Erstes Kapitel.

das alle übrigen einleitet.

In einem abgelegenen Teile der Grafschaft Devonshire lebte einmal ein ehrenwerter Mann, Namens Gottfried Nickleby, der es sich in seinen späteren Lebensjahren noch in den Kopf gesetzt hatte, daß er heiraten müsse. Da aber außer dem Mangel der Jugend auch seine Vermögensumstände nicht zu den glänzendsten gehörten, und er daher nicht auf die Hand einer vermögenden Dame rechnen durfte, so verehelichte er sich aus purer Zuneigung mit einer alten Flamme, die ihn aus dem nämlichen Grunde nahm – wie etwa zwei Leutchen, die es nicht erschwingen können, um Geld Karten zu spielen, sich hin und wieder den Gefallen erweisen, miteinander eine Partie umsonst zu machen.

Boshafte Ehestandsspöttler mögen hier vielleicht die Einwendung machen, daß das gute Paar so ziemlich den Inhabern einiger Kampfhähne glich, die, wenn ihre Börse knapp bestellt ist und keine Wetter vorhanden sind, gar großmütig aus reiner Lust an dem Schauspiele die Vorzüge ihrer Tiere in einem Kampfe zur Schau stellen. Und in der Tat wäre auch der Vergleich in gewisser Hinsicht nicht ohne treffende Spitze; denn wenn die paar Glücksritter von Fives‘ Court nachher einen Hut herumgehen lassen werden, in der festen Zuversicht, die Zuschauer würden wohl die Güte haben, ihnen die Mittel zu einer Erfrischung zu liefern, so sahen auch Herr Gottfried Nickleby und seine traute Hälfte nach dem Ablauf der Flitterwochen sehnsüchtig in die Welt hinaus und verließen sich in nicht geringem Grade auf den Zufall, der ihrem Erwerb aufhelfen sollte. Herrn Nicklebys jährliches Einkommen schwankte zur Zeit seiner Verheiratung zwischen jährlichen sechzig bis achtzig Pfunden.

Es gibt – der Himmel weiß es – Leute genug in der Welt, und sogar in London, wo Herr Nickleby in jenen Tagen wohnte, hört man nur wenige Klagen darüber, daß die Bevölkerung zu sparsam sei. Aber es ist eben so wahr wie seltsam, daß man sich, weiß Gott, wie lange, unter der Menge umsehen kann, ohne das Gesicht eines Freundes zu entdecken. Herr Nickleby sah und sah sich um, bis ihn die Augen nicht weniger schmerzten als sein Herz, aber nirgends wollte sich ein Freund blicken lassen. Wenn er dann die vom Suchen ermüdeten Gesichtsorgane seinem eigenen Herde zuwandte, so zeigte sich auch dort gar wenig, an dem sie hätten ausruhen können. Ein Maler, der zu lange eine grelle Farbe angesehen hat, stärkt die geschwächte Sehkraft dadurch, daß er das Auge auf tieferen und dunkleren Tinten ruhen läßt; aber alles, was Herrn Nicklebys Blicken begegnete, war so gar schwarz und düster, daß das gerade Gegenteil davon ihn über die Maßen erfrischt haben würde.

Als endlich nach fünf Jahren Frau Nickleby ihren Gatten mit ein paar Söhnchen beglückt hatte, fühlte der tiefgedrückte Mann die Notwendigkeit, für seine Familie zu sorgen, immer mehr und mehr, und er war bereits nach ernstlicher Erwägung zu dem Entschluß gekommen, sich am nächsten Quartale in eine Lebensversicherungsgesellschaft aufnehmen zu lassen und dann ganz zufällig von irgend einem Monument oder Turm herunterzufallen, als eines Morgens ein schwarzgesiegelter Brief mit der Nachricht anlangte, Herr Ralph Nickleby, sein Oheim, sei gestorben und habe ihm die Gesamtmasse seines kleinen Vermögens, das sich im ganzen ungefähr auf fünftausend Pfund Sterling belief, hinterlassen.

Der Selige hatte bei seinen Lebzeiten keine weitere Notiz von seinem Neffen genommen, als daß er dessen ältestem Knaben – der infolge einer verzweifelten Spekulation bei der Taufe den Namen seines Großonkels erhalten hatte – einen silbernen Löffel in einem Maroquinfutterale schickte. Da der Knabe aber nicht allzuviel damit zu essen hatte, so sah das Geschenk fast wie eine Satire darauf aus, daß das Kind nicht mit diesem nützlichen Artikel im Munde auf die Welt gekommen sei. Herr Gottfried Nickleby konnte im Anfang die ihm auf diese Weise zugekommene Nachricht kaum glauben. Bei weiterer Untersuchung stellte sich jedoch heraus, daß sich die Sache wirklich so verhalte. Der wackere, alte Herr hatte, wie es schien, beabsichtigt, das ganze seiner Habe dem Zentral-Rettungsverein zu hinterlassen, und zu diesem Ende auch schon ein Testament ausfertigen lassen. Aber dieses Institut war einige Monate vorher so unglücklich gewesen, das Leben eines armen Verwandten des Ehrenmannes zu retten, dem er wöchentlich ein Almosen von sechs Schillingen und drei Pencen auszahlte, weshalb er in höchst gerechter Entrüstung das Vermächtnis durch eine Verfügung widerrief und Herrn Gottfried Nickleby zum Universalerben einsetzte, wobei er es nicht unterlassen konnte, seinen Unwillen sowohl gegen die Gesellschaft, die das Leben des armen Verwandten rettete, als auch gegen den armen Verwandten selbst, der sich dasselbe retten ließ, auszudrücken.

Mit einem Teile dieser Erbschaft kaufte Gottfried Nickleby ein kleines Landgut unweit Dawlisy in Devonshire, wohin er sich mit seiner Gattin und zwei Kindern zurückzog, um von dem spärlichen Ertrage des Gütchens und den Zinsen des ihm noch übrigbleibenden Geldes zu leben. Das Ehepaar führte fünfzehn Jahre lang so gute Wirtschaft, daß Herr Nickleby, als er – fünf Jahre nach dem Tode seiner Gattin – starb, seinem ältesten Sohne Ralph dreitausend Pfund in barem Gelde, und dem jüngeren, Nicolaus, tausend Pfund und das Landgut zu hinterlassen imstande war, wenn man anders ein Stück Feld ein Landgut nennen kann, das mit Ausnahme des Hauses und des eingehegten Grasgartens keinen größern Umfang hatte, als der Russellplatz von Convent-Garden.

Die zwei Brüder waren miteinander in einer Schule zu Exeter erzogen worden und hatten, da sie gewöhnlich wöchentlich einmal einen Besuch in ihrer Heimat machten, von den Lippen ihrer Mutter oft lange Erzählungen von den Leiden ihres Vaters in den Tagen seiner Armut und der Wichtigkeit ihres hingeschiedenen Onkels in den Tagen seines Wohlstandes mit angehört – Erzählungen, die auf die beiden Knaben einen gar verschiedenen Eindruck hervorbrachten: denn während der jüngere, dessen Charakter schüchtern und zurückgezogen war, nur Winke darin fand, die große Welt zu meiden und sein Glück in der Ruhe des Landlebens zu suchen, schöpfte Ralph, der ältere, die zwei großen Lehren daraus, »daß Reichtum die einzige wahre Quelle von Glück und Ansehen sei«, und »daß man zu dessen Erwerb alle Mittel anwenden dürfe, wofern sie nur nicht durch das Gesetz mit der Todesstrafe bedroht wären.« »Wenn meines Onkels Geld auch keinen Nutzen brachte, solange er lebte«, folgerte Ralph weiter, »so kam es doch nach seinem Tode meinem Vater zu Frommen, der jetzt den höchst lobenswerten Vorsatz hat, es für mich aufzusparen; und was den alten Herrn anbelangt, so hatte er doch auch einen Genuß davon in dem Vergnügen, all seiner Lebtage daran zu denken und außerdem von seiner ganzen Familie beneidet und in Ehren gehalten zu werden.« Und so kam Ralph immer bei derartigen Selbstgesprächen zu dem Schluß, daß auf der ganzen Welt nichts dem Gelde gleichkäme.

Der hoffnungsvolle Knabe beschränkte sich jedoch schon in seinen frühen Jahren nicht auf die Theorie und auf bloße abstrakte Spekulationen, sondern begann bereits in der Schule im kleinen Maßstab das Gewerbe eines Wucherers, indem er kleine Kapitalien von Schieferstiften und Kugeln auf gute Zinsen auslieh und allmählich seine Betriebsamkeit bis zu der Kupfermünze, über die seine Kameraden zu verfügen hatten, ausdehnte, wobei er auf eine sehr vorteilbringende Weise spekulierte. Er bemühte übrigens seine Schuldner nicht mit umständlichen und verwickelten Berechnungen, denn seine Interessenbestimmung beruhte einfach auf der goldenen Regel: »zwei Pfennig für jeden Heller«, wodurch die Rechnung sehr erleichtert wurde – ein Grundsatz, der großen und kleinen Kapitalisten, insbesondere aber den Geldwechslern, nicht genug zur Beachtung empfohlen werden kann, da er sich leichter erlernen und im Gedächtnis behalten läßt, als jede andere arithmetische Regel. Wir müssen jedoch diesen Herren Gerechtigkeit widerfahren und ihnen die Anerkennung zuteil werden lassen, daß diese Regel unter vielen von ihnen bis auf den heutigen Tag im Schwunge ist und mit ausgezeichnetem Erfolge geübt wird.

In gleicher Weise vermied der junge Ralph Nickleby alle umständlichen und verwickelten Berechnungen einzelner Tage, mit denen man, wie jeder weiß, der schon damit zu tun hatte, selbst bei dem einfachsten Zinsfuße, seine liebe Not hat. Er stellte einfach als allgemeine Regel fest, daß Kapital nebst Interessen jedesmal an dem Taschengeldtage, das heißt am Samstage, zurückbezahlt werden, und daß der Zinsenbelauf, mochte die Schuld am Montag oder am Freitag kontrahiert worden sein, stets derselbe sein solle. Er folgerte nämlich, und nicht ohne scheinbaren Grund, daß die Interessen eigentlich für einen Tag höher stehen sollten als für fünf, da man annehmen könne, daß in dem ersteren Falle dem Borgenden aus einer gar großen Verlegenheit geholfen würde, da er sonst gewiß nicht unter solchen nachteiligen Bedingungen Geld aufnehmen würde. Dieser Umstand ist sehr bezeichnend, da er die geheime Verbindung und Sympathie ans Licht stellt, die stets zwischen großen Geistern besteht, denn die obenerwähnte Klasse von Geschäftsleuten verfährt bei allen ihren Operationen genau nach demselben Grundsatze, obgleich unser junges Herrchen das damals noch nicht wissen konnte.

Aus diesen Schilderungen und der Bewunderung, die natürlich jeder Leser dem Gesagten zufolge für den Charakter eines solchen jungen Mannes hegen muß, könnte man auf die Vermutung kommen, daß Ralph der Held des Werkes sei, das wir eben begonnen haben. Um jedoch diesen Punkt ein für allemal zu erledigen, beeilen wir uns, jeden Irrtum dadurch zu beseitigen, daß wir zu dem wirklichen Anfange übergehen.

Nach dem Tode seines Vaters widmete sich Ralph Nickleby, der kurz zuvor in einem Londoner Handlungshaus untergebracht worden war, leidenschaftlich seinem alten Hange, Geld zu erwerben, in den er sich alsbald so sehr vertiefte, daß er seinen Bruder viele Jahre ganz und gar vergaß. Wenn auch hin und wieder eine Rückerinnerung an seinen alten Spielgefährten durch den Nebel, in dem er lebte, brach – denn das Gold umhüllt den Menschen mit einem Dunste, der auf die früheren Gefühle weit zerstörender und einschläfernder wirkt als die Dämpfe der Steinkohlen – so tauchte damit zugleich auch der Gedanke auf, daß jener im Falle eines innigeren Verhältnisses vielleicht Geld von ihm würde borgen wollen; und so schüttelte Herr Ralph Nickleby die Achseln und sagte: »Es ist besser so, wie es ist.«

Was Nicolaus anbelangt, so lebte er als Junggeselle auf seinem Erbgut, bis er der Einsamkeit müde war, und nahm dann die Tochter eines Nachbars mit einer Mitgift von tausend Pfunden zum Weibe. Diese gute Frau gebar ihm zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter, und als der Sohn ungefähr neunzehn Jahre und die Tochter, soweit wir vermuten können, vierzehn Jahre zählte (denn vor dem neuen Gesetz wurden in Englands Registraturen nirgends ganz zuverlässige Angaben über das Alter junger Damen aufbewahrt), so sah sich Herr Nickleby nach Mitteln um, sein Kapital wieder zu vergrößern, da es durch den Zuwachs seiner Familie und die Kosten der Erziehung seiner Kinder sehr geschmälert worden war.

»Spekuliere damit!« meinte Frau Nickleby.

»Spe-ku-lie-ren, mein Schatz?« entgegnete Herr Nickleby mit bedenklichem Tone.

»Warum nicht?« fragte Frau Nickleby.

»Weil wir nichts mehr zu leben hätten, meine Liebe, wenn wir es verlieren sollten«, antwortete Herr Nicklebey in seinem gewohnten bedächtigen und gezogenen Ton.

»Bah!« erwiderte Frau Nickleby.

»Man kann es ja überlegen, meine Gute«, versetzte Herr Nickleby.

»Der Nicolaus ist schon ziemlich herangewachsen«, fuhr die Dame fort; »es ist Zeit, daß er sich selbst einmal zu rühren anfängt; und was soll aus unserm Käthchen, dem armen Mädchen, werden, wenn wir ihr keinen Heller mitgeben können? Denk an deinen Bruder! Würde er sein, was er ist, wenn er nicht spekuliert hätte?«

»Das ist wahr!« entgegnete Herr Nickleby. »Nun gut also, mein Schatz. So will ich mich denn aufs Spekulieren legen, meine Liebe.«

Spekulationen sind ein Glücksspiel. Die Spieler sehen im Anfang wenig oder nichts von ihren Karten. Der Gewinn kann groß sein, ebenso aber auch der Verlust. Das Glück erklärte sich gegen Herrn Nickleby. Man war damals gerade wie toll auf eine Aktienunternehmung – die Seifenblase barst; vier Aktienmakler kauften sich Landgüter in Florenz, und vierhundert arme Schlucker, unter denen sich auch Herr Nickleby befand, waren ruiniert.

»Das Haus, in dem ich wohne«, seufzte der unglückliche Spekulant, »kann mir morgen genommen werden. Kein Stückchen unserer alten Möbeln bleibt uns; alles wird an Fremde verkauft werden!«

Dieser letzte Gedanke wurde ihm so schmerzlich, daß er sich zu Bett legte, augenscheinlich fest entschlossen, wenigstens dieses in keinem Fall aufzugeben.

»Fassen Sie Mut, Sir«, sagte der Arzt.

»Sie müssen sich nicht so ganz und gar niederschlagen lassen, Sir«, sagte die Krankenwärterin.

»Solche Dinge kommen alle Tage vor«, bemerkte der Advokat.

»Und es ist eine große Sünde, sich dagegen aufzulehnen«, flüsterte der Pfarrer.

»Ein Mann, der eine Familie hat, sollte so etwas nie tun«, fügten die Nachbarn bei.

Herr Nickleby schüttelte seinen Kopf, bedeutete allen, das Zimmer zu verlassen, umarmte sein Weib und seine Kinder, drückte sie abwechselnd an das matter pochende Herz und sank erschöpft auf sein Kissen. Sie bemerkten jedoch bald zu ihrer großen Bestürzung, daß er von nun an irre zu reden begann, denn er sprach lange von der Großmut und der Güte seines Bruders und von den vergnügten Tagen, die sie miteinander auf der Schule zugebracht hätten. Als dieser Anfall vorüber war, empfahl er sich feierlich dem Einen, der nie der Witwen und Waisen vergißt, lächelte ihnen matt zu, richtete das Gesicht aufwärts und sagte, er glaube, daß er einschlummern könne.