles wird an Fremde verkauft werden!«

Dieser letzte Gedanke wurde ihm so schmerzlich, daß er sich zu Bett legte, augenscheinlich fest entschlossen, wenigstens dieses in keinem Fall aufzugeben.

»Fassen Sie Mut, Sir«, sagte der Arzt.

»Sie müssen sich nicht so ganz und gar niederschlagen lassen, Sir«, sagte die Krankenwärterin.

»Solche Dinge kommen alle Tage vor«, bemerkte der Advokat.

»Und es ist eine große Sünde, sich dagegen aufzulehnen«, flüsterte der Pfarrer.

»Ein Mann, der eine Familie hat, sollte so etwas nie tun«, fügten die Nachbarn bei.

Herr Nickleby schüttelte seinen Kopf, bedeutete allen, das Zimmer zu verlassen, umarmte sein Weib und seine Kinder, drückte sie abwechselnd an das matter pochende Herz und sank erschöpft auf sein Kissen. Sie bemerkten jedoch bald zu ihrer großen Bestürzung, daß er von nun an irre zu reden begann, denn er sprach lange von der Großmut und der Güte seines Bruders und von den vergnügten Tagen, die sie miteinander auf der Schule zugebracht hätten. Als dieser Anfall vorüber war, empfahl er sich feierlich dem Einen, der nie der Witwen und Waisen vergißt, lächelte ihnen matt zu, richtete das Gesicht aufwärts und sagte, er glaube, daß er einschlummern könne.

Einleitung.


Einleitung.

Dickens hat seinem 1839 erschienenen Roman »Nicolaus Nickleby« selbst ein auch in unserer Ausgabe zum Abdruck kommendes Nachwort geschrieben, worin er mit echt englisch satirischem Humor bestätigt, daß die von ihm geschilderten Zustände im Privatschulwesen tatsächlich bestanden haben. Der heutige deutsche Leser würde erst recht sonst annehmen, daß so schreckliche Verhältnisse kaum möglich gewesen sein konnten. Aber in unserer Zeit, wo das Schulwesen durchweg unter Aufsicht des Staates steht, ist es schwer denkbar, daß früher auch auf dem Kontinent, auch in Deutschland Winkelschulen schlimmster Art existierten, die denen des Yorkshirer Schulmeisters Squeers kaum etwas nachgaben. Indem Dickens auf die Wunden der menschlichen Gesellschaft schonungslos hinwies, ward er ein sozialer Apostel, als der er sich auch in »Schwere Zeiten« und in gleichgerichteten anderen Werken gezeigt hat.

Man wird den Gehalt des Nickleby erst recht zu schätzen wissen, wenn man ihn aus dem Geist der Zeit, dem englischen Puritanismus heraus zu lesen versteht. Unserer ›aufgeklärteren‹, minder empfindsamen Welt von heute wird z. B. fast unbegreiflich erscheinen, wie hilflos zunächst ein junges Mädchen wie Käthchen der argen Welt gegenübersteht, in die sie durch Ralph Nickleby gestürzt wird. Das Mädchen von heute weiß sich anders zu helfen als Käthchen. Aber wir mögen bedenken, daß auch uns Deutschen der dem englischen Käthchen verwandte Typus Gretchens, den uns Goethes »Faust« schenkte, immer seltener, ja fremdartiger wird. Noch seltsamer mögen uns manche gesellschaftliche Zustände und Einrichtungen erscheinen, die aber eben aus dem Geist des Puritanertums begreiflich werden.

Die Puritaner bedeuteten zunächst eine von dem Genf Calvins beeinflußte Partei der Protestanten in England. Sie wollten innerhalb der anglikanischen Kirche die Reinheit (puritas) des evangelischen Christentums wiederherstellen, forderten Trennung der Kirche vom Staat und strengste Kirchenzucht. Die puritanische Gesinnung setzte sich im Zeitalter des großen Staatsmannes Cromwell durch; sie bedingte die straff disziplinierte Sittlichkeit Englands während der folgenden Jahrhunderte und hat in ihrer Strenge und Nüchternheit das meiste dazu beigetragen, daß England die Weltmachtstellung erlangte, die es heute besitzt. Anderseits aber drang die äußere Disziplinierung nicht überall durch. So kam es, daß Prüderie und Heuchelei, ein nur »sittlich tun als ob«, ein Nichtsehenwollen und Nichtsehenkönnen des Schlechten, ja ein gewisser Zynismus zu den schlimmsten Fehlern der englischen Gesellschaft wurden. Wie sich der englische Puritanismus zum Guten auswirken konnte, das zeigt bei Dickens das prachtvolle Kaufmannspaar, die Gebrüder Cheerible; und wie er sich zum Bösen wendet, das erweist an gleicher Stelle die Umwelt des Wucherers Ralph Nickleby. Auch das nichtswürdige Dulden von Privatschulen nach dem Muster eines Squeers wird so begreiflich. Ebenso erklärt sich aus dieser Geisteswelt die Sphäre der bald anmutenden, liebenswürdigen, bald beklemmenden, vorurteilsvoll sich zeigenden Moden und Launen der Frauenzimmerwelt, von der Dickens in unserem Roman die verschiedensten Charaktere darstellt: von dem keuschen (keusch im schönsten Sinne!) Käthchen bis zur konventionell aufgeplusterten, geschwätzigen Madame Nickleby, von der eingebildeten Thilda bis zu der liebenswürdigen, harmlosen kleinen Malerin. Als scharfblickender Frauenkenner zeichnet Dickens die einzelnen Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts und ihre ewigen Schwächen ersichtlich mit boshaftem Vergnügen.

Dickens Romane bewahren stets den Glauben an den endlichen Sieg des Guten. Sie überlasten anfangs oft geradezu den Leser mit den Schrecken des Bösen. Um so größer ist dann des Lesers Freude, wenn der Schurke endlich die verdiente Strafe erhält, und der strebende Brave – in unserm Fall der wackere Brausekopf, der gutherzige Jüngling Nicolaus Nickleby – den Lohn für sein Ausharren auf dem Pfad der Tugend erhält. –

Auch bei der Textrevision dieses Werkes habe ich Frau Clara Weinberg für getreue Mithilfe zu danken.

P. Th. H.

Neuntes Kapitel.


Neuntes Kapitel.

Von Fräulein Squeers, Madame Squeers, dem jungen Squeers und Herrn Squeers. Auch von verschiedenen Dingen und Personen, die ebensosehr mit der Squeersschen Familie als mit Nicolaus Nickleby in Beziehung stehen.

Als Herr Sqneers abends die Schulstube verließ, begab er sich, wie schon oben bemerkt wurde, nach seinem Wohnzimmer – nicht in das, wo Nicolaus bei seiner Ankunft zu Nacht gespeist hatte, sondern in ein kleineres im Hintergebäude, wo seine huldreiche Ehewirtin, sein hoffnungsvoller Sohn und seine liebenswürdige Tochter sich des Glückes ihrer gegenseitigen Gesellschaft erfreuten. Frau Squeers war in der hausmütterlichen Beschäftigung des Strümpfestopfens begriffen, während das junge Fräulein und Herrlein irgendeine jugendliche Meinungsverschiedenheit mittels eines Faustkampfes über dem Tisch erörterten, der sich bei der Annäherung des ehrenwerten Herrn Papas in einen geräuschlosen Austausch von Fußtritten unter dem Tisch verwandelte.

Es mag hier wohl am Platz sein, den Leser davon in Kenntnis zu setzen, daß Fräulein Fanny Squeers in ihrem dreiundzwanzigsten Jahre stand. Wenn irgendeine besondere Anmut und Liebenswürdigkeit von dieser Lebensperiode unzertrennlich ist, so müssen wir annehmen, daß auch Fräulein Squeers im Besitze derselben war, da kein Grund zu der Annahme vorhanden ist, warum sie allein eine Ausnahme von der allgemeinen Regel hätte machen sollen. Sie war nicht so groß wie ihre Mutter, sondern ähnelte in dieser Beziehung eher ihrem Vater, hatte aber von der Mutter die rauhe Stimme, während vom Vater der merkwürdige Ausdruck des rechten Auges auf sie übergegangen war, das ganz das Aussehen hatte, als ob es blind wäre.

Fräulein Squeers war eben erst von einem mehrtägigen Besuch bei einer benachbarten Freundin unter das väterliche Dach zurückgekehrt. Dieser Tatsache mag es zuzuschreiben sein, daß sie noch nichts von dem neuen Hilfslehrer gehört hatte und erst dessen Anwesenheit erfuhr, als Herr Squeers selber auf ihn zu sprechen kam.

»Nun, mein Schatz«, sagte Squeers, seinen Stuhl an den Tisch rückend, »wie hat er dir bis jetzt gefallen?«

»Wer?« fragte Madame Squeers, die im Augenblick nicht auf den Gedankengang ihres Gemahls einzugehen wußte.

»Nun, der junge Mensch – der neue Lehrer – wen anders könnte ich meinen?«

»Ah, der Knittelbrei?« sagte Frau Squeers ungeduldig; »ich kann ihn nicht leiden.«

»Und warum denn nicht, meine Liebe?« fragte Squeers.

»Was kümmert’s dich?« versetzte Madame Squeers. »Ist’s nicht genug, wenn ich dir sage, daß ich ihn hasse?«

»Gerade genug für ihn, meine Liebe; und ich darf wohl sagen, vielleicht um ein gut Teil zuviel, wenn er es wüßte«, entgegnete Herr Squeers in einem begütigenden Tone. »Ich fragte indessen nur aus Kuriosität, mein Schatz.«

»Nun denn, wenn du es durchaus wissen willst, so kann ich’s dir wohl sagen«, erwiderte Frau Squeers – »weil er ein stolzer, hochmütiger, eingebildeter, hochnasiger Pfau ist.«

Wenn Frau Squeers aufgeregt war, pflegte sie sich einer sehr kräftigen Sprache zu bedienen und überdies eine Menge von Beiwörtern einzuflechten, von denen einige der Bildersprache angehörten, wie das Wort »Pfau« und die Anspielung auf Nicolaus‘ Nase, die nicht im buchstäblichen Sinne genommen werden konnte, sondern vielmehr, je nach dem Belieben des Zuhörers, eine gar weite Deutung zuließ. Auch nahm sie es nicht sonderlich genau damit, ob die Prädikate zusammenstimmten, wie man aus dem gegenwärtigen Fall ersehen kann, denn ein hochnasiger Pfau ist gewiß etwas Neues in der Naturgeschichte der Vögel und eine Rarität, die man nicht alle Tage zu sehen kriegt.

»Hm – er ist billig, mein Schatz«, wendete Squeers auf diesen Ausbruch milde ein; »der junge Mann ist sehr billig.«

»Warum auch nicht«, versetzte Madame Squeers.

»Fünf Pfund jährlich«, bedeutete der Schulmann.

»Ist das nicht teuer genug, wenn man ihn nicht braucht?« entgegnete sein Weib.

»Aber wir brauchen ihn«, erwiderte Squeers.

»Ich sehe nicht ein, warum du ihn mehr brauchen solltest, als den verstorbenen«, sagte Frau Squeers. »Schweige mir nur. Kannst du nicht auf die Karten und in die Ankündigungen setzen lassen, ›Erziehungs-Anstalt unter der Leitung des Herrn Wackford Squeers nebst tüchtigen Hilfslehrern‹, ohne daß man einen solchen unnützen Fresser einzustellen braucht? Kommt das nicht alle Tage bei andern Instituten vor? Nein, es ist nicht mehr mit dir auszuhalten.«

»So, – meinst du?« versetzte Squeers in strengem Ton. »Ich will dir was sagen, Frau! – Was das Lehrerhalten anbelangt, so werde ich mit deiner gütigen Erlaubnis meine eigenen Wege gehen. Einem Sklavenvogt in Amerika ist ein untergeordneter Gehilfe zugestanden, der darauf sehen muß, daß die Schwarzen nicht weglaufen oder eine Rebellion anfangen; und so will ich denn auch einen Menschen unter mir haben, der das gleiche bei unsern Schwarzen tut, bis einmal der kleine Wackford imstande ist, die Aufsicht in der Schule zu führen.«

»Darf ich, wenn ich herangewachsen bin, die Aufsicht in der Schule führen, Vater?« fragte Wackford der Jüngere, im Übermaß seines Entzückens einen boshaften Fußtritt unterlassend, den er seiner Schwester eben versetzen wollte.

»Ja, das sollst du, mein Sohn«, entgegnete Herr Squeers in einem sentimalen Ton.

»Ei der Tausend, da will ich’s den Jungen geben«, rief der vielversprechende Sprößling, nach seines Vaters Stock greifend. »Die sollen mir quieken, Vater.«

Welch ein stolzer Augenblick in Herrn Squeers Leben, Zeuge sein zu können von diesem Ausbruch eines edlen Enthusiasmus in der Seele seines Kindes, aus dem schon jetzt seine künftige Größe hervorleuchtete! Er drückte ihm einen Penny in die Hand und machte, vereint mit seiner musterhaften Gattin, seinen Gefühlen durch ein lautes, beifälliges Gelächter Luft. Die Harmonie der Gesinnungen brachte wieder Heiterkeit und Einigkeit in die Gesellschaft.

»Er ist ein garstiger, aufgeblasener Affe – ich kann ihn für nichts anderes betrachten«, sagte Frau Squeers, wieder auf Nicolaus zurückkommend.

»Nun, wenn er auch aufgeblasen ist«, versetzte Squeers, »kann er es in unserer Schulstube nicht so gut als irgendwo anders sein – zumalen es ihm in dieser nicht besonders zu behagen scheint?«

»Gut«, bemerkte Madame Squeers, »das läßt sich hören. Ich hoffe, es stimmt seinen Stolz herunter. Ich wenigstens will`s nicht daran fehlen lassen.«

Nun war ein stolzer Hilfslehrer in einer Yorkshirer Schule eine so außerordentliche Erscheinung – denn da überhaupt schon ein Hilfslehrer eine Seltenheit war, so mußte ein stolzer Hilfslehrer als ein Wesen erscheinen, von dessen Möglichkeit sich sogar die ausschweifendste Phantasie nichts hätte träumen lassen – daß Fräulein Squeers, die sich selten mit Schulangelegenheiten befaßte, mit großer Neugier fragte, wer denn dieser Knittelbrei wäre, der sich so hochmütig aufführe.

»Nickleby«, verbesserte Herr Squeers, indem er ihr den Namen vorbuchstabierte; »deine Mutter nennt immer die Dinge und Leute mit unrechten Namen.«

»Ach, das macht nichts!«, versetzte Frau Squeers: »ich sehe sie mit rechten Augen, und das ist alles, was ich brauche. Ich gab auf ihn acht, als du heute nachmittag dem kleinen Bolder seinen Teil gabst. Er sah die ganze Zeit über so düster aus wie eine Wetterwolke und fuhr sogar einmal auf, als ob er gute Lust hätte, über dich herzufallen. Ja, ich habs wohl gesehen, obgleich er es nicht bemerkte.«

»Lassen wir das jetzt, Vater«, sagte Fräulein Squeers, als das Haupt der Familie eben im Begriff war, eine Erwiderung zu geben. »Wer ist der Mensch?«

»Ei, dein Vater hat sich den Schnickschnack in den Kopf gesetzt, daß er der Sohn eines verarmten Mannes von Stande sei«, antwortete Frau Squeers.

»Der Sohn eines Mannes von Stande?«

»Ja, aber ich glaube kein Wort davon. Wenn er der Sohn eines Herrn ist, so ist er gewiß ein Findling, das ist meine Meinung.«

»Unsinn, nichts der Art«, entgegnete Squeers, »denn sein Vater war manches Jahr vor seiner Geburt mit seiner Mutter verheiratet, und diese ist noch am Leben. Wenn es aber auch der Fall wäre, so brauchte uns das wenig zu kümmern, denn wir machen uns dadurch, daß wir ihn aufgenommen haben, einen sehr guten Freund, und wenn es dem Musje gefällt, außer der Aufsicht, die ihm anheimfällt, die Knaben noch etwas zu lehren, so habe ich nichts dagegen einzuwenden.«

»Ich sage abermals, daß ich ihn ärger hasse als Gift«, fuhr Frau Squeers heftig auf.

»Wenn er dir nicht gefällt, mein Schatz«, erwiderte Squeers, »so kenne ich niemanden, der es ihn besser könnte fühlen lassen als du, und natürlich ist hier kein Grund vorhanden, warum du dir die Mühe geben solltest, deinen Haß zu verbergen.«

»Ich habe es auch nicht im Sinn, verlaß dich drauf«, erklärte Frau Squeers.

»Recht so«, versetzte Squeers; »und wenn etwas Stolz in ihm steckt, was mir selber auch so vorkommt, so gibt’s wohl in ganz England kaum eine Frau, die einen so schnell geschmeidig machen kann wie du, meine Liebe.«

Frau Squeers lachte herzlich über dieses schmeichelhafte Kompliment und sagte, sie meine, zu ihrer Zeit wohl schon den einen oder den andern hochfahrenden Geist heruntergestimmt zu haben.

Wir lassen übrigens ihrem Charakter nur Gerechtigkeit widerfahren, wenn wir sagen, daß sie in Vereinigung mit ihrem achtbaren Gemahl schon viele zermürbt hatte.

Fräulein Fanny Squeers hatte auf dieses und noch einiges andere, was über den Gegenstand gesprochen wurde, genau achtgegeben und stellte, als sie sich nach ihrem Schlafgemach zurückzog, bei der ausgehungerten Magd umständliche Nachforschungen über das Äußere und das Benehmen des Hilfslehrers an. Die Antworten des Mädchens lauteten so enthusiastisch und waren mit so vielen anpreisenden Bemerkungen begleitet, z.B. hinsichtlich seiner schönen, schwarzen Augen, seines süßen Lächelns und seiner geraden Beine (auf die sie einen besonderen Wert legte, da der Wuchs dieser Glieder in Dothebony Hall durchgängig krumm war), daß Fräulein Squeers bald zu der Folgerung kam, der neue Hilfslehrer müsse eine sehr merkwürdige Person oder, wie sie sich sehr bezeichnend ausdrückte, »nichts Gemeines« sein; und so faßte denn besagtes Fräulein den Entschluß, gleich am nächsten Tage Nicolaus persönlich zu beaugenscheinigen.

Um ihre Absicht durchzuführen, benutzte die junge Dame einen Zeitpunkt, wo ihre Mutter beschäftigt und ihr Vater abwesend war, und ging wie aus Zufall in die Schulstube, um sich eine Feder schneiden zu lassen, wo sie jedoch, da sie niemanden als Nicolaus die Knaben beaufsichtigen sah, hoch errötete und eine große Verwirrung zur Schau stellte.

»Ich bitte um Verzeihung«, stotterte Fräulein Squeers; »ich glaubte, mein Vater wäre – oder könnte – ach du lieber Himmel, wie ungeschickt!«

»Herr Squeers ist ausgegangen«, sagte Nicolaus, durch diesen Besuch keineswegs in Verlegenheit gesetzt, so unerwartet er auch war.

»Wird er wohl lange nicht wiederkommen, Sir?« fragte Fräulein Squeers mit einem verschämten Zögern.

»Er sprach von einer Stunde«, antwortete Nicolaus – natürlich höflich, aber ohne eine Spur davon, daß Fräulein Squeers‘ Reize sein Herz getroffen hätten.

»Noch nie ist mir etwas so Queres begegnet«, rief die junge Dame. »Ich danke Ihnen; es tut mir ungemein leid, eine Störung veranlaßt zu haben. Wenn ich nicht gedacht hätte, mein Vater wäre hier, so würde ich um keinen Preis – es ist recht ärgerlich – ich muß Ihnen recht sonderbar vorkommen«, flüsterte Fräulein Squeers, abermals errötend, indem sie ihre Blicke bald nach Nicolaus hinter seinem Pult, bald nach der Feder in ihrer Hand gleiten ließ.

»Wenn Sie nichts, als dieses wünschen«, sagte Nicolaus, indem er auf die Feder deutete, und unwillkürlich über die gezierte Verlegenheit der Schulmeisterstochter lächelte, »so kann ich vielleicht seine Stelle ersetzen.«

Fräulein Squeers blickte, wie im Zweifel, ob es auch schicklich sei, noch näher an einen landfremden Menschen heranzutreten, nach der Tür und dann in der Schulstube umher. Dann aber trat sie, durch die Gegenwart der vierzig Knaben einigermaßen ermutigt, auf Nicolaus zu und händigte ihm mit dem gewinnendsten Gemisch von Schüchternheit und Herablassung die Feder ein.

»Wünschen Sie sie hart, oder weich?« fragte Nicolaus und lächelte wieder, um nicht in ein lautes Lachen auszubrechen.

»Wie lieblich er lächelt«, dachte Fräulein Squeers.

»Wie sagten Sie?« fragte Nicolaus.

»Ach du mein Himmel, ich versichere Ihnen, ich dachte im Augenblick an etwas ganz anderes«, entgegnete Fräulein Squeers – »ach, so weich als möglich, wenn ich bitten darf.«

Fräulein Squeers seufzte bei diesen Worten, was vielleicht andeuten sollte, daß ihr Herz weich wäre und daß sie daher die Feder ebenso wünsche.

Nicolaus schnitt die Feder nach dieser Weisung. Als er sie jedoch Fräulein Squeers zurückgab, ließ Fräulein Squeers diese fallen, und als er sich bückte, um sie aufzuheben, bückte sich Fräulein Squeers gleichfalls, und beide stießen mit den Köpfen zusammen, worüber fünfundzwanzig kleine Knaben laut lachten, – entschieden das erste und einzige Mal in diesem halben Jahre.

»Wie ungeschickt von mir«, sagte Nicolaus, indem er der jungen Dame die Tür öffnete.

»Nicht doch, Sir«, versetzte Fräulein Squeers: »es war mein Fehler – nur mein törichtes – a – a –guten Morgen.«

»Ich empfehle mich«, entgegnete Nicolaus. »Wenn ich Ihnen wieder eine Feder schneide, so wird’s, hoffe ich, nicht so ungeschickt zugehen. Nehmen Sie sich in acht, Sie beißen ihr den Schnabel ab.«

»Wirklich!« erwiderte Fräulein Squeers. »Ich bin so verlegen, daß ich kaum weiß, was ich – tut mir recht leid, Ihnen so viele Mühe gemacht zu haben.«

»Durchaus keine Mühe«, versicherte Nicolaus, die Tür der Schulstube schließend.

»Ich habe in meinem ganzen Leben keine solchen Beine gesehen«, sagte Fräulein Squeers im Fortgehen.

Fräulein Squeers war in der Tat in Nickleby verliebt.

Um sich die Schnelligkeit, mit der diese junge Dame eine Leidenschaft für Nicolaus faßte, erklären zu können, müssen wir anführen, daß die Freundin, bei der sie kürzlich auf Besuch gewesen, eine Müllerstochter von ungefähr achtzehn Jahren war, die sich mit dem Sohn eines kleinen Kornhändlers auf dem nächsten Marktorte verlobt hatte. Fräulein Squeers und die Müllerstochter waren vertraute Freundinnen und waren der unter jungen Frauenzimmern üblichen Gewohnheit zufolge einige Jahre früher darin übereingekommen, daß jede, wenn sie im Sinn hätte, sich zu verloben, das wichtige Geheimnis geradeswegs, ehe sie es noch irgendeiner andern lebenden Seele anvertraut hätte, in dem Busen der Freundin niederlegen und diese ohne Zeitverlust als Brautjungfer anwerben solle. Diesem Versprechen getreu war die Müllerstochter gleich nach dem Abschluß ihrer Verlobung herausgekommen und nachts um elf Uhr – denn der Sohn des Kornhändlers hatte ihr erst vierzig Minuten vor elf Uhr (nach der Schwarzwälder Uhr in der Küche) Hand und Herz angeboten – in Fräulein Squeers Schlafzimmer geeilt, um ihr diese erfreuliche Kunde mitzuteilen. Da nun aber Fräulein Squeers um fünf Jahre älter und über die Zehner hinaus war – ein nicht unwichtiger Umstand –, so hatte sie seitdem sehnlicher als je gewünscht, dieses Vertrauen erwidern und ihre Freundin in ein ähnliches Geheimnis einweihen zu können. Aber sei es, daß es schwer hielt, ihr zu gefallen, oder vielleicht noch schwerer, daß sie jemandem gefiel, – es wollte sich ihr keine Gelegenheit geben, Geheimnisse mitzuteilen. Sobald jedoch die eben beschriebene kleine Zusammenkunft mit Nicolaus stattgefunden hatte, setzte Fräulein Squeers ihren Hut auf, lief in größter Eile zu ihrer Freundin und enthüllte ihr nach einer feierlichen Wiederholung der früheren Verschwiegenheitsgelübde, daß sie – zwar noch nicht wirklich verlobt, aber doch im Begriff sei, sich mit dem Sohne eines Mannes von Stande zu versprechen – nicht mit einem von diesen Kleinhändlern, sondern mit dem Sohne eines Mannes von guter Herkunft, der unter höchst geheimnisvollen und merkwürdigen Umständen als Lehrer nach Dotheboys Hall heruntergekommen sei. Er sei in der Tat nur (wie Fräulein Squeers mehr als einmal aus guten Gründen glauben zu dürfen versicherte) durch den Ruf ihrer Reize angelockt worden, um ihre Bekanntschaft zu machen und um sie zu freien.

»Ist das nicht etwas ganz Außerordentliches?« schloß Fräulein Squeers ihren Bericht, indem sie das letztere Wort besonders nachdrücklich betonte.

»Allerdings, sehr außerordentlich«, versetzte die Freundin; »aber was hat er denn zu dir gesagt?«

»Frage mich nicht, was er zu mir gesagt hat, meine Liebe«, entgegnete Fräulein Squeers. »Wenn du nur seine Blicke und sein Lächeln gesehen hättest! Ich war in meinem Leben nie so verblüfft.«

»Sah er dich etwa so an?« fragte die Müllerstochter, so gut wie möglich einen Liebesblick ihres Kornhändlers nachahmend.

»So etwa, nur viel vornehmer«, erwiderte Fräulein Squeers.

»Ah«, erklärte die Freundin, »dann will er etwas damit sagen, verlaß dich drauf.«

Fräulein Squeers, die noch einiged Bedenken bei der Sache hatte, ließ sich nicht ungern durch eine kompetente Autorität belehren; und als sich im Verlauf der Unterhaltung, in der die charakteristischen Liebesmerkmale zur Sprache kamen, in vielen Punkten Ähnlichkeit zwischen dem Benehmen des Hilfslehrers und des Kornhändlers herausstellte, so wurde sie außerordentlich zutraulich. Sie erzählte ihrer Feundin daher eine Menge Dinge, die Nicolaus nicht gesagt hatte, und die so ungemein schmeichelhaft waren, daß sie auch nicht dem mindesten Zweifel mehr Raum gaben. Sie sprach dann von ihrem harten Geschick, Eltern zu haben, die ihrem künftigen Gatten entschieden abgeneigt wären, über welchen traurigen Umstand sie sich um so mehr der Länge und Breite nach ausließ, als die Eltern ihrer Freundin mit der Verlobung ihrer Tochter vollkommen zufrieden gewesen waren und daher die ganze Freierei einen so flachen und gewöhnlichen Verlauf genommen hatte, wie man sich nur einen denken konnte.

»Ich möchte ihn doch auch sehen«, rief die Freundin.

»Das sollst du, Thilda«, entgegnete Fräulein Squeers. »Ich müßte mich für das undankbarste Geschöpf auf Erden halten, wenn ich dir’s abschlüge. Ich glaube, meine Mutter verreist nächstens auf ein paar Tage, um einige Knaben zu holen. Wenn das geschieht, so werde ich dich und deinen Johann zum Tee bitten. Bei dieser Gelegenheit könnt ihr ihn kennenlernen.«

Dies war ein herrlicher Gedanke, und nachdem man ihn gehörig besprochen hatte, trennten sich die Freundinnen.

Es traf sich, daß die Reise, die Madame Squeers antreten sollte, um drei neue Zöglinge zu holen und die Verwandten zweier alten zur Begleichung einer kleinen Rechnung zu pressen, noch an demselben Nachmittag auf übermorgen festgesetzt wurde. Frau Squeers bestieg zu der bestimmten Zeit einen Außensitz der Postkutsche, als diese zu Greta Bridge des Pferdewechsels wegen halt machte. Sie nahm ein kleines Bündel mit, das eine Flasche Likör nebst einigen Brot- und Fleischschnitten enthielt, versah sich mit einem großen, weiten Mantel, um sich des Nachts darein zu hüllen, und trat mit diesem Gepäck ihre Reise an.

Bei derartigen Gelegenheiten pflegte Herr Squeers unter dem Vorwand eines dringenden Geschäftes jeden Abend nach dem Marktorte zu fahren, wo er dann jedesmal bis zehn oder elf Uhr in einem von ihm sehr geschätzten Wirtshaus verweilte. Da ihm daher das Teekränzchen nicht im Wege war, sondern eher dazu diente, mit Fräulein Squeers ein Abfinden zu treffen, so gab er ohne Anstand seine Einwilligung und hatte auch nichts dagegen, in eigener Person Nicolaus die Mitteilung zu machen, daß er abends um fünf Uhr im Wohnzimmer zum Tee erwartet würde.

Man kann sich denken, daß Fräulein Squeers, als die Zeit herannahte, in keiner kleinen Verwirrung war, jedenfalls aber Vorsorge getroffen hatte, sich aufs vorteilhafteste herauszuputzen. Ihr Haar, das bedeutend ins Rote stach und wie ein Tituskopf geschoren war, fiel von dem Scheitel in fünf korkzieherartigen Lockenreihen herunter und verhüllte gar kunstreich die Mängel des zweifelhaften Auges. Nichts zu sagen von dem blauen Leibgürtel, dessen Enden über den Rücken hinunterhingen, oder der gestrickten Schürze, den langen Handschuhen, der grünen, über die Schulter geworfenen und unter dem andern Arme geknüpften Schleierschärpe oder den übrigen zahlreichen Toilettenkniffen, die man als ebenso viele für Nicolaus‘ Herz bestimmte Pfeile betrachten konnte.

Diese Vorkehrungen waren kaum zu ihrer vollen Zufriedenheit beendigt, als ihre Freundin mit einem weiß und braun gewürfelten Päckchen anlangte, das einige kleine Putzartikel enthielt, die man erst hier anziehen wollte, was denn auch die Müllerstochter unter unablässigem Geplauder tat. Als Fräulein Squeers ihrer Freundin das Haar »gemacht« hatte, machte die Freundin Fräulein Squeers das Haar, wobei sie zugleich einige augenfällige Verschönerungen anbrachte, z.B. eine Lockenpartie über den Nacken hinunterfallen ließ usw. Als nun beide zu ihrer vollkommenen Zufriedenheit herausgeputzt waren, zogen sie ihre langen Handschuhe an und gingen in vollem Staat die Treppe hinunter nach dem Zimmer, wo alles für den Empfang der Gesellschaft bereit war.

»Wo ist dein Johann, Thilda?« fragte Fräulein Squeers.

»Nur nach Hause gegangen, um sich umzukleiden«, versetzte die Freundin; »er wird aber hier sein, noch ehe der Tee fertig ist.«

»Wie mir das Herz pocht«, sagte Fräulein Squeers.

»Ach, ich kenne das«, entgegnete die Freundin.

»Du weißt, Thilda, ich bin so etwas nicht gewöhnt«, sagte Fräulein Squeers, die Hand an die linke Seite ihres Leibgürtels legend.

»Ei, das gibt sich bald, meine Liebe«, tröstete die Freundin.

Während sie sich in dieser Weise unterhielten, brachte das ausgehungerte Dienstmädchen das Teegeschirr herein, und bald nachher klopfte jemand an der Türe.

»Er ist’s!« rief Fräulein Squeers. »O Thilda!«

»Pst!« sagte Thilda. »Hm! sage doch herein!«

»Herein!« rief Fräulein Squeers mit schwacher Stimme.

»Guten Abend«, sagte der junge Mann, ohne von seiner Eroberung auch nur eine Ahnung zu haben. »Ich hörte von Herrn Squeers, daß – –«

»O ja, es ist ganz recht«, fiel Fräulein Squeers ein. »Der Vater trinkt den Tee nicht mit uns, aber ich denke. Sie werden ihn nicht sehr vermissen –« sie sagte das mit einem schalkhaften Blick.

Nicolaus machte große Augen, ließ aber, da er sich gerade um nichts besonders kümmerte, die Sache beruhen und benahm sich, als er der Müllerstochter vorgestellt wurde, mit so viel Anmut, daß diese junge Dame von Bewunderung ganz hingerissen wurde.

»Wir warten nur noch auf einen weiteren Herrn«, sagte Fräulein Squeers, indem sie den Deckel des Teekessels abnahm und hineinsah, um zu prüfen, ob der Tee koche.

Es war Nicolaus ziemlich gleichgültig, ob man auf einen Herrn oder auf zwanzig warte, und so nahm er denn diese Kunde vollkommen unbekümmert hin. Sein Geist war gedrückt, und da er keinen besondern Grund einsah, warum er sich angenehm machen sollte, so blickte er durch das Fenster und seufzte unwillkürlich.

Der Zufall fügte es, daß Fräulein Squeers‘ Freundin, die ein neckisches Mädchen war, Nicolaus seufzen hörte, und so setzte sie sich’s in den Kopf, das Liebespärchen mit seiner Niedergeschlagenheit zu necken.

»Wenn nur meine Anwesenheit daran schuld ist«, sagte die junge Dame, »so dürft ihr euch nicht daran kehren, denn ich bin in demselben Spital krank. Ihr könnt ganz tun, als ob ihr allein wäret.«

»Thilda«, sagte Fräulein Squeers, bis zu ihrer obersten Lockenreihe errötend – »ich muß mich deiner schämen.«

Die beiden Freundinnen brachen nun in ein wiederholtes Kichern aus und schossen hin und wieder über ihren Taschentüchern weg Blicke nach Nicolaus, der aus der Befangenheit des höchsten Staunens allmählich in ein unwiderstehliches Gelächter überging, das teils schon durch den Gedanken, daß er in Fräulein Squeers verliebt sein sollte, teils aber auch durch das alberne Aussehen und Benehmen der zwei Mädchen veranlaßt wurde. Diese beiden Umstände zusammengenommen deuchten ihm so drastisch komisch, daß er ungeachtet seiner armseligen Lage lachte, bis er nicht mehr konnte.

»Je nun«, dachte Nicolaus, »da ich einmal hier bin und man aus einem oder dem andern Grunde von mir zu erwarten scheint, daß ich zu der Erheiterung der Gesellschaft beitrage, so wäre es sehr unpassend, wie ein Pinsel dazustehen. Ich will mich daher der Gesellschaft anpassen.«

Wir müssen mit Erröten gestehen, daß sein Jugendmut und seine Lebhaftigkeit für eine Weile den Sieg über seine trübseligen Gedanken davontrugen. Sobald er zu einem Entschluß gekommen war, trat er mit großer Galanterie auf Fräulein Squeers und ihre Freundin zu, rückte einen Stuhl an den Teetisch und begann sich mit einem Freimut zu bewegen, wie wohl kaum je ein Hilfslehrer in dem Hause seines Prinzipals getan hat, seit das Institut der Hilfslehrer erfunden ist.

Die Damen waren höchlich entzückt über Herrn Nicklebys verändertes Benehmen, als endlich der erwartete junge Mann anlangte. Seine Haare waren noch naß, da er sich eben erst gewaschen hatte. Ein reines Hemd, dessen Kragen irgendeinem riesigen Altvordern angehört zu haben schien, bildete, nebst einer weißen Weste von ähnlichem Umfang, die Hauptzierde seiner Person.

»Nun, Johann?« sagte Fräulein Mathilda Price, denn dies war der volle Name der Müllerstochter.

»Nun?« erwiderte Johann mit einem Grinsen, das selbst der Kragen nicht verbergen konnte.

»Ich bitte um Verzeihung«, fiel Fräulein Squeers ein, indem sie sich beeilte, die beiden sich gegenseitig vorzustellen: »Herr Nickleby – Herr Johann Browdie.«

»Angenehm, Sir«, sagte Johann, der über sechs Fuß hoch war und ein Gesicht nebst einem Rumpf besaß, deren Verhältnisse eher für zu groß als für zu klein betrachtet werden konnten.

»Freue mich Ihrer Bekanntschaft, Sir«, sagte Nicolaus, indem er unter den Butterschnitten fürchterliche Verheerungen anrichtete.

Herr Browdie war kein Mann von besonders geselligen Talenten; er grinste daher noch zweimal, und da er nun jeder Person der Gesellschaft seinen gewohnten Aufmerksamkeitsbeweis abgestattet hatte, grinste er zum drittenmal, ohne einen besondern Grund, und langte gleichfalls zu.

»Ist die Alte fort?« fragte Herr Browdie mit vollen Backen.

Fräulein Squeers nickte bejahend.

Herr Browdie verzog den Mund zu einem noch liebenswürdigeren Grinsen, als sei er der Ansicht, daß wirklicher Grund zum Lachen vorhanden wäre, und fing dann wieder an, die Butterbrote mit erneuter Kraft zu bearbeiten. Es war wirklich sehenswert, wie er und Nicolaus aufräumten.

»Ich denke, Sie bekommen auch nicht alle Abend Butterschnitten«, sagte Herr Browdie, nachdem er Nicolaus eine Weile über den leeren Teller weg angestiert hatte.

Nicolaus biß sich errötend in die Lippen und tat, als ob er diese Bemerkung nicht gehört hätte.

»Zum Kuckuck«, sagte Herr Browdie mit einem lauten Lachen, »sie pflegen einem hier nicht allzuviel aufzutischen. Sie werden bald nichts mehr als Haut und Knochen an sich haben, wenn Sie lange genug hier bleiben, hihi!«

»Sie sind sehr spaßhaft, Sir«, erwiderte Nicolaus verächtlich.

»Na, das wüßt´ ich nicht«, versetzte Herr Browdie, »aber der andere Lehrer – zum Kuckuck! – der war so dünn wie ein Zwirnfaden!«

Die Erinnerung an die Schmächtigkeit des letzten Lehrers schien Herrn Browdie in das größte Entzücken zu versetzen; denn er lachte, bis er es für nötig fand, sich mit den Rockärmeln die Augen auszuwischen.

»Ich weiß nicht, ob Ihr Begriffsvermögen so weit geht, um Sie einsehen zu lassen, daß Ihre Bemerkungen sehr beleidigend sind, Herr Browdie«, sagte Nicolaus in steigendem Zorne. »Wenn das aber der Fall ist, so haben Sie die Güte, mir zu – – «

»Wenn du noch ein Wort sagst, Johann«, schrie Fräulein Price, indem sie ihrem Verehrer den Mund zuhielt, »nur noch ein halbes Wort, so werde ich es dir nie vergeben und nie wieder mit dir sprechen.«

»Ei mein Schatz, was kümmere ich mich um ihn?« sagte der Kornhändler, Fräulein Mathilda einen herzhaften Kuß versetzend; »meinetwegen mag er schwatzen, so viel er will.«

Fräulein Squeers hatte jetzt Nicolaus zur Ruhe zu bringen, was sie denn auch unter vielen Anzeichen von Angst und Schrecken tat. Die Wirkung dieser doppelten Vermittlung war, daß der Hilfslehrer und Johann Browdie sich mit vieler Würde über dem Tische die Hände schüttelten – eine ergreifende Szene, bei der Fräulein Squeers vor Rührung Tränen vergoß.

»Was hast du denn, Fanny?« fragte Fräulein Price.

»Nichts, Thilda«, entgegnete Fräulein Squeers schluchzend.

»Sie hatten ja nie im Sinne, sich etwas zuleide zu tun«, meinte Fräulein Price, »nicht wahr, Herr Nickleby?«

»Nicht im geringsten«, versetzte Nicolaus. »Das wäre recht abgeschmackt gewesen.«

»So ist´s recht«, flüsterte Fräulein Price. »Sagen Sie ihr etwas Freundliches, so werden Sie sie bald wieder herumbringen. Sollen Johann und ich ein wenig in die Küche gehen und nach einer Weile wieder kommen?«

»Um alles in der Welt nicht«, entgegnete Nicolas«, nicht wenig durch diesen Vorschlag in Schrecken gesetzt. »Ich kann mir keinen Grund denken, warum ich es wünschen sollte.«

»Nun«, sagte Fräulein Price, ihn auf die Seite winkend, indem sie in einem etwas verächtlichen Tone fortfuhr, »Sie sind mir ein sauberer Anbeter.«

»Was wollen Sie damit sagen?« erwiderte Nicolaus. »Es fällt mir nicht ein, hier einen Anbeter spielen zu wollen. Ich weiß nicht, was ich aus all diesem machen soll?«

»Nicht? Nun, so weiß ich´s auch nicht«, versetzte Fräulein Price: »aber die Männer sind immer wankelmütig, sind es von jeher gewesen und werden es stets sein; das wenigstens läßt sich sehr leicht aus dem Ganzen ersehen.«

»Wankelmütig?« rief Nicolaus. »Wie kommen Sie zu dieser Anschuldigung? Sie wollen mir doch nicht andeuten, daß Sie der Meinung sind– –«

»O, nein, ich habe hier gar keine Meinung«, entgegnete Fräulein Price schnippisch. »Sehen Sie sie an, wie hübsch sie gekleidet ist, und wie gut sie aussieht – in der Tat, fast schön. Ich würde mich an Ihrer Stelle schämen.«

»Aber mein liebes Kind, was habe ich mit ihrem hübschen Anzug und mit ihrem guten Aussehen zu schaffen?« fragte Nicolaus.

»Sie brauchen mich nicht ›mein liebes Kind‹ zu nennen«, sagte Fräulein Price, konnte aber dabei ein leichtes Lächeln nicht unterdrücken, denn sie war hübsch und nach ihrer Weise ein wenig gefallsüchtig, Nicolaus ein schöner Mann und nach ihrer Ansicht das Eigentum einer andern – lauter Gründe, die ihr den Gedanken schmeichelhaft erscheinen lassen konnten, selbst einen Eindruck auf ihn gemacht zu haben; – »denn Fanny könnte glauben, daß ich am Ganzen schuld wäre. Kommen Sie, wir wollen ein bißchen miteinander Karten spielen.«

Mit den letzteren Worten, die sie laut sprach, trippelte sie hinweg und schloß sich dem stämmigen Yorkshirer an.

Dieses Benehmen war Nicolaus ein vollkommenes Rätsel, denn alles, was er im gegenwärtigen Augenblick dachte, beschränkte sich darauf, daß Fräulein Squeers ein ganz gewöhnlich aussehendes, und ihre Freundin, Fräulein Price, ein recht hübsches Mädchen wäre. Aber er hatte keine Zeit, über die Sache weiter nachzudenken; denn der Tisch war inzwischen abgewischt und das Licht geschneuzt worden, und so setzten sie sich zu einer Partie Karten nieder.

»Wir sind nur zu vier, Thilda«, sagte Fräulein Squeers mit einem schlauen Blick auf Nicolaus; »wir werden daher guttun, wenn wir zwei gegen zwei spielen und uns Kompagnons wählen.«

»Was meinen Sie, Herr Nickleby?« fragte Fräulein Price.

»Mit dem größten Vergnügen«, antwortete Nicolaus.

Mit diesen Worten warf er, ohne zu ahnen, was er für einen entsetzlichen Verstoß beging, seine Spielmarken, die aus Dotheboys Hall-Ankündigungskarten bestanden, mit denen, die Fräulein Price zugeteilt waren, zusammen.

»Herr Browdie«, sagte Fräulein Squeers mit einem krampfhaften Lachen, »wollen wir Bank gegen sie machen?«

Der Yorkshirer, augenscheinlich aufs äußerste verblüfft über die Unverschämtheit des neuen Hilfslehrers, willigte ein, und Fräulein Squeers schoß mit konvulsivischem Lächeln einen Giftblick nach ihrer Freundin.

Das Ausgeben kam an Nicolaus, dem gleich anfangs günstige Karten zufielen.

»Wir wollen alles gewinnen«, sagte er.

»Thilda hat schon etwas gewonnen, was sie vermutlich nicht erwartete – gelt Schätzchen?« versetzte Fräulein Squeers boshaft.

»Nur zwanzig Punkte, meine Liebe«, versetzte Fräulein Price, sich anstellend, als hätte sie die Frage im buchstäblichen Sinne verstanden.

»Wie stumpf es auch heute abend in deinem Kopfe aussieht!« höhnte Fräulein Squeers.

»O, im Gegenteil«, entgegnete Fräulein Price; »ich bin sehr aufgeweckt, aber mir scheint, du seist nicht bei Laune.«

»Ich?« rief Fräulein Squeers, sich in die Lippen beißend und vor Eifersucht zitternd: »nicht doch!«

»Das ist schön«, bemerkte Fräulein Price. »Aber dein Haar kommt aus den Locken, meine Teure.«

»Kümmere dich nicht um mich«, kicherte Fräulein Squeers; »du tätest besser, auf deinen Kompagnon zu achten.«

»Ich bin Ihnen für diese Erinnerung verbunden, denn ich bin ganz Ihrer Ansicht, Fräulein Squeers«, sagte Nicolaus.

Der Yorkshirer glättete sich ein paarmal mit der geballten Faust die Nase, als wolle er seine Hand in Übung erhalten, bis er Gelegenheit hätte, sie gegen das Gesicht eines andern in Tätigkeit zu setzen; und Fräulein Squeers warf ihren Kopf mit einer solchen Entrüstung in die Höhe, daß der durch die Bewegung der unzähligen Locken erzeugte Windstoß beinahe das Licht ausgelöscht hätte.

»Ich habe in der Tat nie so viel Glück gehabt«, rief die gefallsüchtige Müllerstochter nach einigen weiteren Spielen. »Gewiß, das muß ich Ihnen zuschreiben, Herr Nickleby. Ich möchte Sie nur immer zum Kompagnon haben.«

»Ihre Wünsche begegnen hier den meinigen.«

»Aber Sie werden ein böses Weib bekommen, wenn Sie immer im Kartenspiel gewinnen«, sagte Fräulein Price.

»Nicht, wenn Ihr Wunsch in Erfüllung geht«, erwiderte Nicolaus; »denn ich bin überzeugt, daß ich dann ein recht gutes haben würde.«

Es wäre wohl Goldes wert gewesen, mit anzusehen, wie Fräulein Squeers während dieser Unterhaltung den Kopf in die Höhe warf und der Kornhändler seine Nase zerdrückte, während es Fräulein Price augenscheinlich Spaß machte, beide eifersüchtig zu machen, und Nicolaus Nickleby in glücklicher Unwissenheit nicht entfernt daran dachte, daß er soviel Mißbehagen errege.

»Die Unterhaltung bleibt, wie es scheint, uns ganz überlassen«, sagte Nicolaus, sich in heiterer Laune an dem Tische umsehend, indem er zugleich die Karten ergriff, um aufs neue zu geben.

»Sie führen sie auch so gut«, kicherte Fräulein Squeers, »daß es schade wäre, sie zu unterbrechen, – nicht wahr, Herr Browdie? He! he! he!«

»Je nun«, entgegnete Nicolaus, »es geschieht, weil niemand anders das Wort nehmen will.«

»Ihr wißt wohl, daß wir gerne mit euch sprechen, wenn ihr nur etwas sagen wollt«, fügte Miß Price bei.

»Ich danke dir, meine liebe Thilda«, erwiderte Fräulein Squeers, sich in die Brust werfend.

»Oder ihr könnt euch miteinander unterhalten, wenn ihr nicht mit uns sprechen wollt«, sagte Fräulein Price, ihren Verlobten neckend. »Johann, warum bist du denn so stumm?«

»Stumm?« wiederholte der Yorkshirer.

»Ja, ja, stumm und dämlich. Sprich doch nur auch etwas!«

»Wohlan denn«, rief der Kornhändler, indem er aus Leibeskräften mit der Faust auf den Tisch schlug: »was ich sprechen will, ist dies – der Teufel soll mich lotweise holen, wenn ich das länger mit ansehen kann. Du gehst mit mir nach Hause, und dieser luftige Hasenfuß da mag sich auf einen zerbrochenen Schädel gefaßt machen, sobald er mir unter die Hände kommt.«

»Um Gotteswillen, was soll das?« rief Fräulein Price mit verstelltem Erstaunen.

»Komm mit heim, sag‘ ich dir – komm mit heim«, entgegnete der Yorkshirer mit Nachdruck.

Fräulein Squeers brach inzwischen in einen Strom von Tränen aus, der zum Teil seinen Grund in der tödlichen Kränkung, zum Teil auch in dem ohnmächtigen Wunsch hatte, irgend jemandem das Gesicht mit ihren liebenswürdigen Fingernägeln zu zerkratzen.

Dieser Stand der Dinge war durch verschiedene Anlässe und Triebfedern herbeigeführt worden. Fräulein Squeers hatte dazu beigetragen, weil sie sich der hohen Ehre einer Anwartschaft auf den Brautstand rühmte, ohne hinreichende Gründe dafür zu haben; Fräulein Price war durch drei Trümpfe, die sie ausspielte, beteiligt: einmal wollte sie ihre Freundin für die Anmaßung, mit ihr hinsichtlich eines Titels, auf den sie kein Recht hatte, zu rivalisieren, bestrafen. Zweitens wollte sie dem Kornhändler einen augenfälligen Beweis liefern, welche große Gefahr für ihn aus einer längern Verzögerung der Trauungszeremonien erwachsen könnte; während das Scherflein des armen Nicolaus in der gedankenlosen Heiterkeit einer halben Stunde und in dem aufrichtigen Wunsch bestand, jede Vermutung eines zwischen ihm und Fräulein Squeers bestehenden Liebesverhältnisses zurückzuweisen. Unter solchen Umständen ließ sich natürlich kein anderer Ausgang erwarten; denn junge Frauenzimmer sehnen sich nach der Haube, suchen sich in dem Wettrennen nach dem Traualtar gegenseitig den Rang abzulaufen, benutzen alle Gelegenheiten, ihre Reize auf die vorteilhafteste Weise zu entfalten – und werden es tun bis ans Ende der Welt, wie sie es von Anbeginn an getan haben.

»Ei, und da schwimmt Fanny jetzt in Tränen!« rief Fräulein Price, als setze sie dieses in ein neues Staunen. »Was soll denn das heißen?«

»O, Sie wissen es nicht, Jungfer – natürlich. Sie können es nicht wissen. Ich bitte, bemühen Sie sich nicht mit Fragen«, versetzte Fräulein Squeers mit einem Gesicht, das man bei Kindern ›eine Fratze schneiden‹ nennt.

»Nun, so etwas ist mir doch noch nie –« rief Fräulein Price.

»Wer kümmert sich darum, ob Ihnen etwas vorgekommen ist, oder nicht, Mamsell«, entgegnete Fräulein Squeers mit einer neuen Gesichtsverzerrung.

»Sie sind zu höflich, Mamsell«, erwiderte Fräulein Price.

»Ich werde nicht zu Ihnen kommen, um mir von Ihnen Unterricht in der Höflichkeit erteilen zu lassen, Mamsell«, belferte Fräulein Squeers.

»O, Sie brauchen sich keine solche Mühe zu nehmen, da doch nur Hopfen und Malz verloren wäre«, entgegnete Fräulein Price.

Fräulein Squeers errötete bis über die Ohrcn und dankte Gott, daß sie keine so freche Stirn wie gewisse Leute habe; und Fräulein Price in Erwiderung wünschte sich Glück, daß sie nicht wie gewisse Personen von dem Teufel des Neides und der Mißgunst besessen sei. Fräulein Squeers machte noch eine allgemeine Bemerkung hinsichtlich der Gefahr, die man laufe, wenn man sich mit gewöhnlichen Leuten einlasse, worauf Fräulein Price vollkommen beipflichtete, indem sie bemerkte, dies wäre vollkommen wahr und sie hätte sich selbst schon längst ähnliche Gedanken gemacht.

»Thilda«, rief Fräulein Squeers mit Würde, »ich hasse dich!«

»Ach, und ich versicherer dich, daß ich meine Liebe auch nicht an dich zu verschwenden gedenke«, erwiderte Fräulein Price, ihre Hutbänder mit einem zornigen Ruck zuzerrend. »Aber ich weiß bestimmt, du wirst dir die Augen ausweinen, wenn ich weg bin.«

»Ich verachte deine Worte, du Hexe.«

»Ihr Mund ist nicht imstande, zu beschimpfen«, antwortete die Müllerstochter mit einem tiefen Bückling. »Gute Nacht, Fräulein – süße Träume.«

Mit diesem Abschiedswunsche rauschte Fräulein Mathilda Price aus dem Zimmer, während ihr der stämmige Yorkshirer folgte, nachdem er noch vorher, ehe er das Haus verließ, mit Nicolaus jenen eigentümlichen, ausdrucksvollen Zornblick gewechselt hatte, womit die eisenfresserischen Helden im Trauerspiel sich gegenseitig anzudeuten pflegen, daß sie sich wiederzutreffen gedächten.

Sie waren kaum fort, als Fräulein Squeers die Voraussagung ihrer ehemaligen Freundin bewahrheitete, indem sie einem ganzen Strom von Tränen Luft machte und in unzusammenhängenden Worten ihre trostlosen Klagen laut werden ließ. Nicolaus sah ihr einige Augenblicke zu, unschlüssig, welchen Weg er einschlagen sollte. Da er aber halb voraussah, der Anfall würde damit endigen, daß er sich einer Umarmung oder einer Gesichtszerkratzung unterziehen müsse – Bußen, die er beide für gleich angenehm erachtete –, so ging er in größter Ruhe von hinnen, während Fräulein Squeers fort und fort in ihr Taschentuch schluchzte.

»Das ist nun die Folge meiner verwünschten Bereitwilligkeit, mich jeder Gesellschaft, in die mich der Zufall führt, anzupassen«, dachte Nicolaus, als er sich nach dem finstern Schlafsaal hingetappt hatte. »Wäre, ich stumm und regungslos sitzen geblieben, wie ich wohl hätte tun können, so würde das nicht vorgefallen sein.«

Er horchte einige Augenblicke, aber alles blieb ruhig.

»Ich freute mich«, sagte er vor sich hin, »dem Anblick dieser Jammerhöhle und ihres verworfenen Herrn einen Augenblick entkommen zu sein. Jetzt habe ich diese Leute hintereinander gehetzt und mir zwei neue Feinde gemacht, wo ich doch, weiß der Himmel, keines weitern bedurfte. Nun, es ist eine gerechte Strafe dafür, daß ich, wenn auch nur auf eine Stunde, vergaß, wo ich bin.«

Mit diesen Worten suchte er sich tastend seinen Weg durch die gedrängten Haufen der armen kleinen Schläfer und schlüpfte in sein elendes Bett.

Zehntes Kapitel.


Zehntes Kapitel.

Wie Herr Ralph Nickleby für seine Nichte und Schwägerin sorgt.

Am zweiten Morgen nach Nicolaus‘ Abreise saß Käthchen Nickleby in einem ziemlich verblichenen Lehnsessel, der auf einer sehr staubigen Erhöhung stand, in Fräulein La Creevys Zimmer, um von derselben ihr angefangenes Porträt vollenden zu lassen. Damit übrigens zu dessen höchster Vervollkommnung nichts fehle, hatte Fräulein La Creevy den Haustürrahmen heraufbringen lassen, um aus demselben für Fräulein Nicklebys Antlitz eine helle salmenfleischrote Farbe zu entnehmen, auf die sie ursprünglich bei der Porträtierung eines jungen Offiziers verfallen war, und die von Fräulein La Creevys Hauptgönnern und Freunden als etwas ganz Neues in der Kunst betrachtet wurde, was auch wirklich der Fall war.

»Ich denke, ich habe es jetzt«, sagte Fräulein La Creevy. »Ganz derselbe Schatten. Gewiß, es wird das lieblichste Bild werden, das ich je gemalt habe.«

»Dann ist es jedenfalls nur Ihre Kunst, die es dazu macht«, versetzte Käthchen lächelnd.

»Nein, nein, das gebe ich nicht zu, meine Liebe«, entgegnete Fräulein La Creevy. »Gewiß – der Gegenstand schon ist allerliebst –, obgleich natürlich einiges auf die Behandlungsweise ankommt.«

»Und zwar nicht wenig«, bemerkte Käthchen.

»Da haben Sie allerdings recht, meine Liebe«, erwiderte Fräulein La Creevy – »in der Hauptsache recht, obgleich ich nicht einräumen kann, daß dies in dem gegenwärtigen Falle besonders in Betracht kommt. Ach, die Kunst hat ihre großen Schwierigkeiten, meine Teure.«

»Ich zweifle nicht daran, und es muß wohl so sein«, sagte Käthchen, auf das Steckenpferd ihrer gutmütigen kleinen Freundin eingehend.

»Ach, sie übersteigen alle Begriffe«, erwiderte Fräulein La Creevy. »Sie haben keine Ahnung davon, was es für Mühe kostet, dem Auge den gehörigen Ausdruck zu geben und die Nase in das geeignete Verhältnis mit dem Kopfe zu bringen, von Zähnen gar nicht zu reden.«

»So etwas läßt sich kaum mit Geld bezahlen«, meinte Käthchen.

»Da haben Sie vollkommen recht«, entgegnete Fräulein La Creevy; »und dann sind die Leute auch so unvernünftig und schwer zu befriedigen, daß man unter zehn Porträts kaum eins mit Vergnügen malen kann. Das eine Mal sagen sie: »Ach, was für ein ernstes Gesicht haben Sie mir gemacht, Fräulein La Creevy«; ein andermal heißt es: »Aber Fräulein La Creevy, was ist das für ein schmunzelnder Mund?« während doch ein gutes Porträt entweder ernst oder heiter sein muß, sonst ist es überhaupt kein Porträt.«

»Wirklich?« fragte Käthchen lachend.

»Gewiß, meine Liebe, denn die Sitzenden sind immer entweder das eine oder das andere«, versetzte Fräulein La Creevy. »Betrachten Sie die Porträts in der königlichen Akademie – alle die schönen Bilder von Herren in schwarzen Samtwesten mit den auf runden Tischen oder Marmorplatten ruhenden Händen sind bekanntermaßen ernsthaft; und Damen, die mit Sonnenschirmchen, Schoßhündchen oder kleinen Kindern spielen, müssen nach denselben Kunstregcln lächelnd gehalten werden. In der Tat gibt es«, fuhr Fräulein La Creevy in einem vertraulichen Flüstern fort – »nur einen zweifachen Porträtstil – den ernsten und den heitern; des ersteren bedienen wir uns immer bei Geschäftsmännern, des letztern bei Damen oder bei Herren, die sich nicht viel darum kümmern, ob sie gescheit aussehen oder nicht.«

Käthchen schien durch diese Belehrung sehr erheitert zu werden, während Fräulein La Creevy weiter malte und in einem fort mit unveränderter Selbstgefälligkeit plauderte.

»Es scheint, daß Sie viele Offiziere malen müssen«, sagte Käthchen, indem sie eine kleine Pause in der Unterhaltung benutzte, um sich im Zimmer umzusehen.

»Viele, mein Kind?« fragte Fräulein La Creevy, von ihrer Arbeit aufsehend. »Ah, Sie meinen die Charakterporträts – es sind keine wirkliche Militärpersonen.«

»Nicht?«

»Du mein Himmel, nein. Es sind nur Schreiber, Ladendiener und dergleichen, die sich eine Uniform mieten und sie in einem Tuch eingeschlagen herschicken, um sie beim Sitzen anziehen zu können. Einige Künstler halten sich einen Scharlachrock und berechnen für seine Benutzung nebst dem Karmin acht Schilling extra. Ich gebe mich jedoch nicht mit derartigen Spekulationen ab, da ich sie nicht für recht halte.«

Fräulein La Creevy warf sich bei diesen Worten in die Brust, als ob sie sich viel darauf zugut täte, daß sie derartige, Kunden anködernde Kunstgriffe verschmähe, und malte dann wieder emsig fort, indem sie nur hier und da den Kopf aufrichtete, um irgendeine Schattierung, die sie eben angebracht hatte, mit einem unaussprechlichen Wohlbehagen zu betrachten, oder hin und wieder Fräulein Nickleby zu verstehen gab, mit welchem besonderen Teil ihres Gesichts sie eben beschäftigt wäre, »nicht damit Sie ihn in eine malerische Haltung bringen sollen, meine Liebe«, bemerkte sie ausdrücklich, »sondern es ist nur unsere Gewohnheit, den Sitzenden zu sagen, bei welcher Partie wir sind, damit sie, wenn sie einen besondern Ausdruck in derselben angebracht wissen wollen, diesen noch beizeiten hineinlegen können.«

»Und wann«, sagte Fräulein La Creevy nach einem langen Schweigen, was in dem gegenwärtigen Fall ungefähr einen Zeitraum von anderthalb Minuten bezeichnet, »wann hoffen Sie Ihren Onkel wiederzusehen?«

»Das weiß ich nicht zu sagen«, versetzte Käthchen, »denn wir harren bereits seit einigen Tagen vergebens auf seinen Besuch. Ich hoffe jedoch, daß er sich bald zeigen wird, denn die Ungewißheit ist schlimmer als alles andere.«

»Ich glaube, er hat Geld, nicht wahr?« fragte Fräulein La Creevy.

»Dem Vernehmen nach ist er sehr reich«, antwortete Käthchen. »Ich weiß dies freilich nicht mit Bestimmtheit, aber ich glaube es selber auch.«

»Ah, Sie können sich darauf verlassen, daß er es ist, sonst würde er nicht so grob sein«, bemerkte Fräulein La Creevy, die eine seltsame kleine Mischung von Schlauheit und Einfalt war. »Wenn einer ein Bär ist, so kann man im allgemeinen annehmen, daß er ziemlich unabhängig lebt.«

»Ei hat allerdings eine etwas rauhe Außenseite«, sagte Käthchen.

»Etwas rauh?« rief Fräulein La Creevy; »ein Igel ist ein Federbett gegen ihn. Ich habe in meinem ganzen Leben keinen solchen widerhaarigen alten Brummbart gesehen.«

»Ich vermute, daß dies nur so seine Art ist«, bemerkte Käthchen schüchtern. »Ich habe, glaube ich, gehört, daß er in früheren Jahren manche bittere Erfahrung gemacht hat, wodurch er sauertöpfisch wurde. Ich möchte nicht gern Schlimmes von ihm denken, solange ich nicht weiß, daß er es verdient.«

»Nun, das ist lobenswert«, versetzte die Porträtmalerin, »und behüte Gott, daß ich Sie zu einem Unrecht veranlasse. Aber könnte er jetzt nicht, ohne daß es ihm selbst wehe täte, Ihnen und Ihrer Mutter ein kleines Jahrgehalt auswerfen, das Sie beide nährte, bis sich eine passende Partie für Sie fände, und auch dann noch Ihrer Mutter eine sorgenfreie Lage bereitete? Was würden ihm z.B. hundert Pfund jährlich ausmachen?«

»Das weiß ich nicht«, sagte Käthchen mit großem Nachdruck, »aber mir würde es so viel ausmachen, daß ich lieber sterben, als sie annehmen wollte.«

»Ei, ei, was Sie da sagen«, versetzte Fräulein La Creevy.

»Es würde mir mein ganzes Leben verbittern, wenn ich von ihm abhängig sein müßte«, fuhr Käthchen fort. »Sogar das Betteln kommt mir weniger erniedrigend vor.«

»Wohl«, rief Fräulein La Creevy; »doch ich gestehe, meine Liebe, daß dies sonderbar genug klingt in Bezug auf einen Verwandten, über den eine unbeteiligte Person vor Ihren Ohren kein böses Wörtchen sagen soll.«

»Sie haben recht, es klingt allerdings sonderbar«, erwiderte Käthchen in einem weniger aufgeregten Tone. »Ich – ich – meinte übrigens damit nur, ich könnte es, da mir die Gefühle und Erinnerungen besserer Tage noch so lebhaft vor der Seele stehen, nicht ertragen, von der Gnade eines anderen zu leben – nicht vorzugsweise von der seinigen, sondern überhaupt.«

Fräulein La Creevy warf einen forschenden Blick auf ihre Gefährtin, als könne sie nicht recht glauben, daß nicht Ralph selbst der Gegenstand ihrer Abneigung wäre. Da sie aber einen schmerzlichen Ausdruck in den Zügen ihrer jungen Freundin bemerkte, so unterließ sie die Erwiderung.

»Ich wünsche nichts von ihm«, fuhr Käthchen fort, während Tränen über die Wangen flossen, »als daß er sich für mich soweit einsetzt, um mich durch seine Empfehlung – nur durch seine Empfehlung – in den Stand zu setzen, daß ich im buchstäblichen Sinne des Worts mein Brot verdienen und bei meiner Mutter bleiben kann. Ob wir je wieder glücklich sein werden, hängt von dem Schicksal meines lieben Bruders ab. Sorgt aber mein Onkel in der angedeuteten Weise für mich, und schreibt uns Nicolaus nur, daß er gesund und heiter ist, so will ich ja gern zufrieden sein.«

Sie hatte kaum zu sprechen aufgehört, als sich ein Rasseln hinter der spanischen Wand vernehmen ließ, die zwischen ihr und der Tür stand, und unmittelbar darauf pochte jemand an das Getäfel.

»Herein, wer es immer sein mag«, rief Fräulein La Creevy.

Der Klopfende leistete der Aufforderung Folge und ließ, als er ins Zimmer trat, nichts Geringeres als die Gestalt und Züge des Herrn Ralph Nickleby erkennen.

»Ihr Diener, meine Damen«, sagte Ralph, sie abwechselnd anblickend. »Sie sprachen so laut, daß ich nicht imstande war, mich bemerklich zu machen.«

Wenn Ralph Nickleby einen ungewöhnlich boshaften Gedanken in seinem Herzen barg, so war es seine Gewohnheit, seine Augen einen Augenblick fast ganz unter den dicken, buschigen Brauen zu verbergen und sie dann in ihrer vollen Schärfe hervorbrechen zu lassen. Da er es auch in dem gegenwärtigen Moment so machte und das Lächeln zu unterdrücken suchte, das seine dünnen, zusammengekniffenen Lippen mit boshaften Falten umzog, so fühlten beide, daß er wenigstens einen Teil, wo nicht das Ganze der Unterhaltung behorcht hatte.

»Ich war im Begriff, die Stiegen hinaufzugehen, wollte aber zuerst unten vorsprechen, weil ich halb und halb vermutete, dich hier zu treffen«, sagte Ralph zu Käthchen, indem er einen verächtlichen Blick auf das Porträt warf. »Ist dies das Porträt meiner Nichte, Madame?«

»Ja, Herr Nickleby«, entgegnete Fräulein La Creevy sehr lebhaft »und unter uns gesagt, Sir, es wird ein recht hübsches Porträt werden, obgleich es die Künstlerin selbst sagt.«

»Nehmen Sie sich nicht die Mühe, es mir zu zeigen, Madame«, versetzte Ralph zurücktretend; »ich habe kein Auge für Ähnlichkeiten. Ist es wohl bald fertig?«

»Bald«, erwiderte Fräulein La Creevy, indem sie, den Pinselstiel in den Mund nehmend, ein wenig nachsann. »Noch zwei Sitzungen werden –«

»Machen Sie’s gleich in einer ab, Madame«, sagte Ralph; »sie wird übermorgen keine Zeit mehr haben, um sie an dergleichen Torheiten zu verschwenden. Arbeit, Madame – Arbeit ist die Seele des Lebens; wir alle müssen arbeiten. Haben Sie Ihre Zimmer schon wieder vermietet, Madame?«

»Ich habe ihr noch nicht gekündigt, Sir«.

»So tun Sie es schnell, Madame. Meine Schwägerin braucht sie in der nächsten Woche nicht mehr, oder wenn es auch der Fall wäre, so wird es an der Bezahlung fehlen. – Nun, meine Liebe, wenn du bereit bist, so wollen wir keine Zeit mehr verlieren.«

Mit einer geheuchelten Freundlichkeit, die ihm sogar noch übler stand als sein gewohntes Benehmen, winkte Herr Ralph Nickleby der jungen Dame, vorauszugehen, verbeugte sich ernst gegen Fräulein La Creevy, schloß die Tür und folgte Käthchen die Treppe hinauf, wo ihn Frau Nickleby mit vielen Hochachtungsbezeugungen empfing. Ralph unterbrach sie jedoch in ihrem Redefluß mit einer ungeduldigen Handbewegung und ging auf den Zweck seines Besuches über.

»Ich habe einen Platz für Ihre Tochter gefunden«, sagte Ralph.

»Herrlich«, versetzte Frau Nickleby; »doch ich habe nichts anderes von Ihnen erwartet. Ich sagte erst gestern morgen beim Frühstück zu Käthchen: verlaß dich drauf, daß dein Onkel, nachdem er für Nicolaus so gut gesorgt hat, uns nicht verlassen wird, bis ihm mit dir ein gleiches gelungen ist. Ja, dies waren, soviel ich mich erinnern kann, meine Worte. Liebes Käthchen, warum dankst du nicht deinem –«

»Ich bitte, lassen Sie mich fortfahren, Madame«, unterbrach Ralph den Gießbach ihrer Beredsamkeit.

»Liebes Käthchen, laß deinen Onkel fortfahren«, sagte Frau Nickleby.

»Ich harre in der gespanntesten Erwartung, Mama«, erwiderte Käthchen.

»Nun, meine Liebe, wenn du so gespannt darauf bist, so wirst du besser tun, deinen Onkel sagen zu lassen, was er zu sagen hat, ohne ihn zu unterbrechen«, sagte Frau Nickleby mit manchem kleinen Nicken und Kopfschütteln. »Die Zeit deines Onkels ist kostbar, meine Liebe, und wie sehr es auch dein Wunsch sein mag – und es muß natürlich, teuren Verwandten gegenüber, die man noch so wenig kennt, wie wir deinen Onkel, unser Wunsch sein –, das Vergnügen, ihn bei uns zu haben, zu verlängern, so dürfen wir doch nicht selbstsüchtig sein, sondern müssen in Erwägung ziehen, was er für wichtige Geschäfte in der City hat.«

»Ich bin Ihnen sehr verbunden, Madame«, sagte Ralph mit einem kaum bemerklichen Hohnlächeln. »Der Umstand, daß man in dieser Familie nicht an Geschäfte gewöhnt ist, führt, wie ich sehe, zu einer großen Verschwendung von Worten, so daß man, wenn einmal von einem wirklichen Geschäft die Rede ist, gar nicht zu demselben kommen kann.«

»Ich fürchte, es ist nur zu wahr«, versetzte Frau Nickleby mit einem Seufzer. »Ihr armer Bruder –«

»Mein armer Bruder, Madame«, fiel Ralph mit Härte ein, »hatte gar keinen Begriff von einem Geschäft und kannte, wie ich zuverlässig glaube, nicht einmal die Bedeutung des Worts.«

»Ich fürchte, Sie haben recht«, sagte Frau Nickleby, ihr Schnupftuch an die Augen drückend. »Wenn er nicht mich gehabt hätte, so weiß ich nicht, was aus ihm geworden wäre.«

Welches seltsame Geschöpf ist nicht der Mensch? Der leichte Köder, den Ralph bei der ersten Begegnung so geschickt hingeworfen hatte, hing noch immer an der Angel. Bei jeder kleinen Entbehrung und Unbequemlichkeit, die Frau Nickleby im Laufe der vierundzwanzig Stunden des Tages an ihre beschränkten und veränderten Verhältnisse erinnerte, knüpfte sich ein mürrischer Rückblick auf ihre tausend Pfund, bis sie sich endlich ganz in die Überzeugung hineingearbeitet hatte, daß sie von allen Gläubigern ihres seligen Mannes am übelsten behandelt worden und daher am meisten zu beklagen sei. Und doch war sie nicht selbstsüchtiger als andere und hatte ihren Mann viele Jahre lang innig geliebt. So reizbar wird man durch plötzliche Verarmung! Ein anständiges Auskommen würde mit einemmal ihren Gedanken wieder die alte Richtung gegeben haben.

»Das Jammern hilft nichts, Madame«, sagte Ralph. »Von allem nutzlosen Treiben ist es das nutzloseste, einem Tag, der entschwunden ist, Tränen nachzuschicken.«

»Es ist so«, schluchzte Frau Nickleby, »es ist so.«

»Da Sie die Folgen der Hintansetzung eines rührigen Lebens an Ihrer eigenen Börse und Person so schwer empfinden, Madame«, fuhr Ralph fort, »so hoffe ich, Sie werden Ihren Kindern die Notwendigkeit unermüdlichen Arbeitens ans Herz legen.«

»Natürlich, natürlich«, entgegnete Frau Nickleby. »Traurige Erfahrungen, wie Sie wissen, Schwager – liebes Käthchen, führe das in deinem nächsten Briefe an Nicolaus an, oder erinnere mich daran, wenn ich ihm schreibe.«

Ralph hielt eine Weile inne, und nachdem er sich überzeugt hatte, daß die Mutter vollkommen auf seiner Seite wäre, wenn auch die Tochter gegen seinen Vorschlag etwas einzuwenden haben sollte, fuhr er fort:

»Die Stelle, die ich ihr zu verschaffen Sorge trug, Madame, ist bei – bei einer Putz- und Kleidermacherin, mit einem Worte.«

»Bei einer Putzmacherin?« rief Frau Nickleby.

»Einer Putz- und Kleidermacherin, Madame«, wiederholte Ralph. »Ich brauche einer Frau, die so viel Lebenserfahrung hat, nicht erst zu sagen, daß sich Kleidermacherinnen in London ein schönes Geld verdienen, Equipagen halten und zu großem Reichtum gelangen.«

Das Wort »Putz- und Kleidermacherin« hatte Frau Nicklebys Gedanken mit gewissen geflochtenen, mit Wachstuch ausgelegten Weidenkörben in Verbindung gebracht, die sie, wie sie sich erinnerte, in den Straßen hatte hin- und hertragen sehen. Aber als Ralph fortfuhr, verschwand dieser Eindruck und machte den Träumen von großen Häusern in dem Westend Londons, zierlichen Equipagen und Kapitalbriefen Platz – Bilder, die sich mit solcher Raschheit folgten, daß sie, noch ehe er ausgesprochen hatte, mit dem Kopf nickte und, augenscheinlich sehr zufrieden, ihre Zustimmung zu erkennen gab.

»Was dein Onkel sagt, ist vollkommen richtig, Käthchen«, sagte Frau Nickleby. »Ich kam, als wir kaum verheiratet waren, mit deinem armen Vater nach der Stadt, und ich erinnere mich noch recht gut, daß mir eine junge Dame einen Spadrihut mit weißem und grünem Besatz und grünem, seidenem Futter in ihrem eigenen Wagen, der in vollem Galopp anfuhr, ins Haus brachte; – ich weiß zwar nicht ganz bestimmt, ob es ihr eigener Wagen oder eine Mietkutsche war, aber ich erinnere mich noch recht gut, daß das Pferd beim Umwenden tot niederfiel, und daß dein armer Vater meinte, es hätte vierzehn Tage keinen Hafer zu fressen bekommen.«

Diese Anekdote, so schlagend sie auch die Wohlhabenheit der Putzmacherinnen darlegte, schien übrigens keinen besonderen Anklang zu finden, denn Käthchen ließ den Kopf sinken, und Ralph zeigte unzweideutige Spuren der äußersten Ungeduld.

»Die in Frage stehende Dame –« fiel Ralph hastig ein – »heißt Mantalini – Madame Mantalini. Ich kenne sie; sie wohnt in der Nähe von Cavandish-Square. Wenn Ihre Tochter geneigt ist, sich um die Stelle zu bewerben, so will ich sie gleich mit hinnehmen.«

»Hast du deinem Onkel nichts zu sagen, meine Liebe?« fragte Frau Nickleby.

»O, sehr viel«, versetzte Käthchen, »aber nicht jetzt. Ich möchte lieber unter vier Augen mit ihm sprechen. Es wird ihm Zeit ersparen, wenn ich ihm meinen Dank und das, was ich ihm zu eröffnen habe, auf dem Wege sage.«

Käthchen eilte mit diesen Worten hinaus, um die in ihren Augen quellenden Tränen zu verbergen und sich zum Ausgehen anzukleiden, während Frau Nickleby unter vielen Zähren ihren Schwager mit der umständlichen Beschreibung eines Klaviers aus Rosenholz und einer Garnitur Sessel mit gedrechselten Beinen und grünen Sitzpolstern unterhielt, die sie in den Tagen ihrer Wohlhabenheit besessen hätte, wobei sie anmerkte, daß von den letzteren jedes Stück zwei Pfund fünfzehn Schillinge gekostet hätte, daß aber bei der Versteigerung diese Raritäten fast um nichts losgeschlagen worden wären.

Diese Erinnerungen wurden endlich durch Käthchens Rückkehr abgeschnitten, und Ralph, der während der ganzen Zeit ihrer Abwesenheit ärgerlich dagesessen hatte, verlor nun keine Zeit mehr, sondern verließ ohne viele Zeremonien das Haus.

»Jetzt lauf, so schnell du kannst«, sagte er, indem er den Arm seiner Nichte nahm. »Du wirst dann in den Schritt kommen, dessen du dich jeden Morgen, wenn du ans Geschäft gehst, bedienen mußt.«

Mit diesen Worten führte er Käthchen mit tüchtig ausholenden Schritten nach Cavendish-Square.

»Ich bin Ihnen für Ihre Güte sehr verbunden«, sagte das Mädchen, nachdem sie eine Weile schweigend fortgeeilt waren.

»Das hör‘ ich gern«, sagte Ralph. »Ich hoffe, du wirst deine Schuldigkeit tun.«

»Ich will suchen, mich beliebt zu machen, Onkel«, versetzte Käthchen; »in der Tat, ich –«

»Fange mir nicht zu weinen an«, brummte Ralph, »ich kann dieses Geplärre nicht leiden.«

»Ich weiß wohl, daß es töricht ist, lieber Onkel –«, begann das arme Käthchen.

»Ja, das ist es«, erwiderte Ralph, ihr ins Wort fallend, »und sehr affektiert außerdem. Bleib mir mit derartigen Komödien vom Leibe.«

Das war vielleicht nicht die beste Art und Weise, die Tränen eines jungen und gefühlvollen Mädchens zu trocknen, die im Begriffe stand, eine ganz neue Laufbahn unter kalten und teilnahmlosen Fremden anzutreten; aber der Zweck wurde trotzdem erreicht. Käthchens Gesicht übergoß sich mit Glut, und ihre Brust wogte einige Augenblicke ungestüm; dann aber schritt sie mit festerem und entschlossenerem Schritte weiter.

Es lag ein seltener Gegensatz in dem Benehmen der beiden; das furchtsame Landmädchen schlüpfte schüchtern durch das Gedränge, das in den Straßen auf und nieder wogte, und hielt sich fest an ihren Begleiter, als fürchte sie, ihn in den Volksmassen zu verlieren, während der ernste, eherne Geschäftsmann mürrisch seines Weges ging, sich mit den Ellbogen Bahn brach und hin und wieder mit einem Vorübergehenden, der sich vielleicht überrascht nach seiner schönen Begleiterin umsah und sich über diese so übel zusammenstimmende Paarung wunderte, einen verdrossenen Gruß wechselte. Der Gegensatz wäre aber noch weit schneidender gewesen, wenn man in den Herzen, die so nahe beieinander schlugen, hätte lesen und die reine Unschuld des einen mit der heillosen Schurkerei des andern hätte vergleichen können. Wie gerne wäre man bei den arglosen Gedanken des holden Mädchens geweilt, und wie hätte man erstaunen müssen, wenn man unter den schlauen Anschlägen und Berechnungen des alten Mannes keine Spur von einem Gedanken an Tod oder Grab gefunden hätte. Aber es war so; und was noch auffallender ist, obgleich es alle Tage vorkommt – das junge, warme Herz pochte unter tausend Ängsten und Sorgen, während das des alten, weltlich gesinnten Mannes rostend in seiner Zelle lag und nur wie der Pendel einer Uhr ging, ohne je ein Pochen der Hoffnung, der Furcht, der Liebe oder der Teilnahme für irgendein lebendiges Wesen zu fühlen.

»Onkel«, sagte Käthchen, als sie dachte, daß sie dem Orte ihrer Bestimmung nahe wären, »ich muß eine Frage an Sie stellen. Werde ich zu Hause wohnen?«

»Zu Hause?« versetzte Ralph. »Wo ist das?«

»Ich meine bei meiner Mutter, der Witwe«, entgegnete Käthchen mit Nachdruck.

»Dein Aufenthalt wird im eigentlichen Sinne in Madame Mantalinis Haus sein«, erwiderte Ralph; »denn du wirst bei ihr essen und vom Morgen bis in die Nacht, vielleicht auch hin und wieder bis zum andern Morgen dort bleiben.«

»Aber ich meine des Nachts«, sagte Käthchen; »ich kann sie nicht verlassen, Onkel. Ich muß ein Plätzchen haben, das ich Heimat nennen kann, und das ist da, wo sie ist, wie armselig es auch sein mag.«

»Sein mag?« wiederholte Ralph in der Ungeduld, die durch diese Bemerkung veranlaßt wurde, seine Schritte noch mehr beschleunigend. »Sein muß, willst du sagen. Von einem Mögen zu sprechen! Ist das Mädchen toll?«

»Das Wort entfuhr meinen Lippen, ohne daß ich den Sinn hineinlegen wollte, den Sie darin finden«, versetzte Käthchen.

»Ich will’s hoffen«, entgegnete Ralph.

»Aber meine Frage, Onkel – Sie haben mir meine Frage noch nicht beantwortet.«

»Nun, ich sah etwas der Art voraus«, antwortete Ralph, »und habe deshalb, obgleich es ganz und gar nicht nach meinem Sinne ist, Vorkehrungen getroffen. Ich sprach von dir als einer Arbeiterin außer dem Haus, und so kannst du denn zu dieser Heimat, die eine armselige sein mag, jede Nacht deine Zuflucht nehmen.«

Hierin lag doch einiger Trost. Käthchen ergoß sich in hundert Dankesbezeugungen für ihres Onkels Besorgtheit, die auch von Ralph hingenommen wurden, als ob er sie vollkommen verdient hätte, bis sie endlich, ohne auf eine weitere Unterhaltung einzugehen, an dem Hause der Kleidermacherin anlangten. Eine schöne steinerne Treppe führte zu der Tür, über der eine große Tafel Madame Mantalinis Namen und Geschäft angab. In dem Haus befand sich ein Laden, der an einen Rosenölhändler vermietet war. Madame Mantalinis Magazin befand sich im ersten Stock, ein Umstand, der dem putzliebenden Publikum durch die gelegentliche Zurschaustellung einiger der elegantesten Damenhüte nach der neuesten Mode und einiger kostbarer Gewänder im schönsten Geschmack, die sich hinter mit prachtvollen Vorhängen behängten Fenstern befanden, angezeigt wurde.

Ein in Livree gekleideter Diener öffnete die Tür und führte sie auf Ralphs Frage, ob Madame Mantalini zu Hause wäre, durch eine schöne Hausflur über eine breite Treppe nach dem aus zwei geräumigen Zimmern bestehenden Magazin, das eine unermeßliche Fülle von modernen Kleidern und Kleiderstoffen zur Schau bot, die zum Teil an Gestellen oder über den Spiegeln hingen, zum Teil nachlässig auf den Sofas und auf dem Teppich des Bodens umherlagen oder sich auf irgendeine andere Weise mit dem verschiedenartigsten kostbaren Mobiliar mischten, das hier verschwenderisch zur Schau ausgestellt war.

Sie mußten weit länger warten, als es Herrn Ralph Nickleby angenehm war. Dieser betrachtete den bunten Tand um sich her mit großer Gleichgültigkeit und war endlich im Begriff, die Klingel zu ziehen, als plötzlich ein Herr den Kopf durch die Tür steckte, ihn aber ebenso schnell wieder zurückzog, als er bemerkte, daß jemand zugegen war.

»He, wer ist da?« rief Ralph.

Auf den Ton von Ralphs Stimme erschien der Kopf wieder, und ein Mund, der eine lange Reihe schneeweißer Zähne zeigte, sprach in einer gezierten Weise die Worte: »Der Teufel! Wie, Nickleby? O der Teufel!« Unter diesen Rufen trat der Herr näher und schüttelte Nicklebys Hand mit großer Wärme. Er war in einen prächtigen Morgenrock mit einer Weste und türkischen Beinkleidern von dem gleichen Zeuge gekleidet, trug ein rosenrotes seidenes Halstuch und hellgrüne Pantoffel und hatte eine schwere goldene Uhrkette über die Brust hängen. Er trug außerdem einen Backen- und Schnurrbart, beide schwarz gefärbt und zierlich gekräuselt.

»Zum Teufel, Sie werden doch nichts von mir wollen – Gott verdamm mich?« sagte der Herr, Ralph auf die Schulter klopfend.

»Noch nicht«, versetzte Ralph sarkastisch.

»Ha! ha! zum Teufel!« rief der Herr und drehte sich auf seiner Ferse, um mit noch größerer Eleganz lachen zu können, als er plötzlich Käthchen Nicklebys ansichtig wurde, die in der Nähe stand.

»Meine Nichte«, sagte Ralph.

»Ich erinnere mich –« versetzte der Herr, indem er sich gleichsam zur Strafe für seine Vergeßlichkeit mit dem Zeigefinger an die Nase schlug – »der Teufel, ich erinnere mich jetzt des Zwecks Ihres Besuches. Kommen Sie nur mit mir, Nickleby. Wollen Sie mir folgen, meine Beste? Ha! ha! sie folgen mir alle, Nickleby, und, zum Teufel, sie taten es immer.«

Der Herr plapperte in dieser geckenhaften Weise fort und führte die beiden nach einem Besuchszimmer im zweiten Stock, das kaum weniger elegant ausgestattet war als der Saal im ersten; und eine silberne Kaffeekanne, eine Eierschale und eine gebrauchte Porzellantasse dabei schienen anzudeuten, daß der Bewohner eben gefrühstückt hatte.

»Setzen Sie sich, meine Beste«, sagte der Herr, indem er Fräulein Nickleby so lange musterte, bis sie ganz aus der Fassung kam, und dann, entzückt über diese gelungene Heldentat, grinsend sein Gesicht verzog. »Diese verwünschten hochgelegenen Zimmer benehmen einem den Atem; der Henker hole solche Himmelswohnungen! Ich fürchte, ich muß ausziehen.«

»Ich würde das unter allen Umständen tun«, versetzte Ralph, bitter umherblickend.

»Ah, Sie sind ein verdammt altmodischer Kerl, Nickleby«, sagte der Herr, »der verwünschteste, übellaunigste, alte Spitzkopf, der je in Gold und Silber gewühlt hat, hol mich der Teufel«.

Nach diesen Komplimenten zog der Herr die Klingel, glotzte, bis dem Rufe Folge geleistet wurde, Fräulein Nickleby an und befahl dann dem Diener, seiner Gebieterin zu sagen, daß sie sogleich herkommen möchte, worauf er abermals Käthchen zu beäugeln begann und nicht eher davon abließ, bis Madame Mantalini erschien.

Die Kleidermacherin war eine rüstige, schön gekleidete und gut aussehende Frau, aber viel älter als der Herr in den türkischen Beinkleidern, den sie vor sechs Monaten geheiratet hatte. Er hieß ursprünglich Muntle, hatte aber seinen Namen durch eine leichte Veränderung in Mantalini umgewandelt, da die Dame mit Recht annahm, ein englischer Name würde das Geschäft wesentlich beeinträchtigen. Er hatte eigentlich auf seinen Backenbart geheiratet, von dem er mehrere Jahre einen anständigen Unterhalt gezogen hatte, und eine Vermehrung dieses Kapitals durch den Zuwachs eines Schnurrbartes, mit dem er nach langer und geduldiger Pflege sein Gesicht verschönert, versprach, ihm eine ganz behagliche Unabhängigkeit zu sichern. Sein Anteil an den Beschwerlichkeiten des Geschäfts beschränkte sich zurzeit auf das Durchbringen des Geldes und, wenn dieses auf die Neige ging, hin und wieder auf eine Fahrt zu Herrn Ralph Nickleby, um sich von ihm nach Abzug der geeigneten Prozente Vorschüsse auf die Kundenrechnungen geben zu lassen.

»Mein Leben«, sagte Herr Mantalini, »was für eine teufelmäßig lange Zeit haben wir auf dich warten müssen?«

»Ich konnte nicht wissen, daß Herr Nickleby hier ist, mein Schatz«, versetzte Madame Mantalini.

»Dann muß der Diener ein doppelt verteufelter, höllischer Spitzbube sein, meine Seele«, entgegnete Herr Mantalini.

»Das ist deine eigene Schuld, mein Teurer«, sagte Madame Mantalini.

»Meine Schuld, du Freude meines Herzens?«

»Gewiß«, erwiderte die Dame. »Was kannst du erwarten, mein Teuerster, wenn du den Menschen nicht zurechtweisen willst.«

»Den Menschen zurechtweisen, du Wonne meiner Seele?«

»Ja, es tut wahrlich recht not, daß man ein ernstes Wort mit ihm spricht«, schmollte Madame Mantalini.

»Sei nur nicht ungehalten«, sagte Herr Mantalini, »beim Teufel, er soll gepeitscht werden, bis er nach Gott schreit.«

Mit diesem Versprechen küßte Herr Mantalini Madame Mantalini und kniff nach diesem Zärtlichkeitsergusse Madame Mantalini scherzhaft ins Ohr, worauf man sich denn herabließ, zu Geschäftssachen überzugehen.

»Nun, Madame«, sagte Ralph, der diesen Vorgängen mit einer Verachtung zugesehen hatte, wie sie nur wenige Menschen in ihren Blicken auszudrücken vermögen, »dies ist meine Nichte.«

»Ah, richtig, Herr Nickleby«, versetzte Madame Mantalini, indem sie Käthchen von dem Kopfe bis zu den Füßen und wieder zurück besichtigte, »können Sie französisch sprechen, mein Kind?«

»Ja, Madame«, entgegnete Käthchcn, ohne es zu wagen, ihre Blicke aufzuschlagen; denn sie fühlte, daß die Augen des widerlichen Mannes im Schlafrock auf sie gerichtet waren.

»Auch so geläufig, wie eine verteufelte Französin?« fragte der Herr Gemahl.

Fräulein Nickleby gab hierauf keine Antwort, sondern wandte dem Frager den Rücken zu, als ob sie willens sei, nur auf das zu antworten, was Madame Mantalini sie fragen würde.

»Wir haben dauernd zwanzig junge Mädchen in unserem Geschäft«, sagte Madame.

»Wirklich, Madame?« versetzte Käthchen schüchtern.

»Ja, und auch einige verdammt schöne darunter«, sagte der Herr.

»Mantalini!« rief seine Gattin in verweisendem Tone.

»Abgott meines Lebens!« entgegnete Mantalini.

»Willst du mir das Herz brechen?«

»Nicht um zwanzigtausend Hemisphären, bevölkert mit – mit – mit kleinen Ballettänzerinnen«, erwiderte Herr Mantalini in poetischem Schwung.

»Du wirst’s aber tun, wenn du fortfährst, in dieser Weise zu sprechen«, sagte seine Gattin. »Was wird Herr Nickleby denken, wenn er so etwas mit anhören muß.«

»O, nichts, Madame«, fiel Ralph ein. »Ich kenne seine liebenswürdige Weise und auch die Ihrige. Weiter nichts, als kleine Bemerkungen, die Ihrer täglichen Unterhaltung einen pikanten Beigeschmack geben – Liebeshändel, die die häuslichen Freuden versüßen, wenn diese langweilig werden wollen – das ist alles, das ist alles.«

Wenn eine eiserne Tür mit ihren Angeln in Streit geraten und den Entschluß fassen könnte, sich grimmig langsam zu öffnen und die Feinde, um die sie sich dreht, in Staub zu zermalmen, so könnten die Töne kaum unangenehmer sein als die Worte, die Ralph in rauher und bitterer Stimme aussprach. Selbst Mantalini fühlte ihren Einfluß und drehte sich erschrocken mit dem Ausruf um:

»Welch ein verteufelt abscheuliches Krächzen!«

»Achten Sie nicht auf das, was Herr Mantalini sagt«, bemerkte Madame gegen Fräulein Nickleby.

»Das geschieht, Madame«, sagte Käthchen mit ruhiger Verachtung.

»Herr Mantalini kommt mit den jungen Frauenzimmern im Hause durchaus in keine Berührung«, fuhr Madame Mantalini, mit einem Blicke nach ihrem Gatten, gegen Käthchen fort. »Hat er eine von ihnen gesehen, so muß es auf der Straße gewesen sein, wenn sie von oder zu ihrer Arbeit gingen, in keinem Falle aber im Haus; denn ich gestatte nicht, daß er je in das Arbeitszimmer kommt. An was für Arbeitsstunden sind Sie gewöhnt?« –

»Ich bin überhaupt vorderhand noch gar nicht an die Arbeit gewöhnt, Madame«, antwortete Käthchen schüchtern.

»Und eben deshalb wird sie jetzt um so fleißiger arbeiten«, fiel Ralph ein, damit dieses Geständnis die Verhandlung nicht beeinträchtige.

»Ich hoffe das«, entgegnete Madame Mantalini. »Unsere Stunden sind von neun bis neun, auch noch länger, wenn wir mit Arbeit überhäuft sind, was aber dann besonders bezahlt wird.«

Käthchen nickte mit dem Kopf, um anzudeuten, daß sie mit dem Gehörten zufrieden wäre.

»Die Kost«, fuhr Madame Mantalini fort, »das heißt, Mittagessen und Tee erhalten Sie hier. Ihr Lohn wird sich durchschnittlich auf etwa fünf bis sieben Schillinge für die Woche belaufen. Ich kann mich jedoch hierüber noch nicht mit Bestimmtheit aussprechen, bis ich gesehen habe, was Sie zu leisten imstande sind.«

Käthchen nickte abermals.

»Wenn Sie kommen wollen«, fügte Madame Mantalini bei, »so ist’s am besten, wenn Sie Montag morgens punkt neun Uhr anfangen. Ich will Mamsell Knag, der ersten Arbeiterin, den Auftrag geben, daß sie Ihnen für den Anfang leichtere Geschäfte anweist. Haben Sie noch etwas zu wünschen, Herr Nickleby?«

»Nichts mehr, Madame«, versetzte Ralph aufstehend.

»Dann glaube ich, daß wir alles verhandelt haben.«

Nach diesen Worten sah Madame Mantalini nach der Tür, als wünsche sie sich zu entfernen. Aber sie zögerte noch, und es schien, als sei sie nicht willens, ihrem Gemahl die Ehre, den Besuchenden das Geleit zu geben, allein zu überlassen. Ralph half ihr jedoch aus der Not, indem er sich unverzüglich verabschiedete. Madame Mantalini erkundigte sich vorher noch gnädigst, warum man so selten die Ehre seines Besuches hätte, und Herr Mantalini verteufelte im Hinuntergehen mit großer Zungengeläufigkeit die Stiegen, in der Hoffnung, Käthchcn zu veranlassen, sich noch einmal umzusehen – eine Hoffnung, die jedoch das Resultat hatte, unerfüllt zu bleiben.

»So«, sagte Ralph, als sie auf die Straße traten; »jetzt wäre für dich gesorgt.«

Käthchen wollte ihm abermals danken, aber er fiel ihr ins Wort.

»Ich hatte den Gedanken«, sagte er, »deine Mutter in einer hübschen Gegend auf dem Lande unterzubringen –« er hatte nämlich das Recht, für etliche Stellen in den Armenhäusern an der Grenze von Kornwall Bedürftige vorzuschlagen, was ihm bei dieser Gelegenheit mehr als einmal in den Sinn gekommen war – »da ihr aber beisammenbleiben wollt, so muß ich sehen, wie sich’s anders machen läßt. Sie hat noch ein wenig Geld?«

»Sehr wenig«, versetzte Käthchen.

»Auch wenig wird weit reichen, wenn man sparsam damit umgeht«, entgegnete Ralph. »Sie muß es eben so gut wie möglich strecken; die Hausmiete soll sie nichts kosten. Ihr zieht am nächsten Samstag aus?«

»Sie sagten uns, daß wir es tun sollten, Onkel.«

»Ja; ich habe gegenwärtig ein leeres Haus, wo ich euch unterbringen kann, bis es vermietet ist, und dann steht mir vielleicht noch ein anderes zu Gebot, wenn sich nicht etwa die Umstände ändern. Ihr müßt vorderhand dort euren Aufenthalt nehmen.«

»Ist es weit von hier, Sir?« fragte Käthchen.

»Ziemlich weit«, antwortete Ralph: »in einem andern Teil der Stadt – an dem östlichen Ende. Aber ich will euch Samstag abend, um fünf Uhr meinen Schreiber schicken, der euch hinführen kann. Adieu. Du weißt doch den Weg? Geradeaus!«

Ralph verließ seine Nichte an dem Eingang der Regentstraße mit einem kalten Händedruck und bog unter fortwährenden Entwürfen des Gelderwerbs in eine Nebengasse ein, während Käthchen traurig nach ihrer Wohnung zurückging.

Elftes Kapitel.


Elftes Kapitel.

Herr Newman Noggs führt Frau und Fräulein Nickleby nach ihrer neuen Behausung in der City.

Käthchens Betrachtungen auf ihrem Heimweg waren von jener zaghaften Beschaffenheit, wie sie die Begebnisse des Morgens recht wohl hervorzurufen imstande waren. Das Benehmen ihres Onkels war nicht geeignet, die Zweifel und Bedenklichkeiten, die sich ihr bereits von Anfang an aufgedrungen hatten, zu zerstreuen, ebensowenig als sie der Blick, den sie in Madame Mantalinis Etablissement geworfen hatte, ermutigen konnte. Sie sah daher mit manchen düsteren Ahnungen und einem schweren Herzen dem Beginn ihrer neuen Laufbahn entgegen.

Wären Worte des Trostes imstande gewesen, ihr Gemüt in eine angenehmere und beneidenswertere Stimmung zu versetzen, so hätte dieses notwendig der Fall sein müssen, da es ihre Mutter an solchen durchaus nicht fehlen ließ. Diese gute Dame hatte sich während der Abwesenheit ihrer Tochter auf zwei authentische Fälle von Putzmacherinnen besonnen, die ein beträchtliches Vermögen besaßen, obgleich sie nicht mit Bestimmtheit anzugeben wußte, ob sie dieses ganz durch ihr Geschäft erworben und nicht vielleicht mit einem leidlichen Kapital angefangen hatten, oder ob sie so glücklich gewesen waren, eine vorteilhafte Partie zu treffen. Doch mochte dem sein, wie ihm wollte, jedenfalls konnte doch – wie sie sehr logisch bemerkte – irgendeine junge Person in diesem Geschäft, ohne etwas zum Anfang zu besitzen, ihr Glück gemacht haben, und wenn man diese Annahme gelten ließ, warum sollte das nicht auch bei Käthchen der Fall sein können? Fräulein La Creevy, die zu dem Familienrat hinzugezogen wurde, wagte es zwar, einiges Bedenken zu äußern, ob es wohl wahrscheinlich sei, daß Fräulein Nickleby in den Grenzen einer gewöhnlichen Lebensdauer dieses glückliche Ziel zu erreichen vermöge. Aber die gute Witwe schlug diese Frage dadurch zurück, daß sie erklärte, sie hätte in dieser Beziehung eine Ahnung – eine Art zweiten Gesichts, womit sie vordem jeden Beweisgrund des hingeschiedenen Herrn Nickleby zu Paaren zu treiben pflegte und diesen in zehn Fällen neun- und dreiviertelmal zu einem verkehrten Schritte verleitete.

»Ich fürchte nur, daß diese Beschäftigung nachteilig auf die Gesundheit einwirkt«, meinte Fräulein La Creevy. »Ich erinnere mich, daß mir, als ich zu malen anfing, drei junge Putzmacherinnen saßen, und daß alle sehr blaß und kränklich aussahen.«

»O das kann nicht als allgemeine Regel gelten«, bemerkte Frau Nickleby, »denn ich erinnere mich noch so gut, als wäre es gestern geschehen, daß ich mir zur Zeit, als die Scharlachmäntel Mode waren, einen solchen machen ließ, und daß mir bei dieser Gelegenheit eine Putzmacherin empfohlen wurde, die ein sehr rotes Gesicht – ja, ein sehr rotes Gesicht hatte.«

»Vielleicht trank sie«, meinte Fräulein La Creevy.

»Ich weiß nicht, wie sie es damit hielt«, versetzte Frau Nickleby; »aber ich weiß, daß sie ein sehr rotes Gesicht hatte, und somit ist Ihre Behauptung aus dem Felde geschlagen.«

In dieser Weise und mit ähnlichen schlagenden Beweisen wies die würdige Dame jeden kleinen Einwurf zurück, der sich dem Plan des Morgens entgegenstellte. Glückliche Frau Nickleby! Ein Projekt brauchte nur neu zu sein, um ihrem Geiste in den glänzendsten Farben zu erscheinen.

Als diese Frage bereinigt war, teilte Käthchen ihrer Mutter das Verlangen des Onkels, ihre gegenwärtige Wohnung zu verlassen, mit; und Frau Nicklcby ging mit der gleichen Bereitwilligkeit darauf ein, indem sie die charakteristische Bemerkung beifügte, daß es ihr an schönen Abenden eine angenehme Erholung gewähren würde, ihre Tochter aus dem Westend abzuholen. Sie vergaß aber dabei auf eine gleich charakteristische Weise, daß es fast in jeder Woche des Jahres auch regnerische Abende und schlechtes Wetter gebe.

»Es tut mir leid – in der Tat recht leid, Sie verlassen zu müssen, meine gnädige Freundin«, sagte Käthchen, auf die das wohlwollende Gemüt der Miniaturmalerin einen tiefen Eindruck gemacht hatte.

»Sie sollen mich trotzdem nicht verlieren«, versetzte Fräulein La Creevy mit aller Lebhaftigkeit, die ihr zu Gebote stand. »Ich werde Sie sehr oft besuchen, um zu hören, wie es Ihnen geht; und wenn es in ganz London und noch obendrein in der ganzen weiten Welt kein Herz geben sollte, das an Ihrem Wohle aufrichtigen Anteil nimmt, so sollen Sie doch eines in dem Busen eines kleinen alleinstehenden weiblichen Wesens finden, das jeden Tag und jede Nacht seine Gebete für Sie gen Himmel schickt.«

Bei diesen Worten schnitt die gute Seele, die ein Herz, groß genug für Gog, den Schutzgeist von London, und für Magog2 obendrein, besaß, eine Menge wundersamer Gesichter, die ihr, wenn sie diese festgehalten haben würde, ein großes Vermögen gesichert hätten, und setzte sich dann in eine Ecke, um ihren Gefühlen in Tränen Luft zu machen.

Aber weder Tränen noch Worte noch Hoffen noch Furcht konnten den gefürchteten Samstag abend und mit ihm Newman Noggs abhalten. Der letztere hinkte gerade in dem Augenblick, als die Kirchturmuhren der Nachbarschaft, die in der Zeit miteinander übereinstimmten, fünf schlugen, gegen die Haustür heran und hauchte seinen von Branntwein geschwängerten Atem durch das Schlüsselloch. Mit dem letzten Glockenschlag klopfte er.

»Von Herrn Ralph Nickleby«, kündigte sich Newman, als er die Stiege heraufgekommen, mit möglichster Kürze an.

»Wir werden im Augenblick bereit sein«, sagte Käthchen. »Wir haben zwar nicht viel mitzunehmen, aber ich fürchte doch, daß wir eine Kutsche brauchen werden.«

»Ich will eine holen«, versetzte Newman.

»O, nicht doch. Sie sollen sich nicht bemühen«, entgegnete Frau Nickleby.

»Aber ich will«, sagte Newman.

Es ist nicht daran zu denken, daß wir Sie in dieser Weise behelligen«, erwiderte Frau Nickleby.

»Sie können’s nicht hindern«, sagte Newman.

»Nicht hindern?«

»Nein. Ich dachte schon auf dem Herwege daran, aber ich nahm keine mit, weil ich glaubte, Sie möchten noch nicht fertig sein. Ich denke an gar viele Dinge. Niemand kann das wehren.«

»Ah, ich verstehe Sie jetzt, Herr Noggs«, sagte Frau Nickleby; »Gedanken sind natürlich frei, und es ist klar, daß jeder denken kann, was er will.«

»Sie würden es nicht sein, wenn gewisse Leute es ändern könnten«, murmelte Newman.

»Sie haben recht, Herr Noggs«, versetzte Frau Nickleby; »es gibt gewisse Leute, die sogar die Gedanken zwingen möchten. Was macht Ihr Prinzipal?«

Newman ließ einen vielsagenden Blick nach Käthchen gleiten und erwiderte mit einer starken Betonung des Nachsatzes seiner Antwort, daß Herr Ralph Nickleby wohlauf wäre und herzlich grüßen ließe.

»Wir sind ihm in der Tat sehr zu Dank verpflichtet«, bemerkte Frau Nickleby.

»Allerdings«, versetzte Newman; »ich will’s ihm ausrichten.«

Es war in der Tat nicht leicht, Newman Noggs zu vergessen, wenn man ihn einmal gesehen hatte, und als ihn Käthchen, veranlaßt durch das Seltsame seines Benehmens, das übrigens bei der gegenwärtigen Veranlassung ungeachtet seiner abgebrochenen Redeweise etwas Ehrerbietiges und sogar Zartes hatte, genauer betrachtete, so erinnerte sie sich, diese sonderbare Gestalt schon früher flüchtig wahrgenommen zu haben.

»Entschuldigen Sie meine Neugierde«, sagte sie, »aber habe ich Sie nicht schon an dem Morgen, als mein Bruder nach Yorkshire abreiste, in dem Posthofe gesehen?«

Newman warf einen ausdrucksvollen Blick auf Frau Nickleby und erwiderte mit kecker Stirne:

»Nein.«

»Nicht?« rief Käthchen: »und doch hätte ich mir getraut, es allenthalben zu behaupten.«

»Sie würden dann eine Unwahrheit behauptet haben«, erwiderte Newman. »Ich gehe heute seit drei Wochen das erstemal wieder aus; denn ich lag an der Gicht danieder.«

Newman hatte nichts weniger als das Aussehen eines mit der Gicht Behafteten, und auch Käthchen konnte sich dieses Gedankens nicht erwehren. Die weitere Erörterung wurde aber durch Frau Nickleby abgeschnitten, die darauf bestand, daß die Tür geschlossen würde, um Herrn Noggs keiner Erkältung auszusetzen, worauf sie ein Dienstmädchen nach einer Kutsche fortzuschicken beschloß, um besagtem Herrn einen möglichen Rückfall seiner Krankheit zu ersparen. Newman mußte nachgeben.

Der Wagen ließ nicht lange auf sich warten, und nach vielen tränenreichen Lebewohls und vielem geschäftigen Hin- und Herrennen von seiten des Fräulein La Creevy, in dessen Verlaufe der gelbe Turban in manche gewaltsame Berührung mit den Vorübergehenden kam, fuhr er – nicht der Turban, sondern der Wagen – mit den beiden Damen und ihrem Gepäck wieder ab. Newman hatte seinen Sitz auf dem Bock bei dem Kutscher genommen, ohne sich durch die Versicherungen der Frau Nickleby, daß es sein Tod sein könnte, beirren zu lassen.

Der Stromseite folgend gelangten sie in die City und machten nach einer langen und sehr langsamen Fahrt – denn in die Straßen drängten sich zu dieser Zeit Fuhrwerke aller Art – vor einem großen, alten, von Rauch geschwärzten Hause in der Themsestraße halt. Die Türen und Fenster desselben waren indessen so mit Kot bespritzt, daß es den Anschein hatte, als sei es seit Jahren nicht bewohnt worden.

Newman öffnete die Tür dieser verlassenen Wohnung mit einem Schlüssel, den er aus seinem Hute nahm – wir bemerken beiläufig, daß er in diesem wegen des schadhaften Zustandes seiner Taschen alles aufbewahrte und höchstwahrscheinlich auch sein Geld hier untergebracht haben würde, wenn er welches gehabt hätte – und ging, nachdem der Kutscher abgefertigt war, in das Innere der Behausung voran.

Es war ein altes, schwarzes, düsteres Nest, und ebenso waren auch die Zimmer, in denen sich ehedem so viel rühriges und geschäftiges Leben abgespielt hatte. An der Hinterseite befand sich ein Landungsplatz der Themse. Eine leere Hundehütte, einige Knochen, Reste von eisernen Reifen und alte Faßdauben lagen zerstreut umher: aber nirgends zeigten sich Spuren von Leben – alles ein kaltes, trauriges Bild des Verfalls.

»Es ist hier so drückend und beklemmend«, sagte Käthchen, »als ob das Haus unter irgendeinem schlimmen Einfluß stünde. Wenn ich abergläubisch wäre, so möchte ich fast glauben, daß in diesen alten Mauern irgendein schreckliches Verbrechen verübt wurde, und daß der Ort seitdem nicht mehr gedeihen konnte. Wie finster und düster hier alles aussieht!«

»Um Gotteswillen, meine Liebe«, versetzte Frau Nickleby, »rede nicht so, wenn ich mich nicht zu Tode fürchten soll.«

»Ach, Mama, es ist nur eine törichte Einbildung von mir«, sagte Käthchen, ein Lächeln erzwingend.

»Nun, so wünsche ich, meine Liebe, du behieltest solche törichte Einbildungen für dich und wecktest nicht auch meine törichten Einbildungen, um den deinen Gesellschaft zu leisten«, entgegnete Frau Nickleby. »Warum dachtest du denn nicht an all das früher? Du sorgst auch für gar nichts. Wir hätten Fräulein La Creevy um ihre Gesellschaft bitten oder einen Hund borgen oder tausend andere Dinge tun können. Aber so bist du – gerade wie dein armer seliger Vater. Wenn nicht ich an alles dächte – –«

So pflegte Frau Nickleby gewöhnlich ein allgemeines Klagelied zu beginnen, das sich durch ein Dutzend oder mehr verwickelter Sätze durchwand, die eigentlich an niemanden gerichtet waren, und in denen sie sich auch jetzt erging, bis ihr der Atem versagte.

Newman schien diese Bemerkungen nicht zu hören, sondern führte Mutter und Tochter nach ein paar Gemächern in dem ersten Stock, die man etwas wohnlich zu machen versucht hatte. In dem einen waren ein paar Stühle, ein Tisch, ein alter Teppich vor dem Herd und ein Feuer auf dem Kaminroste, in dem andern stand ein altes Feldbett und einige Schlafzimmergerätschaften.

»Nun, meine Liebe«, sagte Frau Nickleby, die sich Mühe gab, heiter zu sein, »erkennst du hier nicht die Umsicht und Sorgfalt deines Onkels? Ohne sie würden wir nichts getan haben als das Bett, das wir gestern kauften.«

»In der Tat, sehr gütig«, versetzte Käthchen umherblickend.

Newman Noggs sagte nicht, daß er die alten Möbel, die sie sahen, aus allen Ecken und Enden zusammengesucht, die auf dem Gesims stehende Milch zum Tee aus seinem eigenen Beutel bezahlt, den rostigen Kessel über dem Feuer gefüllt, die Holzspäne auf dem Hof hinter dem Hause gesammelt und die Kohlen erbettelt hatte. Aber der Gedanke, daß alles dieses in Ralph Nicklebys Auftrage geschehen sei, wollte ihm so gar wenig zusagen, daß er es sich nicht versagen konnte, nacheinander mit allen zehn Fingern zu knacken, was Frau Nickleby freilich anfangs etwas verblüffte. Da sie aber vermutete, es möchte in irgendeiner entfernten Beziehung zu seinem Gichtleiden stehen, so erlaubte sie sich keine Bemerkung.

»Wir dürfen Sie, glaube ich, nicht länger aufhalten«, sagte Käthchen.

»Haben Sie nichts mehr für mich zu tun?« fragte Newman.

»Nichts: ich danke Ihnen«, versetzte Fräulein Nickleby.

»Vielleicht, meine Liebe, hat Herr Noggs die Gefälligkeit, ein Glas auf unsere Gesundheit zu trinken«, fiel Frau Nickleby ein, indem sie in ihrem Strickbeutel nach einem kleinen Geldstück suchte.

»Ich fürchte, Mama«, entgegnete Käthchen stockend, als sie Newmans abgekehrtes Gesicht bemerkte, »Sie werden seine Gefühle verletzen, wenn Sie ihm etwas anbieten.«

Newman Noggs verbeugte sich gegen die junge Dame – mehr in der Weise eines Gentlemans als in der, wie sie für den armen Elenden, den sein Äußeres bekundete, zu passen schien. Er legte die Hände auf seine Brust, blieb eine Weile mit der Miene eines Mannes, der gerne sprechen möchte und nicht weiß, wie er’s angehen soll, stehen, wandte sich dann um und verließ das Zimmer.

Das schrille Echo der in ihr Schloß einklappenden schweren Haustür tönte so traurig durch das Gebäude, daß sich Käthchcn halb und halb versucht fühlte, den Schreiber ihres Onkels wieder zurückzurufen und ihn zu bitten, noch ein wenig zu verweilen. Aber sie schämte sich ihrer Besorgnisse, und so wanderte Newman Noggs seiner Heimat zu.

Zwölftes Kapitel.


Zwölftes Kapitel.

Teilt dem Leser mit, welchen Verlauf Fräulein Fanny Squeers‘ Liebe nahm

Es war ein glücklicher Umstand für Fräulein Fanny Squeers, daß ihr würdiger Papa, als er an dem Tag der kleinen Teepartie spät nach Haus kam, »zu sehr angezündet hatte«, um die zahlreichen Merkmale des höchsten Verdrusses zu gewahren, die sich unverhüllt in ihren Zügen aussprachen. Da er jedoch, wenn er zuviel im Oberstübchen sitzen hatte, ziemlich ungestüm und streitsüchtig war, so hätte es leicht der Fall sein können, daß er sich über den nächsten besten aus der Luft gegriffenen Gegenstand mit der Tochter überworfen hätte, wenn diese junge Dame nicht mit einer höchst empfehlenswerten, klugen Vorsicht darauf bedacht gewesen wäre, zur Ableitung des ersten Unwetters einen Knaben parat zu halten. Als sich dieses in der Form von Fußtritten und Fauststößen entladen hatte, beruhigte sich der Ehrenmann allmählich soweit, daß er sich überreden ließ, zu Bett zu gehen, was er denn auch gestiefelt und mit seinem Regenschirm unter dem Arm tat.

Das ausgehungerte Dienstmädchen begleitete Fräulein Squeers wie gewöhnlich nach dem Schlafgemach, um ihr daselbst das Haar zu wickeln, sonstige kleine Toilettendienste zu verrichten und ihr so viele Schmeicheleien zu sagen, wie sie aufzubringen vermochte; denn Fräulein Squeers war träge und überhaupt eitel und leichtfertig genug, um eine vornehme Dame abzugeben, wie sie sich denn auch in nichts als in den bloß durch eine ungerechte Willkür bestimmten Auszeichnungen des Ranges und der Stellung von einer solchen unterschied.

»Wie schön sich Ihr Haar diesen Abend kräuselt, Fräulein«, sagte das Kammerkätzchen. »Es ist in der Tat jammerschade, es auszukämmen!«

»Halts Maul!« versetzte Fräulein Squeers zornig.

Dem Mädchen war etwas der Art schon viel zu oft vorgekommen, um durch diesen Ausbruch übler Laune von seiten ihrer Gebieterin überrascht zu werden; und da sie halb und halb eine Vermutung von den Ereignissen des Abends hatte, so änderte sie ihren Operationsplan, mit dem sie sich angenehm zu machen gedachte, indem sie einen indirekten Weg einschlug.

»Ach, Fräulein«, sagte das Mädchen, »ich kann mir nicht helfen, aber es muß heraus, und wenn Sie mich umbringen sollten. In meinem ganzen Leben ist mir nie jemand von so ordinärem Aussehen vorgekommen, wie diesen Abend Fräulein Price.«

Fräulein Squeers seufzte und nahm eine horchende Stellung an.

»Ich weiß, es ist sehr unrecht von mir, daß ich so spreche, Fräulein«, fuhr da« Mädchen fort, hocherfreut, als sie bemerkte, daß ihre Worte Eindruck machten, »denn Fräulein Price ist Ihre Freundin und Ihr alles; aber sie putzt sich so heraus und bemüht sich, auf eine so anstößige Weise in die Augen zu fallen, daß – aber meinetwegen – wenn sich die Leute nur auch selbst sehen könnten.«

»Was meinst du damit, Phib?« fragte Fräulein Squeers, in ihren eigenen Handspiegel sehend, wo sie, wie die meisten von uns, nicht sich selbst, sondern den Reflex eines anmutigen Bildes ihrer Einbildungskraft erblickte.

»Was läßt dich so sprechen?«

»Was mich so sprechen läßt, Fräulein? Ach, es ist genug vorhanden, daß darob sogar ein alter Kater französisch sprechen könnte,« versetzte die Zofe. »Man darf sie nur ansehen, wie sie den Kopf hin und her wirft.«

»Sie wirft allerdings den Kopf hin und her«, bemerkte Fraulein Squeers mit zerstreuter Miene.

»So eitel, und doch so gar nichts an ihr!« sagte das Mädchen.

»Arme Thilda!« seufzte Fräulein Squeers mitleidig.

»Und wie tief ausgeschnitten sie ihr Kleid trägt, nur um sich bewundern zu lassen«, fuhr die Dienerin fort. »Mein Gott, sie treibt die Schamlosigkeit aufs äußerste!«

»Ich darf solche Äußerungen nicht gestatten, Phib«, sagte Fräulein Squeers. »Thildas Verwandte sind geringe Leute, und wenn sie es nicht besser weiß, so ist es die Schuld ihrer Familie und nicht die ihre.«

»Wohl«, sagte Phöbe, welchen Namen Fräulein Squeers, wenn sie guter Laune war, in Phib verwandelte; »aber könnte sie sich da nicht eine Freundin zum Muster nehmen? Ach, welch ein nettes Mädchen könnte mit der Zeit aus ihr werden, wenn sie sich nach Ihnen richten wollte und einmal einsehen lernte, was für üble Wege sie einschlägt.«

»Phib«, versetzte Fräulein Squeers mit würdevoller Miene, »es ziemt sich nicht, daß ich solche Vergleichungen anhöre; sie machen Thilda zu einer gewöhnlichen und unanständigen Person, und es könnte unfreundlich von mir scheinen, wenn ich ihnen mein Ohr leihen wollte. Sprechen wir daher von etwas anderem, Phib, denn obgleich ich sagen muß, daß Thilda Price, wenn sie sich irgend jemand zum Muster nehmen wollte – ich meine nicht gerade mich – –«

»O ja, gerade Sie, Fräulein«, fiel Phib ein.

»Nun, meinetwegen mich, wenn du’s so haben willst«, fuhr Fräulein Squeers fort. »Ich muß sagen, daß sie, wenn sie das tun wollte, bei weitem besser fahren würde.«

»Ja, und ich müßte mich sehr irren, wenn nicht noch jemand anders der gleichen Meinung wäre«, versetzte das Mädchen geheimnisvoll.

»Was willst du damit sagen?« fragte Fräulein Squeers.

»Nichts Besonderes, Fräulein«, antwortete das Mädchen; »aber genug – ich weiß, was ich weiß.«

»Phib«, entgegnete Fräulein Squeers mit theatralischem Anstand, »ich bestehe darauf, daß du dich näher erklärst. Was sollen diese geheimnisvollen Worte? Sprich!«

»Nun, wenn Sie es durchaus so haben wollen, Fräulein, so muß ich schon Farbe bekennen«, erwiderte die Zofe. »Herr Johann Browdie ist der gleichen Ansicht mit Ihnen, und wenn er nicht schon zu weit gegangen wäre, um mit Ehren zurücktreten zu können, so würde er die Mamsell Price mit Freuden laufen lassen und bei Fräulein Squeers anzukommen suchen.«

»Gerechter Gott!« rief Fräulein Squeers, mit großer Würde die Hände zusammenschlagend. »Was ist das?«

»Die Wahrheit, Fräulein, nichts als die lautere Wahrheit«, erklärte die schlaue Phöbe.

»Welch eine Lage«, rief Fräulein Squeers. »So bin ich also, ohne es selbst zu wissen, drauf und dran, das Glück und den Frieden meiner lieben Thilda zu zerstören. Was ist doch der Grund, daß die Männer, ich mag wollen oder nicht, sich in mich verlieben und um meinetwillen ihren erkorenen Bräuten abtrünnig werden?«

»Der Grund liegt nahe, Fräulein – sie können nicht anders«, versetzte das Mädchen.

Wenn Fräulein Squeers der Grund war, so lag er allerding sehr nahe.

»Rede mir nie wieder so«, entgegnete Fräulein Squeers, »nie wieder – hörst du? Thilda Price hat Fehler – viele Fehler –, aber ich will ihr Wohl und wünsche vor allem, daß sie unter die Haube kommt, denn es ist ihr zu gönnen – besonders wegen der Beschaffenheit ihrer Mängel zu gönnen, daß sie je eher, je lieber einen Mann kriegt. Nein, Phib, sie soll nur ihren Browdie nehmen. Der arme Bursche dauert mich zwar, aber ich betrachte Thilda noch immer für meine Freundin, und ich hoffe nur, daß sie sich als Ehefrau besser macht, als es wahrscheinlich der Fall sein wird.«

Nach diesem Ergüsse ihrer Gefühle schlüpfte Fräulein Squeers in die Federn.

Groll ist ein kleines Wörtchen, aber es enthält ein so seltsames Gemisch von Gefühlen und Mißtönen als vielleicht das silbenreichste Wort unserer Sprache. Fräulein Squeers wußte in ihrem Innersten ebensogut wie ihre Dienerin, daß alles, was dieses armselige Geschöpf gesagt hatte, nichts als grobe, lügenhafte Schmeichelei war. Aber schon die Gelegenheit, einem bißchen Bosheit gegen ihre Beleidigerin Luft zu machen und gegen die Mängel und Schwächen derselben Mitleid zu heucheln – wäre es auch nur in Gegenwart eines elenden Dienstmädchens – gewährte ihrer üblen Laune eine fast ebenso große Erleichterung, als wenn alles, was zur Sprache kam, reinste Wahrheit gewesen wäre. Die Macht der Selbsttäuschung geht noch außerdem in Stunden der Aufregung so weit, daß Fräulein Squeers sich in ihrem edlen Verzicht auf Johann Browdies Hand ordentlich als groß und erhaben erschien und auf ihre Nebenbuhlerin mit einer Art heiliger Ruhe heruntersehen konnte, die nicht wenig zur Besänftigung ihrer wirren Gefühle beitrug.

Diese glückliche Gemütsstimmung übte einigen Einfluß, um den Weg zur Versöhnung zu bahnen, denn als am andern Morgen an die Tür gepocht und die Müllerstochter angekündigt wurde, begab sich Fräulein Squeers mit einer so christlichen Fassung in das Besuchszimmer, daß man es nicht ohne hohe Erbauung mit ansehen konnte.

»Du siehst, Fanny«, sagte die Müllerstochter, »daß ich wieder zu dir komme, obgleich wir gestern abend einigen Wortwechsel miteinander hatten.«

»Ich beklage deine Leidenschaftlichkeit, Thilda«, versetzte Fräulein Squeers, »aber ich bin darüber erhaben, einen Groll im Herzen nachzutragen.«

»Sei nicht böse, Fanny«, sagte Fräulein Price. »Ich komme, um dir eine Mitteilung zu machen, über die du dich, wie ich hoffe, freuen wirst.«

»Was mag das sein, Thilda?« fragte Fräulein Squeers, indem sie die Lippen aufwarf und eine Miene annahm, als ob nichts in Feuer, Wasser, Luft und Erde imstande wäre, ihr auch nur eine Spur des angedeuteten Gefühls zu entlocken.

»Als wir gestern abend dein Haus verließen«, fuhr Fräulein Price fort, »hatte ich mit Johann einen schrecklichen Streit.«

»Das kann mir keine Freude machen«, entgegnete Fräulein Squeers, obgleich sie ein wohlgefälliges Lächeln nicht zu unterdrücken vermochte.

»Lieber Gott, wie könnte ich auch so schlecht von dir denken?« erwiderte ihre Gefährtin; »das ist es nicht.«

»So?« sagte Fräulein Squeers, ihr Gesicht wieder in düsterere Falten legend. »Was weiter?«

»Nachdem wir uns lange herumgezankt und erklärt hatten, daß wir uns nie wieder sehen wollten«, fuhr Fräulein Price fort, »vertrugen wir uns wieder, und Johann ging diesen Morgen hin, um für den nächsten Sonntag das erste Aufgebot zu bestellen. Wir feiern daher in drei Wochen unsere Hochzeit, und ich teile es dir mit, damit du für das Brautjungfernkleid sorgen kannst.«

Dies war Galle und Honig in einem Becher – Galle, weil sie ihre Freundin so bald verheiratet sehen sollte, und Honig, weil ihr dadurch die Gewißheit wurde, daß die Müllerstochter keine ernsthaften Absichten auf Nicolaus unterhielt. Im ganzen wurde jedoch das Bittere durch das Angenehme so weit überwogen, daß Fräulein Squeers sich bereit erklärte, das Brautjungfernkleid machen zu lassen, und zugleich die Hoffnung ausdrückte, Thilda möchte glücklich sein. Man könne freilich nicht voraussehen, ob dies der Fall sein würde, und sie möchte ihr raten, nicht allzusehr darauf zu bauen; denn die Männer wären gar wunderliche Geschöpfe, und viele Frauen befänden sich in einer so traurigen Lage, daß sie sich von ganzem Herzen die schöne Zeit ihrer Mädchenjahre zurückwünschten. Diesen leidigen Trostsprüchen fügte Fräulein Squeers noch einige andere bei, die auf eine nicht minder edle Weise berechnet waren, ihrer Freundin Mut zu machen und ihre Freudigkeit zu erhöhen.

»Um auf etwas anderes zu kommen, Fanny«, sagte Fräulein Price, »ich möchte ein paar Worte wegen des jungen Nickleby mit dir sprechen.«

»Er ist mir gleichgültig«, fiel Fräulein Squeers schnippisch ein; »ich verachte ihn zu sehr.«

»O, das kann unmöglich dein Ernst sein«, versetzte ihre Freundin. »Sei aufrichtig, Fanny – du liebst ihn noch immer?«

Ohne eine direkte Erwiderung zu geben, brach Fräulein Squeers in einen Strom boshafter Tränen aus und rief, daß sie ein elendes, vernachlässigtes, unglückliches, mit Füßen getretenes Wesen sei.

»Ich hasse alle Welt«, schloß Fräulein Squeers ihren leidenschaftlichen Erguß, »und wollte, daß alle Menschen tot wären – ja, das wollte ich.«

»Barmherziger Himmel!« rief Fräulein Price, nicht wenig erschrocken über dieses Zugeständnis menschenfreundlicher Gesinnungen; »doch nein, du kannst unmöglich so im Ernst sprechen!«

»Es ist mein voller Ernst«, versetzte Fräulein Squeers, indem sie mit knirschenden Zähnen feste Knoten in ihr Taschentuch knüpfte; »und ich wollte, daß auch ich tot wäre.«

»Ach, du wirst in fünf Minuten ganz anders denken«, sagte Mathilda. »Wieviel besser würde es sein, ihn wieder in Gnaden aufzunehmen, als dich in dieser Weise selbst zu quälen; und wäre es nicht viel hübscher, ihn unter guten Bedingungen dir wieder ganz zu eigen zu machen, mit ihm zu scherzen, zu kosen und auf die angenehmste Weise mit ihm zu leben?«

»Ich weiß nicht, wie das alles sein würde«, schluchzte Fräulein Squeers. »O Thilda, wie hast du so ehrlos und niederträchtig handeln können? Ich würde es nimmermehr geglaubt haben, wenn ich es nicht selbst gesehen hätte.«

»Aber, aber!« rief Fräulein Price kichernd, »sollte man nicht glauben, ich hätte zum mindesten jemand umgebracht?«

»Es war fast eben so schlecht«, versetzte Fräulein Squeers leidenschaftlich.

»Und alles das, weil ich zufällig gut genug aussehe, um die Leute höflich gegen mich zu machen?« entgegnete Fräulein Price. »Niemand gibt sich sein Gesicht selber, und es ist ebensowenig meine Schuld, wenn ich das meine sehen lassen darf, als es die Schuld anderer Leute ist, wenn man ihnen das nicht nachrühmen kann.«

»Halt dein Maul«, schrie Fräulein Squeers in ihrem schrillsten Tone, »oder du zwingst mich, dich daraufhin zu schlagen, Thilda, was mir hinterdrein doch wieder leid tun würde.«

Wir brauchen nicht zu sagen, daß der Ton der Unterhaltung einigen Einfluß auf die Stimmung der jungen Dame übte, und daß, als Folge davon, der Wortwechsel eine Beimischung von Tätlichkeiten erhielt. In der Tat steigerte sich die Heftigkeit des Streites zusehends und wurde endlich so ungestüm, daß beide Teile in Tränen ausbrachen und gleichzeitig ausriefen, daß sie sich’s nimmermehr gedacht hätten, je einmal einer solchen Behandlung sich aussetzen zu müssen. Dieses führte zu Erörterungen und Gegenvorstellungen, was allgemach einen Ausgleich herbeiführte, und der Schluß war, daß sie sich in die Arme fielen und aufs neue ewige Freundschaft schworen. Wir bemerken hierbei, daß diese rührende Zeremonie nicht die erste, sondern bereits die zweiundfünfzigste im Laufe desselbigen Jahres war.

Da nun das gute Einvernehmen wieder völlig hergestellt war, so kam man auf die Anzahl und die Beschaffenheit der Kleider zu sprechen, die Fräulein Price für ihren Eintritt in den heiligen Stand der Ehe notwendig haben mußte, und Fräulein Squeers wies augenfällig nach, daß in dieser Hinsicht bedeutend mehr getan werden müsse, als der Müller tun konnte oder wollte, wenn man nicht allen Anstand außer Augen zu lassen beabsichtige. Die junge Dame leitete dann mittels eines leichten Übergangs das Gespräch auf ihre eigene Garderobe und führte, nachdem sie ihre Hauptraritäten der Länge nach aufgezählt hatte, ihre Freundin die Stiegen hinauf, damit sie sich persönlich überzeugen könne. Hier wurden nun die Schätze von zwei Kommoden und einem Wandschranke zur Schau gestellt und die kleineren Putzartikel anprobiert, bis es für Fräulein Price Zeit wurde, wieder nach Hause zurückzukehren. Da indes die letztere über die gesehene Pracht ganz entzückt und von Bewunderung einer Rosaschärpe ganz hingerissen war, erklärte Fräulein Squeers in der besten Laune von der Welt, daß sie ihre Freundin noch eine Strecke begleiten wolle, um noch länger das Vergnügen ihrer Gesellschaft zu genießen. Sie verließen daher miteinander das Haus, und während des Spazierganges sprach Fräulein Squeers ein langes und breites über die hohen Eigenschaften ihres Vaters, wobei sie zugleich, um ihrer Freundin einen schwachen Begriff von der ungemeinen Wichtigkeit und Überlegenheit ihrer Familie zu geben, dessen Einkommen verzehnfachte.

Es war gerade die der Erholung gewidmete Zeit zwischen dem Mittagessen und dem Beginne des Unterrichts, die Nicolaus gewöhnlich zu einem Spaziergang benutzte, auf dem er in melancholischem Brüten über seine unglückliche Lage verdrießlich durch das Dorf zu schlendern pflegte. Fräulein Squeers wußte das recht gut, mußte es aber wahrscheinlich vergessen haben; denn als sie den jungen Mann auf sich zukommen sah, ließ sie allerlei Anzeichen von Überraschung und Bestürzung blicken und beteuerte ihrer Freundin, es sei ihr, als ob sie in die Erde sinken müßte.

»Sollen wir umkehren, oder uns geschwind in ein Bauernhaus flüchten?« fragte Fräulein Price. »Er hat uns noch nicht gesehen.«

»Nein, Thilda«, versetzte Fräulein Squeers; »es ist meine Pflicht, mich zu überwinden, und ich will es.«

Fräulein Squeers sagte dies mit einem Tone, als ob sie einen hohen, edlen Entschluß gefaßt hätte, und da sie außerdem den schweren Kampf ihrer Gefühle durch einiges Seufzen und Luftschnappen kundgab, so erlaubte sich ihre Freundin keine weitere Bemerkung. Sie gingen gerade auf Nicolaus zu, der mit zur Erde gesenktem Blicke einherschritt und der beiden Mädchen nicht eher gewahr wurde, als bis sie ihm ganz nahe waren, da er sonst vielleicht selbst irgendwo ein Versteck gesucht haben würde.

»Guten Morgen«, sagte Nicolaus mit einer Verbeugung und ging vorüber.

»Er geht«, flüsterte Fräulein Squeers. »Ach, ich ersticke, Thilda!«

»Ach, Herr Nickleby!« rief Fräulein Price, indem sie tat, als beunruhige sie die Drohung ihrer Freundin, obgleich ihrem Benehmen nur der boshafte Wunsch, mit anzuhören, was Nicolaus sagen würde, zugrunde lag; »ach, Herr Nickleby, kommen Sie doch zurück.«

Herr Nickleby kam zurück und fragte in ziemlicher Verwirrung, womit er den Damen zu Diensten sein könne.

»Halten Sie sich nicht mit Reden auf«, drängte Fräulein Price, »sondern unterstützen Sie sie auf der andern Seite. Wie ist es dir jetzt, meine Liebe?«

»Besser«, seufzte Fräulein Squeer«, indem sie den rötlichbraunen, mit einem grünen Schleier versehenen Biberhut auf Nicolaus Schulter legte. »Ach, diese törichte Schwäche!«

»Nenne sie nicht töricht, meine Liebe«, sagte Mathilda Price, deren leuchtende Augen sich nicht wenig über die Verwirrung des Hilfslehrers lustig machten; «du hast keinen Grund, dich ihrer zu schämen. Diejenigen sollten sich schämen, die zu stolz sind, um sich durch etwas anderes, als solche Auftritte, wieder gutmachen zu lassen.«

»Sie sind, wie ich sehe, willens, mich fortwährend zu necken«, sagte Nicolaus lächelnd, »obgleich ich Ihnen bereits gestern abend sagte, daß ich mir keiner Schuld bewußt bin.«

»Hörst du? – er sagt, er sei sich keiner Schuld bewußt, meine Liebe«, bemerkte Fräulein Price boshaft. »Vielleicht warst du zu eifersüchtig oder zu vorschnell gegen ihn? Er sagt, er sei unschuldig, und ich denke, das ist Entschädigung genug.«

»Sie wollen mich nicht verstehen«, versetzte Nicolaus; »jedenfalls aber bitte ich, mich bei Ihrem Scherz aus dem Spiele zu lassen; denn ich habe keine Zeit und bin in der Tat auch nicht in der Stimmung, in dem gegenwärtigen Augenblick die Zielscheibe oder den Genossen Ihrer Heiterkeit abzugeben.«

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Fräulein Price mit geheucheltem Erstaunen.

»Frage ihn nicht, Thilda«, rief Fräulein Squeers; »ich vergebe ihm.«

»Gütiger Gott!« sagte Nicolaus, als der braune Hut abermals auf seine Schulter sank; »die Sache wird ernsthafter, als ich vermutete. Erlauben Sie – wollen Sie die Güte haben, mich anzuhören?«

Mit diesen Worten hob er den braunen Kastorhut in die Höhe; als er jedoch mit unverhohlenem Erstaunen einem Blicke zärtlichen Vorwurfs von Fräulein Squeers‘ Seite begegnete, trat er einige Schritte zurück, um aus dem Bereiche seiner schönen Bürde zu kommen, und fuhr folgerdermaßen fort:

»Es tut mir sehr leid – gewiß aufrichtig leid, daß ich gestern abend zu einer Mißhelligkeit unter Ihnen Anlaß gab. Ich habe mir selbst schon die bittersten Vorwürfe darüber gemacht, daß ich so unglücklich war, jenes Zerwürfnis zu veranlassen, obgleich ich versichern kann, daß es ohne mein Wissen und ohne meinen Willen geschah.«

»Schon gut, aber das ist gewiß nicht alles, was Sie zu sagen haben«, rief Fräulein Price, als Nicolaus innehielt.

»Ich fürchte es selber auch«, stammelte Nicolaus mit einem halben Lächeln und einem Blick auf Fräulein Squeers. »Es ist allerdings etwas höchst Albernes, aber – nein, schon die bloße Andeutung einer solchen Vermutung läßt einen wie einen Pinsel aussehen, – doch – darf ich fragen, ob diese Dame annimmt, daß ich irgendeine – mit einem Worte, glaubt sie, daß ich in sie verliebt bin?«

»Er ist jetzt köstlich in der Klemme«, dachte Fräulein Squeers; »endlich habe ich ihn soweit. – Antworte für mich, meine Liebe«, flüsterte sie ihrer Freundin zu.

»Ob sie das glaubt?« erwiderte Fräulein Price. »Natürlich glaubt sie es.«

»Sie glaubt es?« rief Nicolaus mit einem Ungestüm, daß man es wohl einen Augenblick für Entzücken nehmen konnte.

»Gewiß«, versicherte Fräulein Price.

»Wenn es Herr Nickleby bezweifelt hat, Thilda«, sagte die errötende Fanny in sanftem Ton, »so mag er sich beruhigen. Seine Gefühle werden erwid–«

»Halten Sie inne«, unterbrach sie Nicolaus hastig; »ich bitte, hören Sie mich. Hier waltet die seltsamste Täuschung, der gröbste Irrtum ob, der je einem Menschen vorgekommen ist. Ich habe das Fräulein kaum ein halb Dutzend Male gesehen, aber wäre dies auch sechzigmal der Fall gewesen, oder wenn ich bestimmt wäre, sie sechzigtausendmal zu sehen, so würde das für mich gewiß ganz das gleiche sein. Es ist mir nie ein Gedanke, ein Wunsch oder eine Hoffnung, die in Verbindung mit ihr stünde, aufgestiegen, es müßte denn – ich sage das übrigens nicht, um ihre Gefühle zu verletzen, sondern um ihr die wahre Beschaffenheit der meinen klarzulegen – es müßte denn etwas der Art in dem Sehnen zu finden sein, das meinem Herzen so nahe wie mein Leben selber liegt, diesem verfluchten Orte eines Tages den Rücken kehren zu können und nie wieder einen Fuß in denselben setzen, oder daran denken – ja nicht einmal anders daran denken zu dürfen als mit Abscheu und Ekel.«

Nach dieser in der Tat ungemein offenen und geraden Erklärung, den er sich mit allem Ungestüm eines entrüsteten und aufgeregten Herzens entledigte, verbeugte sich Nicolaus leicht und entfernte sich, ohne Erwiderung abzuwarten.

Aber das arme Fräulein Squeers! Ihr Ärger, ihr Zorn, ihre Wut und die rasche Aufeinanderfolge bitterer, leidenschaftlicher Gefühle, die durch ihre Seele stürmten – nein, das läßt sich nicht beschreiben. Zurückgewiesen! Zurückgewiesen von einem Hilfslehrer, den man durch eine Zeitungsannonce und durch einen Jahrgehalt von fünf Pfunden, zahlbar in unbestimmten Raten, aufgelesen und hinsichtlich der Kost und Wohnung ganz wie die Knaben selbst gehalten hatte! Und das noch obendrein in Gegenwart eines kleinen Äffchens von Müllerstochter, die ihre achtzehn Jahre zählte und sich in drei Wochen mit einem Manne verheiraten sollte, der sie auf den Knien um ihr Jawort angefleht hatte! Sie hätte bei dem Gedanken an diese Demütigung in der Tat allen Ernstes ersticken mögen.

Aber ungeachtet des Sturmes in ihrem Innern blieb ihr doch eines klar, und dies war, daß sie Nicolaus mit der ganzen Engherzigkeit und Erbärmlichkeit, die eines Abkömmlings aus dem Hause der Squeers würdig war, haßte und verabscheute. Auch blieb ihr noch ein Trost übrig, daß sie nämlich jede Stunde des Tages seinen Stolz verwunden und ihn durch kleine Gehässigkeiten, Kränkungen oder Verkürzungen verletzen konnte, um so mehr, da diese, wenn sie schon auf den Gleichgültigen einen unangenehmen Eindruck üben, von einem so reizbaren Manne, wie Nicolaus, doppelt bitter empfunden werden mußten. Durch diese beiden Betrachtungen gestärkt, suchte Fräulein Squeers die Sache zu ihrem Vorteil zu drehen, indem sie gegen ihre Freundin bemerkte, Herr Nickleby ist ein so wunderlicher Mensch und von so ungestümer Gemütsart, daß sie glaube, sie werde ihn wohl aufgeben müssen; und so trennten sich die beiden Damen.

Wir müssen hier bemerken, daß Fräulein Squeers, als sie ihre Liebe (oder was immer bei ihr dieses Gefühl repräsentierte) auf Nicolaus warf, keinen Augenblick an die Möglichkeit dachte, daß er in dieser Sache mit ihr verschiedener Ansicht sein könnte. Sie glaubte sogar, der junge Mann müsse sich durch den Vorzug, den sie ihm angedeihen ließ, über die Maßen geehrt fühlen; denn sie war ja schön und ansprechend, ihr Vater war der Chef und Nicolaus der Gehilfe, ihr Vater hatte Geld und Nicolaus keins – lauter Gründe, die sich wohl hören ließen. Dabei hatte sie auch recht wohl erwogen, wie angenehm sie ihm seine Lage als Freundin und um wieviel unangenehmer als Feindin machen konnte; und ohne Zweifel würden manche weniger gewissenhafte Leute, als Nicolaus, schon aus diesem sehr augenfälligen Grunde ihre Verirrung ermutigt haben. Nicolaus hielt es jedoch für geraten, anders zu handeln, und Fräulein Squeers war darüber wütend.

»Er mag zusehen«, sagte die aufgebrachte junge Dame, als sie wieder auf ihr Zimmer kam und ihr Inneres durch einen Ausfall auf Phib erleichtert hatte. »Wenn die Mutter zurückkommt, so will ich sie noch mehr gegen ihn aufhetzen.«

Das war kaum nötig, aber Fräulein Squeers machte ihrem Worte keine Unehre. Der arme Nicolaus wurde neben der schlechten Kost, der schmutzigen Wohnung und dem unflätigen Elend, dessen Zeuge er ohne Unterlaß sein mußte, mit jeder Art Herabwürdigung, die Bosheit und der niedrigste Geiz zu ersinnen vermochten, behandelt.

Aber das war noch nicht alles. Es gab noch ein anderes, tieferschneidendes Peinigungssystem, dessen Ungerechtigkeit und Grausamkeit ihn fast zur Verzweiflung brachten.

Der arme Smike folgte, seit Nicolaus einmal des Nachts im Schulzimmer freundlich mit ihm gesprochen hatte, in rastloser Dienstfertigkeit dem Hilfslehrer fast immer auf der Ferse, suchte dessen kleinen Bedürfnissen, soviel es in seinen Kräften lag, zuvorzukommen und fühlte sich glücklich, wenn er nur in seiner Nähe war. Er konnte stundenlang neben ihm sitzen und ihm ruhig ins Gesicht sehen, während ein Wort aus Nicolaus‘ Munde seine kummervollen Züge erheiterte und sogar einen vorübergehenden Strahl von Glück in diesem hervorrief. Er war ein ganz anderes Wesen, denn sein Leben hatte jetzt einen Zweck, nämlich den, der einzigen Person, die ihn – wenn nicht gerade mit Liebe, so doch wie einen Menschen behandelt hatte, seine Anhänglichkeit zu zeigen, obgleich diese Person ihm sonst fremd war.

Über dieses arme Wesen ergoß man nun ohne Unterlaß alle Bosheit und alle üble Launen, die man an Nicolaus nicht auslassen konnte. Die härtesten Knechtesdienste hätte er nicht in Anschlag gebracht, da er an diese von lange her gewöhnt war. Ohrfeigen ohne alle Ursache waren gleichfalls eine Angelegenheit, die sich von selber verstand, denn viele schwere und mühevolle Jahre hatte er nichts anderes gekannt. Kaum hatte man aber bemerkt, daß er eine Anhänglichkeit an Nicolaus zeige, so wurden ihm vom Morgen bis zum Abend nichts anderes als Peitschenhiebe und Faustschläge oder Faustschläge und Peitschenhiebe zuteil. Squeers war eifersüchtig auf den Einfluß, den sein Gehilfe so bald erworben hatte; die Squeerssche Familie haßte ihn, und Smike mußte beides entgelten. Nicolaus sah dieses und knirschte mit den Zähnen bei jeder Wiederholung eines solchen feigen und unmenschlichen Angriffs.

Er hatte einige regelmäßige Lehrstunden für die Knaben angeordnet, und eines Abends, als er in der unheimlichen Schulstube auf und ab ging und ihm das übervolle Herz bei dem Gedanken, daß sein Schutz und sein Wohlwollen das Elend eines höchst beklagenswerten Wesens nur noch vermehrt hätte, fast brechen wollte, blieb er auf einmal unwillkürlich in einer dunklen Ecke, wo der Gegenstand seiner Gedanken saß, stehen.

Der arme Junge saß mit rotgeweinten Augen emsig über einem zerrissenen Buche und mühte sich vergeblich ab, mit einer Aufgabe zustande zu kommen, die ein mit gewöhnlichen Fähigkeiten versehenes Kind von neun Jahren mit Leichtigkeit hätte lösen können, die aber für das verwirrte Gehirn des zertretenen neunzehnjährigen Burschen ein versiegeltes und hoffnungsloses Geheimnis war. Trotzdem saß er da, geduldig das Blatt wieder und wieder durchbuchstabierend, obgleich er nicht durch einen knabenhaften Ehrgeiz (denn er war die gemeinsame Zielscheibe des Spottes für seine ganze ungeschlachte Umgebung), sondern nur durch den eifrigen Wunsch, seinem einzigen Freunde zu gefallen, beseelt wurde.

Nicolaus legte die Hand auf seine Schulter.

»Ich komme nicht damit zustande«, sagte Smike niedergeschlagen, indem er mit einem Schmerzensblicke aufsah. »Nein, es geht nicht.«

»Du mußt dich nicht allzusehr anstrengen«, versetzte Nicolaus.

Smike schüttelte den Kopf, schloß das Buch mit einem Seufzer, stierte ausdruckslos um sich her und legte das Gesicht auf seinen Arm. Er weinte.

»Um Gottes willen, höre auf«, sagte Nicolaus mit erregter Stimme: »ich kann es nicht mit ansehen.«

»Sie sind schlimmer gegen mich als je«, schluchzte der Knabe.

»Leider, leider«, entgegnete Nicolaus.

»Aber für Sie«, fuhr der arme Kerl fort, »könnte ich in den Tod gehen. Ich weiß gewiß, sie haben es darauf abgesehen, mich unter die Erde zu bringen.«

»Du wirst es besser haben, armer Junge«, erwiderte Nicolaus, indem er traurig den Kopf schüttelte, »wenn ich fort bin.«

»Fort?« rief der andere mit einem starren Blicke nach Nicolaus‘ Gesicht.

»Still!« versetzte Nicolaus. »Ja.«

»Sie wollen also gehen?« flüsterte der Knabe angelegentlich.

»Ich kann’s noch nicht sagen«, entgegnete Nicolaus; »ich sprach mehr vor mich selber hin als zu dir.«

»Sagen Sie mir«, flehte der Knabe, »o sagen Sie mir, wollen Sie wirklich gehen – wollen Sie?«

»Sie werden mich endlich dazu zwingen«, antwortete Nicolaus. »Doch die Welt liegt ja offen vor mir.«

»Sagen Sie mir«, drängte Smike, »ist die Welt auch so schlimm und abscheulich wie dieser Ort?«

»Behüte Gott!« sprach Nicolcius, den Lauf seiner eigenen Gedanken verfolgend. »Ihre schwerste und sauerste Arbeit wäre ein Glück gegen das Leben hier.«

»Würde ich Sie dort treffen?« fragte der Knabe ungewöhnlich schnell und leidenschaftlich.

»Ja«, versetzte Nicolaus, in der Absicht, ihn zu beschwichtigen.

»Nein, nein«, sagte der andere, Nicolaus‘ Hand ergreifend, »würde ich – würde ich, – sagen Sie mir’s noch einmal. Geben Sie mir die Versicherung, daß ich Sie gewiß finden würde.«

»Du würdest es«, erwiderte Nicolaus in derselben wohlwollenden Absicht, »und ich würde dir Beistand leisten und nicht neue Leiden über dich bringen, wie ich hier getan habe.«

Smike drückte leidenschaftlich die Hände des jungen Mannes an seine Brust und ließ einige abgebrochene, unverständliche Worte laut werden. In demselben Augenblicke trat Squeers in die Stube und schlich nach seiner gewohnten Ecke.