Fünfundzwanzigstes Kapitel.


Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Handelt von einer jungen Dame aus London, die sich der Gesellschaft anschließt, und einem ältlichen Bewunderer derselben, der ihrem Schlepptau folgt; nebst einer rührenden Zeremonie, die nach ihrer Ankunft stattfindet.

Da das neue Stück entschieden Furore gemacht hatte, so sollte es bis auf weitere Ankündigung jeden Vorstellungsabend gegeben werden. Auch wurden die Abende, an denen das Theater geschlossen blieb, von drei auf zwei in der Woche herabgesetzt. Dies waren jedoch nicht die einzigen Beweise des außerordentlichen Glücks, das das Stück gemacht hatte, denn an dem nächsten Sonnabend war die unermüdliche Madame Grudden so gefällig, Nicolaus nicht weniger als dreißig Schillinge einzuhändigen; und außer dieser materiellen Belohnung erfreute er sich auch sonst noch hoher Ehren und Auszeichnungen, indem ihm z. B. Herr Curdle einen Abdruck seiner Abhandlung über den »seligen Mann« nebst einer eigenhändigen Widmung auf dem Deckblatt – an sich schon ein unbezahlbarer Schatz – nebst einem Schreiben zuschickte, das große Lobeserhebungen und die unverlangte Versicherung enthielt, Herr Curdle würde sich glücklich schätzen, ihm während seines Aufenthalts in der Stadt jeden Morgen vor dem Frühstück drei Stunden lang den Shakespeare vorzulesen.

»Ich habe wieder was Neues, Johnson«, sagte Herr Crummles eines Morgens mit vor Freude leuchtenden Augen.

»Und das wäre?« versetzte Nicolaus. »Vielleicht den Pony?«

»Nein, nein, wir kommen erst an den Pony, wenn alles andere fehlschlägt«, sagte Crummles. »Überhaupt glaube ich nicht, daß wir in dieser Saison den Pony brauchen werden. Nein, nein, der Pony ist’s nicht.«

»Haben Sie vielleicht ein Wunderkind in Knabengestalt aufgefunden?« riet Nicolaus.

»Es gibt nur ein Wunderkind, Sir, und das ist ein Mädchen«, entgegnete der Direktor mit Nachdruck.

»Sehr wahr«, erwiderte Nicolaus; »ich bitte um Verzeihung. Ich gestehe übrigens, daß es jetzt mit meinem Raten zu Ende ist.«

»Was sagen Sie zu einer jungen Dame aus London?« fragte Herr Crummles; »einer Demoiselle so und so von dem königlichen Drurylane-Theater?«

»Das würde sich allerdings auf den Theaterzetteln recht gut ausnehmen«, antwortete Nicolaus.

»Sie haben recht«, sagte Herr Crummles, »und wenn Sie gesagt hätten, sie würde sich auch auf der Bühne gut ausnehmen, so wäre es auch nicht weit fehlgeschossen. Sehen Sie einmal her! Was halten Sie davon?«

Mit dieser Frage rollte Herr Crummles einen blauen und einen gelben Anschlagzettel auf, deren jeder oben in ungeheuren Buchstaben die Aufschrift trug: »Erste Gastrolle der unvergleichlichen Demoiselle Petowker von dem königlichen Drurylane-Theater!«

»Mein Gott!« rief Nicolaus, »diese Dame kenne ich.«

»Dann kennen Sie so viel Talent, wie je in dem Leibe eines jungen Frauenzimmers eingeschlossen war«, entgegnete Herr Crummles, indem er die Zettel wieder zusammenpackte; »das heißt: Talent von einer gewissen Art – von einer gewissen Art.«

»›Die Bluttrinkerin‹«, fügte Herr Crummles mit einem prophetischen Seufzer bei, »›die Bluttrinkerin‹ wird mit diesem Mädchen sterben. Auch ist sie von allen, die mir zu Gesichte kamen, die einzige Fee, die wie eine echte Fee auf einem Beine stehen und auf dem andern Knie das Tamburin schlagen kann.«

»Wir erwarten sie heute«, versetzte Herr Crummles. »Sie ist elne alte Freundin von meiner Frau. Madame Crummles erkannte ihr Talent und sah voraus, was kommen mußte. Was sie kann, hat sie fast alles von meiner Frau gelernt. Madame Crummles war die ursprüngliche Bluttrinkerin.«

»Was Sie sagen!«

»Ja, aber sie mußte es aufgeben.«

»Behagte es ihr nicht mehr?« fragte Nicolaus lächelnd.

»Nicht so sehr ihr, aber dem Publikum«, antwortete Herr Crummles. »Niemand konnte es dabei aushalten; es war zu schrecklich. Sie wissen noch nicht ganz, was Madame Crummles zu leisten imstande ist.«

Nicolaus wagte zu bemerken, er meine doch, es zu wissen.

»Nein, nein, das ist rein unmöglich«, sagte Herr Crummles. »Ich selbst kenne sie noch nicht ganz genau, wie auch die Welt sie erst zu schätzen wissen wird, wenn sie tot ist. Mit jedem Jahre ihres Lebens gibt diese außerordentliche Frau neue Proben ihres Talents. Sehen Sie sie an – Mutter von sechs Kindern – drei von ihnen noch am Leben und alle auf den Brettern.«

»Außerordentlich!« rief Nicolaus.

»Ja, in der Tat außerordentlich«, versetzte Herr Crummles mit einem ernsten Kopfschütteln, indem er selbstgefällig eine Prise nahm. »Ich gebe Ihnen mein Künstlerwort, daß ich bis zu ihrem letzten Benefiz nicht einmal wußte, daß sie tanzen konnte. Sie spielte damals die Julia und die Helene Mac Gregor und tanzte zwischen beiden Stücken den Schwungseilhornpipe. Als ich die wundervolle Frau zum ersten Male sah, Johnson«, fuhr Herr Crummles etwas nähertretend fort, indem er den Ton zutraulicher Freundschaft annahm, – »als ich sie zum ersten Male sah, stand sie, umgeben von blendendem Feuerwerk, mit dem Kopfe auf einem Speerschaft.«

»Sie machen mich staunen«, sagte Nicolaus.

» Sie machte mich staunen!« entgegnete Herr Crummles mit einem sehr ernsten Gesicht. »Eine solche Anmut mit so viel Würde gepaart. Ich betete sie an – von diesem Augenblick.«

Die Ankunft der hochbegabten Dame, der diese Bemerkungen galten, machte den Lobeserhebungen des Schauspieldirektors ein jähes Ende. Fast unmittelbar darauf trat Herr Percy Crummles mit einem an seine gnädige Frau Mama adressierten Briefe ein, der durch die Post angekommen war. Bei dem ersten Blick auf die Überschrift rief Madame Crummles: »Ha, von Henriette Petowker!« und war augenblicklich in den Inhalt des Schreibens vertieft.

»Ist es – –« fragte der Schauspieldirektor zögernd.

»Ja, ja, es ist alles in Ordnung«, versetzte Madame Crummles, der Frage vorgreifend. »Wie trefflich für sie – in der Tat!«

»Ich denke, es ist das Beste, was mir je vorgekommen ist«, erwiderte Herr Crummles.

Und dann brachen Herr Crummles, Madame Crummles und Herr Percy in ein gewaltiges Gelächter aus.

Nicolaus überließ es ihnen, unter sich lustig zu sein, und ging nach seiner Wohnung, nicht wenig verwundert, welches mit dem Namen Petowker verknüpfte Geheimnis wohl diese Heiterkeit hervorgerufen haben mochte. Zugleich dachte er auch an die große Überraschung, die diese Dame an den Tag legen würde, wenn sie ihn selbst in den Reihen einer Kunst finden würde, der sie zu einer so schönen und leuchtenden Zierde gereichte.

In der letzteren Hinsicht hatte er sich jedoch geirrt; denn – sei es, daß Herr Vincent Crummles den Weg gebahnt, oder daß Fräulein Petowker besondere Gründe hatte, ihn sogar mit mehr als gewöhnlicher Zuvorkommenheit zu behandeln – ihre Begegnung auf dem Theater des andern Tages glich mehr der zweier Freunde, die sich von Jugend auf liebten, als einem Wiedersehen zwischen einer Dame und einem Herrn, die sich nur ein halbdutzendmal und dann auch nur zufällig gesehen hatten. Ja, Fräulein Petowker flüsterte ihm sogar zu, daß sie in ihren Gesprächen mit der Familie des Direktors kein Wörtchen von den Kenwigsen habe fallen lassen. Sie hätte im Gegenteil versichert, daß sie Herrn Johnson in den ersten und vornehmsten Gesellschaftskreisen begegnet wäre. Als aber Nicolaus bei dieser Eröffnung sein Staunen nicht verbergen konnte, fügte sie mit einem holden Blicke bei, daß sie jetzt Anspruch auf seine Freundschaft hätte und diese vielleicht in kurzem auf die Probe stellen würde.

Nicolaus hatte noch an demselben Abend die Ehre, mit Fräulein Petowker in einem kleinen Stücke aufzutreten, und es konnte ihm nicht entgehen, daß der Beifall, der ihr zuteil wurde, hauptsächlich einem ungemein beharrlichen Regenschirm in den oberen Logen zuzuschreiben war. Er bemerkte auch, daß die bezaubernde Darstellerin manchen holden Blick nach der Richtung, woher diese Töne kamen, schießen ließ, und daß dann jedesmal der Regenschirm aufs neue losbrach. Einmal kam es ihm vor, als ob ein eigentümlich geformter Hut in jener Ecke ihm nicht ganz unbekannt wäre. Da er jedoch von seiner Rolle zu sehr in Anspruch genommen war, schenkte er diesem Umstand keine große Aufmerksamkeit, wie er denn auch das Ganze, als er zu Hause anlangte, wieder völlig vergessen hatte.

Er saß eben mit Smike beim Nachtessen, als jemand von den Hausleuten an der Tür pochte und einen Herrn anmeldete, der unten wäre und Herrn Johnson zu sprechen wünschte.

»Je nun, da kann ich weiter nichts sagen, als daß er heraufkommen soll«, versetzte Nicolaus. »Wahrscheinlich ein hungriger Kollege, Smike.«

Smike betrachtete den kalten Braten, berechnete schweigend, wieviel wohl für das Mittagessen des nächsten Tages übrigbleiben dürfte, und legte ein Stückchen, das er für sich selbst abgeschnitten hatte, wieder zurück, damit die Eingriffe des Gastes in ihren Wirkungen weniger verheerend sein möchten.

»Es ist niemand, der früher hier war«, sagte Nicolaus, »denn er stolpert auf jeder Treppe. Herein, herein! – Im Namen aller Wunder – Herr Lillyvick!«

Es war in der Tat der Einnehmer der Wassersteuer, der Nicolaus mit festem Blicke und unbeweglichen Zügen ansah, ihm mit feierlicher Wichtigkeit die Hand reichte und sich in dem Kaminwinkel niederließ.

»Wann sind Sie angekommen?« fragte Nicolaus.

»Diesen Morgen, Sir«, versetzte Herr Lillyvick.

»Ah, ich sehe; dann waren Sie diesen Abend im Theater und es war Ihr Regen – –«

»Dieser Regenschirm«, sagte Herr Lillyvick, indem er einen plumpen, grünbaumwollenen Schirm mit umgedrückter Zwinge hervorzog. »Wie gefiel Ihnen Fräulein Petowkers Spiel?«

»Soweit ich es von der Bühne aus betrachten konnte, recht nett«, versetzte Nicolaus.

»Nett?« rief der Steuereinnehmer. »Ich sage Ihnen, Sir, es war entzückend.«

Herr Lillyvick beugte sich vor, um das »Entzückend« mit um so größerem Nachdruck auszusprechen, richtete sich dann wieder empor und gab einiges Stirnrunzeln und Kopfnicken zum besten.

»Ich sage entzückend«, wiederholte Herr Lillyvick, »hinreißend, zauberhaft, gewaltig.«

Und abermals bog sich Herr Lillyvick zurück, aufs neue nickend und die Stirne runzelnd.

»Ah«, entgegnete Nicolaus, ein wenig überrascht bei diesen Symptomen einer ekstatischen Bewunderung. »Ja – sie ist eine begabte Dame.«

»Eine Göttin«, erwiderte Herr Lillyvick, indem er seinen Steuereinnehmer-Doppelschlag mit dem vorerwähnten Regenschirm auf dem Boden ausführte.

»Ich habe seinerzeit göttliche Schauspielerinnen gekannt, Sir – ich hatte die Wassersteuer einzusammeln – wenigstens mußte ich sie einfordern – und zwar sehr oft einfordern – in dem Hause einer göttlichen Schauspielerin, die vier Jahre lang in meinem Viertel wohnte; aber nie – nein, nie, Sir – habe ich unter allen göttlichen Wesen, Schauspielerin oder nicht, ein göttlicheres gesehen, als Henriette Petowker.«

Nicolaus hatte Mühe, ein Lächeln zu unterdrücken, weshalb er es auch nicht einmal wagte, zu sprechen, sondern nur im Einklang mit Herrn Lillyvicks Nicken gleichfalls nickte und stumm blieb.

»Ich möchte wohl ein Wörtchen unter vier Augen mit Ihnen sprechen«, sagte Herr Lillyvick.

Nicolaus warf willfahrend Smike einen Blick zu, der den Wink verstand und sich entfernte.

»Es ist etwas Erbärmliches um einen Hagestolz, Sir«, sagte Herr Lillyvick.

»Meinen Sie?« versetzte Nicolaus.

»Ja«, entgegnete der Steuereinnehmer. »Ich habe an sechzig Jahre in der Welt gelebt und sollte mich daher wohl auf die Sache verstehen.«

»Das solltest du freilich«, dachte Nicolaus, »aber ob du’s tust, ist eine andere Frage.«

»Wenn sich ein Hagestolz zufällig ein bißchen Geld erspart hat«, fuhr Herr Lillyvick fort, »so sehen Schwestern und Brüder, Neffen und Nichten auf das Geld und nicht auf ihn. Ja, sie wünschen ihm, selbst wenn er ein öffentlicher Charakter und somit das Haupt der Familie, oder gewissermaßen der Stamm ist, an den alle anderen kleineren Zweige sich anschmiegen, ohne Unterlaß den Tod und werden niedergeschlagen, sooft sie ihn bei guter Gesundheit sehen, weil es ihnen um nichts zu tun ist, als um in den Besitz seines kleinen Eigentums zu kommen. Verstanden?«

»O ja«, versetzte Nicolaus, »Sie haben ohne Zweifel vollkommen recht.«

»Der Hauptbeweggrund, warum man unverehelicht bleibt«, nahm Herr Lillyvick wieder auf, »ist der Kostenpunkt. Das ist’s, was mich immer abgehalten hat; sonst – ach du mein Himmel!« sagte Herr Lillyvick, mit den Fingern schnippend, – »sonst hätte ich wohl fünfzig Frauen haben können.«

»Schöne Frauen?« fragte Nicolaus.

»Schöne Frauen«, antwortete der Steuereinnehmer. »Freilich nicht so schön, wie Henriette Petowker; denn sie hat nicht ihresgleichen, aber ich versichere Ihnen – immerhin Frauen, wie sie einem nicht alle Tage in den Weg kommen. Setzen wir nun den Fall, der Mann kann in seiner Frau, statt mit seiner Frau Vermögen bekommen – wie?«

»Ei, dann ist er ein glücklicher Mann«, versetzte Nicolaus.

»Das ist’s, was ich sage«, entgegnete der Steuereinnehmer, indem er Nicolaus wohlwollend mit seinem Regenschirm auf die Schulter klopfte, »genau, was ich sage. Henriette Petowker, die hochbegabte Henriette Petowker hat einen Schatz in sich selbst, und ich bin im Begriff – –«

»Sie zu Madame Lillyvick zu machen?« ergänzte Nicolaus.

»Nein, Sir, sie soll nicht Madame Lillyvick werden«, erwiderte der Steuereinnehmer. »Schauspielerinnen, Sir, behalten stets ihre Familiennamen bei; das ist so gewöhnlich. – Aber ich bin im Begriff sie zu heiraten; ja, und zwar schon übermorgen.«

»Ich gratuliere Ihnen, Sir«, sagte Nicolaus.

»Ich danke, Sir«, versetzte der Steuereinnehmer, seine Weste zuknöpfend. »Ich ziehe dann natürlich ihre Gage ein und hoffe, daß es am Ende sich fast ebenso preiswert fügt, zwei Personen zu erhalten als eine – das ist auch wieder ein Trost.«

»Sie werden doch in einem solchen Augenblicke keines Trostes bedürfen?« bemerkte Nicolaus.

»Nein«, entgegnete Lillyvick mit einem ängstlichen Kopfschütteln: »natürlich nicht.«

»Aber warum kommen Sie beide hierher, wenn es Ihre Absicht ist, sich zu heiraten, Herr Lillyvick?« fragte Nicolaus.

»Das ist’s eben, weshalb ich zu Ihnen komme«, antwortete der Einnehmer der Wassersteuer. »Die Sache verhält sich nämlich so: wir haben es für das beste gehalten, unsere Verbindung vor der Familie geheimzuhalten.«

»Familie?« rief Nicolaus. »Vor was für einer Familie?«

»Je nun – vor den Kenwigsen«, versetzte Herr Lillyvick. »Wenn meine Nichte und die Kinder nur ein Wörtchen davon vor meiner Abreise erfahren hätten, so hätten sie zu meinen Füßen Krämpfe gekriegt und nicht mehr von mir abgelassen, bis ich ihnen eidlich versichert hätte, nie zu heiraten – oder sie hätten mich für mondsüchtig erklären lassen oder sonst etwas Schreckliches vorgenommen«, sagte der Steuereinnehmer, indem er in der Glut seines Temperamentes am ganzen Leibe bebte.

»Ich zweifle allerdings nicht, daß sie eifersüchtig gewesen sein würden«, sagte Nicolaus.

»Um dem vorzubeugen«, erwiderte Herr Lillyvick, »haben wir die Verabredung getroffen, daß Henriette Petowker unter dem Vorwande eines Engagements zu ihren Freunden, den Crummles‘, sich begeben sollte. Ich selber reiste tags zuvor nach Guilford, um sie daselbst zu erwarten, und so kamen wir gestern miteinander hier an. Nun fürchten wir aber, Sie möchten Herrn Noggs schreiben und ihm etwas von unseren Angelegenheiten mitteilen, und so hielten wir es für das beste. Sie in unser Geheimnis einzuweihen. Wir gehen von Crummles‘ Wohnung aus zur Kirche und werden uns freuen, wenn Sie uns entweder vor der Trauung oder zum Frühstück die Ehre Ihres Besuches schenken wollen. Es wird nicht hoch hergehen«, fügte der Steuereinnehmer, der ängstlich jedes Mißverständnis über diesen Punkt vermeiden wollte, bei – »eben Semmeln und Kaffee, vielleicht mit einer Seegarneele oder etwas der Art, um sich einen guten Geschmack zu verschaffen.«

»Ja, ja, ich verstehe«, sagte Nicolaus. »Ich leiste Ihrer Einladung mit dem größten Vergnügen Folge. Wo wohnt Fräulein Petowker – bei Madame Crummles?«

»Nein«, versetzte der Steuereinnehmer, »es paßte dort gerade nicht, sie unterzubringen, und so wohnt sie jetzt bei einer Bekannten und noch einer andern jungen Dame, die beide zum Theater gehören.«

»Fräulein Snevellicci, denke ich«, sagte Nicolaus.

»Ja, so klingt der Name.«

»Vermutlich werden das die Brautjungfern sein?« entgegnete Nicolaus.

»Ach«, erwiderte der Steuereinnehmer mit einer Jammermiene, »sie wollen vier Brautjungfern haben. Ich fürchte, sie werden es gar zu theatralisch machen.«

»O nicht doch, nicht im geringsten«, versetzte Nicolaus mit einem verunglückten Versuch, ein Lachen in ein Husten umzuwandeln. »Wer mögen wohl die vier sein? Natürlich Fräulein Snevellicci – Fräulein Ledrook.«

»Das – das Wunderkind«, stöhnte der Steuereinnehmer.

»Ha! ha! ha!« brach Nicolaus los, fügte aber schnell bei: »ich bitte um Verzeihung, ich weiß selbst nicht, weshalb ich lachte. – Ja, das wird ganz hübsch werden. Das Wunderkind – wer sonst noch?«

»Irgendein anderes junges Frauenzimmer«, versetzte der Steuereinnehmer aufstehend, »eine Freundin von Henriette Petowker. Sie werden doch aber das, was ich Ihnen mitteile, für sich behalten – nicht wahr?«

»Sie können sich getrost auf mich verlassen«, entgegnete Nicolaus. »Darf ich Ihnen nichts anbieten?«

»Nein«, erwiderte der Steuereinnehmer, »ich habe keinen Appetit. Ich sollte meinen, daß es etwas sehr Angenehmes um das Leben im Ehestand ist – wie?«

»Ich bezweifle es nicht im geringsten«, antwortete Nicolaus.

»Ja«, sagte der Steuereinnehmer, »gewiß. O ja, kein Zweifel. Gute Nacht.«

Mit diesen Worten wandte sich Herr Lillyvick, der diese ganze Zeit über das seltsamste Gemisch von Hast und Bedenklichkeit, Vertrauen und Zweifel, Verliebtheit und Argwohn, Gemeinheit und Hochmut an den Tag gelegt hatte, nach der Tür und überließ es nun Nicolaus, sich seiner Lachlust hinzugeben, solange es ihm behagte.

Wir wollen uns nicht mit Untersuchungen aufhalten, ob der nächste Tag Nicolaus aus der gewöhnlichen Anzahl von Stunden zu bestehen schien, sondern bemerken nur, daß unser Freund den mehr unmittelbar bei der bevorstehenden Zeremonie beteiligten Personen in großer Eile entwich: wie denn auch Fräulein Petowker, als sie den darauffolgenden Morgen in Fräulein Snevelliccis Kammer erwachte, die Erklärung abgab, nichts könne sie bereden, daß dies wirklich der Tag wäre, der Zeuge einer so wichtigen Veränderung in ihren häuslichen Verhältnissen sein sollte.

»Ich kann’s nicht glauben«, sagte Fräulein Petowker: »in der Tat, ich kann’s unmöglich glauben. Was nützt all dieses Reden; ich kann mich nimmermehr entschließen, mich einer solchen Prüfung zu unterziehen.«

Fräulein Snevellicci und Fräulein Ledrook wußten recht genau, daß der Entschluß ihrer guten Freundin schon seit drei oder vier Jahren feststand, diese verzweifelte Prüfung getrosten Mutes einzugehen, wenn sie nur einen annehmbaren Herrn, der den gleichen Versuch machen wollte, auffinden konnte. Sie begannen daher, ihr Trost und Festigkeit zu predigen und ihr begreiflich zu machen, wie stolz sie sich fühlen dürfe, daß es in ihrer Macht liege, einem verdienstvollen Manne zum dauernden Segen zu werden, und wie notwendig es für das Wohl der Menschheit im allgemeinen sei, daß das zarte Geschlecht bei solchen Anlässen Seelenstärke und Ergebung beweise. Zwar sei nach ihrer Überzeugung das wahre Glück nur in dem ehelosen Leben zu finden, das sie nie gern und in keinem Fall aus irgendeiner weltlichen Rücksicht aufgeben würden. – Trotzdem aber hofften sie, wenn sie je in solche Lage kämen, ihre Pflicht, Gott sei Dank, zu gut zu kennen, um sich allzusehr zu grämen. Sie lebten der Überzeugung, daß sie sich mit Demut und unterwürfigem Sinn dem Schicksal unterwerfen könnten, das ihnen die Vorsehung offenbar nur in der Absicht zuweisen würde, das Glück und das Wohl eines Mitmenschen zu begründen.

»Ich könnte es wohl auch nicht anders als schmerzlich empfinden«, sagte Fräulein Snevellicci, »alte Verbindungen abzubrechen, aber ich würde mich fügen, meine Liebe – in der Tat, ich würde mich fügen.«

»Ich gleichfalls«, erklärte Fräulein Ledrook, »ja, ich würde das Joch eher suchen als meiden. Ich habe vordem schon manches Herz gebrochen, aber ich beklage es jetzt schmerzlich: denn schuld an einem solchen Tod zu sein, ist ein ewiger Wurm für das Gewissen.«

»Ja, so ist es«, bekräftigte Fräulein Snevellicci. »Aber jetzt, liebe Led, müssen wir sie zustutzen, sonst kommen wir in der Tat zu spät.«

Diese tröstlichen Gründe, und vielleicht auch die Furcht, zu spät zu kommen, hielten die Braut während der Förmlichkeit des Ankleidens aufrecht; dann aber mußten starker Tee und Rum abwechselnd angewandt werden, um ihre schwachen Glieder so weit zu kräftigen, daß sie stetigen Schrittes einhergehen konnte.

»Wie fühlst du dich jetzt, meine Liebe?« fragte Fräulein Snevellicci.

»Ach Lillyvick«, rief die Braut, »wenn du wüßtest, was ich um deinetwillen leide!«

»Er weiß es natürlich und wird es nie vergessen«, versetzte Fräulein Ledrook.

»Glauben Sie?« rief Fräulein Petowker mit einem Pathos, das allein schon ihr Talent für die Bühne bekundet haben würde.

»O glauben Sie wirklich, daß Lillyvick es nie – nie vergessen wird?«

Wir können nicht vermuten, womit dieser Gefühlsausdruck geendet haben würde, wenn nicht Fräulein Snevellicci in diesem Augenblick die Ankunft der Kutsche verkündigt hätte, was die Braut so verblüffte, daß sie verschiedene beunruhigende Symptome, die stark im Anzuge waren, abschüttelte, an den Spiegel eilte, um ihren Anzug zu mustern, und ganz ruhig erklärte, daß sie zu dem Opfer bereit sei.

Sie wurde demgemäß in die Kutsche gehoben, wo sie durch fortwährendes Riechen an Salmiakriechfläschchen und wiederholte Schlucke von Likör und anderen kräftigen Mitteln vor Ohnmächten geschützt wurde, bis man das Haus des Theaterdirektors erreichte. Die zwei jungen Crummles‘ standen schon mit weißen Kokarden und in den gewähltesten und farbenfunkelndsten Westen aus der Theatergarderobe an der Tür, um sie zu empfangen. Durch die vereinzelten Bemühungen dieser Herren, der Brautjungfern und des Kutschers wurde Fräulein Petowker endlich in einem Zustand völliger Erschöpfung nach dem ersten Stock gebracht, wo sie, sobald sie des jugendlichen Bräutigams ansichtig wurde, mit vielem Anstand in Ohnmacht sank.

»Henriette Petowker«, rief der Steuereinnehmer, »ermuntern Sie sich, meine Liebe.«

Fräulein Petowker ergriff des Steuereinnehmers Hand, aber die innere Bewegung erstickte ihre Worte.

»Ist denn mein Anblick so schrecklich?« rief der Steuereinnehmer.

»Ach nein, nein, nein!« rief die Braut; »aber alle Freunde – die teuren Freunde – meiner Jugendjahre – alle verlassen zu müssen – es ist ein herber Augenblick!«

Nach diesem Schmerzergusse begann Fräulein Petowker die teuren Freunde ihrer Jugend aufzuzählen, wobei sie die unter ihnen, die zugegen waren, aufforderte, näher zu treten und sie zu umarmen. Als das geschehen war, fiel ihr ein, Madame Crummles sei ihr mehr als eine Mutter, Herr Crummles mehr als ein Vater und die jungen Crummles‘ nebst Fräulein Ninetta Crummles mehr als Brüder und Schwestern gewesen. Diese verschiedenen Erinnerungen, die jedesmal eine Reihe von Umarmungen zur Folge hatten, nahmen eine schöne Zeit hinweg, so daß man sich genötigt sah, dem Kutscher die allergrößte Eile anzuempfehlen, damit man nicht zu spät in die Kirche käme.

Der Zug bestand aus zwei Wagen. In dem ersten saßen Fräulein Bravassa, die vierte Brautjungfer, Madame Crummles, der Steuereinnehmer und Herr Folair, der bei dieser Gelegenheit zum Führer des Bräutigams erwählt worden war. In dem andern befanden sich die Braut, Herr Crummles, Fräulein Snevellicci, Fräulein Ledrook und das Wunderkind. Die Kostüme konnten prachtvoll genannt werden. Die Brautjungfern waren über und über mit künstlichen Blumen bedeckt, und das Wunderkind verschwand beinahe ganz in einer tragbaren Laube, in die man es gesteckt hatte. Die romantische Ledrook trug an ihrer Brust das Miniaturbild eines unbekannten Offiziers, das sie nicht lange vorher – eine wertvolle Erwerbung – auf einer Versteigerung erstanden hatte. Die anderen Damen entfalteten prachtvolle Garnituren imitierter Juwelen, die sich von echten kaum unterscheiden ließen, Madame Crummles aber trug eine ernste und düstere Majestät zur Schau, die die Bewunderung aller Zuschauer auf sich zog.

Am auffallendsten und eindrucksvollsten machte sich jedoch die Erscheinung des Herrn Crummles, der den Brautvater vorstellte und infolge eines originellen und glücklichen Gedankens sich für diese Rolle durch eine Theaterperücke, wie man sie auf alten Münzen sieht, einen schnupftabakfarbigen Anzug nach dem Schnitt des vorigen Jahrhunderts, grauseidene Strümpfe und Schnallenschuhe zustutzte. Um seinem angenommenen Charakter noch mehr Ehre zu machen, hatte er sich entschlossen, den Tiefgerührten zu spielen, weshalb denn auch, als er in die Kirche trat, das Schluchzen des zärtlichen Vaters so herzzerreißend wurde, daß ihm der Küster den Rat gab, er möchte sich in die Sakristei zurückziehen und vor dem Beginn der Feierlichkeit durch ein Glas Wasser stärken.

Der Gang durch die Kirche war wunderschön. Die Braut und vier Brautjungfern bildeten eine zum voraus einstudierte Gruppe. Der Steuereinnehmer ging vor seinem Führer her, der zur unbeschreiblichen Belustigung einiger Theaterfreunde, die von der Empore aus zusahen, den Gang und die Gebärden des Bräutigams nachäffte. Diesem folgte in wankender und unsicherer Haltung Herr Crummles, und Madame Crummles beobachtete ihren gewohnten Theatergang, in dem stets ein Schritt mit einer Pause abwechselte. Mit einem Wort, die Prozession war das Vollkommenste, was je ein Menschenauge gesehen hatte. Die Trauung ging ungemein rasch vonstatten; und nachdem sich alle Anwesenden in das Kirchenregister eingeschrieben hatten (zu welchem Zwecke Herr Crummles, als die Reihe an ihn kam, sorgfältig eine ungeheure Brille abwischte und auf die Nase setzte), kehrten sie in ungemein heiterer Stimmung zum Frühstück zurück. Hier fanden sie auch Nicolaus, der ihrer Ankunft harrte.

»Wohlan jetzt«, sagte Crummles, der Madame Grudden in den Vorbereitungen, die übrigens in einem großartigeren Maßstabe, als dem Steuereinnehmer gutdünken mochte, ausgeführt worden waren, Beistand geleistet hatte, »zum Frühstück! zum Frühstück!«

Es bedurfte keiner zweiten Einladung. Die Gesellschaft drückte sich an dem Tisch, so gut es gehen wollte, zusammen und griff ohne weitere Umstände zu. Fräulein Petowker wurde jedesmal bis über die Ohren rot, wenn sie jemand ansah, und aß sehr viel, wenn sie niemand ansah. Herr Lillyvick aber ging mit dem besonnenen Entschluß ans Werk, da alle diese guten Happen doch aus seinem Beutel bezahlt werden müßten, den Crummles‘ so wenig wie möglich übrig zu lassen.

»Das war sehr bald abgetan, Sir – haben Sie’s nicht auch so gefunden?« fragte Herr Folair den Steuereinnehmer, sich nach dem genannten Herrn über den Tisch beugend.

»Was war abgetan, Sir?« entgegnete Herr Lillyvick.

»Das Zusammenknüpfen – das Angebundenwerden an eine Frau«, versetzte Herr Folair. »Es hat nicht lange gedauert – oder?«

»Nein, Sir«, erwiderte Herr Lillyvick errötend, »es dauerte nicht lange. Und was weiter, Sir?«

»Ach nichts«, sagte der Schauspieler. »Man braucht nicht lange, um sich zu hängen – so oder so. Hab ich nicht recht? Ha, ha, ha!«

Herr Lillyvick legte Messer und Gabel nieder und sah sich mit entrüsteter Verwunderung an dem Tische um.

»Sich zu hängen?« wiederholte Herr Lillyvick.

Ein tiefes Schweigen herrschte in der ganzen Gesellschaft; denn Herrn Lillyvicks würdevolle Miene ging über alle Beschreibung.

»Sich zu hängen?« rief Herr Lillyvick abermals. »Will man in dieser Gesellschaft einen Vergleich zwischen Heiraten und Hängen ziehen?«

»In beiden handelt sich’s bekanntlich um den Knoten«, bemerkte Herr Folair etwas verblüfft.

»Um einen Knoten, Sir?« entgegnete Herr Lillyvick. »Wagt es jemand, in meiner Gegenwart von einem Knoten und Henriette Pe – –«

»Lillyvick«, verbesserte Herr Crummles.

»– und Henriette Lillyvick in einem Atem zu sprechen?« fuhr der Steuereinnehmer fort. »Müssen wir in diesem Hause in Gegenwart von Herrn und Madame Crummles, die eine talentvolle und tugendhafte Familie zu Segnungen des Himmels, zu Wunderkindern und zu Gott weiß was erzogen haben, von Knoten sprechen hören?«

»Folair«, sagte Herr Crummles, der infolge dieser Anspielung auf ihn und sein Ehegemahl die Angelegenheit als einen Ehrenpunkt nehmen zu müssen glaubte, »Sie setzen mich in Erstaunen.«

»Wüßte nicht, inwiefern«, versetzte der unglückliche Witzmacher. »Was hab‘ ich denn verbrochen?«

»Verbrochen, Sir?« rief Herr Lillyvick. »Sie haben einen Streich geführt auf das ganze Gebäude der menschlichen Gesellschaft.«

»Und auf die edelsten und zartesten Gefühle«, fügte Crummles bei, die Rolle des Brautvaters wieder aufnehmend.

»Und die höchsten und achtbarsten geselligen Bande«, erklärte der Steuereinnehmer. »Knoten! Als ob man gefangen und an den Füßen gebunden in den Stand der heiligen Ehe träte und nicht aus freiem Willen und hohem Selbstbewußtsein die feierliche Handlung beginge!«

»Eine derartige Deutung kam mir nicht entfernt in den Sinn«, entgegnete der Schauspieler; »doch da Sie die Sache empfindlich nehmen, so erkläre ich, daß mir meine Bemerkung leid tut. Mehr kann ich nicht sagen.«

»Sie muß Ihnen auch leid tun«, erwiderte Herr Lillyvick, »und es freut mich, zu hören, daß Sie wenigstens noch so viel Ehrgefühl im Leibe haben.«

Da der Streit durch diese Erklärung abgetan zu sein schien, hielt es Madame Lillyvick, weil jetzt die Aufmerksamkeit der Gesellschaft nicht länger zerstreut war, für passend, in Tränen auszubrechen und den Beistand aller vier Brautjungfern in Anspruch zu nehmen, der auch, jedoch nicht ohne einige Verwirrung, geleistet wurde; denn das Zimmer war klein und das Tafeltuch lang, und so wurde bei der ersten Bewegung ein Eßservice über den Tisch hinuntergefegt. Ungeachtet dieses Unfalls wies jedoch Madame Lillyvick jeden Trost zurück, bis endlich die kriegführenden Parteien ihr versprochen hatten, den Streit nicht weiterzuführen, wozu sie sich denn nach reichlich bekundetem Widerstreben bewegen ließen. Aber von dieser Zeit an saß Herr Folair in verdrießlichem Schweigen da, indem er sich damit begnügte, wenn etwas danach gesprochen wurde, Nicolaus ins Bein zu kneifen, um dadurch seine Verachtung gegen den Sprecher sowohl, als gegen die ausgesprochenen Gefühle kundzutun.

Es wurde nun eine Reihe von Reden gehalten, eine von Nicolaus, eine von Crummles und eine von dem Steuereinnehmer; zwei von den jungen Herrn Crummles‘, um für sich selbst ihren Dank abzustatten, und eine von dem Wunderkind im Namen der Brautjungfern, wobei Madame Crummles Tränen vergoß. Dann ging es an ein Singen, Fräulein Ledrook und Fräulein Bravassa ließen sich hören, und wahrscheinlich wäre die Reihe auch noch an andere gekommen, wenn nicht der Mietkutscher, der das glückliche Paar nach Ryde bringen sollte, wo es das Dampfboot besteigen wollte, die Erklärung abgegeben hätte, daß er, wenn seine Passagiere nicht auf der Stelle kämen, achtzehn Pence über das Bedungene fordern würde.

Diese verzweifelte Drohung sprengte die Gesellschaft auseinander. Nach einem überaus pathetischen Abschied reiste Herr Lillyvick mit seiner höchst liebenswürdigen Braut nach Ryde ab, wo sie die nächsten zwei Tage in tiefster Zurückgezogenheit zubringen wollten. Das Wunderkind begleitete sie; denn Herr Lillyvick hatte sie deshalb ausdrücklich zur Reisebrautjungfer erkoren, weil die Inhaber des Dampfbootes durch ihre Kleinheit getäuscht werden sollten und dann nur den halben Passagierpreis berechnen konnten. Da an diesem Abend kein Theater war, so erklärte Herr Crummles, daß man bis zum letzten Tropfen beisammenbleiben sollte. Aber Nicolaus, der des andern Abends zum erstenmal den Romeo spielen sollte, benutzte eine gelegentliche kleine Aufregung, die durch unerwartet deutliche Symptome von Trunkenheit in dem Benehmen der Madame Grudden veranlaßt wurde, und schlich sich fort.

Nicolaus wurde zu diesem Ausrücken nicht bloß durch seine eigene Neigung, sondern auch durch seine Besorgnisse wegen Smike veranlaßt, der in der Rolle des Apothekers auftreten sollte und von derselben bis jetzt noch nichts als den allgemeinen Begriff hatte in den Kopf bringen können, daß er sehr hungrig wäre. Das hatte er – vielleicht infolge alter Erinnerungen – sehr bald kapiert. »Ich weiß nicht, was da zu tun ist, Smike«, sagte Nicolaus, das Buch niederlegend. »Ich fürchte, du kannst deine Rolle nicht lernen, armer Kerl.«

»Das würde mir keine Mühe machen«, sagte Smike kopfschüttelnd. »Ich denke, wenn Sie – aber das würde Ihnen zu viele Mühe verursachen.«

»Was meinst du?« fragte Nicolaus. »Um mich darfst du unbesorgt sein.«

»Ich denke«, entgegnete Smike, »wenn Sie mir’s einigemal in kurzen Sätzen vorsagen wollten, so würde ich wohl imstande sein, es zu behalten.«

»Meinst du?« erwiderte Nicolaus. »Wohlan, wir wollen sehen, wer zuerst müde wird. Ich gewiß nicht, Smike. Beginnen wir also. ›Wer ruft so laut?‹«

»›Wer ruft so laut?‹« sagte Smike.

»›Wer ruft so laut?‹« wiederholte Nicolaus.

»›Wer ruft so laut?‹« schrie Smike.

So fuhren sie fort, sich gegenseitig zu fragen, wer so laut rufe; und als sich Smike dieses gemerkt hatte, ging Nicolaus zu einem weiteren Satz und dann zu zweien und endlich zu dreien auf einmal über, bis gegen Mitternacht der arme Smike zu seiner unaussprechlichen Freude fand, daß er wirklich etwas von seiner Rolle gelernt hätte.

Am andern Morgen früh ging das Examen aufs neue an, und Smike, der durch die bereits gemachten Fortschritte zuversichtlicher wurde, lernte schneller und besser. Sobald er die Worte ordentlich eingelernt hatte, zeigte ihm Nicolaus, wie er seine beiden Hände auf den Magen halten und denselben hin und wieder reiben müsse. Damit sollte er der bei dem Theatervolk üblichen pantomimischen Andeutung, daß man essen möchte, nachkommen. Nach der Morgenprobe gingen sie wieder ans Werk und fuhren fort, bis es Zeit war, abends im Theater zu erscheinen, indem sie ihre Studien nur durch ein eilig eingenommenes Mittagessen unterbrachen.

Nie hatte ein Lehrer einen aufmerksameren, bescheideneren und lernbegierigeren Schüler, aber auch nie ein Schüler einen geduldigeren, unermüdlicheren, umsichtigeren und wohlwollenderen Lehrer.

Sogar als sie schon angekleidet waren, und sooft Romeo nicht in der Szene zu erscheinen hatte, setzte Nicolaus seinen Unterricht fort. Er führte zu einem günstigen Erfolge. Romeo wurde mit dem lebhaftesten Beifall aufgenommen und Smike einstimmig, sowohl von dem Publikum wie von den Schauspielern, für den König aller Apotheker erklärt.

Dreizehntes Kapitel.


Dreizehntes Kapitel.

Nicolaus bringt durch ein äußerst tatkräftiges und merkwürdiges Verfahren einige Veränderungen in die Einförmigkeit von Dotheboys Hall, was zu nicht unwichtigen Folgen führt.

Die kalte, matte Dämmerung eines Januarmorgens stahl sich durch die Fenster des gemeinschaftlichen Schlafsaals, als Nicolaus, auf den Ellenbogen gestützt, unter den hingestreckten Gestalten, die ihn auf allen Seiten umgaben, umherblickte, als suche er irgendeinen besonderen Gegenstand.

Es bedurfte eines raschen Auges, um unter der wirren Masse von Schläfern die Umrisse eines bestimmten Individuums zu entdecken, denn da sie dicht nebeneinandergepackt mit ihren geflickten und zerrissenen Kleidern bedeckt dalagen, so konnte man wenig mehr als die scharfen Umrisse blasser Gesichter unterscheiden, über die das düstere Licht dieselben unangenehmen Farben goß, mit denen es hin und wieder einen hageren Arm färbte, der sich, von keiner Bedeckung verhüllt, dem Auge in seiner ganzen eingeschrumpften Häßlichkeit zeigte. Einige davon, die mit aufwärtsgerichteten Gesichtern und zusammengeklammerten Händen auf dem Rücken lagen und in der trüben Beleuchtung nur eben sichtbar waren, sahen mehr Leichen als lebenden Geschöpfen gleich, während andere sich in so seltsame und phantastische Lagen zusammengekrümmt hatten, daß man diese eher für die unruhigen Bemühungen des Schmerzes, der sich vorübergehend Linderung verschaffen will, als für Grillen des Schlummers halten konnte. Nur wenige, und diese gehörten unter die jüngsten der Kinder, schliefen friedlich mit einem Lächeln auf ihren Zügen und träumten vielleicht von ihrer Heimat. Aber von Zeit zu Zeit verkündete ein tiefer und schwerer Seufzer, der die Stille des Gemaches unterbrach, daß abermals ein Schläfer zu dem Elend eines neuen Tages erwacht sei; und wie der Morgen die Nacht verdrängte, so schwand das Lächeln allmählich mit der freundlichen Dunkelheit, die es erzeugt hatte, dahin.

Träume sind liebliche Kinder der Phantasie, die in bunten, märchenhaften Bildern nächtlicherweile auf der Erde spielen und in den ersten Strahlen der Sonne hinwegschmelzen, die mit ihrer Leuchte die finstere Sorge und die traurige Wirklichkeit in die Welt einführt.

Nicolaus blickte auf die Schläfer – anfangs mit der Miene eines Menschen, der auf ein zwar bekanntes, demungeachtet aber nicht minder schmerzerregendes Schauspiel sieht, dann aber mehr in der achtsamen und spähenden Weise eines Mannes, dessen Auge irgendeinen gewohnten Gegenstand vermißt. Er war noch in seinem Suchen begriffen, zu welchem Ende er sich halb in seinem Bette aufgerichtet hatte, als sich Squeers‘ Stimme von dem Fuße der Treppe her vernehmen ließ.

»Was soll das?« rief der Ehrenmann. »Wollt ihr den ganzen Tag schlafen? Aufgestanden –«

»Ihr faulen Hunde«, beendigte Madame Squeers den Satz, indem sie zu gleicher Zeit einen Ton hervorbrachte, ähnlich dem, der durch das Zuschnüren eines Korsetts veranlaßt wird.

»Wir werden im Augenblick hinunterkommen, Sir«, antwortete Nicolaus.

»Im Augenblick hinunterkommen?« sagte Squeers. »Ja, Sie werden gut tun, bald herunterzukommen, ich möchte sonst noch bälder einen und den andern von euch unter mich kriegen. Wo ist Smike?«

Nicolaus blickte rasch umher, ohne jedoch zu antworten.

»Smike!« brüllte Squeer«.

»Willst du, daß dir der Schädel an einer neuen Stelle eingeschlagen wird, Smike?« fragte die liebenswürdige Frau Schulmeisterin in demselben Tone.

Noch immer keine Antwort. Nicolaus sah sich allenthalben um und ebenso auch der größere Teil der Knaben, die inzwischen erwacht waren.

»Heillose Unverschämtheit!« wütete Squeers, indem er ungeduldig mit seinem Rohr auf das Stiegengeländer schlug. »Nickleby!«

»Was steht zu Diensten, Sir?«

»Schicken Sie den störrischen Schlingel herunter; hören Sie mich denn nicht rufen?«

»Er ist nicht hier, Sir«, versetzte Nicolaus.

»Lügen Sie mich nicht an«, entgegnete der Schulmeister: »er ist bestimmt da.«

»Nein, er ist’s nicht«, erwiderte Nicolaus gekränkt: »das Lügen ist auf Ihrer Seite.«

»Wir wollen bald sehen«, sagte Herr Squeers, die Treppe hinaufstürmend. »Was gilt’s, ich finde ihn!«

Unter dieser Versicherung stürzte Herr Squeers mit zum Schlage geschwungenem Stock in den Schlafsaal und eilte nach dem Winkel, wo der ausgemergelte Körper des Haussklaven gewöhnlich des Nachts lag. Das Rohr flog, ohne Schaden zu tun, nieder, denn das Bett war leer.

»Was soll das heißen?« sagte Squeers, sich mit leichenblassem Gesicht umwendend. »Wo haben Sie ihn versteckt?«

»Ich habe ihn seit gestern abend nicht mehr gesehen«, versetzte Nicolaus.

»Lassen Sie diese Possen«, sagte Squeers, augenscheinlich geängstigt, obgleich er es zu verbergen suchte; »Sie werden ihm auf diese Weise nicht durchhelfen. Wo ist er?«

»Den Vorgängen nach wahrscheinlich auf dem Grunde des nächsten Teiches«, entgegnete Nicolaus leise mit einem scharfen Blicke nach dem Gesicht seines Chefs.

»Zum Teufel, was wollen Sie damit sagen?« erwiderte Squeers in großer Verwirrung. Und ohne auf eine Antwort zu warten, fragte er die Knaben, ob keiner von ihnen etwas von ihrem abhanden gekommenen Schulkameraden wüßte.

Alle murmelten ein ängstliches Nein, und nur eine schrille Stimme ließ laut werden, was in der Tat alle anderen dachten –

»Ich glaube, Sir, Smike ist weggelaufen.«

»Ha!« rief Squeers, sich schnell umwendend; »wer hat das gesagt?«

»Tomkins, Toms, Sir«, entgegnete ein Chor von Stimmen.

Herr Squeers stürzte sich in den Haufen und erwischte im Augenblick einen winzigen Knaben, der noch im Hemdchen dastand, und dessen verwirrter Gesichtsausdruck, als er hervorgeholt wurde, anzudeuten schien, daß er noch ungewiß sei, ob er wohl für seine Vermutung belohnt oder bestraft werden würde. Er blieb jedoch nicht lange im Zweifel.

»Du meinst also, er sei weggelaufen, Bürschchen – he?« fragte Squeers.

»Ja, Sir«, antwortete der kleine Knabe.

»Und welchen Grund, Bürschlein –« sagte Squeers, indem er den kleinen Knaben plötzlich bei den Armen packte und dessen leichte Bekleidung gar gewandt in die Höhe streifte – »welchen Grund hast du für die Annahme, daß ein Knabe aus dieser Anstalt fortlaufen sollte? Nun, Bürschlein, rede!«

Das Kind erhob, statt der Antwort, ein Zetergeschrei, und Herr Squeers, der die günstigste Stellung für die gehörige Anwendung seiner Kräfte annahm, schlug so lange drauf los, bis ihm der arme Knabe in seinen Krümmungen förmlich aus der Hand kugelte, worauf ihm denn der Schulmeister allergnädigst gestattete, so weit wegzurollen, wie er konnte.

»So!« sagte Squeers. »Ist vielleicht noch einer unter euch der Meinung, Smike sei weggelaufen? Es wäre mir recht angenehm, ein Wörtchen mit ihm zu sprechen.«

Natürlich meldete sich niemand, und während des nun folgenden Schweigens legte Nicolaus seine Abscheu so offen, als er es durch Blicke tun konnte, an den Tag.

»Nun, Nickleby«, sagte Squeers mit einem boshaften Blicke nach dem Angeredeten; »vielleicht sind Sie der Meinung, daß er weggelaufen ist?«

»Es scheint mir äußerst wahrscheinlich«, versetzte Nicolaus in dem ruhigsten Tone.

»Ah, Sie halten’s also für höchst wahrscheinlich?« höhnte Squeers. »Vielleicht wissen Sie es sogar gewiß?«

»Ich weiß von nichts der Art.«

»Vermutlich sagte er Ihnen nicht, daß er gehen wollte – oder?« höhnte Squrers.

»Er sagte mir nichts«, entgegnete Nicolaus; »und ich freue mich dessen, da ich es sonst für meine Pflicht gehalten hätte, Sie beizeiten zu warnen.«

»Was Ihnen ohne Zweifel teufelmäßig schwer angekommen wäre«, spöttelte Squeers.

»Allerdings«, erwiderte Nicolaus; »Sie wissen meine Gefühle sehr gut zu deuten.«

Frau Squeers hatte diese Unterhaltung von dem untern Ende der Stiege aus mit angehört; aber nun ging ihr die Geduld aus, und hastig ihren Bettkittel umwerfend, eilte sie nach dem Schauplatze der Handlung.

»Was soll all das heißen?« begann die Dame, als die Knaben nach rechts und links auswichen, um ihr die Mühe zu ersparen, sich mit ihren sehnigen Armen einen Weg zu bahnen. »Um des Himmels willen, was hast du mit diesem da abzumachen, Squeerschen?«

»Ei, mein Schatz«, sagte Squeers, »der Umstand ist, daß man den Smike nirgends auffinden kann.«

»Wohl, ich weiß das«, versetzte die Dame, »aber wie kann man sich darüber wundern? Was ließ sich anders voraussehen, wenn man einen Haufen übermütiger Lehrgehilfen ins Haus nimmt, die die Hunde rebellisch machen? Junger Herr, Sie werden auf der Stelle die Güte haben, sich mit den Knaben in die Schulstube hinunterzupacken und sich dort nicht von der Stelle zu rühren, bis Sie Erlaubnis haben, oder ich und Sie könnten in einer Weise aneinander kommen, in der Ihre Schönheit etwas Not leiden dürfte, so viel Sie sich auch darauf einbilden mögen; das sage ich Ihnen.«

»Wirklich?« sagte Nicolaus lächelnd.

»Ja – wirklich, und noch einmal wirklich, Musje Maulaffe«, polterte die aufgeregte Dame fort; »und wenn es von mir abhinge, so würde ich einen solchen Wicht wie Sie keine Stunde mehr im Hause behalten.«

»Das sollten Sie auch nicht, wenn es von mir abhinge«, entgegnete Nicolaus. »Kommt, Kinder!«

»Ja, kommt, Kinder«, belferte Frau Squeers weiter, indem sie, so gut sie konnte, die Stimme und das Benehmen des Unterlehrers nachäffte. »Folgt eurem Führer und nehmt euch Smike zum Beispiel, wenn ihr das Herz habt. Aber seht zu, was er vor sich bringen wird, wenn er wieder hier ist, und denkt an das, was ich sage: es soll euch ebenso schlimm und zweimal so schlimm ergehen, wenn ihr nur das Maul über ihn auftut.«

»Wenn ich ihn erwische, so will ich nicht eher von ihm ablassen, als bis ich ihn lebendig geschunden habe – merkt’s euch, ihr Buben!«

»Wenn du ihn erwischst?« entgegnete Madame Squeers verächtlich. »Ist hieran auch nur zu zweifeln, wenn du den rechten Weg einschlägst? – Marsch, fort mit euch!«

Mit diesen Worten entließ Frau Squeers die Knaben, und nach einigen Püffen auf die letzten, die vorwärts drückten, um aus dem Bereich der Fäuste dieser liebenswürdigen Dame zu kommen, aber einige Augenblicke durch das Gedränge vorn aufgehalten wurden, gelang es ihr, das Zimmer zu reinigen, um nun mit ihrem Gatten allein das Nötige zu beraten.

»Er ist wirklich fort«, sagte Frau Squeers. »In den Ställen kann er nicht sein, da sie verschlossen sind, und ebensowenig ist er unten im Haus, denn das Mädchen hat alles durchsucht. Er muß York zugegangen sein, und zwar auf einer der Landstraßen.«

»Warum denn das?«

»Dummkopf!« entgegnete Frau Squeers verdrießlich. »Er hatte doch kein Geld bei sich?«

»Er hat meines Wissens in seinem ganzen Leben keinen Heller besessen«, entgegnete Squeers.

»Nun ja«, versetzte Frau Squeers; »und etwas zum Essen hat er auch nicht mitgenommen, dafür kann ich stehen. Ha! ha! ha!«

»Ha! ha! ha!« stimmte Herr Squeers ein.

»Er muß sich also natürlich durch Betteln fortbringen«, setzte Frau Squeers weiter auseinander, »und das kann er nirgends als an der Landstraße.«

»Das ist wahr«, rief Squeers, die Hände zusammenschlagend.

»Allerdings wahr, aber dir wäre es in deinem ganzen Leben nicht eingefallen, wenn ich’s nicht gesagt hätte«, bedeutete ihm seine Gattin. »Du nimmst jetzt deinen Einspänner und fährst den einen Weg, während ich Swallows Wagen borge und den andern einschlage. Wenn wir dann nur unsere Augen offen behalten und bei den Leuten Nachfrage anstellen, so muß er notwendig dir oder mir wieder in die Hände fallen.«

Der Plan der würdigen Dame fand Beifall und wurde ohne die mindeste Zögerung in Vollzug gesetzt.

Sie nahmen in aller Eile ein Frühstück zu sich, stellten im Dorfe einige Nachfragen an, deren Ergebnis anzudeuten schien, daß sie auf der rechten Spur wären, und nun brach Herr Squeers rachgierig mit seinem Einspänner auf. Bald nachher schlug Frau Squeers, mit ihrem weißen Kapuzenmantel aufgeputzt und in eine Menge von Halstüchern eingehüllt, in einem andern Wagen eine andere Richtung ein, indem sie zugleich einen tüchtigen Knüttel, einige feste Stricke und einen stämmigen Arbeiter mit sich nahm. Alle diese Vorkehrungen hatten den einzigen Zweck, bei der Habhaftwerdung des unglücklichen Smike Dienste zu leisten und denselben, sobald man ihn hätte, in sichere Verwahrung zu bringen.

Nicolaus blieb in einem Sturm von Gefühlen zurück; denn er wußte wohl, daß aus der Flucht des Knaben nur schmerzliche und bedauerliche Folgen hervorgehen konnten, mochte sie nun gelingen oder nicht. Tod aus Mangel an Nahrung und Obdach war noch das Beste, was einem so armen und hilflosen Geschöpf, das allein und freundlos durch eine ihm vollkommen unbekannte Gegend wanderte, auf einem längeren Marsche erwachsen mußte. Es war vielleicht eine schlechte Wahl zwischen diesem Schicksal und einer Rückkehr zu den Wohltaten der Yorkshirer Schule. Aber das unglückliche Wesen hatte sich so sehr sein Mitleid und seine Teilnahme gewonnen, daß Nicolaus das Herz blutete, wenn er der Leiden gedachte, die das Schicksal über den armen Smike verhängen mochte. Er malte sich in unablässiger Beängstigung tausend Möglichkeiten aus, bis am Abend des nächsten Tages Herr Squeers allein, und ohne seinen Zweck erreicht zu haben, zurückkehrte.

»Nichts Neues von dem Ausreißer?« fragte der Schulmeister, der augenscheinlich, seinem alten Grundsatz zufolge, während der Fahrt nicht selten seine Beine gestreckt hatte. »Nun, ich will mich dafür an irgend jemand trösten, Nickleby, wenn meine Frau ihn aufjagt; verlassen Sie sich darauf.«

»Es ist nicht in meiner Macht, Sie zu trösten, Sir«, versetzte Nicolaus. »Die Sache geht mich nichts an.«

»So?« entgegnete Herr Squeers in drohendem Tone. »Wir wollen sehen.«

»Sei’s drum«, erwiderte Nicolaus.

»Das Pferd hat sich aufgerieben, so daß ich mit einem Mietgaule heimkehren mußte – kostet fünfzehn Schillinge, außer den andern Ausgaben«, sagte Squeers. »Wer wird mich dafür entschädigen – he?

Nicolaus zuckte die Achseln und schwieg.

»Ich sage Ihnen, einer soll’s mir tun«, fuhr Squeers fort, indem er seine gewöhnliche rauhe und verschmitzte Weise mit dem Tone einer offenen Herausforderung vertauschte. »Nichts da mit Ihren greinenden Grillen, Musje Hasenfuß, sondern fort mit Ihnen nach Ihrem Loche, wo Sie schon lange sein sollten. Marsch, hinaus!«

Nicolaus biß sich in die Lippen und ballte unwillkürlich seine Fäuste, denn es prickelte ihn bis in die Fingerspitzen, diese Beleidigung zu rächen; aber er erinnerte sich, daß der Mann betrunken war und daß die Sache zu nichts als zu einem ärgerlichen Auftritt führen konnte, und so begnügte er sich, einen Blick der Verachtung auf den armseligen Tyrannen zu werfen, und ging stolzen Trittes die Stiegen hinauf, obgleich er nicht ohne Ärger bemerken mußte, daß Fräulein Squeers, der junge Squeers und das Dienstmädchen sich aus einer Ecke heraus über den Auftritt lustig machten. Die beiden erstern ergingen sich in manchen erbaulichen Bemerkungen über den Dünkel armer Emporkömmlinge und begleiteten diese mit einem schallenden Gelächter, worin sogar das armseligste aller armseligen Dienstmädchen mit einstimmte, wahrend Nicolaus, bis aufs Innerste verletzt, das bischen Bettzeug, das er hatte, über den Kopf zog und den festen Entschluß faßte, die zwischen ihm und Herrn Squeers aufgelaufene Rechnung um ein ziemliches früher auszugleichen, als der letztere wohl ahnen mochte.

Nicolaus war am nächsten Morgen kaum erwacht, als er einen Wagen auf das Haus zurasseln hörte. Sie machte halt. Man vernahm die Stimme der Frau Squeers, die mit einem Frohlocken, das allein schon hinreichend andeutete, daß irgend etwas Außerordentliches vorgefallen war, ein Glas Branntwein für irgend jemand verlangte. Nicolaus getraute sich kaum, zu dem Fenster hinauszusehen; aber er tat es endlich doch, und der erste Gegenstand, der seinen Augen begegnete, war der unglückliche Smike, aber so durchnäßt und beschmutzt, so abgemagert und verwildert, daß man wohl seine Identität hätte bezweifeln können, wenn sie nicht durch seine Kleider, die von einer Art waren, wie man sie nicht einmal an einer Vogelscheuche sieht, zur Genüge wäre dargetan worden.

»Heraus mit ihm!« rief Squeers, nachdem er seine Augen schwelgend auf dem Schuldigen hatte haften lassen. »Bringt ihn herein, bringt ihn herein!«

»Sich dich vor«, sagte Frau Squeers, als ihr Gatte seinen Beistand anbot; »wir haben seine Beine in dem Korbe festgebunden, damit er uns nicht wieder entkomme.«

Mit vor Entzücken zitternden Händen löste Squeers den Knoten des Strickes, und Smike, der mehr tot als lebendig war, wurde, nachdem man ihn ins Haus gebracht hatte, zur sichern Verwahrung in einen Keller gesteckt, um seinerzeit wieder hervorgezogen zu werden, wenn es Herrn Squeers geeignet scheinen sollte, die Operation in Gegenwart der ganzen Schule an ihm vorzunehmen.

Bei einer flüchtigen Erwägung der Umstände dürfte es vielleicht überraschen, daß Herr und Frau Squeers sich so viele Mühe gaben, um wieder in den Besitz einer Last zu kommen, über die sie sich so laut zu beklagen gewöhnt waren. Man wird sich jedoch nicht mehr wundern, wenn man weiß, daß die mannigfachen Dienste des Haussklaven, wenn sie von jemand anders verrichtet werden mußten, der Anstalt doch auch zehn oder zwölf Schillinge Wochenlohn kosteten; und zudem forderte es die Politik von Dotheboys Hall, daß an allen Ausreißern stets ein strenges Exempel statuiert wurde, sintemalen die Reize der Anstalt zu wenig Anziehungskraft besaßen, um einen Zögling, der mit der gewöhnlichen Anzahl von Beinen und mit der Macht, sie zu gebrauchen, versehen war, anders als durch den mächtigen Hebel der Furcht zurückzuhalten.

Die Neuigkeit, daß Smike wieder aufgegriffen und im Triumph zurückgebracht worden wäre, verbreitete sich wie ein Lauffeuer unter den ausgehungerten Zöglingen der Anstalt, und alles war den ganzen Morgen über in der gespanntesten Erwartung. Diese sollte jedoch erst am Nachmittag befriedigt werden; denn Squeers erschien, nachdem er sich durch sein Mittagessen erfrischt und noch überdies durch einen Extratrunk gehörig gekräftigt hatte, von seiner liebenswürdigen Ehehälfte begleitet, mit gar bedeutsamem Gesicht und einem schrecklichen Geißlungsinstrumente, stark, biegsam, unten gewichst und nagelneu – mit einem Wort, erst am Morgen für den gegenwärtigen Fall angekauft.

»Sind alle Knaben hier?« fragte Squeers mit einer Donnerstimme.

Es waren alle hier, aber keiner hatte den Mut zu sprechen. Squeers ließ daher seinen Blick an den Reihen hinuntergleiten, und wo dieser hinfiel, senkten sich die Augen oder duckten sich die Köpfe.

»Jeder bleibe an seinem Platz«, sagte Squeers, mit dem Stock auf das Pult schlagend, indem er zugleich mit düsterem Wohlbehagen das allgemeine Auffahren betrachtete, das gewöhnlich dieser seiner Lieblingsostentation folgte. »Nickleby, an Ihr Pult!«

Mehr als einer der kleinen Zuschauer hatte bemerkt, daß ein sehr seltsamer und ungewöhnlicher Ausdruck auf dem Gesicht des Unterlehrers lag, obgleich er, ohne die Lippen zu einer Antwort zu öffnen, seinen Sitz einnahm. Squeers warf einen Blick des Triumphs auf seinen Gehilfen und einen des unumschränktesten Despotismus auf die Knaben, verließ das Zimmer und kam bald darauf mit Smike wieder zurück, den er am Rockkragen oder vielmehr an jenem Jackenüberreste hereinzerrte, der der Stelle am nächsten war, wo der Kragen hätte sitzen müssen, wenn sich die Brustbekleidung des Knaben einer solchen Zierde hätte rühmen können.

An jedem andern Orte würde die Erscheinung des elenden, abgehetzten und mutlosen Delinquenten ein Gemurmel des Mitleids und der Einsprache veranlaßt haben. In der Tat übte sie auch selbst hier einige Wirkung; denn die Zuschauer bewegten sich unruhig auf ihren Sitzen, und einige der kühnsten wagten es sogar, sich gegenseitig verstohlene Blicke der Entrüstung und des Mitleids zuzuwerfen.

So etwas war jedoch bei Squeers verloren, der sein Auge fest auf den unglücklichen Smike heftete und diesen nach der in solchen Fällen hergebrachten Gewohnheit fragte, ob er etwas zu seinen Gunsten vorzubringen hätte.

»Du wirst wohl nichts wissen?« schloß Squeers mit einem teuflischen Grinsen.

Smike blickte umher, und sein Auge ruhte einen Moment auf Nicolaus, als erwarte er von ihm eine Einmischung; aber dieser hatte seinen Blick fest auf das Pult geheftet.

»Hast du noch etwas zu sagen?« fragte Squeers abermals und schwang dabei seinen rechten Arm zwei- oder dreimal durch die Luft, als wolle er dessen Gewandtheit und Kraft prüfen. »Tritt ein wenig beiseite, liebe Frau, denn ich werde Raum genug brauchen.«

»Ach, haben Sie Barmherzigkeit mit mir, Sir«, rief Smike.

»Ah, ist das alles?« sagte Squeers. »Ja, ich will Barmherzigkeit mit dir haben und dich peitschen, bis dir das Herz stille steht und ich den Arm nicht mehr rühren kann.«

»Ha! ha! ha!« lachte Frau Squeers. »Das ist gut – das ist gut.«

»Man hat mich mit Gewalt so weit gebracht«, entgegnete Smike mit schwacher Stimme, indem er abermals einen flehenden Blick um sich warf.

»So, du wurdest mit Gewalt dazu getrieben?« erwiderte Squecrs. »Ah, es war also nicht deine Schuld, sondern vermutlich die meinige?«

»Du unstetiger, undankbarer, schweinsköpfiger, viehischer, störrischer, kriechender Hund«, rief Madame Squeers, indem sie Smikes Kopf unter ihren Arm nahm und ihm bei jedem Beiworte einen Rippenstoß versetzte; »was willst du damit sagen?«

»Tritt ein wenig auf die Seite, meine Liebe«, sagte Squeers. »Wir wollen sehen, ob wir’s herauskriegen.«

Frau Squeers, die durch ihre Anstrengungen bereits atemlos geworden war, willfahrte. Herr Squeers packte den Jungen fest. Ein Hieb aus Leibeskräften fiel auf den Körper des armen Jungen nieder, der sich unter dem Streiche krümmte und vor Schmerz winselte. Es wurde noch einmal ausgeholt, und abermals sollte ein Schlag fallen, als Nicolaus Nickleby plötzlich aufsprang und mit einer Stimme, daß die Decke dröhnte, ›halt!‹ schrie.

»Wer rief ›halt‹?« tobte Squeers mit einem wilden Blick rückwärts.

»Ich«, sagte Nicolaus, vorwärtstretend. »So darf nicht fortgefahren werden!«

»Darf nicht fortgefahren werden?« kreischte Squeers.

»Nein!« donnerte Nicolaus.

Erstarrt ob der Verwegenheit dieser Einrede, ließ Squeers Smike fahren, trat ein paar Schritte zurück und sah Nicolaus mit in der Tat fürchterlichen Blicken an.

»Ich sage, es darf nicht!« wiederholte Nicolaus, ohne sich einschüchtern zu lassen, – »und soll nicht! Ich dulde es nicht.«

Squeers fuhr fort, ihn mit Augen, die fast aus ihren Höhlen sprangen, anzustieren, denn das Erstaunen hatte ihn wirklich für den Augenblick der Sprache beraubt.

»Sie haben mein ruhiges Fürwort für den Jungen nicht beachtet«, sagte Nicolaus, »und auch den Brief keiner Antwort gewürdigt, in dem ich für ihn um Verzeihung bat und meine Bürgschaft anbot, daß er ruhig hierbleiben würde. Sie können mir daher dieses öffentliche Einschreiten nicht zum Vorwurf machen, da Sie es nur sich selbst, nicht mir zuzuschreiben haben.«

»Geh an deinen Platz, armseliger Bettelbube«, schrie Squeers, fast außer sich vor Wut, indem er abermals nach Smike griff.

»Elender«, entgegnete Nicolaus heftig; »wenn Sie ihn anrühren, so geschieht es auf Ihre eigene Gefahr. Ich werde nicht untätig zusehen. Mein Blut kocht, und ich habe die Kraft von zehn solchen Menschen, wie Sie. Nehmen Sie sich in acht, denn bei Gott, ich werde Sie nicht schonen, wenn Sie mich aufs äußerste treiben.«

»Zurück!« schrie Squeers, mit seiner Waffe ausholend.

»Ich habe eine lange Reihe von Beleidigungen zu rächen«, erwiderte Nicolaus zornrot, »und meine Erbitterung wird noch erhöht durch die feige Grausamkeit, die man in dieser scheußlichen Höhle an hilflosen Kindern verübt. Sehen Sie sich vor; denn wenn Sie den Teufel in mir wecken, so werden die Folgen davon schwer auf Ihr eigenes Haupt fallen.«

Er hatte kaum ausgesprochen, als Squeers in einem heftigen Wutausbruch und mit einem Schrei, ähnlich dem Geheul einer wilden Bestie, den Hilfslehrer anspie und ihm mit seinem Peinigungsinstrumente einen Schlag über das Gesicht versetzte, der, wo er hinfiel, eine rote Wulst zurückließ. In diesem Augenblick drängten sich alle Gefühle von Wut und Verachtung in Nicolaus‘ Seele zusammen; er sprang auf, entriß die Waffe Squeers‘ Händen, packte den Schurken an der Kehle und zerbläute ihn, bis er um Gnade brüllte.

Die Knaben – mit Ausnahme des jungen Squeers, der seinem Vater zu Hilfe kam und den Feind im Nacken angriff – rührten weder Hand noch Fuß. Aber Madame Squeers hängte sich unter fortwährendem Schreien nach Hilfe an den Rockschoß ihres Gemahls und mühte sich, ihn den Händen seines wütenden Gegners zu entreißen, während Fräulein Squeers, die in der Erwartung einer ganz anderen Szene durch das Schlüsselloch gelauscht hatte, gerade im Augenblick des beginnenden Angriffs hereinstürzte und, nachdem sie dem Unterlehrer eine Menge Tintenfässer an den Kopf geworfen hatte, nach Herzenslust von hinten auf ihn losschlug, indem sie sich zu jedem Streiche durch die Erinnerung an die Verschmähung ihrer Liebe ermutigte, und so einem Arme, der (da sie in dieser Beziehung ihrer Mutter nachartete) ohnehin nicht der schwächste war, noch mehr Kraft verlieh.

Nicolaus empfand jedoch in dem vollen Strome seiner Leidenschaft die Schläge nicht stärker, als ob sie mit Federn ausgeteilt würden. Endlich aber wurde er des Lärmens und des Aufruhr müde, und da noch außerdem sein Arm erlahmte, so vereinigte er alle ihm noch zu Gebote stehenden Kräfte zu einem halben Dutzend Schlußhieben und schleuderte Squeers mit aller Gewalt von sich. Die Macht des Stoßes riß auch Madame Squeers mit sich fort und stürzte sie gegen eine im Weg liegende Bank, gegen die Herr Squeers im Fallen so kräftig anstieß, daß er der ganzen Länge nach betäubt und regungslos auf dem Boden lag.

Als Nicolaus das Werk in dieser Weise glücklich zu Ende gebracht und sich zu seiner völligen Beruhigung überzeugt hatte, daß Squeers nicht tot – über welchen Punkt er im Anfang einige unbehagliche Zweifel empfand –, sondern nur betäubt war, überließ er dessen Wiederherstellung seiner Familie und entfernte sich, um zu überlegen, welcher Weg jetzt wohl der geeignetste für ihn sein dürfte. Er sah sich, als er das Zimmer verließ, ängstlich nach Smike um, aber er konnte ihn nirgends entdecken.

Nach einer kurzen Überlegung packte er seine wenigen Kleider in ein kleines ledernes Felleisen, ging, da sich niemand seinem Abzuge in den Weg stellte, kühn durch die vordere Tür und bog bald nachher in den Weg ein, der nach Greta Bridge führte.

Als er hinreichend abgekühlt war, um über seine dermaligen Verhältnisse ein wenig nachzudenken, erschienen sie ihm freilich nicht in einem sehr ermutigenden Lichte, denn er hatte nur vier Schillinge und einige Pence in der Tasche und war etwas mehr als zweihundertundfünfzig Meilen von London entfernt, wohin er zuvorderst seine Schritte zu lenken willens war, um sich unter anderem auch zu erkundigen, wie Herr Squeers wohl die Vorgänge dieses Tages seinem liebevollen Onkel vortragen würde.

Diese Betrachtungen führten leider zu dem traurigen Schlusse, daß es bei der dermaligen unglücklichen Sachlage keine Hilfsquelle für ihn gebe; und als er da zufällig seine Augen aufrichtete, sah er auf einmal einen Mann auf sich zureiten, in dem er beim Näherkommen zu seinem großen Verdruß niemand anderen als Herrn Johann Browdie erkannte, der in lederbesetzten Beinkleidern auf seinem Tier saß und dasselbe mittelst eines starken Stockes, den er kurz zuvor von irgendeiner jungen stämmigen Esche abgeschnitten zu haben schien, vorwärtstrieb.

»Es gelüstet mich nicht nach weiterem Lärmen und Zank«, dachte Nicolaus, »und doch wird mir, ich mag es machen, wie ich will, wahrscheinlich noch ein Wortwechsel mit diesem ehrlichen Dummkopf, vielleicht auch der eine oder der andere Streich von jenem Stock blühen.«

Wirklich schien auch einiger Grund vorhanden zu sein, von dieser Begegnung einen solchen Ausgang zu erwarten; denn Johann Browdie hatte kaum Nicolaus des Weges herziehen sehen, als er sein Pferd auf den Fußweg trieb und so lange harrte, bis jener herankam, wobei er unablässig zwischen den Ohren seines Pferdes hindurch nach Nicolaus sah, der gemächlich einherschritt.

»Gehorsamer Diener, junger Herr«, sagte Johann.

»Gleichfalls«, entgegnete Nicolaus.

»Nun, wir haben uns endlich getroffen«, bemerkte Johann, indem er mit seinem Eschenstock an den Steigbügel schlug, daß dieser erklirrte.

»Ja«, versetzte Nicolaus stockend. »Doch –« fuhr er nach einer augenblicklichen Pause freimütig fort – »wir sind, als wir uns das letzte Mal sahen, nicht unter den freundlichsten Verhältnissen voneinander geschieden. Es war, glaube ich, meine Schuld, aber ich hatte nicht die Absicht, Sie zu beleidigen, und ließ mir’s auch nicht träumen, daß Sie sich beleidigt fühlen könnten. Es hat mir nachher sehr leid getan. Wollen wir gegenseitig die Sache vergleichen und uns die Hand zur Versöhnung reichen?«

»Die Hand zur Versöhnung reichen?« rief der gutmütige Yorkshirer; »nun denn, da bin ich auch dabei.« Er beugte sich sofort vom Sattel nieder und drückte Nicolaus‘ Hand kräftig. »Aber was hast du in deinem Gesicht, Mensch? Es sieht ja aus wie zerbläut!«

»Es ist ein Schlag«, entgegnete Nicolaus hocherrötend; »aber ein Schlag, den ich dem Geber mit reichlichen Zinsen wieder zurückerstattete.«

»Ach was, das haben Sie getan?« rief Johann Browdie. »Recht so. Sie gefallen mir darum.«

»Ich wurde nämlich mißhandelt«, entgegnete Nicolaus, der nicht recht wußte, wie er sein Zugeständnis einleiten sollte.

»O je!« fiel Johann Browdie in einem Ton des Mitleids ein, denn er war ein Riese an Kraft und Gestalt, und Nicolaus mochte in seinen Augen wohl nur wie ein Zwerg erscheinen; »sagen Sie mir das nicht.«

»Es ist leider so«, erwiderte Nicolaus, »und zwar von jenem schuftigen Squeers; ich habe ihn aber gesund abgedroschen und darauf sein Haus verlassen.«

»Was!« schrie Johann Browdie in einer solchen Wonne, daß sein Pferd darüber scheute; »den Schulmeister abgedroschen! Wer hat je etwas der Art gehört? Gib mir noch einmal deine Hand, Kamerad! Den Schulmeister abgedroschen! Zum heiligen Donnerwetter, ich möchte dich darum küssen.«

Unter diesen Ausbrüchen des Entzückens lachte Johann Browdie wiederholt so laut, daß das Echo weit und breit nur die jovialen Töne der Heiterkeit zurückgab, wobei der Kornhändler die Hand des Hilfslehrers mit der größten Herzlichkeit drückte. Als sich seine Lachlust gelegt hatte, fragte er Nicolaus, was er jetzt zu tun gedächte, schüttelte jedoch auf die Mitteilung, daß er schnurstrack nach London wolle, bedenklich den Kopf und meinte, er werde wohl nicht wissen, wie viel die Eilwagen für eine so weite Fahrt verlangten.

»Ich weiß es allerdings nicht«, versetzte Nicolaus; »es kommt aber auch nicht sonderlich in Betracht, da ich im Sinn habe, meine Reise zu Fuß zu machen.«

»Eine Reise nach London zu Fuß?« rief der Kornhändler verwundert.

»Jeden Schritt des Wegs«, entgegnete Nicolau«. »Ich hätte aber, statt hier zu stehen, schon eine schöne Strecke hinter mich bringen können; und somit Gott befohlen!«

»Nicht doch«, erwiderte der ehrliche Landmann, sein ungeduldiges Pferd zügelnd; »halt noch ein wenig, sag‘ ich. Wieviel Geld hast du in deiner Tasche?«

»Nicht viel«, antwortete Nicolaus errötend! »aber ich muß es eben zu strecken suchen. Kräftiger Wille kann viel ausrichten.«

Johann Browdie machte nicht viel Worte, sondern steckte die Hand in seine Tasche, zog einen alten, abgenutzten, ledernen Geldbeutel hervor und bestand darauf, daß Nicolaus so viel von ihm borgen müsse, als er zu seinem gegenwärtigen Bedürfnis für nötig erachte.

»Brauchst dich nicht zu schämen, Mann«, sagte er. »Nimm so viel, als du zum Heimkommen nötig hast. Ich habe keine Sorge; du wirst’s mir schon einmal wieder bezahlen.«

Nicolaus ließ sich jedoch durchaus nicht bewegen, mehr als eine Guinee anzunehmen, mit welchem Anlehen Herr Browdie sich nach vielem Drängen, daß er besser zugreifen solle, begnügen mußte, obgleich er seinem Freunde, nicht ohne einen Anflug von Yorkshirer Bedachtsamkeit, vorgestellt hatte, daß er das, was er nicht ausgebe, ja aufbewahren könne, bis sich eine Gelegenheit finde, es ohne Porto zurückzusenden.

»Nimm auch diesen Stecken mit, daß er dir auf deinem Wege forthelfe, Kamerad«, fügte er hinzu, indem er seinen Eschenstock Nicolaus hinreichte und ihm noch einmal die Hand drückte. »Bewahre dir einen guten Mut, und Gott sei dein Geleitsmann. Den Schulmeister geprügelt! Bei Gott, das ist das Beste, was ich in zwanzig Jahren gehört habe.«

Nach diesen Worten brach Johann Browdie mit mehr Zartgefühl, als man von ihm erwartet hätte, aufs neue in ein lautes Gelächter aus, um nicht auf Nicolaus‘ Dankergießungen achten zu müssen; dann gab er seinem Pferde die Sporen und ritt in scharfem Trab davon, indem er sich noch hin und wieder nach Nicolaus umsah und ihm freudig mit der Hand zuwinkte, als wolle er ihm zu seiner Reise Mut zusprechen, während dieser stehen blieb und seinem Wohltäter nachblickte, bis Roß und Reiter hinter dem Kamm eines fernen Hügels verschwunden waren; dann setzte er seinen Weg fort.

Er kam an diesem Abend nicht mehr weit; denn es war inzwischen dunkel geworden, und da es stark geschneit hatte, so war der Weg nicht nur sehr mühsam, sondern auch in der Nacht für jemanden, der die Gegend nicht genau kannte, unsicher und schwer aufzufinden. Er blieb in einer Hütte über Nacht, wo für Wanderer der geringeren Klassen Betten zu wohlfeilem Preise zu haben waren, stand am andern Morgen zeitig auf und kam noch vor Einbruch der Nacht nach Boroughbridge. Als er durch diese Stadt ging, um irgendein wohlfeiles Nachtlager aufzufinden, traf er ein paar hundert Ellen von der Straße seitwärts eine leere Scheune, in der er sich eine warme Decke aussuchte, seine müden Glieder ausstreckte und bald in einen gesunden Schlaf verfiel.

Als er des andern Morgens erwachte und seine Träume, die alle mit seinem kürzlichen Aufenthalt zu Dotheboys Hall in Verbindung standen, ins Gedächtnis zurückzurufen versuchte, setzte er sich auf, rieb die Augen und starrte – wahrscheinlich nicht in der größten Fassung – auf irgendeinen unbeweglichen Gegenstand, der einige Ellen vor ihm zu stehen schien.

»Sonderbar!« rief Nicolaus. »Sollte das noch unter die Traumgebilde gehören, die mich eben verlassen haben? Es kann nicht wirklich sein – und doch – ich bin wach – Smike?«

Die Gestalt bewegte sich, stand auf, trat näher und ließ sich bei seinen Außen auf die Knie nieder. Es war wirklich Smike.

»Warum kniest du vor mir?« sagte Nicolaus, ihn hastig aufhebend.

»Damit Sie mir erlauben, mit Ihnen zu gehen, – überall hin – bis an der Welt Ende – bis ins Grab«, versetzte Smike, seine Hand umfassend. »O gestatten Sie mir’s! Sie sind meine Heimat – mein einziger Freund – nehmen Sie mich mit sich, ich bitte.«

»Aber dieser Freund kann wenig für dich tun«, sagte Nicolaus sanft. »Wie kommst du hierher?«

Der arme Bursche hatte, wie es schien, Nicolaus‘ Spur verfolgt, ihn auf dem ganzen Wege nie aus dem Gesicht verloren, und stets auf ihn acht gegeben, wenn er schlief oder eine Erfrischung einnahm, aber immer sich gescheut, vor ihm zu erscheinen, damit er nicht wieder zurückgeschickt werden möchte. Es war auch nicht seine Absicht, schon jetzt hervorzutreten, aber Nicolaus war früher erwacht, als er vermutet hatte, und so hatte er keine Zeit mehr gehabt, sich zu verbergen.

»Armer Junge«, sagte Nicolaus; »dein hartes Geschick versagt dir Freunde, bis auf einen einzigen, und dieser ist beinahe so arm und hilflos wie du selbst.«

»Darf ich – darf ich mit Ihnen gehen«, sagte Smike schüchtern. »Ich will keine Mühe scheuen und Ihr treuer Diener sein. Ich brauche keine Kleider«, fügte das arme Geschöpf bei, indem es seine Lumpen zusammenzog, »da ich mit diesen gut ausreiche. Es fehlt mir daher nichts, als in Ihrer Nähe zu sein.«

»Und das sollst du!« rief Nicolaus. »Wir wollen unser Geschick teilen, bis einer von uns diese Welt mit einer bessern vertauscht. So komm denn!«

Mit diesen Worten warf er sein Ränzel auf den Rücken, nahm seinen Stock in die eine Hand, reichte die andere dem entzückten Smike, und so verließen beide miteinander die Scheune.

Vierzehntes Kapitel.


Vierzehntes Kapitel.

Hat das Unglück, nur von gewöhnlichen Leuten zu handeln, und ist daher notwendigerweise gleichfalls von niedrigem und gewöhnlichem Charakter.

In dem Teil von London, wo Golden Square liegt, gibt es eine alte verfallene Straße mit zwei unregelmäßigen Reihen hoher, schmaler Häuser, die sich gegenseitig so lange angestarrt zu haben scheinen, daß sie schon seit Jahren ganz außer Fassung sind. Selbst die Schornsteine sind düster und melancholisch geworden, da sie nichts Besseres anzusehen haben als die Schornsteine über der Straße. Sie sind brüchig, zerrissen und von Rauch geschwärzt, und hin und wieder scheint ein über die anderen hervorragender Kamin, der sich schwerfällig auf die eine Seite neigt und schon halb über das Dach herabgestürzt ist, für die Vernachlässigung eines halben Jahrhunderts durch Zerschmetterung der in tiefer liegenden Dachstübchen wohnenden Leute Rache nehmen zu wollen.

Das Geflügel, das in den Gossen herumpickt und in der trübseligen Londoner Manier, die ein Hahn oder eine Henne vom Dorfe nur verblüfft mit ansehen könnte, umherhüpft, steht in vollkommenem Einklang mit den baufälligen Wohnungen seiner Eigentümer. Schmutzig, halb entfiedert und schläfrig wird es, wie viele Kinder in der Nachbarschaft, auf die Straßen hinausgeschickt, um selbst seinen Lebensunterhalt zu suchen; und so hüpfen denn die armen Tiere von Stein zu Stein, um irgend etwas Freßbares aus dem Kot herauszusuchen, was sie jedoch so ärmlich nährt, daß die Hähne nicht einmal zu krähen vermögen. Der einzige, der noch etwas hat, was einer Stimme ähnelt, ist ein alter Hahn in dem Hause eines Bäckers, und selbst der ist infolge der schlechten Kost bei seinem früheren Herrn heiser geworden.

Dem Umfang der Häuser nach zu schließen, müssen sie ehedem reichere Besitzer als ihre gegenwärtigen gehabt haben. Jetzt aber werden die Stockwerke oder einzelnen Zimmer wochenweise vermietet, und jede Haustür hat fast so viele Namentäfelchen oder Klingelgriffe, wie sich Gemächer im Innern befinden. Die Fenster bieten aus demselben Grunde einen hinreichend wechselnden Anblick dar, da sie mit jeder denkbaren Art von Fensterschirmen und Vorhängen geziert sind, während jede Hausflur verbarrikadiert und gleichsam unwegsam gemacht wird durch bunte Haufen von Kindern und von Porterkrügen von jeder Größe; denn man trifft hier den Säugling auf dem Arm und das Halblotkännchen, bis zu dem erwachsenen Mädchen und dem halben Gallonenkrug.

An der Tür eines dieser Häuser, das vielleicht schmutziger als irgendeines seiner Nachbarn war, auch mehr Klingelgriffe, Kinder und Porterkrüge zeigte, und den Qualm eines dicken Rauches, der Tag und Nacht aus einer großen, nebenanliegenden Brauerei aufstieg, von der ersten Hand hatte, klebte ein Zettel mit der Anzeige, daß in seinen Mauern noch ein Zimmer zu vergeben sei, obgleich es die Macht des besten Rechnungsschülers überstiegen haben würde, den Stock, in dem sich das zu vermietende Zimmer befand, auszumitteln, wenn er die äußeren Merkmale der vielen Bewohner ins Auge faßte, die die ganze Front des Hauses, von der Wäschemangel an dem Küchenfenster an bis zu den Blumentöpfen der Dachstube hinauf in Rechnung stellte.

Vor der gemeinschaftlichen Treppe dieses Hause lag keine Strohmatte. Wenn aber ein Neugieriger bis zum Giebel hinaufklomm, so konnte er bemerken, daß es, je höher er hinaufkam, nicht an Merkmalen der zunehmenden Armut fehlte, obgleich die Zimmer der Bewohner verschlossen waren. So hatten die im ersten Stock, die mit Möbeln reichlich versehen waren, einen alten Mahagonitisch – von wirklichem Mahagoni – im Pesel stehen, der nur in das Zimmer durfte, wenn es die Gelegenheit erforderte. Im zweiten Stock sank das überflüssige Hausgerät auf ein paar alte tannene Stühle herab, von denen der eine zu einem Hintergemach gehörte, eines Beines und der Lehne beraubt war. Der dritte Stock konnte sich keines weiteren entbehrlichen Möbels rühmen als eines wurmstichigen Waschzubers; und die Flur des Gelasses unter dem Dache zeigte keine kostbareren Gegenstände als zwei beschädigte Wasserkrüge und einige zerbrochene Wichseschachteln.

In diesem Dachgemach bückte sich ein ältlicher, schäbig gekleideter Mann mit harten Zügen und breitem Gesicht, um die Tür des nach vorn hinausgehenden Stübchens zu öffnen, in das er mit der Miene des gesetzlichen Eigentümers eintrat, nachdem er mit dem Geschäft, einen verrosteten Schlüssel in dem noch mehr verrosteten Schlosse umzudrehen, zustande gekommen war.

Der Mann trug eine Perücke mit kurzen, groben, roten Haaren, die er mit seinem Hut zugleich abnahm und an einen Nagel hängte. Nachdem er diese Kopfbedeckung durch eine schmutzige baumwollene Nachtmütze ersetzt und im Dunkeln nach einem Lichtstümpfchen umhergetappt hatte, klopfte er an die Wand, die die beiden Dachstuben trennte, und fragte mit lauter Stimme, ob Herr Noggs Licht hätte.

Die zurückkommenden Töne waren zwar durch die mit Mörtel beworfene hölzerne Wand gedämpft, es schien übrigens noch außerdem, als ob sie aus dem Innern eines Kruges oder eines andern Trinkgefäßes kamen. Jedenfalls war es aber Newmans Stimme und die Antwort eine bejahende.

»Eine garstige Nacht, Herr Noggs«, sagte der Mann in der Nachtmütze, als er in das Gemach des anderen trat, um sein Licht anzuzünden.

»Regnet es?« fragte Newman.

»Ob es regnet?« versetzte der erstere verdrossen. »Ich bin bis auf die Haut durchnäßt.«

»Es braucht nicht viel, uns beide bis auf die Haut zu durchnässen, Herr Crowl«, sagt Newman, indem er seine Hand auf den Ärmel seines fadenscheinigen Rocks legte.

»Um so ärgerlicher«, sagte Herr Crowl in demselben verdrossenen Tone.

Der Mann, dessen rauhe Züge die eingefleischteste Selbstsucht ausdrückten, brummte noch eine Weile, sich beschwerend, fort, bedeckte das spärliche Feuer so mit Brennmaterial, daß es fast erstickte, trank das Glas, das ihm Noggs hingeschoben hatte, aus und fragte, wo Newman seine Kohlen hätte.

Newman Noggs zeigte nach dem untersten Fach eines Schrankes, worauf Herr Crowl die Schaufel ergriff und die Hälfte des Vorrats in den Kamin warf, den Noggs jedoch, ohne ein Wort zu sagen, gar bedächtig wieder zurückholte.

»Ich hoffe nicht, daß Sie heute anfangen wollen zu sparen?« sagte Crowl.

Newman zeigte auf das leere Glas, als ob dies hinreiche, eine solche Beschuldigung zurückzuweisen, und sagte kurz, daß er zum Nachtessen hinuntergehe.

»Zu den Kenwigsen?« fragte Crowl.

Newman nickte bejahend.

»Sieh doch einer an!« fuhr Crowl fort. »Wenn ich nicht gedacht hätte. Sie gingen gewiß nicht hin, weil Sie sich so ausgesprochen haben, so hätte ich zu Kenwigs nicht gesagt, ich könne nicht kommen, wie ich mir dann auch nicht vorgenommen hätte, diesen Abend bei Ihnen zuzubringen.«

»Man bestand ausdrücklich darauf, daß ich kommen solle, und so mußte ich zusagen«, entgegnete Newman.

»Gut, aber was soll aus mir werden?« wendete der Ehrenmann ein, der nie an etwas anderes als an sich selbst dachte. »Sie sind völlig schuld daran. Doch ich will Ihnen was sagen – ich bleibe bei Ihrem Feuer sitzen, bis Sie wiederkommen.«

Newman warf einen verzweifelten Blick auf seinen kleinen Vorrat von Brennmaterial; da er aber nicht den Mut hatte, nein zu sagen – ein Wort, das er sein ganzes Leben über weder gegen sich selbst noch gegen jemanden anders zur rechten Zeit gebrauchen konnte – so ließ er sich den Vorschlag gefallen, und Herr Crowl schickte sich sogleich an, sich von Newman Noggs‘ Mitteln so gütlich zu tun, wie es die Umstände gestatteten.

Die Hausbewohner, die Crowl mit dem Ausdruck »die Kenwigsen« bezeichnet hatte, waren die Gattin und die hoffnungsvollen Sprößlinge eines Elfenbeindrechslers, namens Kenwigs, der in dem Hause als ein Mann von einiger Bedeutung betrachtet wurde, da er die ganze erste Etage, die aus zwei Zimmern bestand, innehatte. Außerdem spielte Madame Kenwigs ganz die Dame, da sie aus einer achtbaren Familie stammte und einen Wassersteuereinnehmer zum Onkel hatte. Die zwei ältesten ihrer Mädchen erhielten zweimal wöchentlich in der Nachbarschaft Tanzunterricht, hatten ihr Flachshaar mit blauen Bändern in üppige Zöpfe geflochten, die über ihren Rücken hinunterfielen, und trugen kleine weiße Beinkleider mit Krausen um die Knöchel – lauter Dinge, die nebst zahllosen anderen, gleich wichtigen, einen hinreichenden Grund abgaben, Madame Kenwigs zu einer sehr wünschenswerten Bekanntschaft und zum beharrlichen Thema der Klatschbasen in der Straße – und vielleicht auch noch ein wenig um die Ecke hinum – zu machen.

Es war die Jahresfeier des glücklichen Tages, an dem die englische Kirche zwischen Herrn und Frau Kenwigs das Band der heiligen Ehe knüpfte, und Frau Kenwigs hatte in dankbarer Erinnerung an diese denkwürdige Periode ihres Lebens einige auserlesene Freunde auf eine Kartenpartie und ein Nachtessen in den ersten Stock eingeladen. Sie trug zum Zweck des Empfangs ein neues flammenfarbiges Kleid mit sehr jugendlichem Zuschnitt, was eine so günstige Wirkung hervorbrachte, daß Herr Kenwigs erklärte, die acht Jahre seiner Ehe und die fünf Kinder wären ihm nur wie ein Traum und Frau Kenwigs käme ihm jünger und blühender vor, als an dem Sonntag, da er sie zum erstenmal gesehen hätte.

Frau Kenwigs sah in ihrem Putz wirklich so schön und stattlich aus, daß man hätte vermuten können, es stünde ihr wenigstens eine Köchin und eine Dienstmagd zu Gebot, und sie hätte nichts weiter zu tun, als diesen zu befehlen. Demungeachtet aber hatte sie mit ihren Vorbereitungen unsägliche Mühe gehabt – mehr sogar, als sie um ihrer zarten Konstitution willen durchzumachen imstande gewesen wäre, wenn sie nicht der Stolz, sich in dem Glanze ihrer Wirtlichkeit zu zeigen, aufrecht gehalten hätte. Endlich war jedoch alles, was herbeigeschafft werden sollte, beisammen, das, was stören konnte, aus dem Wege und alles in gehöriger Ordnung. Auch hatte der Wassersteuereinnehmer versprochen, an dem Festmahl teilzunehmen, und so ließ sich für das Glück des Abends nichts mehr wünschen.

Die Gesellschaft war zum Bewundern gewählt. Zuerst Herr Kenwigs und Frau Kenwigs nebst vier Kenwigsschen Sprößlingen, die zum Abendessen aufbleiben durften, einmal, weil es nicht mehr als billig war, daß sie sich an einem solchen Tag auch etwas zugute täten, und zweitens, weil ihr Zubettgehen in Gegenwart der Gesellschaft unpassend, um nicht zu sagen unschicklich gewesen wäre. Sodann die junge Dame, die die Toilette der Festgeberin besorgt und, da sie – auf die schicklichste Weise von der Welt – zwei Treppen höher hintenhinaus wohnte, ihr Bett für das jüngste Kenwigslein, ein Knäblein in der Wiege, hergegeben und ein kleines Mädchen für die Bewachung desselben besorgt hatte. Drittens, als passende Gesellschaft für die junge Dame, ein unverheirateter junger Mann, den Herr Kenwigs in früheren Jahren kennengelernt hatte und der von den Damen sehr geschätzt wurde, weil er in dem Rufe eines Bruders Liederlich stand. Hierzu kam noch ein neuvermähltes Paar, das bei Herrn und Frau Kenwigs Brautvisite gemacht hatte, und eine Schwester von Madame Kenwigs, die als eine vollkommene Schönheit galt; außerdem noch ein anderer junger Mann, von dem man glaubte, daß er ehrbare Absichten auf die ebenerwähnte Dame hätte, und Herr Noggs, der deshalb eingeladen wurde, weil er ehedem ein Mann von Stand war.

Dann kam eine ältliche Dame, die in einem Hinterzimmer des Erdgeschosses wohnte, und eine jüngere Dame, die nächst dem Löwen Wassersteuereinnehmer vielleicht die größte Löwin der Gesellschaft war, da sie einen Theaterspritzenmann zum Vater hatte, bisweilen als Statistin auftrat und das ausgezeichnetste mimische Talent, von dem man je gehört, besaß; denn sie konnte so schön singen und deklamieren, daß Frau Kenwigs dadurch stets bis zu Tränen gerührt wurde. Die Lust, solche Freunde um sich zu sehen, wurde nur durch einen unangenehmen Umstand verbittert, und dieser bestand darin, daß die Dame vom Hinterzimmer im Erdgeschoß, die sehr beleibt und über die Sechzig hinaus war, in einem gewöhnlichen Musselinkleide und kurzen Lederhandschuhen ihre Aufwartung machte, was Madame Kenwigs so verdroß, daß letztgenannte Dame ihrer Schwester im Vertrauen mitteilte, sie würde diese unverschämte Person gewiß auf der Stelle wieder gehen heißen, wenn nicht im gegenwärtigen Augenblick das Abendessen auf dem Kochherde des Parterrehinterstübchens stünde.

»Meine Liebe«, sagte Herr Kenwigs, »wäre es nicht am besten, wenn wir ein Gesellschaftsspiel anfingen?«

»Lieber Kenwigs«, versetzte seine Gattin, »wie kommst du mir vor? Wolltest du ohne meinen Onkel anfangen?«

»Ah, ich habe den Steuereinnehmer vergessen«, entgegnete Kenwigs, »nein, das geht nicht an.«

»Er ist so eigen«, sagte Frau Kenwig« zu der andern verheirateten Dame, »daß er uns für immer aus seinem Testament streichen würde, wenn wir ohne ihn anfangen.«

»Wäre es möglich?« rief die verheiratete Dame.

»Sie haben keine Idee davon, was er für Besonderheiten hat«, versetzte Frau Kenwigs, »obgleich er sonst der gutmütigste Mann von der Welt ist.«

»Die liebevollste Seele, die je existierte«, bekräftigte Kenwigs.

»Es schneidet ihm, glaube ich, ins Herz, den Leuten das Wasser entziehen zu müssen, wenn sie nicht bezahlen können«, bemerkte der Bruder Liederlich, der einen Witz machen wollte.

»Georg, nichts der Art, wenn ich bitten darf«, sagte Herr Kenwigs feierlich.

»Es war nur ein Scherz«, sagte der junge Mann kleinlaut.

»Georg«, erwiderte Herr Kenwigs, »ein Scherz ist wohl etwas Hübsches – etwas recht Hübsches – wenn aber dieser Scherz die Gefühle meiner Frau verletzt, so muß ich mich dagegen verwahren. Ein Mann, der einen öffentlichen Charakter hat, muß sich freilich Spottreden gefallen lassen – die Schuld liegt aber an seiner hohen Stellung, nicht an ihm selbst. Der Verwandte meiner Frau ist ein Beamter, Georg. Er weiß das und kann auch das damit verbundene Unangenehme tragen. Aber abgesehen von meiner Frau, wenn man anders Madame Kenwigs bei einem Anlasse, wie der gegenwärtige, aus dem Spiele lassen kann – so habe ich die Ehre, mit dem Steuereinehmer durch Heirat verwandt zu sein, und ich kann daher solche Bemerkungen in meinem –« Herr Kenwigs war im Begriff »Haus« zu sagen, er rundete aber den Satz ab durch die Verbesserung – »in meinen Zimmern nicht dulden.«

Bei dem Schluß dieser Zurechtweisung, die Frau Kenwigs Tränen entlockte und ihre Wirkung, die Bedeutsamkeit des Wassersteuereinnehmers der Gesellschaft recht nahe ans Herz zu legen, nicht verfehlte, ließ sich der Ton der Klingel vernehmen.

»Das ist er«, flüsterte Herr Kenwigs sehr aufgeregt. »Morlina, liebes Kind, eile hinunter und lasse den Onkel herein; vergiß es aber nicht, sobald du die Tür offen hast, ihm einen Kuß zu geben. Hm! Lassen Sie uns ein Gespräch anfangen!«

Herrn Kenwigs Aufforderung entsprechend begann die Gesellschaft sogleich eine sehr laute Unterhaltung, um unbefangen zu erscheinen. Sie hatten indessen kaum angefangen, als ein kleiner, alter Herr in gelben Beinkleidern und Gamaschen und mit einem Gesicht, das wie aus Holz geschnitzt aussah, von Fräulein Morlina Kenwigs unter Scherzen hereingeführt wurde. Wir müssen hier bemerken, daß Madame Kenwigs diesen höchst ungewöhnlichen Taufnamen vor ihrem ersten Wochenbett zu dem Zwecke erfunden hatte, ihn als besondere Auszeichnung ihrem ältesten Kinde, wenn sich dieses als ein Mädchen erweisen sollte, beizulegen.

»Ach, lieber Onkel, wie freut es mich, Sie zu sehen«, sagte Madame Kenwigs, indem sie den Steuereinnehmer zärtlich auf beide Wangen küßte; »ich bin so froh.«

»Möge der Tag oft und glücklich wiederkehren, meine Liebe«, versetzte der Steuereinnehmer, das Kompliment erwidernd.

Es war in der Tat ein interessanter Augenblick. Hier war ein Einnehmer der Wassersteuer ohne sein Buch, ohne Feder und Tinte, ohne seinen schreckenerregenden Doppelschlag – ein Steuereinnehmer, der eine hübsche Frau küßte – in der Tat küßte – und Steuern, Vorladungen, Mahnzettel usw. ganz beiseite ließ. Es war eine wahre Lust, mit anzusehen, wie die Gesellschaft, ganz hingerissen von dem Anblick, den Mann von allen Seiten beäugelte und sich gegenseitig durch Nicken und Winken das innere Vergnügen zu erkennen gab, das man über dem Umstand empfand, daß bei einem Steuereinnehmer so viel Leutseligkeit zu finden wäre.

»Wo wollen Sie Platz nehmen, Onkel?« sagte Frau Kenwigs in der vollen Entfaltung ihres Familienstolzes, der durch die Anwesenheit ihres so hochstehenden Verwandten veranlaßt wurde.

»Wo du mich hinsetzest, meine Liebe«, antwortete der Steuereinnehmer; »ich bin hierin nicht eigen.«

Nicht eigen! Welch ein bescheidener Steuereinnehmer! Wenn er ein Schriftsteller gewesen wäre, der seinen Platz kennt, er hätte nicht demütiger sprechen können.

»Herr Lillyvick«, sagte Herr Kenwigs zu dem Steuereinnehmer; »es sind hier einige Freunde, die sich schon lange nach der Ehre Ihrer Bekanntschaft sehnen. Herr und Frau Cutler, Sir.«

»Ich bin stolz darauf, Sie kennenzulernen, Sir«, versicherte Herr Cutler, »da ich so oft schon von Ihnen sprechen hörte.«

Dies waren keine bloßen Worte der Höflichkeit; denn da Herr Cutler in Herrn Lillyvicks Stadtteil gewohnt, so hatte er in der Tat sehr oft von ihm gehört. Der Einnehmer war außerordentlich pünktlich in seinen Besuchen.

»Georg, ich glaube, Sie kennen den Herrn Lillyvick bereits«, sagte Kenwig«; – »die Dame aus dem Erdgeschoß – Herr Lillyvick. Herr Snewkes – Herr Lillyvick. Fräulein Green – Herr Lillyvick. Herr Lillyvick – Fräulein Petowker vom Königlichen Drury-Lane-Theater. Ich bin sehr erfreut, zwei beamtete Persönlichkeiten miteinander bekannt machen zu können. – Liebe Frau, willst du die Spielmarken herausgeben?«

Frau Kenwigs gehorchte dieser Aufforderung unter dem Beistand von Newman Noggs, von dem man nur im allgemeinen als von einem in seinen Vermögensumständen heruntergekommenen Mann von Stand flüsterte. Man hatte nämlich seinem Wunsch, keine Notiz von ihm zu nehmen, entsprochen, weil er jederzeit mit Gefälligkeiten gegen die Kinder zur Hand war. Der größere Teil der Gäste setzte sich nun zum Kartenspielen nieder, während Newman, Frau Kenwigs und Fräulein Petowker von dem Königlichen Drury- Lane-Theater mit der Zurüstung der Abendtafel zu tun hatten.

Solange die Damen in dieser Weise beschäftigt waren, richtete Herr Lillyvick seine ausschließliche Aufmerksamkeit auf das Spiel, und weil alles Fisch sein mußte, was in eines Wassersteuereinnehmers Netz kommt, so war der gute, alte Herr keineswegs blöde, sich das Eigentum seiner Partner anzueignen, da er es im Gegenteil, sooft sich eine Gelegenheit dazu bot, an sich zu bringen wußte. Dabei lächelte er fortwährend gar leutselig und sprach den Verlierenden so herablassend zu, daß diese ganz entzückt über seine Liebenswürdigkeit wurden und in ihren Herzen dachten, daß er mindestens Kanzler der Schatzkammer zu sein verdiente.

Nach vieler Mühe und nach Verabfolgung manchen Klapses auf die Köpfe der kleinen Kenwigschen, von denen sogar zwei der aufrührerischsten summarisch verbannt werden mußten, breitete man das Tischtuch mit vieler Eleganz aus und trug ein paar gekochte Hühner, einen Schinken, eine Apfelpastete, Kartoffeln und Gemüse auf, bei deren Anblick der würdige Herr Lillyvick viele witzige Einfälle auftischte und zum unaussprechlichen Entzücken der Gesamtheit seiner Verehrer mit einer bewunderungswürdigen Fertigkeit aufräumte.

Das Abendessen ging sehr gut und sehr schnell vorüber, wie man denn überhaupt dabei auf keine ernsteren Schwierigkeiten als auf diejenigen stieß, die aus den unablässigen Fragen nach reinen Messern und Gabeln entsprangen. Das ließ die arme Frau Kenwigs mehr als einmal wünschen, daß bei Privatgesellschaften der Grundsatz der Asyle eingeführt werden möchte, wo jeder Gast Löffel, Messer und Gabel mitbringen muß. Allerdings müßte dies in vielen Fällen sehr bequem sein, und für niemanden mehr als für den Herrn und die Frau des Hauses, besonders wenn der Schulgrundsatz in seiner vollen Ausdehnung in Anwendung käme, demzufolge erwartet wird, daß niemand so unzart sei, sein Besteck wieder mit fortzunehmen.

Da jeder von allem aß, so leerte sich der Tisch mit einer nicht wenig beunruhigenden Eile und einem ziemlichen Lärm. Dann kam die Reihe an die geistigen Getränke, die nebst heißem und kaltem Wasser in schönster Ordnung aufgestellt waren und denen Newman Noggs‘ Augen schon längst entgegengeglänzt hatten. Die Gesellschaft schickte sich nun an, der Freuden des Gelages recht zu genießen, und Herr Lillyvick erhielt einen Ehrenplatz in einem großen Lehnsessel am Herd, wahrend die vier kleinen Kenwigschen, mit ihrem Gesicht dem Feuer und ihren Flachszöpfen der Gesellschaft zugekehrt, ganz vorn auf einer niedrigen Bank aufgepflanzt wurden. Diese Anordnung war kaum vollendet, als Madame Kenwigs, im Übermaß ihrer Muttergefühle, an die linke Schulter ihres teuren Ehegemahls flog und in Tränen zerfloß.

»Sie sind so schön«, sagte Frau Kenwigs schluchzend.

»Ach, du lieber Himmel!« stimmten alle Damen ein; »Sie haben vollkommen recht, und es ist sehr begreiflich, daß Sie stolz darauf sind; aber geben Sie diesen Gefühlen nicht zuviel Raum.«

»Ich kann – ich kann mir nicht helfen, und Tränen der Wonne bringen keinen Schaden«, schluchzte Frau Kenwigs; »aber ach, sie sind zu schön, viel zu schön, um hoffen zu dürfen, daß sie mir erhalten bleiben.«

Als die vier kleinen Mädchen die beunruhigende Vorahnung, als ob sie bestimmt wären, in der Blüte ihrer Jugend einen frühen Tod zu erleiden, vernahmen, erhoben sie ein jämmerliches Gewinsel, begruben zu gleicher Zeit ihre Köpfe in dem Schoß ihrer Mutter und schluchzten in so herzerschütternden Stößen, daß ihre acht Flachszöpfe ohne Unterlaß auf und nieder baumelten. Madame Kenwigs nahm bei dieser Gelegenheit, indem sie eines nach dem andern an ihr beklommenes Mutterherz drückte, so ausdrucksvolle Stellungen des inneren Schmerzes an, daß selbst Fräulein Petowker sich daran hätte ein Muster nehmen können.

Endlich ließ sich die bekümmerte Mutter wieder beruhigen, und die kleinen Kenwigschen faßten sich gleichfalls, worauf letztere unter die Gesellschaft verteilt wurden, um es unmöglich zu machen, daß Frau Kenwigs durch den Glanz ihrer vereinten Schönheit abermals überwältigt würde. Als dies geschehen war, vereinigten sich Herren und Damen in der Prophezeiung, daß sie noch viele, viele Jahre leben würden, und daß für Frau Kenwigs durchaus kein Grund vorhanden sei, sich zu betrüben, was denn in der Tat auch recht wohl sein mochte, da die Liebenswürdigkeit der Kinder keineswegs die Besorgnis der empfindsamen Mutter rechtfertigte.

»Heute vor acht Jahren«, sagte Herr Kenwigs nach einer Pause. »Lieber Gott – ach!«

Dieser Anhang wurde von allen Anwesenden nachgebetet, nur mit dem Unterschiede, daß sie das »Ach!« zuerst und das »Lieber Gott!« hintendrein laut werden ließen.

»Ich war damals jünger«, kicherte Frau Kenwigs.

»Nicht doch!« sagte der Steuereinnehmer.

»Gewiß nicht«, fügte jedermann bei.

»Ich kann mir meine Nichte noch vorstellen«, sagte Herr Lillyvick, indem er den Blick mit ernster Würde über seine Zuhörer hingleiten ließ, »ich kann sie mir noch vorstellen, wie sie eines Nachmittags ihrer Mutter zum ersten Male ihre Neigung für Kenwigs gestand. »Mutter«, sagte sie, »ich liebe ihn.«

»Bete ihn an, sagte ich, Onkel«, fiel Frau Kenwigs ein.

»Liebe ihn, hieß es, soviel ich mich erinnere, meine Teuerste«, sagte der Steuereinnehmer mit Festigkeit.

»Sie mögen wohl recht haben«, versetzte Frau Kenwigs unterwürfig; »ich meine aber, mich des Ausdrucks ›anbeten‹ bedient zu haben.«

»Lieben, meine Beste«, entgegnete Herr Lillyvick. »›Mutter‹, sagte sie, ›ich liebe ihn‹. >Was höre ich?‹ ruft ihre Mutter und verfällt augenblicklich in starke Krämpfe.«

Allgemeiner Ausruf des Staunens von seiten der Gesellschaft.

»In starke Krämpfe«, wiederholte Herr Lillyvick, indem er sich mit stolzen Blicken umsah. »Kenwigs wird mich entschuldigen, wenn ich in der Gegenwart seiner Freunde des Umstandes erwähne, daß man gar viel gegen seine Bewerbung einzuwenden hatte, weil er dem Range nach unter der Familie stand und ihr daher Unehre machen konnte. Sie entsinnen sich dessen, Kenwigs?«

»Gewiß«, versetzte dieser Herr, den diese Erinnerung keineswegs unangenehm berührte, da es dadurch außer allem Zweifel stand, welcher hohen Familie Madame Kenwigs entstammte.

»Ich teilte damals diese Ansicht«, fuhr Herr Lillyvick fort, »die vielleicht natürlich war, vielleicht aber auch nicht.«

Ein leises Murmeln schien anzudeuten, daß bei einem Mann von Lillyvicks Stellung ein solcher Einwurf nicht nur natürlich, sondern sogar höchst lobenswert sein mußte.

»Er gewann mich jedoch bald für sich«, sagte Herr Lillyvick. »Als sie verheiratet waren und sich in der Sache nichts mehr ändern ließ, gehörte ich unter die ersten, die sagten, daß man Kenwigs beachten müsse. Die Familie tat dies infolge meiner Vorstellung, und ich fühle mich verpflichtet, zu sagen – ja, ich bin stolz darauf, es sagen zu können – daß ich ihn immer als einen sehr ehrenwerten, anständigen, rechtschaffenen, achtbaren Mann gefunden habe. Kenwigs, geben Sie mir Ihre Hand!«

»Ich bin stolz darauf, es zu tun«, sagte Herr Kenwigs.

»Ich gleichfalls, Kenwigs«, sagte Herr Lillyvick.

»Ich habe sehr glücklich mit Ihrer Nichte gelebt«, sagte Kenwigs.

»Es müßte Ihre eigene Schuld sein, wenn das nicht der Fall wäre«, entgegnete Herr Lillyvick.

»Morlina«, rief die durch diese Auseinandersetzung tief gerührte Mutter, »küsse deinen lieben Großonkel.«

Das Mädchen tat, wie verlangt wurde, und dann wurden auch die drei andern Kinder zu dem Gesicht des Wassersteuereinnehmers emporgehoben, um das gleiche Verfahren vorzunehmen, was dann nachher bei der Mehrzahl der Anwesenden wiederholt wurde.

»Liebe Madame Kenwigs«, sagte Fräulein Petowker, »lassen Sie doch Morlina Herrn Lillyvick den Tanz mit den neuen Figuren vortanzen, während Herr Noggs den Punsch macht, mit dem wir die Wiederkehr dieses Festes unter Trinksprüchen feiern wollen.«

»Nein, nein, meine Liebe«, versetzte Frau Kenwigs, »es würde meinen Onkel nur langweilen.«

»Unmöglich«, entgegnete Fräulein Petowker; »es wird ihn im Gegenteil recht gut unterhalten – nicht wahr, Sir?«

»Gewiß«, erwiderte der Steuereinnehmer mit einem Blick nach dem Punschkünstler.

»Wohlan, so will ich einen Vorschlag machen«, sagte Frau Kenwigs. »Morlina soll uns vortanzen, wenn der Onkel Fräulein Petowker überreden kann, uns nachher ›der Bluttrinkerin Begräbnis‹ zu deklamieren.«

Der Vorschlag wurde von allen Seiten mit großem Beifall, den man mit Händen und Füßen zu erkennen gab, aufgenommen, und die Dame, der er galt, neigte zum Zeichen der Anerkennung mehrere Male das Haupt.

»Sie wissen«, sagte Fräulein Petowker vorwurfsvoll, »wie ungern ich in Privatgesellschaften mit Leistungen, die zu meinem Beruf gehören, auftrete.«

»O, hier ist´s etwas anderes«, entgegnete Frau Kenwigs. »Wir sind hier ganz unter Freunden und so guter Dinge, daß Sie ebensowenig Anstand zu nehmen brauchen, wie in Ihrem eigenen Zimmer; zudem, der gegenwärtige Anlaß – –«

»Wer könnte da widerstehen«, fiel Fräulein Petowker ein. »Unter solchen Umständen wird es mir ein Vergnügen machen, alles, was in meinen Kräften steht, zur Verherrlichung des Festes beizutragen.«

Frau Kenwigs und Fräulein Petowker hatten unter sich ein kleines Programm entworfen, das die ebengenannte Reihenfolge der Abendunterhaltungen vorschrieb. Es war aber dabei ausgemacht worden, daß man sich auf beiden Seiten ein wenig bitten lassen wolle, weil es dann natürlich aussähe. Die Gesellschaft war des Schauspiels gewärtig, und Fräulein Petowker summte eine Arie, während der Morlina ihren Tanz ausführte, nachdem man ihr die Schuhsohlen zuvor so sorgfältig mit Kreide bestrichen hatte, als ob sie hätte auf dem straffen Seile gehen müssen. Der Tanz war sehr schön anzusehen, besonders da die Arme fast noch mehr dabei zu tun hatten als die Beine. So wurde er auch mit unbändigem Beifall aufgenommen.

»Wenn ich so glücklich wäre, ein – ein Kind zu haben –« sagte Fräulein Petowker errötend, »das so viel Talent wie das Ihrige zeigte, so würde ich es im Augenblick bei der Oper unterbringen.«

Frau Kenwigs seufzte und blickte nach Herrn Kenwigs, der den Kopf schüttelte und meinte, daß man da doch ein Bedenken haben müsse.

»Kenwigs fürchtet –« sagte Frau Kenwigs.

»Was?« fragte Fräulein Petowker – »doch nicht, daß es ihr mißlänge?«

»Nicht doch«, versetzte Frau Kenwigs, »aber wenn sie in dieser Weise fortfährt und heranwächst – denken Sie nur an die jungen Herzöge und Grafen.«

»Ganz richtig«, bemerkte der Steuereinnehmer.

»Ach«, entgegnete Fräulein Petowker, »wenn sie ihren eigenen Wert fühlt, so wissen Sie wohl –«

»Es liegt allerdings viel Wahres in dieser Bemerkung«, erwiderte Frau Kenwigs mit einem Blick nach ihrem Gatten.

»Jedenfalls kann ich sagen –« stotterte Fräulein Petowker – »freilich ist es wohl nicht die allgemeine Regel – mir ist aber nie eine derartige Angelegenheit und Unannehmlichkeit begegnet.«

Herr Kenwigs erklärte mit geziemender Galanterie, daß das jedenfalls ein entscheidender Punkt sei, weshalb er sich auch die Sache in ernstere Erwägung ziehen wolle. Nachdem dies abgemacht worden war, wurde Fräulein Petowker gebeten, das ›Begräbnis der Bluttrinkerin‹ zum besten zu geben. Die junge Dame löste zu diesem Ende ihre Haare auf und nahm ihre Stellung oben in dem Zimmer, indem sie zugleich den unverheirateten Freund in eine Ecke stellte, damit er bei dem Stichworte »der letzte Hauch entweicht« herbeieile und sie in seinen Armen auffange, wenn sie im Wahnsinn stürbe. Die Darstellung geschah mit außerordentlichem Feuer, was aber die kleinen Kenwigschen so sehr in Schrecken setzte, daß sie fast in Krämpfe fielen. Die dieser Kunstleistung folgende Begeisterung war noch in vollem Zug, und Newman, der sich seit langer Zeit bei so später Stunde nie so nüchtern befunden, hatte noch immer nicht dazu kommen können, sein Wörtchen, daß der Punsch fertig sei, anzubringen, als sich plötzlich ein hastiges Pochen an der Zimmertür vernehmen ließ, das Madame Kenwigs, die im Augenblick ahnte, daß das kleinste Kenwigschen aus dem Bett gefallen sei, einen Schrei des Entsetzens entlockte.

»Wer ist da?« fragte Herr Kenwigs unmutig.

»Lassen Sie sich nicht stören – nur ich bin’s« sagte Crowl, der in seiner Nachtmütze zur Tür hereinsah. »Der Kleine ist vollkommen wohl, denn ich blickte beim Heruntergehen in das Zimmer hinein. Er ist fest eingeschlafen und das Mädchen desgleichen. Auch glaube ich nicht, daß das Licht die Bettvorhänge in Brand stecken wird, wenn nicht ein Windzug in das Zimmer kommt. Man wünscht Herrn Noggs zu sprechen.«

»Mich?« rief Newman höchlich verwundert.

»Es ist allerdings eine etwas unpassende Stunde – nicht wahr?« versetzte Crowl, der bei der Aussicht, sein Feuer zu verlieren, nicht in der besten Stimmung war; »und auch die Leute sind wunderlich genug, denn sie sind über und über durchnäßt und beschmutzt. Soll ich sie wieder gehen heißen?«

»Nein«, entgegnete Newman aufstehend. »Leute? Wie viele?«

»Zwei«, erwiderte Crowl.

»Wünschen mich zu sprechen? Haben sie meinen Namen genannt?« fragte Newman.

»Ja«, antwortete Crowl. »Herr Newman Noggs so deutlich, wie man es nur wünschen kann.«

Newman überlegte ein paar Augenblicke und eilte dann mit der Versicherung hinaus, daß er sogleich wieder zurückkommen würde. Er hielt auch Wort; denn nach etlichen Sekunden stürzte er wieder ins Zimmer, nahm, ohne ein Wort der Entschuldigung oder Erklärung, eine angezündete Kerze und ein Glas heißen Punsches von dem Tische und schoß wie ein Verrückter wieder zur Tür hinaus.

»Was zum Henker geht mit ihm vor?« rief Crowl, die Tür aufreißend. »Hört! Ist kein Lärm oben?«

Die Gäste standen in großer Verwirrung auf, sahen sich gegenseitig bestürzt und verlegen an, streckten ihre Hälse und horchten aufmerksam.

Fünfzehntes Kapitel.


Fünfzehntes Kapitel.

Macht den Leser mit der Veranlassung der im vorigen Kapitel beschriebenen Unterbrechung und einigen andern Dingen, die zu wissen nötig sind, bekannt.

Newman Noggs kletterte in ungestümer Hast die Stiegen hinan, den dampfenden Punsch in der Hand, den er mit so wenig Umständen von Herrn Kenwigs Tische, und in der Tat auch dem Herrn Wassersteuereinnehmer, der über den Inhalt des Glases mit sehnsüchtigem Behagen hinschnupperte, recht eigentlich vor der Nase weggenommen hatte. Er trug seine Beute geradeswegs nach seinem Dachstübchen, wo mit wunden Füßen und beinahe schuhlos, naß, schmutzig, abgemattet und durch alle Spuren einer ermüdenden Reise entstellt, Nicolaus neben Smike, dem Urheber und Teilhaber dieser mühevollen Wanderschaft, saß.

Newmans erstes Geschäft war, Nicolaus mit sanfter Gewalt zu nötigen, die Hälfte des fast kochenden Punsches auf einmal hinunterzuschlucken, und sein zweites, den Rest in Smikes Kehle zu gießen, der, da er in seinem Leben nie etwas Kräftigeres als eine abführende Arznei gekostet hatte, durch manche seltsame Gebärde seine Überraschung und Freude an den Tag legte, daß der Trank so behaglich hinunterglitt, und dann seine Augen auf eine höchst merkwürdige Weise verdrehte.

»Sie sind durch und durch naß«, sagte Newman, indem er den Rock, den Nicolaus abgelegt hatte, mit der Hand befühlte, und ich – ich kann Ihnen keine andere Bedeckung anbieten«, fügte er mit einem trübseligen Blick auf die abgeschabten Kleider, die er selbst trug, bei.

»Ich habe trockene Kleider in meinem Ränzel«, versetzte Nicolaus. »Wenn Sie aber eine so betrübte Miene zu meinem Besuch machen, so werden Sie den Schmerz, den ich bereits fühle, für eine Nacht bei Ihren spärlichen Mitteln Beistand und Obdach suchen zu müssen, nur noch erhöhen.«

Newmans betrübte Miene gewann jedoch durch Nicolaus‘ Worte keineswegs einen heiteren Ausdruck. Als ihn aber sein junger Freund herzlich bei der Hand faßte und die Versicherung abgab, daß nichts als das unbedingte Vertrauen zu der Aufrichtigkeit seines Versprechens und der in diesem an den Tag gelegten wohlwollenden Gesinnungen ihn hätte veranlassen können, Herrn Newman seine Ankunft in London auch nur wissen zu lassen, so erheiterten sich die Mienen des letzteren, und er schickte sich mit dem größten Eifer an, alle Vorkehrungen für die Bequemlichkeit seiner Gäste, wie sie ihm eben zu Gebote standen, zu treffen.

Diese waren freilich einfach genug; denn die Mittel des armen Newmans konnten mit seinen Wünschen bei weitem nicht gleichen Schritt halten. Aber trotz ihrer Geringfügigkeit ging es dabei doch nicht ohne viel Geräusch und Hin- und Herrennen ab. Da Nicolaus mit seinem spärlichen Geldvorrat so gut hausgehalten hatte, daß ihm sogar noch etwas übrig war, so stand der Tisch bald mit einem Nachtessen von Brot und Käse nebst einem Stücke kalten Rindfleisches aus einer benachbarten Garküche besetzt; und der Umstand, daß diesen Lebensmitteln eine Flasche Branntwein und ein Krug Bier zur Seite stand, entfernte wenigstens allen Grund zu Besorgnissen hinsichtlich des Hungers und des Durstes. Dies waren die Vorbereitungen, die Newman zu Gebot standen; denn die Zurüstung der Nachtlager war in der Tat bald erledigt. Dann bestand Herr Noggs ausdrücklich darauf, daß Nicolaus seine Kleider wechseln und Smike sich in seinen (Newmans) einzigen Rock hüllen solle. Denn er ließ sich durch keine Bitte abhalten, denselben zu diesem Zwecke auszuziehen. Nun nahmen die Wanderer ihr spärliches Mahl mit mehr Zufriedenheit ein, als wenigstens der eine von ihnen bei mancher besseren Tafel gefühlt hatte.

Nachdem sie sich gelabt hatten, setzten sie sich an das Feuer, das Newman Noggs so gut anschürte, wie es sich nach Crowls Angriffen auf das Brennmaterial tun ließ; und Nicolaus, der bisher durch die außerordentlich besorgten Aufforderungen seines Freundes, daß er sich nach den Anstrengungen seiner Reise kräftigen möchte, fast nicht hatte zum Wort kommen können, bedrängte diesen nun mit ernsten Fragen nach seiner Mutter und Schwester.

»Wohl«, antwortete Newman mit seiner gewohnten Kürze; »beide wohl.«

»Wohnen sie noch in der City?« fragte Nicolaus.

»Ja«, versetzte Newman.

»Und meine Schwester –« fügte Nicolaus bei, »ist sie noch immer bei dem Geschäft, von dem sie mir schrieb, sie glaube, daß es ihr gut gefallen würde?«

Newman riß seine Augen etwas weiter auf als gewöhnlich und antwortete nur durch ein Jappen, das je nach der dieses Jappen begleitenden Kopfbewegung von seinen Freunden als ja oder nein gedeutet werden konnte. In dem gegenwärtigen Falle bestand die Pantomine in einem Nicken und nicht in einem Schütteln, weshalb Nicolaus die Antwort für eine günstige nahm.

»Hören Sie mir jetzt zu«, sagte Nicolaus, indem er seine Hand auf Newmans Schulter legte.

»Ich hielt es, ehe ich den Versuch machen wollte, meine Angehörigen zu besuchen, für geeignet, zu Ihnen zu kommen, damit ich ihnen durch eine Nachsicht gegen meine eigenen selbstsüchtigen Wünsche keinen Schaden zufüge, der sich vielleicht nicht wieder ausgleichen ließe. Was hat mein Onkel von Yorkshire gehört?«

Newman öffnete und schloß seinen Mund mehrere Male, als versuche er, mit aller Anstrengung zu sprechen, ohne jedoch etwas hervorbringen zu können, und heftete endlich seine Augen in gespensterhaftem Starren auf Nicolaus.

»Was hat er gehört?« drängte Nicolaus erglühend. »Sie sehen, daß ich vorbereitet bin, das Schlimmste zu hören, was die Bosheit aushecken konnte. Wozu eine Schonung gegen mich, da ich es früher oder später doch erfahren muß? Und was können Sie mit der Zögerung einiger Minuten gewinnen, da Sie mich in der Hälfte dieser Zeit von allen Vorgängen in Kenntnis setzen können? Ich bitte, endigen Sie meine Ungewißheit.«

»Morgen früh«, sagte Newman; »morgen früh sollen Sie alles erfahren.«

»Aber warum erst morgen – warum nicht gleich jetzt?« drängte Nicolaus.

»Sie werden besser schlafen«, versetzte Newman.

»Nein, ich werde um so schlechter schlafen«, entgegnete Nicolaus ungeduldig. »Schlafen! So erschöpft wie ich bin und so sehr ich einer gründlichen Ruhe bedarf, so kann ich doch nicht hoffen, die ganze Nacht über auch nur ein Auge zu schließen, wenn Sie mir nicht alles sagen.«

»Und wenn ich Ihnen alles sage?« erwiderte Newman stockend.

»Je nun«, sagte Nicolaus, »ich komme dann vielleicht etwas in Wallung oder mein Stolz wird verletzt – in keinem Falle aber wird meine Ruhe für länger getrübt; denn stünde mir eine solche Szene abermals bevor, so würde ich doch um kein Haar anders handeln, was auch für Folgen daraus entspringen möchten. Auch werde ich nie bereuen, was ich tat – nie; und wenn ich deshalb auch betteln oder Hungers sterben müßte. Was ist Armut und Leiden gegen die Schmach der niederträchtigsten und unmenschlichsten Feigheit! Ich sage Ihnen, wenn ich gelassen und untätig hätte dabeistehen können, so hätte ich mich selbst hassen müssen und die Verachtung eines jeden ehrlichen Mannes verdient. Der niederträchtige Schurke!«

Mit dieser zarten Anspielung auf den abwesenden Herrn Squeers drückte Nicolaus seinen steigenden Zorn nieder, und nachdem er Newman die Vorgänge in Dotheboys Hall umständlich mitgeteilt hatte, bat er diesen zu sprechen, ohne sich weiter nötigen zu lassen. So beschworen, nahm Herr Noggs aus einer alten Truhe ein Blatt Papier, das in großer Eile überkritzelt zu sein schien, und machte sich dann nach einigen ungewöhnlichen Andeutungen seines Widerstrebens in folgenden Worten Luft:

»Mein lieber junger Herr, man darf sich nicht so gehen lassen; bekanntlich tun derartige Sachen nie gut, und man kommt nicht fort in der Welt, wenn man sich eines jeden Mißhandelten annehmen will – aber – nein, zum Henker, ich freue mich, das von Ihnen zu hören, und ich würde selbst nicht anders gehandelt haben.«

Newman begleitete diesen höchst ungewöhnlichen Ausbruch mit einem gewaltigen Schlag auf den Tisch, als ob er in der Hitze des Augenblicks diesen für den Rücken oder für die Rippen des Herrn Wackford Squeers gehalten hätte; und da er sich durch diese offene Entfaltung seiner eigenen Gefühle jede Einwirkung durch weltkluge Belehrungen, die er anfangs anzubringen gedachte, abgeschnitten hatte, so zögerte er nicht weiter.

»Vorgestern«, sagte Newman, »erhielt Ihr Onkel diesen Brief. Ich habe in der Geschwindigkeit, als er nicht zu Hause war, eine Abschrift davon genommen. Soll ich ihn vorlesen?«

»Wenn’s Ihnen gefällig ist«, versetzte Nicolaus«.

Newman Noggs las demgemäß folgendes:

»Dotheboys Hall, Donnerstag morgens.

Sir!

Mein Bapa trägt mir auf, Ihnen zu schreiben. Die Ärzte halten es für zweifelhaft, ob er je wieder zum Gebrauch seiner Beine kommen wird, was ihn verhendert, die Feeder zu halden.

Wir send in einem Selenzustande, der außer aller Beschreibung ist und mein Bapa ist im gansen Leibe nur eine Beile, bald blau bald grön; auch sind zwei Benke mit seinem Blute beflegt. Wir sahen uns genetigt, ihn in die Kiche hinunter zu bringen, woer jetzt ligt. Sie werden hieraus selber urteilen, daß er sehr heruntergekommen ist.

Nachdem Ihr Newö, den Sie als einen Leerer recommandirten, meinem Bapa dieß angedan und mit baren Füsen auf seinem Leib herumgesprungen hate und auch schempfte mit was ich die Beschreibung meiner Feder nicht beschmutzen mag, so grif er Mama auf eine firchderliche Weise an, schleuderte sie zu Boden und schlug ihr den Kam einige Zol tief in den Kopf, ein klein wenig weider und es were in den Schedel gegangen. Wir haben ein medizinisches Zerdifikat, das, wenn dieß geschehen wäre, der Schildkrot das Hirn verletzt haben würde.

Dann wurde ich und mein Bruder die Opfer seiner Wut und wir haben seitdem ser viele schmerzen ausgestanden, was uns zu der peinlichen Vermutung leitet, daß wir irgendwo innerlich Schaden genommen haben, besonders da euserlich keine Spuren der Gewaldsamkeit sichtbar sind.

Ich muß die ganse Zeit über, das ich schreibe, immer laud aufschreien, und so auch mein Bruder, was meine Aufmergsamkeit zerstreut und ich hoffe, meine schlechte Schrift entschultigen wirt.

Als das Ungeheuer seinen Blutdurst gesettigt hatte, ging er durch und nam einen Menschen von gans geferlichen Karakter, den er zu einem Röböller verleidet hatte, wie auch einen der Mama gehörenten Granatring mit und da ihn die Konstabel nicht einfangen konnten, so glauben wir daß er auf einem Eilwagen fortgefahren ist. Bapa bittet, man möchte den Ring, wen er zu inen kommt, wieder zurügschicken und daß sie den Dieb und Maichelmörder laufen lassen, da er, wenn man ihn vor Gericht stellte, nur debortiert würde und er, wenn man ihn laufen läßt, über kurz oder lang, gehengt wird, was uns die Mihe erspart und zu viel greserer Freude gereichen muß. In der Hofnung, etwas zu heren, wen es ihnen anstet, verbleibe ich

ihre
etzetera
Fanny Squers.

P.S.

ich bemitleite seine Unwissentheit und verachde ihn.«

Während des dem Vortrage dieser auserlesenen Epistel folgenden Schweigens blickte Newman Noggs, als er seine Abschrift wieder zusammengefaltet hatte, mit einer Art komischen Mitleids auf den Menschen von gefährlichem Charakter, von dem der Brief sprach, während dieser, ohne einen deutlicheren Begriff von der Sache zu haben, als daß er der unglückliche Anlaß der Menge von Verdrießlichkeiten und Lügen wäre, die Nicolaus umgarnten, stumm und niedergeschlagen mit dem Ausdrucke des peinlichsten Kummers dasaß.

»Herr Noggs«, sagte Nicolaus nach einem kurzen Besinnnen, »ich muß geschwind fort.«

»Fort?« rief Newman.

»Ja«, versetzte Nicolaus, »nach Golden Square. Niemand, wer mich kennt, wird diese Geschichte von dem Ringe glauben. Aber es kann dem Zweck des Herrn Ralph Nickleby entsprechen oder vielleicht seinem Hasse dienen, wenn er tut, als schenke er ihr Glauben. Ich bin es – nicht ihm – sondern mir selbst schuldig, daß die Wahrheit ans Licht kommt, und außerdem habe ich noch ein paar Worte mit ihm zu sprechen, die nicht verschoben werden dürfen.«

»Sie müssen verschoben werden«, entgegnete Newman.

»In keinem Falle«, erwiderte Nicolaus mit Festigkeit und schickte sich an, das Haus zu verlassen.

»So hören Sie mich doch«, sagte Newman, indem er seinem ungestümen jungen Freunde den Weg vertrat. »Er ist nicht zu Hause. Er ist über Land und wird vor drei Tagen nicht zurückkommen. Auch weiß ich gewiß, daß das Schreiben erst beantwortet wird, wenn er wieder hier ist.«

»Sind Sie dessen auch ganz gewiß?« fragte Nicolaus, indem er glühend vor Entrüstung mit raschen Schritten in dem engen Gemach auf und ab ging.

»Ganz gewiß«, antwortete Newman. »Er hatte den Wisch kaum gelesen, als er abgerufen wurde. Sein Inhalt ist niemandem als ihm und uns bekannt.«

»Kann ich mich darauf verlassen?« fragte Nicolaus hastig; »nicht einmal meiner Mutter oder Schwester? Wenn ich denken könnte, daß sie – ich will hingehen – ich muß sie sehen. Welchen Weg habe ich einzuschlagen? Wo wohnen sie?«

»Aber so nehmen Sie doch Rat an«, sagte Newman, der in diesem ernsten Augenblick wie ein anderer Mensch sprach: »unterlassen Sie Ihren Besuch, bis er nach Hause kommt. Ich kenne den Mann. Es darf nicht den Anschein haben, als ob Sie jemanden für sich zu gewinnen gesucht hätten. Wenn er wieder hier ist, so treten Sie vor ihn hin und sprechen Sie so kühn, wie es Ihnen beliebt. Verlassen Sie sich darauf, er durchschaut die Wahrheit so gut wie Sie oder ich.«

»Sie meinen es gut mit mir und müssen ihn natürlich besser kennen als ich«, versetzte Nicolaus nach einer Pause des Nachsinnens.

»Nun, meinetwegen!«

Newman, der sich während dieser Verhandlung mit dem Rücken gegen die Tür gepflanzt hatte, um nötigenfalls seinen Gast mit Gewalt abzuhalten, das Zimmer zu verlassen, nahm nun sehr zufrieden seinen Platz wieder ein; und da das Wasser im Kessel inzwischen zum Kochen gekommen war, mischte er ein Glas Grog für Nicolaus und einen Krug voll für sich selbst und Smike, von dem diese beiden in großer Eintracht Gebrauch machten, während Nicolaus, den Kopf auf die Hand gestützt, in trübem Sinnen versunken blieb.

Die Gesellschaft in der ersten Etage hatte sich, als man nach einem aufmerksamen Horchen kein Geräusch vernahm, was eine Einmischung im Interesse der Befriedigung ihrer Neugierde hätte rechtfertigen können, wieder in das Zimmer der Kenwigse zurückgezogen und beschäftigte sich nun mit einer Menge von Vermutungen hinsichtlich der Ursache von Herrn Noggs‘ plötzlichem Verschwinden und Ausbleiben.

»Lieber Himmel, wenn etwa gar ein Eilbote mit der Kunde angekommen wäre, daß er wieder Herr seines früheren Vermögens sei?« meinte Frau Kenwigs.

»Bei Gott, es wäre nicht unmöglich«, sagte Herr Kenwigs. »Wir würden für diesen Fall vielleicht gut tun, wenn wir hinaufschickten und fragen ließen, ob ihm nicht noch etwas Punsch beliebe.«

»Kenwigs«, sagte Herr Lillyvick mit lauter Stimme, »Sie setzen mich in Erstaunen.«

»Wieso, Sir?« fragte Herr Kenwigs mit der gebührenden Ergebenheit gegen den Einnehmer der Wassersteuer.

»Weil Sie eine solche Bemerkung machen«, versetzte Herr Lillyvick unmutig, »Er hat bereits Punsch gehabt – oder etwa nicht, Sir? Ich betrachte die Art, wie er den Punsch – um mich eines geeigneten Ausdrucks zu bedienen – geraubt hat, als höchst unehrerbietig gegen diese Gesellschaft und als skandalös, – ja als vollkommen skandalös. Es mag vielleicht Sitte in diesem Hause sein, sich derartige Dinge gefallen zu lassen, aber ich bin nicht gewöhnt, daß man sich in meiner Gegenwart so benimmt, und ich nehme daher keinen Anstand, es Ihnen zu sagen, Kenwigs. Ein Mann von Erziehung hat ein Glas Punsch vor sich, das er eben an die Lippen setzen will; da kommt ein anderer daher, nimmt das Glas Punsch ohne ein ›Mit Erlaubnis‹ oder ein ›Verzeihen Sie‹ weg und geht mit dem Glas Punsch davon. Das mögen allerdings schöne Manieren sein, und ich will es auch nicht im mindesten bezweifeln; aber ich für meine Person verstehe sie nicht, und was noch mehr ist, ich will sie auch nicht verstehen lernen. Es ist meine Art und Weise zu sprechen, wie mir’s ums Herz ist, Kenwigs, und wenn Ihnen meine Meinung nicht behagt, so ist meine gewohnte Schlafengehenszeit schon vorüber, und ich kann mich nach Hause finden, ohne daß ich’s noch später werden lasse.«

Jetzt war Not im Hause. Der Steuereinnehmer, der im Gefühl seiner beleidigten Würde einige Minuten in stummem

Zürnen dagesessen hatte, war nun losgebrochen. Der große Mann – der reiche Verwandte – der unverheiratete Onkel, der es in seiner Macht hatte, Morlina zu einer reichen Erbin zu machen und sogar das Wiegenkenwigslein mit einem schönen Legate zu bedenken – dieser Mann war beleidigt. Ihr himmlischen Mächte, wie konnte dies enden!

»Es tut mir sehr leid, Sir«, sagte Herr Kenwigs demütig.

»Reden Sie mir nicht von Ihrem Leidwesen«, versetzte Herr Lillyvick unmutig; »Sie hätten es verhindern sollen.«

Die Gesellschaft war durch diesen häuslichen Blitzstrahl förmlich gelähmt. Die Dame aus dem Parterrehinterstübchen saß mit weit offnem Munde da und schaute mit stummem Entsetzen den Steuereinnehmer an, während die übrigen Gäste durch den Zorn des großen Mannes kaum weniger verblüfft waren. Herr Kenwigs, der in derartigen Angelegenheiten keinen besonders feinen Takt besaß, fachte die Flamme noch mehr an, indem er sie auszulöschen suchte.

»Gewiß, Sir, ich habe nicht daran gedacht«, sagte Herr Kenwigs. »Ich konnte mir überhaupt auch gar nicht denken, daß eine solche Kleinigkeit, wie ein Glas Punsch, Sie mißlaunig machen könnte.«

»Mißlaunig? Was zum Teufel bezwecken Sie mit dieser neuen Unfreundlichkeit, Herr Kenwigs?« entgegnete der Steuereinnehmer. »Morlina, Kind, – gib mir meinen Hut!«

»Ach, Sie werden uns Loch nicht schon verlassen, Herr Lillyvick?« vermittelte Fräulein Petowker mit ihrem bezauberndsten Lächeln.

Aber Herr Lillyvick rief, ohne sich durch die Sirene beschwatzen zu lassen, fortwährend »Morlina, meinen Hut«, bis endlich bei der vierten Wiederholung dieser Aufforderung Frau Kenwigs mit einem Schrei, der sogar ein Wasserfaß, geschweige denn einen Wassersteuereinnchmer hätte erweichen können, in ihren Stuhl zurücksank, während die vier kleinen Mädchen, die im geheimen darauf abgerichtet worden waren, die Beinkleider ihres Großonkels mit ihren Armen umschlangen und ihn in ihrem gebrochenen Plappern zu bleiben baten.

»Warum soll ich hier bleiben, meine Lieben?« fragte Herr Lillyvick. »Man braucht mich hier nicht.«

»Ach, sprechen Sie nicht so grausam, Onkel«, schluchzte Frau Kenwigs, »wenn Sie mich nicht töten wollen.«

»Es sollte mich nicht wundernehmen, wenn mir gewisse Leute etwas der Art nachsagten«, versetzte Herr Lillyvick mit einem aufgebrachten Blicke nach Kenwigs. »Man höre doch, – mißlaunig!«

»Ach, ich kann es nicht ertragen, daß Sie solche Blicke nach meinem Manne schleudern«, rief Frau Kenwig«. »Es ist etwas Schreckliches, wenn derartige Auftritte in Familien vorkommen. Ach!«

»Herr Lillyvick«, sagte Kenwigs, »ich hoffe, um Ihrer Nichte willen, daß Sie nicht unversöhnlich sein werden.«

Die Züge des Steuereinnehmers wurden milder, als die ganze Gesellschaft ihre Bitten mit denen des Mannes seiner Nichte vereinigte. Er legte den Hut ab und streckte die Hand aus.

»Da, Kenwigs«, sagte Herr Lillyvick, »und damit Sie sehen, wie mißlaunig ich war, will ich Ihnen nur sagen, daß ich, wenn ich auch ohne ein weiteres Wort weggegangen wäre, hinsichtlich meiner Verfügung über die paar Pfunde, die ich nach meinem Tode Ihren Kindern hinterlassen werde, keine Änderung hätte eintreten lassen.«

»Morlina!« rief Madame Kenwigs in der höchsten Rührung, »falle vor dem lieben Onkel auf die Knie nieder und bitte ihn, daß er dich sein ganzes Leben über liebhaben möge; denn er ist mehr ein Engel als ein Mensch, wie ich immer gesagt habe.«

Morlina trat näher, um den ihr anbefohlenen Huldigungsakt zu vollziehen, wurde aber ohne Umstände von Herrn Lillyvick auf den Arm genommen und geküßt, worauf Frau Kenwigs herbeistürzte und den Steuereinnehmer küßte, während ein ununterdrückbares Beifallsgemurmel seitens der übrigen Gesellschaft, die Zeuge dieser Großmutsszene war, laut wurde.

Der Ehrenmann wurde abermals das Leben und die Seele der Gesellschaft und nahm seine alte Stelle als Löwe wieder ein, von der er durch die vorübergehende allgemeine Gedankenverwirrung für einen Augenblick heruntergesunken war. Vierfüßige Löwen sind, wie es heißt, nur wild, wenn sie hungrig sind, was auch bei den zweibeinigen zutrifft, da sie selten länger schmollen, wenn einmal ihr Appetit nach Auszeichnung beschwichtigt ist. Herr Lillyvick stand höher als je; denn er hatte seine Macht gezeigt, einen Wink hinsichtlich seines Vermögens und seiner testamentarischen Verfügungen fallen lassen, große Achtung wegen seiner Uneigennützigkeit und Tugend gewonnen und nebst all diesem zuletzt noch ein weit größeres Glas Punsch erhalten, als das gewesen war, mit dem Newman Noggs auf eine so unverantwortliche Weise davongegangen war.

»Ich muß noch einmal um Verzeihung für meine Zudringlichkeit bitten«, sagte Crowl, als er nach dieser glücklichen Wendung abermals durch die Tür hereinsah »aber das ist eine seltsame Geschichte – nicht wahr? Noggs wohnt nun schon fünf Jahre in diesem Hause, und die ältesten Mietsleute können sich nicht erinnern, je Besuch bei ihm gesehen zu haben.«

»Gewiß ist es etwas höchst Seltsames, wenn man so in der Nacht abgerufen wird«, entgegnete der Wassersteuereinnehmer; »und das Benehmen des Herrn Noggs ist, im mildesten Lichte betrachtet, wenigstens sehr geheimnisvoll.«

»Sie haben recht«, versetzte Crowl, »und ich will Ihnen noch mehr sagen, ich glaube, diese zwei Kraftgenies, wer sie auch sein mögen, sind irgendwo entlaufen.« »Was bringt Sie auf diesen Gedanken?« fragte der Steuereinnehmer, der durch eine stillschweigende Übereinkunft zum Wortführer der Gesellschaft erwählt zu sein schien. »Ich hoffe, Sie haben keinen Grund für die Annahme, daß sie irgendwo entlaufen sind, ohne ihre Steuern und Taxen zu bezahlen?«

Herr Crowl rümpfte die Nase und war eben im Begriff, gegen die Bezahlung von Steuern und Taxen im allgemeinen und unter allen Umständen zu protestieren, als er noch zeitig genug von seiten Herrn Kenwigs durch ein Flüstern und von seiten der Madame Kenwigs durch verschiedene Winke und Gesichtsverzerrungen vor einem so gewagten Schritte gewarnt wurde.

»Je nun«, sagte Crowl, der an Newmans Tür mit der größten Aufmerksamkeit gehorcht hatte; »sie sprachen so laut miteinander, daß sie mich fast aus meinem Zimmer vertrieben, und so mußte ich wohl hier und da ein Wort auffangen; aber alles, was ich daraus entnehmen kann, scheint darauf hinzudeuten, daß sie an dem einen oder dem andern Orte entlaufen sind. Ich möchte Frau Kenwigs nicht beunruhigen und hoffe daher, daß sie nicht aus irgendeinem Gefängnisse oder Hospitale kommen und vielleicht ein Fieber oder eine andere derartige Unannehmlichkeit mit sich bringen, wodurch die Kinder angesteckt werden könnten.«

Frau Kenwigs wurde durch diese Vermutung so überwältigt, daß es der ganzen zärtlichen Aufmerksamkeit der Fräulein Petowker vom Königl. Drury-Lane-Theater bedurfte, um sie nur einigermaßen wieder zu beruhigen; der Emsigkeit des Herrn Kenwigs gar nicht zu gedenken, der ein ziemlich umfangreiches Riechfläschchen so lange an die Nase seiner Gattin hielt, bis es zweifelhaft wurde, ob die Tränen, die ihr über die Wangen rollten, Wirkungen ihrer Gefühle oder das Resultat des Salmiakgeistes waren.

Die Damen, die anfangs ihr Mitgefühl einzeln ausgesprochen hatten, brachen nunmehr in einen kleinen Chor von beschwichtigenden Phrasen aus, unter denen die Redensarten: »die gute arme Frau!« – »an ihrer Stelle würde ich das nämliche fühlen« – »gewiß, eine schwere Prüfung« – und »niemand als eine Mutter weiß, was ein Mutterherz fühlt«, –die hervorstechendsten waren und am häufigsten wiederholt wurden. Kurz, die Gesellschaft sprach ihre Ansicht so unverhohlen aus, daß Herr Kenwigs im Begriffe war, sich nach Herrn Noggs‘ Zimmer zu begeben und eine Erklärung zu fordern. Er hatte auch in der Tat zu besserer Kräftigung und Befestigung seines Vorsatzes bereits ein muteinflößendes Glas Punsch zu sich genommen, als die Aufmerksamkeit aller Anwesenden durch eine neue schreckliche Überraschung in Anspruch genommen wurde.

Diese bestand in nichts Geringerem als in einem schrillen und durchbohrenden Geschrei, das von einem obern Stocke und allem Anschein nach von dem Dachhinterstübchen herkam, wo der junge Herr Kenwigs in seiner Wiege lag. Der Lärm hatte kaum angefangen, als Frau Kenwigs sogleich auf die Ahnung verfiel, eine fremde Katze habe sich hineingeschlichen und dem Kleinen, während das Dienstmädchen schlief, das Blut ausgesogen, weshalb sie auch nach der Tür stürzte, die Hände rang und zur großen Bestürzung und Verwirrung der Gesellschaft in die entsetzlichsten Angstrufe ausbrach.

»Kenwigs, sehen Sie nach, was es ist – eilen Sie!« rief die Schwester der Festgeberin, indem sie Madame Kenwigs mit Gewalt zurückhielt. »Ach, meine Liebe, zapple doch nicht so schrecklich, sonst kann ich dich nicht mehr halten.«

»Mein Kind! mein liebes – liebes – liebes – liebes Kind«, kreischte Frau Kenwigs, indem sie jedes folgende »liebes« lauter als das vorhergehende betonte. »Mein Ein und mein Alles, mein liebes, unschuldiges Lillyvickchen! O laßt mich zu ihm, laßt mich ge-he-he-hen!«

Unter diesem tollen Gekreisch und dem Weinen und Wehklagen der vier kleinen Mädchen eilte Herr Kenwigs die Stiegen hinauf nach dem Zimmer, von wo aus die Töne, die den Anlaß zu dieser Verwirrung gegeben hatten, herkamen. An der Tür begegnete er aber Nicolaus, der, das Kind auf seinen Armen, mit einem solchen Ungestüm herausstürztc, daß der ängstliche Vater sechs Stufen hinuntergeworfen wurde und gegen das nächste Geländer flog, ehe er noch Zeit gehabt hatte, den Mund zu der Frage, was es gäbe, zu öffnen.

»Seien Sie unbesorgt«, rief Nicolaus hinuntereilend! »hier ist es! Es ist alles vorbei – es ist alles vorüber! Ich bitte, fassen Sie sich; es ist kein Unglück geschehen.«

Mit diesen und tausend anderen Versicherungen überlieferte er das Kind, das er in der Eile mit nach unten gekehrtem Kopf fortgeschleppt hatte, der Frau Kenwigs und stürmte wieder hinaus, um Herrn Kenwigs beizustehen, der sich von seinem Fall noch nicht ganz erholt hatte und mit verwirrten Blicken sich den Kopf zerrieb.

Durch diese frohe Botschaft beruhigt, erholten sich die Anwesenden nach und nach wieder von ihrer Furcht, die sich bei einigen Gliedern der Gesellschaft zu einem gänzlichen Mangel der Geistesgegenwart gesteigert hatte. So hielt z. B. der unverheiratete Freund statt der Madame Kenwigs lange Zeit Madame Kenwigs‘ Schwester in seinen Armen; und den würdigen Herr Lillyvick sah man in der Verwirrung seiner Lebensgeister hinter der Zimmertür mehrere Male Fräulein Petowker so ruhig küssen, als ob ganz und gar nichts Ungewöhnliches vorginge.

»Die Sache ist durchaus von keiner Bedeutung«, sagte Nicolaus, als er zu Frau Kenwigs zurückkehrte. »Das kleine Mädchen, das das Kind hütete, ist – vermutlich aus Ermüdung – eingeschlafen und hat sich das Haar angezündet.«

»O du boshafte kleine Kreatur!« schrie Frau Kenwigs, indem sie ausdrucksvoll ihren Zeigefinger gegen die arme Unglückliche schüttelte, die etwa dreizehn Jahre alt sein mochte und mit versengten Haaren und an allen Gliedern zitternd dastand.

»Ich habe sie schreien hören«, fuhr Nicolaus fort, »und kam noch zeitig genug dazu, um zu verhindern, daß das Feuer nicht weiter um sich griff. Sie können sich darauf verlassen, daß das Kind unversehrt ist, denn ich nahm es selbst aus dem Bett und brachte es her, um Sie zu überzeugen.«

Nach dieser kurzen Auseinandersetzung wurde der Kleine, der, da er nach dem Steuereinnehmer getauft war, sich der Namen Lillyvick Kenwigs erfreute, von den Liebkosungen der Anwesenden fast erstickt und von der Mutter so lange an die Brust gedrückt, bis er abermals zu schreien begann. Die Aufmerksamkeit der Gesellschaft wurde nun vermöge eines ganz natürlichen Übergangs auf das kleine Mädchen gerichtet, das die Kühnheit gehabt hatte, sich das Haar zu verbrennen, und das nach verschiedenen kleinen Püffen von den aufgeregteren Damen in Gnaden nach Hause geschickt wurde; die neun Pence, die ihr als Lohn verheißen waren, fielen begreiflicherweise der Familie Kenwigs anheim.

»Aber wir wissen ja gar nicht, was wir zu Ihnen sagen sollen, Sir«, rief Frau Kenwigs, die sich endlich an den Überbringer des jungen Lillyvick wandte.

»Sie brauchen gar nichts zu mir zu sagen«, versetzte Nicolaus, »denn gewiß, ich habe nichts getan, wodurch ich einen besonderen Aufwand Ihrer Beredsamkeit verdient hätte.«

»Der Kleine hätte verbrennen können, wenn Sie nicht gewesen wären«, bemerkte Fräulein Petowker geziert.

»Ich halte dies nicht für sehr wahrscheinlich«, entgegnete Nicolaus, »denn es hätte von hier unten aus nicht an Beistand fehlen können, der das Kind erreicht haben würde, ehe es wirklich in Gefahr gekommen wäre.«

»Sie erlauben uns aber doch, auf Ihre Gesundheit zu trinken, Sir«, fragte Herr Kenwigs, sich dem Tische nähernd.

»In meiner Abwesenheit allerdings«, versetzte Nicolaus lächelnd. »Ich habe eine sehr ermüdende Reise gemacht und würde schlecht in eine Gesellschaft passen, da ich selbst im Falle, daß ich wach bliebe, was ich übrigens für sehr zweifelhaft halte, eher Ihre Heiterkeit stören als fördern würde. Sie werden mir daher erlauben, zu meinem Freunde, Herrn Noggs, zurückzukehren, der sich, als er sah, daß nichts Ernstliches vorgefallen, wieder nach seinem Zimmer verfügte. Gute Nacht!«

So der Teilnahme an den Festlichkeiten ausweichend, verabschiedete sich Nicolaus von Frau Kenwigs und den übrigen Damen in einer sehr gewinnenden Weise und entfernte sich, einen nicht unbedeutenden Eindruck bei der Gesellschaft zurücklassend.

»Welch ein herrlicher junger Mann!« rief Frau Kenwigs.

»Er hat ganz das Äußere eines Mannes von Stande«, sagte Herr Kenwigs. »Meinen Sie nicht auch so, Herr Lillyvick?«

»Ja«, meinte der Steuereinnehmer mit einem bedenklichen Achselzucken; »das Äußere – das Äußere.«

»Ich hoffe. Sie finden nichts an ihm auszusetzen, Onkel?« fragte Frau Kenwigs.

»Nicht doch, meine Liebe«, entgegnete der Steuereinnehmer, »nicht doch. Ich hoffe, er wird seinem Äußeren Ehre machen. – Nun – hat nichts zu sagen. Dir, Nichte, meine Liebe, und langes Leben dem Kinde!«

»Das Ihren Namen trägt«, fügte Flau Kenwigs mit einem süßen Lächeln bei.

»Und, wie ich hoffe, ihn mit Ehren tragen wird«, bemerkte Herr Kenwigs in der Absicht, den Steuereinnehmer wieder ganz zu versöhnen. »Ich bin überzeugt, der Kleine wird seinem Paten nie eine Schande machen und in späteren Jahren als ein Stück der Lillyvicks betrachtet werden, deren Namen er trägt. Ich darf wohl sagen – und meine Frau ist der gleichen Meinung, da sie es ebenso lebhaft wie ich empfindet –, daß ich es für eine der größten Segnungen und Ehren meines Lebens ansehe, ihn mit dem Namen Lillyvick nennen zu können.«

»Für die größte Segnung, Kenwigs«, flüsterte Madame.

»Ja, für die größte Segnung«, verbesserte sich Herr Kenwigs – »eine Segnung, die ich, wie ich hoffe, dermaleinst zu verdienen imstande sein werde.«

Das war ein Meisterstreich der Kenwigsschen Politik, da er Herrn Lillyvick zur Hauptquelle der Bedeutsamkeit des Kleinen machte. Der gute Herr fühlte die Zartheit und Feinheit dieser Anspielungen und brachte auf einmal die Gesundheit des unbekannten Herrn in Vorschlag, der in dieser Nacht so viele Raschheit und Besonnenheit gezeigt hatte.

»Der, wie ich mich zu sagen nicht geniere –« fuhr Herr Lillyvick, der damit gewiß nicht wenig einräumte, fort – »ein recht anständig aussehender junger Mann ist und sich so gut zu benehmen weiß, daß ich hoffe, sein Charakter werde damit im Einklang stehen.«

»In der Tat, ein recht hübsches Gesicht und ganz seine Manieren«, sagte Frau Kenwigs.

»Niemand kann ihm das streitig machen«, fügte Fräulein Petowker bei: »er hat etwas in seinem Äußeren, etwas ganz – ach du mein Himmel, wie heißt nur das Wort?«

»Was für ein Wort?« fragte Herr Lillyvick.

»Ach Gott, wie ich doch so dumm bin«, entgegnete Fräulein Petowker zögernd. »Wie nennt man es doch, wenn die Herren von Adel Klingeln abreißen, anderer Leute Geld verspielen, und was dergleichen mehr ist?«

»Aristokratisch?« meinte der Steuereinnehmer.

»Richtig, aristokratisch«, erwiderte Fräulein Petowker. »Er hat etwas ungemein Aristokratisches an sich. Ist’s nicht so?«

Die Herren blieben ruhig und lächelten sich gegenseitig zu, als wollten sie sagen, das wäre Geschmackssache: die Damen aber erklärten einstimmig, daß Nicolaus ein ganz aristokratisches Äußere hätte, und da sich’s niemand angelegen sein ließ, den Satz zu bestreiten, so wurde er auch als unbestreitbar angenommen.

Der Punsch war mittlerweile auf die Neige gegangen, und die kleinen Kenwigse, die schon seit einiger Zeit ihre kleinen Augen mit ihren kleinen Zeigefingern hatten offen halten müssen, wurden widerspenstig und verlangten dringend nach dem Bett. Der Steuereinnehmer gab das Zeichen zum Aufbruch, indem er seine Uhr herauszog und der Gesellschaft ankündete, daß es bald zwei Uhr sei, wodurch einige Gäste überrascht und andere erschreckt wurden. Man suchte die Herren- und Damenhüte unter den Tischen hervor, und als diese nach und nach aufgefunden waren, entfernten sich ihre Eigentümer nach vielen Händedrücken und oft wiederholten Beteuerungen, daß sie noch nie einen so köstlichen Abend erlebt hätten, daß sie sich wundern müßten, daß es schon so spät wäre, da sie gemeint hätten, es könne höchstens halb elf Uhr sein, daß sie wünschten, Herr und Frau Kenwigs möchten jede Woche einen solchen Tag feiern, daß sie nicht begreifen könnten, wie es Frau Kenwigs nur ermöglicht hätte, alles so hübsch anzuordnen – und was dergleichen Phrasen mehr sind.

Herr und Madame Kenwigs beantworteten alle diese schmeichelhaften Komplimente damit, daß sie jeder Dame und jedem Herrn der Reihe nach für das Vergnügen ihrer Gesellschaft dankten und den Wunsch aussprachen, sie möchten sich nur halb so gut unterhalten haben, wie dieses bei ihnen selbst der Fall gewesen wäre.

Was unsern Nicolaus anbelangt, so war er – des Eindrucks, den er hervorgebracht hatte, ganz unbewußt – schon längst in Schlaf verfallen, indem er es Herrn Newman Noggs und Smike überließ, gemeinschaftlich die Branntweinflasche zu leeren. Sie verrichteten auch dieses Geschäft so außerordentlich bereitwillig, daß Newman endlich ebensowenig zu unterscheiden wußte, ob er selbst vollkommen nüchtern wäre, oder, ob er je einen Menschcn so schwer und vollkommen betrunken gesehen hätte, wie seinen neuen Bekannten.

Sechzehntes Kapitel.


Sechzehntes Kapitel.

Nicolaus sucht eine Anstellung und nimmt, da ihm dieses fehlschlägt, eine Privatlehrerstelle an.

Am andern Morgen war es Nicolaus‘ erste Sorge, sich nach einem Zimmer umzusehen, wo er bis auf bessere Zeiten wohnen konnte, ohne Newman Noggs zur Last zu fallen, der mit Freude auf der Stiege geschlafen haben würde, wenn es nur sein junger Freund dadurch etwas bequemer bekam.

Das leerstehende Zimmer, auf das sich die Anzeige an der Haustür bezog, erwies sich bei näherer Nachforschung als ein kleines Hinterstübchen im zweiten Stock, von wo aus man eine gar liebenswürdige Aussicht auf mit Ruß bedeckte Dachziegel und Schornsteine hatte. Der Hausbesitzer hatte dem Mieter des Erdgeschosses die Vollmacht übertragen, diesen Teil des Hauses unter anständigen Bedingungen von Woche zu Woche zu vermieten, wie denn auch überhaupt der letztere den Auftrag hatte, die Zimmer, sobald sie leer würden, wieder zu vergeben und ein scharfes Auge auf die Hausbewohner zu haben, damit sie nicht davonliefen. Um den Mann zu einer pünktlichen Vollziehung dieser letzteren Obliegenheit zu vermögen, erhielt er freie Wohnung, damit er nicht in Versuchung käme, einmal selber davonzulaufen.

Der Erlös aus einigen entbehrlichen Kleidungsstücken setzte Nicolaus in den Stand, diese Kammer zu erstehen und auch die Miete für etliche notwendige Möbel, die er sich von einem benachbarten Trödler verschaffte, auf eine Woche voraus zu bezahlen. Hier saß er nun in seinen vier Wänden, um über seine Aussichten für die Zukunft nachzudenken, die aber freilich – wie die seines Fensters – gar beschränkt und trübe waren. Sie wurden aber durch das Nachsinnen nicht besser, und da allzu genaue Bekanntschaft leicht Verachtung erzeugt, so faßte er den Entschluß, seine Gedanken durch einen tüchtigen Spaziergang zu verscheuchen. Er nahm daher seinen Hut und überließ das Gemach dem armen Smike, der es stets aufs neue, und zwar mit einem Entzücken ordnete, als wenn es der herrlichste Palast gewesen wäre, während er sich selbst in das Gewühl der Straßen mengte.

Wenn man sich als eine bloße Einheit in einem geschäftigen Gedränge sieht, wo man von niemandem beachtet wird, so kann man allerdings das Gefühl der eigenen Wichtigkeit verlieren; aber es folgt daraus keineswegs, daß man sich ebenso leicht des drückenden Bewußtseins von der Wichtigkeit und Größe seiner Sorgen entledigen kann. Nicolaus‘ Gehirn war ausschließlich mit dem trostlosen Zustand seiner eigenen Angelegenheiten beschäftigt – Gedanken, die ungeachtet des schärfsten Laufes nicht weichen wollten –; und wenn er es auch versuchte, sie durch Betrachtungen über die Lage und Aussichten der ihn umgebenden Menge zu verscheuchen, so nahm ihn vielleicht der Vergleich der Gegensätze auf einige Augenblicke in Anspruch, führte ihn aber, ehe er sich’s versah, wieder auf seinen alten Gedankengang zurück.

Als er, von solchen Betrachtungen hingenommen, in einer von Londons Hauptstraßen hinschlenderte, trafen seine Blicke auf einmal eine blaue Tafel, worauf mit goldenen Buchstaben zu lesen stand: »General-Agentur; Plätze und Stellen aller Art sind im Hause zu erfragen.« Es war ein Laden mit einer Gasblende und einer inneren Tür, hinter deren Glasscheiben eine lange und lockende Reihe von Ankündigungen hing, die offene Stellen jeden Grades vom Sekretär bis zum Laufjungen hinunter anboten.

Nirolaus machte unwillkürlich vor diesem Tempel der Verheißung halt und überflog mit dem Auge die in großen Lettern beschriebenen Stellungen, die hier so verschwenderisch angeboten wurden. Als er mit diesem Studium zu Ende gekommen war, ging er eine Strecke weiter, kehrte aber wieder um und ging eine Weile unschlüssig vor der Tür des Bureaus der Generalagentur auf und ab, bis er sich endlich ein Herz faßte und eintrat.

Er befand sich nun in einem kleinen mit Bodenteppichen versehenen Zimmer, in dem ein hohes, mit einem Geländer versehenes Pult stand. Hinter diesem Pult saß ein magerer junger Mann mit schlauen Augen und einem hervorragenden Kinn, dessen Leistungen in Frakturschrift die Scheiben der Ladentür verdunkelten. Er hatte ein großes Hauptbuch aufgeschlagen vor sich liegen und die Finger seiner rechten Hand zwischen den Blättern desselben stecken, während seine Augen auf eine sehr beleibte alte Dame in einer Morgenhaube – augenscheinlich die Eigentümerin des Geschäfts – geheftet waren, die sich am Feuer wärmte. Er schien ihre Aufträge zu erwarten, um über einige Punkte, die sich in dem Bereiche der rostigen Klappen seines Buches befanden, Bericht zu erstatten.

Nicolaus hatte außen eine Tafel gesehen, die dem Publikum anzeigte, daß hier von zehn bis vier Uhr Dienstboten aller Art gemietet werden könnten, und konnte sich daher den Zweck der Anwesenheit von einem halben Dutzend kräftiger junger Frauenspersonen, die in Überschuhen und mit Sonnenschirmen auf einer Eckbank saßen, um so leichter erklären, da die armen Dinger gar ängstlich und verdrießlich aussahen. Nicht ganz so sicher war er hinsichtlich des Berufs und der Stellung zweier schmucker junger Frauenzimmer, die sich mit der dicken Dame am Feuer unterhielten, bis diese – er hatte sich inzwischen mit der Erklärung, daß er warten wolle, bis die übrigen Kunden bedient wären, in eine Ecke gesetzt – das Gespräch, das durch sein Eintreten unterbrochen wurde, wieder aufnahm.

»Köchin – Tom«, sagte die dicke Frau, die sich, wie vorhin bemerkt, an dem Feuer wärmte.

»Köchin«, versetzte Tom, einige Blätter seines Hauptbuches umschlagend; »gut.«

»Lesen Sie eine oder zwei leichte Stellen«, entgegnete die dicke Dame.

»Wenn ich bitten darf, ein paar recht leichte, junger Herr«, fügte ein modisch gekleidetes Frauenzimmer in buntkarrierten Zeugstiefeln, die die Klientin zu sein schien, bei.

»Frau Marker«, las Tom, »Russelplatz, Russelquare; bietet achtzehn Guineen, auch Tee und Zucker. Eine Familie von zwei Personen, die äußerst wenig Gesellschaft sieht. Hält fünf Dienstboten, aber keinen männlichen. Duldet auch keine Liebhaber.«

»Ach, lieber Himmel, das ist nichts«, kicherte die Klientin; »lesen Sie eine andere, junger Herr.«

»Frau Wrymug«, sagte Tom. »Angenehme Stelle in Finsbury, Lohn zwölf Guineen. Kein Tee, kein Zucker. Fromme Familie –«

»Ach lassen Sie das nur«, fiel die Klientin ein.

»Drei fromme Diener«, fuhr Tom mit Nachdruck fort.

»Drei, sagten Sie?« rief die Klientin in einem veränderten Tone.

»Drei fromme Diener«, wiederholte Tom – »Köchin, Haus- und Stubenmädchen: jeder weibliche Dienstbote muß Sonntags dreimal in die Kirche – mit einem frommen Diener. Wenn die Köchin frommer ist als der Diener, so erwartet man von ihr, daß sie den Diener bessere; ist der Diener frommer als die Köchin, so hofft man von ihm, daß er einen gleichen Einfluß auf die Köchin übe.«

»Ich bitte um die Adresse dieses Ortes«, sagte die Klientin; »ich weiß nicht, aber ich meine, diese Stelle könnte mir zusagen.«

»Hier ist noch eine andere«, bemerkte Tom, einige Blätter umschlagend; »Familie des Herrn Gallanbile, Parlamentsmitglied. Fünfzehn Guineen, Tee und Zucker; die weiblichen Dienstboten dürfen männliche Verwandte sehen, wenn diese recht fromme Personen sind. NB. Am Sabbat kaltes Mittagessen in der Küche, da Herr Gallanbile für strenge Beobachtung des Sabbats gestimmt hat. Am Tage des Herrn wird durchaus nichts gekocht, als das Mittagessen für Herrn und Frau Gallanbile, was natürlich als ein Werk der Frömmigkeit und Notwendigkeit eine Ausnahme erleidet. Herr Gallanbile speist an dem Tage der Ruhe spät, um der Köchin die Sünde des Ankleidens zu ersparen.«

»Ich glaube nicht, daß mir diese Stelle so gut wie die vorige ansteht«, sagte die Klientin nach einem kurzen Flüstern mit ihrer Freundin. »Seien Sie so freundlich, mir die Markersche Adresse zu geben, junger Herr. Ich kann ja wiederkommen, wenn sich’s nicht schicken will.«

Tom schrieb verlangtermaßen die Adresse heraus, und die modisch gekleidete Klientin entfernte sich mit ihrer Freundin, nachdem sie einstweilen die dicke Dame mit einer kleinen Gabe befriedigt hatte.

Nicolaus wollte eben seinen Mund öffnen, um den jungen Mann zu ersuchen, unter dem Buchstaben S die verfügbaren Sekretärstellen aufzusuchen, als eine Dame in das Bureau trat, deren Äußeres ihn ebensosehr überraschte, wie ansprach, weshalb er auch zu ihren Gunsten zurücktrat.

Die Dame, die kaum achtzehn Jahre zählen konnte und außerordentlich schön und zart gebaut war, trat schüchtern an den Schreibtisch und fragte mit leiser Stimme nach einer Stelle als Erzieherin oder als Gesellschafterin einer Dame.

Sie schlug, während sie ihre Angabe vorbrachte, ihren Schleier einen Augenblick zurück und ließ ein Gesicht von vollendeter Schönheit blicken, obgleich es durch eine Wolke der Trauer beschattet wurde, die bei einem so jungen Wesen doppelt auffallend war. Man schrieb ihr aus dem Buche eine Adreßkarte, und nachdem sie die gewöhnliche Gebühr entrichtet hatte, glitt sie hinaus.

Sie war nett, aber ungemein bescheiden gekleidet, so daß ihr Anzug an einem Mädchen von weniger persönlicher Anmut sogar als ärmlich erschienen wäre. Ihre Begleiterin – denn sie hatte eine solche – war ein schmutziges Mädchen mit rotem Gesicht und großen Augen, das nach einer gewissen Rauheit an den bloßen Armen, die unter dem schlampig umgeworfenen Halstuche hervorsahen, und nach den halbgewaschenen Spuren von Schmutz und Ruß, die ihr Gesicht tätowierten, zu schließen, augenscheinlich zu der Klasse der Dienstmägde auf der Bank gehörte, mit denen sie auch einige Blicke und Gebärden wechselte, die auf eine gewisse Geheimbündelei des Gewerbes hinwiesen.

Das Mädchen folgte ihrer Gebieterin; und noch ehe sich Nicolaus von den ersten Wirkungen der Überraschung erholt hatte, war die junge Dame verschwunden. Es ist nicht so ganz unwahrscheinlich, wie sich vielleicht einige nüchterne Leute denken mögen, daß er ihnen nachgefolgt wäre, wenn er nicht durch das, was zwischen der dicken Dame und ihrem Buchhalter verhandelt wurde, zurückgehalten worden wäre.

»Wann kommt sie wieder, Tom?« fragte die dicke Dame.

»Morgen früh«, antwortete Tom, seine Feder spitzend.

»Wo haben Sie sie hingesandt?« fragte die dicke Dame.

»Zu Madame Clarks«, entgegnete Tom.

»Sie wirds gut kriegen, wenn sie dort unterkommt«, bemerkte die dicke Dame, indem sie eine Prise aus einer zinnernen Schnupftabaksdose nahm.

Tom erwiderte nicht«, sondern deutete mit der Feder auf Nicolaus – eine Erinnerung, die der dicken Dame die Frage entlockte:

»Nun, Sir, was können wir für Sie tun?«

Nicolaus antwortete mit kurzen Worten, daß er wissen möchte, ob nicht irgendeine Stelle als Sekretär oder Hilfskraft bei einem Herrn zu haben sei.

»O, ein halbes Dutzend statt einer«, versetzte die Kommissionärin. »Nicht wahr, Tom?«

»Ich sollt’s meinen«, antwortete der junge Herr.

Er winkte bei diesen Worten Nicolaus mit einem Grad von Vertraulichkeit zu, der ohne Zweifel als ein sehr schmeichelhaftes Kompliment gelten sollte, was jedoch von dem Bewerber um die Sekretärstelle höchst undankbarerweise nur mit Widerwillen aufgenommen wurde.

Als man das Buch zu Rate zog, stellte sich heraus, daß die Dutzend Stellen zu einer einzigen eingeschrumpft waren. Herr Gregsbury, das große Parlamentsmitglied von Manchester Buildings in Westminster, suchte einen jungen Mann, der seine Papiere und Korrespondenz in Ordnung halten sollte, und Nicolaus war gerade von dem Schlag, dessen Herr Gregsbury bedurfte.

»Die Bedingungen sind uns unbekannt, da der Auftraggeber sie mit dem Stellungsuchenden selbst abzumachen gedenkt«, bemerkte die dicke Dame; »aber sie können nur sehr vorteilhaft sein, da er Parlamentsmitglied ist.«

So unerfahren auch Nicolaus war, so war er doch von der Richtigkeit dieses Schlusses nicht ganz überzeugt. Ohne jedoch auf weitere Nachfragen einzugehen, ließ er sich die Adresse aufschreiben und nahm sich vor, Herrn Gregsbury unverzüglich seine Aufwartung zu machen.

»Ich kann Ihnen die Hausnummer nicht angeben«, sagte Tom; »aber Manchester Buildings ist nicht groß, und im schlimmsten Falle finden sie ihn, wenn Sie an allen Türen auf beiden Seiten der Straße anklopfen, wozu Sie nicht allzulange brauchen werden. Aber nicht wahr – das war ein hübsches Mädchen?«

»Was für ein Mädchen, Sir?« fragte Nicolaus finster.

»O ja, ich weiß schon – was für ein Mädchen, he?« flüsterte Tom, indem er blinzelnd sein Kinn vorschob. »Sie haben sie natürlich nicht gesehen – was meinen Sie, möchten Sie morgen nicht an meiner Stelle sein, wenn sie wiederkommt?«

Nicolaus sah den häßlichen Schreiber mit einem Blicke an, als hätte er gute Lust, ihm als Lohn für seine Bewunderung der jungen Dame das Hauptbuch um die Ohren zu schlagen. Er hielt jedoch an sich und verließ stolz das Bureau, indem er in seiner Entrüstung den alten Gesetzen der Ritterlichkeit Trotz bot, die es nicht nur allen braven Rittern zur Pflicht machten, das Lob der Damen ihres Herzens anzuhören, sondern sogar von ihnen fordern, in der Welt herumzustreifen und allen jenen hölzernen und prosaischen Kerlen den Schädel einzuschlagen, die sich weigern, Damen in den Himmel zu erheben, von denen sie zufälligerweise nie etwas gesehen oder gehört hatten – als ob dieser letzte Umstand wirklich als eine Entschuldigung gelten könnte.

Nicolaus vergaß über den Betrachtungen, worin wohl das Unglück dieses schönen Mädchens bestehen möchte, seine eigene traurige Lage, und unter solchen Gedanken lenkte er seine Schritte nach Manchester Buildings, obgleich er nicht selten fehlging, da er auf seine vielen Fragen fast ebenso viele falsche Anweisungen erhielt.

In den Grenzen der früheren Stadt Westminster, ein paar hundert Schritte von ihrem alten Heiligtum, ist ein enger und schmutziger Bezirk, das Sanktuarium der unbedeutenderen Parlamentsmitglieder unserer Tage. Es beschränkt sich auf eine einzige Straße voll düsterer Häuser, von dessen Fenstern zur Zeit der Parlamentsferien lange, traurige Reihen von Anschlagzetteln herunterhängen, die ebenso offen wie die Gesichter der früheren Hausbewohner, die sich auf den Bänken der Regierung und der Opposition herumtreiben, der Welt sagen: »zu vermieten«, – »zu vermieten.« Ist das Parlament versammelt, so verschwinden diese Zettel, und die Häuser wimmeln von Gesetzgebern – Gesetzgeber im Erdgeschosse, in der ersten Etage, im zweiten und dritten Stock bis zu den Dachstuben hinauf; die kleinen Gemächer dampfen von dem Atem der Deputationen und Delegierten. Bei feuchtem Wetter sieht man nichts von dem Ort, da er in den Dünsten, die von den durchwässerten Parlamentsakten und den muffigen Petitionen aufsteigen, ganz umnebelt wird. Die Briefträger verfallen in Schwächezustände, wenn sie die Grenzen dieses angesteckten Bezirks betreten, und schäbige Gestalten, die die Postfreiheit der Parlamentsmitglieder ausbeuten möchten, schießen rastlos wie die aufgestörten Geister dahingeschiedener Briefsteller hin und her.

Das ist Manchester Buildings, und hier kann man alle Stunden der Nacht das Rasseln der Schlüssel in ihren Schlössern und hin und wieder – wenn ein über das Wasser, das den Fuß der Gebäude bespült, hinfegender Windstoß den Ton nach dem Eingänge führt – die schwache, schrille Stimme irgendeines Parlamentsmitglieds, das eine Rede auf den andern Morgen einübt, vernehmen. Hier hört man den ganzen Tag das Quieken der Drehorgeln und das Leiern von Spieluhren und Spieldosen; denn Manchester Buildings ist ein Sack, der keinen andern Ausgang hat als die unzierliche Mündung – ein Flaschenfutter ohne Durchgang mit einem kurzen und engen Hals –, und in dieser Hinsicht kann man es wohl das Vorbild des Schicksals von so manchem seiner Bewohner nennen, der, nachdem er sich mit vielem Mühen und Ducken ins Parlament geschlichen hat, am Ende findet, daß kein Ausweg für ihn vorhanden ist, und alles nur, wie Manchester Buildings, zu nichts als zu sich selbst führte, so daß er am Ende gern wieder herausgeht, wie er hineinkam, weder reicher noch weiser oder auch nur um einen Pfifferling berühmter.

Nach diesem Ort wanderte Nicolaus mit der Adresse des großen Herrn Gregsbury in der Hand und fand gleich am Eingang eine große Menschenmasse, die in ein armseliges Haus strömte. Er wartete, bis sich die Straße geleert hatte, suchte dann einen Diener dieses Hauses auf und fragte, ob er nicht wisse, wo Herr Gregsbury wohne.

Der Diener war ein blasser, schäbiger, junger Mensch, der aussah, als ob er von seiner Kindheit an in Kellern geschlafen hätte, was vielleicht auch der Fall war.

»Herr Gregsbury?« sagte er; »Herr Gregsbury wohnt hier. Sie sind ganz recht. Kommen Sie herein.«

Da Nicolaus keinen Grund einsah, warum er nicht hineingehen sollte, so tat er es; und kaum war dies geschehen, so schloß der junge Mensch die Tür und machte sich davon.

Das war seltsam genug, aber noch mehr verwirrte ihn der Umstand, daß sich auf der engen Hausflur und den engen Stiegen eine wirre Masse von Menschen befand, die sich mit gar bedeutungsvollen und wichtigen Gesichtern an die Fenster stellten und den dunklen Eingang noch dunkler machten. Sie harrten augenscheinlich in schweigender Erwartung auf ein bevorstehendes Ereignis; denn von Zeit zu Zeit flüsterte einer seinem Nachbar etwas zu, oder flüsterte eine kleine Gruppe zusammen, und dann nickten oder schüttelten die Flüsternden bedeutungsvoll ihre Köpfe, als ob sie etwas Verzweifeltes im Schilde führten und fest entschlossen wären, sich unter keinen Umständen abschütteln zu lassen.

Einige Minuten vergingen, ohne daß etwas vorfiel, was diesen Auftritt erklärt hätte, und Nicolaus, der sich nicht sonderlich behaglich in seiner Lage fühlte, schickte sich eben an, bei einem Nachbar einige Erkundigungen einzuziehen, als plötzlich eine lebhafte Bewegung auf den Stiegen bemerkbar wurde und eine Stimme sich vernehmen ließ:

»Nun, meine Herren, haben Sie die Güte, heraufzukommen.«

Die Herren auf den Stiegen begannen übrigens, statt hinaufzugehen, rasch hinunterzusteigen, und baten dann die Herren in der Nähe der Tür mit außerordentlicher Höflichkeit, voranzugehen. Diese erwiderten mit gleicher Höflichkeit, daß sie um keinen Preis an so etwas denken würden: aber sie taten es, ohne daran zu denken, denn die anderen Herren drängten ein halbes Dutzend, unter denen sich auch Nicolaus befand, vorwärts und stießen diese, indem sie sich hinten anschlossen, nicht nur die Stiegen hinauf, sondern auch bis in das Audienzzimmer des Herrn Gregsbury hinein, in das sie mit der ungebührlichsten Hast einzutreten genötigt waren, ohne imstande zu sein, sich wieder zurückzuziehen, da die nachdrängende Menge das Gemach füllte.

»Meine Herren«, sagte Herr Gregsbury, »Sie sind willkommen. Ich bin erfreut, Sie zu sehen.«

Für einen Mann, der erfreut war, einen ganzen Haufen Gäste bei sich zu sehen, sah Herr Gregsbury so unbehaglich wie nur möglich aus. Aber das hatte vielleicht seinen Grund in der Würde des Gesetzgebers und dem Zwang, den Staatsmänner ihren Gefühlen aufzuerlegen pflegen. Er war ein sehr wohlbeleibter, dickköpfiger Herr mit lauter Stimme und pomphaftem Wesen, dem eine erträgliche Menge nichtssagender Phrasen zu Gebot stand, und der – mit einem Worte – alle Erfordernisse eines guten Parlamentsmitgliedes besaß.

»Nun, meine Herren«, sagte Herr Gregsbury, indem er einen großen Stoß Papiere in einen zu seinen Füßen stehenden geflochtenen Korb warf und sich selbst mit übereinandergeschlagenen Armen in seinem Stuhle zurücklehnte: »Sie sind, wie ich aus den Zeitungen entnehme, unzufrieden mit meiner Art der Führung meines Amtes?«

»Ja, Herr Gregsbury, das sind wir«, versetzte ein plumper, alter Herr, der mit vielem Ungestüm aus dem Gedränge hervorbrach und sich vorn aufpflanzte.

»Wie?« entgegnete Herr Gregsbury, den Sprecher betrachtend; »täuschen mich meine Augen, oder ist dies wirklich mein alter Freund Pugstyles?«

»Der bin ich und kein anderer, Sir«, erwiderte der plumpe, alte Herr.

»Geben Sie mir Ihre Hand, mein würdiger Freund«, sagte Herr Gregsbury. »Pugstyles, mein teurer Freund, ich bedaure ungemein, Sie hier zu sehen.«

»Und ich bedaure ungemein, daß ich hier sein muß«, versetzte Herr Pugstyles; »aber Ihr Benehmen, Herr Gregsbury, hat diese Abordnung seitens Ihrer Wähler gebieterisch notwendig gemacht.«

»Mein Benehmen, Pugstyles«, entgegnete Herr Gregsbury, indem er die Deputierten der Reihe nach mit huldreicher Herablassung betrachtete – »mein Benehmen wurde stets und wird stets durch die aufrichtige Berücksichtigung der wahren und wirklichen Interessen dieses großen und glücklichen Landes geleitet werden. Ob ich auf meine Heimat oder auf andere Landesteile blicke, ob ich die friedlichen, gewerbtätigen Gemeinden unserer heimischen Insel betrachte, ihre mit Dampfbooten bedeckten Flüsse, ihre Straßen mit Fuhrwerken und Dampfwagen, ihren Himmel mit Luftschiffen von einer Macht und Größe, die in der Geschichte der Luftschiffahrt (sowohl dieses als eines anderen Volkes) nicht ihresgleichen haben – ich sage, ob ich bloß auf meine Heimat blicke oder meine Augen weiter gleiten lasse und die endlose Aussicht auf Eroberung und Besitz betrachte, die sich vor mir eröffnet, und die durch britische Ausdauer und britischen Mut errungen wurde – so schlage ich meine Hände zusammen, richte meine Blicke zu dem weiten Gewölbe über meinem Haupt und rufe: Dank dir Himmel, daß ich ein Brite bin!«

Es war einmal eine Zeit, wo dieser Ausbruch von Begeisterung allenthalben freudigen Anklang gefunden haben würde; aber in dem gegenwärtigen Augenblicke nahm ihn die Abordnung mit der tödlichsten Kälte auf. Der Gesamteindruck schien zu sein, daß diese Phrase, wenn sie als eine Erklärung von Herrn Gregburys politischem Benehmen gelten sollte, nicht genug ins Einzelne einginge, und ein Herr im Hintergrunde nahm keinen Anstand, laut zu bemerken, daß das Ganze ziemlich nach Wind röche.

»Ich weiß nicht, was Sie hier mit dem Ausdrucke ›Wind‹ sagen wollen«, entgegnete Herr Gregsbury: »wenn aber damit angedeutet werden soll, daß ich ein wenig zu glühend, vielleicht sogar hyperbolisch in Erhebung der Vorzüge meines Geburtslandes wurde, so erkenne ich die volle Gerechtigkeit dieser Bemerkung an. Ich bin stolz auf dieses freie und glückliche Land. Ich fühle mich größer; meine Augen glänzen, meine Brust hebt sich, mein Herz schwillt, mein Busen brennt, wenn ich mir seinen Ruhm und seine Größe ins Gedächtnis rufe.«

»Wir wünschen Ihnen einige Fragen vorzulegen«, bemerkte Herr Pugstyles ruhig.

»Ich stehe zu Diensten, meine Herren. Meine Zeit gehört Ihnen – und meinem Vaterlande – ja, und meinem Vaterlande –« erwiderte Herr Gregsbury.

Sobald diese Erlaubnis erteilt war, setzte Herr Pugstyles seine Brille auf und durchlief ein beschriebenes Papier, das er aus seiner Tasche zog, worauf fast alle übrigen Deputationsmitglieder gleichfalls Schriften aus ihren Taschen zogen, um Herrn Pugstyles, während er die Fragen ablas, nachzuprüfen.

Als dies geschehen war, ging Herr Pugstyles zu seinem Zweck über.

»Frage Numero eins. Gaben Sie vor Ihrer Erwählung nicht das freiwillige Versprechen, daß Sie, im Fall Sie reussierten, der üblen Gewohnheit des Hustens und Grunzens im Unterhaus ein Ende machen wollten, und haben Sie sich nicht schon in der ersten Debatte der Sitzung niederhusten und niedergrunzen lassen, ohne auch nur den Versuch zu machen, eine Abstellung dieses Unfugs zu beantragen? Haben Sie ferner nicht das Versprechen abgelegt, die Minister niederzudonnern und sie zu Kreuze kriechen zu machen – und haben Sie sie niedergedonnert und zu Kreuze kriechen gemacht?«

»Gehen Sie auf den nächsten Punkt über, mein lieber Pugstyles«, sagte Herr Gregsbury.

»Haben Sie hinsichtlich dieser Frage eine Erklärung abzugeben, Sir?« fragte Herr Pugstyles.

»Gewiß nicht«, antwortete Herr Gregsbury.

Die Mitglieder der Abordnung warfen sich zuerst untereinander und dann dem Mitgliede wilde Blicke zu, und »der liebe Pugstyles« nahm, nachdem er Herrn Gregsbury geraume Zeit über seine Brille weg scharf fixiert hatte, seine Fragenliste wieder auf.

»Frage Numero zwei. Haben Sie nicht in gleicher Weise freiwillig gelobt, daß Sie Ihren Kollegen bei jeder Gelegenheit unterstützen würden, und haben Sie ihn nicht vorgestern nachmittag verlassen und mit der Gegenpartei gestimmt, weil die Frau eines Haupthahns von der Gegenpartei Madame Gregsbury zu einer Abendgesellschaft eingeladen hatte?«

»Weiter«, sagte Herr Gregsbury.

»Haben Sie auch hierauf nichts zu sagen, Sir?« fragte der Sprecher.

»Nicht das mindeste«, versetzte Herr Gregsbury.

Die Abordnung, die ihn nur zur Zeit der Stimmenwerbung und der Wahl gesehen hatte, wurde durch die Kaltblütigkeit nicht wenig verblüfft. Er schien nicht mehr derselbe Mann zu sein; denn damals war er ganz Milch und Honig, während er sich jetzt als Galle und Essig zeigte. Aber die Menschen ändern sich wie die Zeiten.

»Endlich und schließlich Frage Numero drei –« fuhr Herr Pugstyles mit Nachdruck fort. »Haben Sie nicht während der Wahl Ihren festen und unabänderlichen Entschluß zu erkennen gegeben, sich jedem Vorschlage zu widersetzen, bei jeder Frage Abstimmung zu verlangen, über jeden Gegenstand aktenmäßige Nachweisung zu fordern, jeden Tag einen Antrag zu stellen und – um mich kürzlich Ihrer eigenen denkwürdigen Worte zu bedienen – aller Welt den Teufel im Glas zu zeigen?«

Mit dieser inhaltsschweren Frage faltete Herr Pugstyles sein Papier zusammen, und seine Hintermänner taten dasselbe.

Herr Gregsbury überlegte, schneuzte sich, lehnte sich in seinem Stuhl zurück, beugte sich dann wieder vorwärts, stützte seine Ellenbogen auf den Tisch, machte mit seinen zwei Daumen und seinen zwei Zeigefingern ein Dreieck, schlug sich mit der Spitze desselben auf die Nase und entgegnete lächelnd:

»Ich stelle alles in Abrede.«

Bei dieser unverhofften Antwort erhob sich unter der Abordnung ein unwilliges Murren, und derselbe Herr, der schon früher seine Ansicht über die windartige Beschaffenheit der Begrüßungsanrede zum besten gegeben hatte, ließ abermals eine einsilbige Demonstration laut werden, indem er das Wort »Verzichtleistung« brummte, das durch die Art und Weise, wie seine Gefährten darin einstimmten, in der Tat zu einer ernsten und allgemeinen Unwillensäußerung anschwoll.

»Ich bin beauftragt, Sir«, sagte Herr Pugstyles mit einer nachlässigen Verbeugung, »Ihnen zu erklären, daß eine große Mehrzahl Ihrer Wähler wünscht, Sie möchten die Güte haben, auf Ihren Sitz zugunsten eines Bewerbers zu verzichten, dem man besser vertrauen zu dürfen glaubt.«

Herr Gregsbury las nun die folgende Antwort ab, die er in dem Vorgefühl einer solchen Aufforderung in der Form eines Briefes abgefaßt hatte, um Abschriften davon an die Redaktionen der Tagesblätter senden zu können:

»Mein lieber Pugstyles!

Nächst der Wohlfahrt unserer geliebten Insel – dieses großen, freien und glücklichen Landes, dessen Kräfte und Hilfsquellen nach meiner innigsten Überzeugung grenzenlos sind – schlage ich die edle Unabhängkeit, deren sich ein Engländer mit hohem Stolze rühmen kann, und die ich meinen Kindern unbefleckt und unbesudelt hinterlassen möchte, am höchsten an. Durch keine persönlichen Triebfedern geleitet, sondern einzig und allein veranlaßt durch hohe und wichtige konstitutionelle Rücksichten, die ich nicht auseinanderzusetzen versuchen will, da sie in der Tat die Fassungskraft von Personen übersteigen, die sich nicht wie ich die Politik durch ein verwickeltes und mühsames Studium zu eigen gemacht haben – halte ich es für geeignet, meinen Sitz zu behaupten, und habe auch die Absicht, dieses wirklich zu tun.

Haben Sie die Güte, der Wahlkorporation meine Empfehlung mitzuteilen und ihr diese meine Entschließung kundzutun.

Mit großer Hochachtung
Mein lieber Pugstyles
usw.«

»Sie wollen also unter keinen Umständen zurücktreten?« fragte der Sprecher.

Herr Gregsbury lächelte und schüttelte den Kopf.

»Dann guten Morgen, Sir«, sagte Pugstyles zornig.

»Gott geleite Sie«, entgegnete Herr Gregsbury.

Und die Abordnung stürmte unter Brummen und Schelten so schnell hinaus, wie es das enge Stiegenhaus nur gestatten mochte.

Als sich der letzte Mann entfernt hatte, rieb Herr Gregsbury seine Hände und kicherte, wie lustige Burschen es tun, wenn sie glauben, daß sie etwas ungewöhnlich Gutes gesagt oder ausgeführt hätten. Er war überhaupt so sehr von seiner Selbstzufriedenheit hingenommen, daß er unsern Nicolaus, der hinter einer Fenstergardine zurückgeblieben war, nicht gewahrte, bis dieser in der Besorgnis, irgendein Selbstgespräch, das für keine fremden Ohren bestimmt war, mit anhören zu müssen, zwei- oder dreimal hustete, um die Aufmerksamkeit des Parlamentsmitglieds auf sich zu ziehen.

»Was ist das?« rief Herr Gregsbury mit scharfem Ton.

Nicolaus trat hervor und verbeugte sich.

»Was haben Sie hier zu schaffen, Sir?« fragte Herr Gregsbury. »Ein Spion in meinem Privatzimmer! ein versteckter Wähler! Sie haben meine Antwort vernommen, Sir; ich muß daher bitten, daß Sie der Abordnung folgen.«

»Wenn ich zu ihr gehörte, so würde es bereits geschehen sein«, entgegnete Nicolaus: »das ist jedoch nicht der Fall.«

»Aber was wollen Sie denn hier, Sir?« war natürlich die nächste Frage des Herrn Gregsbury, Parlamentsmitglied. »Und wo zum Teufel kommen Sie her, Sir?« lautete die zweite.

»Ich erhielt diese Karte von der Generalagentur, Sir«, antwortete Nicolaus, »und möchte mich Ihnen als Sekretär anbieten, da Sie dem Vernehmen nach eines solchen bedürfen.«

»Das wäre alles, weshalb Sie hergekommen sind?« fragte Herr Gregsbury, den Bittsteller mit bedenklichen Blicken messend.

Nicolaus bejahte diese Frage.

»Sie stehen in keiner Verbindung mit irgendeinem dieser schuftigen Zeitungsblätter?« fuhr Herr Gregsbury fort. »Sie haben sich nicht in das Zimmer geschlichen, um zu behorchen, was vorgeht, und es nachher drucken zu lassen – he?«

»Es tut mir leid, sagen zu müssen, daß ich vorderhand mit gar nichts in Verbindung stehe«, entgegnete Nicolaus zwar höflich, aber unbefangen.

»Ach, so«, erwiderte Herr Gregsbury. »Wie fanden Sie aber Ihren Weg hier herauf?«

Nicolaus erzählte, wie er durch die Abordnung herauf gedrängt worden.

»So ging es also zu?« versetzte Herr Gregsbury. »Nehmen Sie Platz.«

Nicolaus nahm einen Stuhl, und Herr Gregsbury betrachtete ihn eine Weile mit festen Blicken, als ob er sich vorher überzeugen wolle, daß in seinem Äußeren nichts Verdächtiges liege, ehe er weitere Fragen stellte.

»Sie möchten also mein Sekretär werden?« begann er endlich.

»Ja«, antwortete Nicolaus.

»Schön«, versetzte Herr Gregsbury, »aber was können Sie leisten?«

»Ich denke«, entgegnete Nicolaus lächelnd, »daß ich das, was gewöhnlich Sekretären anheimfällt, zu versehen imstande bin.«

»Und das wäre?« fragte Herr Gregsbury.

»Wie?« erwiderte Nicolaus.

»Ja, ja, worin besteht dies?« sagte das Parlamentsmitglied, indem es den Bittsteller, das Haupt auf eine Seite geneigt, mit schlauen Blicken ansah.

»Die Obliegenheiten eines Sekretärs sind vielleicht etwas schwer abzugrenzen«, sagte Nicolaus nach einigem Besinnen. »Sie umfassen, wie ich mir denke, die Korrespondenz.«

»Gut«, fiel Herr Gregsbury ein.

»Das Ordnen von Papieren und Dokumenten.«

»Sehr gut.«

»Hin und wieder vielleicht ein Niederschreiben dessen, was Sie diktieren, und wahrscheinlich –« sagte Nicolaus mit einem halben Lächeln – »das Abschreiben einer Rede für irgendein öffentliches Journal, wenn Sie eine solche von mehr als gewöhnlicher Wichtigkeit gehalten haben.«

»Gewiß«, versetzte Herr Gregsbury. »Was sonst noch?«

»In der Tat«, entgegnete Nicolaus nach einem kurzen Nachdenken, »ich bin im Augenblick nicht imstande, noch eine weitere Aufgabe eines Sekretärs namhaft zu machen, es müßte denn die allgemeine sein, sich seinem Prinzipal so viel wie möglich angenehm und nützlich zu machen, ohne dabei der eigenen Ehre etwas zu vergeben und ohne die Grenze der Verpflichtungen zu überschreiten, die nach allgemeinen Begriffen schon durch den Titel seines Amtes angedeutet sind.«

Herr Gregsbury faßte Nicolaus eine Weile fest ins Auge, ließ dann den Blick schlau durch das Zimmer schießen und sagte mit unterdrückter Stimme:

»Das ist alles ganz recht, Herr – wie ist Ihr Name?«

»Nickleby.«

»Das ist alles ganz recht, Herr Nickleby, und vollkommen in der Ordnung, soweit wie es geht – ja, soweit wie es geht: aber es geht nicht weit genug. Es gibt auch noch andere Verpflichtungen, Herr Nickleby, die der Sekretär eines Mannes, der im Parlament sitzt, nicht aus den Augen verlieren darf. Ich müßte die Forderung an ihn stellen, von ihm gedeckt zu werden, Sir.«

»Entschuldigen Sie –« fiel Nicolaus ein, zweifelhaft, ob er recht gehört habe oder nicht.

»Gedeckt zu werden, Sir«, wiederholte das Parlamentsmitglied.

»Ich muß nochmals um Entschuldigung bitten – darf ich fragen, was Sie unter diesem Ausdruck verstehen?« fragte Nicolaus.

»Der Sinn desselben ist deutlich genug, Sir«, versetzte Herr Gregsbury mit einer feierlichen Miene. »Mein Sekretär müßte sich vollständig mit der auswärtigen Politik, soweit sie sich in den Zeitungen abspiegelt, vertraut machen; er müßte alle Berichte über öffentliche Versammlungen wie auch die Hauptartikel, die in denselben zur Sprache kommen, überlesen und müßte sich alles aufzeichnen, was ihm geeignet dünkt, als ein Schlageffekt in irgendeiner kleinen Rede bei Behandlung einer oder der anderen Frage der Tagesordnung angebracht werden zu können. Verstehen Sie mich?«

»Ich denke, Sir«, versetzte Nicolaus.

»Dann«, fuhr Herr Gregsbury fort, »würde es für ihn nötig sein, mit den Tagesbegebenheiten, die in den Zeitungen besprochen werden, stets auf dem laufenden zu bleiben und Artikel, wie: ›Geheimnisvolles Verschwinden und mutmaßlicher Selbstmord eines Bierausträgers‹ und dergleichen, woran sich eine Frage an den Staatssekretär des Ministeriums für das Innere knüpfen ließe, nicht zu übersehen. Er hätte dann die Anfrage und das, was mir von der Antwort noch im Gedächtnis wäre, nebst Beifügung eines kleinen Kompliments über meine Unabhängigkeit und Einsicht aufzuschreiben und das Manuskript an irgendein Lokalblatt zu senden, könnte es allenfalls auch mit einem halben Dutzend Zeilen bevorworten und darin andeuten, daß ich im Parlament stets auf meinem Platz befunden würde, mich nie der Ausübung meiner schweren und wichtigen Pflichten entzöge usw. – Begreifen Sie?«

Nicolaus verbeugte sich.

»Außerdem würde ich von ihm erwarten, daß er hin und wieder auch einen Blick in die gedruckten statistischen Tabellen werfe und einige Resultate herauslese, die mir z.B. bei der Holzzollfrage und ähnlichen finanziellen Verhandlungen einen Namen machen könnten. Auch wäre es mir angenehm, wenn er einige kleine Belege für die unheilvollen Wirkungen einer Wiedereinführung der Zahlungen in gemünztem Geld und des Metallumlaufs, nebst gelegentlichen Andeutungen über die Ausfuhr von Gold- und Silberbarren, den Kaiser von Rußland, Banknoten und derartige Dinge sammelte, womit man’s jedoch nicht besonders gründlich zu nehmen braucht, da es doch niemand versteht. Ist Ihnen das klar?«

»Ich glaube. Sie zu verstehen«, sagte Nicolaus.

»Bei Fragen von nicht politischem Charakter«, verfolgte Herr Gregsbury, immer wärmer werdend, seine Rede, »und bei solchen, um die man sich nicht besonders zu kümmern nötig hat, es sei denn, daß man gebührende Sorge dafür tragen müßte, es denen, die unter uns stehen, nicht allzuwohl werden zu lassen (denn wo wären sonst unsere Privilegien?) – bei solchen Fragen würde ich es gerne sehen, wenn mein Sekretär einige kleine, begeisterte, patriotische Reden ausarbeitete. Wenn zum Beispiel irgendeine widersinnige Bill vorgebracht würde, um armen Teufeln von Schriftstellern ein Recht an ihr literarisches Eigentum zu sichern, so würde ich etwa sagen, daß ich für meine Person nie meine Zustimmung geben könne, wenn es gälte, der Verbreitung des Wissens unter dem Volke ein unübersteigliches Hindernis in den Weg zu legen (verstehen Sie mich?); daß das, was durch Geld geschaffen wird, soferne Geld für jedermann erreichbar ist, recht wohl einem Menschen oder einer Familie angehören könne; daß aber die Schöpfungen des Geistes, der ein Geschenk von oben ist, begreiflicherweise das Eigentum des Volkes im allgemeinen sein müßten. Wenn ich heiter gestimmt wäre, so würde ich einen Scherz über die Nachwelt beifügen und sagen, daß die, die für die Nachwelt schrieben, sich damit begnügen sollten, durch den Beifall der Nachwelt belohnt zu werden. So etwas würde das Haus belustigen und könnte mir nie schaden, da ich von der Nachwelt nicht erwarten kann, daß sie von mir oder meinem Spaß Notiz nimmt. Leuchtet Ihnen das ein?«

»Vollkommen«, versetzte Nicolaus.

»Sie müssen in derartigen Fällen, wobei wir nicht persönlich beteiligt sind, vorzugsweise Ihr Augenmerk darauf richten, das Volk aufs kräftigste in den Vordergrund zu stellen, weil es uns zur Zeit der Wahl gar gut zustatten kommt«, sagte Herr Gregsbury, »während Sie sich über die Schriftsteller so lustig machen können, wie Ihnen beliebt; denn ich glaube, der größte Teil derselben wohnt zur Miete und hat kein Stimmrecht. Das wäre ein flüchtiger Umriß Ihrer Hauptobliegenheiten, zu denen noch kommt, daß Sie jeden Abend in dem Vorsaale zu warten hätten, für den Fall, daß ich etwas vergessen hätte und einer frischen Deckung bedürfte. Hin und wieder bei wichtigen Debatten setzen Sie sich in die vordere Reihe der Galerie und sagen zu Ihren Nachbarn: ›Sehen Sie jenen Herrn mit der Hand an der Stirn und dem Arm um den Pfeiler – das ist Herr Gregsbury, der berühmte Herr Gregsbury‹ – nebst irgendeinem andern kleinen Lobspruch, wie ihn eben der Augenblick eingibt. Was das Gehalt anbelangt«, fuhr Herr Gregsbury rasch zum Schlusse eilend fort, da er ganz außer Atem gekommen war – »was endlich das Gehalt anbelangt, so will ich, um Sie völlig zufriedenzustellen, eine runde Summe nicht ansehen und Ihnen, wenn Sie mir zusagen – obgleich es mehr ist, als ich gewöhnlich zu geben pflege – fünfzehn Schillinge wöchentlich auswerfen, wobei Sie sich jedoch selbst zu verköstigen haben.«

Bei diesem schönen Anerbieten lehnte sich Herr Gregsbury mehr als einmal in seinem Stuhle zurück und gab sich ganz die Miene eines Mannes, der zwar verschwenderisch freigebig gewesen, aber trotzdem fest entschlossen ist, seine Großmut nicht zu bereuen.

»Fünfzehn Schillinge wöchentlich sind nicht viel«, sagte Nicolaus schüchtern.

»Nicht viel! Fünfzehn Schillinge wöchentlich nicht viel, junger Mann?« rief Herr Gregsbury. »Fünfzehn Schillinge wöch –«

»Ich bitte, glauben Sie nicht, daß ich mich über die Summe beschwere«, fiel Nicolaus ein, »denn ich schäme mich nicht, zu bekennen, daß sie, wie gering sie auch sein mag, für mich immer noch bedeutend ist. Aber die Pflichten und Verantwortlichkeiten machen die Belohnung zu einer geringen, und diese sind in der Tat so schwer, daß ich mich scheue, sie zu übernehmen.«

»Sie wollen also die Stelle nicht annehmen, Sir?« fragte Herr Gregsbury, mit der Hand an der Klingelschnur.

»Ich fürchte, ich bin ihr nicht gewachsen, wie gut auch der Wille sein mag«, entgegnete Nicolaus.

»Das will also so viel besagen, daß Sie den Posten nicht übernehmen und daß Sie fünfzehn Schillinge wöchentlich für zu wenig halten«, sagte Herr Gregsbury klingelnd. »Sie lehnen ihn also wirklich ab, Sir?«

»Ich habe keine andere Wahl«, versetzte Nicolaus.

»Die Tür, Matthäus!« rief Herr Gregsbury, als der Bediente erschien.

»Es tut mir leid, Sie unnötig belästigt zu haben, Sir«, sagte Nicolaus.

»Mir gleichfalls«, entgegnete Herr Gregsbury, Nicolaus den Rücken kehrend. »Die Tür, Matthäus!«

»Guten Morgen«, sagte Nicolaus.

»Die Tür, Matthäus!« rief Herr Gregsbury.

Der Diener winkte Nicolaus, taumelte träge die Stiege hinunter voraus, öffnete die Tür und führte ihn auf die Straße. Mit trauriger, nachdenklicher Miene trat er seinen Heimweg an.

Smike hatte von den Überresten des gestrigen Abendessens eine Mahlzeit zusammengescharrt und harrte ängstlich seiner Rückkehr. Die Ereignisse des Morgens waren nicht geeignet, Nicolaus‘ Appetit zu vermehren, und so blieb denn das Mittagsmahl von seiner Seite unangetastet. Er saß in nachdenklicher Stellung da und hatte den Teller, den der arme Junge emsig mit den auserlesensten Bissen gefüllt hatte, unberührt vor sich stehen, als Newman Noggs in das Zimmer sah.

»Wieder zurück?« fragte Newman.

»Ja«, antwortete Nicolaus, »aber todmüde, und was noch das schlimmste ist, ich hätte hinsichtlich des Erfolges meines Ausgangs ebensogut zu Hause bleiben können.«

»Sie konnten nicht erwarten, an einem Morgen viel auszurichten«, sagte Newman.

»Kann sein, aber ich bin etwas temperamentvoll und hoffte«, sagte Nicolaus. »Ich bin jedoch jetzt in demselben Maße enttäuscht.«

Er erzählte nun Newman den Verlauf seiner Bemühungen.

»Wenn ich etwas tun könnte«, fuhr Nicolaus fort, »nur etwas Weniges tun könnte, ehe Ralph Nickleby zurückkehrt, so würde ich ihm leichteren Herzens und in glücklicherer Stimmung entgegentreten. Der Himmel weiß, daß ich es nicht für eine Schande halte zu arbeiten, und es könnte mich wahnsinnig machen, daß ich untätig hier liegen soll wie ein halbgezähmtcs wildes Tier.«

»Ich weiß nicht«, sagte Newman; »etwas Geringes wäre zur Hand – es würde wenigstens die Hausmiete bezahlen und noch etwas mehr; aber es wird Ihnen nicht anstehen – nein, es läßt sich kaum erwarten, daß Sie darauf eingehen – nein, nein.«

»Auf was sollte ich nicht eingehen?« fragte Nicolaus, die Augen erhebend. »Zeigen Sie mir in dieser weiten Öde von London ein ehrliches Mittel, durch das ich nur die wöchentliche Miete dieses armseligen Zimmers aufbringen könnte, und geben Sie acht, ob ich davor zurückschrecke. Eingehen? Ich habe schon zu viel eingegangen, mein Freund, um jetzt besonders eigen zu sein oder dem Stolz Raum zu geben. Ich rede natürlich nur von Dingen«, fügte Nicolaus nach einem kurzen Schweigen hastig bei, »die auf ehrlichen Wegen ausgeführt werden können und sich mit der Selbstachtung vertragen; denn es ist keine große Wahl zwischen dem Gehilfen eines viehischen Schulmeisters und der Kreatur eines gemeinen und unwissenden Pilzes, mag er nun Parlamentsmitglied sein oder nicht.«

»Ich getraue mich kaum, Ihnen mitzuteilen, was ich diesen Morgen gehört habe«, versetzte Newman.

»Steht es in Verbindung mit dem, was Sie vorhin andeuteten?« fragte Nicolaus.

»Ja.«

»Nun so rücken Sie ins Himmels Namen damit heraus, mein Freund«, entgegnete Nicolaus. »Bedenken Sie um Gottes willen meine klägliche Lage und lassen Sie mich wenigstens Ihre Meinung hören; ich will Ihnen ja gerne versprechen, keinen Schritt zu tun, ohne mich mit Ihnen beraten zu haben.«

Newman ließ sich durch diese dringende Bitte erweichen und stotterte eine Masse der unverständlichsten und verwirrtesten Sätze hervor, deren Gesamtinhalt darin bestand, daß Madame Kenwigs ihn ein langes und breites über den Ursprung seiner Bekanntschaft mit Nicolaus und über dessen Leben, Schicksale und Familie ausgefragt hätte; er (Newman) sei zwar diesen Fragen solange als möglich ausgewichen, zuletzt aber so in die Enge getrieben worden, daß er endlich zugestanden hätte, Nicolaus wäre ein Lehrer von trefflichen Talenten, gegenwärtig freilich in einige mißliche Verhältnisse verwickelt, deren Natur er nicht weiter auseinandersetzen dürfe, und hieße Johnson. Madame Kenwigs hätte hierauf, von Dankbarkeit, Ehrgeiz, mütterlichem Stolz oder mütterlicher Liebe, vielleicht auch von allen diesen vier mächtigen Beweggründen geleitet – mit Herrn Kenwigs geheime Rücksprache genommen und wäre endlich mit dem Vorschlage zurückgekehrt, daß Herr Johnson die vier kleinen Kenwigschen in der französischen Sprache, wie sie von den geborenen Franzosen gesprochen würde, gegen ein wöchentliches Honorar von fünf Schilling landläufiger Münze unterrichten möchte, wobei sie wöchentlich einen Schilling für jede ihrer Töchter und auch noch außerdem einen Schilling für den Knaben in der Wiege bis zu der Zeit berechnet hätte, wann dieser an den Unterrichtsstunden teilzunehmen imstande wäre. Dies könne jedoch, wie Madame Kenwigs meinte, unmöglich lange anstehen, da es ihrer Ansicht nach auf der ganzen Welt keine klügeren Kinder als die ihrigen gäbe.

»Sie haben hier den ganzen Antrag«, schloß Newman. »Er ist zwar, wie ich wohl weiß, unter Ihrer Würde, aber ich dachte, er könnte vielleicht –«

»Vielleicht?« rief Nicolaus mit großer Lebhaftigkeit aus; »nein, nein, er kommt mir vollkommen gelegen. Sie können, lieber Freund, der würdigen Mutter ohne Verzug erklären, daß ich bereit bin, anzufangen, sobald es ihr beliebt.«

Newman eilte vergnügt hinunter, um Madame Kenwigs die Zustimmung seines Freundes mitzuteilen, und kehrte bald mit der Nachricht zurück, daß man sich glücklich schätzen werde, wenn er, sobald es ihm gelegen sei, einen Besuch in der ersten Etage machen wolle. Madame Kenwigs habe augenblicklich nach einer alten französischen Grammatik und nach französischen Gesprächen fortgeschickt, die schon lange Zeit auf einem Bücherkarren (Stück für Stück zu sechs Pence) herumgefahren wären; und die Familie, hochentzückt über die Aussicht, dem vornehmen Ton ihres Hauswesens einen neuen vornehmen Geleitton beizufügen, hege den lebhaften Wunsch, daß die erste Unterrichtsstunde sogleich gegeben würde.

Der Leser wird hieraus entnehmen, daß Nicolaus kein hochmütiger junger Mann im gewöhnlichen Sinne dieses Wortes war. Er mochte zwar eine Beleidigung, die ihm selbst widerfuhr, ahnden, oder ein Unrecht, das einen anderen bedrohte, so kühn und freimütig wie nur irgendein Ritter, der je eine Lanze brach, zu verhindern suchen. Aber es fehlte ihm an jenem hohen Maß von Besonnenheit und edler Selbstsucht, das unabänderlich zu dem Charakter der hochsinnigen Herren gehört. Wir für unsere Person sind freilich geneigt, solche Herren in Familien, die sich emporschwingen wollen, eher für eine Last zu betrachten, da wir zufälligerweise manche kennengelernt haben, die durch ihren hohen Sinn verhindert wurden, sich zu irgendeiner niedrigen Beschäftigung herabzulassen, und es vorzogen, denselben nur in der Kultivierung ihrer Schnurrbärte und in wilden Blicken zu zeigen. Obschon nun Schnurrbärte und ein wildes Aussehen in ihrer Art gar hübsche und ungemein empfehlenswerte Dinge sind, so müssen wir eben doch gestehen, daß wir diese lieber auf Kosten ihres Eigentümers als auf Unkosten der bescheiden gesinnten Leute gehegt zu sehen wünschen.

Da nun Nicolaus – nach der gewöhnlichen Ausdrucksweise – kein hochgesinnter junger Mann war und er es für eine größere Schmach hielt, zur Bestreitung seiner notwendigsten Bedürfnisse von Newman Noggs zu borgen, als die kleinen Kenwigschen für fünf Schillinge wöchentlich Französisch zu lehren, so nahm er das Anerbieten mit der bereits angedeuteten Bereitwilligkeit an und verfügte sich mit aller gebührenden Eile nach dem ersten Stock.

Hier wurde er von Madame Kenwigs mit einer vornehmen Miene, die den Lehrer des wohlwollenden Schutzes und Beistandes der Dame versichern sollte, empfangen. Auch fand er daselbst Herrn Lillyvick und Fräulein Petowker, die vier Fräulein Kenwigs auf ihrer Bank, des Unterrichts gewärtig, und den kleinen Herrn Kenwigs in einem mit einem tannenen Tischbrettchen versehenen Kindertragstuhl, wo er sich mit einem hölzernen Pferd ohne Kopf unterhielt. Das besagte Pferd bestand aus einem hölzernen Zylinder auf vier krummen Stäbchen, das auf eine sehr sinnreiche Weise mit Zinnober und Schuhwichse angestrichen war.

»Wie befinden Sie sich, Herr Johnson?« fragte Madame Kenwigs. »Onkel – Herr Johnson.«

»Wie geht es Ihnen, Sir?« fragte Herr Lillyvick in etwas barschem Tone, denn er hatte in der vorigen Nacht Nicolaus‘ Stand nicht gekannt, und allzugroße Höflichkeit gegen einen Hauslehrer wäre einem Steuereinnehmer nicht zu verzeihen gewesen.

»Wir haben Herrn Johnson als Hauslehrer für die Kinder angenommen, Onkel«, sagte Madame Kenwigs.

»Ich habe das eben von dir vernommen, meine Liebe«, versetzte Herr Lillyvick.

»Aber ich hoffe«, fuhr Frau Kenwigs, sich in die Brust werfend, fort, »daß sie dadurch nicht stolz werden, sondern ihrem guten Glück danken, das ihnen schon durch ihre Geburt eine bessere Stellung anweist als den Kindern gewöhnlicher Leute. Hörst du, Morlina?«

»Ja, Mama«, entgegnete Fräulein Kenwigs.

»Und wenn ihr auf die Straßen oder sonst wohin kommt, so verlange ich, daß ihr nicht gegen andere Kinder damit großtut«, sagte Frau Kenwigs. »Wenn ihr etwas darüber sprechen müßt, so sollt ihr nur sagen, wir haben einen Privatlehrer angenommen, der uns zu Hause Unterricht erteilt, aber wir sind nicht stolz darauf, denn Mama sagt, es wäre eine Sünde. Hörst du Morlina?«

»Ja, Mama«, antwortete Fräulein Kenwigs wieder.

»So vergiß es nicht und tu‘, wie ich dir sage«, sprach Frau Kenwigs. »Soll Herr Johnson anfangen, Onkel?«

»Ich bin bereit zuzuhören, wenn Herr Johnson anzufangen bereit ist, meine Liebe«, sagte der Steuereinnehmer mit einer Kennermiene. »Für was für eine Art von Sprache halten Sie das Französische, Sir?«

»Wie meinen Sie das?« fragte Nicolaus.

»Halten Sie es für eine gute Sprache, Sir?« fuhr der Steuereinnehmer fort – »für eine schöne Sprache, eine vernünftige Sprache?«

»Für eine schöne Sprache, gewiß«, versetzte Nicolaus; »und da sie für alles eine Bezeichnung hat und auch eine gewandte und zierliche Konversation zuläßt, so möchte ich sie auch eine verständige nennen.«

»Ich weiß nicht«, meinte Herr Lillyvick kopfschüttelnd. »Halten Sie das Französische auch für eine muntere Sprache?«

»Ganz gewiß«, entgegnete Nicolaus.

»Dann muß es sich seit meiner Zeit sehr geändert haben – ja, ja, recht sehr«, sagte der Steuereinnehmer.

»War es denn zu Ihrer Zeit eine traurige?« fragte Nicolaus, kaum imstande, ein Lächeln zu unterdrücken.

»Allerdings«, antwortete Herr Lillyvick mit einiger Heftigkeit. »Ich spreche von der Kriegszeit – von dem letzten Kriege. Es mag meinetwegen eine muntere Sprache sein, denn ich möchte niemandem gerne widersprechen, das aber kann ich behaupten – ich hörte die französischen Gefangenen, die sich doch als Eingeborene darauf verstehen müssen, in einer so traurigen Weise sprechen, daß es mir von dem Zuhören schon ganz elend wurde. Ja, ja, das ist mir fünfzigmal – wenigstens fünfzigmal vorgekommen, Sir.«

Herr Lillyvick war in seiner Ereiferung so unwillig geworden, daß es Madame Kenwigs für zweckmäßig erachtete, Nicolaus einen Wink zu geben, daß er nichts darauf erwidern möchte. Auch bedurfte es mancher Schmeichelworte von seiten Fräulein Petowkers, bis der vortreffliche alte Herr wieder ruhiger wurde und sich herabließ, das Schweigen durch die Frage zu unterbrechen:

»Wie heißt ›das Wasser‹ auf Französisch?«

»L’eau«, antwortete Nicolaus.

»Ah«, sagte Herr Lillyvick, den Kopf schüttelnd, »ich dachte mir so etwas. Lo – nicht wahr? Nein, ich halte nichts – nicht das mindeste auf diese Sprache.«

»Wollen wir die Kinder nicht anfangen lassen, Onkel?« fragte Madame Kenwigs.

»O ja, sie können anfangen, meine Liebe«, erwiderte der Steuereinnehmer unzufrieden. »Ich habe nicht die Absicht, ihnen etwas in den Weg zu legen.«

Auf diese Zustimmung setzten sich die vier Kenwigschen in eine Reihe, alle mit ihren Zöpfen nach einer Seite und Morlinchen obenan, während Nicolaus das Buch zur Hand nahm und die einleitenden Erklärungen begann. Fräulein Petowker und Madame Kenwigs sahen in bewunderndem Schweigen zu, das nur hin und wieder durch ein Flüstern der letztern unterbrochen wurde, die versicherte, Morlina werde in der kürzesten Zeit alles begriffen haben; und Herr Lillyvick betrachtete die Gruppe mit finsteren und achtsamen Blicken, der Gelegenheit harrend, die ihm zu einer neuen Erörterung über diese Sprache Anlaß geben könnte.

Siebzehntes Kapitel.


Siebzehntes Kapitel.

Käthchen Nicklebys weitere Schicksale.

Mit schwerem Herzen und vielen trüben Vorahnungen, die sie trotz aller Mühe nicht zu verbannen vermochte, verließ Käthchen Nickleby um dreiviertel auf acht Uhr des Morgens, der zu ihrem Eintritt in Madame Mantalinis Geschäft bestimmt war, die City und suchte allein mitten durch das Geräusch und die Geschäftigkeit der Straßen ihren Weg nach dem Westen Londons.

In dieser frühen Stunde sieht man viele dahinsiechende Mädchen durch die Straßen ihrem Geschäft nacheilen, das, wie das jenes armen Wurmes, darin besteht, mit unermüdlicher Emsigkeit den Schmuck zu schaffen, der die Üppigen und Gedankenlosen bedeckt. Auf diesem hastigen Gange nach dem Schauplatze ihrer täglichen Mühe fangen sie fast verstohlen den einzigen Atemzug gesunder Luft und den einzigen Sonnenblick auf, die ihr einförmiges Dasein während der langen Kette von Stunden, die einen Arbeitstag ausmachen, erheitern. Als sich Käthchen dem fashionableren Teil der Stadt näherte, bemerkte sie im Vorbeigehen manche Geschöpfe dieser Klasse, die, wie sie selbst, einer mühevollen Beschäftigung entgegeneilten, und erkannte aus ihrem ungesunden Aussehen und ihrem matten Gang nur zu deutlich, daß ihre Besorgnisse nicht ganz grundlos wären.

Sie langte bei Madame Mantalinis Hause einige Minuten vor der bestimmten Stunde an und ging einige Male, in der Hoffnung, ein anderes Frauenzimmer möchte kommen und ihr dadurch die Verlegenheit ersparen, ihr Anliegen dem Diener vortragen zu müssen, vor demselben auf und ab. Endlich aber wagte sie es, furchtsam an die Tür zu klopfen; sie wurde nach einigem Zögern durch den Diener geöffnet, der eben erst auf der Stiege sein gestreiftes Wams angezogen hatte und jetzt im Begriff war, eine Schürze vorzubinden.

»Ist Madame Mantalini zu Hause?« stotterte Käthchen.

»Sie geht zu dieser Stunde selten aus, mein Fräulein«, versetzte der Diener mit einem Ton, der das ›mein Fräulein‹ sogar noch beleidigender machte, als wenn er ›mein Schatz‹ gesagt hätte.

»Kann ich sie sprechen?« fragte Käthchen.

»Wie?« entgegnete der Mann, die Tür in der Hand haltend, indem er die Fragerin mit einem unverschämten Grinsen anstierte; »Es ist nicht daran zu denken.«

»Ich komme aber auf ihr eigenes Geheiß«, sagte Käthchen: »ich bin – ich soll – hier Beschäftigung finden.«

»Ah, da hätten Sie die Klingel für die Arbeiterinnen ziehen sollen«, versetzte der Diener, indem er den Griff derselben neben der Tür berührte. »Doch, wir wollen sehen – wenn ich nicht irre, Fräulein Nickleby?«

»Ja«, erwiderte Käthchen.

»Wollen Sie dann nur gefälligst die Stiege hinaufgehen«, sagte der Diener. »Madame Mantalini wünscht Sie zu sehen – hier hinauf – nehmen Sie die Sachen auf dem Boden in acht.«

Mit diesen Worten der Warnung, nicht über ein buntes Gewirre von Pastetenbrettern, Lampen, Flaschengestellen und umgeworfenen Stühlen, das alles in der Halle umherlag und auf ein Gelage der letzten Nacht hindeutete, zu stolpern, ging der Diener nach dem zweiten Stock voran und führte Käthchen in ein Hinterzimmer, das durch Flügeltüren mit dem Gemach, in dem sie die Modehändlerin zum erstenmal gesehen hatte, in Verbindung stand.

»Wenn Sie sich hier einen Augenblick gedulden wollen, so werde ich ihr sogleich Ihre Anwesenheit melden«, sagte der Diener.

Nach diesem mit der freundlichsten Miene gegebenen Versprechen entfernte er sich und ließ Käthchen allein.

Das Gemach enthielt nicht viel, woran man sich hätte unterhalten können. Das Hervorragendste war ein in Öl gemaltes Brustbild des Herrn Mantalini, den der Künstler dargestellt hatte, wie er sich ungezwungen am Kopf kratzte, um einen Diamantring, ein Geschenk der Madame Mantalini vor der Hochzeit, auf die vorteilhafteste Weise ins Auge fallen zu lassen. Im nächsten Zimmer hörte man jedoch einige Stimmen; und da die Unterhaltung ziemlich laut und die Wand dünn war, so entdeckte Käthchen im Augenblick, daß sie Herrn und Frau Mantalini gehörten.

»Wenn du so gehässig und abscheulich eifersüchtig sein willst, meine Seele, so wirst du dich selber sehr elend – schrecklich elend – verteufelt elend machen.«

Nach diesem ließ sich ein Ton vernehmen, als ob Herr Mantalini Kaffee schlürfe.

»Ach, ich bin schon elend«, erwiderte Madame Mantalini, augenscheinlich sehr übel gelaunt.

»Dann bist du eine undankbare, abscheuliche, verteufelt böse, kleine Zauberin«, entgegnete Herr Mantalini.

»Das bin ich nicht«, entgegnete Madame Mantalini schluchzend.

»Bringe dich nicht selbst in üble Laune«, sagte Herr Mantalini, ein Ei aufschlagend. »Du hast ein so schönes, bezauberndes, verteufeltes Gesichtchen, aber du solltest keinem Unmut darauf Raum geben, denn er beraubt es seiner Liebenswürdigkeit und macht es finster und widerwärtig, wie das eines schrecklichen, abscheulichen, verteufelten Kobolds.«

»Auf diese Weise wirst du mich nimmermehr beschwatzen«, versetzte Madame Mantalini schmollend.

»Je nun, so geht’s vielleicht auf eine lindere, oder meinetwegen auch auf gar keine«, entgegnete Herr Mantalini, mit dem Eilöffel nach seinem Munde fahrend.

»Diese leichten Reden –« sagte Frau Mantalini.

»Nicht so leicht, wenn man ein so verteufeltes Ei ißt«, erwiderte Herr Mantalini; »denn das Dotter läuft einem die Weste hinunter, und Eidotter paßt nicht gut mit einer Weste zusammen, es müßte denn eine verteufelte gelbe sein.«

»Du hast bei ihr die ganze Nacht den Schmetterling gemacht«, sprach Madame Mantalini, die augenscheinlich die Unterhaltung nach dem Punkte zurückzuführen wünschte, von dem sie abgeschweift war.

»Nein, nein, mein Leben.«

»Ja, sage ich«, versetzte Madame; »ich habe dich die ganze Zeit über im Auge gehabt.«

»Ach, dieses himmlische, allerliebste Auge – es war also die ganze Zeit auf mich gerichtet?« rief Mantalini in einer Art schläfrigen Entzückens: »ei der Teufel!«

»Und ich sage dir noch einmal«, nahm Madame wieder auf, »daß du mit niemandem als mit deiner Frau walzen sollst. Ich lasse mir’s nicht gefallen, Mantalini, und würde lieber Gift nehmen.«

»Ach was, sie wird kein Gift nehmen und schreckliche Schmerzen ausstehen«, sagte Mantalini, der, dem veränderten Ton seiner Stimme nach zu schließen, seinen Stuhl dem seiner Gattin genähert hatte, »sie wird kein Gift nehmen, weil sie einen verteufelt schönen Mann hat, der zwei Gräfinnen hätte heiraten können und eine Witwe –«

»Zwei Gräfinnen?« fiel Madame Mantalini ein: »du sagtest mir früher nur von einer.«

»Zwei«, beteuerte Mantalini, »zwei verteufelt schöne Damen, wirkliche Gräfinnen und unermeßlich reich, hol mich der Teufel.«

»Und warum tatest du’s nicht?« fragte Madame neckend.

»Warum ich’s nicht tat?« entgegnete ihr Gatte. »Hatte ich nicht in einem Morgenkonzert die verteufeltste kleine Zauberin aus der ganzen Welt gesehen? Und da diese kleine Zauberin gegenwärtig meine Frau ist, können da nicht alle Gräfinnen und Witwen in England zum –«

Herr Mantalini beendigte seinen Satz nicht, sondern gab Madame Mantalini einen sehr lauten Kuß, der von Madame Mantalini erwidert wurde; dann schienen noch mehrere Küsse von Zeit zu Zeit das Geschäft des Frühstücks zu unterbrechen.

»Und wie sieht es in der Kasse aus, du Juwel meines Daseins?« fragte Mantalini, als er mit diesen Liebkosungen zu Ende gekommen war. »Über wieviel können wir verfügen?«

»Nur über sehr wenig«, versetzte Madame.

»So müssen wir mehr beschaffen«, entgegnete Mantalini. »Der alte Nickleby muß uns wieder einen Vorschuß zahlen, daß wir uns durchschlagen können.«

»Du kannst aber doch im gegenwärtigen Augenblick nicht das Geld nötig haben?« fragte Madame einschmeichelnd.

»Mein Leben und meine Seele«, erwiderte ihr Gatte, »bei Scrubbs steht ein Pferd zum Verkauf, und es wäre Sünde und Schande, wenn man dieses hinausließe – man hat’s umsonst, Wonne meiner Augen.«

»Umsonst?« rief Madame. »Das freut mich.«

»Ein wahres Nichts«, versetzte Mantalini. »Für hundert Guineen kann man’s haben; Mähne, Hals, Schwanz, alles von der verteufeltsten Schönheit. Ich will darauf im Park gerade vor dem Wagen der verschmähten Gräfinnen herreiten. Die verteufelte alte Witwe wird vor Schmerz und Wut in Ohnmacht fallen, und die beiden anderen werden sagen: »Er ist verheiratet, er ist unsern Liebesnetzen entwischt – ein verteufeltes Ding, jetzt ist alles aus.« Sie werden sich gegenseitig teufelmäßig hassen und dich tot und begraben wünschen. Ha! ha! zum Teufel!«

Madame Mantalinis Klugheit, wenn sie überhaupt welche besaß, war nicht gegen diese Bilder ihres Triumphs gewaffnet. Sie klimperte ein wenig mit den Schlüsseln und erklärte, daß sie nachsehen wolle, was sich in ihrem Pult befände. Zu diesem Zweck öffnete sie die Flügeltür und trat in das Zimmer, wo Käthchen saß.

»Du lieber Himmel«, rief Madame Mantalini, überrascht zurückprallend: »wie kamen Sie hierher, mein Kind?«

»Kind?« rief Mantalini hereineilend. »Wie kam es – eh! oh – zum Teufel, wie geht es Ihnen?«

»Ich warte hier schon einige Zeit, Madame«, erklärte Käthchen gegen Madame Mantalini. »Vermutlich hat der Diener vergessen, Ihnen zu sagen, daß ich hier bin.«

»Du mußt wirklich diesem Burschen einmal etwas am Zeuge flicken«, sagte Madame zu ihrem Gatten.

»Ich will ihm seine verteufelte Nase aus dem Gesicht reißen, weil er so ein schönes Wesen hier ganz allein läßt«, sagte der Gatte.

»Mantalini«, rief Madame, »du vergissest dich.«

»Ich vergesse dich nicht, meine Seele, und kann und werde dich nie vergessen«, versetzte Mantalini, die Hand seiner Gattin küssend, indem er zugleich heimlich Fräulein Nickleby, die sich jedoch verächtlich abwandte, ein Gesicht zuschnitt.

Durch diese Schmeichelei beschwichtigt, nahm Madame Mantalini einige Papiere aus ihrem Schreibpult und händigte sie ihrem Gatten ein, der sie mit großem Vergnügen hinnahm. Sie forderte dann Käthchen auf, ihr zu folgen, und nach einigen vergeblichen Versuchen von seiten des Herrn Mantalini, die Aufmerksamkeit der jungen Dame auf sich zu ziehen, entfernten sie sich und ließen den würdigen Mann allein, der der vollen Länge nach auf dem Sofa ausgestreckt und die Füße nach oben gekehrt ein Zeitungsblatt in der Hand hielt.

Madame Mantalini führte Käthchen eine Stiegenflucht hinunter und über einen Gang nach einem großen Hinterzimmer, wo eine Anzahl junger Frauenzimmer mit Nähen, Zuschneiden, Ausputzen, Verändern und noch verschiedenen anderen Verrichtungen beschäftigt waren, die übrigens nur denen bekannt sind, die sich auf die Kunst des Putz- und Kleidermachens verstehen. Es war ein enges Zimmer, in das das Licht durch eine Öffnung in der Decke hereinfiel, und so düster und abgeschlossen, wie ein Zimmer nur sein kann.

Madame Mantalini rief laut nach Mamsell Knag, worauf sich sogleich ein kleines, geschäftiges, wichtigtuendes, überladen gekleidetes Frauenzimmer vorstellte, während alle anwesenden Mädchen einen Augenblick in ihren Beschäftigungen innehielten, sich gegenseitig kritische Bemerkungen über den Schnitt und Stoff von Käthchens Anzug zuflüsterten und auch ihr ganzes Äußere mit demselben guten Ton musterten, wie es die allerbeste Gesellschaft in einem gedrängt vollen Ballsaale tun würde.

»Mamsell Knag, das ist die junge Person, von der ich mit Ihnen gesprochen habe«, begann Madame Mantalini.

Mamsell Knag erwiderte diese Vorstellung durch ein achtungsvolles Lächeln, was sie gegen Käthchen gar geschickt in ein herablassendes umzuwandeln wußte, und erklärte dann, daß man zwar mit jungen Leuten, die an das Geschäft nicht gewöhnt wären, viele Mühe hätte; sie sei indes überzeugt, daß die junge Person ihr Bestes tun würde, wie sie denn in dieser Überzeugung bereits schon jetzt Interesse für Käthchen empfände.

»Ich denke, es wird vorderhand am besten sein, wenn Mamsell Nickleby mit Ihnen in das Ankleidezimmer geht und den Damen die Sachen anpassen hilft«, sagte Madame Mantalini. »Sie wird sich jetzt noch in keiner andern Weise nützlich machen können, und ihr Äußeres –«

»Paßt ganz zu dem meinigen, Madame Mantalini«, fiel Mamsell Knag ein. »Es ließ sich freilich erwarten, daß Ihnen dieser Punkt ins Auge fiel; denn Sie haben in allen derartigen Dingen so viel Geschmack, daß ich in der Tat den jungen Damen oft sage, ich könne gar nicht begreifen, wie, wann und wo es Ihnen nur möglich geworden sei, all das zu lernen, was Sie wissen. Hm – Mamsell Nickleby und ich sind ein ganz geeignetes Paar, Madame Mantalini, nur ist mein Teint ein wenig dunkler als der ihre, und – hm – ich glaube, mein Fuß wird ein wenig kleiner sein. Gewiß, Mamsell Nickleby wird mir nicht übelnehmen, daß ich so spreche, wenn sie hört, daß unsere Familie immer um ihrer kleinen Füße willen berühmt war, – seit – hm – seit, glaube ich, unsere Familie überhaupt Füße besaß. Ich hatte einmal einen Onkel, Madame Mantalini, der in Cheltenham wohnte und eine sehr ausgedehnte Tabaksfabrik besaß; – hm – dieser hatte so kleine Füße, nicht größer als die, die man gewöhnlich an hölzernen Beinen anbringt – Füße mit so schönem Ebenmaß, Madame Mantalini, wie Sie sich’s nur denken können.«

»Sie mögen wohl einige Ähnlichkeit mit den Klumpfüßen gehabt haben, Mamsell Knag«, sagte Madame.

»Ach, herrlich, herrlich, das sieht Ihnen ganz gleich«, entgegnete Mamsell Knag, »ha! ha! ha! Klumpfüße – in der Tat sehr gut! Wie oft äußerte ich gegen die jungen Damen, das muß ich gestehen, und ich kümmere mich nicht darum, wer es hört, ›von allem treffenden Witze‹ –hm – ›von dem ich je gehört habe‹, und ich habe viel gehört; denn als mein Bruder noch lebte (ich führte seine Wirtschaft, Mamsell Nickleby), hatten wir jede Woche zwei oder drei junge Männer beim Abendessen, die wegen ihres Witzes in hohem Ruf standen, Madame Mantalini – ›von allem treffenden Witz‹, sage ich den jungen Damen, ›von dem ich je gehört habe, ist der von Madame Mantalini der pikanteste‹ – hm! Er ist so edel, so sarkastisch und doch so gutmütig, daß es mir, wie ich erst diesen Morgen noch gegen Mamsell Simmonds behauptete, ein wahres Rätsel ist, wie, wann oder durch was für Mittel Sie dazu gekommen sind.«

Hier hielt Mamsell Knag inne, um Atem zu schöpfen, und während dieser Pause wollen wir bemerken, nicht daß sie wunderbar geschwätzig und wunderbar unterwürfig gegen Madame Mantalini war, – denn dies sind Tatsachen, die keines weiteren Kommentars bedürfen, – sondern daß es ihre Gewohnheit war, hin und wieder in den Strom ihrer Rede ein lautes, schrilles und helles ›Hm!‹ einzuflechten, dessen Sinn von ihren Bekannten auf eine verschiedene Weise gedeutet wurde. Einige hielten dafür, daß Mamsell Knag sich gern in Übertreibungen ergehe und diese kleine Silbe mit einlaufen lasse, wenn sie im Begriff sei, einen neuen in diese Klasse gehörenden Einfall in ihrem Gehirn auszuprägen, während andere der Ansicht waren, daß sie diese hinwerfe, um, wenn es ihr an einem Worte gebreche, Zeit zu gewinnen und doch dabei zu verhindern, daß ihr jemand in die Rede falle. Wir müssen ferner darauf aufmerksam machen, daß Mamsell Knag noch immer für jung gelten wollte, obgleich sie schon ziemlich hoch in Jahren stand, und daß man sie um ihrer Schwäche und Eitelkeit willen zu den Personen zählen konnte, die am besten durch den Ausdruck geschildert werden, man könne ihnen trauen, so weit man sie sehe, aber nicht weiter.

»Sie werden Sorge dafür tragen, daß Mamsell Nickleby ihre Stunden und das Weitere kennenlernt«, sagte Madame Mantalini, »ich überlasse sie daher jetzt Ihrer Obhut. Sie werden meine Anweisungen nicht vergessen, Mamsell Knag?«

Mamsell Knag entgegnete natürlich, daß es eine moralische Unmöglichkeit wäre, etwas zu vergessen, was Madame Mantalini befohlen hatte, worauf denn diese Dame nach einem allgemeinen guten Morgen gegen die Arbeiterinnen von dannen segelte.

»Eine bezaubernde Dame, – nicht wahr, Mamsell Nickleby?« fragte Mamsell Knag, sich die Hände reibend.

«Ich habe noch sehr wenig von ihr gesehen«, antwortete Käthchen, »und kann mir daher kaum ein Urteil erlauben.«

»Haben Sie schon Herrn Mantalini gesehen?« fragte Mamsell Knag.

»Ja, ich bin ihm schon zweimal begegnet.«

»Ist er nicht ein ganz charmanter Mann?«

»Er ist mir durchaus nicht so vorgekommen«, versetzte Käthchen.

»Nicht?« rief Mamsell Knag, ihre Hände zusammenschlagend. »Ei, barmherziger Himmel, wie sieht es mit Ihrem Geschmack aus! So ein schöner, schlanker, glänzender, vornehm aussehender Herr mit solchen Haaren, solchem Backenbart und – hm – nein, Sie setzen mich in Erstaunen!«

»Ich will wohl glauben, daß ich recht töricht bin, aber da meine Ansicht weder für ihn, noch für jemand anders einen besondern Wert hat, so bedaure ich nicht, sie gewonnen zu haben, wie ich auch nicht glaube, daß ich sie so schnell ändern werde.«

»Aber halten Sie ihn nicht für einen sehr hübschen Mann?« fragte eine der jungen Damen.

»Das mag wohl sein; jedenfalls maße ich mir nicht an, das Gegenteil zu behaupten«, antwortete Käthchen.

»Und hält sehr schöne Pferde – ist’s nicht so?« fragte eine andre.

»Ich will das nicht in Abrede ziehen, da ich sie nie gesehen habe«, antwortete Käthchen.

»Sie nie gesehen?« fiel Mamsell Knag ein. »O dann finde ich’s wohl begreiflich, denn wie könnten Sie ein richtiges Urteil über einen Herrn fällen – hm – wenn Sie ihn nicht gesehen haben, wie sich seine ganze Figur macht.«

Es lag so viel von der Welt – sogar von der kleinen Welt des Landmädchens – in diesem Einfall der alten Putzmacherin, daß Käthchen, die der Unterhaltung gerne eine andere Richtung gegeben hätte, sich keine weitere Bemerkung erlaubte und Mamsell Knag im vollen Besitze des Sieges ließ.

Nach einem kurzen Schweigen, währenddessen die Mädchen Käthchens Äußeres einer genaueren Beaugenscheinigung würdigten und ihre Ansichten darüber sich gegenseitig mitteilten, erbot sich eine davon, ihr das Halstuch abzunehmen, und fragte, als das Anerbieten angenommen wurde, ob sie sich in ihrer schwarzen Tracht nicht sehr unbehaglich fühle.

»Ach freilich«, versetzte Käthchen mit einem bittern Seufzer.

»So staubig und heiß«, bemerkte dieselbe Sprecherin, indem sie ihr das Kleid zurechtrückte.

Käthchen hätte sagen können, daß Schwarz die kälteste Tracht sei, die der Mensch anlegen kann, daß es nicht allein die Brust, die sie bedeckt, durcheist, sondern auch ihren Einfluß auf die Sommerfreunde ausdehnt, indem sie die Quellen ihres Wohlwollens und ihrer Teilnahme erstarren und die Knospen der Versprechungen, die sonst so reichlich wucherten, ersterben macht und nichts zurückläßt als nackte, kranke Herzen. Es gibt wenige, die, wenn sie einen Freund oder Verwandten verloren haben, an dem ihre einzige Lebenshoffnung hing, nicht den erkältenden Einfluß ihres schwarzen Gewandes bitter empfunden hätten. Auch auf Käthchen hatte er schwer gelastet, und da sie ihn auch in dem gegenwärtigen Augenblick fühlte, so konnte sie ihre Tränen nicht zurückhalten.

»Ach, es tut mir außerordentlich leid, Sie durch meine Unbedachtsamkeit verletzt zu haben«, sagte die Putzmachermamsell. »Sie trauern um irgendeinen nahen Verwandten?«

»Um meinen Vater«, antwortete Kätchen weinend.

»Um wen, Mamsell Simmonds?« fragte Mamsell Knags mit vernehmlicher Stimme.

»Um ihren Vater«, entgegnete die andere leise.

»Ihren Vater – wie?« fuhr Mamsell Knag in demselben Tone fort. »Ah, wahrscheinlich eine lange Krankheit, Mamsell Simmonds.«

»Pst – bitte«, erwiderte das Mädchen; »ich weiß es nicht.«

»Unser Unglück überfiel uns sehr unverhofft«, sagte Käthchen sich abwendend, »sonst wäre ich vielleicht zu einer Zeit, wie diese, imstande, es besser zu ertragen.«

Das Arbeiterinnenpersonal war, der unabänderlichen Gewohnheit zufolge, wenn irgendeine neue ›junge Person‹ ins Geschäft trat, nicht wenig neugierig gewesen, das Wer, Was und Warum von Käthchen zu erfahren. Aber obgleich das Äußere und die Gemütserregung des jungen Mädchens diesen Wunsch nur vermehren konnte, so reichte doch die Überzeugung, daß es sie schmerzen würde, wenn man sie darnach fragte, zu, diesen zu unterdrücken, weshalb denn auch Mamsell Knag den Versuch, weitere Kundschaft einzuziehen, vorderhand als hoffnungslos aufgab und – obgleich ungern – ihre Gehilfinnen an die Arbeit gehen ließ.

Die Mädchen arbeiteten in stummer Emsigkeit bis halb zwei Uhr fort, um welche Zeit eine gebratene Hammelkeule mit Kartoffeln in der Küche aufgetragen wurde. Als die Mahlzeit vorüber war und sich die jungen Damen der weiteren Erholung des Händewaschens erfreut hatten, ging es wieder ans Geschäft, das schweigend fortgesetzt wurde, bis der Lärm von Wagen, die durch die Straßen rasselten, und laute Doppelschläge an den Türen das Zeichen gaben, daß das Tagewerk der beglückteren Mitglieder der menschlichen Gesellschaft seinen Anfang nehme.

Einer dieser Doppelschläge an Madame Mantalinis Tür verkündigte die Equipage irgendeiner großen Dame – oder besser, einer reichen, denn hin und wieder ist ein gar mächtiger Abstand zwischen Reichtum und Größe – die mit ihrer Tochter gekommen war, um einige Gesellschaftskostüme, die schon seit langer Zeit in Arbeit waren, anzuprobieren. Käthchen wurde beauftragt, nebst Mamsell Knag – natürlich unter dem Vortritt der Madame Mantalini – die Dame zu empfangen.

Käthchens Rolle bei diesem Prunkaufzug war bescheiden genug, da sich ihre ganze Obliegenheit darauf beschränkte, einige Modekostümstücke zu halten, bis Mamsell Knag bereit war, sie anzuprobieren, und hin und wieder eine Schleife zu knüpfen oder eine Hafte einzuhaken. Man hätte daher glauben sollen, daß diese untergeordnete Stellung sie der Anmaßung oder den Ausbrüchen übler Laune hätte entheben können. Zufälligerweise war aber die reiche Dame und ihre reiche Tochter an diesem Tage gar nicht guter Stimmung, und so fiel auch für das arme Mädchen ihr Anteil an Scheltworten ab. Sie war tölpisch – ihre Hände kalt – schmutzig – rauh; – kurz, sie konnte nichts recht machen. Man wunderte sich, wie Madame Mantalini solche Leute um sich dulden könne, verlangte, wenn man das nächste Mal wieder herkäme, ein anderes junges Frauenzimmer zu sehen usw.

Ein so alltägliches Ereignis würde kaum der Erwähnung wert sein, wenn wir seiner nicht um der Folgen willen, die es auf das arme Mädchen hervorbrachte, erwähnen müßten. Als die Damen fort waren, vergoß Käthchcn bittere Tränen und fühlte zum ersten Male das Demütigende ihrer Stellung. Ihr Mut war zwar allerdings schon bei der Aussicht auf Dienstbarkeit und schwere Arbeit sehr zusammengesunken. Aber sie hatte nichts Herabwürdigendes in dem Gedanken, um Brot zu arbeiten, gefühlt, bis sie sich dem Übermut und dem rohesten Stolz ausgesetzt sah. Eine philosophische Weltanschauung würde sie zwar gelehrt haben, daß das Erniedrigende eines solchen Benehmens auf seiten derer sei, die so tief gesunken waren, um ohne alle Ursache ihrer Leidenschaftlichkeit die Zügel schießen zu lassen. Sie war jedoch zu jung, um hierin einen Trost zu finden, und ihr Ehrgefühl fühlte sich gekränkt. Hat nicht vielleicht die Klage, daß gewöhnliche Leute gern über ihren Stand hinauswollen, oft ihren Grund nur in dem Umstand, daß nicht gewöhnliche Leute unter den ihrigen heruntersinken?

Unter solchen Auftritten und Beschäftigungen rückte die Feierabendstunde heran, und Käthchen enteilte, ermattet und entmutigt von den Vorgängen des Tages, dem engen Raum des Arbeitszimmers, um ihrer Mutter an der Straßenecke zu begegnen und nach Haus zu gehen – ein schmerzlicher Abendgang, denn sie mußte ihre wahren Empfindungen verbergen und sich stellen, als teile sie alle die glutvollen Träume ihrer Begleiterin.

»Ach du meine Güte, Käthchen«, sagte Frau Nickleby, »ich habe den ganzen Tag darüber nachgedacht, was es für eine köstliche Sache sein würde, wenn Madame Mantalini mit dir in Kompanie träte – und wie leicht wäre dies nicht möglich? Die Schwägerin eines Vetters deines armen lieben Vaters – ein Fräulein Browndock – trat in Kompanie mit einer Dame, die ein Erziehungsinstitut in Hammersmith hatte, und machte in ganz kurzer Zeit ihr Glück. Ich weiß nicht mehr so genau, ob diese Miß Browndock dieselbe war, die zehntausend Pfund in der Lotterie gewann; aber ich glaube beinahe so; nein, ich kann mich jetzt wieder ganz genau entsinnen – ich weiß ganz bestimmt, daß sie es war. ›Mantalini und Nickleby‹, wie gut das klingen würde! Und wenn Nicolaus nur ein wenig Glück hat, so kann er noch als Doktor Nickleby, Vorstand der Westminsterschule, mit dir in derselben Straße wohnen.«

»Der liebe Nicolaus!« rief Käthchen, indem sie den Brief ihres Bruders, den er zuletzt von Dotheboys Hall geschrieben hatte, aus dem Strickbeutel nahm. »Wie glücklich können wir sogar in all unserem Mißgeschick sein, Mama, da wir hören, daß es ihm gut geht, und aus seinem Brief entnehmen, daß er heiter ist. Ach, wie tröstet es mich bei allem, was über uns verhängt sein mag, wenn ich denke, daß er vergnügt und glücklich ist.«

Armes Käthchen, sie dachte wenig daran, wie schwach dieser Trost war und wie bald sie enttäuscht werden sollte.

Achtzehntes Kapitel.


Achtzehntes Kapitel.

Mamsell Knag, nachdem sie drei ganze Tage in Käthchen Nickleby ganz vernarrt gewesen, nimmt sich vor, sie für immer zu hassen. Die Gründe, die Mamsell Knag zu diesem Entschluß veranlassen.

Es gibt so manches Leben, das eine Kette von Kummer, Not und Leiden ist und für niemanden als für den, der es hinschleppen muß, ein aufregendes Interesse hat, da selbst gefühlvolle Personen ihre Teilnahme gar gerne verzärteln und nur da Rücksichten nehmen, wo ihr Mitleid durch kräftige Reizmittel geweckt wird.

Die Jünger der Menschenliebe zählen nicht wenige, die, um zu handeln, einer nicht geringeren künstlichen Aufregung bedürfen als die, die den Lüsten fröhnen, für ihr Treiben nötig haben. Daher kommt es auch, daß ein krankhaftes Mitleid und Mitgefühl jeden Tag auf außer dem Wege liegende Gegenstände verschwendet wird, während doch sogar in der Gesichts- und Gehörweite der gedankenlosesten Person jeden Augenblick nur zu viele Anforderungen an die zweckmäßige Übung dieser Tugenden, sobald man sie richtig verstehen will, ergehen.

Kurz, die Menschenliebe bedarf ihrer Romantik, wie sie der Roman- oder Schauspieldichter haben muß. Ein Dieb im Zwillichkittel ist ein gemeiner Charakter, an den Leute von Bildung gar nicht denken mögen; aber kleidet ihn in grünen Samt, gebt ihm einen hohen Hut und verlegt den Schauplatz seiner Tätigkeit aus einer dichtbevölkerten Stadt auf einen Gebirgspfad, und ihr werdet in ihm den poetischsten Abenteurer finden, der sich nur denken läßt. Ebenso geht es mit dieser einen großen Kardinaltugend, die, zweckmäßig gehegt und gepflegt, zu allen übrigen führt, die sie nicht vorweg notwendig in sich begreift. Sie muß ihr romantisches Interesse haben, und je weniger sich diesem von dem wirklichen mühevollen Werktagsleben beimischt, desto besser.

Das Leben, zu dem das arme Käthchen Nickleby durch eine unvorgesehene Verkettung von Umständen, die bereits in dieser Erzählung dargelegt sind, gezwungen war, gehörte in der Tat zu den drückenden. Aber damit ihm die Eintönigkeit, der ungesunde Aufenthalt in einem kerkerähnlichen Gemach und die körperliche Anstrengung, die die Hauptsache bildete, die Teilnahme der großen Masse von mitleidigen und gefühlvollen Seelen nicht ganz und gar entziehen, wollen wir lieber Fräulein Nickleby selbst im Auge behalten, um nicht gleich im Anfang jene wohlwollenden Herzen durch eine ausführliche und gedehnte Schilderung von Madame Mantalinis Etablissement zu erkälten.

»In der Tat, Madame Mantalini«, sagte Mamsell Knags, als Käthchen am ersten Abend ihres Antritts ihren mühsamen Weg nach Hause angetreten hatte, »diese Mamsell Nickleby ist eine vorzügliche junge Person – in der Tat, eine ganz vorzügliche junge Person – hm – auf mein Wort, Madame Mantalini. Es gereicht Ihrem Urteil zu einer außerordentlichen Ehre, daß Sie ein so ausgezeichnetes, anständiges und – hm – so wenig anmaßendes junges Frauenzimmer aufgefunden haben, um beim Anprobieren zu helfen. Ich habe manches junge Frauenzimmer gesehen, das, wenn es Gelegenheit bekam, sich vor Vornehmeren zu zeigen, sich auf eine Weise benahm – ach du mein Himmel! – aber Sie treffen’s doch auch immer, Madame Mantalini – ja, jedesmal: und ich sage den jungen Frauenzimmern stets, daß ich es nicht begreifen kann, wie Sie es anfangen, um in allem das Richtige zu treffen, da doch andere Leute so oft einen falschen Weg einschlagen.«

»Ich habe aber nicht bemerkt, daß Mamsell Nickleby heute etwas Besonderes getan hätte; es müßte denn sein, daß sie einen meiner besten Kunden in üble Laune versetzt hat«, entgegnete Madame Mantalini.

»Du mein Gott«, sagte Mamsell Knag, »Sie wissen ja, daß man der Unerfahrenheit viel zugut halten muß.«

»Und der Jugend?« fragte Madame.

»O davon will ich gerade nicht reden, Madame Mantalini«, versetzte Mamsell Knag errötend. »Wenn Jugend ein Entschuldigungsgrund wäre, so würden Sie keine –«

»So gute Aufseherin haben, wie das wirklich der Fall ist, denke ich«, ergänzte Madame.

»Ach, ich habe nie jemanden wie Sie gekannt, Madame Mantalini«, erwiderte Mamsell Knag äußerst selbstgefällig. »Ja, das muß wahr sein; denn Sie wissen, was jemand sagen will, ehe man noch Zeit hat, es über die Lippen zu bringen. Ach, vortrefflich, ha! ha! ha!«

»Was mich betrifft«, bemerkte Madame Mantalini, indem sie mit erkünstelter Unbefangenheit ihre Gehilfin ansah, aber sich im Innern dabei halb totlachen wollte, »so betrachtete ich Mamsell Nickleby für das ungeschickteste Mädchen, das ich je in meinem Leben sah.«

»Das arme, gute Ding«, sagte Mamsell Knag: »sie ist nicht schuld daran, wenn dies der Fall wäre, so könnten wir hoffen, den Schaden zu heilen: aber da es ihr Unglück ist, Madame Mantlalini – ei, Sie wissen ja, was der Mann von dem blinden Pferde sagte – so müssen wir eben Nachsicht haben.«

»Ihr Onkel sagte mir, sie hätte für hübsch gegolten«, bemerkte Madame Mantalini: »mir scheint sie aber eines der gewöhnlichsten Mädchen, das mir je vorgekommen ist.«

»Gewöhnlich!« rief Mamsell Knag mit vor Wonne strahlendem Gesicht; »und ungeschickt! Nun, alles, was ich sagen kann, Madame Mantalini, ist dies, daß ich das arme Mädchen ungemein liebe. Und sähe sie auch zweimal so gewöhnlich aus, und wäre sie noch einmal ungeschickter, als sie ist, so würde ich nur um so mehr ihre Freundin sein – ja, ja, gewiß und wahrhaftig.«

Mamsell Knag hatte in der Tat schon eine kleine Zuneigung zu Käthchen Nickleby gefaßt, als sie Zeuge ihres mißlungenen ersten Auftretens am Morgen gewesen war, und die eben erwähnte kurze Unterhaltung mit ihrer Vorgesetzten gab ihrer guten Meinung von dem Mädchen die überraschendste Ausdehnung, was um so merkwürdiger war, da ihr bei der ersten Musterung von Käthchens Gesicht und Figur manche Ahnungen aufgestiegen waren, daß sie nicht am besten miteinander auskommen würden.

»Aber jetzt«, sagte Mamsell Knag, indem sie ihr Ebenbild in einem nahen Spiegel betrachtete, »jetzt liebe ich sie – ich liebe sie von ganzer Seele – und mache durchaus kein Hehl daraus.«

Diese edle Freundschaft war so uneigennützig und so erhaben über die kleinen Schwächen der Schmeichelei oder Mißgunst, daß die gutherzige Mamsell Knag des andern Tages Käthchen Nickleby unverhohlen erklärte: sie sehe wohl, Käthchen würde nie für das Geschäft passen; sie brauche sich aber deshalb nicht im mindesten zu grämen; denn sie (Mamsell Knag) wolle durch vermehrte Anstrengungen so viel wie möglich die Aufmerksamkeit von Mamsell Nickleby ablenken, wobei sie weiter nichts zu tun hätte, als sich ganz ruhig zu verhalten, wenn Leute da wären, indem dann ihre Ungeschicklichkeit weniger augenfällig würde. Diese letztere Ermutigung stand so sehr im Einklange mit den Gefühlen und Wünschen des schüchternen Mädchens, daß sie ohne Bedenken versprach, dem Rat der vortrefflichen alten Jungfer aufs genaueste nachzukommen, ohne auch nur einen Augenblick den Gründen, denen er entspringen mochte, nachsinnen zu wollen.

»Auf mein Wort, ich hege die wärmste Teilnahme für Sie, meine Liebe«, sagte Mamsell Knag, »gewiß – eine schwesterliche Teilnahme, so daß ich’s mir selber nicht zu erklären vermag.«

Es war allerdings etwas unerklärlich, daß, wenn Mamsell Knag in der Tat eine warme Teilnahme für Käthchen Nickleby fühlte, diese nicht vielmehr die einer Tante oder Großmutter war, da eine solche für die gegenseitigen Altersverhältnisse weit eher gepaßt hätte. Aber Mamsell Knag kleidete sich sehr jugendlich, und da mochten wohl auch ihre Gefühle von derselben Art sein.

»Mein Gott«, sagte Mamsell Knag, indem sie am Schlusse des zweiten Tages Käthchen einen Kuß gab: »wie entsetzlich ungeschickt sind Sie heute den ganzen Tag über gewesen!«

»Ich fürchte, Ihre wohlwollende und offene Mitteilung, die mich meiner Mängel nur noch schmerzlicher bewußt machte, hat nichts dazu beigetragen, sie zu verbessern«, seufzte Käthchen.

»Das hat sie freilich nicht getan«, versetzte Mamsell Knag in ganz ungewöhnlich guter Laune. »Aber wie viel besser ist’s, daß man es Ihnen gleich im Anfang sagte; denn Sie können jetzt mit mehr Ruhe Ihrem Ziele entgegeneilen. Welchen Weg nehmen Sie, meine Liebe?«

»Nach der City«, antwortete Käthchen.

»Nach der City?« rief Mamsell Knag, während sie sich mit großer Selbstgefälligkeit den Hut vor dem Spiegel zuknüpfte. »Du lieber Himmel, Sie wohnen wirklich in der City?«

»Ist es denn etwas so gar Ungewöhnliches, dort zu wohnen?« sagte Käthchen mit einem halben Lächeln.

»Ich hätte es nicht für möglich gehalten, daß ein junges Frauenzimmer, wie auch die Umstände sein mögen, nur drei Tage dort leben könnte«, erwiderte Mamsell Knag.

»Zurückgekommene – ich wollte sagen, arme Leute«, versetzte Käthchen, rasch sich selbst verbessernd, da sie nicht als stolz erscheinen mochte, »müssen leben, wo sie können.«

»Ach, sehr wahr, das müssen sie; es ist nichts Befremdliches darin«, entgegnete Mamsell Knag mit jener Art von halbem Seufzer, der in Verbindung von einigen nickenden Bewegungen des Kopfes gewöhnlich das Kleingeld des Mitleids vorstellt. »Ich sage das auch immer meinem Bruder, wenn unsere Dienstmädchen eins nach dem andern krank wieder entlassen werden müssen und er die Schuld auf die Hinterküche schiebt, weil sie zu feucht sei, um darin zu schlafen. Diese Art Leute, sage ich ihm, sind froh, wenn sie irgendwo schlafen können. Der Himmel bildet die Schultern nach der Bürde. Und ist’s nicht recht gut, daß es so ist?«

»O freilich«, erwiderte Käthchen, sich abwendend.

»Ich will Sie eine Strecke weit begleiten, meine Liebe«, sagte Mamsell Knag, »denn Sie kommen ziemlich nahe an unserem Hause vorbei, und da es schon ganz dunkel ist und unser letztes Mädchen vor einer Woche wegen einer Gesichtsrose ins Spital mußte, so freut es mich recht sehr, Sie zur Begleiterin zu haben.«

Käthchen hätte sich dieser schmeichelhaften Gesellschaft gerne entschlagen, aber Mamsell Knag nahm, nachdem sie sich den Hut zu ihrer völligen Zufriedenheit zurechtgesetzt hatte, ihren Arm mit einer Miene, die deutlich zeigte, wie hoch sie die Ehre, die sie erwies, anschlage, und so befanden sich beide auf der Straße, ehe Käthchen ein Wort sagen konnte.

»Ich fürchte«, stotterte Käthchen, »daß Mama – meine Mutter meine ich – auf mich wartet.«

»Sie brauchen sich dessen nicht im geringsten zu entschuldigen, meine Liebe«, sagte Mamsell Knag mit einem süßen Lächeln. »Ich bin überzeugt, daß sie eine achtbare alte Frau ist, und es wird mich sehr – hm – sehr freuen, sie kennenzulernen.«

Da die arme Frau Nickleby, am ganzen Leibe fröstelnd, an der Straßenecke stand, so hatte Käthchen keine andere Wahl, als sie der Mamsell Knag vorzustellen, die, die letzte in eigener Equipage vorgefahrene Kundin nachahmend, sich mit sehr herablassender Höflichkeit benahm. Alle drei gingen dann Arm in Arm weiter, Mamsell Knag, die ungemein herzlich und liebenswürdig war, in der Mitte.

»Sie können sich keinen Begriff davon machen, wie lieb ich Ihre Tochter habe«, sagte Mamsell Knag, als sie eine Weile in würdevollem Schweigen gegangen war.

»Es freut mich ungemein, das zu hören«, versetzte Frau Nickleby, »obgleich es gerade nichts Neues für mich ist, daß selbst landfremde Personen Käthchen liebgewinnen.«

»Hm!« räusperte sich Mamsell Knag.

»Sie werden sie übrigens noch mehr lieben, wenn Sie ihr gutes Herz kennengelernt haben«, fuhr Frau Nickleby fort. »Es wird mir zu einem großen Segen in meinem Unglück, daß ich ein Kind habe, das weder Stolz noch Eitelkeit kennt, obgleich es eine Erziehung genossen hat, die wohl ein bißchen von dem einen oder anderen entschuldigen könnte. Ach, Sie wissen nicht, was es heißt, einen Mann zu verlieren, Fräulein Knag.«

Da Mamsell Knag noch nicht einmal wußte, wie man einen Mann bekommt, so folgte daraus ganz natürlich, daß sie nicht wissen konnte, was es heißt, einen zu verlieren. Sie versetzte daher mit einiger Hast: »Nein, das weiß ich in der Tat nicht«, und sagte das mit einer Miene – die vielleicht andeuten sollte, daß sie bereit gewesen wäre, sich das Joch der heiligen Ehe auflegen zu lassen, meint vielleicht der Leser? – nein sie kannte etwas Besseres.

»Ich zweifle nicht, daß Käthchen sich schon in dieser kurzen Zeit ordentlich gemacht hat«, fuhr Madame Nickleby mit einem stolzen Blick auf ihre Tochter fort.

»Ah, natürlich«, versetzte Mamsell Knag.

»Und wird sich immer noch weiter vervollkommnen«, fügte Madame Nickleby bei.

»Ganz gewiß«, entgegnete Mamsell Knag, indem sie Käthchens Arm fester an den ihrigen drückte, um sie auf den köstlichen Spaß aufmerksam zu machen.

»Sie war immer, schon von Kindesbeinen an, sehr gelehrig«, sagte die arme Frau Nickleby mit leuchtenden Augen. »Ich erinnere mich noch, daß, als sie erst anderthalb Jahre alt war, ein Herr, der sehr viel in unser Haus kam – Herr Watkins – du kennst ihn noch, derselbe, für den dein armer Vater Bürgschaft leistete, und der dann heimlich nach den Vereinigten Staaten entwich und uns ein paar Schneeschuhe nebst einem so rührenden Brief schickte, daß dein armer seliger Vater eine ganze Woche lang darüber weinen mußte. – Du wirst dich des Briefes wohl noch entsinnen? Er sagte darin, daß es ihm sehr leid tue, die fünfzig Pfund vorderhand nicht zurückzahlen zu können, weil seine Kapitalien auf Zinsen angelegt wären. Er sei gegenwärtig ungemein tätig, um sein Glück zu machen, er hätte aber nicht vergessen, daß du sein Patchen wärest, und er würde es sehr übelnehmen, wenn wir dir nicht ein silbergefaßtes Korallenhalsband kauften und es auf seine alte Rechnung schrieben – wie, du erinnerst dich nicht mehr? Ach, wie dumm du doch bist! Und wie lobte er nicht den alten Portwein, von dem er jedesmal, sooft er kam, anderthalb Flaschen bei uns zu trinken pflegte! Ach, es muß dir einfallen, Käthchen?«

»Ja, ja, Mama, was ist es mit ihm?«

»Ei, dieser Herr Watkins, meine Liebe«, fuhr Madame Nickleby langsam fort, als fordere es nicht wenig Anstrengung, sich auf einen so besonders wichtigen Umstand zu besinnen: »dieser Herr Watkins – Sie müssen wissen, Fräulein Knag, daß er kein Verwandter des Watkins war, dem das Wirtshaus zum alten Eber im Dorf gehört; – doch ich weiß nicht mehr ganz genau, ob es der alte Eber oder Georg der Vierte ist – jedenfalls ist es eins von diesen beiden, und so kommt also nicht viel darauf an – dieser Herr Watkins sagte, als du erst anderthalb Jahre alt warst, du wärest ein solches Wunderkind, wie er nie eines in seinem Leben gesehen hätte. Ja, so sagte er, Fräulein Knag, obschon er sonst nichts weniger als ein Kinderfreund war und auch nicht den mindesten Grund haben konnte, so zu sprechen, wenn es nicht wahr gewesen wäre. Ich weiß ganz bestimmt, daß es Herr Watkins war, der dieses sagte; denn ich erinnere mich noch so gut, als ob es erst gestern gewesen wäre, daß er unmittelbar darauf zwanzig Pfund von meinem armen Manne borgte.«

Nachdem Madame Nickleby dieses außerordentliche und höchst uneigennützige Zeugnis für die Vorzüge ihrer Tochter angeführt hatte, hielt sie inne, um Atem zu schöpfen. Als aber nun Mamsell Knag bemerkte, daß die Unterhaltung auf Familiengröße ablenkte, so verlor sie keine Zeit, mit einer kleinen Erinnerung für ihre eigene Rechnung einzufallen.

»Sprechen Sie mir nicht vom Geldausborgen, Madame Nickleby«, sagte Mamsell Knag, »oder Sie treiben mich zur Verzweiflung – ja, vollkommen zur Verzweiflung. Meine Mama – hm – war das liebenswürdigste und schönste Wesen mit der auffallendsten und vollkommensten – hm – der allervollkommensten Nase, die man, glaube ich, je in einem menschlichen Gesicht gesehen hat, Madame Nickleby« – (Mamsell rieb sich hierbei sympathetisch ihre eigene Nase) – »die angenehmste und vollendetste Frau, die je lebte; aber sie hatte den einzigen Fehler, Geld auszuborgen, und ergab sich diesem in einer solchen Ausdehnung, daß sie – hm – o, tausende von Pfunden, all unser kleines Vermögen, und was noch mehr ist, Madame Nickleby, in einer Weise ausborgte, daß wir, wie ich glaube, nie etwas zurückerhalten werden, und wenn wir das Leben hätten, bis – bis – hm – bis zum jüngsten Tage.«

Als Mamsell Knag mit diesem Aufschwung ihrer Erfindungsgabe ohne Unterbrechung zu Ende gekommen war, erging sie sich in noch vielen andern ebenso ansprechenden wie wahren Rückblicken, deren Strom Madame Nickleby vergebens zu hemmen suchte, weshalb sich diese begnügen mußte, ihre eigenen Erinnerungen auf einer Nebenströmung mitsegeln zu lassen. So gingen denn die beiden Damen plaudernd und in vollkommener Zufriedenheit nebeneinander her. Der einzige Unterschied zwischen ihnen bestand darin, daß, wählend Mamsell Knag sich gewöhnlich an Käthchen wandte und ungemein laut sprach, Madame Nickleby in einem ununterbrochenen monotonen Fluß fortfuhr und vollkommen vergnügt war, daß sie nur sprechen konnte, ohne sich sonderlich darum zu kümmern, ob jemand zuhörte oder nicht.

So gingen sie aufs freundschaftlichste nebeneinander her, bis sie das Haus von Mamsell Knags Bruder erreichten, der mit buntem Papier handelte, in einem Nebengäßchen der St.-Giles-Straße eine Leihbibliothek hielt und auf Tage, Wochen, Monate oder das ganze Jahr die neuesten alten Romane auslieh, deren Titel auf einem großen Pappendeckel, der an dem Türpfosten hin und her baumelte, aufgezeichnet waren. Mamsell Knag befand sich in diesem Augenblick zufällig mitten in der Erzählung von dem zweiundzwanzigsten Heiratsantrag, den ihr ein sehr reicher Herr gemacht hatte, weshalb sie darauf bestand, daß ihre Begleiterinnen mit ihr zu Abend essen sollten, und so gingen sie miteinander ins Haus.

»Du brauchst nicht fortzulaufen, Mortimer«, sagte Mamsell Knag, als sie miteinander eintraten; »es ist nur eine von unsern jungen Mädchen und ihre Mutter, Madame und Mamsell Nickleby.«

»Ah – so«, entgegnete Herr Mortimer Knag.

Als Herr Knag diese Laute mit einer gar tiefsinnigen und gedankenvollen Miene ausgestoßen hatte, schneuzte er langsam die zwei Küchenlampen auf dem Ladentisch, dann zwei weitere an dem Fenster und endlich sich selbst, worauf er eine Dose aus seiner Westentasche hervorholte und eine Prise nahm.

Es lag etwas ungemein Ergreifendes in der gespenstigen Weise, in der das alles getan wurde; und da Herr Knag ein hoher, hagerer Herr mit ernsten Zügen war, eine Brille trug und weit weniger Haar hatte, als ein Mann um die Vierziger zu haben pflegt, so flüsterte Madame Nickleby ihrer Tochter zu, sie dächte, daß er ein Gelehrter sein müßte.

»Zehn vorbei«, sagte Herr Knag, seine Uhr zu Rat ziehend. »Thomas, schließe das Magazin.«

Thomas war ein Knabe, beinahe halb so groß wie ein Fensterladen, und das Magazin war ein Gelaß, ungefähr dreimal so groß als eine Mietkutsche.

»Ach«, sagte Herr Knag abermals mit einem tiefen Seufzer, indem er das Buch, in dem er gelesen hatte, wieder an seinen ursprünglicken Ort stellte. »Nun – ja – ich glaube, das Abendessen ist fertig, Schwester.«

Herr Knag nahm nun mit einem neuen Seufzer die Küchenlampen von dem Ladentisch und führte die Damen mit Trauerschritten nach einem Hinterzimmer, wo eine Taglöhnerin, die gegen einen Abzug von dem Lohn der kranken Magd im Betrage von täglich achtzehn Pence den Dienst derselben versah, das Abendessen auf den Tisch stellte.

»Frau Blockson«, sagte Mamsell Knag vorwurfsvoll, »wie oft habe ich Ihr gesagt, Sie solle nicht mit der Haube auf dem Kopf ins Zimmer kommen.«

»Ich kann Ihnen nicht helfen, Mamsell Knag«, entgegnete die Taglöhnerin schnippisch. »Man kann ohnehin in diesem Hause nicht fertig werden; und wenn Ihnen meine Haube nicht zusagt, so sehen Sie sich nur nach jemand anders um; ich bin für meine Mühe ohnehin nur halb bezahlt – ja, und ich müßte so reden, und wenn ich auch in der nächsten Minute gehenkt werden sollte.«

»Ich brauche Ihre Bemerkungen nicht«, sagte Mamsell Knag mit einem starken Nachdruck auf das ›Ihre‹. »Ist Feuer unten, um schnell heißes Wasser haben zu können?«

»Nein, es ist keins drunten, Mamsell«, entgegnete die provisorische Dienstmagd, »damit Sie nur gleich die Wahrheit wissen.«

»Warum nicht?« fragte Mamsell Knag.

»Weil man keine Kohlen herausgegeben hat. Wenn ich Kohlen machen könnte, so würde ich es tun. Da ich es aber nicht kann, so lasse ich’s bleiben und bin so keck, es dem Mamsellchen zu sagen.«

»Will Sie wohl das Maul halten, Weibsbild«, unterbrach Herr Mortimer Knag diesen Dialog etwas ungestüm.

»Mit Erlaubnis, Herr Knag«, erwiderte die Taglöhnerin, sich rasch umwendend, »ich bin froh, wenn ich in diesem Hause nicht sprechen muß, ausgenommen hier und da, wenn ich angeredet werde, Sir: und mit Respekt zu melden, wenn ich ein Weibsbild bin, Sir, so möchte ich doch wissen, was Sie eigentlich sind?«

»Ein elender Mensch!« rief Herr Knag, sich vor die Stirne schlagend – »ein elender Mensch!«

»Freut mich sehr, zu finden, daß Sie sich bei Ihrem rechten Namen nennen, Sir«, fuhr Frau Blockson fort, »und da ich erst vorgestern vor sieben Wochen Zwillinge gehabt habe und mein kleines Karlchcn am letzten Montag gefallen ist und sich den Ellenbogen verstaucht hat, so tun Sie mir den Gefallen und schicken Sie mir die neun Schillinge Wochenlohn ins Haus, ehe die Glocke morgen zehn schlägt.«

So sich verabschiedend, verließ die gute Frau mit sehr unbefangenem Wesen das Zimmer und ließ die Tür weit offen stehen, während Herr Knag in demselben Augenblick nach dem ›Magazin‹ stürzte und laut aufstöhnte.

»Ich bitte, was ist denn diesem Herrn?« fragte Madame Nickleby, nicht wenig durch diese Töne beunruhigt.

»Ist er krank?« fragte Käthchen erschrocken.

»Pst«, versetzte Mamsell Knag. »Es ist eine traurige Geschichte. Er war einmal ein glühender Anbeter von – hm – von Madame Mantalini.«

»Mein Gott!« rief Madame Nickleby.

»Ja«, fuhr Mamsell Knag fort: »sie begünstigte auch seine Bewerbung, und er hoffte zuversichtlich, sie zu heiraten. Er hat ein äußerst gefühlvolles Herz, Madame Nickleby, wie überhaupt – hm – wie überhaupt alle in unserer Familie, und das Fehlschlagen seiner Hoffnung war ein schrecklicher Schlag für ihn. Er ist ein Mann von höchst vortrefflichen – wunderbar vortrefflichen Eigenschaften – liest – hm – liest jeden neuen Roman, der herauskommt; ich meine jeden Roman, der – hm – der modern ist, natürlich. Die Sache ist so: er fand in den Büchern, die er las, so viel, was sich auf sein eigenes Unglück anwenden läßt, und fand in jeder Hinsicht eine so große Ähnlichkeit zwischen sich und den Helden derselben – begreiflich, weil er sich seiner eigenen Überlegenheit bewußt ist, wie dies natürlich bei uns allen sein muß –, daß er die Welt zu verachten anfing und ein Genie wurde. Ja, ich bin sogar überzeugt, daß er im gegenwärtigen Augenblick selbst ein Buch schreibt.«

»Ein Buch?« wiederholte Käthchen, als Mamsell Knag hier einen Augenblick innehielt, wodurch es möglich wurde, daß auch jemand anders ein Wörtchen anbringen konnte.

»Ja«, sagte Mamsell Knag mit triumphierendem Kopfnicken, »ein Buch in drei großen Oktavbänden. Natürlich ist es ein großer Vorteil für ihn, daß ihm bei allen seinen kleinen Schilderungen aus dem modernen Leben die Wohltat meiner – hm – meiner Erfahrung zustatten kommt, weil natürlich wenige Schriftsteller, die von derartigen Dingen schreiben, so gute Gelegenheit haben, es kennenzulernen als ich. Er hat sich so sehr in das vornehme und romantische Treiben vertieft, daß er bei der geringsten Andeutung auf Geschäfte oder Dinge aus der Wirklichkeit – wie es vorhin bei diesem Weibe der Fall war – ganz außer sich gerät. Ich glaube aber und habe es ihm oft gesagt, daß die Täuschung, die er erlitt, ein Ereignis von der höchsten Wichtigkeit für ihn ist: denn wäre sie nicht eingetreten, so hätte er nicht von geknickten Hoffnungen und dergleichen schreiben können. Auch bin ich überzeugt, daß sein Genie nicht zum Ausbruch gekommen wäre, wenn nicht alles gegangen wäre, wie es ging.«

Was die mitteilsame Mamsell Knag unter günstigeren Umständen eröffnet haben würde, läßt sich nicht erraten; da sich aber der Melancholikus in Hörweite befand und das Feuer angemacht werden mußte, so hatten ihre Enthüllungen hiermit ein Ende.

Da es ziemlich schwierig war, warmes Wasser zu erhalten, so mußte man fast auf die Vermutung kommen, daß die kranke Magd nicht sonderlich an ein anderes Feuer, als an das des St. Antonius gewöhnt war. Endlich brachte man aber doch etwas Branntwein und Wasser auf, und die Gäste nahmen, nachdem sie sich an kaltem Hammelbraten, Brot und Käse gelabt hatten, zeitigen Abschied. Käthchen unterhielt sich auf dem ganzen Heimweg mit der Erinnerung an ihren letzten Blick auf Herrn Mortimer Knag, der in tiefen Gedanken versunken in dem Laden saß; und Madame Nickleby überlegte in ihrem Innern, ob die Putzmacherfirma zuletzt wohl »Mantalini, Knag und Nickleby« oder »Mantalini, Nickleby und Knag« heißen würde.

Mamsell Knags Freundschaft hielt sich drei ganze Tage auf dieser Höhe, zur großen Verwunderung von Madame Mantalinis jungen Damen, die bei ihrer Direktrice nie vorher eine solche Beständigkeit gesehen hatten. Aber am vierten erhielt sie einen ebenso heftigen als plötzlichen Stoß, was folgendermaßen zuging:

Ein alter Lord von bedeutender Familie, der im Begriff war, eine junge Dame, die eigentlich aus gar keiner Familie stammte, zu ehelichen, kam mit dieser jungen Dame und der Schwester derselben in den Putzladen, um der Zeremonie des Anprobierens von zwei Hochzeitshüten, die tags zuvor bestellt worden waren, beizuwohnen. Madame Mantalini ließ die Kunde von diesem Besuch mittels eines schrillen Diskanttons durch das mit dem Arbeitszimmer in Verbindung stehende Sprachrohr an Mamsell Knag gelangen, die alsbald, mit einem Hut in jeder Hand, die Stiege hinaufstürzte und das Ankleidezimmer in einem bezaubernden Zustand von Atemlosigkeit betrat, der ihre eilige Hingabe an die Sache recht ins gehörige Licht stellen sollte. Die Hüte waren kaum aufgesetzt, als Mamsell Knag und Madame Mantalini in eine wahre Ekstase von Bewunderung verfielen.

»Es macht sich höchst elegant«, sagte Madame Mantalini.

»Ich habe in meinem Leben nie etwas so ausgesucht Geschmackvolles gesehen«, fügte Mamsell Knag bei.

Der alte Lord, der ein sehr alter Lord war, sagte nichts dazu, sondern murmelte und kicherte höchst vergnügt über die Brauthüte, über deren Trägerinnen und endlich über seine eigene Gewandtheit, die ihm eine so schöne Braut gewonnen hatte, vor sich hin. Die junge Dame aber, die eine sehr lebhafte Dame war, trieb den alten Herrn, als sie sein Entzücken bemerkte, hinter einen Toilettenspiegel und gab ihm hin und wieder einen Kuß, während Madame Mantalini und die andere junge Dame rücksichtsvoll in eine andere Richtung blickten.

Während dieses Zärtlichkeitsergusses trat jedoch Mamsell Knag, die einen guten Teil Neugierde besaß, ganz zufällig hinter den Spiegel und begegnete dem Auge der jungen Dame gerade in demselben Augenblick, als sie den alten Lord küßte, worauf die junge Dame übellaunig etwas von ›einer alten Jungfer‹ und ›großer Unverschämtheit‹ fallen ließ und mit verächtlichem Lächeln einen Blick des Unwillens nach Mamsell Knag schoß.

»Madame Mantalini«, sagte die junge Dame.

»Sie befehlen?« versetzte Madame Mantalini.

»Ich bitte, lassen Sie doch das artige junge Mädchen heraufkommen, das wir gestern sahen.«

»O ja, rufen Sie diese«, fügte die Schwester bei.

»Von allen Dingen auf der Welt, Madame Mantalini«, fügte die zukünftige gnädige Frau bei, indem sie sich nachlässig auf ein Sofa warf, »ist mir nichts mehr verhaßt, als von Vogelscheuchen oder alten Personen bedient zu werden. Ich bitte, lassen Sie mich, sooft ich komme, stets jenes junge Geschöpf sehen.«

»Allerdings«, fügte der alte Lord ein, »wir wollen von dem niedlichen Mädchen bedient sein.«

»Alle Welt spricht von ihr«, fuhr die junge Dame in derselben unbekümmerten Weise fort, »und mein Bräutigam, der ein großer Bewunderer von Schönheit ist, muß sie durchaus sehen.«

»Sie wird allgemein bewundert«, versetzte Madame Mantalini. »Mamsell Knag, senden Sie Mamsell Nickleby herauf: Sie brauchen nicht wiederzukommen.«

»Entschuldigen Sie, Madame Mantalini, was haben Sie zuletzt gesagt?« fragte Mamsell Knag zitternd.

»Sie brauchen nicht wiederzukommen«, wiederholte die Prinzipalin in scharfem Ton.

Mamsell Knag verschwand, ohne ein weiteres Wort zu sprechen, und wurde bald darauf durch Käthchen ersetzt, die den Damen die neuen Hüte abnahm und die alten wieder aufsetzte. Sie errötete indessen hoch und wurde ganz verwirrt, als sie bemerkte, daß der alte Herr und die beiden jungen Damen sie ohne Unterlaß fest ins Auge faßten.

»Ei, wie Sie rot werden, Kind«, sagte des Lords erkorene Braut.

»Sie ist noch nicht ganz so in ihr Geschäft eingeschossen, wie sie es wohl in einigen Wochen sein wird«, entschuldigte Madame Mantalini mit einem huldvollen Lächeln.

»Ich fürchte, Sie haben ihr einige Ihrer gottlosen Blicke zugeworfen, Mylord«, sagte die Verlobte.

»Nein, nein, nein«, versetzte der alte Lord, »nein, nein – ich bin im Begriff, mich zu verehelichen und ein neues Leben anzufangen – ha! ha! ha! ein neues Leben, ein neues Leben, ha! ha! ha!«

Es war tröstlich, mit anzuhören, daß der alte Herr im Begriff war, ein neues Leben anzufangen: denn es war augenscheinlich, daß das alte nicht mehr lange dauern konnte. Schon die bloße Anstrengung eines in die Länge gezogenen Kicherns bewirkte einen schrecklichen Anfall von Husten und Keuchen, und es brauchte einige Minuten, ehe er Atem zu der Bemerkung fand, daß das Mädchen zu hübsch für eine Putzmacherin sei.

»Ich hoffe nicht, daß Sie der Ansicht sind, ein gutes Aussehen beeinträchtige die Befähigung zu einem Geschäfte, Mylord«, sagte Madame Mantalini geziert.

»Nicht gerade«, versetzte der alte Lord, »sonst würden Sie es schon lange aufgegeben haben.«

»Sie Bösewicht«, rief die lebhafte junge Dame, indem sie das Mitglied des Oberhauses mit ihrem Sonnenschirme kitzelte: »wie können Sie es wagen, in meiner Gegenwart so zu sprechen?«

Sie begleitete diese scherzende Frage mit wiederholten neckenden Schlägen, bis endlich der alte Lord den Sonnenschirm auffing und ihn ihr nicht wieder hergeben wollte. Dies veranlaßte die andere Dame, ihrer Schwester zu Hilfe zu kommen, woraus sich denn ein ganz niedlicher Flirt entspann.

»Sorgen Sie dafür, daß diese kleinen Änderungen noch angebracht werden, Madame«, sagte die junge Dame. »Nein, Mylord, Sie müssen durchaus vorangehen; ich möchte Sie nicht eine halbe Sekunde mit diesem hübschen Mädchen in meinem Rücken lassen. Ich kenne Sie zu gut. Liebes Hannchen, lass ihn vorangehen, dass wir seiner sicher sind.«

Der alte Herr, der sich augenscheinlich durch diesen Argwohn sehr geschmeichelt fühlte, beschenkte Käthchen im Vorbeigehen mit einem komischen Seitenblick – eine Bosheit, wofür er einen zweiten Klaps erhielt – und humpelte die Stiege hinunter nach der Tür, wo sein beweglicher Leichnam von zwei stämmigen Lakaien in den Wagen gehoben wurde.

»Pfui«, sagte Madame Mantalini; »es ist mir unbegreiflich, wie der in einen Wagen steigen kann, ohne an eine Totenbahre zu denken. – Da, nehmen Sie den Plunder weg, meine Liebe; nehmen Sie ihn hinunter.«

Käthchen, die die ganze Szene über mit bescheiden zur Erde gehefteten Augen dagestanden hatte, fühlte sich bei der Erlaubnis, sich zurückziehen zu dürfen, höchst glücklich, und eilte freudig die Stiegen hinunter nach dem Herrschergebiete der Mamsell Knag.

In diesem kleinen Königreiche hatten sich jedoch während der kurzen Periode von Käthchens Abwesenheit die Umstände wesentlich verändert. Statt daß Mamsell Knag mit all der Würde und Erhabenheit einer Repräsentantin von Madame Mantalini auf ihrem gewohnten Platze saß, ruhte diese edle Seele in Tränen gebadet auf einer großen Kiste, während drei oder vier der jungen Frauenzimmer mit Salmiakgeist, Weinessig und andern Belebungsmitteln um sie her standen – ein hinreichender Beweis, daß sie in Ohnmacht lag, wenn auch nicht die Verwirrung ihres Kopfputzes und ihrer Locken darauf hingedeutet hätte.

»Ach Gott!« rief Käthchen, hastig vortretend: »was gibt es denn?«

Diese Frage bewirkte bei Mamsell Knag heftige Symptome eines Rückfalls, worauf mehrere junge Damen, Zornblicke nach Käthchen schießend, noch mehr Weinessig und Salmiakgeist anwendeten und sagten, daß es »eine Schande« wäre.

»Was ist eine Schande?« fragte Käthchen. »Worum handelt sich’s? Was ist vorgefallen? Reden Sie doch!«

»Vorgefallen?« rief Mamsell Knag, indem sie sich auf einmal zur großen Bestürzung der versammelten Mädchen pfeilgerade aufrichtete; »vorgefallen? Pfui über Sie, Sie garstiges Geschöpf!«

»Barmherziger Himmel!« rief Käthchen ganz erstarrt ob der

230 Heftigkeit, womit Mamsell Knag dieses Prädikat durch die zusammengebissenen Zähne hervorstieß: »habe ich Sie denn beleidigt?«

»Sie mich beleidigt!« erwiderte Mamsell Knag, »Sie! Ein Kind, ein Frätzchen, ein Pilz von gestern! O freilich! ha! ha!«

Da Mamsell Knag jetzt lachte, so war es augenscheinlich, daß ihr etwas ungemein spaßhaft vorkam, und da die jungen Damen sich stets nach Mamsell Knag als ihrer Vorgesetzten richteten, so brachen alle zumal ohne Zögern in ein Gelächter aus, nickten mit den Köpfen und lächelten sich gegenseitig sarkastisch zu, als wollten sie sich sagen, wie sehr gut das wäre.

»Da ist sie«, fuhr Mamsell Knag fort, indem sie sich von der Kiste erhob und Käthchen mit großer Förmlichkeit und vielen tiefen Knixen dem kichernden Mädchenkreise vorstellte; »hier ist sie – alle Welt spricht von ihr – dem hübschen Mädchen, meine Damen, – der Schönheit, der – o Sie unverschämtes Ding.«

In dieser Krisis war Mamsell Knag nicht imstande, einen tugendhaften Schauer zu unterdrücken, der sich augenblicklich allen übrigen jungen Damen mitteilte. Dann lachte Mamsell Knag aufs neue und fing endlich zu weinen an.

»Fünfzehn Jahre lang«, rief Mamsell Knag unter dem beweglichsten Schluchzen aus, »fünfzehn Jahre lang bin ich die Ehre und Zierde des Arbeits- und Ankleidezimmer« gewesen. Gott sei Dank!« fuhr sie fort, indem sie merkwürdig energisch zuerst mit dem rechten und dann mit dem linken Fuße stampfte, »ich bin diese ganze Zeit über nie den Kunstgriffen, den nichtswürdigen Kunstgriffen eines Geschöpfes ausgesetzt gewesen, das uns alle durch sein Benehmen entehrt und anständige Leute zum Erröten zwingt. Aber jetzt muß mir eine Kränkung widerfahren, die ich trotz des Abscheus, den ich gegen diese Person hege, schmerzlich empfinde.«

Mamsell Knag wurde hier wieder mit einem Rückfalle bedroht; die jungen Damen erneuerten ihre Aufmerksamkeit, meinten, sie solle sich über solche Dinge hinwegsetzen, und erklärten, daß sie für ihre Personen solche Künste verschmähten und gar nicht der Beachtung wert hielten. Zum Belege dieser Beteuerung riefen sie noch nachdrücklicher als vorher, »es wäre eine Schande, und sie fühlten sich so empört darüber, daß sie nicht wüßten, was sie mit sich selbst anfangen sollten.«

»Habe ich so lange leben müssen, um mich eine Vogelscheuche nennen zu lassen«, rief Mamsell Knag, indem sie in Krämpfe verfiel und mit ihren Fingern krampfhaft ihre Haare zerzauste.

»O nein, nein«, fiel der Chor ein: »bitte, sprechen Sie nicht so; nein, sprechen Sie nicht so.«

»Habe ich’s verdient, eine alte Person genannt zu werden?« schrie Mamsell Knag, gegen ihre dienstbeflissenen Untergebenen ankämpfend.

»Denken Sie nicht an solche Dinge, meine Liebe«, antwortete der Chor.

»Ich hasse sie«, rief Mamsell Knag. »Ich hasse und verabscheue sie. Sie soll es nicht wagen, mich je wieder anzureden, und niemand, der es gut mit mir meint, soll je wieder ein Wort mit ihr sprechen. Die Schlampe! Das Weibsstück! Die unverschämte Dirne!«

Nachdem Mamsell Knag den Gegenstand ihrer Wut mit diesen Worten näher bezeichnet hatte, schrie sie noch einmal laut auf, schluchzte dreimal und gurgelte in der Kehle: dann schloß sie die Augen, schauerte, erwachte, kam wieder zu sich, ordnete ihren Kopfputz und erklärte endlich, daß sie wieder ganz wohl sei.

Das arme Käthchen hatte diese Vorgänge anfangs in vollkommener Geistesabwesenheit mit angesehen: dann wurde sie abwechselnd rot und bleich und versuchte einigemal zu sprechen. Als ihr jedoch die Beweggründe allmählich klar wurden, trat sie einige Schritte zurück und sah ruhig zu, ohne sich durch eine Erwiderung zu entehren. Aber obgleich sie stolz nach ihrem Sitz ging und dem Haufen kleiner Trabanten, der sich in der entferntesten Ecke des Zimmers um seinen leitenden Planeten sammelte, den Rücken wandte, so entströmten ihr doch im stillen so bittere Tränen, daß Mamsell Knag im Innersten ihrer Seele erfreut gewesen wäre, wenn sie diese hätte fallen sehen.

Erstes Kapitel.


Erstes Kapitel.

das alle übrigen einleitet.

In einem abgelegenen Teile der Grafschaft Devonshire lebte einmal ein ehrenwerter Mann, Namens Gottfried Nickleby, der es sich in seinen späteren Lebensjahren noch in den Kopf gesetzt hatte, daß er heiraten müsse. Da aber außer dem Mangel der Jugend auch seine Vermögensumstände nicht zu den glänzendsten gehörten, und er daher nicht auf die Hand einer vermögenden Dame rechnen durfte, so verehelichte er sich aus purer Zuneigung mit einer alten Flamme, die ihn aus dem nämlichen Grunde nahm – wie etwa zwei Leutchen, die es nicht erschwingen können, um Geld Karten zu spielen, sich hin und wieder den Gefallen erweisen, miteinander eine Partie umsonst zu machen.

Boshafte Ehestandsspöttler mögen hier vielleicht die Einwendung machen, daß das gute Paar so ziemlich den Inhabern einiger Kampfhähne glich, die, wenn ihre Börse knapp bestellt ist und keine Wetter vorhanden sind, gar großmütig aus reiner Lust an dem Schauspiele die Vorzüge ihrer Tiere in einem Kampfe zur Schau stellen. Und in der Tat wäre auch der Vergleich in gewisser Hinsicht nicht ohne treffende Spitze; denn wenn die paar Glücksritter von Fives‘ Court nachher einen Hut herumgehen lassen werden, in der festen Zuversicht, die Zuschauer würden wohl die Güte haben, ihnen die Mittel zu einer Erfrischung zu liefern, so sahen auch Herr Gottfried Nickleby und seine traute Hälfte nach dem Ablauf der Flitterwochen sehnsüchtig in die Welt hinaus und verließen sich in nicht geringem Grade auf den Zufall, der ihrem Erwerb aufhelfen sollte. Herrn Nicklebys jährliches Einkommen schwankte zur Zeit seiner Verheiratung zwischen jährlichen sechzig bis achtzig Pfunden.

Es gibt – der Himmel weiß es – Leute genug in der Welt, und sogar in London, wo Herr Nickleby in jenen Tagen wohnte, hört man nur wenige Klagen darüber, daß die Bevölkerung zu sparsam sei. Aber es ist eben so wahr wie seltsam, daß man sich, weiß Gott, wie lange, unter der Menge umsehen kann, ohne das Gesicht eines Freundes zu entdecken. Herr Nickleby sah und sah sich um, bis ihn die Augen nicht weniger schmerzten als sein Herz, aber nirgends wollte sich ein Freund blicken lassen. Wenn er dann die vom Suchen ermüdeten Gesichtsorgane seinem eigenen Herde zuwandte, so zeigte sich auch dort gar wenig, an dem sie hätten ausruhen können. Ein Maler, der zu lange eine grelle Farbe angesehen hat, stärkt die geschwächte Sehkraft dadurch, daß er das Auge auf tieferen und dunkleren Tinten ruhen läßt; aber alles, was Herrn Nicklebys Blicken begegnete, war so gar schwarz und düster, daß das gerade Gegenteil davon ihn über die Maßen erfrischt haben würde.

Als endlich nach fünf Jahren Frau Nickleby ihren Gatten mit ein paar Söhnchen beglückt hatte, fühlte der tiefgedrückte Mann die Notwendigkeit, für seine Familie zu sorgen, immer mehr und mehr, und er war bereits nach ernstlicher Erwägung zu dem Entschluß gekommen, sich am nächsten Quartale in eine Lebensversicherungsgesellschaft aufnehmen zu lassen und dann ganz zufällig von irgend einem Monument oder Turm herunterzufallen, als eines Morgens ein schwarzgesiegelter Brief mit der Nachricht anlangte, Herr Ralph Nickleby, sein Oheim, sei gestorben und habe ihm die Gesamtmasse seines kleinen Vermögens, das sich im ganzen ungefähr auf fünftausend Pfund Sterling belief, hinterlassen.

Der Selige hatte bei seinen Lebzeiten keine weitere Notiz von seinem Neffen genommen, als daß er dessen ältestem Knaben – der infolge einer verzweifelten Spekulation bei der Taufe den Namen seines Großonkels erhalten hatte – einen silbernen Löffel in einem Maroquinfutterale schickte. Da der Knabe aber nicht allzuviel damit zu essen hatte, so sah das Geschenk fast wie eine Satire darauf aus, daß das Kind nicht mit diesem nützlichen Artikel im Munde auf die Welt gekommen sei. Herr Gottfried Nickleby konnte im Anfang die ihm auf diese Weise zugekommene Nachricht kaum glauben. Bei weiterer Untersuchung stellte sich jedoch heraus, daß sich die Sache wirklich so verhalte. Der wackere, alte Herr hatte, wie es schien, beabsichtigt, das ganze seiner Habe dem Zentral-Rettungsverein zu hinterlassen, und zu diesem Ende auch schon ein Testament ausfertigen lassen. Aber dieses Institut war einige Monate vorher so unglücklich gewesen, das Leben eines armen Verwandten des Ehrenmannes zu retten, dem er wöchentlich ein Almosen von sechs Schillingen und drei Pencen auszahlte, weshalb er in höchst gerechter Entrüstung das Vermächtnis durch eine Verfügung widerrief und Herrn Gottfried Nickleby zum Universalerben einsetzte, wobei er es nicht unterlassen konnte, seinen Unwillen sowohl gegen die Gesellschaft, die das Leben des armen Verwandten rettete, als auch gegen den armen Verwandten selbst, der sich dasselbe retten ließ, auszudrücken.

Mit einem Teile dieser Erbschaft kaufte Gottfried Nickleby ein kleines Landgut unweit Dawlisy in Devonshire, wohin er sich mit seiner Gattin und zwei Kindern zurückzog, um von dem spärlichen Ertrage des Gütchens und den Zinsen des ihm noch übrigbleibenden Geldes zu leben. Das Ehepaar führte fünfzehn Jahre lang so gute Wirtschaft, daß Herr Nickleby, als er – fünf Jahre nach dem Tode seiner Gattin – starb, seinem ältesten Sohne Ralph dreitausend Pfund in barem Gelde, und dem jüngeren, Nicolaus, tausend Pfund und das Landgut zu hinterlassen imstande war, wenn man anders ein Stück Feld ein Landgut nennen kann, das mit Ausnahme des Hauses und des eingehegten Grasgartens keinen größern Umfang hatte, als der Russellplatz von Convent-Garden.

Die zwei Brüder waren miteinander in einer Schule zu Exeter erzogen worden und hatten, da sie gewöhnlich wöchentlich einmal einen Besuch in ihrer Heimat machten, von den Lippen ihrer Mutter oft lange Erzählungen von den Leiden ihres Vaters in den Tagen seiner Armut und der Wichtigkeit ihres hingeschiedenen Onkels in den Tagen seines Wohlstandes mit angehört – Erzählungen, die auf die beiden Knaben einen gar verschiedenen Eindruck hervorbrachten: denn während der jüngere, dessen Charakter schüchtern und zurückgezogen war, nur Winke darin fand, die große Welt zu meiden und sein Glück in der Ruhe des Landlebens zu suchen, schöpfte Ralph, der ältere, die zwei großen Lehren daraus, »daß Reichtum die einzige wahre Quelle von Glück und Ansehen sei«, und »daß man zu dessen Erwerb alle Mittel anwenden dürfe, wofern sie nur nicht durch das Gesetz mit der Todesstrafe bedroht wären.« »Wenn meines Onkels Geld auch keinen Nutzen brachte, solange er lebte«, folgerte Ralph weiter, »so kam es doch nach seinem Tode meinem Vater zu Frommen, der jetzt den höchst lobenswerten Vorsatz hat, es für mich aufzusparen; und was den alten Herrn anbelangt, so hatte er doch auch einen Genuß davon in dem Vergnügen, all seiner Lebtage daran zu denken und außerdem von seiner ganzen Familie beneidet und in Ehren gehalten zu werden.« Und so kam Ralph immer bei derartigen Selbstgesprächen zu dem Schluß, daß auf der ganzen Welt nichts dem Gelde gleichkäme.

Der hoffnungsvolle Knabe beschränkte sich jedoch schon in seinen frühen Jahren nicht auf die Theorie und auf bloße abstrakte Spekulationen, sondern begann bereits in der Schule im kleinen Maßstab das Gewerbe eines Wucherers, indem er kleine Kapitalien von Schieferstiften und Kugeln auf gute Zinsen auslieh und allmählich seine Betriebsamkeit bis zu der Kupfermünze, über die seine Kameraden zu verfügen hatten, ausdehnte, wobei er auf eine sehr vorteilbringende Weise spekulierte. Er bemühte übrigens seine Schuldner nicht mit umständlichen und verwickelten Berechnungen, denn seine Interessenbestimmung beruhte einfach auf der goldenen Regel: »zwei Pfennig für jeden Heller«, wodurch die Rechnung sehr erleichtert wurde – ein Grundsatz, der großen und kleinen Kapitalisten, insbesondere aber den Geldwechslern, nicht genug zur Beachtung empfohlen werden kann, da er sich leichter erlernen und im Gedächtnis behalten läßt, als jede andere arithmetische Regel. Wir müssen jedoch diesen Herren Gerechtigkeit widerfahren und ihnen die Anerkennung zuteil werden lassen, daß diese Regel unter vielen von ihnen bis auf den heutigen Tag im Schwunge ist und mit ausgezeichnetem Erfolge geübt wird.

In gleicher Weise vermied der junge Ralph Nickleby alle umständlichen und verwickelten Berechnungen einzelner Tage, mit denen man, wie jeder weiß, der schon damit zu tun hatte, selbst bei dem einfachsten Zinsfuße, seine liebe Not hat. Er stellte einfach als allgemeine Regel fest, daß Kapital nebst Interessen jedesmal an dem Taschengeldtage, das heißt am Samstage, zurückbezahlt werden, und daß der Zinsenbelauf, mochte die Schuld am Montag oder am Freitag kontrahiert worden sein, stets derselbe sein solle. Er folgerte nämlich, und nicht ohne scheinbaren Grund, daß die Interessen eigentlich für einen Tag höher stehen sollten als für fünf, da man annehmen könne, daß in dem ersteren Falle dem Borgenden aus einer gar großen Verlegenheit geholfen würde, da er sonst gewiß nicht unter solchen nachteiligen Bedingungen Geld aufnehmen würde. Dieser Umstand ist sehr bezeichnend, da er die geheime Verbindung und Sympathie ans Licht stellt, die stets zwischen großen Geistern besteht, denn die obenerwähnte Klasse von Geschäftsleuten verfährt bei allen ihren Operationen genau nach demselben Grundsatze, obgleich unser junges Herrchen das damals noch nicht wissen konnte.

Aus diesen Schilderungen und der Bewunderung, die natürlich jeder Leser dem Gesagten zufolge für den Charakter eines solchen jungen Mannes hegen muß, könnte man auf die Vermutung kommen, daß Ralph der Held des Werkes sei, das wir eben begonnen haben. Um jedoch diesen Punkt ein für allemal zu erledigen, beeilen wir uns, jeden Irrtum dadurch zu beseitigen, daß wir zu dem wirklichen Anfange übergehen.

Nach dem Tode seines Vaters widmete sich Ralph Nickleby, der kurz zuvor in einem Londoner Handlungshaus untergebracht worden war, leidenschaftlich seinem alten Hange, Geld zu erwerben, in den er sich alsbald so sehr vertiefte, daß er seinen Bruder viele Jahre ganz und gar vergaß. Wenn auch hin und wieder eine Rückerinnerung an seinen alten Spielgefährten durch den Nebel, in dem er lebte, brach – denn das Gold umhüllt den Menschen mit einem Dunste, der auf die früheren Gefühle weit zerstörender und einschläfernder wirkt als die Dämpfe der Steinkohlen – so tauchte damit zugleich auch der Gedanke auf, daß jener im Falle eines innigeren Verhältnisses vielleicht Geld von ihm würde borgen wollen; und so schüttelte Herr Ralph Nickleby die Achseln und sagte: »Es ist besser so, wie es ist.«

Was Nicolaus anbelangt, so lebte er als Junggeselle auf seinem Erbgut, bis er der Einsamkeit müde war, und nahm dann die Tochter eines Nachbars mit einer Mitgift von tausend Pfunden zum Weibe. Diese gute Frau gebar ihm zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter, und als der Sohn ungefähr neunzehn Jahre und die Tochter, soweit wir vermuten können, vierzehn Jahre zählte (denn vor dem neuen Gesetz wurden in Englands Registraturen nirgends ganz zuverlässige Angaben über das Alter junger Damen aufbewahrt), so sah sich Herr Nickleby nach Mitteln um, sein Kapital wieder zu vergrößern, da es durch den Zuwachs seiner Familie und die Kosten der Erziehung seiner Kinder sehr geschmälert worden war.

»Spekuliere damit!« meinte Frau Nickleby.

»Spe-ku-lie-ren, mein Schatz?« entgegnete Herr Nickleby mit bedenklichem Tone.

»Warum nicht?« fragte Frau Nickleby.

»Weil wir nichts mehr zu leben hätten, meine Liebe, wenn wir es verlieren sollten«, antwortete Herr Nicklebey in seinem gewohnten bedächtigen und gezogenen Ton.

»Bah!« erwiderte Frau Nickleby.

»Man kann es ja überlegen, meine Gute«, versetzte Herr Nickleby.

»Der Nicolaus ist schon ziemlich herangewachsen«, fuhr die Dame fort; »es ist Zeit, daß er sich selbst einmal zu rühren anfängt; und was soll aus unserm Käthchen, dem armen Mädchen, werden, wenn wir ihr keinen Heller mitgeben können? Denk an deinen Bruder! Würde er sein, was er ist, wenn er nicht spekuliert hätte?«

»Das ist wahr!« entgegnete Herr Nickleby. »Nun gut also, mein Schatz. So will ich mich denn aufs Spekulieren legen, meine Liebe.«

Spekulationen sind ein Glücksspiel. Die Spieler sehen im Anfang wenig oder nichts von ihren Karten. Der Gewinn kann groß sein, ebenso aber auch der Verlust. Das Glück erklärte sich gegen Herrn Nickleby. Man war damals gerade wie toll auf eine Aktienunternehmung – die Seifenblase barst; vier Aktienmakler kauften sich Landgüter in Florenz, und vierhundert arme Schlucker, unter denen sich auch Herr Nickleby befand, waren ruiniert.

»Das Haus, in dem ich wohne«, seufzte der unglückliche Spekulant, »kann mir morgen genommen werden. Kein Stückchen unserer alten Möbeln bleibt uns; alles wird an Fremde verkauft werden!«

Dieser letzte Gedanke wurde ihm so schmerzlich, daß er sich zu Bett legte, augenscheinlich fest entschlossen, wenigstens dieses in keinem Fall aufzugeben.

»Fassen Sie Mut, Sir«, sagte der Arzt.

»Sie müssen sich nicht so ganz und gar niederschlagen lassen, Sir«, sagte die Krankenwärterin.

»Solche Dinge kommen alle Tage vor«, bemerkte der Advokat.

»Und es ist eine große Sünde, sich dagegen aufzulehnen«, flüsterte der Pfarrer.

»Ein Mann, der eine Familie hat, sollte so etwas nie tun«, fügten die Nachbarn bei.

Herr Nickleby schüttelte seinen Kopf, bedeutete allen, das Zimmer zu verlassen, umarmte sein Weib und seine Kinder, drückte sie abwechselnd an das matter pochende Herz und sank erschöpft auf sein Kissen. Sie bemerkten jedoch bald zu ihrer großen Bestürzung, daß er von nun an irre zu reden begann, denn er sprach lange von der Großmut und der Güte seines Bruders und von den vergnügten Tagen, die sie miteinander auf der Schule zugebracht hätten. Als dieser Anfall vorüber war, empfahl er sich feierlich dem Einen, der nie der Witwen und Waisen vergißt, lächelte ihnen matt zu, richtete das Gesicht aufwärts und sagte, er glaube, daß er einschlummern könne.

Zwölftes Kapitel.


Zwölftes Kapitel.

Teilt dem Leser mit, welchen Verlauf Fräulein Fanny Squeers‘ Liebe nahm

Es war ein glücklicher Umstand für Fräulein Fanny Squeers, daß ihr würdiger Papa, als er an dem Tag der kleinen Teepartie spät nach Haus kam, »zu sehr angezündet hatte«, um die zahlreichen Merkmale des höchsten Verdrusses zu gewahren, die sich unverhüllt in ihren Zügen aussprachen. Da er jedoch, wenn er zuviel im Oberstübchen sitzen hatte, ziemlich ungestüm und streitsüchtig war, so hätte es leicht der Fall sein können, daß er sich über den nächsten besten aus der Luft gegriffenen Gegenstand mit der Tochter überworfen hätte, wenn diese junge Dame nicht mit einer höchst empfehlenswerten, klugen Vorsicht darauf bedacht gewesen wäre, zur Ableitung des ersten Unwetters einen Knaben parat zu halten. Als sich dieses in der Form von Fußtritten und Fauststößen entladen hatte, beruhigte sich der Ehrenmann allmählich soweit, daß er sich überreden ließ, zu Bett zu gehen, was er denn auch gestiefelt und mit seinem Regenschirm unter dem Arm tat.

Das ausgehungerte Dienstmädchen begleitete Fräulein Squeers wie gewöhnlich nach dem Schlafgemach, um ihr daselbst das Haar zu wickeln, sonstige kleine Toilettendienste zu verrichten und ihr so viele Schmeicheleien zu sagen, wie sie aufzubringen vermochte; denn Fräulein Squeers war träge und überhaupt eitel und leichtfertig genug, um eine vornehme Dame abzugeben, wie sie sich denn auch in nichts als in den bloß durch eine ungerechte Willkür bestimmten Auszeichnungen des Ranges und der Stellung von einer solchen unterschied.

»Wie schön sich Ihr Haar diesen Abend kräuselt, Fräulein«, sagte das Kammerkätzchen. »Es ist in der Tat jammerschade, es auszukämmen!«

»Halts Maul!« versetzte Fräulein Squeers zornig.

Dem Mädchen war etwas der Art schon viel zu oft vorgekommen, um durch diesen Ausbruch übler Laune von seiten ihrer Gebieterin überrascht zu werden; und da sie halb und halb eine Vermutung von den Ereignissen des Abends hatte, so änderte sie ihren Operationsplan, mit dem sie sich angenehm zu machen gedachte, indem sie einen indirekten Weg einschlug.

»Ach, Fräulein«, sagte das Mädchen, »ich kann mir nicht helfen, aber es muß heraus, und wenn Sie mich umbringen sollten. In meinem ganzen Leben ist mir nie jemand von so ordinärem Aussehen vorgekommen, wie diesen Abend Fräulein Price.«

Fräulein Squeers seufzte und nahm eine horchende Stellung an.

»Ich weiß, es ist sehr unrecht von mir, daß ich so spreche, Fräulein«, fuhr da« Mädchen fort, hocherfreut, als sie bemerkte, daß ihre Worte Eindruck machten, »denn Fräulein Price ist Ihre Freundin und Ihr alles; aber sie putzt sich so heraus und bemüht sich, auf eine so anstößige Weise in die Augen zu fallen, daß – aber meinetwegen – wenn sich die Leute nur auch selbst sehen könnten.«

»Was meinst du damit, Phib?« fragte Fräulein Squeers, in ihren eigenen Handspiegel sehend, wo sie, wie die meisten von uns, nicht sich selbst, sondern den Reflex eines anmutigen Bildes ihrer Einbildungskraft erblickte.

»Was läßt dich so sprechen?«

»Was mich so sprechen läßt, Fräulein? Ach, es ist genug vorhanden, daß darob sogar ein alter Kater französisch sprechen könnte,« versetzte die Zofe. »Man darf sie nur ansehen, wie sie den Kopf hin und her wirft.«

»Sie wirft allerdings den Kopf hin und her«, bemerkte Fraulein Squeers mit zerstreuter Miene.

»So eitel, und doch so gar nichts an ihr!« sagte das Mädchen.

»Arme Thilda!« seufzte Fräulein Squeers mitleidig.

»Und wie tief ausgeschnitten sie ihr Kleid trägt, nur um sich bewundern zu lassen«, fuhr die Dienerin fort. »Mein Gott, sie treibt die Schamlosigkeit aufs äußerste!«

»Ich darf solche Äußerungen nicht gestatten, Phib«, sagte Fräulein Squeers. »Thildas Verwandte sind geringe Leute, und wenn sie es nicht besser weiß, so ist es die Schuld ihrer Familie und nicht die ihre.«

»Wohl«, sagte Phöbe, welchen Namen Fräulein Squeers, wenn sie guter Laune war, in Phib verwandelte; »aber könnte sie sich da nicht eine Freundin zum Muster nehmen? Ach, welch ein nettes Mädchen könnte mit der Zeit aus ihr werden, wenn sie sich nach Ihnen richten wollte und einmal einsehen lernte, was für üble Wege sie einschlägt.«

»Phib«, versetzte Fräulein Squeers mit würdevoller Miene, »es ziemt sich nicht, daß ich solche Vergleichungen anhöre; sie machen Thilda zu einer gewöhnlichen und unanständigen Person, und es könnte unfreundlich von mir scheinen, wenn ich ihnen mein Ohr leihen wollte. Sprechen wir daher von etwas anderem, Phib, denn obgleich ich sagen muß, daß Thilda Price, wenn sie sich irgend jemand zum Muster nehmen wollte – ich meine nicht gerade mich – –«

»O ja, gerade Sie, Fräulein«, fiel Phib ein.

»Nun, meinetwegen mich, wenn du’s so haben willst«, fuhr Fräulein Squeers fort. »Ich muß sagen, daß sie, wenn sie das tun wollte, bei weitem besser fahren würde.«

»Ja, und ich müßte mich sehr irren, wenn nicht noch jemand anders der gleichen Meinung wäre«, versetzte das Mädchen geheimnisvoll.

»Was willst du damit sagen?« fragte Fräulein Squeers.

»Nichts Besonderes, Fräulein«, antwortete das Mädchen; »aber genug – ich weiß, was ich weiß.«

»Phib«, entgegnete Fräulein Squeers mit theatralischem Anstand, »ich bestehe darauf, daß du dich näher erklärst. Was sollen diese geheimnisvollen Worte? Sprich!«

»Nun, wenn Sie es durchaus so haben wollen, Fräulein, so muß ich schon Farbe bekennen«, erwiderte die Zofe. »Herr Johann Browdie ist der gleichen Ansicht mit Ihnen, und wenn er nicht schon zu weit gegangen wäre, um mit Ehren zurücktreten zu können, so würde er die Mamsell Price mit Freuden laufen lassen und bei Fräulein Squeers anzukommen suchen.«

»Gerechter Gott!« rief Fräulein Squeers, mit großer Würde die Hände zusammenschlagend. »Was ist das?«

»Die Wahrheit, Fräulein, nichts als die lautere Wahrheit«, erklärte die schlaue Phöbe.

»Welch eine Lage«, rief Fräulein Squeers. »So bin ich also, ohne es selbst zu wissen, drauf und dran, das Glück und den Frieden meiner lieben Thilda zu zerstören. Was ist doch der Grund, daß die Männer, ich mag wollen oder nicht, sich in mich verlieben und um meinetwillen ihren erkorenen Bräuten abtrünnig werden?«

»Der Grund liegt nahe, Fräulein – sie können nicht anders«, versetzte das Mädchen.

Wenn Fräulein Squeers der Grund war, so lag er allerding sehr nahe.

»Rede mir nie wieder so«, entgegnete Fräulein Squeers, »nie wieder – hörst du? Thilda Price hat Fehler – viele Fehler –, aber ich will ihr Wohl und wünsche vor allem, daß sie unter die Haube kommt, denn es ist ihr zu gönnen – besonders wegen der Beschaffenheit ihrer Mängel zu gönnen, daß sie je eher, je lieber einen Mann kriegt. Nein, Phib, sie soll nur ihren Browdie nehmen. Der arme Bursche dauert mich zwar, aber ich betrachte Thilda noch immer für meine Freundin, und ich hoffe nur, daß sie sich als Ehefrau besser macht, als es wahrscheinlich der Fall sein wird.«

Nach diesem Ergüsse ihrer Gefühle schlüpfte Fräulein Squeers in die Federn.

Groll ist ein kleines Wörtchen, aber es enthält ein so seltsames Gemisch von Gefühlen und Mißtönen als vielleicht das silbenreichste Wort unserer Sprache. Fräulein Squeers wußte in ihrem Innersten ebensogut wie ihre Dienerin, daß alles, was dieses armselige Geschöpf gesagt hatte, nichts als grobe, lügenhafte Schmeichelei war. Aber schon die Gelegenheit, einem bißchen Bosheit gegen ihre Beleidigerin Luft zu machen und gegen die Mängel und Schwächen derselben Mitleid zu heucheln – wäre es auch nur in Gegenwart eines elenden Dienstmädchens – gewährte ihrer üblen Laune eine fast ebenso große Erleichterung, als wenn alles, was zur Sprache kam, reinste Wahrheit gewesen wäre. Die Macht der Selbsttäuschung geht noch außerdem in Stunden der Aufregung so weit, daß Fräulein Squeers sich in ihrem edlen Verzicht auf Johann Browdies Hand ordentlich als groß und erhaben erschien und auf ihre Nebenbuhlerin mit einer Art heiliger Ruhe heruntersehen konnte, die nicht wenig zur Besänftigung ihrer wirren Gefühle beitrug.

Diese glückliche Gemütsstimmung übte einigen Einfluß, um den Weg zur Versöhnung zu bahnen, denn als am andern Morgen an die Tür gepocht und die Müllerstochter angekündigt wurde, begab sich Fräulein Squeers mit einer so christlichen Fassung in das Besuchszimmer, daß man es nicht ohne hohe Erbauung mit ansehen konnte.

»Du siehst, Fanny«, sagte die Müllerstochter, »daß ich wieder zu dir komme, obgleich wir gestern abend einigen Wortwechsel miteinander hatten.«

»Ich beklage deine Leidenschaftlichkeit, Thilda«, versetzte Fräulein Squeers, »aber ich bin darüber erhaben, einen Groll im Herzen nachzutragen.«

»Sei nicht böse, Fanny«, sagte Fräulein Price. »Ich komme, um dir eine Mitteilung zu machen, über die du dich, wie ich hoffe, freuen wirst.«

»Was mag das sein, Thilda?« fragte Fräulein Squeers, indem sie die Lippen aufwarf und eine Miene annahm, als ob nichts in Feuer, Wasser, Luft und Erde imstande wäre, ihr auch nur eine Spur des angedeuteten Gefühls zu entlocken.

»Als wir gestern abend dein Haus verließen«, fuhr Fräulein Price fort, »hatte ich mit Johann einen schrecklichen Streit.«

»Das kann mir keine Freude machen«, entgegnete Fräulein Squeers, obgleich sie ein wohlgefälliges Lächeln nicht zu unterdrücken vermochte.

»Lieber Gott, wie könnte ich auch so schlecht von dir denken?« erwiderte ihre Gefährtin; »das ist es nicht.«

»So?« sagte Fräulein Squeers, ihr Gesicht wieder in düsterere Falten legend. »Was weiter?«

»Nachdem wir uns lange herumgezankt und erklärt hatten, daß wir uns nie wieder sehen wollten«, fuhr Fräulein Price fort, »vertrugen wir uns wieder, und Johann ging diesen Morgen hin, um für den nächsten Sonntag das erste Aufgebot zu bestellen. Wir feiern daher in drei Wochen unsere Hochzeit, und ich teile es dir mit, damit du für das Brautjungfernkleid sorgen kannst.«

Dies war Galle und Honig in einem Becher – Galle, weil sie ihre Freundin so bald verheiratet sehen sollte, und Honig, weil ihr dadurch die Gewißheit wurde, daß die Müllerstochter keine ernsthaften Absichten auf Nicolaus unterhielt. Im ganzen wurde jedoch das Bittere durch das Angenehme so weit überwogen, daß Fräulein Squeers sich bereit erklärte, das Brautjungfernkleid machen zu lassen, und zugleich die Hoffnung ausdrückte, Thilda möchte glücklich sein. Man könne freilich nicht voraussehen, ob dies der Fall sein würde, und sie möchte ihr raten, nicht allzusehr darauf zu bauen; denn die Männer wären gar wunderliche Geschöpfe, und viele Frauen befänden sich in einer so traurigen Lage, daß sie sich von ganzem Herzen die schöne Zeit ihrer Mädchenjahre zurückwünschten. Diesen leidigen Trostsprüchen fügte Fräulein Squeers noch einige andere bei, die auf eine nicht minder edle Weise berechnet waren, ihrer Freundin Mut zu machen und ihre Freudigkeit zu erhöhen.

»Um auf etwas anderes zu kommen, Fanny«, sagte Fräulein Price, »ich möchte ein paar Worte wegen des jungen Nickleby mit dir sprechen.«

»Er ist mir gleichgültig«, fiel Fräulein Squeers schnippisch ein; »ich verachte ihn zu sehr.«

»O, das kann unmöglich dein Ernst sein«, versetzte ihre Freundin. »Sei aufrichtig, Fanny – du liebst ihn noch immer?«

Ohne eine direkte Erwiderung zu geben, brach Fräulein Squeers in einen Strom boshafter Tränen aus und rief, daß sie ein elendes, vernachlässigtes, unglückliches, mit Füßen getretenes Wesen sei.

»Ich hasse alle Welt«, schloß Fräulein Squeers ihren leidenschaftlichen Erguß, »und wollte, daß alle Menschen tot wären – ja, das wollte ich.«

»Barmherziger Himmel!« rief Fräulein Price, nicht wenig erschrocken über dieses Zugeständnis menschenfreundlicher Gesinnungen; »doch nein, du kannst unmöglich so im Ernst sprechen!«

»Es ist mein voller Ernst«, versetzte Fräulein Squeers, indem sie mit knirschenden Zähnen feste Knoten in ihr Taschentuch knüpfte; »und ich wollte, daß auch ich tot wäre.«

»Ach, du wirst in fünf Minuten ganz anders denken«, sagte Mathilda. »Wieviel besser würde es sein, ihn wieder in Gnaden aufzunehmen, als dich in dieser Weise selbst zu quälen; und wäre es nicht viel hübscher, ihn unter guten Bedingungen dir wieder ganz zu eigen zu machen, mit ihm zu scherzen, zu kosen und auf die angenehmste Weise mit ihm zu leben?«

»Ich weiß nicht, wie das alles sein würde«, schluchzte Fräulein Squeers. »O Thilda, wie hast du so ehrlos und niederträchtig handeln können? Ich würde es nimmermehr geglaubt haben, wenn ich es nicht selbst gesehen hätte.«

»Aber, aber!« rief Fräulein Price kichernd, »sollte man nicht glauben, ich hätte zum mindesten jemand umgebracht?«

»Es war fast eben so schlecht«, versetzte Fräulein Squeers leidenschaftlich.

»Und alles das, weil ich zufällig gut genug aussehe, um die Leute höflich gegen mich zu machen?« entgegnete Fräulein Price. »Niemand gibt sich sein Gesicht selber, und es ist ebensowenig meine Schuld, wenn ich das meine sehen lassen darf, als es die Schuld anderer Leute ist, wenn man ihnen das nicht nachrühmen kann.«

»Halt dein Maul«, schrie Fräulein Squeers in ihrem schrillsten Tone, »oder du zwingst mich, dich daraufhin zu schlagen, Thilda, was mir hinterdrein doch wieder leid tun würde.«

Wir brauchen nicht zu sagen, daß der Ton der Unterhaltung einigen Einfluß auf die Stimmung der jungen Dame übte, und daß, als Folge davon, der Wortwechsel eine Beimischung von Tätlichkeiten erhielt. In der Tat steigerte sich die Heftigkeit des Streites zusehends und wurde endlich so ungestüm, daß beide Teile in Tränen ausbrachen und gleichzeitig ausriefen, daß sie sich’s nimmermehr gedacht hätten, je einmal einer solchen Behandlung sich aussetzen zu müssen. Dieses führte zu Erörterungen und Gegenvorstellungen, was allgemach einen Ausgleich herbeiführte, und der Schluß war, daß sie sich in die Arme fielen und aufs neue ewige Freundschaft schworen. Wir bemerken hierbei, daß diese rührende Zeremonie nicht die erste, sondern bereits die zweiundfünfzigste im Laufe desselbigen Jahres war.

Da nun das gute Einvernehmen wieder völlig hergestellt war, so kam man auf die Anzahl und die Beschaffenheit der Kleider zu sprechen, die Fräulein Price für ihren Eintritt in den heiligen Stand der Ehe notwendig haben mußte, und Fräulein Squeers wies augenfällig nach, daß in dieser Hinsicht bedeutend mehr getan werden müsse, als der Müller tun konnte oder wollte, wenn man nicht allen Anstand außer Augen zu lassen beabsichtige. Die junge Dame leitete dann mittels eines leichten Übergangs das Gespräch auf ihre eigene Garderobe und führte, nachdem sie ihre Hauptraritäten der Länge nach aufgezählt hatte, ihre Freundin die Stiegen hinauf, damit sie sich persönlich überzeugen könne. Hier wurden nun die Schätze von zwei Kommoden und einem Wandschranke zur Schau gestellt und die kleineren Putzartikel anprobiert, bis es für Fräulein Price Zeit wurde, wieder nach Hause zurückzukehren. Da indes die letztere über die gesehene Pracht ganz entzückt und von Bewunderung einer Rosaschärpe ganz hingerissen war, erklärte Fräulein Squeers in der besten Laune von der Welt, daß sie ihre Freundin noch eine Strecke begleiten wolle, um noch länger das Vergnügen ihrer Gesellschaft zu genießen. Sie verließen daher miteinander das Haus, und während des Spazierganges sprach Fräulein Squeers ein langes und breites über die hohen Eigenschaften ihres Vaters, wobei sie zugleich, um ihrer Freundin einen schwachen Begriff von der ungemeinen Wichtigkeit und Überlegenheit ihrer Familie zu geben, dessen Einkommen verzehnfachte.

Es war gerade die der Erholung gewidmete Zeit zwischen dem Mittagessen und dem Beginne des Unterrichts, die Nicolaus gewöhnlich zu einem Spaziergang benutzte, auf dem er in melancholischem Brüten über seine unglückliche Lage verdrießlich durch das Dorf zu schlendern pflegte. Fräulein Squeers wußte das recht gut, mußte es aber wahrscheinlich vergessen haben; denn als sie den jungen Mann auf sich zukommen sah, ließ sie allerlei Anzeichen von Überraschung und Bestürzung blicken und beteuerte ihrer Freundin, es sei ihr, als ob sie in die Erde sinken müßte.

»Sollen wir umkehren, oder uns geschwind in ein Bauernhaus flüchten?« fragte Fräulein Price. »Er hat uns noch nicht gesehen.«

»Nein, Thilda«, versetzte Fräulein Squeers; »es ist meine Pflicht, mich zu überwinden, und ich will es.«

Fräulein Squeers sagte dies mit einem Tone, als ob sie einen hohen, edlen Entschluß gefaßt hätte, und da sie außerdem den schweren Kampf ihrer Gefühle durch einiges Seufzen und Luftschnappen kundgab, so erlaubte sich ihre Freundin keine weitere Bemerkung. Sie gingen gerade auf Nicolaus zu, der mit zur Erde gesenktem Blicke einherschritt und der beiden Mädchen nicht eher gewahr wurde, als bis sie ihm ganz nahe waren, da er sonst vielleicht selbst irgendwo ein Versteck gesucht haben würde.

»Guten Morgen«, sagte Nicolaus mit einer Verbeugung und ging vorüber.

»Er geht«, flüsterte Fräulein Squeers. »Ach, ich ersticke, Thilda!«

»Ach, Herr Nickleby!« rief Fräulein Price, indem sie tat, als beunruhige sie die Drohung ihrer Freundin, obgleich ihrem Benehmen nur der boshafte Wunsch, mit anzuhören, was Nicolaus sagen würde, zugrunde lag; »ach, Herr Nickleby, kommen Sie doch zurück.«

Herr Nickleby kam zurück und fragte in ziemlicher Verwirrung, womit er den Damen zu Diensten sein könne.

»Halten Sie sich nicht mit Reden auf«, drängte Fräulein Price, »sondern unterstützen Sie sie auf der andern Seite. Wie ist es dir jetzt, meine Liebe?«

»Besser«, seufzte Fräulein Squeer«, indem sie den rötlichbraunen, mit einem grünen Schleier versehenen Biberhut auf Nicolaus Schulter legte. »Ach, diese törichte Schwäche!«

»Nenne sie nicht töricht, meine Liebe«, sagte Mathilda Price, deren leuchtende Augen sich nicht wenig über die Verwirrung des Hilfslehrers lustig machten; «du hast keinen Grund, dich ihrer zu schämen. Diejenigen sollten sich schämen, die zu stolz sind, um sich durch etwas anderes, als solche Auftritte, wieder gutmachen zu lassen.«

»Sie sind, wie ich sehe, willens, mich fortwährend zu necken«, sagte Nicolaus lächelnd, »obgleich ich Ihnen bereits gestern abend sagte, daß ich mir keiner Schuld bewußt bin.«

»Hörst du? – er sagt, er sei sich keiner Schuld bewußt, meine Liebe«, bemerkte Fräulein Price boshaft. »Vielleicht warst du zu eifersüchtig oder zu vorschnell gegen ihn? Er sagt, er sei unschuldig, und ich denke, das ist Entschädigung genug.«

»Sie wollen mich nicht verstehen«, versetzte Nicolaus; »jedenfalls aber bitte ich, mich bei Ihrem Scherz aus dem Spiele zu lassen; denn ich habe keine Zeit und bin in der Tat auch nicht in der Stimmung, in dem gegenwärtigen Augenblick die Zielscheibe oder den Genossen Ihrer Heiterkeit abzugeben.«

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Fräulein Price mit geheucheltem Erstaunen.

»Frage ihn nicht, Thilda«, rief Fräulein Squeers; »ich vergebe ihm.«

»Gütiger Gott!« sagte Nicolaus, als der braune Hut abermals auf seine Schulter sank; »die Sache wird ernsthafter, als ich vermutete. Erlauben Sie – wollen Sie die Güte haben, mich anzuhören?«

Mit diesen Worten hob er den braunen Kastorhut in die Höhe; als er jedoch mit unverhohlenem Erstaunen einem Blicke zärtlichen Vorwurfs von Fräulein Squeers‘ Seite begegnete, trat er einige Schritte zurück, um aus dem Bereiche seiner schönen Bürde zu kommen, und fuhr folgerdermaßen fort:

»Es tut mir sehr leid – gewiß aufrichtig leid, daß ich gestern abend zu einer Mißhelligkeit unter Ihnen Anlaß gab. Ich habe mir selbst schon die bittersten Vorwürfe darüber gemacht, daß ich so unglücklich war, jenes Zerwürfnis zu veranlassen, obgleich ich versichern kann, daß es ohne mein Wissen und ohne meinen Willen geschah.«

»Schon gut, aber das ist gewiß nicht alles, was Sie zu sagen haben«, rief Fräulein Price, als Nicolaus innehielt.

»Ich fürchte es selber auch«, stammelte Nicolaus mit einem halben Lächeln und einem Blick auf Fräulein Squeers. »Es ist allerdings etwas höchst Albernes, aber – nein, schon die bloße Andeutung einer solchen Vermutung läßt einen wie einen Pinsel aussehen, – doch – darf ich fragen, ob diese Dame annimmt, daß ich irgendeine – mit einem Worte, glaubt sie, daß ich in sie verliebt bin?«

»Er ist jetzt köstlich in der Klemme«, dachte Fräulein Squeers; »endlich habe ich ihn soweit. – Antworte für mich, meine Liebe«, flüsterte sie ihrer Freundin zu.

»Ob sie das glaubt?« erwiderte Fräulein Price. »Natürlich glaubt sie es.«

»Sie glaubt es?« rief Nicolaus mit einem Ungestüm, daß man es wohl einen Augenblick für Entzücken nehmen konnte.

»Gewiß«, versicherte Fräulein Price.

»Wenn es Herr Nickleby bezweifelt hat, Thilda«, sagte die errötende Fanny in sanftem Ton, »so mag er sich beruhigen. Seine Gefühle werden erwid–«

»Halten Sie inne«, unterbrach sie Nicolaus hastig; »ich bitte, hören Sie mich. Hier waltet die seltsamste Täuschung, der gröbste Irrtum ob, der je einem Menschen vorgekommen ist. Ich habe das Fräulein kaum ein halb Dutzend Male gesehen, aber wäre dies auch sechzigmal der Fall gewesen, oder wenn ich bestimmt wäre, sie sechzigtausendmal zu sehen, so würde das für mich gewiß ganz das gleiche sein. Es ist mir nie ein Gedanke, ein Wunsch oder eine Hoffnung, die in Verbindung mit ihr stünde, aufgestiegen, es müßte denn – ich sage das übrigens nicht, um ihre Gefühle zu verletzen, sondern um ihr die wahre Beschaffenheit der meinen klarzulegen – es müßte denn etwas der Art in dem Sehnen zu finden sein, das meinem Herzen so nahe wie mein Leben selber liegt, diesem verfluchten Orte eines Tages den Rücken kehren zu können und nie wieder einen Fuß in denselben setzen, oder daran denken – ja nicht einmal anders daran denken zu dürfen als mit Abscheu und Ekel.«

Nach dieser in der Tat ungemein offenen und geraden Erklärung, den er sich mit allem Ungestüm eines entrüsteten und aufgeregten Herzens entledigte, verbeugte sich Nicolaus leicht und entfernte sich, ohne Erwiderung abzuwarten.

Aber das arme Fräulein Squeers! Ihr Ärger, ihr Zorn, ihre Wut und die rasche Aufeinanderfolge bitterer, leidenschaftlicher Gefühle, die durch ihre Seele stürmten – nein, das läßt sich nicht beschreiben. Zurückgewiesen! Zurückgewiesen von einem Hilfslehrer, den man durch eine Zeitungsannonce und durch einen Jahrgehalt von fünf Pfunden, zahlbar in unbestimmten Raten, aufgelesen und hinsichtlich der Kost und Wohnung ganz wie die Knaben selbst gehalten hatte! Und das noch obendrein in Gegenwart eines kleinen Äffchens von Müllerstochter, die ihre achtzehn Jahre zählte und sich in drei Wochen mit einem Manne verheiraten sollte, der sie auf den Knien um ihr Jawort angefleht hatte! Sie hätte bei dem Gedanken an diese Demütigung in der Tat allen Ernstes ersticken mögen.

Aber ungeachtet des Sturmes in ihrem Innern blieb ihr doch eines klar, und dies war, daß sie Nicolaus mit der ganzen Engherzigkeit und Erbärmlichkeit, die eines Abkömmlings aus dem Hause der Squeers würdig war, haßte und verabscheute. Auch blieb ihr noch ein Trost übrig, daß sie nämlich jede Stunde des Tages seinen Stolz verwunden und ihn durch kleine Gehässigkeiten, Kränkungen oder Verkürzungen verletzen konnte, um so mehr, da diese, wenn sie schon auf den Gleichgültigen einen unangenehmen Eindruck üben, von einem so reizbaren Manne, wie Nicolaus, doppelt bitter empfunden werden mußten. Durch diese beiden Betrachtungen gestärkt, suchte Fräulein Squeers die Sache zu ihrem Vorteil zu drehen, indem sie gegen ihre Freundin bemerkte, Herr Nickleby ist ein so wunderlicher Mensch und von so ungestümer Gemütsart, daß sie glaube, sie werde ihn wohl aufgeben müssen; und so trennten sich die beiden Damen.

Wir müssen hier bemerken, daß Fräulein Squeers, als sie ihre Liebe (oder was immer bei ihr dieses Gefühl repräsentierte) auf Nicolaus warf, keinen Augenblick an die Möglichkeit dachte, daß er in dieser Sache mit ihr verschiedener Ansicht sein könnte. Sie glaubte sogar, der junge Mann müsse sich durch den Vorzug, den sie ihm angedeihen ließ, über die Maßen geehrt fühlen; denn sie war ja schön und ansprechend, ihr Vater war der Chef und Nicolaus der Gehilfe, ihr Vater hatte Geld und Nicolaus keins – lauter Gründe, die sich wohl hören ließen. Dabei hatte sie auch recht wohl erwogen, wie angenehm sie ihm seine Lage als Freundin und um wieviel unangenehmer als Feindin machen konnte; und ohne Zweifel würden manche weniger gewissenhafte Leute, als Nicolaus, schon aus diesem sehr augenfälligen Grunde ihre Verirrung ermutigt haben. Nicolaus hielt es jedoch für geraten, anders zu handeln, und Fräulein Squeers war darüber wütend.

»Er mag zusehen«, sagte die aufgebrachte junge Dame, als sie wieder auf ihr Zimmer kam und ihr Inneres durch einen Ausfall auf Phib erleichtert hatte. »Wenn die Mutter zurückkommt, so will ich sie noch mehr gegen ihn aufhetzen.«

Das war kaum nötig, aber Fräulein Squeers machte ihrem Worte keine Unehre. Der arme Nicolaus wurde neben der schlechten Kost, der schmutzigen Wohnung und dem unflätigen Elend, dessen Zeuge er ohne Unterlaß sein mußte, mit jeder Art Herabwürdigung, die Bosheit und der niedrigste Geiz zu ersinnen vermochten, behandelt.

Aber das war noch nicht alles. Es gab noch ein anderes, tieferschneidendes Peinigungssystem, dessen Ungerechtigkeit und Grausamkeit ihn fast zur Verzweiflung brachten.

Der arme Smike folgte, seit Nicolaus einmal des Nachts im Schulzimmer freundlich mit ihm gesprochen hatte, in rastloser Dienstfertigkeit dem Hilfslehrer fast immer auf der Ferse, suchte dessen kleinen Bedürfnissen, soviel es in seinen Kräften lag, zuvorzukommen und fühlte sich glücklich, wenn er nur in seiner Nähe war. Er konnte stundenlang neben ihm sitzen und ihm ruhig ins Gesicht sehen, während ein Wort aus Nicolaus‘ Munde seine kummervollen Züge erheiterte und sogar einen vorübergehenden Strahl von Glück in diesem hervorrief. Er war ein ganz anderes Wesen, denn sein Leben hatte jetzt einen Zweck, nämlich den, der einzigen Person, die ihn – wenn nicht gerade mit Liebe, so doch wie einen Menschen behandelt hatte, seine Anhänglichkeit zu zeigen, obgleich diese Person ihm sonst fremd war.

Über dieses arme Wesen ergoß man nun ohne Unterlaß alle Bosheit und alle üble Launen, die man an Nicolaus nicht auslassen konnte. Die härtesten Knechtesdienste hätte er nicht in Anschlag gebracht, da er an diese von lange her gewöhnt war. Ohrfeigen ohne alle Ursache waren gleichfalls eine Angelegenheit, die sich von selber verstand, denn viele schwere und mühevolle Jahre hatte er nichts anderes gekannt. Kaum hatte man aber bemerkt, daß er eine Anhänglichkeit an Nicolaus zeige, so wurden ihm vom Morgen bis zum Abend nichts anderes als Peitschenhiebe und Faustschläge oder Faustschläge und Peitschenhiebe zuteil. Squeers war eifersüchtig auf den Einfluß, den sein Gehilfe so bald erworben hatte; die Squeerssche Familie haßte ihn, und Smike mußte beides entgelten. Nicolaus sah dieses und knirschte mit den Zähnen bei jeder Wiederholung eines solchen feigen und unmenschlichen Angriffs.

Er hatte einige regelmäßige Lehrstunden für die Knaben angeordnet, und eines Abends, als er in der unheimlichen Schulstube auf und ab ging und ihm das übervolle Herz bei dem Gedanken, daß sein Schutz und sein Wohlwollen das Elend eines höchst beklagenswerten Wesens nur noch vermehrt hätte, fast brechen wollte, blieb er auf einmal unwillkürlich in einer dunklen Ecke, wo der Gegenstand seiner Gedanken saß, stehen.

Der arme Junge saß mit rotgeweinten Augen emsig über einem zerrissenen Buche und mühte sich vergeblich ab, mit einer Aufgabe zustande zu kommen, die ein mit gewöhnlichen Fähigkeiten versehenes Kind von neun Jahren mit Leichtigkeit hätte lösen können, die aber für das verwirrte Gehirn des zertretenen neunzehnjährigen Burschen ein versiegeltes und hoffnungsloses Geheimnis war. Trotzdem saß er da, geduldig das Blatt wieder und wieder durchbuchstabierend, obgleich er nicht durch einen knabenhaften Ehrgeiz (denn er war die gemeinsame Zielscheibe des Spottes für seine ganze ungeschlachte Umgebung), sondern nur durch den eifrigen Wunsch, seinem einzigen Freunde zu gefallen, beseelt wurde.

Nicolaus legte die Hand auf seine Schulter.

»Ich komme nicht damit zustande«, sagte Smike niedergeschlagen, indem er mit einem Schmerzensblicke aufsah. »Nein, es geht nicht.«

»Du mußt dich nicht allzusehr anstrengen«, versetzte Nicolaus.

Smike schüttelte den Kopf, schloß das Buch mit einem Seufzer, stierte ausdruckslos um sich her und legte das Gesicht auf seinen Arm. Er weinte.

»Um Gottes willen, höre auf«, sagte Nicolaus mit erregter Stimme: »ich kann es nicht mit ansehen.«

»Sie sind schlimmer gegen mich als je«, schluchzte der Knabe.

»Leider, leider«, entgegnete Nicolaus.

»Aber für Sie«, fuhr der arme Kerl fort, »könnte ich in den Tod gehen. Ich weiß gewiß, sie haben es darauf abgesehen, mich unter die Erde zu bringen.«

»Du wirst es besser haben, armer Junge«, erwiderte Nicolaus, indem er traurig den Kopf schüttelte, »wenn ich fort bin.«

»Fort?« rief der andere mit einem starren Blicke nach Nicolaus‘ Gesicht.

»Still!« versetzte Nicolaus. »Ja.«

»Sie wollen also gehen?« flüsterte der Knabe angelegentlich.

»Ich kann’s noch nicht sagen«, entgegnete Nicolaus; »ich sprach mehr vor mich selber hin als zu dir.«

»Sagen Sie mir«, flehte der Knabe, »o sagen Sie mir, wollen Sie wirklich gehen – wollen Sie?«

»Sie werden mich endlich dazu zwingen«, antwortete Nicolaus. »Doch die Welt liegt ja offen vor mir.«

»Sagen Sie mir«, drängte Smike, »ist die Welt auch so schlimm und abscheulich wie dieser Ort?«

»Behüte Gott!« sprach Nicolcius, den Lauf seiner eigenen Gedanken verfolgend. »Ihre schwerste und sauerste Arbeit wäre ein Glück gegen das Leben hier.«

»Würde ich Sie dort treffen?« fragte der Knabe ungewöhnlich schnell und leidenschaftlich.

»Ja«, versetzte Nicolaus, in der Absicht, ihn zu beschwichtigen.

»Nein, nein«, sagte der andere, Nicolaus‘ Hand ergreifend, »würde ich – würde ich, – sagen Sie mir’s noch einmal. Geben Sie mir die Versicherung, daß ich Sie gewiß finden würde.«

»Du würdest es«, erwiderte Nicolaus in derselben wohlwollenden Absicht, »und ich würde dir Beistand leisten und nicht neue Leiden über dich bringen, wie ich hier getan habe.«

Smike drückte leidenschaftlich die Hände des jungen Mannes an seine Brust und ließ einige abgebrochene, unverständliche Worte laut werden. In demselben Augenblicke trat Squeers in die Stube und schlich nach seiner gewohnten Ecke.

Einleitung.


Einleitung.

Dickens hat seinem 1839 erschienenen Roman »Nicolaus Nickleby« selbst ein auch in unserer Ausgabe zum Abdruck kommendes Nachwort geschrieben, worin er mit echt englisch satirischem Humor bestätigt, daß die von ihm geschilderten Zustände im Privatschulwesen tatsächlich bestanden haben. Der heutige deutsche Leser würde erst recht sonst annehmen, daß so schreckliche Verhältnisse kaum möglich gewesen sein konnten. Aber in unserer Zeit, wo das Schulwesen durchweg unter Aufsicht des Staates steht, ist es schwer denkbar, daß früher auch auf dem Kontinent, auch in Deutschland Winkelschulen schlimmster Art existierten, die denen des Yorkshirer Schulmeisters Squeers kaum etwas nachgaben. Indem Dickens auf die Wunden der menschlichen Gesellschaft schonungslos hinwies, ward er ein sozialer Apostel, als der er sich auch in »Schwere Zeiten« und in gleichgerichteten anderen Werken gezeigt hat.

Man wird den Gehalt des Nickleby erst recht zu schätzen wissen, wenn man ihn aus dem Geist der Zeit, dem englischen Puritanismus heraus zu lesen versteht. Unserer ›aufgeklärteren‹, minder empfindsamen Welt von heute wird z. B. fast unbegreiflich erscheinen, wie hilflos zunächst ein junges Mädchen wie Käthchen der argen Welt gegenübersteht, in die sie durch Ralph Nickleby gestürzt wird. Das Mädchen von heute weiß sich anders zu helfen als Käthchen. Aber wir mögen bedenken, daß auch uns Deutschen der dem englischen Käthchen verwandte Typus Gretchens, den uns Goethes »Faust« schenkte, immer seltener, ja fremdartiger wird. Noch seltsamer mögen uns manche gesellschaftliche Zustände und Einrichtungen erscheinen, die aber eben aus dem Geist des Puritanertums begreiflich werden.

Die Puritaner bedeuteten zunächst eine von dem Genf Calvins beeinflußte Partei der Protestanten in England. Sie wollten innerhalb der anglikanischen Kirche die Reinheit (puritas) des evangelischen Christentums wiederherstellen, forderten Trennung der Kirche vom Staat und strengste Kirchenzucht. Die puritanische Gesinnung setzte sich im Zeitalter des großen Staatsmannes Cromwell durch; sie bedingte die straff disziplinierte Sittlichkeit Englands während der folgenden Jahrhunderte und hat in ihrer Strenge und Nüchternheit das meiste dazu beigetragen, daß England die Weltmachtstellung erlangte, die es heute besitzt. Anderseits aber drang die äußere Disziplinierung nicht überall durch. So kam es, daß Prüderie und Heuchelei, ein nur »sittlich tun als ob«, ein Nichtsehenwollen und Nichtsehenkönnen des Schlechten, ja ein gewisser Zynismus zu den schlimmsten Fehlern der englischen Gesellschaft wurden. Wie sich der englische Puritanismus zum Guten auswirken konnte, das zeigt bei Dickens das prachtvolle Kaufmannspaar, die Gebrüder Cheerible; und wie er sich zum Bösen wendet, das erweist an gleicher Stelle die Umwelt des Wucherers Ralph Nickleby. Auch das nichtswürdige Dulden von Privatschulen nach dem Muster eines Squeers wird so begreiflich. Ebenso erklärt sich aus dieser Geisteswelt die Sphäre der bald anmutenden, liebenswürdigen, bald beklemmenden, vorurteilsvoll sich zeigenden Moden und Launen der Frauenzimmerwelt, von der Dickens in unserem Roman die verschiedensten Charaktere darstellt: von dem keuschen (keusch im schönsten Sinne!) Käthchen bis zur konventionell aufgeplusterten, geschwätzigen Madame Nickleby, von der eingebildeten Thilda bis zu der liebenswürdigen, harmlosen kleinen Malerin. Als scharfblickender Frauenkenner zeichnet Dickens die einzelnen Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts und ihre ewigen Schwächen ersichtlich mit boshaftem Vergnügen.

Dickens Romane bewahren stets den Glauben an den endlichen Sieg des Guten. Sie überlasten anfangs oft geradezu den Leser mit den Schrecken des Bösen. Um so größer ist dann des Lesers Freude, wenn der Schurke endlich die verdiente Strafe erhält, und der strebende Brave – in unserm Fall der wackere Brausekopf, der gutherzige Jüngling Nicolaus Nickleby – den Lohn für sein Ausharren auf dem Pfad der Tugend erhält. –

Auch bei der Textrevision dieses Werkes habe ich Frau Clara Weinberg für getreue Mithilfe zu danken.

P. Th. H.