Fünfzehntes Kapitel.

Macht den Leser mit der Veranlassung der im vorigen Kapitel beschriebenen Unterbrechung und einigen andern Dingen, die zu wissen nötig sind, bekannt.

Newman Noggs kletterte in ungestümer Hast die Stiegen hinan, den dampfenden Punsch in der Hand, den er mit so wenig Umständen von Herrn Kenwigs Tische, und in der Tat auch dem Herrn Wassersteuereinnehmer, der über den Inhalt des Glases mit sehnsüchtigem Behagen hinschnupperte, recht eigentlich vor der Nase weggenommen hatte. Er trug seine Beute geradeswegs nach seinem Dachstübchen, wo mit wunden Füßen und beinahe schuhlos, naß, schmutzig, abgemattet und durch alle Spuren einer ermüdenden Reise entstellt, Nicolaus neben Smike, dem Urheber und Teilhaber dieser mühevollen Wanderschaft, saß.

Newmans erstes Geschäft war, Nicolaus mit sanfter Gewalt zu nötigen, die Hälfte des fast kochenden Punsches auf einmal hinunterzuschlucken, und sein zweites, den Rest in Smikes Kehle zu gießen, der, da er in seinem Leben nie etwas Kräftigeres als eine abführende Arznei gekostet hatte, durch manche seltsame Gebärde seine Überraschung und Freude an den Tag legte, daß der Trank so behaglich hinunterglitt, und dann seine Augen auf eine höchst merkwürdige Weise verdrehte.

»Sie sind durch und durch naß«, sagte Newman, indem er den Rock, den Nicolaus abgelegt hatte, mit der Hand befühlte, und ich – ich kann Ihnen keine andere Bedeckung anbieten«, fügte er mit einem trübseligen Blick auf die abgeschabten Kleider, die er selbst trug, bei.

»Ich habe trockene Kleider in meinem Ränzel«, versetzte Nicolaus. »Wenn Sie aber eine so betrübte Miene zu meinem Besuch machen, so werden Sie den Schmerz, den ich bereits fühle, für eine Nacht bei Ihren spärlichen Mitteln Beistand und Obdach suchen zu müssen, nur noch erhöhen.«

Newmans betrübte Miene gewann jedoch durch Nicolaus‘ Worte keineswegs einen heiteren Ausdruck. Als ihn aber sein junger Freund herzlich bei der Hand faßte und die Versicherung abgab, daß nichts als das unbedingte Vertrauen zu der Aufrichtigkeit seines Versprechens und der in diesem an den Tag gelegten wohlwollenden Gesinnungen ihn hätte veranlassen können, Herrn Newman seine Ankunft in London auch nur wissen zu lassen, so erheiterten sich die Mienen des letzteren, und er schickte sich mit dem größten Eifer an, alle Vorkehrungen für die Bequemlichkeit seiner Gäste, wie sie ihm eben zu Gebote standen, zu treffen.

Diese waren freilich einfach genug; denn die Mittel des armen Newmans konnten mit seinen Wünschen bei weitem nicht gleichen Schritt halten. Aber trotz ihrer Geringfügigkeit ging es dabei doch nicht ohne viel Geräusch und Hin- und Herrennen ab. Da Nicolaus mit seinem spärlichen Geldvorrat so gut hausgehalten hatte, daß ihm sogar noch etwas übrig war, so stand der Tisch bald mit einem Nachtessen von Brot und Käse nebst einem Stücke kalten Rindfleisches aus einer benachbarten Garküche besetzt; und der Umstand, daß diesen Lebensmitteln eine Flasche Branntwein und ein Krug Bier zur Seite stand, entfernte wenigstens allen Grund zu Besorgnissen hinsichtlich des Hungers und des Durstes. Dies waren die Vorbereitungen, die Newman zu Gebot standen; denn die Zurüstung der Nachtlager war in der Tat bald erledigt. Dann bestand Herr Noggs ausdrücklich darauf, daß Nicolaus seine Kleider wechseln und Smike sich in seinen (Newmans) einzigen Rock hüllen solle. Denn er ließ sich durch keine Bitte abhalten, denselben zu diesem Zwecke auszuziehen. Nun nahmen die Wanderer ihr spärliches Mahl mit mehr Zufriedenheit ein, als wenigstens der eine von ihnen bei mancher besseren Tafel gefühlt hatte.

Nachdem sie sich gelabt hatten, setzten sie sich an das Feuer, das Newman Noggs so gut anschürte, wie es sich nach Crowls Angriffen auf das Brennmaterial tun ließ; und Nicolaus, der bisher durch die außerordentlich besorgten Aufforderungen seines Freundes, daß er sich nach den Anstrengungen seiner Reise kräftigen möchte, fast nicht hatte zum Wort kommen können, bedrängte diesen nun mit ernsten Fragen nach seiner Mutter und Schwester.

»Wohl«, antwortete Newman mit seiner gewohnten Kürze; »beide wohl.«

»Wohnen sie noch in der City?« fragte Nicolaus.

»Ja«, versetzte Newman.

»Und meine Schwester –« fügte Nicolaus bei, »ist sie noch immer bei dem Geschäft, von dem sie mir schrieb, sie glaube, daß es ihr gut gefallen würde?«

Newman riß seine Augen etwas weiter auf als gewöhnlich und antwortete nur durch ein Jappen, das je nach der dieses Jappen begleitenden Kopfbewegung von seinen Freunden als ja oder nein gedeutet werden konnte. In dem gegenwärtigen Falle bestand die Pantomine in einem Nicken und nicht in einem Schütteln, weshalb Nicolaus die Antwort für eine günstige nahm.

»Hören Sie mir jetzt zu«, sagte Nicolaus, indem er seine Hand auf Newmans Schulter legte.

»Ich hielt es, ehe ich den Versuch machen wollte, meine Angehörigen zu besuchen, für geeignet, zu Ihnen zu kommen, damit ich ihnen durch eine Nachsicht gegen meine eigenen selbstsüchtigen Wünsche keinen Schaden zufüge, der sich vielleicht nicht wieder ausgleichen ließe. Was hat mein Onkel von Yorkshire gehört?«

Newman öffnete und schloß seinen Mund mehrere Male, als versuche er, mit aller Anstrengung zu sprechen, ohne jedoch etwas hervorbringen zu können, und heftete endlich seine Augen in gespensterhaftem Starren auf Nicolaus.

»Was hat er gehört?« drängte Nicolaus erglühend. »Sie sehen, daß ich vorbereitet bin, das Schlimmste zu hören, was die Bosheit aushecken konnte. Wozu eine Schonung gegen mich, da ich es früher oder später doch erfahren muß? Und was können Sie mit der Zögerung einiger Minuten gewinnen, da Sie mich in der Hälfte dieser Zeit von allen Vorgängen in Kenntnis setzen können? Ich bitte, endigen Sie meine Ungewißheit.«

»Morgen früh«, sagte Newman; »morgen früh sollen Sie alles erfahren.«

»Aber warum erst morgen – warum nicht gleich jetzt?« drängte Nicolaus.

»Sie werden besser schlafen«, versetzte Newman.

»Nein, ich werde um so schlechter schlafen«, entgegnete Nicolaus ungeduldig. »Schlafen! So erschöpft wie ich bin und so sehr ich einer gründlichen Ruhe bedarf, so kann ich doch nicht hoffen, die ganze Nacht über auch nur ein Auge zu schließen, wenn Sie mir nicht alles sagen.«

»Und wenn ich Ihnen alles sage?« erwiderte Newman stockend.

»Je nun«, sagte Nicolaus, »ich komme dann vielleicht etwas in Wallung oder mein Stolz wird verletzt – in keinem Falle aber wird meine Ruhe für länger getrübt; denn stünde mir eine solche Szene abermals bevor, so würde ich doch um kein Haar anders handeln, was auch für Folgen daraus entspringen möchten. Auch werde ich nie bereuen, was ich tat – nie; und wenn ich deshalb auch betteln oder Hungers sterben müßte. Was ist Armut und Leiden gegen die Schmach der niederträchtigsten und unmenschlichsten Feigheit! Ich sage Ihnen, wenn ich gelassen und untätig hätte dabeistehen können, so hätte ich mich selbst hassen müssen und die Verachtung eines jeden ehrlichen Mannes verdient. Der niederträchtige Schurke!«

Mit dieser zarten Anspielung auf den abwesenden Herrn Squeers drückte Nicolaus seinen steigenden Zorn nieder, und nachdem er Newman die Vorgänge in Dotheboys Hall umständlich mitgeteilt hatte, bat er diesen zu sprechen, ohne sich weiter nötigen zu lassen. So beschworen, nahm Herr Noggs aus einer alten Truhe ein Blatt Papier, das in großer Eile überkritzelt zu sein schien, und machte sich dann nach einigen ungewöhnlichen Andeutungen seines Widerstrebens in folgenden Worten Luft:

»Mein lieber junger Herr, man darf sich nicht so gehen lassen; bekanntlich tun derartige Sachen nie gut, und man kommt nicht fort in der Welt, wenn man sich eines jeden Mißhandelten annehmen will – aber – nein, zum Henker, ich freue mich, das von Ihnen zu hören, und ich würde selbst nicht anders gehandelt haben.«

Newman begleitete diesen höchst ungewöhnlichen Ausbruch mit einem gewaltigen Schlag auf den Tisch, als ob er in der Hitze des Augenblicks diesen für den Rücken oder für die Rippen des Herrn Wackford Squeers gehalten hätte; und da er sich durch diese offene Entfaltung seiner eigenen Gefühle jede Einwirkung durch weltkluge Belehrungen, die er anfangs anzubringen gedachte, abgeschnitten hatte, so zögerte er nicht weiter.

»Vorgestern«, sagte Newman, »erhielt Ihr Onkel diesen Brief. Ich habe in der Geschwindigkeit, als er nicht zu Hause war, eine Abschrift davon genommen. Soll ich ihn vorlesen?«

»Wenn’s Ihnen gefällig ist«, versetzte Nicolaus«.

Newman Noggs las demgemäß folgendes:

»Dotheboys Hall, Donnerstag morgens.

Sir!

Mein Bapa trägt mir auf, Ihnen zu schreiben. Die Ärzte halten es für zweifelhaft, ob er je wieder zum Gebrauch seiner Beine kommen wird, was ihn verhendert, die Feeder zu halden.

Wir send in einem Selenzustande, der außer aller Beschreibung ist und mein Bapa ist im gansen Leibe nur eine Beile, bald blau bald grön; auch sind zwei Benke mit seinem Blute beflegt. Wir sahen uns genetigt, ihn in die Kiche hinunter zu bringen, woer jetzt ligt. Sie werden hieraus selber urteilen, daß er sehr heruntergekommen ist.

Nachdem Ihr Newö, den Sie als einen Leerer recommandirten, meinem Bapa dieß angedan und mit baren Füsen auf seinem Leib herumgesprungen hate und auch schempfte mit was ich die Beschreibung meiner Feder nicht beschmutzen mag, so grif er Mama auf eine firchderliche Weise an, schleuderte sie zu Boden und schlug ihr den Kam einige Zol tief in den Kopf, ein klein wenig weider und es were in den Schedel gegangen. Wir haben ein medizinisches Zerdifikat, das, wenn dieß geschehen wäre, der Schildkrot das Hirn verletzt haben würde.

Dann wurde ich und mein Bruder die Opfer seiner Wut und wir haben seitdem ser viele schmerzen ausgestanden, was uns zu der peinlichen Vermutung leitet, daß wir irgendwo innerlich Schaden genommen haben, besonders da euserlich keine Spuren der Gewaldsamkeit sichtbar sind.

Ich muß die ganse Zeit über, das ich schreibe, immer laud aufschreien, und so auch mein Bruder, was meine Aufmergsamkeit zerstreut und ich hoffe, meine schlechte Schrift entschultigen wirt.

Als das Ungeheuer seinen Blutdurst gesettigt hatte, ging er durch und nam einen Menschen von gans geferlichen Karakter, den er zu einem Röböller verleidet hatte, wie auch einen der Mama gehörenten Granatring mit und da ihn die Konstabel nicht einfangen konnten, so glauben wir daß er auf einem Eilwagen fortgefahren ist. Bapa bittet, man möchte den Ring, wen er zu inen kommt, wieder zurügschicken und daß sie den Dieb und Maichelmörder laufen lassen, da er, wenn man ihn vor Gericht stellte, nur debortiert würde und er, wenn man ihn laufen läßt, über kurz oder lang, gehengt wird, was uns die Mihe erspart und zu viel greserer Freude gereichen muß. In der Hofnung, etwas zu heren, wen es ihnen anstet, verbleibe ich

ihre
etzetera
Fanny Squers.

P.S.

ich bemitleite seine Unwissentheit und verachde ihn.«

Während des dem Vortrage dieser auserlesenen Epistel folgenden Schweigens blickte Newman Noggs, als er seine Abschrift wieder zusammengefaltet hatte, mit einer Art komischen Mitleids auf den Menschen von gefährlichem Charakter, von dem der Brief sprach, während dieser, ohne einen deutlicheren Begriff von der Sache zu haben, als daß er der unglückliche Anlaß der Menge von Verdrießlichkeiten und Lügen wäre, die Nicolaus umgarnten, stumm und niedergeschlagen mit dem Ausdrucke des peinlichsten Kummers dasaß.

»Herr Noggs«, sagte Nicolaus nach einem kurzen Besinnnen, »ich muß geschwind fort.«

»Fort?« rief Newman.

»Ja«, versetzte Nicolaus, »nach Golden Square. Niemand, wer mich kennt, wird diese Geschichte von dem Ringe glauben. Aber es kann dem Zweck des Herrn Ralph Nickleby entsprechen oder vielleicht seinem Hasse dienen, wenn er tut, als schenke er ihr Glauben. Ich bin es – nicht ihm – sondern mir selbst schuldig, daß die Wahrheit ans Licht kommt, und außerdem habe ich noch ein paar Worte mit ihm zu sprechen, die nicht verschoben werden dürfen.«

»Sie müssen verschoben werden«, entgegnete Newman.

»In keinem Falle«, erwiderte Nicolaus mit Festigkeit und schickte sich an, das Haus zu verlassen.

»So hören Sie mich doch«, sagte Newman, indem er seinem ungestümen jungen Freunde den Weg vertrat. »Er ist nicht zu Hause. Er ist über Land und wird vor drei Tagen nicht zurückkommen. Auch weiß ich gewiß, daß das Schreiben erst beantwortet wird, wenn er wieder hier ist.«

»Sind Sie dessen auch ganz gewiß?« fragte Nicolaus, indem er glühend vor Entrüstung mit raschen Schritten in dem engen Gemach auf und ab ging.

»Ganz gewiß«, antwortete Newman. »Er hatte den Wisch kaum gelesen, als er abgerufen wurde. Sein Inhalt ist niemandem als ihm und uns bekannt.«

»Kann ich mich darauf verlassen?« fragte Nicolaus hastig; »nicht einmal meiner Mutter oder Schwester? Wenn ich denken könnte, daß sie – ich will hingehen – ich muß sie sehen. Welchen Weg habe ich einzuschlagen? Wo wohnen sie?«

»Aber so nehmen Sie doch Rat an«, sagte Newman, der in diesem ernsten Augenblick wie ein anderer Mensch sprach: »unterlassen Sie Ihren Besuch, bis er nach Hause kommt. Ich kenne den Mann. Es darf nicht den Anschein haben, als ob Sie jemanden für sich zu gewinnen gesucht hätten. Wenn er wieder hier ist, so treten Sie vor ihn hin und sprechen Sie so kühn, wie es Ihnen beliebt. Verlassen Sie sich darauf, er durchschaut die Wahrheit so gut wie Sie oder ich.«

»Sie meinen es gut mit mir und müssen ihn natürlich besser kennen als ich«, versetzte Nicolaus nach einer Pause des Nachsinnens.

»Nun, meinetwegen!«

Newman, der sich während dieser Verhandlung mit dem Rücken gegen die Tür gepflanzt hatte, um nötigenfalls seinen Gast mit Gewalt abzuhalten, das Zimmer zu verlassen, nahm nun sehr zufrieden seinen Platz wieder ein; und da das Wasser im Kessel inzwischen zum Kochen gekommen war, mischte er ein Glas Grog für Nicolaus und einen Krug voll für sich selbst und Smike, von dem diese beiden in großer Eintracht Gebrauch machten, während Nicolaus, den Kopf auf die Hand gestützt, in trübem Sinnen versunken blieb.

Die Gesellschaft in der ersten Etage hatte sich, als man nach einem aufmerksamen Horchen kein Geräusch vernahm, was eine Einmischung im Interesse der Befriedigung ihrer Neugierde hätte rechtfertigen können, wieder in das Zimmer der Kenwigse zurückgezogen und beschäftigte sich nun mit einer Menge von Vermutungen hinsichtlich der Ursache von Herrn Noggs‘ plötzlichem Verschwinden und Ausbleiben.

»Lieber Himmel, wenn etwa gar ein Eilbote mit der Kunde angekommen wäre, daß er wieder Herr seines früheren Vermögens sei?« meinte Frau Kenwigs.

»Bei Gott, es wäre nicht unmöglich«, sagte Herr Kenwigs. »Wir würden für diesen Fall vielleicht gut tun, wenn wir hinaufschickten und fragen ließen, ob ihm nicht noch etwas Punsch beliebe.«

»Kenwigs«, sagte Herr Lillyvick mit lauter Stimme, »Sie setzen mich in Erstaunen.«

»Wieso, Sir?« fragte Herr Kenwigs mit der gebührenden Ergebenheit gegen den Einnehmer der Wassersteuer.

»Weil Sie eine solche Bemerkung machen«, versetzte Herr Lillyvick unmutig, »Er hat bereits Punsch gehabt – oder etwa nicht, Sir? Ich betrachte die Art, wie er den Punsch – um mich eines geeigneten Ausdrucks zu bedienen – geraubt hat, als höchst unehrerbietig gegen diese Gesellschaft und als skandalös, – ja als vollkommen skandalös. Es mag vielleicht Sitte in diesem Hause sein, sich derartige Dinge gefallen zu lassen, aber ich bin nicht gewöhnt, daß man sich in meiner Gegenwart so benimmt, und ich nehme daher keinen Anstand, es Ihnen zu sagen, Kenwigs. Ein Mann von Erziehung hat ein Glas Punsch vor sich, das er eben an die Lippen setzen will; da kommt ein anderer daher, nimmt das Glas Punsch ohne ein ›Mit Erlaubnis‹ oder ein ›Verzeihen Sie‹ weg und geht mit dem Glas Punsch davon. Das mögen allerdings schöne Manieren sein, und ich will es auch nicht im mindesten bezweifeln; aber ich für meine Person verstehe sie nicht, und was noch mehr ist, ich will sie auch nicht verstehen lernen. Es ist meine Art und Weise zu sprechen, wie mir’s ums Herz ist, Kenwigs, und wenn Ihnen meine Meinung nicht behagt, so ist meine gewohnte Schlafengehenszeit schon vorüber, und ich kann mich nach Hause finden, ohne daß ich’s noch später werden lasse.«

Jetzt war Not im Hause. Der Steuereinnehmer, der im Gefühl seiner beleidigten Würde einige Minuten in stummem

Zürnen dagesessen hatte, war nun losgebrochen. Der große Mann – der reiche Verwandte – der unverheiratete Onkel, der es in seiner Macht hatte, Morlina zu einer reichen Erbin zu machen und sogar das Wiegenkenwigslein mit einem schönen Legate zu bedenken – dieser Mann war beleidigt. Ihr himmlischen Mächte, wie konnte dies enden!

»Es tut mir sehr leid, Sir«, sagte Herr Kenwigs demütig.

»Reden Sie mir nicht von Ihrem Leidwesen«, versetzte Herr Lillyvick unmutig; »Sie hätten es verhindern sollen.«

Die Gesellschaft war durch diesen häuslichen Blitzstrahl förmlich gelähmt. Die Dame aus dem Parterrehinterstübchen saß mit weit offnem Munde da und schaute mit stummem Entsetzen den Steuereinnehmer an, während die übrigen Gäste durch den Zorn des großen Mannes kaum weniger verblüfft waren. Herr Kenwigs, der in derartigen Angelegenheiten keinen besonders feinen Takt besaß, fachte die Flamme noch mehr an, indem er sie auszulöschen suchte.

»Gewiß, Sir, ich habe nicht daran gedacht«, sagte Herr Kenwigs. »Ich konnte mir überhaupt auch gar nicht denken, daß eine solche Kleinigkeit, wie ein Glas Punsch, Sie mißlaunig machen könnte.«

»Mißlaunig? Was zum Teufel bezwecken Sie mit dieser neuen Unfreundlichkeit, Herr Kenwigs?« entgegnete der Steuereinnehmer. »Morlina, Kind, – gib mir meinen Hut!«

»Ach, Sie werden uns Loch nicht schon verlassen, Herr Lillyvick?« vermittelte Fräulein Petowker mit ihrem bezauberndsten Lächeln.

Aber Herr Lillyvick rief, ohne sich durch die Sirene beschwatzen zu lassen, fortwährend »Morlina, meinen Hut«, bis endlich bei der vierten Wiederholung dieser Aufforderung Frau Kenwigs mit einem Schrei, der sogar ein Wasserfaß, geschweige denn einen Wassersteuereinnchmer hätte erweichen können, in ihren Stuhl zurücksank, während die vier kleinen Mädchen, die im geheimen darauf abgerichtet worden waren, die Beinkleider ihres Großonkels mit ihren Armen umschlangen und ihn in ihrem gebrochenen Plappern zu bleiben baten.

»Warum soll ich hier bleiben, meine Lieben?« fragte Herr Lillyvick. »Man braucht mich hier nicht.«

»Ach, sprechen Sie nicht so grausam, Onkel«, schluchzte Frau Kenwigs, »wenn Sie mich nicht töten wollen.«

»Es sollte mich nicht wundernehmen, wenn mir gewisse Leute etwas der Art nachsagten«, versetzte Herr Lillyvick mit einem aufgebrachten Blicke nach Kenwigs. »Man höre doch, – mißlaunig!«

»Ach, ich kann es nicht ertragen, daß Sie solche Blicke nach meinem Manne schleudern«, rief Frau Kenwig«. »Es ist etwas Schreckliches, wenn derartige Auftritte in Familien vorkommen. Ach!«

»Herr Lillyvick«, sagte Kenwigs, »ich hoffe, um Ihrer Nichte willen, daß Sie nicht unversöhnlich sein werden.«

Die Züge des Steuereinnehmers wurden milder, als die ganze Gesellschaft ihre Bitten mit denen des Mannes seiner Nichte vereinigte. Er legte den Hut ab und streckte die Hand aus.

»Da, Kenwigs«, sagte Herr Lillyvick, »und damit Sie sehen, wie mißlaunig ich war, will ich Ihnen nur sagen, daß ich, wenn ich auch ohne ein weiteres Wort weggegangen wäre, hinsichtlich meiner Verfügung über die paar Pfunde, die ich nach meinem Tode Ihren Kindern hinterlassen werde, keine Änderung hätte eintreten lassen.«

»Morlina!« rief Madame Kenwigs in der höchsten Rührung, »falle vor dem lieben Onkel auf die Knie nieder und bitte ihn, daß er dich sein ganzes Leben über liebhaben möge; denn er ist mehr ein Engel als ein Mensch, wie ich immer gesagt habe.«

Morlina trat näher, um den ihr anbefohlenen Huldigungsakt zu vollziehen, wurde aber ohne Umstände von Herrn Lillyvick auf den Arm genommen und geküßt, worauf Frau Kenwigs herbeistürzte und den Steuereinnehmer küßte, während ein ununterdrückbares Beifallsgemurmel seitens der übrigen Gesellschaft, die Zeuge dieser Großmutsszene war, laut wurde.

Der Ehrenmann wurde abermals das Leben und die Seele der Gesellschaft und nahm seine alte Stelle als Löwe wieder ein, von der er durch die vorübergehende allgemeine Gedankenverwirrung für einen Augenblick heruntergesunken war. Vierfüßige Löwen sind, wie es heißt, nur wild, wenn sie hungrig sind, was auch bei den zweibeinigen zutrifft, da sie selten länger schmollen, wenn einmal ihr Appetit nach Auszeichnung beschwichtigt ist. Herr Lillyvick stand höher als je; denn er hatte seine Macht gezeigt, einen Wink hinsichtlich seines Vermögens und seiner testamentarischen Verfügungen fallen lassen, große Achtung wegen seiner Uneigennützigkeit und Tugend gewonnen und nebst all diesem zuletzt noch ein weit größeres Glas Punsch erhalten, als das gewesen war, mit dem Newman Noggs auf eine so unverantwortliche Weise davongegangen war.

»Ich muß noch einmal um Verzeihung für meine Zudringlichkeit bitten«, sagte Crowl, als er nach dieser glücklichen Wendung abermals durch die Tür hereinsah »aber das ist eine seltsame Geschichte – nicht wahr? Noggs wohnt nun schon fünf Jahre in diesem Hause, und die ältesten Mietsleute können sich nicht erinnern, je Besuch bei ihm gesehen zu haben.«

»Gewiß ist es etwas höchst Seltsames, wenn man so in der Nacht abgerufen wird«, entgegnete der Wassersteuereinnehmer; »und das Benehmen des Herrn Noggs ist, im mildesten Lichte betrachtet, wenigstens sehr geheimnisvoll.«

»Sie haben recht«, versetzte Crowl, »und ich will Ihnen noch mehr sagen, ich glaube, diese zwei Kraftgenies, wer sie auch sein mögen, sind irgendwo entlaufen.« »Was bringt Sie auf diesen Gedanken?« fragte der Steuereinnehmer, der durch eine stillschweigende Übereinkunft zum Wortführer der Gesellschaft erwählt zu sein schien. »Ich hoffe, Sie haben keinen Grund für die Annahme, daß sie irgendwo entlaufen sind, ohne ihre Steuern und Taxen zu bezahlen?«

Herr Crowl rümpfte die Nase und war eben im Begriff, gegen die Bezahlung von Steuern und Taxen im allgemeinen und unter allen Umständen zu protestieren, als er noch zeitig genug von seiten Herrn Kenwigs durch ein Flüstern und von seiten der Madame Kenwigs durch verschiedene Winke und Gesichtsverzerrungen vor einem so gewagten Schritte gewarnt wurde.

»Je nun«, sagte Crowl, der an Newmans Tür mit der größten Aufmerksamkeit gehorcht hatte; »sie sprachen so laut miteinander, daß sie mich fast aus meinem Zimmer vertrieben, und so mußte ich wohl hier und da ein Wort auffangen; aber alles, was ich daraus entnehmen kann, scheint darauf hinzudeuten, daß sie an dem einen oder dem andern Orte entlaufen sind. Ich möchte Frau Kenwigs nicht beunruhigen und hoffe daher, daß sie nicht aus irgendeinem Gefängnisse oder Hospitale kommen und vielleicht ein Fieber oder eine andere derartige Unannehmlichkeit mit sich bringen, wodurch die Kinder angesteckt werden könnten.«

Frau Kenwigs wurde durch diese Vermutung so überwältigt, daß es der ganzen zärtlichen Aufmerksamkeit der Fräulein Petowker vom Königl. Drury-Lane-Theater bedurfte, um sie nur einigermaßen wieder zu beruhigen; der Emsigkeit des Herrn Kenwigs gar nicht zu gedenken, der ein ziemlich umfangreiches Riechfläschchen so lange an die Nase seiner Gattin hielt, bis es zweifelhaft wurde, ob die Tränen, die ihr über die Wangen rollten, Wirkungen ihrer Gefühle oder das Resultat des Salmiakgeistes waren.

Die Damen, die anfangs ihr Mitgefühl einzeln ausgesprochen hatten, brachen nunmehr in einen kleinen Chor von beschwichtigenden Phrasen aus, unter denen die Redensarten: »die gute arme Frau!« – »an ihrer Stelle würde ich das nämliche fühlen« – »gewiß, eine schwere Prüfung« – und »niemand als eine Mutter weiß, was ein Mutterherz fühlt«, –die hervorstechendsten waren und am häufigsten wiederholt wurden. Kurz, die Gesellschaft sprach ihre Ansicht so unverhohlen aus, daß Herr Kenwigs im Begriffe war, sich nach Herrn Noggs‘ Zimmer zu begeben und eine Erklärung zu fordern. Er hatte auch in der Tat zu besserer Kräftigung und Befestigung seines Vorsatzes bereits ein muteinflößendes Glas Punsch zu sich genommen, als die Aufmerksamkeit aller Anwesenden durch eine neue schreckliche Überraschung in Anspruch genommen wurde.

Diese bestand in nichts Geringerem als in einem schrillen und durchbohrenden Geschrei, das von einem obern Stocke und allem Anschein nach von dem Dachhinterstübchen herkam, wo der junge Herr Kenwigs in seiner Wiege lag. Der Lärm hatte kaum angefangen, als Frau Kenwigs sogleich auf die Ahnung verfiel, eine fremde Katze habe sich hineingeschlichen und dem Kleinen, während das Dienstmädchen schlief, das Blut ausgesogen, weshalb sie auch nach der Tür stürzte, die Hände rang und zur großen Bestürzung und Verwirrung der Gesellschaft in die entsetzlichsten Angstrufe ausbrach.

»Kenwigs, sehen Sie nach, was es ist – eilen Sie!« rief die Schwester der Festgeberin, indem sie Madame Kenwigs mit Gewalt zurückhielt. »Ach, meine Liebe, zapple doch nicht so schrecklich, sonst kann ich dich nicht mehr halten.«

»Mein Kind! mein liebes – liebes – liebes – liebes Kind«, kreischte Frau Kenwigs, indem sie jedes folgende »liebes« lauter als das vorhergehende betonte. »Mein Ein und mein Alles, mein liebes, unschuldiges Lillyvickchen! O laßt mich zu ihm, laßt mich ge-he-he-hen!«

Unter diesem tollen Gekreisch und dem Weinen und Wehklagen der vier kleinen Mädchen eilte Herr Kenwigs die Stiegen hinauf nach dem Zimmer, von wo aus die Töne, die den Anlaß zu dieser Verwirrung gegeben hatten, herkamen. An der Tür begegnete er aber Nicolaus, der, das Kind auf seinen Armen, mit einem solchen Ungestüm herausstürztc, daß der ängstliche Vater sechs Stufen hinuntergeworfen wurde und gegen das nächste Geländer flog, ehe er noch Zeit gehabt hatte, den Mund zu der Frage, was es gäbe, zu öffnen.

»Seien Sie unbesorgt«, rief Nicolaus hinuntereilend! »hier ist es! Es ist alles vorbei – es ist alles vorüber! Ich bitte, fassen Sie sich; es ist kein Unglück geschehen.«

Mit diesen und tausend anderen Versicherungen überlieferte er das Kind, das er in der Eile mit nach unten gekehrtem Kopf fortgeschleppt hatte, der Frau Kenwigs und stürmte wieder hinaus, um Herrn Kenwigs beizustehen, der sich von seinem Fall noch nicht ganz erholt hatte und mit verwirrten Blicken sich den Kopf zerrieb.

Durch diese frohe Botschaft beruhigt, erholten sich die Anwesenden nach und nach wieder von ihrer Furcht, die sich bei einigen Gliedern der Gesellschaft zu einem gänzlichen Mangel der Geistesgegenwart gesteigert hatte. So hielt z. B. der unverheiratete Freund statt der Madame Kenwigs lange Zeit Madame Kenwigs‘ Schwester in seinen Armen; und den würdigen Herr Lillyvick sah man in der Verwirrung seiner Lebensgeister hinter der Zimmertür mehrere Male Fräulein Petowker so ruhig küssen, als ob ganz und gar nichts Ungewöhnliches vorginge.

»Die Sache ist durchaus von keiner Bedeutung«, sagte Nicolaus, als er zu Frau Kenwigs zurückkehrte. »Das kleine Mädchen, das das Kind hütete, ist – vermutlich aus Ermüdung – eingeschlafen und hat sich das Haar angezündet.«

»O du boshafte kleine Kreatur!« schrie Frau Kenwigs, indem sie ausdrucksvoll ihren Zeigefinger gegen die arme Unglückliche schüttelte, die etwa dreizehn Jahre alt sein mochte und mit versengten Haaren und an allen Gliedern zitternd dastand.

»Ich habe sie schreien hören«, fuhr Nicolaus fort, »und kam noch zeitig genug dazu, um zu verhindern, daß das Feuer nicht weiter um sich griff. Sie können sich darauf verlassen, daß das Kind unversehrt ist, denn ich nahm es selbst aus dem Bett und brachte es her, um Sie zu überzeugen.«

Nach dieser kurzen Auseinandersetzung wurde der Kleine, der, da er nach dem Steuereinnehmer getauft war, sich der Namen Lillyvick Kenwigs erfreute, von den Liebkosungen der Anwesenden fast erstickt und von der Mutter so lange an die Brust gedrückt, bis er abermals zu schreien begann. Die Aufmerksamkeit der Gesellschaft wurde nun vermöge eines ganz natürlichen Übergangs auf das kleine Mädchen gerichtet, das die Kühnheit gehabt hatte, sich das Haar zu verbrennen, und das nach verschiedenen kleinen Püffen von den aufgeregteren Damen in Gnaden nach Hause geschickt wurde; die neun Pence, die ihr als Lohn verheißen waren, fielen begreiflicherweise der Familie Kenwigs anheim.

»Aber wir wissen ja gar nicht, was wir zu Ihnen sagen sollen, Sir«, rief Frau Kenwigs, die sich endlich an den Überbringer des jungen Lillyvick wandte.

»Sie brauchen gar nichts zu mir zu sagen«, versetzte Nicolaus, »denn gewiß, ich habe nichts getan, wodurch ich einen besonderen Aufwand Ihrer Beredsamkeit verdient hätte.«

»Der Kleine hätte verbrennen können, wenn Sie nicht gewesen wären«, bemerkte Fräulein Petowker geziert.

»Ich halte dies nicht für sehr wahrscheinlich«, entgegnete Nicolaus, »denn es hätte von hier unten aus nicht an Beistand fehlen können, der das Kind erreicht haben würde, ehe es wirklich in Gefahr gekommen wäre.«

»Sie erlauben uns aber doch, auf Ihre Gesundheit zu trinken, Sir«, fragte Herr Kenwigs, sich dem Tische nähernd.

»In meiner Abwesenheit allerdings«, versetzte Nicolaus lächelnd. »Ich habe eine sehr ermüdende Reise gemacht und würde schlecht in eine Gesellschaft passen, da ich selbst im Falle, daß ich wach bliebe, was ich übrigens für sehr zweifelhaft halte, eher Ihre Heiterkeit stören als fördern würde. Sie werden mir daher erlauben, zu meinem Freunde, Herrn Noggs, zurückzukehren, der sich, als er sah, daß nichts Ernstliches vorgefallen, wieder nach seinem Zimmer verfügte. Gute Nacht!«

So der Teilnahme an den Festlichkeiten ausweichend, verabschiedete sich Nicolaus von Frau Kenwigs und den übrigen Damen in einer sehr gewinnenden Weise und entfernte sich, einen nicht unbedeutenden Eindruck bei der Gesellschaft zurücklassend.

»Welch ein herrlicher junger Mann!« rief Frau Kenwigs.

»Er hat ganz das Äußere eines Mannes von Stande«, sagte Herr Kenwigs. »Meinen Sie nicht auch so, Herr Lillyvick?«

»Ja«, meinte der Steuereinnehmer mit einem bedenklichen Achselzucken; »das Äußere – das Äußere.«

»Ich hoffe. Sie finden nichts an ihm auszusetzen, Onkel?« fragte Frau Kenwigs.

»Nicht doch, meine Liebe«, entgegnete der Steuereinnehmer, »nicht doch. Ich hoffe, er wird seinem Äußeren Ehre machen. – Nun – hat nichts zu sagen. Dir, Nichte, meine Liebe, und langes Leben dem Kinde!«

»Das Ihren Namen trägt«, fügte Flau Kenwigs mit einem süßen Lächeln bei.

»Und, wie ich hoffe, ihn mit Ehren tragen wird«, bemerkte Herr Kenwigs in der Absicht, den Steuereinnehmer wieder ganz zu versöhnen. »Ich bin überzeugt, der Kleine wird seinem Paten nie eine Schande machen und in späteren Jahren als ein Stück der Lillyvicks betrachtet werden, deren Namen er trägt. Ich darf wohl sagen – und meine Frau ist der gleichen Meinung, da sie es ebenso lebhaft wie ich empfindet –, daß ich es für eine der größten Segnungen und Ehren meines Lebens ansehe, ihn mit dem Namen Lillyvick nennen zu können.«

»Für die größte Segnung, Kenwigs«, flüsterte Madame.

»Ja, für die größte Segnung«, verbesserte sich Herr Kenwigs – »eine Segnung, die ich, wie ich hoffe, dermaleinst zu verdienen imstande sein werde.«

Das war ein Meisterstreich der Kenwigsschen Politik, da er Herrn Lillyvick zur Hauptquelle der Bedeutsamkeit des Kleinen machte. Der gute Herr fühlte die Zartheit und Feinheit dieser Anspielungen und brachte auf einmal die Gesundheit des unbekannten Herrn in Vorschlag, der in dieser Nacht so viele Raschheit und Besonnenheit gezeigt hatte.

»Der, wie ich mich zu sagen nicht geniere –« fuhr Herr Lillyvick, der damit gewiß nicht wenig einräumte, fort – »ein recht anständig aussehender junger Mann ist und sich so gut zu benehmen weiß, daß ich hoffe, sein Charakter werde damit im Einklang stehen.«

»In der Tat, ein recht hübsches Gesicht und ganz seine Manieren«, sagte Frau Kenwigs.

»Niemand kann ihm das streitig machen«, fügte Fräulein Petowker bei: »er hat etwas in seinem Äußeren, etwas ganz – ach du mein Himmel, wie heißt nur das Wort?«

»Was für ein Wort?« fragte Herr Lillyvick.

»Ach Gott, wie ich doch so dumm bin«, entgegnete Fräulein Petowker zögernd. »Wie nennt man es doch, wenn die Herren von Adel Klingeln abreißen, anderer Leute Geld verspielen, und was dergleichen mehr ist?«

»Aristokratisch?« meinte der Steuereinnehmer.

»Richtig, aristokratisch«, erwiderte Fräulein Petowker. »Er hat etwas ungemein Aristokratisches an sich. Ist’s nicht so?«

Die Herren blieben ruhig und lächelten sich gegenseitig zu, als wollten sie sagen, das wäre Geschmackssache: die Damen aber erklärten einstimmig, daß Nicolaus ein ganz aristokratisches Äußere hätte, und da sich’s niemand angelegen sein ließ, den Satz zu bestreiten, so wurde er auch als unbestreitbar angenommen.

Der Punsch war mittlerweile auf die Neige gegangen, und die kleinen Kenwigse, die schon seit einiger Zeit ihre kleinen Augen mit ihren kleinen Zeigefingern hatten offen halten müssen, wurden widerspenstig und verlangten dringend nach dem Bett. Der Steuereinnehmer gab das Zeichen zum Aufbruch, indem er seine Uhr herauszog und der Gesellschaft ankündete, daß es bald zwei Uhr sei, wodurch einige Gäste überrascht und andere erschreckt wurden. Man suchte die Herren- und Damenhüte unter den Tischen hervor, und als diese nach und nach aufgefunden waren, entfernten sich ihre Eigentümer nach vielen Händedrücken und oft wiederholten Beteuerungen, daß sie noch nie einen so köstlichen Abend erlebt hätten, daß sie sich wundern müßten, daß es schon so spät wäre, da sie gemeint hätten, es könne höchstens halb elf Uhr sein, daß sie wünschten, Herr und Frau Kenwigs möchten jede Woche einen solchen Tag feiern, daß sie nicht begreifen könnten, wie es Frau Kenwigs nur ermöglicht hätte, alles so hübsch anzuordnen – und was dergleichen Phrasen mehr sind.

Herr und Madame Kenwigs beantworteten alle diese schmeichelhaften Komplimente damit, daß sie jeder Dame und jedem Herrn der Reihe nach für das Vergnügen ihrer Gesellschaft dankten und den Wunsch aussprachen, sie möchten sich nur halb so gut unterhalten haben, wie dieses bei ihnen selbst der Fall gewesen wäre.

Was unsern Nicolaus anbelangt, so war er – des Eindrucks, den er hervorgebracht hatte, ganz unbewußt – schon längst in Schlaf verfallen, indem er es Herrn Newman Noggs und Smike überließ, gemeinschaftlich die Branntweinflasche zu leeren. Sie verrichteten auch dieses Geschäft so außerordentlich bereitwillig, daß Newman endlich ebensowenig zu unterscheiden wußte, ob er selbst vollkommen nüchtern wäre, oder, ob er je einen Menschcn so schwer und vollkommen betrunken gesehen hätte, wie seinen neuen Bekannten.