Sechzehntes Kapitel.

Nicolaus sucht eine Anstellung und nimmt, da ihm dieses fehlschlägt, eine Privatlehrerstelle an.

Am andern Morgen war es Nicolaus‘ erste Sorge, sich nach einem Zimmer umzusehen, wo er bis auf bessere Zeiten wohnen konnte, ohne Newman Noggs zur Last zu fallen, der mit Freude auf der Stiege geschlafen haben würde, wenn es nur sein junger Freund dadurch etwas bequemer bekam.

Das leerstehende Zimmer, auf das sich die Anzeige an der Haustür bezog, erwies sich bei näherer Nachforschung als ein kleines Hinterstübchen im zweiten Stock, von wo aus man eine gar liebenswürdige Aussicht auf mit Ruß bedeckte Dachziegel und Schornsteine hatte. Der Hausbesitzer hatte dem Mieter des Erdgeschosses die Vollmacht übertragen, diesen Teil des Hauses unter anständigen Bedingungen von Woche zu Woche zu vermieten, wie denn auch überhaupt der letztere den Auftrag hatte, die Zimmer, sobald sie leer würden, wieder zu vergeben und ein scharfes Auge auf die Hausbewohner zu haben, damit sie nicht davonliefen. Um den Mann zu einer pünktlichen Vollziehung dieser letzteren Obliegenheit zu vermögen, erhielt er freie Wohnung, damit er nicht in Versuchung käme, einmal selber davonzulaufen.

Der Erlös aus einigen entbehrlichen Kleidungsstücken setzte Nicolaus in den Stand, diese Kammer zu erstehen und auch die Miete für etliche notwendige Möbel, die er sich von einem benachbarten Trödler verschaffte, auf eine Woche voraus zu bezahlen. Hier saß er nun in seinen vier Wänden, um über seine Aussichten für die Zukunft nachzudenken, die aber freilich – wie die seines Fensters – gar beschränkt und trübe waren. Sie wurden aber durch das Nachsinnen nicht besser, und da allzu genaue Bekanntschaft leicht Verachtung erzeugt, so faßte er den Entschluß, seine Gedanken durch einen tüchtigen Spaziergang zu verscheuchen. Er nahm daher seinen Hut und überließ das Gemach dem armen Smike, der es stets aufs neue, und zwar mit einem Entzücken ordnete, als wenn es der herrlichste Palast gewesen wäre, während er sich selbst in das Gewühl der Straßen mengte.

Wenn man sich als eine bloße Einheit in einem geschäftigen Gedränge sieht, wo man von niemandem beachtet wird, so kann man allerdings das Gefühl der eigenen Wichtigkeit verlieren; aber es folgt daraus keineswegs, daß man sich ebenso leicht des drückenden Bewußtseins von der Wichtigkeit und Größe seiner Sorgen entledigen kann. Nicolaus‘ Gehirn war ausschließlich mit dem trostlosen Zustand seiner eigenen Angelegenheiten beschäftigt – Gedanken, die ungeachtet des schärfsten Laufes nicht weichen wollten –; und wenn er es auch versuchte, sie durch Betrachtungen über die Lage und Aussichten der ihn umgebenden Menge zu verscheuchen, so nahm ihn vielleicht der Vergleich der Gegensätze auf einige Augenblicke in Anspruch, führte ihn aber, ehe er sich’s versah, wieder auf seinen alten Gedankengang zurück.

Als er, von solchen Betrachtungen hingenommen, in einer von Londons Hauptstraßen hinschlenderte, trafen seine Blicke auf einmal eine blaue Tafel, worauf mit goldenen Buchstaben zu lesen stand: »General-Agentur; Plätze und Stellen aller Art sind im Hause zu erfragen.« Es war ein Laden mit einer Gasblende und einer inneren Tür, hinter deren Glasscheiben eine lange und lockende Reihe von Ankündigungen hing, die offene Stellen jeden Grades vom Sekretär bis zum Laufjungen hinunter anboten.

Nirolaus machte unwillkürlich vor diesem Tempel der Verheißung halt und überflog mit dem Auge die in großen Lettern beschriebenen Stellungen, die hier so verschwenderisch angeboten wurden. Als er mit diesem Studium zu Ende gekommen war, ging er eine Strecke weiter, kehrte aber wieder um und ging eine Weile unschlüssig vor der Tür des Bureaus der Generalagentur auf und ab, bis er sich endlich ein Herz faßte und eintrat.

Er befand sich nun in einem kleinen mit Bodenteppichen versehenen Zimmer, in dem ein hohes, mit einem Geländer versehenes Pult stand. Hinter diesem Pult saß ein magerer junger Mann mit schlauen Augen und einem hervorragenden Kinn, dessen Leistungen in Frakturschrift die Scheiben der Ladentür verdunkelten. Er hatte ein großes Hauptbuch aufgeschlagen vor sich liegen und die Finger seiner rechten Hand zwischen den Blättern desselben stecken, während seine Augen auf eine sehr beleibte alte Dame in einer Morgenhaube – augenscheinlich die Eigentümerin des Geschäfts – geheftet waren, die sich am Feuer wärmte. Er schien ihre Aufträge zu erwarten, um über einige Punkte, die sich in dem Bereiche der rostigen Klappen seines Buches befanden, Bericht zu erstatten.

Nicolaus hatte außen eine Tafel gesehen, die dem Publikum anzeigte, daß hier von zehn bis vier Uhr Dienstboten aller Art gemietet werden könnten, und konnte sich daher den Zweck der Anwesenheit von einem halben Dutzend kräftiger junger Frauenspersonen, die in Überschuhen und mit Sonnenschirmen auf einer Eckbank saßen, um so leichter erklären, da die armen Dinger gar ängstlich und verdrießlich aussahen. Nicht ganz so sicher war er hinsichtlich des Berufs und der Stellung zweier schmucker junger Frauenzimmer, die sich mit der dicken Dame am Feuer unterhielten, bis diese – er hatte sich inzwischen mit der Erklärung, daß er warten wolle, bis die übrigen Kunden bedient wären, in eine Ecke gesetzt – das Gespräch, das durch sein Eintreten unterbrochen wurde, wieder aufnahm.

»Köchin – Tom«, sagte die dicke Frau, die sich, wie vorhin bemerkt, an dem Feuer wärmte.

»Köchin«, versetzte Tom, einige Blätter seines Hauptbuches umschlagend; »gut.«

»Lesen Sie eine oder zwei leichte Stellen«, entgegnete die dicke Dame.

»Wenn ich bitten darf, ein paar recht leichte, junger Herr«, fügte ein modisch gekleidetes Frauenzimmer in buntkarrierten Zeugstiefeln, die die Klientin zu sein schien, bei.

»Frau Marker«, las Tom, »Russelplatz, Russelquare; bietet achtzehn Guineen, auch Tee und Zucker. Eine Familie von zwei Personen, die äußerst wenig Gesellschaft sieht. Hält fünf Dienstboten, aber keinen männlichen. Duldet auch keine Liebhaber.«

»Ach, lieber Himmel, das ist nichts«, kicherte die Klientin; »lesen Sie eine andere, junger Herr.«

»Frau Wrymug«, sagte Tom. »Angenehme Stelle in Finsbury, Lohn zwölf Guineen. Kein Tee, kein Zucker. Fromme Familie –«

»Ach lassen Sie das nur«, fiel die Klientin ein.

»Drei fromme Diener«, fuhr Tom mit Nachdruck fort.

»Drei, sagten Sie?« rief die Klientin in einem veränderten Tone.

»Drei fromme Diener«, wiederholte Tom – »Köchin, Haus- und Stubenmädchen: jeder weibliche Dienstbote muß Sonntags dreimal in die Kirche – mit einem frommen Diener. Wenn die Köchin frommer ist als der Diener, so erwartet man von ihr, daß sie den Diener bessere; ist der Diener frommer als die Köchin, so hofft man von ihm, daß er einen gleichen Einfluß auf die Köchin übe.«

»Ich bitte um die Adresse dieses Ortes«, sagte die Klientin; »ich weiß nicht, aber ich meine, diese Stelle könnte mir zusagen.«

»Hier ist noch eine andere«, bemerkte Tom, einige Blätter umschlagend; »Familie des Herrn Gallanbile, Parlamentsmitglied. Fünfzehn Guineen, Tee und Zucker; die weiblichen Dienstboten dürfen männliche Verwandte sehen, wenn diese recht fromme Personen sind. NB. Am Sabbat kaltes Mittagessen in der Küche, da Herr Gallanbile für strenge Beobachtung des Sabbats gestimmt hat. Am Tage des Herrn wird durchaus nichts gekocht, als das Mittagessen für Herrn und Frau Gallanbile, was natürlich als ein Werk der Frömmigkeit und Notwendigkeit eine Ausnahme erleidet. Herr Gallanbile speist an dem Tage der Ruhe spät, um der Köchin die Sünde des Ankleidens zu ersparen.«

»Ich glaube nicht, daß mir diese Stelle so gut wie die vorige ansteht«, sagte die Klientin nach einem kurzen Flüstern mit ihrer Freundin. »Seien Sie so freundlich, mir die Markersche Adresse zu geben, junger Herr. Ich kann ja wiederkommen, wenn sich’s nicht schicken will.«

Tom schrieb verlangtermaßen die Adresse heraus, und die modisch gekleidete Klientin entfernte sich mit ihrer Freundin, nachdem sie einstweilen die dicke Dame mit einer kleinen Gabe befriedigt hatte.

Nicolaus wollte eben seinen Mund öffnen, um den jungen Mann zu ersuchen, unter dem Buchstaben S die verfügbaren Sekretärstellen aufzusuchen, als eine Dame in das Bureau trat, deren Äußeres ihn ebensosehr überraschte, wie ansprach, weshalb er auch zu ihren Gunsten zurücktrat.

Die Dame, die kaum achtzehn Jahre zählen konnte und außerordentlich schön und zart gebaut war, trat schüchtern an den Schreibtisch und fragte mit leiser Stimme nach einer Stelle als Erzieherin oder als Gesellschafterin einer Dame.

Sie schlug, während sie ihre Angabe vorbrachte, ihren Schleier einen Augenblick zurück und ließ ein Gesicht von vollendeter Schönheit blicken, obgleich es durch eine Wolke der Trauer beschattet wurde, die bei einem so jungen Wesen doppelt auffallend war. Man schrieb ihr aus dem Buche eine Adreßkarte, und nachdem sie die gewöhnliche Gebühr entrichtet hatte, glitt sie hinaus.

Sie war nett, aber ungemein bescheiden gekleidet, so daß ihr Anzug an einem Mädchen von weniger persönlicher Anmut sogar als ärmlich erschienen wäre. Ihre Begleiterin – denn sie hatte eine solche – war ein schmutziges Mädchen mit rotem Gesicht und großen Augen, das nach einer gewissen Rauheit an den bloßen Armen, die unter dem schlampig umgeworfenen Halstuche hervorsahen, und nach den halbgewaschenen Spuren von Schmutz und Ruß, die ihr Gesicht tätowierten, zu schließen, augenscheinlich zu der Klasse der Dienstmägde auf der Bank gehörte, mit denen sie auch einige Blicke und Gebärden wechselte, die auf eine gewisse Geheimbündelei des Gewerbes hinwiesen.

Das Mädchen folgte ihrer Gebieterin; und noch ehe sich Nicolaus von den ersten Wirkungen der Überraschung erholt hatte, war die junge Dame verschwunden. Es ist nicht so ganz unwahrscheinlich, wie sich vielleicht einige nüchterne Leute denken mögen, daß er ihnen nachgefolgt wäre, wenn er nicht durch das, was zwischen der dicken Dame und ihrem Buchhalter verhandelt wurde, zurückgehalten worden wäre.

»Wann kommt sie wieder, Tom?« fragte die dicke Dame.

»Morgen früh«, antwortete Tom, seine Feder spitzend.

»Wo haben Sie sie hingesandt?« fragte die dicke Dame.

»Zu Madame Clarks«, entgegnete Tom.

»Sie wirds gut kriegen, wenn sie dort unterkommt«, bemerkte die dicke Dame, indem sie eine Prise aus einer zinnernen Schnupftabaksdose nahm.

Tom erwiderte nicht«, sondern deutete mit der Feder auf Nicolaus – eine Erinnerung, die der dicken Dame die Frage entlockte:

»Nun, Sir, was können wir für Sie tun?«

Nicolaus antwortete mit kurzen Worten, daß er wissen möchte, ob nicht irgendeine Stelle als Sekretär oder Hilfskraft bei einem Herrn zu haben sei.

»O, ein halbes Dutzend statt einer«, versetzte die Kommissionärin. »Nicht wahr, Tom?«

»Ich sollt’s meinen«, antwortete der junge Herr.

Er winkte bei diesen Worten Nicolaus mit einem Grad von Vertraulichkeit zu, der ohne Zweifel als ein sehr schmeichelhaftes Kompliment gelten sollte, was jedoch von dem Bewerber um die Sekretärstelle höchst undankbarerweise nur mit Widerwillen aufgenommen wurde.

Als man das Buch zu Rate zog, stellte sich heraus, daß die Dutzend Stellen zu einer einzigen eingeschrumpft waren. Herr Gregsbury, das große Parlamentsmitglied von Manchester Buildings in Westminster, suchte einen jungen Mann, der seine Papiere und Korrespondenz in Ordnung halten sollte, und Nicolaus war gerade von dem Schlag, dessen Herr Gregsbury bedurfte.

»Die Bedingungen sind uns unbekannt, da der Auftraggeber sie mit dem Stellungsuchenden selbst abzumachen gedenkt«, bemerkte die dicke Dame; »aber sie können nur sehr vorteilhaft sein, da er Parlamentsmitglied ist.«

So unerfahren auch Nicolaus war, so war er doch von der Richtigkeit dieses Schlusses nicht ganz überzeugt. Ohne jedoch auf weitere Nachfragen einzugehen, ließ er sich die Adresse aufschreiben und nahm sich vor, Herrn Gregsbury unverzüglich seine Aufwartung zu machen.

»Ich kann Ihnen die Hausnummer nicht angeben«, sagte Tom; »aber Manchester Buildings ist nicht groß, und im schlimmsten Falle finden sie ihn, wenn Sie an allen Türen auf beiden Seiten der Straße anklopfen, wozu Sie nicht allzulange brauchen werden. Aber nicht wahr – das war ein hübsches Mädchen?«

»Was für ein Mädchen, Sir?« fragte Nicolaus finster.

»O ja, ich weiß schon – was für ein Mädchen, he?« flüsterte Tom, indem er blinzelnd sein Kinn vorschob. »Sie haben sie natürlich nicht gesehen – was meinen Sie, möchten Sie morgen nicht an meiner Stelle sein, wenn sie wiederkommt?«

Nicolaus sah den häßlichen Schreiber mit einem Blicke an, als hätte er gute Lust, ihm als Lohn für seine Bewunderung der jungen Dame das Hauptbuch um die Ohren zu schlagen. Er hielt jedoch an sich und verließ stolz das Bureau, indem er in seiner Entrüstung den alten Gesetzen der Ritterlichkeit Trotz bot, die es nicht nur allen braven Rittern zur Pflicht machten, das Lob der Damen ihres Herzens anzuhören, sondern sogar von ihnen fordern, in der Welt herumzustreifen und allen jenen hölzernen und prosaischen Kerlen den Schädel einzuschlagen, die sich weigern, Damen in den Himmel zu erheben, von denen sie zufälligerweise nie etwas gesehen oder gehört hatten – als ob dieser letzte Umstand wirklich als eine Entschuldigung gelten könnte.

Nicolaus vergaß über den Betrachtungen, worin wohl das Unglück dieses schönen Mädchens bestehen möchte, seine eigene traurige Lage, und unter solchen Gedanken lenkte er seine Schritte nach Manchester Buildings, obgleich er nicht selten fehlging, da er auf seine vielen Fragen fast ebenso viele falsche Anweisungen erhielt.

In den Grenzen der früheren Stadt Westminster, ein paar hundert Schritte von ihrem alten Heiligtum, ist ein enger und schmutziger Bezirk, das Sanktuarium der unbedeutenderen Parlamentsmitglieder unserer Tage. Es beschränkt sich auf eine einzige Straße voll düsterer Häuser, von dessen Fenstern zur Zeit der Parlamentsferien lange, traurige Reihen von Anschlagzetteln herunterhängen, die ebenso offen wie die Gesichter der früheren Hausbewohner, die sich auf den Bänken der Regierung und der Opposition herumtreiben, der Welt sagen: »zu vermieten«, – »zu vermieten.« Ist das Parlament versammelt, so verschwinden diese Zettel, und die Häuser wimmeln von Gesetzgebern – Gesetzgeber im Erdgeschosse, in der ersten Etage, im zweiten und dritten Stock bis zu den Dachstuben hinauf; die kleinen Gemächer dampfen von dem Atem der Deputationen und Delegierten. Bei feuchtem Wetter sieht man nichts von dem Ort, da er in den Dünsten, die von den durchwässerten Parlamentsakten und den muffigen Petitionen aufsteigen, ganz umnebelt wird. Die Briefträger verfallen in Schwächezustände, wenn sie die Grenzen dieses angesteckten Bezirks betreten, und schäbige Gestalten, die die Postfreiheit der Parlamentsmitglieder ausbeuten möchten, schießen rastlos wie die aufgestörten Geister dahingeschiedener Briefsteller hin und her.

Das ist Manchester Buildings, und hier kann man alle Stunden der Nacht das Rasseln der Schlüssel in ihren Schlössern und hin und wieder – wenn ein über das Wasser, das den Fuß der Gebäude bespült, hinfegender Windstoß den Ton nach dem Eingänge führt – die schwache, schrille Stimme irgendeines Parlamentsmitglieds, das eine Rede auf den andern Morgen einübt, vernehmen. Hier hört man den ganzen Tag das Quieken der Drehorgeln und das Leiern von Spieluhren und Spieldosen; denn Manchester Buildings ist ein Sack, der keinen andern Ausgang hat als die unzierliche Mündung – ein Flaschenfutter ohne Durchgang mit einem kurzen und engen Hals –, und in dieser Hinsicht kann man es wohl das Vorbild des Schicksals von so manchem seiner Bewohner nennen, der, nachdem er sich mit vielem Mühen und Ducken ins Parlament geschlichen hat, am Ende findet, daß kein Ausweg für ihn vorhanden ist, und alles nur, wie Manchester Buildings, zu nichts als zu sich selbst führte, so daß er am Ende gern wieder herausgeht, wie er hineinkam, weder reicher noch weiser oder auch nur um einen Pfifferling berühmter.

Nach diesem Ort wanderte Nicolaus mit der Adresse des großen Herrn Gregsbury in der Hand und fand gleich am Eingang eine große Menschenmasse, die in ein armseliges Haus strömte. Er wartete, bis sich die Straße geleert hatte, suchte dann einen Diener dieses Hauses auf und fragte, ob er nicht wisse, wo Herr Gregsbury wohne.

Der Diener war ein blasser, schäbiger, junger Mensch, der aussah, als ob er von seiner Kindheit an in Kellern geschlafen hätte, was vielleicht auch der Fall war.

»Herr Gregsbury?« sagte er; »Herr Gregsbury wohnt hier. Sie sind ganz recht. Kommen Sie herein.«

Da Nicolaus keinen Grund einsah, warum er nicht hineingehen sollte, so tat er es; und kaum war dies geschehen, so schloß der junge Mensch die Tür und machte sich davon.

Das war seltsam genug, aber noch mehr verwirrte ihn der Umstand, daß sich auf der engen Hausflur und den engen Stiegen eine wirre Masse von Menschen befand, die sich mit gar bedeutungsvollen und wichtigen Gesichtern an die Fenster stellten und den dunklen Eingang noch dunkler machten. Sie harrten augenscheinlich in schweigender Erwartung auf ein bevorstehendes Ereignis; denn von Zeit zu Zeit flüsterte einer seinem Nachbar etwas zu, oder flüsterte eine kleine Gruppe zusammen, und dann nickten oder schüttelten die Flüsternden bedeutungsvoll ihre Köpfe, als ob sie etwas Verzweifeltes im Schilde führten und fest entschlossen wären, sich unter keinen Umständen abschütteln zu lassen.

Einige Minuten vergingen, ohne daß etwas vorfiel, was diesen Auftritt erklärt hätte, und Nicolaus, der sich nicht sonderlich behaglich in seiner Lage fühlte, schickte sich eben an, bei einem Nachbar einige Erkundigungen einzuziehen, als plötzlich eine lebhafte Bewegung auf den Stiegen bemerkbar wurde und eine Stimme sich vernehmen ließ:

»Nun, meine Herren, haben Sie die Güte, heraufzukommen.«

Die Herren auf den Stiegen begannen übrigens, statt hinaufzugehen, rasch hinunterzusteigen, und baten dann die Herren in der Nähe der Tür mit außerordentlicher Höflichkeit, voranzugehen. Diese erwiderten mit gleicher Höflichkeit, daß sie um keinen Preis an so etwas denken würden: aber sie taten es, ohne daran zu denken, denn die anderen Herren drängten ein halbes Dutzend, unter denen sich auch Nicolaus befand, vorwärts und stießen diese, indem sie sich hinten anschlossen, nicht nur die Stiegen hinauf, sondern auch bis in das Audienzzimmer des Herrn Gregsbury hinein, in das sie mit der ungebührlichsten Hast einzutreten genötigt waren, ohne imstande zu sein, sich wieder zurückzuziehen, da die nachdrängende Menge das Gemach füllte.

»Meine Herren«, sagte Herr Gregsbury, »Sie sind willkommen. Ich bin erfreut, Sie zu sehen.«

Für einen Mann, der erfreut war, einen ganzen Haufen Gäste bei sich zu sehen, sah Herr Gregsbury so unbehaglich wie nur möglich aus. Aber das hatte vielleicht seinen Grund in der Würde des Gesetzgebers und dem Zwang, den Staatsmänner ihren Gefühlen aufzuerlegen pflegen. Er war ein sehr wohlbeleibter, dickköpfiger Herr mit lauter Stimme und pomphaftem Wesen, dem eine erträgliche Menge nichtssagender Phrasen zu Gebot stand, und der – mit einem Worte – alle Erfordernisse eines guten Parlamentsmitgliedes besaß.

»Nun, meine Herren«, sagte Herr Gregsbury, indem er einen großen Stoß Papiere in einen zu seinen Füßen stehenden geflochtenen Korb warf und sich selbst mit übereinandergeschlagenen Armen in seinem Stuhle zurücklehnte: »Sie sind, wie ich aus den Zeitungen entnehme, unzufrieden mit meiner Art der Führung meines Amtes?«

»Ja, Herr Gregsbury, das sind wir«, versetzte ein plumper, alter Herr, der mit vielem Ungestüm aus dem Gedränge hervorbrach und sich vorn aufpflanzte.

»Wie?« entgegnete Herr Gregsbury, den Sprecher betrachtend; »täuschen mich meine Augen, oder ist dies wirklich mein alter Freund Pugstyles?«

»Der bin ich und kein anderer, Sir«, erwiderte der plumpe, alte Herr.

»Geben Sie mir Ihre Hand, mein würdiger Freund«, sagte Herr Gregsbury. »Pugstyles, mein teurer Freund, ich bedaure ungemein, Sie hier zu sehen.«

»Und ich bedaure ungemein, daß ich hier sein muß«, versetzte Herr Pugstyles; »aber Ihr Benehmen, Herr Gregsbury, hat diese Abordnung seitens Ihrer Wähler gebieterisch notwendig gemacht.«

»Mein Benehmen, Pugstyles«, entgegnete Herr Gregsbury, indem er die Deputierten der Reihe nach mit huldreicher Herablassung betrachtete – »mein Benehmen wurde stets und wird stets durch die aufrichtige Berücksichtigung der wahren und wirklichen Interessen dieses großen und glücklichen Landes geleitet werden. Ob ich auf meine Heimat oder auf andere Landesteile blicke, ob ich die friedlichen, gewerbtätigen Gemeinden unserer heimischen Insel betrachte, ihre mit Dampfbooten bedeckten Flüsse, ihre Straßen mit Fuhrwerken und Dampfwagen, ihren Himmel mit Luftschiffen von einer Macht und Größe, die in der Geschichte der Luftschiffahrt (sowohl dieses als eines anderen Volkes) nicht ihresgleichen haben – ich sage, ob ich bloß auf meine Heimat blicke oder meine Augen weiter gleiten lasse und die endlose Aussicht auf Eroberung und Besitz betrachte, die sich vor mir eröffnet, und die durch britische Ausdauer und britischen Mut errungen wurde – so schlage ich meine Hände zusammen, richte meine Blicke zu dem weiten Gewölbe über meinem Haupt und rufe: Dank dir Himmel, daß ich ein Brite bin!«

Es war einmal eine Zeit, wo dieser Ausbruch von Begeisterung allenthalben freudigen Anklang gefunden haben würde; aber in dem gegenwärtigen Augenblicke nahm ihn die Abordnung mit der tödlichsten Kälte auf. Der Gesamteindruck schien zu sein, daß diese Phrase, wenn sie als eine Erklärung von Herrn Gregburys politischem Benehmen gelten sollte, nicht genug ins Einzelne einginge, und ein Herr im Hintergrunde nahm keinen Anstand, laut zu bemerken, daß das Ganze ziemlich nach Wind röche.

»Ich weiß nicht, was Sie hier mit dem Ausdrucke ›Wind‹ sagen wollen«, entgegnete Herr Gregsbury: »wenn aber damit angedeutet werden soll, daß ich ein wenig zu glühend, vielleicht sogar hyperbolisch in Erhebung der Vorzüge meines Geburtslandes wurde, so erkenne ich die volle Gerechtigkeit dieser Bemerkung an. Ich bin stolz auf dieses freie und glückliche Land. Ich fühle mich größer; meine Augen glänzen, meine Brust hebt sich, mein Herz schwillt, mein Busen brennt, wenn ich mir seinen Ruhm und seine Größe ins Gedächtnis rufe.«

»Wir wünschen Ihnen einige Fragen vorzulegen«, bemerkte Herr Pugstyles ruhig.

»Ich stehe zu Diensten, meine Herren. Meine Zeit gehört Ihnen – und meinem Vaterlande – ja, und meinem Vaterlande –« erwiderte Herr Gregsbury.

Sobald diese Erlaubnis erteilt war, setzte Herr Pugstyles seine Brille auf und durchlief ein beschriebenes Papier, das er aus seiner Tasche zog, worauf fast alle übrigen Deputationsmitglieder gleichfalls Schriften aus ihren Taschen zogen, um Herrn Pugstyles, während er die Fragen ablas, nachzuprüfen.

Als dies geschehen war, ging Herr Pugstyles zu seinem Zweck über.

»Frage Numero eins. Gaben Sie vor Ihrer Erwählung nicht das freiwillige Versprechen, daß Sie, im Fall Sie reussierten, der üblen Gewohnheit des Hustens und Grunzens im Unterhaus ein Ende machen wollten, und haben Sie sich nicht schon in der ersten Debatte der Sitzung niederhusten und niedergrunzen lassen, ohne auch nur den Versuch zu machen, eine Abstellung dieses Unfugs zu beantragen? Haben Sie ferner nicht das Versprechen abgelegt, die Minister niederzudonnern und sie zu Kreuze kriechen zu machen – und haben Sie sie niedergedonnert und zu Kreuze kriechen gemacht?«

»Gehen Sie auf den nächsten Punkt über, mein lieber Pugstyles«, sagte Herr Gregsbury.

»Haben Sie hinsichtlich dieser Frage eine Erklärung abzugeben, Sir?« fragte Herr Pugstyles.

»Gewiß nicht«, antwortete Herr Gregsbury.

Die Mitglieder der Abordnung warfen sich zuerst untereinander und dann dem Mitgliede wilde Blicke zu, und »der liebe Pugstyles« nahm, nachdem er Herrn Gregsbury geraume Zeit über seine Brille weg scharf fixiert hatte, seine Fragenliste wieder auf.

»Frage Numero zwei. Haben Sie nicht in gleicher Weise freiwillig gelobt, daß Sie Ihren Kollegen bei jeder Gelegenheit unterstützen würden, und haben Sie ihn nicht vorgestern nachmittag verlassen und mit der Gegenpartei gestimmt, weil die Frau eines Haupthahns von der Gegenpartei Madame Gregsbury zu einer Abendgesellschaft eingeladen hatte?«

»Weiter«, sagte Herr Gregsbury.

»Haben Sie auch hierauf nichts zu sagen, Sir?« fragte der Sprecher.

»Nicht das mindeste«, versetzte Herr Gregsbury.

Die Abordnung, die ihn nur zur Zeit der Stimmenwerbung und der Wahl gesehen hatte, wurde durch die Kaltblütigkeit nicht wenig verblüfft. Er schien nicht mehr derselbe Mann zu sein; denn damals war er ganz Milch und Honig, während er sich jetzt als Galle und Essig zeigte. Aber die Menschen ändern sich wie die Zeiten.

»Endlich und schließlich Frage Numero drei –« fuhr Herr Pugstyles mit Nachdruck fort. »Haben Sie nicht während der Wahl Ihren festen und unabänderlichen Entschluß zu erkennen gegeben, sich jedem Vorschlage zu widersetzen, bei jeder Frage Abstimmung zu verlangen, über jeden Gegenstand aktenmäßige Nachweisung zu fordern, jeden Tag einen Antrag zu stellen und – um mich kürzlich Ihrer eigenen denkwürdigen Worte zu bedienen – aller Welt den Teufel im Glas zu zeigen?«

Mit dieser inhaltsschweren Frage faltete Herr Pugstyles sein Papier zusammen, und seine Hintermänner taten dasselbe.

Herr Gregsbury überlegte, schneuzte sich, lehnte sich in seinem Stuhl zurück, beugte sich dann wieder vorwärts, stützte seine Ellenbogen auf den Tisch, machte mit seinen zwei Daumen und seinen zwei Zeigefingern ein Dreieck, schlug sich mit der Spitze desselben auf die Nase und entgegnete lächelnd:

»Ich stelle alles in Abrede.«

Bei dieser unverhofften Antwort erhob sich unter der Abordnung ein unwilliges Murren, und derselbe Herr, der schon früher seine Ansicht über die windartige Beschaffenheit der Begrüßungsanrede zum besten gegeben hatte, ließ abermals eine einsilbige Demonstration laut werden, indem er das Wort »Verzichtleistung« brummte, das durch die Art und Weise, wie seine Gefährten darin einstimmten, in der Tat zu einer ernsten und allgemeinen Unwillensäußerung anschwoll.

»Ich bin beauftragt, Sir«, sagte Herr Pugstyles mit einer nachlässigen Verbeugung, »Ihnen zu erklären, daß eine große Mehrzahl Ihrer Wähler wünscht, Sie möchten die Güte haben, auf Ihren Sitz zugunsten eines Bewerbers zu verzichten, dem man besser vertrauen zu dürfen glaubt.«

Herr Gregsbury las nun die folgende Antwort ab, die er in dem Vorgefühl einer solchen Aufforderung in der Form eines Briefes abgefaßt hatte, um Abschriften davon an die Redaktionen der Tagesblätter senden zu können:

»Mein lieber Pugstyles!

Nächst der Wohlfahrt unserer geliebten Insel – dieses großen, freien und glücklichen Landes, dessen Kräfte und Hilfsquellen nach meiner innigsten Überzeugung grenzenlos sind – schlage ich die edle Unabhängkeit, deren sich ein Engländer mit hohem Stolze rühmen kann, und die ich meinen Kindern unbefleckt und unbesudelt hinterlassen möchte, am höchsten an. Durch keine persönlichen Triebfedern geleitet, sondern einzig und allein veranlaßt durch hohe und wichtige konstitutionelle Rücksichten, die ich nicht auseinanderzusetzen versuchen will, da sie in der Tat die Fassungskraft von Personen übersteigen, die sich nicht wie ich die Politik durch ein verwickeltes und mühsames Studium zu eigen gemacht haben – halte ich es für geeignet, meinen Sitz zu behaupten, und habe auch die Absicht, dieses wirklich zu tun.

Haben Sie die Güte, der Wahlkorporation meine Empfehlung mitzuteilen und ihr diese meine Entschließung kundzutun.

Mit großer Hochachtung
Mein lieber Pugstyles
usw.«

»Sie wollen also unter keinen Umständen zurücktreten?« fragte der Sprecher.

Herr Gregsbury lächelte und schüttelte den Kopf.

»Dann guten Morgen, Sir«, sagte Pugstyles zornig.

»Gott geleite Sie«, entgegnete Herr Gregsbury.

Und die Abordnung stürmte unter Brummen und Schelten so schnell hinaus, wie es das enge Stiegenhaus nur gestatten mochte.

Als sich der letzte Mann entfernt hatte, rieb Herr Gregsbury seine Hände und kicherte, wie lustige Burschen es tun, wenn sie glauben, daß sie etwas ungewöhnlich Gutes gesagt oder ausgeführt hätten. Er war überhaupt so sehr von seiner Selbstzufriedenheit hingenommen, daß er unsern Nicolaus, der hinter einer Fenstergardine zurückgeblieben war, nicht gewahrte, bis dieser in der Besorgnis, irgendein Selbstgespräch, das für keine fremden Ohren bestimmt war, mit anhören zu müssen, zwei- oder dreimal hustete, um die Aufmerksamkeit des Parlamentsmitglieds auf sich zu ziehen.

»Was ist das?« rief Herr Gregsbury mit scharfem Ton.

Nicolaus trat hervor und verbeugte sich.

»Was haben Sie hier zu schaffen, Sir?« fragte Herr Gregsbury. »Ein Spion in meinem Privatzimmer! ein versteckter Wähler! Sie haben meine Antwort vernommen, Sir; ich muß daher bitten, daß Sie der Abordnung folgen.«

»Wenn ich zu ihr gehörte, so würde es bereits geschehen sein«, entgegnete Nicolaus: »das ist jedoch nicht der Fall.«

»Aber was wollen Sie denn hier, Sir?« war natürlich die nächste Frage des Herrn Gregsbury, Parlamentsmitglied. »Und wo zum Teufel kommen Sie her, Sir?« lautete die zweite.

»Ich erhielt diese Karte von der Generalagentur, Sir«, antwortete Nicolaus, »und möchte mich Ihnen als Sekretär anbieten, da Sie dem Vernehmen nach eines solchen bedürfen.«

»Das wäre alles, weshalb Sie hergekommen sind?« fragte Herr Gregsbury, den Bittsteller mit bedenklichen Blicken messend.

Nicolaus bejahte diese Frage.

»Sie stehen in keiner Verbindung mit irgendeinem dieser schuftigen Zeitungsblätter?« fuhr Herr Gregsbury fort. »Sie haben sich nicht in das Zimmer geschlichen, um zu behorchen, was vorgeht, und es nachher drucken zu lassen – he?«

»Es tut mir leid, sagen zu müssen, daß ich vorderhand mit gar nichts in Verbindung stehe«, entgegnete Nicolaus zwar höflich, aber unbefangen.

»Ach, so«, erwiderte Herr Gregsbury. »Wie fanden Sie aber Ihren Weg hier herauf?«

Nicolaus erzählte, wie er durch die Abordnung herauf gedrängt worden.

»So ging es also zu?« versetzte Herr Gregsbury. »Nehmen Sie Platz.«

Nicolaus nahm einen Stuhl, und Herr Gregsbury betrachtete ihn eine Weile mit festen Blicken, als ob er sich vorher überzeugen wolle, daß in seinem Äußeren nichts Verdächtiges liege, ehe er weitere Fragen stellte.

»Sie möchten also mein Sekretär werden?« begann er endlich.

»Ja«, antwortete Nicolaus.

»Schön«, versetzte Herr Gregsbury, »aber was können Sie leisten?«

»Ich denke«, entgegnete Nicolaus lächelnd, »daß ich das, was gewöhnlich Sekretären anheimfällt, zu versehen imstande bin.«

»Und das wäre?« fragte Herr Gregsbury.

»Wie?« erwiderte Nicolaus.

»Ja, ja, worin besteht dies?« sagte das Parlamentsmitglied, indem es den Bittsteller, das Haupt auf eine Seite geneigt, mit schlauen Blicken ansah.

»Die Obliegenheiten eines Sekretärs sind vielleicht etwas schwer abzugrenzen«, sagte Nicolaus nach einigem Besinnen. »Sie umfassen, wie ich mir denke, die Korrespondenz.«

»Gut«, fiel Herr Gregsbury ein.

»Das Ordnen von Papieren und Dokumenten.«

»Sehr gut.«

»Hin und wieder vielleicht ein Niederschreiben dessen, was Sie diktieren, und wahrscheinlich –« sagte Nicolaus mit einem halben Lächeln – »das Abschreiben einer Rede für irgendein öffentliches Journal, wenn Sie eine solche von mehr als gewöhnlicher Wichtigkeit gehalten haben.«

»Gewiß«, versetzte Herr Gregsbury. »Was sonst noch?«

»In der Tat«, entgegnete Nicolaus nach einem kurzen Nachdenken, »ich bin im Augenblick nicht imstande, noch eine weitere Aufgabe eines Sekretärs namhaft zu machen, es müßte denn die allgemeine sein, sich seinem Prinzipal so viel wie möglich angenehm und nützlich zu machen, ohne dabei der eigenen Ehre etwas zu vergeben und ohne die Grenze der Verpflichtungen zu überschreiten, die nach allgemeinen Begriffen schon durch den Titel seines Amtes angedeutet sind.«

Herr Gregsbury faßte Nicolaus eine Weile fest ins Auge, ließ dann den Blick schlau durch das Zimmer schießen und sagte mit unterdrückter Stimme:

»Das ist alles ganz recht, Herr – wie ist Ihr Name?«

»Nickleby.«

»Das ist alles ganz recht, Herr Nickleby, und vollkommen in der Ordnung, soweit wie es geht – ja, soweit wie es geht: aber es geht nicht weit genug. Es gibt auch noch andere Verpflichtungen, Herr Nickleby, die der Sekretär eines Mannes, der im Parlament sitzt, nicht aus den Augen verlieren darf. Ich müßte die Forderung an ihn stellen, von ihm gedeckt zu werden, Sir.«

»Entschuldigen Sie –« fiel Nicolaus ein, zweifelhaft, ob er recht gehört habe oder nicht.

»Gedeckt zu werden, Sir«, wiederholte das Parlamentsmitglied.

»Ich muß nochmals um Entschuldigung bitten – darf ich fragen, was Sie unter diesem Ausdruck verstehen?« fragte Nicolaus.

»Der Sinn desselben ist deutlich genug, Sir«, versetzte Herr Gregsbury mit einer feierlichen Miene. »Mein Sekretär müßte sich vollständig mit der auswärtigen Politik, soweit sie sich in den Zeitungen abspiegelt, vertraut machen; er müßte alle Berichte über öffentliche Versammlungen wie auch die Hauptartikel, die in denselben zur Sprache kommen, überlesen und müßte sich alles aufzeichnen, was ihm geeignet dünkt, als ein Schlageffekt in irgendeiner kleinen Rede bei Behandlung einer oder der anderen Frage der Tagesordnung angebracht werden zu können. Verstehen Sie mich?«

»Ich denke, Sir«, versetzte Nicolaus.

»Dann«, fuhr Herr Gregsbury fort, »würde es für ihn nötig sein, mit den Tagesbegebenheiten, die in den Zeitungen besprochen werden, stets auf dem laufenden zu bleiben und Artikel, wie: ›Geheimnisvolles Verschwinden und mutmaßlicher Selbstmord eines Bierausträgers‹ und dergleichen, woran sich eine Frage an den Staatssekretär des Ministeriums für das Innere knüpfen ließe, nicht zu übersehen. Er hätte dann die Anfrage und das, was mir von der Antwort noch im Gedächtnis wäre, nebst Beifügung eines kleinen Kompliments über meine Unabhängigkeit und Einsicht aufzuschreiben und das Manuskript an irgendein Lokalblatt zu senden, könnte es allenfalls auch mit einem halben Dutzend Zeilen bevorworten und darin andeuten, daß ich im Parlament stets auf meinem Platz befunden würde, mich nie der Ausübung meiner schweren und wichtigen Pflichten entzöge usw. – Begreifen Sie?«

Nicolaus verbeugte sich.

»Außerdem würde ich von ihm erwarten, daß er hin und wieder auch einen Blick in die gedruckten statistischen Tabellen werfe und einige Resultate herauslese, die mir z.B. bei der Holzzollfrage und ähnlichen finanziellen Verhandlungen einen Namen machen könnten. Auch wäre es mir angenehm, wenn er einige kleine Belege für die unheilvollen Wirkungen einer Wiedereinführung der Zahlungen in gemünztem Geld und des Metallumlaufs, nebst gelegentlichen Andeutungen über die Ausfuhr von Gold- und Silberbarren, den Kaiser von Rußland, Banknoten und derartige Dinge sammelte, womit man’s jedoch nicht besonders gründlich zu nehmen braucht, da es doch niemand versteht. Ist Ihnen das klar?«

»Ich glaube. Sie zu verstehen«, sagte Nicolaus.

»Bei Fragen von nicht politischem Charakter«, verfolgte Herr Gregsbury, immer wärmer werdend, seine Rede, »und bei solchen, um die man sich nicht besonders zu kümmern nötig hat, es sei denn, daß man gebührende Sorge dafür tragen müßte, es denen, die unter uns stehen, nicht allzuwohl werden zu lassen (denn wo wären sonst unsere Privilegien?) – bei solchen Fragen würde ich es gerne sehen, wenn mein Sekretär einige kleine, begeisterte, patriotische Reden ausarbeitete. Wenn zum Beispiel irgendeine widersinnige Bill vorgebracht würde, um armen Teufeln von Schriftstellern ein Recht an ihr literarisches Eigentum zu sichern, so würde ich etwa sagen, daß ich für meine Person nie meine Zustimmung geben könne, wenn es gälte, der Verbreitung des Wissens unter dem Volke ein unübersteigliches Hindernis in den Weg zu legen (verstehen Sie mich?); daß das, was durch Geld geschaffen wird, soferne Geld für jedermann erreichbar ist, recht wohl einem Menschen oder einer Familie angehören könne; daß aber die Schöpfungen des Geistes, der ein Geschenk von oben ist, begreiflicherweise das Eigentum des Volkes im allgemeinen sein müßten. Wenn ich heiter gestimmt wäre, so würde ich einen Scherz über die Nachwelt beifügen und sagen, daß die, die für die Nachwelt schrieben, sich damit begnügen sollten, durch den Beifall der Nachwelt belohnt zu werden. So etwas würde das Haus belustigen und könnte mir nie schaden, da ich von der Nachwelt nicht erwarten kann, daß sie von mir oder meinem Spaß Notiz nimmt. Leuchtet Ihnen das ein?«

»Vollkommen«, versetzte Nicolaus.

»Sie müssen in derartigen Fällen, wobei wir nicht persönlich beteiligt sind, vorzugsweise Ihr Augenmerk darauf richten, das Volk aufs kräftigste in den Vordergrund zu stellen, weil es uns zur Zeit der Wahl gar gut zustatten kommt«, sagte Herr Gregsbury, »während Sie sich über die Schriftsteller so lustig machen können, wie Ihnen beliebt; denn ich glaube, der größte Teil derselben wohnt zur Miete und hat kein Stimmrecht. Das wäre ein flüchtiger Umriß Ihrer Hauptobliegenheiten, zu denen noch kommt, daß Sie jeden Abend in dem Vorsaale zu warten hätten, für den Fall, daß ich etwas vergessen hätte und einer frischen Deckung bedürfte. Hin und wieder bei wichtigen Debatten setzen Sie sich in die vordere Reihe der Galerie und sagen zu Ihren Nachbarn: ›Sehen Sie jenen Herrn mit der Hand an der Stirn und dem Arm um den Pfeiler – das ist Herr Gregsbury, der berühmte Herr Gregsbury‹ – nebst irgendeinem andern kleinen Lobspruch, wie ihn eben der Augenblick eingibt. Was das Gehalt anbelangt«, fuhr Herr Gregsbury rasch zum Schlusse eilend fort, da er ganz außer Atem gekommen war – »was endlich das Gehalt anbelangt, so will ich, um Sie völlig zufriedenzustellen, eine runde Summe nicht ansehen und Ihnen, wenn Sie mir zusagen – obgleich es mehr ist, als ich gewöhnlich zu geben pflege – fünfzehn Schillinge wöchentlich auswerfen, wobei Sie sich jedoch selbst zu verköstigen haben.«

Bei diesem schönen Anerbieten lehnte sich Herr Gregsbury mehr als einmal in seinem Stuhle zurück und gab sich ganz die Miene eines Mannes, der zwar verschwenderisch freigebig gewesen, aber trotzdem fest entschlossen ist, seine Großmut nicht zu bereuen.

»Fünfzehn Schillinge wöchentlich sind nicht viel«, sagte Nicolaus schüchtern.

»Nicht viel! Fünfzehn Schillinge wöchentlich nicht viel, junger Mann?« rief Herr Gregsbury. »Fünfzehn Schillinge wöch –«

»Ich bitte, glauben Sie nicht, daß ich mich über die Summe beschwere«, fiel Nicolaus ein, »denn ich schäme mich nicht, zu bekennen, daß sie, wie gering sie auch sein mag, für mich immer noch bedeutend ist. Aber die Pflichten und Verantwortlichkeiten machen die Belohnung zu einer geringen, und diese sind in der Tat so schwer, daß ich mich scheue, sie zu übernehmen.«

»Sie wollen also die Stelle nicht annehmen, Sir?« fragte Herr Gregsbury, mit der Hand an der Klingelschnur.

»Ich fürchte, ich bin ihr nicht gewachsen, wie gut auch der Wille sein mag«, entgegnete Nicolaus.

»Das will also so viel besagen, daß Sie den Posten nicht übernehmen und daß Sie fünfzehn Schillinge wöchentlich für zu wenig halten«, sagte Herr Gregsbury klingelnd. »Sie lehnen ihn also wirklich ab, Sir?«

»Ich habe keine andere Wahl«, versetzte Nicolaus.

»Die Tür, Matthäus!« rief Herr Gregsbury, als der Bediente erschien.

»Es tut mir leid, Sie unnötig belästigt zu haben, Sir«, sagte Nicolaus.

»Mir gleichfalls«, entgegnete Herr Gregsbury, Nicolaus den Rücken kehrend. »Die Tür, Matthäus!«

»Guten Morgen«, sagte Nicolaus.

»Die Tür, Matthäus!« rief Herr Gregsbury.

Der Diener winkte Nicolaus, taumelte träge die Stiege hinunter voraus, öffnete die Tür und führte ihn auf die Straße. Mit trauriger, nachdenklicher Miene trat er seinen Heimweg an.

Smike hatte von den Überresten des gestrigen Abendessens eine Mahlzeit zusammengescharrt und harrte ängstlich seiner Rückkehr. Die Ereignisse des Morgens waren nicht geeignet, Nicolaus‘ Appetit zu vermehren, und so blieb denn das Mittagsmahl von seiner Seite unangetastet. Er saß in nachdenklicher Stellung da und hatte den Teller, den der arme Junge emsig mit den auserlesensten Bissen gefüllt hatte, unberührt vor sich stehen, als Newman Noggs in das Zimmer sah.

»Wieder zurück?« fragte Newman.

»Ja«, antwortete Nicolaus, »aber todmüde, und was noch das schlimmste ist, ich hätte hinsichtlich des Erfolges meines Ausgangs ebensogut zu Hause bleiben können.«

»Sie konnten nicht erwarten, an einem Morgen viel auszurichten«, sagte Newman.

»Kann sein, aber ich bin etwas temperamentvoll und hoffte«, sagte Nicolaus. »Ich bin jedoch jetzt in demselben Maße enttäuscht.«

Er erzählte nun Newman den Verlauf seiner Bemühungen.

»Wenn ich etwas tun könnte«, fuhr Nicolaus fort, »nur etwas Weniges tun könnte, ehe Ralph Nickleby zurückkehrt, so würde ich ihm leichteren Herzens und in glücklicherer Stimmung entgegentreten. Der Himmel weiß, daß ich es nicht für eine Schande halte zu arbeiten, und es könnte mich wahnsinnig machen, daß ich untätig hier liegen soll wie ein halbgezähmtcs wildes Tier.«

»Ich weiß nicht«, sagte Newman; »etwas Geringes wäre zur Hand – es würde wenigstens die Hausmiete bezahlen und noch etwas mehr; aber es wird Ihnen nicht anstehen – nein, es läßt sich kaum erwarten, daß Sie darauf eingehen – nein, nein.«

»Auf was sollte ich nicht eingehen?« fragte Nicolaus, die Augen erhebend. »Zeigen Sie mir in dieser weiten Öde von London ein ehrliches Mittel, durch das ich nur die wöchentliche Miete dieses armseligen Zimmers aufbringen könnte, und geben Sie acht, ob ich davor zurückschrecke. Eingehen? Ich habe schon zu viel eingegangen, mein Freund, um jetzt besonders eigen zu sein oder dem Stolz Raum zu geben. Ich rede natürlich nur von Dingen«, fügte Nicolaus nach einem kurzen Schweigen hastig bei, »die auf ehrlichen Wegen ausgeführt werden können und sich mit der Selbstachtung vertragen; denn es ist keine große Wahl zwischen dem Gehilfen eines viehischen Schulmeisters und der Kreatur eines gemeinen und unwissenden Pilzes, mag er nun Parlamentsmitglied sein oder nicht.«

»Ich getraue mich kaum, Ihnen mitzuteilen, was ich diesen Morgen gehört habe«, versetzte Newman.

»Steht es in Verbindung mit dem, was Sie vorhin andeuteten?« fragte Nicolaus.

»Ja.«

»Nun so rücken Sie ins Himmels Namen damit heraus, mein Freund«, entgegnete Nicolaus. »Bedenken Sie um Gottes willen meine klägliche Lage und lassen Sie mich wenigstens Ihre Meinung hören; ich will Ihnen ja gerne versprechen, keinen Schritt zu tun, ohne mich mit Ihnen beraten zu haben.«

Newman ließ sich durch diese dringende Bitte erweichen und stotterte eine Masse der unverständlichsten und verwirrtesten Sätze hervor, deren Gesamtinhalt darin bestand, daß Madame Kenwigs ihn ein langes und breites über den Ursprung seiner Bekanntschaft mit Nicolaus und über dessen Leben, Schicksale und Familie ausgefragt hätte; er (Newman) sei zwar diesen Fragen solange als möglich ausgewichen, zuletzt aber so in die Enge getrieben worden, daß er endlich zugestanden hätte, Nicolaus wäre ein Lehrer von trefflichen Talenten, gegenwärtig freilich in einige mißliche Verhältnisse verwickelt, deren Natur er nicht weiter auseinandersetzen dürfe, und hieße Johnson. Madame Kenwigs hätte hierauf, von Dankbarkeit, Ehrgeiz, mütterlichem Stolz oder mütterlicher Liebe, vielleicht auch von allen diesen vier mächtigen Beweggründen geleitet – mit Herrn Kenwigs geheime Rücksprache genommen und wäre endlich mit dem Vorschlage zurückgekehrt, daß Herr Johnson die vier kleinen Kenwigschen in der französischen Sprache, wie sie von den geborenen Franzosen gesprochen würde, gegen ein wöchentliches Honorar von fünf Schilling landläufiger Münze unterrichten möchte, wobei sie wöchentlich einen Schilling für jede ihrer Töchter und auch noch außerdem einen Schilling für den Knaben in der Wiege bis zu der Zeit berechnet hätte, wann dieser an den Unterrichtsstunden teilzunehmen imstande wäre. Dies könne jedoch, wie Madame Kenwigs meinte, unmöglich lange anstehen, da es ihrer Ansicht nach auf der ganzen Welt keine klügeren Kinder als die ihrigen gäbe.

»Sie haben hier den ganzen Antrag«, schloß Newman. »Er ist zwar, wie ich wohl weiß, unter Ihrer Würde, aber ich dachte, er könnte vielleicht –«

»Vielleicht?« rief Nicolaus mit großer Lebhaftigkeit aus; »nein, nein, er kommt mir vollkommen gelegen. Sie können, lieber Freund, der würdigen Mutter ohne Verzug erklären, daß ich bereit bin, anzufangen, sobald es ihr beliebt.«

Newman eilte vergnügt hinunter, um Madame Kenwigs die Zustimmung seines Freundes mitzuteilen, und kehrte bald mit der Nachricht zurück, daß man sich glücklich schätzen werde, wenn er, sobald es ihm gelegen sei, einen Besuch in der ersten Etage machen wolle. Madame Kenwigs habe augenblicklich nach einer alten französischen Grammatik und nach französischen Gesprächen fortgeschickt, die schon lange Zeit auf einem Bücherkarren (Stück für Stück zu sechs Pence) herumgefahren wären; und die Familie, hochentzückt über die Aussicht, dem vornehmen Ton ihres Hauswesens einen neuen vornehmen Geleitton beizufügen, hege den lebhaften Wunsch, daß die erste Unterrichtsstunde sogleich gegeben würde.

Der Leser wird hieraus entnehmen, daß Nicolaus kein hochmütiger junger Mann im gewöhnlichen Sinne dieses Wortes war. Er mochte zwar eine Beleidigung, die ihm selbst widerfuhr, ahnden, oder ein Unrecht, das einen anderen bedrohte, so kühn und freimütig wie nur irgendein Ritter, der je eine Lanze brach, zu verhindern suchen. Aber es fehlte ihm an jenem hohen Maß von Besonnenheit und edler Selbstsucht, das unabänderlich zu dem Charakter der hochsinnigen Herren gehört. Wir für unsere Person sind freilich geneigt, solche Herren in Familien, die sich emporschwingen wollen, eher für eine Last zu betrachten, da wir zufälligerweise manche kennengelernt haben, die durch ihren hohen Sinn verhindert wurden, sich zu irgendeiner niedrigen Beschäftigung herabzulassen, und es vorzogen, denselben nur in der Kultivierung ihrer Schnurrbärte und in wilden Blicken zu zeigen. Obschon nun Schnurrbärte und ein wildes Aussehen in ihrer Art gar hübsche und ungemein empfehlenswerte Dinge sind, so müssen wir eben doch gestehen, daß wir diese lieber auf Kosten ihres Eigentümers als auf Unkosten der bescheiden gesinnten Leute gehegt zu sehen wünschen.

Da nun Nicolaus – nach der gewöhnlichen Ausdrucksweise – kein hochgesinnter junger Mann war und er es für eine größere Schmach hielt, zur Bestreitung seiner notwendigsten Bedürfnisse von Newman Noggs zu borgen, als die kleinen Kenwigschen für fünf Schillinge wöchentlich Französisch zu lehren, so nahm er das Anerbieten mit der bereits angedeuteten Bereitwilligkeit an und verfügte sich mit aller gebührenden Eile nach dem ersten Stock.

Hier wurde er von Madame Kenwigs mit einer vornehmen Miene, die den Lehrer des wohlwollenden Schutzes und Beistandes der Dame versichern sollte, empfangen. Auch fand er daselbst Herrn Lillyvick und Fräulein Petowker, die vier Fräulein Kenwigs auf ihrer Bank, des Unterrichts gewärtig, und den kleinen Herrn Kenwigs in einem mit einem tannenen Tischbrettchen versehenen Kindertragstuhl, wo er sich mit einem hölzernen Pferd ohne Kopf unterhielt. Das besagte Pferd bestand aus einem hölzernen Zylinder auf vier krummen Stäbchen, das auf eine sehr sinnreiche Weise mit Zinnober und Schuhwichse angestrichen war.

»Wie befinden Sie sich, Herr Johnson?« fragte Madame Kenwigs. »Onkel – Herr Johnson.«

»Wie geht es Ihnen, Sir?« fragte Herr Lillyvick in etwas barschem Tone, denn er hatte in der vorigen Nacht Nicolaus‘ Stand nicht gekannt, und allzugroße Höflichkeit gegen einen Hauslehrer wäre einem Steuereinnehmer nicht zu verzeihen gewesen.

»Wir haben Herrn Johnson als Hauslehrer für die Kinder angenommen, Onkel«, sagte Madame Kenwigs.

»Ich habe das eben von dir vernommen, meine Liebe«, versetzte Herr Lillyvick.

»Aber ich hoffe«, fuhr Frau Kenwigs, sich in die Brust werfend, fort, »daß sie dadurch nicht stolz werden, sondern ihrem guten Glück danken, das ihnen schon durch ihre Geburt eine bessere Stellung anweist als den Kindern gewöhnlicher Leute. Hörst du, Morlina?«

»Ja, Mama«, entgegnete Fräulein Kenwigs.

»Und wenn ihr auf die Straßen oder sonst wohin kommt, so verlange ich, daß ihr nicht gegen andere Kinder damit großtut«, sagte Frau Kenwigs. »Wenn ihr etwas darüber sprechen müßt, so sollt ihr nur sagen, wir haben einen Privatlehrer angenommen, der uns zu Hause Unterricht erteilt, aber wir sind nicht stolz darauf, denn Mama sagt, es wäre eine Sünde. Hörst du Morlina?«

»Ja, Mama«, antwortete Fräulein Kenwigs wieder.

»So vergiß es nicht und tu‘, wie ich dir sage«, sprach Frau Kenwigs. »Soll Herr Johnson anfangen, Onkel?«

»Ich bin bereit zuzuhören, wenn Herr Johnson anzufangen bereit ist, meine Liebe«, sagte der Steuereinnehmer mit einer Kennermiene. »Für was für eine Art von Sprache halten Sie das Französische, Sir?«

»Wie meinen Sie das?« fragte Nicolaus.

»Halten Sie es für eine gute Sprache, Sir?« fuhr der Steuereinnehmer fort – »für eine schöne Sprache, eine vernünftige Sprache?«

»Für eine schöne Sprache, gewiß«, versetzte Nicolaus; »und da sie für alles eine Bezeichnung hat und auch eine gewandte und zierliche Konversation zuläßt, so möchte ich sie auch eine verständige nennen.«

»Ich weiß nicht«, meinte Herr Lillyvick kopfschüttelnd. »Halten Sie das Französische auch für eine muntere Sprache?«

»Ganz gewiß«, entgegnete Nicolaus.

»Dann muß es sich seit meiner Zeit sehr geändert haben – ja, ja, recht sehr«, sagte der Steuereinnehmer.

»War es denn zu Ihrer Zeit eine traurige?« fragte Nicolaus, kaum imstande, ein Lächeln zu unterdrücken.

»Allerdings«, antwortete Herr Lillyvick mit einiger Heftigkeit. »Ich spreche von der Kriegszeit – von dem letzten Kriege. Es mag meinetwegen eine muntere Sprache sein, denn ich möchte niemandem gerne widersprechen, das aber kann ich behaupten – ich hörte die französischen Gefangenen, die sich doch als Eingeborene darauf verstehen müssen, in einer so traurigen Weise sprechen, daß es mir von dem Zuhören schon ganz elend wurde. Ja, ja, das ist mir fünfzigmal – wenigstens fünfzigmal vorgekommen, Sir.«

Herr Lillyvick war in seiner Ereiferung so unwillig geworden, daß es Madame Kenwigs für zweckmäßig erachtete, Nicolaus einen Wink zu geben, daß er nichts darauf erwidern möchte. Auch bedurfte es mancher Schmeichelworte von seiten Fräulein Petowkers, bis der vortreffliche alte Herr wieder ruhiger wurde und sich herabließ, das Schweigen durch die Frage zu unterbrechen:

»Wie heißt ›das Wasser‹ auf Französisch?«

»L’eau«, antwortete Nicolaus.

»Ah«, sagte Herr Lillyvick, den Kopf schüttelnd, »ich dachte mir so etwas. Lo – nicht wahr? Nein, ich halte nichts – nicht das mindeste auf diese Sprache.«

»Wollen wir die Kinder nicht anfangen lassen, Onkel?« fragte Madame Kenwigs.

»O ja, sie können anfangen, meine Liebe«, erwiderte der Steuereinnehmer unzufrieden. »Ich habe nicht die Absicht, ihnen etwas in den Weg zu legen.«

Auf diese Zustimmung setzten sich die vier Kenwigschen in eine Reihe, alle mit ihren Zöpfen nach einer Seite und Morlinchen obenan, während Nicolaus das Buch zur Hand nahm und die einleitenden Erklärungen begann. Fräulein Petowker und Madame Kenwigs sahen in bewunderndem Schweigen zu, das nur hin und wieder durch ein Flüstern der letztern unterbrochen wurde, die versicherte, Morlina werde in der kürzesten Zeit alles begriffen haben; und Herr Lillyvick betrachtete die Gruppe mit finsteren und achtsamen Blicken, der Gelegenheit harrend, die ihm zu einer neuen Erörterung über diese Sprache Anlaß geben könnte.