Achtzehntes Kapitel.
Mamsell Knag, nachdem sie drei ganze Tage in Käthchen Nickleby ganz vernarrt gewesen, nimmt sich vor, sie für immer zu hassen. Die Gründe, die Mamsell Knag zu diesem Entschluß veranlassen.
Es gibt so manches Leben, das eine Kette von Kummer, Not und Leiden ist und für niemanden als für den, der es hinschleppen muß, ein aufregendes Interesse hat, da selbst gefühlvolle Personen ihre Teilnahme gar gerne verzärteln und nur da Rücksichten nehmen, wo ihr Mitleid durch kräftige Reizmittel geweckt wird.
Die Jünger der Menschenliebe zählen nicht wenige, die, um zu handeln, einer nicht geringeren künstlichen Aufregung bedürfen als die, die den Lüsten fröhnen, für ihr Treiben nötig haben. Daher kommt es auch, daß ein krankhaftes Mitleid und Mitgefühl jeden Tag auf außer dem Wege liegende Gegenstände verschwendet wird, während doch sogar in der Gesichts- und Gehörweite der gedankenlosesten Person jeden Augenblick nur zu viele Anforderungen an die zweckmäßige Übung dieser Tugenden, sobald man sie richtig verstehen will, ergehen.
Kurz, die Menschenliebe bedarf ihrer Romantik, wie sie der Roman- oder Schauspieldichter haben muß. Ein Dieb im Zwillichkittel ist ein gemeiner Charakter, an den Leute von Bildung gar nicht denken mögen; aber kleidet ihn in grünen Samt, gebt ihm einen hohen Hut und verlegt den Schauplatz seiner Tätigkeit aus einer dichtbevölkerten Stadt auf einen Gebirgspfad, und ihr werdet in ihm den poetischsten Abenteurer finden, der sich nur denken läßt. Ebenso geht es mit dieser einen großen Kardinaltugend, die, zweckmäßig gehegt und gepflegt, zu allen übrigen führt, die sie nicht vorweg notwendig in sich begreift. Sie muß ihr romantisches Interesse haben, und je weniger sich diesem von dem wirklichen mühevollen Werktagsleben beimischt, desto besser.
Das Leben, zu dem das arme Käthchen Nickleby durch eine unvorgesehene Verkettung von Umständen, die bereits in dieser Erzählung dargelegt sind, gezwungen war, gehörte in der Tat zu den drückenden. Aber damit ihm die Eintönigkeit, der ungesunde Aufenthalt in einem kerkerähnlichen Gemach und die körperliche Anstrengung, die die Hauptsache bildete, die Teilnahme der großen Masse von mitleidigen und gefühlvollen Seelen nicht ganz und gar entziehen, wollen wir lieber Fräulein Nickleby selbst im Auge behalten, um nicht gleich im Anfang jene wohlwollenden Herzen durch eine ausführliche und gedehnte Schilderung von Madame Mantalinis Etablissement zu erkälten.
»In der Tat, Madame Mantalini«, sagte Mamsell Knags, als Käthchen am ersten Abend ihres Antritts ihren mühsamen Weg nach Hause angetreten hatte, »diese Mamsell Nickleby ist eine vorzügliche junge Person – in der Tat, eine ganz vorzügliche junge Person – hm – auf mein Wort, Madame Mantalini. Es gereicht Ihrem Urteil zu einer außerordentlichen Ehre, daß Sie ein so ausgezeichnetes, anständiges und – hm – so wenig anmaßendes junges Frauenzimmer aufgefunden haben, um beim Anprobieren zu helfen. Ich habe manches junge Frauenzimmer gesehen, das, wenn es Gelegenheit bekam, sich vor Vornehmeren zu zeigen, sich auf eine Weise benahm – ach du mein Himmel! – aber Sie treffen’s doch auch immer, Madame Mantalini – ja, jedesmal: und ich sage den jungen Frauenzimmern stets, daß ich es nicht begreifen kann, wie Sie es anfangen, um in allem das Richtige zu treffen, da doch andere Leute so oft einen falschen Weg einschlagen.«
»Ich habe aber nicht bemerkt, daß Mamsell Nickleby heute etwas Besonderes getan hätte; es müßte denn sein, daß sie einen meiner besten Kunden in üble Laune versetzt hat«, entgegnete Madame Mantalini.
»Du mein Gott«, sagte Mamsell Knag, »Sie wissen ja, daß man der Unerfahrenheit viel zugut halten muß.«
»Und der Jugend?« fragte Madame.
»O davon will ich gerade nicht reden, Madame Mantalini«, versetzte Mamsell Knag errötend. »Wenn Jugend ein Entschuldigungsgrund wäre, so würden Sie keine –«
»So gute Aufseherin haben, wie das wirklich der Fall ist, denke ich«, ergänzte Madame.
»Ach, ich habe nie jemanden wie Sie gekannt, Madame Mantalini«, erwiderte Mamsell Knag äußerst selbstgefällig. »Ja, das muß wahr sein; denn Sie wissen, was jemand sagen will, ehe man noch Zeit hat, es über die Lippen zu bringen. Ach, vortrefflich, ha! ha! ha!«
»Was mich betrifft«, bemerkte Madame Mantalini, indem sie mit erkünstelter Unbefangenheit ihre Gehilfin ansah, aber sich im Innern dabei halb totlachen wollte, »so betrachtete ich Mamsell Nickleby für das ungeschickteste Mädchen, das ich je in meinem Leben sah.«
»Das arme, gute Ding«, sagte Mamsell Knag: »sie ist nicht schuld daran, wenn dies der Fall wäre, so könnten wir hoffen, den Schaden zu heilen: aber da es ihr Unglück ist, Madame Mantlalini – ei, Sie wissen ja, was der Mann von dem blinden Pferde sagte – so müssen wir eben Nachsicht haben.«
»Ihr Onkel sagte mir, sie hätte für hübsch gegolten«, bemerkte Madame Mantalini: »mir scheint sie aber eines der gewöhnlichsten Mädchen, das mir je vorgekommen ist.«
»Gewöhnlich!« rief Mamsell Knag mit vor Wonne strahlendem Gesicht; »und ungeschickt! Nun, alles, was ich sagen kann, Madame Mantalini, ist dies, daß ich das arme Mädchen ungemein liebe. Und sähe sie auch zweimal so gewöhnlich aus, und wäre sie noch einmal ungeschickter, als sie ist, so würde ich nur um so mehr ihre Freundin sein – ja, ja, gewiß und wahrhaftig.«
Mamsell Knag hatte in der Tat schon eine kleine Zuneigung zu Käthchen Nickleby gefaßt, als sie Zeuge ihres mißlungenen ersten Auftretens am Morgen gewesen war, und die eben erwähnte kurze Unterhaltung mit ihrer Vorgesetzten gab ihrer guten Meinung von dem Mädchen die überraschendste Ausdehnung, was um so merkwürdiger war, da ihr bei der ersten Musterung von Käthchens Gesicht und Figur manche Ahnungen aufgestiegen waren, daß sie nicht am besten miteinander auskommen würden.
»Aber jetzt«, sagte Mamsell Knag, indem sie ihr Ebenbild in einem nahen Spiegel betrachtete, »jetzt liebe ich sie – ich liebe sie von ganzer Seele – und mache durchaus kein Hehl daraus.«
Diese edle Freundschaft war so uneigennützig und so erhaben über die kleinen Schwächen der Schmeichelei oder Mißgunst, daß die gutherzige Mamsell Knag des andern Tages Käthchen Nickleby unverhohlen erklärte: sie sehe wohl, Käthchen würde nie für das Geschäft passen; sie brauche sich aber deshalb nicht im mindesten zu grämen; denn sie (Mamsell Knag) wolle durch vermehrte Anstrengungen so viel wie möglich die Aufmerksamkeit von Mamsell Nickleby ablenken, wobei sie weiter nichts zu tun hätte, als sich ganz ruhig zu verhalten, wenn Leute da wären, indem dann ihre Ungeschicklichkeit weniger augenfällig würde. Diese letztere Ermutigung stand so sehr im Einklange mit den Gefühlen und Wünschen des schüchternen Mädchens, daß sie ohne Bedenken versprach, dem Rat der vortrefflichen alten Jungfer aufs genaueste nachzukommen, ohne auch nur einen Augenblick den Gründen, denen er entspringen mochte, nachsinnen zu wollen.
»Auf mein Wort, ich hege die wärmste Teilnahme für Sie, meine Liebe«, sagte Mamsell Knag, »gewiß – eine schwesterliche Teilnahme, so daß ich’s mir selber nicht zu erklären vermag.«
Es war allerdings etwas unerklärlich, daß, wenn Mamsell Knag in der Tat eine warme Teilnahme für Käthchen Nickleby fühlte, diese nicht vielmehr die einer Tante oder Großmutter war, da eine solche für die gegenseitigen Altersverhältnisse weit eher gepaßt hätte. Aber Mamsell Knag kleidete sich sehr jugendlich, und da mochten wohl auch ihre Gefühle von derselben Art sein.
»Mein Gott«, sagte Mamsell Knag, indem sie am Schlusse des zweiten Tages Käthchen einen Kuß gab: »wie entsetzlich ungeschickt sind Sie heute den ganzen Tag über gewesen!«
»Ich fürchte, Ihre wohlwollende und offene Mitteilung, die mich meiner Mängel nur noch schmerzlicher bewußt machte, hat nichts dazu beigetragen, sie zu verbessern«, seufzte Käthchen.
»Das hat sie freilich nicht getan«, versetzte Mamsell Knag in ganz ungewöhnlich guter Laune. »Aber wie viel besser ist’s, daß man es Ihnen gleich im Anfang sagte; denn Sie können jetzt mit mehr Ruhe Ihrem Ziele entgegeneilen. Welchen Weg nehmen Sie, meine Liebe?«
»Nach der City«, antwortete Käthchen.
»Nach der City?« rief Mamsell Knag, während sie sich mit großer Selbstgefälligkeit den Hut vor dem Spiegel zuknüpfte. »Du lieber Himmel, Sie wohnen wirklich in der City?«
»Ist es denn etwas so gar Ungewöhnliches, dort zu wohnen?« sagte Käthchen mit einem halben Lächeln.
»Ich hätte es nicht für möglich gehalten, daß ein junges Frauenzimmer, wie auch die Umstände sein mögen, nur drei Tage dort leben könnte«, erwiderte Mamsell Knag.
»Zurückgekommene – ich wollte sagen, arme Leute«, versetzte Käthchen, rasch sich selbst verbessernd, da sie nicht als stolz erscheinen mochte, »müssen leben, wo sie können.«
»Ach, sehr wahr, das müssen sie; es ist nichts Befremdliches darin«, entgegnete Mamsell Knag mit jener Art von halbem Seufzer, der in Verbindung von einigen nickenden Bewegungen des Kopfes gewöhnlich das Kleingeld des Mitleids vorstellt. »Ich sage das auch immer meinem Bruder, wenn unsere Dienstmädchen eins nach dem andern krank wieder entlassen werden müssen und er die Schuld auf die Hinterküche schiebt, weil sie zu feucht sei, um darin zu schlafen. Diese Art Leute, sage ich ihm, sind froh, wenn sie irgendwo schlafen können. Der Himmel bildet die Schultern nach der Bürde. Und ist’s nicht recht gut, daß es so ist?«
»O freilich«, erwiderte Käthchen, sich abwendend.
»Ich will Sie eine Strecke weit begleiten, meine Liebe«, sagte Mamsell Knag, »denn Sie kommen ziemlich nahe an unserem Hause vorbei, und da es schon ganz dunkel ist und unser letztes Mädchen vor einer Woche wegen einer Gesichtsrose ins Spital mußte, so freut es mich recht sehr, Sie zur Begleiterin zu haben.«
Käthchen hätte sich dieser schmeichelhaften Gesellschaft gerne entschlagen, aber Mamsell Knag nahm, nachdem sie sich den Hut zu ihrer völligen Zufriedenheit zurechtgesetzt hatte, ihren Arm mit einer Miene, die deutlich zeigte, wie hoch sie die Ehre, die sie erwies, anschlage, und so befanden sich beide auf der Straße, ehe Käthchen ein Wort sagen konnte.
»Ich fürchte«, stotterte Käthchen, »daß Mama – meine Mutter meine ich – auf mich wartet.«
»Sie brauchen sich dessen nicht im geringsten zu entschuldigen, meine Liebe«, sagte Mamsell Knag mit einem süßen Lächeln. »Ich bin überzeugt, daß sie eine achtbare alte Frau ist, und es wird mich sehr – hm – sehr freuen, sie kennenzulernen.«
Da die arme Frau Nickleby, am ganzen Leibe fröstelnd, an der Straßenecke stand, so hatte Käthchen keine andere Wahl, als sie der Mamsell Knag vorzustellen, die, die letzte in eigener Equipage vorgefahrene Kundin nachahmend, sich mit sehr herablassender Höflichkeit benahm. Alle drei gingen dann Arm in Arm weiter, Mamsell Knag, die ungemein herzlich und liebenswürdig war, in der Mitte.
»Sie können sich keinen Begriff davon machen, wie lieb ich Ihre Tochter habe«, sagte Mamsell Knag, als sie eine Weile in würdevollem Schweigen gegangen war.
»Es freut mich ungemein, das zu hören«, versetzte Frau Nickleby, »obgleich es gerade nichts Neues für mich ist, daß selbst landfremde Personen Käthchen liebgewinnen.«
»Hm!« räusperte sich Mamsell Knag.
»Sie werden sie übrigens noch mehr lieben, wenn Sie ihr gutes Herz kennengelernt haben«, fuhr Frau Nickleby fort. »Es wird mir zu einem großen Segen in meinem Unglück, daß ich ein Kind habe, das weder Stolz noch Eitelkeit kennt, obgleich es eine Erziehung genossen hat, die wohl ein bißchen von dem einen oder anderen entschuldigen könnte. Ach, Sie wissen nicht, was es heißt, einen Mann zu verlieren, Fräulein Knag.«
Da Mamsell Knag noch nicht einmal wußte, wie man einen Mann bekommt, so folgte daraus ganz natürlich, daß sie nicht wissen konnte, was es heißt, einen zu verlieren. Sie versetzte daher mit einiger Hast: »Nein, das weiß ich in der Tat nicht«, und sagte das mit einer Miene – die vielleicht andeuten sollte, daß sie bereit gewesen wäre, sich das Joch der heiligen Ehe auflegen zu lassen, meint vielleicht der Leser? – nein sie kannte etwas Besseres.
»Ich zweifle nicht, daß Käthchen sich schon in dieser kurzen Zeit ordentlich gemacht hat«, fuhr Madame Nickleby mit einem stolzen Blick auf ihre Tochter fort.
»Ah, natürlich«, versetzte Mamsell Knag.
»Und wird sich immer noch weiter vervollkommnen«, fügte Madame Nickleby bei.
»Ganz gewiß«, entgegnete Mamsell Knag, indem sie Käthchens Arm fester an den ihrigen drückte, um sie auf den köstlichen Spaß aufmerksam zu machen.
»Sie war immer, schon von Kindesbeinen an, sehr gelehrig«, sagte die arme Frau Nickleby mit leuchtenden Augen. »Ich erinnere mich noch, daß, als sie erst anderthalb Jahre alt war, ein Herr, der sehr viel in unser Haus kam – Herr Watkins – du kennst ihn noch, derselbe, für den dein armer Vater Bürgschaft leistete, und der dann heimlich nach den Vereinigten Staaten entwich und uns ein paar Schneeschuhe nebst einem so rührenden Brief schickte, daß dein armer seliger Vater eine ganze Woche lang darüber weinen mußte. – Du wirst dich des Briefes wohl noch entsinnen? Er sagte darin, daß es ihm sehr leid tue, die fünfzig Pfund vorderhand nicht zurückzahlen zu können, weil seine Kapitalien auf Zinsen angelegt wären. Er sei gegenwärtig ungemein tätig, um sein Glück zu machen, er hätte aber nicht vergessen, daß du sein Patchen wärest, und er würde es sehr übelnehmen, wenn wir dir nicht ein silbergefaßtes Korallenhalsband kauften und es auf seine alte Rechnung schrieben – wie, du erinnerst dich nicht mehr? Ach, wie dumm du doch bist! Und wie lobte er nicht den alten Portwein, von dem er jedesmal, sooft er kam, anderthalb Flaschen bei uns zu trinken pflegte! Ach, es muß dir einfallen, Käthchen?«
»Ja, ja, Mama, was ist es mit ihm?«
»Ei, dieser Herr Watkins, meine Liebe«, fuhr Madame Nickleby langsam fort, als fordere es nicht wenig Anstrengung, sich auf einen so besonders wichtigen Umstand zu besinnen: »dieser Herr Watkins – Sie müssen wissen, Fräulein Knag, daß er kein Verwandter des Watkins war, dem das Wirtshaus zum alten Eber im Dorf gehört; – doch ich weiß nicht mehr ganz genau, ob es der alte Eber oder Georg der Vierte ist – jedenfalls ist es eins von diesen beiden, und so kommt also nicht viel darauf an – dieser Herr Watkins sagte, als du erst anderthalb Jahre alt warst, du wärest ein solches Wunderkind, wie er nie eines in seinem Leben gesehen hätte. Ja, so sagte er, Fräulein Knag, obschon er sonst nichts weniger als ein Kinderfreund war und auch nicht den mindesten Grund haben konnte, so zu sprechen, wenn es nicht wahr gewesen wäre. Ich weiß ganz bestimmt, daß es Herr Watkins war, der dieses sagte; denn ich erinnere mich noch so gut, als ob es erst gestern gewesen wäre, daß er unmittelbar darauf zwanzig Pfund von meinem armen Manne borgte.«
Nachdem Madame Nickleby dieses außerordentliche und höchst uneigennützige Zeugnis für die Vorzüge ihrer Tochter angeführt hatte, hielt sie inne, um Atem zu schöpfen. Als aber nun Mamsell Knag bemerkte, daß die Unterhaltung auf Familiengröße ablenkte, so verlor sie keine Zeit, mit einer kleinen Erinnerung für ihre eigene Rechnung einzufallen.
»Sprechen Sie mir nicht vom Geldausborgen, Madame Nickleby«, sagte Mamsell Knag, »oder Sie treiben mich zur Verzweiflung – ja, vollkommen zur Verzweiflung. Meine Mama – hm – war das liebenswürdigste und schönste Wesen mit der auffallendsten und vollkommensten – hm – der allervollkommensten Nase, die man, glaube ich, je in einem menschlichen Gesicht gesehen hat, Madame Nickleby« – (Mamsell rieb sich hierbei sympathetisch ihre eigene Nase) – »die angenehmste und vollendetste Frau, die je lebte; aber sie hatte den einzigen Fehler, Geld auszuborgen, und ergab sich diesem in einer solchen Ausdehnung, daß sie – hm – o, tausende von Pfunden, all unser kleines Vermögen, und was noch mehr ist, Madame Nickleby, in einer Weise ausborgte, daß wir, wie ich glaube, nie etwas zurückerhalten werden, und wenn wir das Leben hätten, bis – bis – hm – bis zum jüngsten Tage.«
Als Mamsell Knag mit diesem Aufschwung ihrer Erfindungsgabe ohne Unterbrechung zu Ende gekommen war, erging sie sich in noch vielen andern ebenso ansprechenden wie wahren Rückblicken, deren Strom Madame Nickleby vergebens zu hemmen suchte, weshalb sich diese begnügen mußte, ihre eigenen Erinnerungen auf einer Nebenströmung mitsegeln zu lassen. So gingen denn die beiden Damen plaudernd und in vollkommener Zufriedenheit nebeneinander her. Der einzige Unterschied zwischen ihnen bestand darin, daß, wählend Mamsell Knag sich gewöhnlich an Käthchen wandte und ungemein laut sprach, Madame Nickleby in einem ununterbrochenen monotonen Fluß fortfuhr und vollkommen vergnügt war, daß sie nur sprechen konnte, ohne sich sonderlich darum zu kümmern, ob jemand zuhörte oder nicht.
So gingen sie aufs freundschaftlichste nebeneinander her, bis sie das Haus von Mamsell Knags Bruder erreichten, der mit buntem Papier handelte, in einem Nebengäßchen der St.-Giles-Straße eine Leihbibliothek hielt und auf Tage, Wochen, Monate oder das ganze Jahr die neuesten alten Romane auslieh, deren Titel auf einem großen Pappendeckel, der an dem Türpfosten hin und her baumelte, aufgezeichnet waren. Mamsell Knag befand sich in diesem Augenblick zufällig mitten in der Erzählung von dem zweiundzwanzigsten Heiratsantrag, den ihr ein sehr reicher Herr gemacht hatte, weshalb sie darauf bestand, daß ihre Begleiterinnen mit ihr zu Abend essen sollten, und so gingen sie miteinander ins Haus.
»Du brauchst nicht fortzulaufen, Mortimer«, sagte Mamsell Knag, als sie miteinander eintraten; »es ist nur eine von unsern jungen Mädchen und ihre Mutter, Madame und Mamsell Nickleby.«
»Ah – so«, entgegnete Herr Mortimer Knag.
Als Herr Knag diese Laute mit einer gar tiefsinnigen und gedankenvollen Miene ausgestoßen hatte, schneuzte er langsam die zwei Küchenlampen auf dem Ladentisch, dann zwei weitere an dem Fenster und endlich sich selbst, worauf er eine Dose aus seiner Westentasche hervorholte und eine Prise nahm.
Es lag etwas ungemein Ergreifendes in der gespenstigen Weise, in der das alles getan wurde; und da Herr Knag ein hoher, hagerer Herr mit ernsten Zügen war, eine Brille trug und weit weniger Haar hatte, als ein Mann um die Vierziger zu haben pflegt, so flüsterte Madame Nickleby ihrer Tochter zu, sie dächte, daß er ein Gelehrter sein müßte.
»Zehn vorbei«, sagte Herr Knag, seine Uhr zu Rat ziehend. »Thomas, schließe das Magazin.«
Thomas war ein Knabe, beinahe halb so groß wie ein Fensterladen, und das Magazin war ein Gelaß, ungefähr dreimal so groß als eine Mietkutsche.
»Ach«, sagte Herr Knag abermals mit einem tiefen Seufzer, indem er das Buch, in dem er gelesen hatte, wieder an seinen ursprünglicken Ort stellte. »Nun – ja – ich glaube, das Abendessen ist fertig, Schwester.«
Herr Knag nahm nun mit einem neuen Seufzer die Küchenlampen von dem Ladentisch und führte die Damen mit Trauerschritten nach einem Hinterzimmer, wo eine Taglöhnerin, die gegen einen Abzug von dem Lohn der kranken Magd im Betrage von täglich achtzehn Pence den Dienst derselben versah, das Abendessen auf den Tisch stellte.
»Frau Blockson«, sagte Mamsell Knag vorwurfsvoll, »wie oft habe ich Ihr gesagt, Sie solle nicht mit der Haube auf dem Kopf ins Zimmer kommen.«
»Ich kann Ihnen nicht helfen, Mamsell Knag«, entgegnete die Taglöhnerin schnippisch. »Man kann ohnehin in diesem Hause nicht fertig werden; und wenn Ihnen meine Haube nicht zusagt, so sehen Sie sich nur nach jemand anders um; ich bin für meine Mühe ohnehin nur halb bezahlt – ja, und ich müßte so reden, und wenn ich auch in der nächsten Minute gehenkt werden sollte.«
»Ich brauche Ihre Bemerkungen nicht«, sagte Mamsell Knag mit einem starken Nachdruck auf das ›Ihre‹. »Ist Feuer unten, um schnell heißes Wasser haben zu können?«
»Nein, es ist keins drunten, Mamsell«, entgegnete die provisorische Dienstmagd, »damit Sie nur gleich die Wahrheit wissen.«
»Warum nicht?« fragte Mamsell Knag.
»Weil man keine Kohlen herausgegeben hat. Wenn ich Kohlen machen könnte, so würde ich es tun. Da ich es aber nicht kann, so lasse ich’s bleiben und bin so keck, es dem Mamsellchen zu sagen.«
»Will Sie wohl das Maul halten, Weibsbild«, unterbrach Herr Mortimer Knag diesen Dialog etwas ungestüm.
»Mit Erlaubnis, Herr Knag«, erwiderte die Taglöhnerin, sich rasch umwendend, »ich bin froh, wenn ich in diesem Hause nicht sprechen muß, ausgenommen hier und da, wenn ich angeredet werde, Sir: und mit Respekt zu melden, wenn ich ein Weibsbild bin, Sir, so möchte ich doch wissen, was Sie eigentlich sind?«
»Ein elender Mensch!« rief Herr Knag, sich vor die Stirne schlagend – »ein elender Mensch!«
»Freut mich sehr, zu finden, daß Sie sich bei Ihrem rechten Namen nennen, Sir«, fuhr Frau Blockson fort, »und da ich erst vorgestern vor sieben Wochen Zwillinge gehabt habe und mein kleines Karlchcn am letzten Montag gefallen ist und sich den Ellenbogen verstaucht hat, so tun Sie mir den Gefallen und schicken Sie mir die neun Schillinge Wochenlohn ins Haus, ehe die Glocke morgen zehn schlägt.«
So sich verabschiedend, verließ die gute Frau mit sehr unbefangenem Wesen das Zimmer und ließ die Tür weit offen stehen, während Herr Knag in demselben Augenblick nach dem ›Magazin‹ stürzte und laut aufstöhnte.
»Ich bitte, was ist denn diesem Herrn?« fragte Madame Nickleby, nicht wenig durch diese Töne beunruhigt.
»Ist er krank?« fragte Käthchen erschrocken.
»Pst«, versetzte Mamsell Knag. »Es ist eine traurige Geschichte. Er war einmal ein glühender Anbeter von – hm – von Madame Mantalini.«
»Mein Gott!« rief Madame Nickleby.
»Ja«, fuhr Mamsell Knag fort: »sie begünstigte auch seine Bewerbung, und er hoffte zuversichtlich, sie zu heiraten. Er hat ein äußerst gefühlvolles Herz, Madame Nickleby, wie überhaupt – hm – wie überhaupt alle in unserer Familie, und das Fehlschlagen seiner Hoffnung war ein schrecklicher Schlag für ihn. Er ist ein Mann von höchst vortrefflichen – wunderbar vortrefflichen Eigenschaften – liest – hm – liest jeden neuen Roman, der herauskommt; ich meine jeden Roman, der – hm – der modern ist, natürlich. Die Sache ist so: er fand in den Büchern, die er las, so viel, was sich auf sein eigenes Unglück anwenden läßt, und fand in jeder Hinsicht eine so große Ähnlichkeit zwischen sich und den Helden derselben – begreiflich, weil er sich seiner eigenen Überlegenheit bewußt ist, wie dies natürlich bei uns allen sein muß –, daß er die Welt zu verachten anfing und ein Genie wurde. Ja, ich bin sogar überzeugt, daß er im gegenwärtigen Augenblick selbst ein Buch schreibt.«
»Ein Buch?« wiederholte Käthchen, als Mamsell Knag hier einen Augenblick innehielt, wodurch es möglich wurde, daß auch jemand anders ein Wörtchen anbringen konnte.
»Ja«, sagte Mamsell Knag mit triumphierendem Kopfnicken, »ein Buch in drei großen Oktavbänden. Natürlich ist es ein großer Vorteil für ihn, daß ihm bei allen seinen kleinen Schilderungen aus dem modernen Leben die Wohltat meiner – hm – meiner Erfahrung zustatten kommt, weil natürlich wenige Schriftsteller, die von derartigen Dingen schreiben, so gute Gelegenheit haben, es kennenzulernen als ich. Er hat sich so sehr in das vornehme und romantische Treiben vertieft, daß er bei der geringsten Andeutung auf Geschäfte oder Dinge aus der Wirklichkeit – wie es vorhin bei diesem Weibe der Fall war – ganz außer sich gerät. Ich glaube aber und habe es ihm oft gesagt, daß die Täuschung, die er erlitt, ein Ereignis von der höchsten Wichtigkeit für ihn ist: denn wäre sie nicht eingetreten, so hätte er nicht von geknickten Hoffnungen und dergleichen schreiben können. Auch bin ich überzeugt, daß sein Genie nicht zum Ausbruch gekommen wäre, wenn nicht alles gegangen wäre, wie es ging.«
Was die mitteilsame Mamsell Knag unter günstigeren Umständen eröffnet haben würde, läßt sich nicht erraten; da sich aber der Melancholikus in Hörweite befand und das Feuer angemacht werden mußte, so hatten ihre Enthüllungen hiermit ein Ende.
Da es ziemlich schwierig war, warmes Wasser zu erhalten, so mußte man fast auf die Vermutung kommen, daß die kranke Magd nicht sonderlich an ein anderes Feuer, als an das des St. Antonius gewöhnt war. Endlich brachte man aber doch etwas Branntwein und Wasser auf, und die Gäste nahmen, nachdem sie sich an kaltem Hammelbraten, Brot und Käse gelabt hatten, zeitigen Abschied. Käthchen unterhielt sich auf dem ganzen Heimweg mit der Erinnerung an ihren letzten Blick auf Herrn Mortimer Knag, der in tiefen Gedanken versunken in dem Laden saß; und Madame Nickleby überlegte in ihrem Innern, ob die Putzmacherfirma zuletzt wohl »Mantalini, Knag und Nickleby« oder »Mantalini, Nickleby und Knag« heißen würde.
Mamsell Knags Freundschaft hielt sich drei ganze Tage auf dieser Höhe, zur großen Verwunderung von Madame Mantalinis jungen Damen, die bei ihrer Direktrice nie vorher eine solche Beständigkeit gesehen hatten. Aber am vierten erhielt sie einen ebenso heftigen als plötzlichen Stoß, was folgendermaßen zuging:
Ein alter Lord von bedeutender Familie, der im Begriff war, eine junge Dame, die eigentlich aus gar keiner Familie stammte, zu ehelichen, kam mit dieser jungen Dame und der Schwester derselben in den Putzladen, um der Zeremonie des Anprobierens von zwei Hochzeitshüten, die tags zuvor bestellt worden waren, beizuwohnen. Madame Mantalini ließ die Kunde von diesem Besuch mittels eines schrillen Diskanttons durch das mit dem Arbeitszimmer in Verbindung stehende Sprachrohr an Mamsell Knag gelangen, die alsbald, mit einem Hut in jeder Hand, die Stiege hinaufstürzte und das Ankleidezimmer in einem bezaubernden Zustand von Atemlosigkeit betrat, der ihre eilige Hingabe an die Sache recht ins gehörige Licht stellen sollte. Die Hüte waren kaum aufgesetzt, als Mamsell Knag und Madame Mantalini in eine wahre Ekstase von Bewunderung verfielen.
»Es macht sich höchst elegant«, sagte Madame Mantalini.
»Ich habe in meinem Leben nie etwas so ausgesucht Geschmackvolles gesehen«, fügte Mamsell Knag bei.
Der alte Lord, der ein sehr alter Lord war, sagte nichts dazu, sondern murmelte und kicherte höchst vergnügt über die Brauthüte, über deren Trägerinnen und endlich über seine eigene Gewandtheit, die ihm eine so schöne Braut gewonnen hatte, vor sich hin. Die junge Dame aber, die eine sehr lebhafte Dame war, trieb den alten Herrn, als sie sein Entzücken bemerkte, hinter einen Toilettenspiegel und gab ihm hin und wieder einen Kuß, während Madame Mantalini und die andere junge Dame rücksichtsvoll in eine andere Richtung blickten.
Während dieses Zärtlichkeitsergusses trat jedoch Mamsell Knag, die einen guten Teil Neugierde besaß, ganz zufällig hinter den Spiegel und begegnete dem Auge der jungen Dame gerade in demselben Augenblick, als sie den alten Lord küßte, worauf die junge Dame übellaunig etwas von ›einer alten Jungfer‹ und ›großer Unverschämtheit‹ fallen ließ und mit verächtlichem Lächeln einen Blick des Unwillens nach Mamsell Knag schoß.
»Madame Mantalini«, sagte die junge Dame.
»Sie befehlen?« versetzte Madame Mantalini.
»Ich bitte, lassen Sie doch das artige junge Mädchen heraufkommen, das wir gestern sahen.«
»O ja, rufen Sie diese«, fügte die Schwester bei.
»Von allen Dingen auf der Welt, Madame Mantalini«, fügte die zukünftige gnädige Frau bei, indem sie sich nachlässig auf ein Sofa warf, »ist mir nichts mehr verhaßt, als von Vogelscheuchen oder alten Personen bedient zu werden. Ich bitte, lassen Sie mich, sooft ich komme, stets jenes junge Geschöpf sehen.«
»Allerdings«, fügte der alte Lord ein, »wir wollen von dem niedlichen Mädchen bedient sein.«
»Alle Welt spricht von ihr«, fuhr die junge Dame in derselben unbekümmerten Weise fort, »und mein Bräutigam, der ein großer Bewunderer von Schönheit ist, muß sie durchaus sehen.«
»Sie wird allgemein bewundert«, versetzte Madame Mantalini. »Mamsell Knag, senden Sie Mamsell Nickleby herauf: Sie brauchen nicht wiederzukommen.«
»Entschuldigen Sie, Madame Mantalini, was haben Sie zuletzt gesagt?« fragte Mamsell Knag zitternd.
»Sie brauchen nicht wiederzukommen«, wiederholte die Prinzipalin in scharfem Ton.
Mamsell Knag verschwand, ohne ein weiteres Wort zu sprechen, und wurde bald darauf durch Käthchen ersetzt, die den Damen die neuen Hüte abnahm und die alten wieder aufsetzte. Sie errötete indessen hoch und wurde ganz verwirrt, als sie bemerkte, daß der alte Herr und die beiden jungen Damen sie ohne Unterlaß fest ins Auge faßten.
»Ei, wie Sie rot werden, Kind«, sagte des Lords erkorene Braut.
»Sie ist noch nicht ganz so in ihr Geschäft eingeschossen, wie sie es wohl in einigen Wochen sein wird«, entschuldigte Madame Mantalini mit einem huldvollen Lächeln.
»Ich fürchte, Sie haben ihr einige Ihrer gottlosen Blicke zugeworfen, Mylord«, sagte die Verlobte.
»Nein, nein, nein«, versetzte der alte Lord, »nein, nein – ich bin im Begriff, mich zu verehelichen und ein neues Leben anzufangen – ha! ha! ha! ein neues Leben, ein neues Leben, ha! ha! ha!«
Es war tröstlich, mit anzuhören, daß der alte Herr im Begriff war, ein neues Leben anzufangen: denn es war augenscheinlich, daß das alte nicht mehr lange dauern konnte. Schon die bloße Anstrengung eines in die Länge gezogenen Kicherns bewirkte einen schrecklichen Anfall von Husten und Keuchen, und es brauchte einige Minuten, ehe er Atem zu der Bemerkung fand, daß das Mädchen zu hübsch für eine Putzmacherin sei.
»Ich hoffe nicht, daß Sie der Ansicht sind, ein gutes Aussehen beeinträchtige die Befähigung zu einem Geschäfte, Mylord«, sagte Madame Mantalini geziert.
»Nicht gerade«, versetzte der alte Lord, »sonst würden Sie es schon lange aufgegeben haben.«
»Sie Bösewicht«, rief die lebhafte junge Dame, indem sie das Mitglied des Oberhauses mit ihrem Sonnenschirme kitzelte: »wie können Sie es wagen, in meiner Gegenwart so zu sprechen?«
Sie begleitete diese scherzende Frage mit wiederholten neckenden Schlägen, bis endlich der alte Lord den Sonnenschirm auffing und ihn ihr nicht wieder hergeben wollte. Dies veranlaßte die andere Dame, ihrer Schwester zu Hilfe zu kommen, woraus sich denn ein ganz niedlicher Flirt entspann.
»Sorgen Sie dafür, daß diese kleinen Änderungen noch angebracht werden, Madame«, sagte die junge Dame. »Nein, Mylord, Sie müssen durchaus vorangehen; ich möchte Sie nicht eine halbe Sekunde mit diesem hübschen Mädchen in meinem Rücken lassen. Ich kenne Sie zu gut. Liebes Hannchen, lass ihn vorangehen, dass wir seiner sicher sind.«
Der alte Herr, der sich augenscheinlich durch diesen Argwohn sehr geschmeichelt fühlte, beschenkte Käthchen im Vorbeigehen mit einem komischen Seitenblick – eine Bosheit, wofür er einen zweiten Klaps erhielt – und humpelte die Stiege hinunter nach der Tür, wo sein beweglicher Leichnam von zwei stämmigen Lakaien in den Wagen gehoben wurde.
»Pfui«, sagte Madame Mantalini; »es ist mir unbegreiflich, wie der in einen Wagen steigen kann, ohne an eine Totenbahre zu denken. – Da, nehmen Sie den Plunder weg, meine Liebe; nehmen Sie ihn hinunter.«
Käthchen, die die ganze Szene über mit bescheiden zur Erde gehefteten Augen dagestanden hatte, fühlte sich bei der Erlaubnis, sich zurückziehen zu dürfen, höchst glücklich, und eilte freudig die Stiegen hinunter nach dem Herrschergebiete der Mamsell Knag.
In diesem kleinen Königreiche hatten sich jedoch während der kurzen Periode von Käthchens Abwesenheit die Umstände wesentlich verändert. Statt daß Mamsell Knag mit all der Würde und Erhabenheit einer Repräsentantin von Madame Mantalini auf ihrem gewohnten Platze saß, ruhte diese edle Seele in Tränen gebadet auf einer großen Kiste, während drei oder vier der jungen Frauenzimmer mit Salmiakgeist, Weinessig und andern Belebungsmitteln um sie her standen – ein hinreichender Beweis, daß sie in Ohnmacht lag, wenn auch nicht die Verwirrung ihres Kopfputzes und ihrer Locken darauf hingedeutet hätte.
»Ach Gott!« rief Käthchen, hastig vortretend: »was gibt es denn?«
Diese Frage bewirkte bei Mamsell Knag heftige Symptome eines Rückfalls, worauf mehrere junge Damen, Zornblicke nach Käthchen schießend, noch mehr Weinessig und Salmiakgeist anwendeten und sagten, daß es »eine Schande« wäre.
»Was ist eine Schande?« fragte Käthchen. »Worum handelt sich’s? Was ist vorgefallen? Reden Sie doch!«
»Vorgefallen?« rief Mamsell Knag, indem sie sich auf einmal zur großen Bestürzung der versammelten Mädchen pfeilgerade aufrichtete; »vorgefallen? Pfui über Sie, Sie garstiges Geschöpf!«
»Barmherziger Himmel!« rief Käthchen ganz erstarrt ob der
230 Heftigkeit, womit Mamsell Knag dieses Prädikat durch die zusammengebissenen Zähne hervorstieß: »habe ich Sie denn beleidigt?«
»Sie mich beleidigt!« erwiderte Mamsell Knag, »Sie! Ein Kind, ein Frätzchen, ein Pilz von gestern! O freilich! ha! ha!«
Da Mamsell Knag jetzt lachte, so war es augenscheinlich, daß ihr etwas ungemein spaßhaft vorkam, und da die jungen Damen sich stets nach Mamsell Knag als ihrer Vorgesetzten richteten, so brachen alle zumal ohne Zögern in ein Gelächter aus, nickten mit den Köpfen und lächelten sich gegenseitig sarkastisch zu, als wollten sie sich sagen, wie sehr gut das wäre.
»Da ist sie«, fuhr Mamsell Knag fort, indem sie sich von der Kiste erhob und Käthchen mit großer Förmlichkeit und vielen tiefen Knixen dem kichernden Mädchenkreise vorstellte; »hier ist sie – alle Welt spricht von ihr – dem hübschen Mädchen, meine Damen, – der Schönheit, der – o Sie unverschämtes Ding.«
In dieser Krisis war Mamsell Knag nicht imstande, einen tugendhaften Schauer zu unterdrücken, der sich augenblicklich allen übrigen jungen Damen mitteilte. Dann lachte Mamsell Knag aufs neue und fing endlich zu weinen an.
»Fünfzehn Jahre lang«, rief Mamsell Knag unter dem beweglichsten Schluchzen aus, »fünfzehn Jahre lang bin ich die Ehre und Zierde des Arbeits- und Ankleidezimmer« gewesen. Gott sei Dank!« fuhr sie fort, indem sie merkwürdig energisch zuerst mit dem rechten und dann mit dem linken Fuße stampfte, »ich bin diese ganze Zeit über nie den Kunstgriffen, den nichtswürdigen Kunstgriffen eines Geschöpfes ausgesetzt gewesen, das uns alle durch sein Benehmen entehrt und anständige Leute zum Erröten zwingt. Aber jetzt muß mir eine Kränkung widerfahren, die ich trotz des Abscheus, den ich gegen diese Person hege, schmerzlich empfinde.«
Mamsell Knag wurde hier wieder mit einem Rückfalle bedroht; die jungen Damen erneuerten ihre Aufmerksamkeit, meinten, sie solle sich über solche Dinge hinwegsetzen, und erklärten, daß sie für ihre Personen solche Künste verschmähten und gar nicht der Beachtung wert hielten. Zum Belege dieser Beteuerung riefen sie noch nachdrücklicher als vorher, »es wäre eine Schande, und sie fühlten sich so empört darüber, daß sie nicht wüßten, was sie mit sich selbst anfangen sollten.«
»Habe ich so lange leben müssen, um mich eine Vogelscheuche nennen zu lassen«, rief Mamsell Knag, indem sie in Krämpfe verfiel und mit ihren Fingern krampfhaft ihre Haare zerzauste.
»O nein, nein«, fiel der Chor ein: »bitte, sprechen Sie nicht so; nein, sprechen Sie nicht so.«
»Habe ich’s verdient, eine alte Person genannt zu werden?« schrie Mamsell Knag, gegen ihre dienstbeflissenen Untergebenen ankämpfend.
»Denken Sie nicht an solche Dinge, meine Liebe«, antwortete der Chor.
»Ich hasse sie«, rief Mamsell Knag. »Ich hasse und verabscheue sie. Sie soll es nicht wagen, mich je wieder anzureden, und niemand, der es gut mit mir meint, soll je wieder ein Wort mit ihr sprechen. Die Schlampe! Das Weibsstück! Die unverschämte Dirne!«
Nachdem Mamsell Knag den Gegenstand ihrer Wut mit diesen Worten näher bezeichnet hatte, schrie sie noch einmal laut auf, schluchzte dreimal und gurgelte in der Kehle: dann schloß sie die Augen, schauerte, erwachte, kam wieder zu sich, ordnete ihren Kopfputz und erklärte endlich, daß sie wieder ganz wohl sei.
Das arme Käthchen hatte diese Vorgänge anfangs in vollkommener Geistesabwesenheit mit angesehen: dann wurde sie abwechselnd rot und bleich und versuchte einigemal zu sprechen. Als ihr jedoch die Beweggründe allmählich klar wurden, trat sie einige Schritte zurück und sah ruhig zu, ohne sich durch eine Erwiderung zu entehren. Aber obgleich sie stolz nach ihrem Sitz ging und dem Haufen kleiner Trabanten, der sich in der entferntesten Ecke des Zimmers um seinen leitenden Planeten sammelte, den Rücken wandte, so entströmten ihr doch im stillen so bittere Tränen, daß Mamsell Knag im Innersten ihrer Seele erfreut gewesen wäre, wenn sie diese hätte fallen sehen.